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German Pages 252 Year 2013
POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2013 Herausgegeben von
V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, R. Mehring, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Detlef Garz: Paradigm lost u Gerd F. Hepp: Bildung unter dem Diktat der Ökonomie u Hans-Christof Kraus: Preußen aus der Distanz – Eduard Spranger und der „Berliner Geist“ u Reinhard Mehring: Spranger und die philosophische Pädagogik u Manfred Seidenfuß: Eduard Spranger und seine „Gedanken über Lehrerbildung“ u Georg Zenkert: Bildung als Politikum u Clemens Kauffmann: Demokratisches Denken gegen eine „halbierte Moderne“ u Bruno Godefroy: Eternity and Crisis u Hasso Hofmann: Schiller und der Rechtsstaat u Hans-Jörg Sigwart: Das politisch-hermeneutische Problem: Zur Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“
Duncker & Humblot
Politisches Denken · Jahrbuch 2013
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktion: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4/7, 91054 Erlangen E-Mail: Clemens.Kauff[email protected]
Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)
Das Jahrbuch „Politisches Denken“ ist das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD). Das Spektrum des Jahrbuchs umfasst Beiträge mit historischem oder aktuellem Bezug sowie Themen- oder Theoretiker-zentrierte Beiträge. Alle eingereichten Manuskripte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Manuskripte bitte anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung ausgedruckt sowie als pdf-Datei an die Redaktion senden. Hinweise zur Textgestaltung finden Sie unter: www.dgepd.de.
Politisches Denken Jahrbuch 2013 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Reinhard Mehring, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-14210-1 (Print) ISBN 978-3-428-54210-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84210-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Schwerpunktthema Vom Ende der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“: Eduard Spranger (1882 – 1963) Paradigm lost. Über das (unvermeidliche) Ende ,der‘ Geisteswissenschaftlichen Pädagogik Von Detlef Garz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildung unter dem Diktat der Ökonomie. Anmerkungen zu einer folgenreichen Transformation von Schule und Universität Von Gerd F. Hepp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Preußen aus der Distanz – Eduard Spranger und der „Berliner Geist“ Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Spranger und die philosophische Pädagogik Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eduard Spranger und seine „Gedanken über Lehrerbildung“ Von Manfred Seidenfuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildung als Politikum. Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts in der Perspektive Eduard Sprangers Von Georg Zenkert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Aufsätze Demokratisches Denken gegen eine „halbierte Moderne“. Beobachtungen zu Henning Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ Von Clemens Kauffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Eternity and Crisis. Eric Voegelin and Karl Löwith on Human Temporality Von Bruno Godefroy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Schiller und der Rechtsstaat. Bemerkungen zu Matthias Tresselts „Friedrich Schiller und die Demokratie“, zu Yvonne Nilges’ „Schiller und das Recht“, über einige Klischees und zu den Schwierigkeiten transdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit Von Hasso Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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Inhaltsverzeichnis
Das politisch-hermeneutische Problem: Zur Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“ Von Hans-Jörg Sigwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
III. Rezensionen und Rezensionsabhandlungen Manfred Riedel, Bürgerliche Gesellschaft – Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (Hrsg. Harald Seubert unter Mitarbeit von Friedemann Sprang), Steiner-Verlag, Stuttgart 2011, 380 Seiten Von Rainer Enskat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Michael Oakeshott, Leben und Werk im Spiegel der Forschung. Eine Hinführung aus Anlaß der Publikation zweier Sammelbände Von Michael Henkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. C. H. Beck Verlag, München 2012, 606 Seiten Von Markus Holzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Friedrich der Große, Potsdamer Ausgabe, Werke Bd. VII: Werke des Philosophen von Sanssouci. Oden, Episteln, Die Kriegskunst. Aus dem Französischen übersetzt v. Hans W. Schumacher, hrsg v. Jürgen Overhoff/Vanessa de Senarclens, Akademie Verlag, Berlin 2012, 648 Seiten Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Akademie Verlag, Berlin 2012, 303 Seiten Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Daniel Hildebrand, Rationalisierung durch Kollektivierung. Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2011, 579 Seiten Von Lazaros Miliopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Herausgegeben von Otfried Höffe, Akademie Verlag (Klassiker Auslegen, Bd. 50), Berlin 2012, 223 Seiten Von Thomas Nicklas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Michaela Rehm/Bernd Ludwig (Hg.), John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (Klassiker Auslegen, Bd. 43), Akademie Verlag, Berlin 2012, 192 Seiten Von Sven Prietzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 415 Seiten Von Alfons Söllner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Inhaltsverzeichnis
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Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (USA 2011, dt. von M. Adrian). Berlin: Suhrkamp 2013 Von Christian Thies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Editorial Das Jahrbuch „Politisches Denken“ bringt im Jahrgang 2013 aus Anlaß des fünfzigsten Todestages von Eduard Spranger zunächst einen Themenschwerpunkt, der sich mit dessen geisteswissenschaftlicher Pädagogik und ihrem Schicksal in der gegenwärtigen Bildungslandschaft beschäftigt. Reinhard Mehring hat dieses wichtige Thema angeregt, es im Rahmen eines Symposiums in Heidelberg diskutiert und die Publikation betreut. Der Schwerpunkt unterstreicht die Bedeutung, die eine geisteswissenschaftlich orientierte Pädagogik für die politische Kultur moderner Demokratien hat, und das Interesse, welches das Jahrbuch an den vielfältigen Herausforderungen zeigt, vor die uns die gegenwärtige Entwicklung der (nicht nur politischen) Bildung stellt. Zu Beginn der Aufsätze zu verschiedenen Themen, die in der zweiten Abteilung erscheinen, würdigt der Unterzeichnete den Abschluß der „Geschichte des politischen Denkens“ von Henning Ottmann. Als Gründungsvorsitzender hat Ottmann seit 1989 die DGEPD geprägt und ihre transdisziplinäre Ausrichtung wesentlich mit bestimmt. In seinem denkbar umfassenden Werk hat er nun seine Auffassung von den Gegenständen und der Weise ihrer Erforschung vorgelegt und der „Gesellschaft“ damit ein Paradigma vorgeschlagen, wie sie ihre Themen wählen und mit welchen Mitteln sie diese erforschen könnte. Die „Beobachtungen“ verstehen sich als Anstoß zu einer lebhaften interdisziplinären Diskussion, der das „Jahrbuch“ gerne als Forum dienen möchte. Die weiteren Artikel behandeln verschiedene hermeneutische Fragen in einem breiten Spektrum zwischen Seinsverfassung, politischem Verstehen und Schillerexegese. Ein ausführlicher Rezensionsteil rundet den Band ab. Mit dem Jahrbuch 2013 wechselte die Redaktion nach Erlangen. Sie ist nun am dortigen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft II angesiedelt und steht als Ansprechpartner für Autoren, Rezensenten und Verlage zur Verfügung. Barbara Zehnpfennig und Reinhard Mehring hatten in den letzten Jahren von Passau und Heidelberg aus die Redaktionsarbeit mit viel Engagement zum Nutzen des Jahrbuchs geleistet. Dafür sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt. Erlangen, im Dezember 2013
Clemens Kauffmann
I. Schwerpunktthema Vom Ende der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“: Eduard Spranger (1882 – 1963)
Paradigm lost Über das (unvermeidliche) Ende ,der‘ Geisteswissenschaftlichen Pädagogik Von Detlef Garz I. Einleitung Vor annähernd 25 Jahren, 1989, habe ich in der ,Pädagogischen Rundschau‘ einen Artikel unter der Überschrift ,Paradigmenschwund und Krisenbewußtsein‘ veröffentlicht; ein Aufsatz, in dem das Thema meines heutigen Beitrags schon einmal im Mittelpunkt stand. Insofern hat es mich besonders gereizt, mich noch einmal, ein Vierteljahrhundert später, mit den unterschiedlichen Argumenten auseinanderzusetzen. Zumal ich dies nicht nur aus einer akademischen Perspektive, sondern auch aus einer Teilnehmerperspektive tun kann. Ich habe an der Johannes Gutenberg Universität Mainz von 1973 – 1978 Erziehungswissenschaft mit dem damals neuen und jetzt gerade wieder abgeschafften Abschluss des Diplom-Pädagogen studiert. Insofern bin auch Zeitzeuge der hier geschilderten Vorgänge, mit allen Vor- und allen Nachteilen, die eine Zeitzeugenschaft mit sich bringt. Eine Anmerkung zum Titel meines Vortrags. Ich habe das Adjektiv ,unvermeidlich‘ aus einem bestimmten Anlass in eine Klammer gesetzt. Es gibt zwar viele Gründe, weshalb das Ende der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik vermeintlich nicht zu vermeiden war, aber ganz sicher können wir nie sein. Hätte, könnte, würde sind durchaus zu bedenken. Manches hätte in der Tat anders sein können; und ob, inwieweit und wann es im Sinne der Pfadabhängigkeit einen ,point of no return‘ gegeben hat, ist durchaus nicht einfach zu beantworten. Zu der gegebenen Zeit waren möglicherweise Alternativen möglich, in der Rekonstruktion scheint der Ablauf unvermeidlich. Faktisch, auch das will ich vorwegnehmen, spielt das Programm der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik jedenfalls in der heutigen (Allgemeinen) Erziehungswissenschaft kaum noch eine Rolle. Diese hat nun vielmehr ihrerseits das Problem, sich nicht aufzulösen bzw. aufgelöst zu werden. Bildete sie einmal das Zentrum der Disziplin, so wird sie gegenwärtig, so meine Einschätzung, von den unterschiedlichen ,Spezialdisziplinen‘, wie Sozial-, Sonder- oder auch Medienpädagogik und Erwachsenenbildung, an den Rand gedrängt; und zwar sowohl im Sog der Postmoderne nach dem Motto „Things fall apart, the centre cannot hold“ (W.B. Yeats) (vgl. Garz/Lee
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2003) als auch im Anschluss an die überstürzte Einführung des B.A. und der damit einhergehenden ,Verberufsschulung‘ der Hochschulen. Es sind zwei Aspekte, die ich im Folgenden behandeln möchte: Zum einen die spezifische Konstellation, die in den 1960er Jahren den Niedergang der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik bewirkte, zum anderen die doch gelegentlich wiederkehrende Frage, ob denn etwas aus den Beständen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik bzw. Sprangers seinen Weg in die zeitgenössischen erziehungswissenschaftlichen Diskursarenen gefunden hat; das heißt: Was aber bleibet? Dabei will auch auf jene Anfragen eingehen, die im Vorfeld des Symposions erörtert wurden: So z. B. die Frage, wie sich die schnelle Verdrängung Sprangers und der philosophischen Pädagogik vollzog und was genau die kritischen Argumente waren. Gab es hier einen langen Vorlauf in den 1950ern? Hatte dies mit dem Nationalsozialismus zu tun? Gab es einen Richtungsstreit und große Debatten? War die Umstellung eher generationell und/oder politisch erfolgt? Und schließlich: War das Ende der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zwingend? II. Der Niedergang – die Standarderzählung Ich möchte, bevor ich intensiver in die Thematik einsteige, mit einer Darstellung des Zustands der Allgemeinen Pädagogik im Allgemeinen und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik im Besonderen beginnen (vgl. Garz 2007): Wären wissenschaftliche Revolutionen und Paradigmenübergänge intentional realisierbar, dann stünde das Projekt einer Geisteswissenschaftlichen Pädagogik heute nur noch als Merkposten im Bestandsverzeichnis einer historischen orientierten Buchführung und würde allein Anlass bieten zu retrospektiven Betrachtungen und möglicherweise zu gelegentlichen Diskussionen der Art: ,Was wäre gewesen, wenn…‘? Zu heftig arbeiteten die Mahlsteine von einerseits empirischer bzw. kritisch-rationaler Erziehungswissenschaft und andererseits von kritisch-theoretischer Erziehungswissenschaft vor allem in der Version der Frankfurter Schule, wie sie besonders von Jürgen Habermas ausformuliert wurde. Weder methodisch noch in ihren sozialen Bezügen konnte die Geisteswissenschaftliche Pädagogik jenen Standards entsprechen, die seit Mitte der 1960er Jahre von diesen beiden Strömungen vorgegeben wurden: Dem zangenartigen Angriff der beiden ungleichen, sich selbst unversöhnlich gegenüberstehenden, jedoch für das Gebiet der Pädagogik neuen und verheißungsvollen Positionen hatte die Geisteswissenschaftliche Pädagogik nichts entgegenzusetzen. ,Eine Gestalt des Lebens war alt geworden‘ und ließ sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens, d. h. innerhalb der (immanent) leitenden Kernaussagen (dem nicht hintergehbaren Strukturkern im Sinne von Imre Lakatos) nicht erneuern. So oder doch zumindest so ähnlich stellte und stellt sich die Situation für viele Beobachter und Kommentatoren dar.
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III. Zur Feinanalyse Mein Vorgehen im Folgenden ist ein wissenschaftsanalytisches bzw. wissenschaftssoziologisches; die gesellschaftlichen (Rahmen-)Bedingungen der 1960er und 1970er Jahre setze ich als bekannt voraus; sie fließen hie und da in meine Überlegungen ein, ohne dass ich sie jedoch explizit ausbuchstabiere. Die 1960er und die frühen 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts werden, was die Pädagogik als universitäre Disziplin angeht, erstens, Zeuge einer besonderen, ja, einer außergewöhnlichen Konstellation von theoretischen Aussagen im Sinne eines „dichten Zusammenhang[s] wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente, in der Weise, dass nur die Analyse dieses Zusammenhanges, nicht aber seiner isolierten Bestandteile, ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der Personen, Ideen und Theorien möglich macht“, so Martin Mulsow (2005, 74) in seiner Definition der Konstellationsforschung. Mit Thomas Kuhn (1962/1973) lässt sich diese Konstellation noch weiter eingrenzen und zugleich radikalisieren, wonach wir es, zweitens, mit einem Paradigmenwechsel1, also einer Umwälzung elementarer theoretischer Aussagen, sprich: einer ,wissenschaftlichen Revolution‘, zu tun haben. Wie stellt sich diese Konstellation im Hinblick auf die universitäre Pädagogik dar; bzw. genauer, wie sieht deren Ablaufgestalt aus? Die allgemeinen Faktoren sind bekannt: Wir sprechen, im Anschluss an die metatheoretischen Überlegungen Wilhelm Diltheys, von der sich (nach und nach) etablierenden Richtung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und dann wieder erneut von 1945 bis in die 60er Jahre hinein wirksam sowie fast unangefochten war, und zu deren zentralen Vertretern der ersten Generation Theodor Litt (1880 – 1962), Herman Nohl (1879 – 1960) und Eduard Spranger (1882 – 1963) gehörten; sowie – zeitlich etwas später – die um einige Jahre jüngeren Erich Weniger (1894 – 1961) und Wilhelm Flitner (1889 – 1990). Vor allem Otto-Friedrich Bollnow, Jahrgang 1903, und selbst ein Vertreter einer geisteswissenschaftlich-phänomenologischen Richtung der Pädagogik, hat in diesem Zusammenhang auf einige entscheidende Aspekte im Hinblick auf die ,großen alten Männer‘ bzw. in respektvoller Verehrung auf die „drei Eisheiligen“ (Otto Friedrich Bollnow 1987, 27) hingewiesen2. Zunächst ist hervorzuheben, dass alle drei einer Generation angehören, die lange Zeit, von ihrer Kindheit bis in das frühe Erwachsenalter, in großer Sicherheit und unbedrängt von existentiellen Krisen, im deutschen Kaiserreich aufgewachsen sind. Bollnow spricht davon, dass sie „in der heilen Welt vor 1914 groß geworden“ (27) sind; wobei man hinzufügen muss, 1 Die Rede von Paradigmen und Paradigmenwechseln kann in unserem Zusammenhang nur metaphorisch geschehen, da Kuhn Wissenschaften, die nicht in den Formenkreis der Naturwissenschaften gehören, generell einen vorparadigmatischen Stellenwert zuweist. 2 Es ist zu beachten, dass in der Rezeption Litt, Nohl und Spranger (fast) immer ,im Paket‘ genannt werden; in der Regel ergänzt um die Namen Wilhelm Flitner und Erich Weniger.
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dass es sich hierbei auch um die Welt des konservativen, kaisertreuen Bürgertums handelte, das tendenziell Konventionalität, Starrheit und zum Teil auch Rigorosität beinhaltete. Dass diese Drei nun wieder, alle über 65 Jahre alt, in der Bonner Demokratie dort anknüpfen konnten, wo sie in der Weimarer Republik geendet hatten, ist besonders augenfällig. Dass sie schließlich von 1933 bis 1945 ebenfalls pädagogisch gearbeitet, und sich und ihr Denken mehr oder weniger angepasst hatten, darauf hat Herr Ortmeyer sehr pointiert aufmerksam gemacht. Formal lässt sich jedenfalls festhalten, dass ein reibungsloser Übergang zwischen 1932 und, sagen wir, 1949 hergestellt werden konnte, allerdings mit der fatalen Folge, dass das Denken der 1920er Jahre wieder in die westdeutsche Pädagogik Einzug halten konnte. Last but not least ist darauf zu verweisen, dass ein beträchtlicher Teil der Arbeitsleistung der Genannten während der Zeit der frühen Bonner Republik in organisatorische und politische bzw. politikberatende Tätigkeiten einging, so dass die wissenschaftliche Arbeit nicht oder nicht immer im Mittelpunkt des Schaffens stehen konnte. Wie lässt sich der Vorgang erklären? Wieso konnten die großen Drei ihre Arbeit und verbunden damit ihre Wirkung dort wieder aufnehmen, wo sie sie 1933 verloren hatten? Zunächst: Was fehlt ist jene Generation, von der wir hätten erwarten können, dass sie, etwa um 1910 geboren, das pädagogische Paradigma weiter führt und auch weiter entwickelt. Bollnow spricht von einem ,Vakuum‘ und von einer „verlorenen Generation“, die „nicht … die Möglichkeit [hatte], sich zu entfalten“ (1987, 26). Diese pädagogische Generation existierte nicht; jedenfalls nicht in größerer Zahl bzw. in einflussreicher Position. Tatsächlich wurde sie entweder bis 1945 als nazifeindlich gehindert, eine entsprechende Laufbahn einzuschlagen, oder sie war vor 1945 naziaffin und damit für eine Fortführung der Karriere nicht geeignet. Was wir vielmehr feststellen, ist, dass es die Generation der Enkel ist, die in diese Tradition zunächst einsozialisiert wird, um sie dann für eine sehr kurze Zeit weiter zu führen. Die von Klafki gewählte Bezeichnung der „vorigen Generation“ (Klafki et al. 1970, 56) trifft also auf die Geisteswissenschaftliche Pädagogik als Wissenschaft, nicht aber für den tatsächlichen (biologischen) Generationsverlauf zu. Es sind namentlich die Enkel Wolfgang Klafki (1927), Herwig Blankertz (1927 – 1983) sowie Klaus Mollenhauer (1928 – 1998), die das pädagogische Erbe, vor allem in ihrer gemeinsamen Zeit als Doktoranden in Göttingen und (vornehmlich) von Erich Weniger zunächst übernahmen, aber das Empfangene dann doch eher ausschlugen bzw. vernachlässigten. Genauer: Sie überführten das Ererbte in eine neue Gestalt, die sicher noch das eine oder andere Grundlegende aus dem alten Bestand enthielt, insgesamt aber doch nicht nur wesentlich darüber hinaus und in eine
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andere Richtung ging, sondern Neues präsentierte3. Das lässt sich übrigens auch am personalen Habitus erkennen, wenn man Bilder und verbliebene Ton- und Filmaufnahmen der beiden Gruppierungen vergleicht. Hier prallen in der Tat zwei Welten aufeinander, die nicht miteinander verträglich, also inkommensurabel, sind (siehe z. B. den Film Eduard Spranger. Berlin 1943 (Filmdokumente zur Zeitgeschichte)). Konstatieren lässt sich mithin ein Übergang von den wilhelminisch-kaisertreuen Großvätern der Generation um 1880, den Verlierern der Kriege von 1918 und 1945, zu den zwischen 1927 und 1932 geborenen Flakhelfern, der Aufbaugeneration der Bundesrepublik Deutschland unter Auslassung der ,Generation von 1910‘, die in der NS-Zeit aufwuchs und ihre akademische Prägung erfuhr. Diese Aufbaugeneration war nicht nur ein Produkt der ,re-education‘ – welche die Großväter übrigens mit teils markigen Worten ablehnten –, sondern sie war eine ,Generationseinheit‘ (Mannheim), deren Zusammenhalt, mit Heinz Bude gesprochen, darin lag, dass sie vaterlos, geschichtslos und sprachlos war. Es fehlten, jedenfalls für viele, die biologischen, in unserem Falle auch die wissenschaftlichen Väter, es fehlte eine Geschichte, auf die man zwanglos zurückgreifen konnte und die sich den Studierenden tradieren ließ, und es fehlte, vielleicht zentral, eine Sprache, auf die sich aufbauen ließ. Ich kann an dieser Stelle die ersten beiden Aspekte nicht weiter behandeln, sondern ich möchte vielmehr auf den Aspekt der fehlenden Sprache bzw. einer ,doppelten Sprachlosigkeit‘ eingehen, da sich hieran in besonderer Weise deutlich machen lässt, wie das ,alte‘ von einem ,neuen‘ Paradigma abgelöst wurde. Wieso es den Enkeln nach einigen Tastversuchen mit den alten Begriffen deutlich wurde, dass diese Sprache sich nicht mehr in den Zeitgeist, zumal den wissenschaftlichen, integrieren ließ. Hatte doch insbesondere in den Nachbardisziplinen eine Entwicklung, im Übrigen auch als Teil der re-education, eingesetzt, die die Pädagogik in besonderem Maße als ,verspätete Wissenschaft‘, wenn denn überhaupt als Wissenschaft, erscheinen ließ. Besonders in der Psychologie und Soziologie, als den beiden zentralen Bezugswissenschaften, aber auch in der Politikwissenschaft und z. B. der Publizistik, hatten aus den USA importierte, wenn man so will, auch re-importierte Theorien und besonders Methoden ihren Weg gefunden und die genannten Fächer zum Teil nachhaltig geprägt, wenn nicht gar erst als Wissenschaft etabliert. So lässt sich anhand der aporetischen Schilderung und der Selbstkritik Klaus Mollenhauers aus dem Jahr 1987, dass der von ihm und vielen anderen gewählte Weg in die Sprache der Sozialwissenschaft „nachträglich gesehen der falsche Weg“ (Klaus Mollenhauer 1987, 57), gar „der schlimmste Fehler gewesen ist“ (ebd., 56), noch die
3 Ob es sich hierbei um eine ,echte Revolution‘ oder um ,alten Wein in neuen Schläuchen handelt‘, ist aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive durchaus nicht einfach zu entscheiden.
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Unabweisbarkeit des Problems erkennen. Mollenhauer führt diesen Gedanken wie folgt ein. „Nachdem ich … George Herbert Mead studiert hatte, konnte ich nicht mehr so über den pädagogischen Bezug reden, wie Nohl das tat. Bei George Herbert Mead und in der Anthropologie Pleßners (sic) wurde zumindest über ähnliche Sachverhalte viel differenzierter in einer anderen Terminologie geredet. Da mir neben der Nohl’schen-Weniger’schen Rede keine Alternative zur Verfügung stand, war es kein Wunder, dass wir gleichsam automatisch in die sozialwissenschaftliche Rede hineingingen“ (ebd., 57); und Mollenhauer fügt dann eine Erläuterung andeutend hinzu, „um uns auf diese Weise ein Stück zu emanzipieren“. Die Frage ist: Wovon? Die Antwort lautet: Sicher auch von den Großvätern. Bevor ich diesen wichtigen Punkt vertiefe, ein weiteres Statement Mollenhauers, anhand dessen deutlich wird, dass auch in seinem Selbstverständnis das Alte nicht mehr trug und das Neue noch nicht – oder noch nicht vollständig – vorhanden war bzw. zum Tragen kommen konnte. Die Krise und die mit ihr einhergehende Krisensemantik ist offensichtlich, eine Lösung aber noch unbestimmt. Folgen wir noch einmal Mollenhauer. „An dieser geschichtlichen Stelle wüsste ich nicht, wie man den Schritt hätte anders tun können“ (ebd.). So gesehen ist es einzig die Verheißung des Erfolgs, so wiederum Thomas Kuhn, die die Enkel und damit verbunden das neue Paradigma vorantreibt – das alte Programm hat seine Kraft in einem Maße erschöpft, dass bereits die Hoffnung auf etwas Neues für dessen Verabschiedung ausreicht. Auf die genannten Weisen kam es in den 1960er Jahren, besonders an deren Ende, zur schrittweisen Abkehr der Enkel vom Paradigma der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Erleichtert und eventuell erst ermöglicht wurde dies nun, man muss es sagen, durch den Tod der ,großen Drei‘ zu Beginn der 1960er Jahre. Dass auch Erich Weniger, der engste Schüler und Mitarbeiter Herman Nohls, der zum Wortführer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik avanciert war, nur ein Jahr nach dessen Tod im Jahr 1961 starb, dramatisierte das Geschehen noch einmal, waren doch die Enkel von Weniger an der Universität Göttingen promoviert worden4. Diesen stand es jetzt allerdings frei, sich von ihrem Doktorvater zu emanzipieren; die notwendige Ablösung wurde erleichtert und die damit immer verbundene ,strukturelle Undankbarkeit‘ gemildert. Dass dies dennoch einen emotional schwierigen Prozess darstellt, zeigt sich m. E. beispielhaft noch am – missglückten – Titel der von Ilse Dahmer und Wolfgang Klafki 1968 herausgegebenen Gedenkschrift, die den Titel trägt: ,Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger‘. Hier wird dem Lehrer bereits im Titel, wenn auch posthum, mitgeteilt, dass sein Lebenswerk an ein Ende gekommen sei. Ein interessanter Fall eines Lobes (Gedenkschrift), das unter der Hand missglückt ist. 4 Dass ein (großer) Teil des Erfolgs eines neuen Paradigmas darauf beruht, dass die ältere Generation ausstirbt, wurde von Thomas Kuhn in seiner Arbeit zur Entwicklung der Wissenschaften ebenfalls herausgearbeitet (1962/1973).
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Schließlich ist auf einen weiteren, wissenschaftspolitischen Aspekt zu verweisen: Im Jahr 1969 wurde eine „Rahmenordnung für die Diplomprüfung in Erziehungswissenschaft“ beschlossen und der neuartige Abschluss als Diplom-Pädagogen relativ rasch an den Hochschulen etabliert5. Diese Ordnung sah in aller Regel vor, dass Soziologie und Psychologie als Beifächer mit jeweils (mindestens) 4 Semestern studiert werden mussten. Insofern kamen die Sozialwissenschaften und deren Nomenklatur auf indirektem Wege mit in das Haus der Pädagogik, das jetzt übrigens auch begrifflich immer häufiger als Erziehungswissenschaft firmierte6. Zeitgleich wurde in den Jahren 1969 und 1970 im Medienverbund zwischen Hörfunk und ,Studienbriefen‘ ein Weiterbildungsangebot, das ,Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft‘, auf den Weg gebracht. Lag die Teilnehmerzahl mit ca. 13.500 Personen noch relativ niedrig, so markiert die dazugehörige dreibändige Veröffentlichung unter Federführung von Wolfgang Klafki eine Erfolgsgeschichte: Von dem 1970 publizierten Werk, in dem die Geisteswissenschaftliche Pädagogik nur noch eine Randstellung einnahm, wurden bis 1979 mehr als 400.000 Exemplare verkauft7; so dass in diesem Zusammenhang an die Ausführungen Thomas Kuhns im Hinblick auf die Bedeutung von Lehrbüchern für die Entwicklung einer Disziplin erinnert werden kann: Lehrbücher etablieren ein Feld und helfen, die dort festgelegten Aussagen zu verbreiten und auch – eben als Lehrbuchwissen – zu sichern; was fehlt, fällt dem Vergessen anheim. Fasst man die bisher vorgestellten Aspekte zusammen, so liegen die folgenden Tatbestände im Sinne einer Argumentationskette vor: • Der Tod der drei Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in raschem Abstand um 1960 – verstärkt durch den Tod Erich Wenigers im Jahr 1961. 5
„Nach der ersten Expansion in den 1980er Jahren auf etwa 25.000 stieg die Zahl der Immatrikulierten stetig an und betrug Ende der 1990er Jahre rund 40.000 Studierende in Deutschland“ (Faulstich, in: dgfe-aktuell.uni-duisburg.de/hefte/heft28/beitrag6, 58). 6 Als Beispiel für die beiden unterschiedlichen Sprachspiele kann das für die Geisteswissenschaftliche Pädagogik konstitutive Konzept des pädagogischen Umgangs dienen. So bestimmt Herman Nohl zu Beginn der 1930er Jahre den ,pädagogischen Bezug‘ wie folgt – und diese Definition hatte auch bis in die 1960er Jahre hinein eine Leitfunktion: „Die Grundlage der Erziehung ist … das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und seiner Form komme“ (Nohl 1933). Man konfrontiere diese Aussage beispielsweise mit den empirisch gesättigten Darstellungen von René Spitz zur Interaktion von Müttern und Kindern aus den 1940er Jahren oder den seit den späten 1950er Jahren vorliegenden Ergebnissen von John Bowlby zu den Auswirkungen von Trennung und Verlust in der (frühen) Kindheit. 7 Im Übrigen, Alexander Neills Buch über ,Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill‘ erreichte allein im Jahr 1969 eine Auflage von über 325.000 Exemplaren – ein Beleg für die Bedeutung, die pädagogischen Themen zukam, und ebenso ein Beleg dafür, mit welcher Konkurrenzsituation es die akademische Pädagogik zu tun hatte. Radikalisiert wurde die Kritik noch einmal Mitte der 1970er Jahre mit dem Aufkommen der so genannten ,Antipädagogik‘ im Sinne von Ekkehard von Braunmühl und Hubertus von Schoenebeck.
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• Deren Festhalten an Konzepten aus der Weimarer Republik. • Das Fehlen einer Zwischengeneration, der etwa um 1910 Geborenen. • Die vorläufige Übernahme des pädagogischen Traditionsbestands durch die Enkel. • Die Sprachlosigkeit dieser Generation der Flakhelfer, die nach einer eigenen Diktion und verbunden damit nach differenzierten Darstellungsweisen suchen mussten. • Die Einführung des neuen, sozialwissenschaftlich orientierten Studiengangs der Diplom-Pädagogik. • Das Erscheinen von Lehrbüchern, die sozialwissenschaftlich orientiert waren und in denen die Geisteswissenschaftliche Pädagogik nur mehr – und wenn überhaupt – als Teil der Geschichte der Pädagogik ihren Ort fand. Damit war der Übergang oder, je nach Lesart, die Transformation von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in die Erziehungswissenschaft abgeschlossen. Pfadtheoretisch gesprochen: Aus einer Vielzahl von Optionen hatten sich, zunächst durchaus in einer sprunghaften Logik, nach und nach einige Konstanten herausgebildet, hinter die man nicht mehr zurückgehen konnte. Ein ,lock-in‘ oder ,point of no return‘ war erreicht. Der zeitliche Ablauf, genauer, die in ihm bewusst wie unbewusst getroffenen Optionen, war irreversibel. Angereichert und gewürzt wurde dieser Prozess noch dadurch, dass eine bestimmte Richtung der Sozialwissenschaften, die sich zu dieser Zeit aus unterschiedlichen Gründen heraus großer Beliebtheit erfreute, dass diese Richtung sich als ,Stichwortgeber‘ geradezu anbot: Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, nach kurzer Zeit überwiegend in der Form, wie sie von Jürgen Habermas verkörpert wurde. Auf diese Weise avancierte Habermas, übrigens ebenfalls der Generation der Flakhelfer zugehörig, über Jahre hinweg zum meistzitierten Autor der Zeitschrift für Pädagogik, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren unangefochten das führende Journal der Disziplin war – was dann wiederum zur nicht unerheblichen Verbreitung des (neuen) Programms beitrug8. Nahegelegt wurde dies durch echte oder auch vermeintliche strukturelle Äquivalenzen beider Richtungen: Aus Mündigkeit wurde Autonomie, besser noch Emanzipation; aus dem Zögling oder Educandus wurde ,das autonom handlungsfähige mit sich selbst identische Subjekt‘ (so Ulrich Oevermann, der zumindest in diesem sozialisationstheoretischen Zusammenhang als Assistent von Jürgen Habermas aus dessen Schule kam); der Erziehungswissenschaft wurde schließlich neben dem praktischen Interesse der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik das leitende emanzipato8 Allerdings. Schaut man sich die Zitate einmal an, also zählt sie nicht nur, wie das häufig der Fall ist, kommt zutage, dass Habermas häufig wirklich nur als Stichwortgeber diente. Klassische Beispiele sind Schlagworte wie: ,Erkenntnis und Interesse (Habermas)‘, ,Emanzipation (Habermas)‘, ,Technik und Wissenschaft als Ideologie (Habermas)‘ und so weiter.
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rische Erkenntnisinteresse sensu Habermas hinzugefügt, während das technische Erkenntnisinteresse in seiner Übertragung auf die Sozialwissenschaften doch sehr skeptisch behandelt wurde. Was zu guter Letzt nicht vergessen werden darf, ich habe es bisher nur kurz angesprochen, ist der Tatbestand, dass es ja eine weitere Richtung gab, die, überwiegend inspiriert durch die Nachbarwissenschaften und zeitlich etwas früher, nämlich zu Beginn der 1960er Jahre, bereits zu einer ,Generalattacke‘ angesetzt hatte9. Gemeint ist die empirisch-analytische Pädagogik, häufig in Gestalt des Kritischen Rationalismus sensu Karl R. Popper, welche explizit die methodische Naivität der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik herausstellte – und dies wohl überwiegend zu Recht. Die klassische Texthermeneutik, von Dilthey sehr treffend definiert als die „Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“ (1900), lebte eher von der „Genialität des Interpreten“ als von intersubjektiv nachprüfbaren Aussagen. Auf dieses (für die Pädagogik) neue Verständnis von Wissenschaft konnte die Zunft nicht, zumindest nicht angemessen reagieren; insofern war eine empfindliche Leerstelle benannt worden, die sich auch innerhalb des eigenen Programms (d. h. mit Bordmitteln) nicht füllen ließ. Die Methodenkritik traf die Geisteswissenschaftliche Pädagogik an ihrer empfindlichsten Stelle. In diesem Zusammenhang wird dann aber ebenso das Dilemma der ,Nachfolgegruppierung Kritische Erziehungswissenschaft‘ offenkundig: Auch Blankertz, Klafki und Mollenhauer stand kein angemessener Methodenapparat zur Verfügung10. Ihre Kritik war keine Methoden-, sondern eine Gesellschaftskritik. Und die in diesem Zusammenhang häufig angebotene Alternative der ,Ideologiekritik‘ (z. B. Klafki 1971) erwies sich als ein Schlüssel, mit dem nur große und recht vage Theoriengebäude und Anschauungen geöffnet werden konnten. Ideologiekritik ist eine Denkhaltung, aber keine Methode. – Aus dieser Situation gelangte die sich sozialwissenschaftliche verstehende Erziehungswissenschaft erst nach und nach aufgrund der Rezeption nordamerikanischer Ansätze heraus, vor allem durch die Aufnahme der Soziologie der Chicago School bzw. des Symbolischen Interaktionismus. Wobei sich dann durchaus auch wieder leichte Anklänge an die Hermeneutik Diltheys oder auch an dessen Überlegungen zur Autobiographie finden lassen. Fasst man das bisher Gesagte noch einmal zusammen, so ist es diese doppelte Kritik, die Methodenkritik des empirisch-analytischen Ansatzes sowie die Gesellschaftskritik der Kritischen Erziehungswissenschaft, die die Geisteswissenschaftliche Pädagogik erodieren ließ. 9 Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch eine ,kleine Tradition‘ empirischer Forschung innerhalb der Pädagogik selbst vorlag. 10 Habermas hat die Problematik später und auf einer methodologischen Ebene im Nachwort zu ,Erkenntnis und Interesse‘ (ursprünglich 1968, das neue Nachwort: 1973) unter der Überschrift Selbstreflexion versus Rekonstruktion abgehandelt; von hier aus hat beispielsweise Lawrence Kohlberg sein Konzept der Rekonstruktion moralischer Stufen weiter entwickelt.
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Das alles lässt sich, wie erwähnt, mithilfe einer Theorie der Pfadabhängigkeit der Entwicklung illustrieren: Nachdem einmal die genannten – und sicher noch weitere – Züge aus einer bestehenden Eröffnungsstellung heraus gespielt worden waren, rasteten die unterschiedlichen Elemente ein. Eine Umkehr war nicht möglich.
IV. Was aber ist mit Spranger? Gewissermaßen in einem kleinen Anhang will ich zunächst darauf verweisen, wie die Entwicklung der Disziplin auch hätte verlaufen können, also im Sinne einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung argumentieren, bevor ich abschließend mögliche theoretische ,Kandidaten‘ und damit Ansatzpunkte zur Weiterführung der Ideen Sprangers benennen werde. Zunächst zum ,was wäre gewesen wenn‘ (,what-if‘): In dem schon erwähnten Gespräch mit Klaus Mollenhauer aus dem Jahr 1987 findet sich eine kurze Passage, die er leider nicht weiter ausdeutet, die jedoch Anlass zu bestimmten Vermutungen gibt: „Damals, um 1960 bis1962“, so führt Mollenhauer aus, „war das Projekt einer Pädagogik als empirisch-deskriptiver Sozial- und Verhaltenswissenschaft verführerisch“ (58 f.). Worin hätte diese Verführung begründet sein können, wer waren die Verführer? Sicherlich hatte Mollenhauer nicht einen kruden Positivismus im Blick, der war für ihn und seine Mitstreiter Anathema. Es scheint vielmehr naheliegend, in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Heinrich Roths und damit auf einen gewichtigen Akteur aus dieser Zeit hinzuweisen. Roth, Jahrgang 1906 (gestorben am 7. Juli 1983), hat – ,fast im Alleingang‘ – jene exemplarischen Arbeiten geschrieben, die der mittleren Generation zugekommen wären. Er war, als Übergangsfigur, von den theoretischen Vorstellungen her noch im klassischen Bildungsparadigma verhaftet, während er im Bereich der Methoden für ein strikt empirisches Vorgehen plädier-
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te. Zu erinnern ist an seine epochemachende Göttinger Antrittsvorlesung über die ,realistische Wendung‘ in der Erziehungswissenschaft aus dem Jahr 1962, in der er allerdings keinem unreflektierten Empirismus das Wort redete, sondern die er vielmehr mit dem Verweis auf die sozialwissenschaftlichen und philosophischen Vorstellungen Adornos und Horkheimers beendete. – Ein Hinweis, der bei manchen, die sich heute auf die ,realistische Wendung‘ im Sinne einer theoriearmen Empirie berufen, in Vergessenheit geraten scheint. Aus den Briefen Roths an Herman Nohl geht jedenfalls hervor, dass dieser sich durchaus in der Nachfolge der Begründer der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik verstand (vgl. Hoffmann-Ocon 2006, 31 ff.). So artikuliert er seine Bewunderung wie seine ,Gefolgschaft‘ beispielsweise in einem Schreiben aus dem Jahr 1954, wenn er davon spricht, dass „das pädagogische Gestirn Litt, Nohl, Spranger, Flitner, Weniger uns noch lange voranleuchten möge“ (ebd., 31). Dass der Anschluss an die Geisteswissenschaftliche Pädagogik bei gleichzeitiger Verfolgung eines empirischen Forschungsinteresses eine durchaus riskante Strategie darstellte, darauf weisen Margret Kraul und Christian Ritzi hin. „Die Orientierung hin zur empirischen Bildungsforschung war in den 1950er und 1960er Jahren ein mutiger Schritt. Heinrich Roth verspürte sehr wohl, dass seine Gönner aus der so genannten geisteswissenschaftlichen Pädagogik seine Arbeit misstrauisch beäugten. Seine Leistung verkleinernd sprach er in einem Brief an Herman Nohl vom 24.7. 1958 lediglich von einer ,Akzentverschiebung‘ gegenüber dem vorherrschenden Paradigma und betonte stattdessen die gegenseitige Ergänzungsfunktion von empirischer Bildungsforschung und geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ (Kraul/Ritzi 2006, 3 f.). Für Roth, der schließlich seine erste Professur 1955, also mit 49 Jahren, nicht an einer Universität, sondern an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung (der Vorläuferin des DIPF) in Frankfurt am Main erhalten hatte, war es angesichts seiner prekären beruflichen Situation sicher lange Zeit nicht ratsam, seine durchaus vorhandenen Neigungen, empirisch zu arbeiten, allzu sehr in den Vordergrund zu rücken und damit auf den ,Modernitätsrückstand‘ der ,großen alten Männer‘ aufmerksam zu machen. Entscheidende Anstöße zur Verstetigung und Fortentwicklung seiner methodischen Vorstellungen, aber auch zur Revision seines ,Amerika-Bildes‘, erhielt Roth während einer siebenmonatigen Studienreise in die USA im Jahr 1950. Hoffmann-Ocon spricht von einem „Bekehrungserlebnis“ (2006, 26) und fasst die weit über das Methodische hinausgehende persönliche Entwicklung Roths folgendermaßen zusammen. „In den USA revidierte Roth sein negatives Amerikabild aus der Zeit der Weimarer Republik. Ironischerweise fand er dort zu Beginn der 1950er Jahre jenes pädagogische Leben vor, für das im positiven Sinne stellvertretend die ,goldenen 1920er Jahre‘ stehen. Aber nicht nur
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Detlef Garz sein ursprüngliches Amerikabild wurde erschüttert, sondern es bildete sich bei Roth eine Vorstellung der Demokratie als Lebensform aus“ (ebd., 28)11.
Roth hat damit nicht nur US-amerikanische Theorien und besonders Methoden nach Deutschland gebracht, sondern er ist auch, im ,reifen‘ Alter, eine ,Frucht‘ der re-education – auch das dürfte ihn in den Augen des re-education-skeptischen ,Dreigestirns‘ eher als ,unsicheren Kantonisten‘ gebrandmarkt haben. Sei dem, wie es sei. Roth hat es in den nachfolgenden Jahren, seit 1961 als Professor an der Universität Göttingen, auf jeden Fall verstanden, sowohl wissenschaftlich als auch wissenschaftspolitisch äußerst wirksam zu werden. So war er von 1965 bis 1975 nicht nur einflussreiches Mitglied des Deutschen Bildungsrates (man denke an die Arbeit ,Begabung und Lernen‘ aus dem Jahr 1969), sondern auch im Beirat des 1963 gegründeten Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung sowie sehr aktives Mitglied in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Die wissenschaftliche Leistung Roths gipfelt sicher in seiner ,Pädagogischen Anthropologie‘, die er als ,datenverarbeitende Integrationswissenschaft‘ verstand. In deren Mittelpunkt steht das Sammeln, Integrieren und Reflektieren ,aller‘ für die Pädagogik relevanten Sachverhalte; wobei relevant sich auf empirische Ergebnisse sowie deren Reflexion bezog und damit jegliche ,pädagogische Wesensschau‘ ausschloss. Das konkrete Ziel seiner Forschung bestand in der Ausarbeitung einer ,Entwicklungspädagogik‘, die vielleicht am besten mit dem Schlagwort von John Dewey (und später Lawrence Kohlberg) ,Entwicklung als Ziel der Erziehung (,development as the aim of education‘) zu beschreiben ist. Roths opus magnum umfasst die beiden mit mehr als 1150 Seiten monumentalen Bände seiner ,Pädagogische Anthropologie‘, die er in den Jahren 1966 bzw. 1971 vorlegte. Im ersten Band dieser pädagogischen Menschenkunde untersucht er das Verhältnis von Bildsamkeit und Bestimmung, d. h. die empirische Frage nach den Fähigkeiten des Menschen, nach seinem Können und damit verbunden und normativ orientiert nach der Richtung, in die diese Fähigkeiten beeinflusst oder gelenkt werden dürfen oder – stärker – sollen. Im fünf Jahre später vorgelegten zweiten Band diskutiert Roth die Konzepte Entwicklung als empirische Frage und Erziehung als normative Frage sowie deren Verflechtung. Und obwohl viele der empirischen Ergebnisse in den vergangenen 40 Jahren modifiziert oder ergänzt werden mussten, zeigt sich besonders in der forschungsleitenden Fragestellung das Unverbrauchte der Rothschen Konzeption. Darüber hinaus traktiert er mit der Gegenüberstellung von Bildsamkeit sowie Entwicklung auf der einen Seite die für die Pädagogik als Wissenschaft wichtigen empirischen Fragen, auf der anderen Seite mit den Begriffen Bestimmung und Erziehung die pädagogisch unverzichtbaren normativen – und moralischen – Komponenten.
11 Dass in dieser Entwicklung auch die Abkehr von nationalistischen Vor-Urteilen zum Ausdruck kommt, scheint mir durch Roths weiteren Lebensweg verbürgt.
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Es ist hier der Ort, an dem Eduard Spranger seinen Platz gefunden haben könnte, gehörten doch z. B. die Begriffe Bildung, Jugend und Entwicklung zu den grundlegenden Elementen seiner Arbeit. Dies ist nicht geschehen. Warum? Spranger war doch gewissermaßen der Empiriker der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und hat sich u. a. mit der Interpretation von Tagebuchaufzeichnungen und einer interpretativ-verstehenden Typenbildung beschäftigt. Roth zitiert Spranger in seinem ersten Band 16-mal, im zweiten Band nur noch sechsmal. Und es wird deutlich, dass Spranger für Roth in seinem methodischen Vorgehen dann doch zu spekulativ war, in seiner Sprache zu metaphysisch und zu religiös, so dass Roth das, wonach er suchte, passender bei Piaget und in der US-amerikanischen Literatur gefunden hat12. V. Nun aber noch einmal: Was ist mit Spranger? Ich will abschließend und kurz mögliche ,Kandidaten‘ zur Weiterführung der Ideen Sprangers benennen: Helmut Heiland (1988) hat aus Anlass der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todes von Eduard Spranger zunächst darauf hingewiesen, dass das Programm der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik mausetot sei. „Von einer Renaissance der geisteswissenschaftlichen Pädagogik heute kann … nicht gesprochen werden. Es gibt sie nicht. Ein unbefangener, naiver Rückgriff auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist nicht möglich. Sprangers Pädagogik ist uns durch die Erfahrungen der vergangenen 25 Jahre, während der Spranger weithin vergessen schien, nicht vertrauter geworden“ (1988, 34).
Allerdings gesteht Heiland dann doch ein, dass ,die Sache noch nicht ganz verloren sein muss‘. „So kann beispielsweise Jugendforschung [zwar] nicht an die inhaltlichen und methodologischen Fragestellungen der ,Psychologie des Jugendalters‘13 anknüpfen. Wohl aber kann sie die Tragfähigkeit und Deutungsleistung einer verstehenden Strukturpsychologie als For-
12 Nach einer Würdigung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendforschung fasst Roth in Band II auf Seite 51 zusammen. „Trotzdem sind alle diese Werke überholt, vielleicht weniger im einzelnen als im Grundsätzlichen. Die ungemein umfassenden und aufschlußreichen Quer- und Längsschnittstudien, besonders in den USA, haben eine Fülle kam noch überschaubarer neuer Fakten zutage gefördert. Wichtiger aber erscheint die darin enthaltene prinzipielle Wendung: die Sozialisations- und Lernprozesse haben sich in der Forschung als bedeutsamer für die menschliche Entwicklung zum sozial und kulturell mündigen Erwachsenen erwiesen als die Reifeprozesse“. 13 Die 1924 erstmals erschienene „Psychologie des Jugendalters“ erlebte bis zum Jahr 1979, zuletzt beim renommierten Heidelberger Verlag Quelle und Meyer, 29 Auflagen. – Es sei darauf hingewiesen, dass bei Spranger mit Jugend (fast) ausschließlich der männliche Jugendliche gemeint ist; an dieser Stelle gibt es keinen Unterschied zu Piaget oder auch zum frühen Kohlberg.
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Detlef Garz schungskonzept eines interpretierenden, jederzeit revidierbaren Orientierungsrahmens diskutieren“ (ebd. 34 f.).
Zwei Veröffentlichungen gehören in diesen jugend- bzw. entwicklungspädagogischen Zusammenhang: Ein Aufsatz von Andreas Gruschka in der Zeitschrift für Pädagogik aus dem Jahr 1985, den Heiland allerdings nicht berücksichtigt. Sowie die zahlreichen Arbeiten von Helmut Fend zur Jugendforschung. Gruschka zieht in seinem Aufsatz eine wissenschaftliche Entwicklungslinie ,von Spranger zu Oevermann‘, so auch der Titel seiner Veröffentlichung. Signifikante Ähnlichkeiten, Gruschka spricht sogar von einer theoretischen Verwandtschaft der Autoren (1985, 80), sieht er darin, dass beide Autoren nach Strukturen (der Entwicklung) im Jugendalter suchen sowie dass diese Suche sinnverstehend erfolgen soll. Allerdings muss Gruschka im Laufe seiner Arbeit zugestehen, dass dies Spranger in vielen Hinsichten nicht gelungen ist. Insgesamt kann der von Spranger verfochtene Kunstwerkgedanke im Vergleich mit der intersubjektiv abgesicherten Interpretationsarbeit Oevermanns nicht bestehen, so dass man an ihn anschließend sehr riskant, also wohl auf Sand bauen würde. Erfolgversprechender und auch für mich überraschend scheint eine andere Rezeption zu sein, auf die vor allem Jürgen Zinnecker aufmerksam gemacht hat. Eduard Spranger spielt nämlich in den Ausführungen von Helmut Fend, einem der führenden deutschsprachigen Jugendforscher, eine nicht unerhebliche Rolle. Neben dem etwa 10 Jahre älteren William Stern (*1871) und der 10 Jahre jüngeren Charlotte Bühler (*1893) baut Fend sein Werk in wichtigen Teilen auf den Arbeiten von Eduard Spranger auf. Zinnecker beschreibt das wie folgt. In den genannten Klassikern der Jugendforschung „findet Helmut Fend noch jene Generalisten, für die holistische und humanistische Vorstellungen des Aufwachsens und der menschlichen Entwicklung noch lebendig sind, die er als Bausteine für eine notwendige Reintegration des auseinander strebenden, in Expertise-Segmente zerteilten und überspezialisierten Wissenschaftsfeldes Jugend für unverzichtbar hält“ (Zinnecker 2006, 193). Es sind also Begriffe wie „Ganzheit, Gestalt, Entwicklung und Persönlichkeit“ (ebd.), die die alte mit der neuen Jugendforschung verbinden, so dass eine an dieser Stelle vorgenommene kritische Prüfung und Weiterentwicklung vielleicht doch noch einmal ,vergessene Zusammenhänge‘ ans Licht bringen und damit den ,Empiriker‘ der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik vor dem Vergessen bewahren könnte.
Literatur Otto Friedrich Bollnow im Gespräch mit Klaus Giel, in: Kaufmann, H. B. (Hg.): Kontinuität und Traditionsbrüche in der Pädagogik, Münster 1987, S. 24 – 36. Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt/M. 1987.
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Dahmer, Ilse/Klafki, Wolfgang (Hg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger, Weinheim 1968. Faulstich, Peter: Hauptfach Bildungswissenschaft; abgerufen am 2.5. 2013 unter: dgfe-aktuell.uni-duisburg.de/hefte/heft28/beitrag6, S. 55 – 62. Garz, Detlef: Paradigmenschwund und Krisenbewußtsein, in: Pädagogische Rundschau 43, 1989, S. 17 – 35. – Erziehungswissenschaft, in: Feuerhelm, W. (Hg.): Taschenbuch der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Wiebelsheim 20075, S. 170 – 173. Garz, Detlef/Lee, HyoSeon: The Subject is dead! Long live the Subject! Reflections on the postmodern subject, in: Pacific Science Review 5 (2003), S. 317 – 320. Gruschka, A.: Von Spranger zu Oevermann, in: Zeitschrift für Pädagogik 31 (1985), S. 77 – 95. Heiland, Helmut: Eduard Spranger. Zur fünfundzwanzigsten Wiederkehr seines Todesjahres, in: Erziehen heute 38 (1988) 4, S. 31 – 35. Hoffmann-Ocon, Andreas: Heinrich Roths Weg in das Professorenamt – Biographie aus Dokumenten und Archivalien, in: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (Hg.): „Realistisch denken verlangt geistesgeschichtlichen Kontext“. Prof. Dr. Heinrich Roth zum 100. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2006, 5 – 46; abgerufen am 30.4. 2013 unter: bbf.dipf.de/publikationen/ausstellungskataloge/pdf/realistischdenken.pdf. Kaufmann, H. B. (Hg.): Kontinuität und Traditionsbrüche in der Pädagogik, Münster 1987. Klafki, Wolfgang: Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik, in: Zeitschrift für Pädagogik 17 (1971), S. 351 – 385. Klafki, W. et al. (Hg.): Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft. 3 Bände, Frankfurt/M. 1970. Kraul, M./Ritzi, Chr.: Vorwort, in: Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (Hrsg.): „Realistisch denken verlangt geistesgeschichtlichen Kontext“. Prof. Dr. Heinrich Roth zum 100. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung, Berlin 2006, S. 3 – 4; abgerufen am 30.4. 2013 unter: bbf.dipf.de/publikationen/ausstellungskataloge/pdf/realistischdenken.pdf. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1962/1973. Lehberger, Carolin: Die „realistische Wendung“ im Werk von Heinrich Roth. Studien zu einem erziehungswissenschaftlichen Forschungsprogramm, Münster 2009 (Dissertation Dortmund 2008). Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Theodor Schulze, in: Kaufmann, H. B. (Hg.): Kontinuität und Traditionsbrüche in der Pädagogik, Münster 1987, S. 48 – 65. Mulsow, Martin: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005, S. 74 – 97. Nohl, Herman: Die Theorie der Bildung, in: Nohl, Herman/ Pallat, Ludwig (Hg.): Handbuch der Pädagogik. Bd. 1. Langensalza 1933, S. 3 – 80. Rödel, Bodo: Rekonstruktion der Pädagogik Klaus Mollenhauers: Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik in der Postmoderne, Hamburg 2005 (Dissertation Köln 2003).
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Roth, Heinrich: Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung, in: Neue Sammlung 2, (1962), S. 481 – 490. – Pädagogische Anthropologie. Bd. 1. Bildsamkeit und Bestimmung, Hannover 1966. – Pädagogische Anthropologie. Bd. 2. Entwicklung und Erziehung, Hannover 1971. Eduard Spranger. Berlin 1943 (Filmdokumente zur Zeitgeschichte). Aufnahme der Deutschen Wochenschau GmbH für das ,Archiv der Persönlichkeiten‘. Bearbeitung: Institut für den wissenschaftlichen Film, Göttingen. Spranger, Eduard: Psychologie des Jugendalters, Heidelberg 1924 u. ö. Sydow, Jörg et al.: Organizational path dependence: Opening the black box, in: Academy of Management Review 34 (2009), S. 689 – 709. Zinnecker, Jürgen: Jugendforschung als soziales Feld und als Erfahrung von Biografie und Generation. Für Helmut Fend, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 26 (2006), S. 189 – 205.
Bildung unter dem Diktat der Ökonomie Anmerkungen zu einer folgenreichen Transformation von Schule und Universität Von Gerd F. Hepp Seit nunmehr fünf Jahren hält die seit 2008 grassierende internationale Finanzund Wirtschaftskrise die Welt in Atem. Was mit der Immobilienkrise in den USA begonnen hatte, führte in der globalisierten Welt über unseriöse Kreditvergaben, risikoreiche Bankgeschäfte und hemmungslose Finanzspekulation zu einem weltweiten Desaster. Nachrichten über Bankenpleiten, Staatsbankrotte und staatliche Rettungsaktionen auf Kosten der Steuerzahler beherrschen seitdem die medialen Schlagzeilen. Bei der Ursachenforschung werden fast ausschließlich ökonomische oder rein marktbezogene Fehlentwicklungen benannt. Da für diese letztlich aber Menschen verantwortlich sind, kann man diese aber auch aus einem anthropologischen Blickwinkel betrachten. Genau dies tat der der neue Papst Franziskus in einer Ansprache vor Botschaftern am 16. Mai 2013.1 Schonungslos ging er hier mit den internationalen Finanzmärkten ins Gericht. Deren uneingeschränkte Autonomie habe zu einer „neuen unsichtbaren Tyrannei“ durch eine Minderheit geführt, die ohne staatliche Kontrollen erbarmungslos ihre eigenen Regeln auf Kosten des Gemeinwohls durchsetze. Als den wahren Ursprung dieser Entwicklung konstatierte er jedoch „eine tiefe anthropologische Krise – die Negation des Primats des Menschen!“ Sie offenbare sich „im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur der gesichtslosen Wirtschaft ohne wirklich menschliche Ziele und Zwecke.“ Hinter dieser Haltung verberge sich die Zurückweisung der Ethik, sie bewirke „die Deformierung des Menschen und dessen Reduktion auf die bloße Funktion eines warenverbrauchenden Konsumenten.“ I. Vom Ordoliberalismus zum neuen Neoliberalismus Die Diktatur des ökonomischen Paradigmas, die, wie es hier unmissverständlich heißt, zu einer Deformierung des Menschen geführt hat, ist die Folge globaler Transformationsprozesse. Sie wurden bestimmt vom Siegeszug des neoliberalen Wirtschaftscredos, das sich mit dem Ende des Ost-West Systemgegensatzes seit den 1990er Jahren weltweit durchzusetzen konnte. Dieser hatte bis dahin in den westli1 Vgl.: http://www.vatican.va/holy_father/francesco/speeches/2013/may/documents/papa-fr ancesco_20130516_nuovi-ambasciatori_ge.html.
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chen Gesellschaften noch für eine gewisse innere normative Kohäsion gesorgt. So galt es, Freiheit und Menschenwürde gegen die Vereinnahmungen des Individuums durch kollektivistische Ideologien zu verteidigen. Ohne diesen Abgrenzungsdruck durch den äußeren Feind haben seitdem aber auch die inneren Bindekräfte an Geltungskraft verloren. Dies spiegelt sich auch in der Entwicklung der ökonomischen Theorie wider. In der Frühzeit der Bundesrepublik wurde diese noch von dem aus dem Ordoliberalismus sich entwickelnden älteren Neoliberalismus geprägt. Für die Freiburger Schule um Walter Eucken hatte der Markt noch eine dienende Funktion, er war Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik wurden noch als Einheit gesehen, Freiheit und Gemeinwohl galt es miteinander auszutarieren. Diese Rangordnung bildete auch die Basis für die Idee der sozialen Marktwirtschaft und die Legitimation staatlicher Verteilungspolitik. „Die alten Neoliberalen hatten noch eine feste Wertehierarchie, in der die ideellen Werte vor den materiellen rangierten, der Markt auf der Ebene der Mittel platziert war und der Staat noch eine regulative Ordnungsfunktion hatte. Die Nachfolger, die sich den Begriff unter den Nagel gerissen haben, haben Zweck und Mittel vertauscht und aus dem Markt eine geradezu metaphysische Instanz gemacht.“2 Auch der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich kritisiert die Übersteigerung des marktwirtschaftlichen Gedankens zur totalen Marktgesellschaft, die das menschliche Leben und die Politik einer „Sachlogik des Marktes“ opfere.3 Er fordert deshalb in seinem Entwurf einer zivilisierten Marktwirtschaft, diese in ein übergeordnetes Konzept der Lebensdienlichkeit (Sinnfrage) und eines sozial gerechten Zusammenlebens (Legitimationsfrage) in einer demokratischen Bürgergesellschaft einzubetten. Der „neue Neoliberalismus“ wird dagegen von einem tiefsitzenden Ressentiment gegen alles Institutionelle und vor allem den Staat gespeist.4 Seine Botschaft beansprucht alternativlos zu sein: Wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand und soziale Kohäsion sind in den modernen Gesellschaften nur durch die Steuerungskräfte des freien Marktes und die Gesetze der Marktlogik zu gewährleisten. Sie allein, so wird behauptet, garantieren Dynamik, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Entsprechend gelte es, die in der freien Wirtschaft gültigen Kriterien der Deregulierung, Rationalität und Effizienz sowie das Kosten-Nutzen Kalkül möglichst unverkürzt auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft zu übertragen. Die Politik, nicht nur in der westlichen Welt, hat sich mit regionalen Nuancen diese Denkweise weitgehend zu eigen gemacht. Das Koordinatensystem von Ökonomie, Kultur und Politik ist so in den beiden letzten Jahrzehnten in eine kräftige Schieflage geraten. Beschränkte sich die klassische Ökonomie noch auf die Produktion und den Austausch von Waren, Gütern und Dienstleistungen, so hat sie inzwi2
Norbert Blüm, Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus, Freiburg/Basel/Wien 2006, S. 61. 3 Peter Ulrich, Zivilisierte Marktwirtschaft – eine wirtschaftsethische Orientierung, Bern/ Stuttgart/Wien 2010, S. 33 ff. 4 Ebd., S. 63.
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schen nahezu alle Lebensbereiche kolonisiert. Unter dem Diktat des neoliberalen Paradigmas sind unternehmerische Kommerzialisierung und Industriealisierung überall zur Realität geworden. Dies gilt für den Sport, den Kunst- und Kulturbetrieb, die Medienwelt, den Tourismus sowie Freizeit und Unterhaltung. Parallel hierzu forcierte die Politik in den westlichen Wohlfahrtstaaten einen schrittweisen Rückzug des Staates aus der Finanzierung und der direkten Steuerung jener gesellschaftlichen Bereiche, die zuvor als „öffentlicher Sektor“, als Gemeinschaftsaufgaben gegolten hatten. Dies gilt etwa für das Gesundheitswesen, das Verkehrswesen, Post und Telekommunikation, die Energieversorgung sowie für zahlreiche andere Dienstleistungsbereiche, die zuvor dem Zugriff der Privatwirtschaft entzogen waren. Mehrere Faktoren wirkten hier zusammen. Die These von der abnehmenden Steuerungsfähigkeit des Staates, die exorbitante Verschuldung der öffentlichen Haushalte wie auch das explosionsartige Ansteigen der Sozialstaatskosten. Begleitet wurde dieser Prozess von einer Privatisierungswelle, bei der die Regierungen eine doppelte Strategie praktizierten. Möglichst viele staatliche Aufgaben wurden teils oder ganz in private Hände überführt, um über die Senkung der Staatsquote den Staat finanziell zu entlasten und die Aufgabenerledigung effizienter zu gestalten. Zum andern kam es zu einer Übertragung ökonomischer Denk- und Verhaltensmuster auch auf den Staatssektor, dem eine „Unternehmenskultur“ mit entsprechenden Managementmethoden verordnet wurde. Deregulierung, Wettbewerb, Produkt- und Kundenorientierung sollten auch hier Einzug halten und für innovativen Fortschritt sorgen. Insofern kann man im Falle der staatlichen Institutionen auch von einer „inneren Privatisierung“ sprechen, die die äußere wirkungsvoll ergänzte. Richtungsweisend wurde hier das New Public Management (NPM), das als „Staatsmodernisierung“ etikettiert, in vielen Ländern zu einer inneren Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung nach den Regeln der Betriebswirtschaft führte. II. „Ökonomischer Imperialismus“ – Bildung als Investition in Humankapital Das hier skizzierte neoliberale Paradigma, das heute das Selbstverständnis der modernen Wirtschaftswissenschaft insgesamt prägt, geht im Wesentlichen auf die Chicago School of Economics zurück, die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begründet wurde. Ihre Hauptrepräsentanten, die Nobelpreisträger Theodore W. Schultz, Gary S. Becker und Milton Friedmann, entdeckten nicht nur die Bildung als Feld ökonomischer Analyse und prägten in diesem Zusammenhang den Begriff des Humankapitals. Sie propagierten auch einen Denkstil, der alle gesellschaftlichen Bereiche und alles menschliche Verhalten zum ökonomischen Forschungsgegenstand erhob.5 Becker z. B. sprach 1993 in aller Offenheit von einem ökonomischen Imperialismus als dem Herzstück dieses Denkstils. „Der Horizont der Wirtschafts5 Silja Graupe, Humankapital. Wie der ökonomische Imperialismus das Denken über Bildung bestimmt, in: Deutscher Lehrerverband (Hrsg.), Wozu Bildungsökonomie?, Berlin 2012, S. 37.
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wissenschaft“, so führte er aus, „muss erweitert werden. Ökonomen können nicht nur über die Nachfrage nach Autos sprechen, sondern auch über Angelegenheiten der Familie, Diskriminierung, Religion, Vorurteile, Schuld und Liebe. (…) In diesem Sinne ist es richtig: Ich bin ökonomischer Imperialist. Ich bin überzeugt davon, dass gute Methoden ein weites Anwendungsfeld haben“.6 So wie es heute eine Economics of Religion oder eine Economics of Arts gibt, so hat sich unter den Ökonomen längst auch eine politisch einflussreiche Economics of Education etabliert. Im Zentrum der Bildungsökonomie steht der von der Chikagoer Schule geprägte Begriff des Humankapitals. Danach werden menschliche Fähigkeiten, Können und Wissen als ein Produktionsfaktor gesehen, in den investiert wird, um individuelle und volkswirtschaftliche Renditen zu erzielen. Der Mensch wird dabei selbst zum Kapital, zu einem marktfähigen Gut, einem Produktionsfaktor, der, wie es in einer OECD Studie heißt, „wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Ertrag erbringen [kann].“7 Unter dieser Prämisse handelt die rationale Person prinzipiell eigeninteressiert, d. h. „egoistisch“, denn „sie optimiert die Konsequenzen ihres Handelns im Hinblick auf die eigenen Interessen und bei Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeiten dieser Konsequenzen“.8 Dies gilt auch für „sogenannte“ altruistische Motive und Werte, denn auch sie dienen ausschließlich der Optimierung des eigenen Nutzens. Deshalb muss eine rationale Unternehmensstrategie, die die Unternehmensrendite zu optimieren sucht, bestrebt sein, divergierende Interessen auszugleichen. Vor dem Hintergrund dieses rational-funktionalistischen Menschenbilds wird Bildung folglich auch ausschließlich durch die Brille eines ökonomischen Zweck- und Verwertungsdenkens betrachtet. Bildung wird auf eine ökonomische Ertragsgröße reduziert, sie gilt als strategischer Wachstumsfaktor und Bildungsinvestitionen sind nur dann auch rentabel. Sie sorgen für höhere Einkommen, für Erträge am Arbeitsmarkt und treiben die Produktion von Wissen und technischem Fortschritt voran. Nur so lässt sich nach Auffassung der OECD in einer durch Standortkonkurrenz bestimmten Welt ständig steigender individueller und gesellschaftlicher Wohlstand produzieren. Bereits 1966 war in einer OECD-Studie über den Zusammenhang von Bildung, Humankapital und Wirtschaft mit prophetischer Gewissheit zu lesen: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten, und mit gutem ökonomischem Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist. Und man hört auch schon von Bankfachleuten, zumindest von den Wagemutigeren, dass die Erziehung und Ent6
Gary S. Becker, „Economic Imperialism“ Religion & Liberty, Volume 3, Number 2, 1993. Zitiert nach Silja Graupe, ebd. 7 Brian Keeley, Humankapital, Wie Wissen unser Leben bestimmt, Bonn 2010, S. 32. 8 Kritisch hierzu: Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013, S. 103 f.
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wicklung des menschlichen Fähigkeitsreservoires ein geeigneteres Feld für produktivere Anleihen sein könnte“.9 III. Akteure und Strategien auf der europäischen Ebene Dieses reduktionistische Deutungsmuster von Bildung als ökonomischer Ressource bzw. von Bildungspolitik als Wirtschaftspolitik oder bestenfalls als präventiver Sozialpolitik gilt heute nicht nur in ökonomischen sondern auch in politischen Kreisen als alternativlose Selbstverständlichkeit. Es wird von einflussreichen Wirtschaftsakteuren auf der internationalen wie der nationalen Ebene ebenso machtvoll wie erfolgreich propagiert. Dies gilt zunächst für global agierende Marktinstitutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IFW), die Weltbank oder die Welthandelsorganisation (WTO). Für Deutschland ist im Zuge wachsender internationaler Verflechtung jedoch vor allem die europäische Ebene bedeutsam. Dort nimmt, bildungspolitisch gesehen, seit den 1990er Jahren die OECD eine Führungsrolle, ein, obwohl sie gegenüber den nationalen Regierungen über keinerlei rechtliche Kompetenzen verfügt. Neben zahlreichen bildungspolitischen Gutachten, Analysen und Empfehlungen veröffentlicht sie seit 1992 jährlich den auch in Deutschland vielbeachteten Bericht „Bildung auf einen Blick“ (Education at a Glance). Die hier definierten Bildungsindikatoren bilden nicht nur die Basis für den internationalen Leistungsvergleich der Bildungssysteme, sie gelten auch als Norm für die nationale Bildungsberichterstattung. Der entscheidende Durchbruch gelang der OECD jedoch mit den von ihr verantworteten PISA-Studien, die seit dem Jahr 2000 in dreijährigem Turnus durchgeführt werden. Die hier vorgegebenen Benchmarks und Standardisierungen lösten vor allem in jenen Ländern, die nur mittelmäßig oder schlecht abgeschnitten hatten, intensive Diskurse und Debatten aus. Der auf diese Weise öffentlich gemachte Vergleich setzte die Regierungen dieser Länder unter einen enormen Handlungsdruck. Alle Reformbemühungen galten nun dem Bestreben, bei künftigen Ratings und Rankings besser abzuschneiden. Vor allem mit PISA hat sich so die OECD ein weiches, aber äußerst wirksames Steuerungsinstrument geschaffen, um auf die Bildungspolitik souveräner Staaten im Sinne der eigenen Konzepte Einfluss zu nehmen.10 Auch die Europäische Union steht ganz im Banne der neoliberalen OECD-Konzepte. Dies zeigt schon ein flüchtiger Blick in die zahlreichen Strategiepapiere, Memoranden oder Weißbücher, die die EU zum Thema Bildung oder Ausbildung vorgelegt hat. Der funktionalistische und technokratische Grundtenor der Argumente und Leitbegriffe wie auch der ökonomistische Sprachjargon sind in weiten Teilen austauschbar. Dieser Trend hat sich spätestens seit der Lissabon-Erklärung im 9 OECD, Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand, Wien 1966, S. 46. Zitiert nach Silja Graupe, Humankapital, S. 35. 10 Kerstin Martens/Klaus Dieter Wolf, Paradoxien der neuen Staatsräson. Die Internationalisierung der Bildungspolitik in der EU und der OECD, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 13. Jg., Heft 2, 2006, S. 163 ff.
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Jahre 2000 durchgesetzt. Mit dieser hatte der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs als gemeinsames Ziel festgelegt, bis zum Jahre 2010 die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Besonderes Gewicht, so hieß es damals, sei deshalb auf Wissen, Innovation und die Optimierung des Humankapitals zu legen.11 Europas Bildungs- und Ausbildungssysteme sollten am Bedarf der Wissensgesellschaft und der Steigerung qualifizierter Beschäftigung ausgerichtet werden. Postuliert wurden u. a. eine deutliche Steigerung der jährlichen Investitionen für Humankapital und Weiterbildung sowie eine Anpassung der Lern- und Ausbildungsangebote an die technologischen Umbrüche sowie eine europaweite Festlegung der Grundfertigkeiten, die durch ein lebenslanges Lernen zu vermitteln seien. Die Europäische Kommission, die auch die Lissabon-Erklärung initiiert hatte, verstärkte in der Folgezeit ihre Aktivitäten, um durch ein immer dichter gewobenes Netz von Gemeinschaftsaktivitäten und Aktionsprogrammen die von ihr angestrebte Konvergenz der nationalen Bildungssysteme voranzutreiben. Die neu entdeckte Gemeinschaftsaufgabe Bildung wurde von ihr nun als der „wirtschaftliche Erfolgsfaktor“ des 21. Jahrhunderts definiert, um die für 2010 von der EU anvisierten Ziele in der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu erreichen. Um einen einheitlichen integrierten europäischen Bildungsraum zu schaffen, wurden vielfältige Programme und kostenintensive Initiativen auf den Weg gebracht. So wurden in dem Arbeitsprogramm „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ sämtliche Aktionen im Bildungsbereich auf der europäischen Ebene, auch im Bereich der Weiterbildung und Hochschulbildung, miteinander vernetzt. Daneben stehen zahlreiche Förderprogramme sowie die Bemühungen, einen Europäischen Qualifikationsrahmen für ein lebenslanges Lernen (EQR) einzuführen. Als europaweiter Referenzrahmen soll er die Vergleichbarkeit aller in den Mitgliedsstaaten erworbenen Qualifikationen ermöglichen. Eine Schlüsselstellung kommt jedoch dem Bologna-Prozess zu. Er wurde zwar für die Harmonisierung des Hochschulwesens konzipiert, fungiert jedoch auch als Katalysator und Einfallstor für Reformprozesse in anderen Bildungsbereichen. Seit der Lissabon-Erklärung hat hier die Kommission das Gesetz des hochschulpolitischen Handelns an sich gezogen und bestimmt durch ihre zahlreichen Initiativen, Aktionen und Netzwerke alle weiteren Schritte zur Einrichtung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums. Als Bremsklotz für die Bemühungen der Kommission erweisen sich aber die einschlägigen Vertragstexte der EU. Sie enthalten für den Bildungsbereich ein ausdrückliches Verbot jeglicher Harmonisierung und sehen vor, dass die EU-Organe lediglich unterstützend tätig werden können. Um dieses Verbot zu umgehen praktiziert die Kommission seitdem mit großem Erfolg die weichere Methode der offenen Koordinierung (OMK). Dieses Verfahren sieht vor, dass die Mitgliedstaaten anhand von Zielvorgaben (benchmarks als europäische Durchschnittsbezugswerte) durch jährli11 Ingeborg Berggreen-Merkel, Europäische „Bildungspolitik“ am Vorabend einer Europäischen Verfassung, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 53 (2004) 4, S. 456 ff.
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che Umsetzungsberichte (monitoring) ihre Fortschritte untereinander vergleichen (peer-review) und dabei versuchen, gute Beispiele anderer Mitgliedstaaten aufzugreifen, um damit ihre eigenen Umsetzstrategien zu verbessern (best practice). Ihre verblüffende Dynamik schöpft die OMK dabei aus dem psychologischen Element der gegenseitigen Zielerreichungsprüfung durch die Ratsmitglieder und dem Faktum, dass sich kein Land beim „Benchmarking“ im unteren Drittel einer Rangliste sehen möchte. Diese Wirkung entspricht auch dem politischen Kalkül der Kommission, die hier auf die Strategie eines freiwillig koordinierten Selbstzwanges setzt. Obwohl sie im Bildungsbereich nur über eine reine Förderkompetenz verfügt, hat sie sich so ein höchst wirksames Steuerungsinstrument geschaffen, mit dem sie das Subsidiaritätsprinzip und damit die einzelstaatliche Souveränität im Bildungsbereich gezielt unterlaufen kann. IV. Die Rolle der Bertelsmann-Stiftung Unterstützt werden die OECD und die Europäische Union bei diesen Bemühungen um eine marktkonforme Umgestaltung und Anpassung des Bildungswesens in den Mitgliedsstaaten von einer mächtigen Lobby von Arbeitgeberverbänden, Konzernen, wirtschaftsnahen Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen.12 Ferner von mächtigen Think Tanks, wie etwa der Bertelsmann-Stiftung, die als verlängerter Arm der Bertelsmann AG fungiert.13 Sie ist heute in Deutschland die größte und einflussreichste operative Unternehmensstiftung, die mit einem Anteil von ca. 77 % zugleich Mehrheitseigentümerin des Kapitals der Bertelsmann AG ist, des weltweit fünftgrößten Medienkonzerns. Die aus Steuererlassen und Gewinnen finanzierte Stiftung verfügt immerhin über einen Jahresetat zwischen 60 bis 70 Millionen Euro und ist so heute die bei weitem finanzstärkste Einrichtung in der deutschen Stiftungslandschaft. Sie versteht sich als gesellschaftlicher Reformmotor, der darauf abzielt, durch vielfältige Initiativen betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente, privatunternehmerische Managementstrukturen und Qualitätssicherungssysteme im staatlichen Schul- und Hochschulbereich zu implementieren. Hierzu hat sie sich in den letzten Jahren ein feinmaschiges und weitgespanntes Kooperationsnetzwerk aufgebaut, das parteiübergreifend große Teile der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Eliten umfasst und in seiner öffentlichen Wirkung auch durch die starke verlegerische Präsenz des Konzerns in den Print- und elektronischen Medien verstärkt wird.14 Die Stiftung kooperiert so in bildungspolitischen
12 Hierzu ausführlich: Gerd F. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2011, S. 84 ff. und S. 102 ff. 13 Vgl. hierzu: Thomas Schuler, Bertelsmann Republik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik, Frankfurt/New York 2010. 14 Inzwischen gibt es eine Flut von Publikationen, die sich mit der politischen Rolle der Stiftung kritisch auseinandersetzen. Stellvertretend seien hier genannt: Thomas Schuler, Bertelsmann Republik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik, Frankfurt/New York 2010.
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Fragen nicht nur mit dem BMBF, der KMK, zahlreichen Länderministerien und Schulverwaltungen, sondern auch mit anderen Stiftungen. Von Kritikern wird der Stiftung deshalb nicht zu Unrecht auch die Rolle einer Quasi-Nebenregierung im Bildungsbereich zugeschrieben.15 Unter den zahlreichen Initiativen im Schulbereich sei hier nur beispielhaft das von ihr entwickelte „Instrument zur Qualitätsverbesserung von Schulen“ erwähnt, das unter dem Namen SEIS inzwischen in über 5200 Schulen eingeführt wurde. SEIS soll die Schulen zur Selbstevaluation befähigen, um Schulentwicklung „effizienter, effektiver, systemischer und nachhaltiger“ werden zu lassen.16 Besonders engagiert hat sich die Bertelmann Stiftung aus strategischen Gründen vor allem aber in der Hochschulpolitik. 1994 gründete sie gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz das gemeinnützige CHE Centrum für Hochschulentwicklung.17 Taktisch geschickt erlangte die Stiftung durch die gemeinsame Trägerschaft mit der HRK eine quasi öffentlich-rechtliche Legitimationsbasis für ihr operatives Beratungsgeschäft und somit einen privilegierten Zugang zu den Hochschulleitungen in Deutschland. Das CHE, dessen Etat zu 75 % von der Bertelsmann Stiftung getragen wird, versteht sich als „Reformwerkstatt“ für das deutsche Hochschulwesen, das Konzepte zur Hochschulreform entwickelt, als Projektpartner für Hochschulen und Ministerien und als Anbieter von Fortbildungsveranstaltungen tätig ist. Als Leitbild dient die Idee der „entfesselten Hochschule“, die „autonom, wissenschaftlich, profiliert und wettbewerbsfähig, wirtschaftlich, international und neuen Medien gegenüber aufgeschlossen“ sein soll. Konkret gehören dazu die Kernforderungen des CHE nach staatlicher Deregulierung, effizienten Führungsstrukturen, gestuften Studiengängen, Wettbewerbssteuerung, Selbstauswahl der Studierenden und einer die staatlichen Zuschüsse ergänzenden privaten Bildungsfinanzierung. Diesem vor allem von unternehmerischen Prinzipien bestimmten Leitbild folgen im Wesentlichen auch die in den letzten Jahren eingeleiteten hochschulpolitischen Kurskorrekturen wie sie in den Novellierungen der Hochschulgesetze der Länder ihren Niederschlag gefunden haben. Das CHE hat diesen Paradigmenwechsel mit zahlreichen Symposien, Foren, Pilotprojekten, Rankings, Expertisen und Arbeitspapieren nicht nur propagiert, sondern seine Implementierung durch die politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern auch inhaltlich maßgeblich mitgestaltet.18 So geht
Ferner: Jens Wernicke/Thorsten Bultmann (Hrsg.), Netzwerk der Macht-Bertelsmann. Der medial-politische Komplex aus Gütersloh, Marburg 2007. 15 http://www.nachdenkseiten.de/?p=3036. 16 http://www.seis-deutschland.de/. 17 http://www.che.de/. 18 Der Erfolg des CHE ist ebenso erstaunlich wie unglaublich. Sein ehemaliger Leiter, Detlef Müller-Böling, äußerte hierzu später im Rückblick: „Man darf Frösche nicht fragen, wenn man ihren Teich trockenlegen will. Hochschulpolitik ist ein vielrädriges Gebilde. Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann. Wir haben Angebote und neue Ideen in die Debatte gebracht – das schafft Nachfrage. Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit
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z. B. das 2007 in Kraft getretene nordrhein-westfälische Hochschulgesetz, gewissermaßen das bundesweite Vorreitermodell für die unternehmerische Hochschule auf einen entsprechenden Entwurf des CHE zurück, den sich die Politik weitgehend zu eigen gemacht hat.19 V. Outputsteuerung, Bildungsertrag und Wirtschaftswachstum – die strategische Bedeutung des Kompetenzmodells der OECD Ob die OECD, die EU, die Bertelsmann-Stiftung oder andere Akteure, sie alle operieren mit ähnlichen Argumenten und Leitbegriffen. Durchweg geht es dabei in erster Linie nicht um die politisch legitime Ausrichtung der Bildungspolitik an den Prämissen der Wirtschaftlichkeit bzw. um einen rationalen Einsatz öffentlicher Finanzressourcen. Im Zentrum der Bildungsbemühungen steht vielmehr die Ausrichtung an den Imperativen der globalisierten Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Oberster Maßstab ist die employability, die unmittelbare Verwertbarkeit von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissen in der Berufs- und Arbeitswelt. Es geht darum, über schulische und akademische Bildungsprozesse „Menschen hervorzubringen, die sich möglichst nahtlos in die Anforderungen moderner globalisierter Ökonomie einfügen“.20 Benötigt werden dafür passgenaue und transferfähige Kompetenzen, die praxis- und anwendungsorientiert dem Anforderungsprofil der Wirtschaft entsprechen. Daher denkt die neue Philosophie der Output-Steuerung, wie in der Industrie üblich, den gesamten schulischen und akademischen Bildungsprozess vom Ende her. Bildung ist so ein zweckgebundenes Ergebnis, ein produktrelevantes Gut, das es mittels einer Kosten-Nutzen-Analyse zu optimieren gilt. Um dieses Ausbildungsgut preisgünstig und ökonomisch rentabel herzustellen, müssen daher auch die Bildungseinrichtungen – so die Auffassung der Wirtschaft – nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und Normen organisiert sein. Schulen und Hochschulen erhalten daher feste Zielvorgaben mittels Zielvereinbarungen, die eine strikte Performanzorientierung sichern sollen. Diese sind durch permanente Leistungsmessungen und ein System der Qualitätssicherung in Form regelmäßiger Selbst- und Fremdevaluationen zu überprüfen. Ein betriebswirtschaftliches Controlling, das auf Kennziffern und einer Kosten-Leistungsrechnung basiert, hat die Aufgabe, für eine effiziente Ressourcensteuerung zu sorgen. Ein hierarchisches Führungsmanagement schließlich ist für die Gesamtsteuerung im Sinne der angestrebten Ziele verantwortlich. Der auf dieser Basis erzielte Output, also die Ergiebigkeit der Performanz, lässt sich nach Maßgabe der jeweils 300 Mitarbeitern“. Zitiert nach Thomas Schuler, Bertelsmann Republik Deutschland, S. 150. 19 So die Einschätzung von Wolfgang Lieb, der von 1996 – 2000 Wissenschaftsstaatssekretär in Nordrhein-Westfalen war. (http://www.nachdenkseiten.de/?p=115.) Ausführlich hierzu: Thomas Schuler, Bertelsmann Republik Deutschland, S. 160 ff. 20 Volker Bank, Vom Wert der Bildung. Bildungsökonomie vs. Qualifikationsökonomie, in: Deutscher Lehrerverband (Hrsg.), Wozu Bildungsökonomie?, Berlin 2012, S. 21.
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Bildungsökonomie quantifizieren und messen. Für die Schule etwa in Form von Klassenarbeiten und Tests oder auch durch einheitliche nationale Bildungsstandards. Die erreichten Leistungspunkte lassen sich sodann wiederum als volkswirtschaftlicher Outcome berechnen, d. h. als in Geld bewerteter Bildungsertrag. Dies praktiziert die Bildungsökonomie beispielsweise mit den Ergebnissen der von der OECD verantworteten PISA-Studien. So hat z. B. der Bildungsökonom Ludger Wößmann in diesem Kontext eine in der Abstraktion geradezu abenteuerliche wie in ihrer bilanzbuchhalterischen Nüchternheit erschreckende Punkterechnung aufgemacht. Er hat als konkreten Schwellenwert für unzureichende Bildung einen Wert von 420 PISA-Punkten errechnet und zugleich einen Wachstumskoeffizienten von 1,265 bestimmt, der bei einer Kompetenzerhöhung von 100 PISA-Punkten ein entsprechendes zusätzliches Wirtschaftswachstum erbringt.21 Um die standardisierte Leistungsmessung des Bildungsoutputs und dessen internationale Vergleichbarkeit durch Rankings zu ermöglichen, benötigte die OECD ein entsprechendes Kompetenzmodell. Dieses hat sie in Eigenregie speziell für die PISAStudien konzipiert, wobei sie die nationalen Lehrpläne, deren Besonderheiten wie auch den deutschen Bildungsbegriff, unberücksichtigt ließ. Bewertet wurden so Basiskompetenzen in lediglich drei Fächern, nämlich die Lesekompetenz, die Mathematikkompetenz und die naturwissenschaftliche Kompetenz. Keineswegs ging es aber dabei, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, um objektive und somit wertfreie Empirie. Vielmehr räumte das deutsche PISA-Konsortium bei der Veröffentlichung der ersten Studie explizit ein, dass die PISA-Tests mit ihrem Verzicht auf transnationale curriculare Validität „und der Konzentration auf die Erfassung von Basiskompetenzen ein didaktisches und bildungstheoretisches Konzept mit sich führen, das normativ ist“.22 Anders ausgedrückt: Mit dem PISA-Test hat sich die OECD ein höchst wirksames Steuerungsmedium geschaffen, um das eigene Bildungskonzept souveränen Staaten überzustülpen und das diesem zugrunde liegende ökonomistische Menschenbild zur selbstverständlichen Norm der schulischen Bildung zu machen. Über ein vermeintlich objektives Testverfahren wird damit durch die Hintertür ein neuer Bildungsbegriff eingeführt, der normativ wirkt und so „eine neue, eigene Norm für Bildung“ setzt.23 Die Befunde der PISA-Studien, die 2001 erstmals veröffentlicht wurden, stellten bekanntlich der Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems im internationalen Vergleich ein unerwartet schlechtes Zeugnis aus. Trotz seiner inhaltlichen Engführung und der Beschränkung auf lediglich drei Fächer lösten die Ergebnisse in Deutschland geradezu einen nationalen Schock aus. Er wurde auch nicht dadurch gemildert, dass der Test in Konstruktion, Durchführung und Auswertung vielfach kri21
Silja Graupe, Humankapital, S. 43. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 19. 23 Jochen Krautz, Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München 2011, S. 85. 22
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tisierte Schwachstellen aufwies. Schon die statistische Vergleichbarkeit stand auf tönernen Füßen. So hatten sich in Deutschland von annähernd 10 Millionen Schülern nicht einmal 5000 dem Test unterzogen, in der viel kleineren Schweiz dagegen 20000.24 Durch die hysterische mediale Inszenierung der PISA-Ergebnisse wurde jedoch – ganz im Sinne der OECD – in der deutschen Öffentlichkeit ein beispielloser Druck aufgebaut. Alle bildungspolitischen Bemühungen konzentrierten sich nun nur noch darauf, bei der nächsten PISA-Studie unbedingt besser abzuschneiden. Der Politik erschien es daher plausibel, das bildungstheoretische Konzept der OECD zur Richtschnur des bildungspolitischen Reformhandelns zu machen. In kürzester Zeit wurde nun das Schulwesen in hektischer Betriebsamkeit auf einen outputorientierten Reformkurs getrimmt: Die Lehrpläne wurden auf Kompetenzorientierung umgestellt, nationale Bildungsstandards beschlossen, länderinterne Vergleichsarbeiten und zentrale Prüfungen ebenso eingeführt wie standardisierte Evaluationen zur Qualitätssicherung durch aus dem Boden gestampfte Schulinspektionen. Dem Schulalltag brachten all diese Neuerungen enorme Belastungen, vor allem in pädagogischer Hinsicht hatten sie bedenkliche Folgen. Denn gelernt wurde jetzt nur noch von Test zu Test, so dass seitdem das Lernen in der Schule in Deutschland weitgehend zum Teaching to the test verkommen ist. Das von der OECD übernommene Kompetenzmodell, das in mehreren Grundlagetexten erläutert wird, diente für dieses gigantische Reformprogramm gewissermaßen als Blaupause. Bei der Definition des Kompetenzbegriffs orientierte sich die OECD weitgehend an einer Formulierung des Psychologen Franz Weinert, ungeachtet der Tatsache, dass diese Definition vor allem in der Erziehungswissenschaft sehr kontrovers diskutiert wird.25 Danach beinhaltet Kompetenz kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten „sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten“, die es zu nutzen gilt, um Probleme in variablen Situationen lösen zu können.26 Welche pädagogischen Ziele und Erwartungen die OECD damit im Einzelnen verknüpft, kann man z. B. einer 2005 erschienenen Broschüre entnehmen. Die gibt darüber Auskunft, welche Schlüsselkompetenzen „für ein erfolgreiches Leben und eine gut funktionierende Gesellschaft“ erforderlich sind.27 „Von den Menschen“, heißt es hier unter anderem, „wird nicht nur Anpassungsfähigkeit, sondern auch Innovationsfähigkeit, Kreativität, Selbstverantwortung und Eigenmotivation erwartet“.28 Solche Kompetenzen seien erforderlich, um sich in seinem eigenen Umfeld gut zurechtzufinden, einen Arbeitsplatz zu finden und zu be24 Konrad Paul Liessmann, Was der Glaube an Statistiken bewirkt. Eine Nachlese zu Pisa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Dezember 2010, S. 6. 25 Vgl. Volker Ladenthin, Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 86, Heft 3, 2010, S. 346 – 358. 26 Franz E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim/Basel 2001, S. 27 f. 27 OECD, Definition und Zusammenfassung von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung, 2005, S. 6, http://www.oecd.org/pisa/35693281.pdf. 28 Ebd., S. 10.
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halten oder um sich an den technologischen Wandel anzupassen. An einer Stelle, bei der es um das „Interagieren in heterogenen Gruppen“ geht, wird ferner die Fähigkeit eingefordert, „gute und tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen zu unterhalten“. Denn: „Gute zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht nur eine Voraussetzung für den sozialen Zusammenhalt, sondern sind zunehmend auch für den wirtschaftlichen Erfolg wichtig. In Unternehmen wird vermehrt auch Wert auf emotionale Intelligenz gelegt.“29 Schon die technokratisch-funktionalistische Sprache dieses Vokabulars wirkt befremdlich. Der Kompetenzbegriff der OECD, so lässt sich resümieren, ist ein formalabstraktes Konstrukt, ein inhaltsleerer Begriff, der dennoch normativ stark aufgeladen ist. Rein funktionalistisch zielt er darauf ab, das Individuum in seiner gesamten Lernbiografie möglichst passgenau für die Erfordernisse der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung und des Arbeitsmarktes zu instrumentalisieren. Es geht um zweckhafte Anpassung, um unkritische Affirmation der Normen und Spielregeln der Marktgesellschaft, um Formung der menschlichen Person zu einem homo oeconomicus. Kompetent im Sinne des dahinter stehenden Humankapitalansatzes verhält sich die einzelne Person dann, wenn sie leistungsorientiert, kreativ, flexibel und teamorientiert agiert und im Sinne des self-empowerment, als Intrapreneur ein an den Zielsetzungen des Marktgeschehens orientiertes Selbstmanagement praktiziert. Selbstzwang tritt so an die Stelle von Fremdzwang, Unterordnung und Einfügung erfolgen im Bewusstsein der eigenen Freiheit, die schon Marx bekanntlich als Einsicht in die Notwendigkeit definierte. Die in diesem Sinne verantwortungsvolle Person kann so, ohne Reibungsverluste in das als naturgesetzlich wahrgenommene Marktsystem integriert werden. Jochen Krautz hat diesen Zusammenhang treffend beschrieben und als innere Ökonomisierung bezeichnet. Folgerichtig spricht er sogar von einem totalitären Zugriff auf die Person durch das Kompetenzmodell.30
VI. Bildung der Persönlichkeit – Humboldts Bildungsidee Das dem Kompetenzmodell zugrundeliegende Menschenbild hat nichts mehr gemein mit dem humanistischen Ideal der Bildung der Persönlichkeit und dem aufklärerischen Ziel der personalen Mündigkeit, wie es in Deutschland vor allem Wilhelm von Humboldt begründet hatte.31 Humboldt hatte damit zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bis heute wirkmächtige Tradition von Bildung begründet, die nach dem Motto, „Werde, der du bist – werde, der du sein kannst“, Bildung als reine und zweckfreie Menschenbildung postulierte. Die Person sollte nach Humboldts Auffassung im Prozess der individuellen Selbstfindung durch umfassende Kulturaneignung geistig autonom und frei werden und so vor Vereinnahmungen durch äußere Sachzwänge, vor allem auch des Wirtschaftslebens, geschützt werden. Dies sollte durch eine in29
Ebd., S. 14. Jochen Krautz, Ware Bildung, S. 126 ff. 31 Gerd F. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 15 ff.
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tensive Befassung mit Inhalten, Sinn- und Traditionsbeständen der Kultur geschehen. Mit der Kompetenzorientierung, die heute die schulischen Lehrpläne und die Studienordnungen der Hochschulen in Deutschland weitgehend prägt, ist diese personale und kulturelle Dimension auf allen Bildungsebenen mehr oder minder obsolet geworden. Im PISA-Test der OECD fehlt daher auch der gesamte Bereich der gesellschaftlich-ethischen Fächer wie auch die gesamte musisch-ästhetische Bildung. Diese Bereiche lassen sich, da es in ihnen um Kriterien des guten Lebens und um kulturelle Inhalte geht, nicht in messbaren Quantitäten abbilden. Ganz besonders gilt dies für den Ethik- oder Religionsunterricht, d. h. für Fächer, in denen es um innere personale Überzeugungen geht, die sich nur im Dialog und im Gespräch vermitteln lassen. Glaubensstandards und ethisch-religiöse Kompetenzmessungen machen keinen Sinn. Das Nichtmessbare wird aber, so der Erziehungswissenschaftler Marion Heitger, dadurch wertlos. „Werte von Liebe, und Güte, von Besonnenheit und Gelassenheit, vom Mut zur eigenen Meinung, von Redlichkeit und Bescheidenheit (…) sind Werte, die durch das Instrumentarium der Evaluation wertlos werden.“32 Ihre ökonomische Rentabilität lässt sich nicht in Punkten ausdrücken, für eine auf Konkurrenz, Konsum und Wachstum ausgerichtete Erwerbs- und Wirtschaftswelt scheinen diese Werte ohnehin eher störend oder gar kontraprodukiv zu sein. Schulfächer, für die solche Fragestellungen und Inhalte bedeutsam sind, treten so in den Hintergrund und werden zu zweitklassigen Fächern. Noch weit mehr als im schulischen haben sich die Ökonomisierungsstrategien im universitären Bereich durchgesetzt. Das klassische Modell der deutschen Universität hat dadurch eine geradezu kulturrevolutionäre Umgestaltung erfahren. Es war vor 200 Jahren maßgeblich durch Humboldts Universitätsidee geprägt worden. Zu deren zentralen Forderungen gehörten die Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre sowie die „Bildung der Persönlichkeit durch Wissenschaft“ in der breitgefächerten universitas litterarum. Akademische Bildung sollte vor allem der Geistesbildung dienen und die künftigen Eliten für Führungsämter im Staat mit entsprechenden Fähigkeiten und Tugenden ausstatten. Dazu gehörten für Humboldt etwa das selbständige Denken und Arbeiten, das Denken in Zusammenhängen sowie klares und gewandtes Argumentieren. Aber auch kritisch abwägendes Urteilen, Einbildungskraft und Sprachfertigkeit.33 Um diese Geisteshaltung auszubilden bedurfte es aus Humboldts Sicht aber der größtmöglichen Freiheit für Lehrende und Studierende, die er institutionell in der korporationsrechtlich autonomen, wenn auch staatlich alimentierten Universität gewährleistet sah. Gleichzeitig war er aber auch der Überzeugung, dass „eine zweckfreie, nur der Erkenntnis und Wahrheitsfindung verpflichtete 32
Marian Heitger, Kritik der Evaluation von Schulen und Universitäten, Würzburg 2004, S. 74. 33 Was Humboldt unter allgemeiner Geistesbildung verstand, hat er in seinem Gutachten zur Einrichtung eines Staatsexamens beschrieben. Vgl. von Wilhelm Humboldt, Gutachten über die Organisation der Ober-Examens-Kommission, in: ders., Werke in fünf Bänden, Bd. IV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Darmstadt 2002, S. 85.
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Wissenschaft auch die nützlichste“ sei. Damit wollte er verdeutlichen, dass nur eine den ganzen Menschen bildende Wissenschaft jene Kräfte freisetzen könne, die für eine Humanisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens notwendig, von daher gesehen also nützlich sind.
VII. Der Bologna-Prozess – die Verberuflichung von Bildung Humboldts Universitätsidee ist im Zeitalter der modernen Massenuniversität teilweise zum Mythos geworden. Dies gilt vor allem für seine Idealvorstellung von der forschenden Lehre. Jenseits aller strukturellen und organisatorischen Verwerfungen, die seitdem die Hochschul- und Forschungslandschaft umgepflügt haben, ist sein universitäres wissenschaftliches Bildungsideal jedoch bis in die Gegenwart wirkmächtig geblieben. Erst der radikale Umbau des gesamten Studiensystems, der den Hochschulen im Rahmen des Bologna-Prozesses aufgezwungen wurde, hat dieser bewährten Tradition den Todesstoß versetzt. An dessen Anfang steht eine Vereinbarung von 30 europäischen Bildungsministern, die 1999 beschlossen hatten, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Mit vergleichbaren Abschlüssen sollte die internationale Komptabilität und Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Hochschulsysteme ermöglicht werden. Vereinbart wurden u. a. die Einführung eines zweistufigen Studiensystems, ein quantifizierendes Leistungspunktesystem (Credit Points) sowie die Berücksichtigung der Berufsqualifizierung und der Beschäftigungsfähigkeit. Diese allgemein gehaltenen Vorgaben ließen den Mitgliedsstaaten für die Umsetzung Spielräume. Die deutsche Politik orientierte sich aber nicht nur weitgehend an den Vorstellungen der Stakeholder aus der Wirtschaft, sie legte auch eine regelrechte Regelungs- und Vereinheitlichungswut an den Tag.34 Richtungsweisend für die gesamte Reform wurde so nicht die Wissenschaft und deren Eigengesetzlichkeiten, sondern die employability, die Ausbildung für Berufe in unterschiedlichen Branchen des Arbeitsmarktes. Gefragt war somit ein Ausbildungsprodukt mit unmittelbarer Verwertbarkeit in der Wirtschaft. Gleichzeitig sollte die Reform dazu beitragen, die Studienzeiten zu verkürzen, Kosten zu sparen und die Akademikerquote anzuheben. Zu diesem Zweck wurden altbewährte und international angesehene Studienabschlüsse wie das Diplom, der Magister oder das Staatsexamen auf dem Altar einer vermeintlichen Internationalität geopfert. An deren Stelle trat die Neukreation des Bachelor/Master-Systems, wobei die kostenintensiveren 34
Dies gilt vor allem auch für den Bund. Der langjährige Leiter der Hochschulabteilung im BMBF, Hans R. Friedrich, schrieb rückblickend zur damaligen hochschulpolitischen Strategie des Bundes: „Die Hochschulpolitik des Bundes hat in diesem Zeitraum auch ganz bewusst dazu geführt, dass von dem in den 70er Jahren vorherrschenden Bildungskauderwelsch Abschied genommen und eine für den Bürger besser verständliche, stärker ökonomische begründete Terminologie eingeführt wurde (,Bildung als Rohstoff oder Produktionsfaktor‘)“. Hans R. Friederich, Ergänzende Anmerkungen zum Beitrag von Uwe Schimank und Stefan Lange ,Hochschulpolitik in der Bund-Länder-Konkurrenz‘, in: Peter Weingart/Niels C. Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006, S. 485.
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Masterprogramme jedoch einer Minderheit von forschungsbegabten Studierenden vorbehalten bleiben sollten. Für die große Mehrheit der Studierenden wurde dagegen ein berufsnaher und anwendungsorientierter Bachelor eingeführt, letztlich ein verunglückter Mix aus den angelsächsischen Vorbildern. Als dreijähriges Kurz- und Regelstudium konzipiert, wurde er den meisten Fächern ohne Rücksicht auf spezifische Besonderheiten übergestülpt.35 Um das Leistungspunktesystem praktikabel zu machen, das rein quantifizierend über den studentischen Arbeitsaufwand (workload) berechnet wird, wurden die Studiengänge in kompetenzorientierte Moduleinheiten gestückelt und diese in toto durchstrukturiert. Dieses Korsett beseitigte faktisch den letzten Rest von akademischer Wahlfreiheit und damit all die Freiräume, die traditionell als Markenzeichen eines selbstbestimmten Studierens gegolten hatten. Um die pflichtgemäße Ableistung der abgepackten Lern- und Lehrportionen überwachen zu können, wurde zur laufenden Überprüfung der standardisierten Modulleistungen zusätzlich ein rigides Kontrollsystem aufgebaut. Dieses bürokratische Monster sorgt dafür, dass die Studierenden nun über einen Parcours des Leistungspunktesammelns getrieben werden, wo sie sich als Jongleure in der Kunst beweisen müssen, Anrechnungsvarianten und Modulkombinationen zu optimieren.36 Neugier oder Begeisterung für die Wissenschaft, Interesse für allgemeinbildende Themen, müssen so notgedrungen auf der Strecke bleiben. Aber auch für die Lehrenden hat Bologna einen hohen Preis. Sie werden demotiviert, weil sie mit forschungsfernen Prüfungs- und Kontrollaufgaben überfrachtet werden und in der Lehre nur noch standardisiertes Wissen statt Wissenschaft zu vermitteln haben. Abgesehen davon, dass die selbstgesetzten Ziele der Bologna-Reform wie Mobilität und Berufstauglichkeit bislang weitgehend verfehlt wurden, hatte diese eine weitgehende Verschulung des Lehrbetriebs an den Universitäten zur Folge.37 Sieht man von den Master- und Graduiertenprogrammen ab, so sind sie inzwischen weitgehend zu Fachhochschulen mutiert. Bologna ist so zum Synonym für die Verberuflichung der Hochschulbildung geworden. Für eine „akademische Bildung durch Wissenschaft“, für die Pflege einer Kultur reflexiven und eigenständigen Denkens im Sinne Humboldts, für ein zweckfreies Streben nach Erkenntnis und Wahrheit im Geiste der universitas litterarum, bleibt in diesem Schmalspurstudium, dem der Geist der Wissenschaft förmlich ausgetrieben wurde, weder Raum noch Zeit. 35 Andere Länder wie beispielsweise Frankreich, Spanien und Italien haben den Bachelor, der in der Bologna-Erklärung auch namentlich gar nicht erwähnt wurde, erst gar nicht eingeführt. Zudem wird der deutsche dreijährige universitäre Bachelor in den USA in der Regel erst nach einer Einzelfallprüfung anerkannt, da er dort vier Jahre umfasst und auch eher allgemeinbildend ausgerichtet ist. In Deutschland hatte man die Einführung des dreijährigen Bachelors auch mit der damals noch geltenden dreizehnjährigen Schulzeit begründet, ein Argument, das nach der allgemeinen Schulzeitverkürzung hinfällig geworden ist. 36 Kritisch hierzu: Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung, Wien 2006, S. 112 ff. 37 Die Berufstauglichkeit des Bachelors wird inzwischen längst auch in Wirtschaftskreisen angezweifelt. Vor allem hat er sich aufgrund des Wildwuchses standortspezifischer Unterschiede sowohl in nationaler wie internationaler Hinsicht als Mobilitätsfalle erwiesen. Vgl.: Gerd Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 260.
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VIII. Das neue Steuerungsmodell – Führungsmanagement und Qualitätssicherung Flankiert und ergänzt wurde die Studienreform durch eine ebenfalls von oben und außen aufgezwungene Strukturreform. Mit der Zauberformel Deregulierung und der Behauptung, die Universitäten müssten für den Wettbewerb fit gemacht werden, sollten diese zu modernen Dienstleistungsunternehmen umgestaltet werden. Wie bereits bei der Bologna-Reform fungierte auch hier das von der Bertelsmann-Stiftung dominierte CHE als zentraler Impulsgeber und Schrittmacher. Ziel der Reform war die Einführung eines unternehmensähnlichen Steuerungsmodells mit Managementstrukturen, betriebswirtschaftlichem Controlling sowie einem System von Wettbewerbs- und Leistungsanreizen. Den Initiatoren der Reform war bewusst, dass das institutionelle Kerngefüge der akademischen Republik mit seinen traditionellen Formen der Selbstverwaltung mit einem solchen Steuerungsmodell alles andere als kompatibel war. Über eine Novellierung der Hochschulgesetze wurden daher diese Hindernisse entscheidend geschwächt und den „autonomen“ Hochschulen stattdessen nun autokratische Leitungsstrukturen mit einem janusköpfigen Führungsmanagement verordnet. Die Macht der Rektorate und Dekanate wurde erheblich gestärkt, so dass sie nun auf allen Ebenen und Funktionsbereichen über weitreichende Durchgriffsrechte verfügen. Die eigentliche Steuerungsmacht liegt aber bei den mehrheitlich extern besetzten Hochschulräten, die nicht nur über Personalangelegenheiten, sondern vor allem über die strategische Ausrichtung der Universität zu entscheiden haben. In ihnen geben zumeist die Interessenvertreter der regionalen Wirtschaft den Ton an, weshalb dieses Gremium z. B. in Baden-Württemberg zutreffend auch Aufsichtsrat heißt. Die Symbiose mit der Wirtschaft befördert deren Interessen und verändert die universitäre Themenagenda. Hier geht es nun zunehmend um Berufs- und Praxisorientierung, Profilbildung, Vernetzung und Kooperation mit regionalen Unternehmen oder die Einführung betriebswirtschaftlicher Verfahrensweisen. Problematisch ist die Konstruktion des Hochschulrates aber auch in legitimitätspolitischer Hinsicht. Kommt es nämlich zu einem konkreten Entscheidungskonflikt, hat weder der Landtag noch die Landessregierung eine Möglichkeit, dieses mehrheitlich extern besetzte Gremium politisch zur Verantwortung zu ziehen bzw. die Entscheidung aufzuheben. Die Selbstbestimmung der Universität und damit die akademische Freiheit wurde zweitens durch das neueingeführte System der Qualitätssicherung ausgehöhlt. Das aus der Industrie stammende Steuerungsinstrument bezeichnet dort die Summe aller Maßnahmen, um eine standardisierte Produktqualität zu sichern. Inzwischen bestimmt und durchzieht der Begriff wie ein Cantus firmus die gesamten Arbeitsabläufe einer Universität.38 Dabei wird mit missionarischer Überheblichkeit so getan, als habe Qualitätssicherung vorher in der Universität nie stattgefunden, so dass nun eine Methodik aus der Wirtschaft in dem völlig anders gearteten Wissenschaftsbe38 Jürgen Mittelstraß, Wie die Lust an der Wissenschaft ausgetrieben wird, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. August 2009.
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reich für die notwendige Abhilfe sorgen müsse. Vergessen scheint so die Tatsache, dass die akademische Gemeinschaft, die wissenschaftliche Gemeinschaft und ihre Fachgesellschaften in der Vergangenheit stets aus eigener Kraft und Verantwortung für die Gewährleistung der Qualität von Lehre und Forschung gesorgt hatten. Diese treuhänderische und dezentrale Praxis wurde nun im Namen der Outputideologie durch eine hierarchische Steuerung weitgehend abgelöst. Mit Hilfe von Organisationsberatern aus der Wirtschaft wurde den Universitäten stattdessen ein auf Kennziffern basierendes Qualitätsmanagement aufgenötigt und zur Steuerung und Kontrolle des gesamten Wissenschaftsbetriebs eine mächtige externe Beratungs-, Akkreditierungs- und Evaluationsmaschinerie aufgebaut. In diesem Umfeld hat sich inzwischen ein einträgliches Geschäft institutionell verselbständigt, in dem sich viele tummeln, die von Wissenschaft faktisch nichts verstehen. Entstanden ist so ein monströser bürokratischer Kontrollapparat mit einem ebenso aufwendigen wie kostenintensivem Berichts- und Gutachterunwesen. Dieser bindet nicht nur personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen, die der Lehre und Forschung verloren gehen, er entmündigt und demotiviert auch die Lehrenden, indem er die in der Verfassung garantierte Freiheit von Lehre und Forschung weitgehend erstickt. Hinzu kommt, dass die „neue Krankheit der Evaluitis“ (Bruno Frey) sich geradezu epidemisch auch durch die populären Rankings ausbreitet, die aus Professoren, Fakultäten oder Universitäten im „Qualitätsvergleich“ Punktejäger macht. Sie suggerieren eine vermeintliche Transparenz und Objektivität, basieren aber zumeist auf einer fragwürdigen Methodik, die Qualität auf reines Zählen reduziert. Von bedenklichem Einfluss ist hier das Hochschulfächer-Ranking des CHE, das Studierenden als „Studienführer“ dienen soll, faktisch aber eher deren Irreführung bewirkt. Es beruht auf einem wissenschaftlich unseriösen Mix von Umfragen unter Professoren und Studierenden sowie quantitativen Kennziffern wie etwa Drittmitteleinwerbung oder Promovendenzahlen. Nicht minder problematisch sind aber auch Forschungsrankings, die etwa die Leistung eines Wissenschaftlers durch den jeweiligen Impact Factor von Zeitschriften bewerteten, das Zitationszählen mit entsprechender Punktvergabe. Diese weitverbreite Praxis verändert und determiniert Denken und Verhalten der Wissenschaftler, die nur noch das erforschen, was ihrer Universität Punkte im Ranking bringt, zumal derjenige, der schlecht gerankt wird, Einbußen bei der Ressourcenausstattung befürchten muss. Unterstützt wird dieser Trend wiederum durch die Hochschulleitungen, die in der ökonomisierten Universität nun dazu tendieren, vorrangig in ein optimales „Portfolio der Forschungswertschöpfung“ zu investieren.39 In der „unternehmerischen Universität“ zählen so vor allem messbare Quantitäten wie hohe Absolventen- und Publikationszahlen, zuvörderst aber die maximale Akkumulation von Kapital. Dies wird schon durch die politisch gewollte Unterfinanzierung der Universitäten bewirkt, die dadurch gehalten sind, ihr knappes Budget, durch vielfältige Fundraising-Aktionen aufzustocken. Diesem Zweck dienen die Einwerbung von Drittmitteln, die Vernetzung in finanzstarke Forschungsverbünde, die Wer39 Alfred Kieser, Die Tonnenideologie der Forschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Juni 2010.
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bung von Sponsoren, die Beteiligung an lukrativen Bereichen des Weiterbildungsund Forschungsmarktes wie auch der Aufbau der Alumni-Pflege. Dass der so stimulierte Konkurrenzkampf um Wettbewerbsvorteile wiederum das Entstehen einer Zweiklassengesellschaft von reichen und armen Universitäten fördert, wird als unvermeidbarer Wettbewerbseffekt hingenommen. Verlierer sind aber auch die Geisteswissenschaften, deren „kultureller Output“ sich ökonomisch kaum rechnet, während die technischen Fächer und die Natur- und Lebenswissenschaften angesichts des hier möglichen Wissenschaftstransfers als kapitalträchtige Investitionsbereiche gelten. Um Kapital akkumulieren zu können, müssen sich die Universität wie auch die einzelnen Wissenschaftler heute zunehmend an den Verwertungsimperativen des Marktes orientieren. Zur Unterstützung entsprechender Denkstile und Verhaltensmuster wurden inzwischen im Besoldungs-, Vergütungs- und Ausstattungsbereich hierzu vielfältige ökonomische Anreizsysteme geschaffen. Fasst man all diese tiefgreifenden Veränderungen durch Studienreform und Strukturreform zusammen, so läuft auch in der Universität, ähnlich wie in der Schule, der ganze Reformprozess auf eine schleichende innere Ökonomisierung der Lehrenden und Studierenden hinaus. Entsprechend angepasste Denk- und Verhaltensmuster werden in Zukunft für den wissenschaftlichen Nachwuchs wohl zum selbstverständlichen Kompass werden. Der Preis ist hoch. Wissenschaft und Forschung degenerieren zum ökonomischen Prozess, Wissenschaftler und Forscher mutieren zu verwertbarem Humankapital.40 Dass dies nicht übertrieben ist, konnte man indirekt kürzlich einer gemeinsamen Presseerklärung der vier Berliner Universitäten entnehmen. Unter dem Titel „Ein Euro Invest, zwei Euro Gewinn“ wurden dort mit medienträchtiger Inszenierung die Ergebnisse einer Studie präsentiert, welche die regionalökonomischen Effekte ihrer Einrichtungen im Jahr 2011 untersucht hatte.41 Darin wurde der Nachweis erbracht, dass jeder in die Berliner Universitäten investierte Euro aus der öffentlichen Landeskasse zwei Euro an Wertschöpfung nach sich gezogen hat, wobei die Rentabilität durch stolze 347 Millionen Drittmitteleinnahmen zusätzlich gesteigert wurde. Die Universitäten lohnen sich also, überzeugender konnte der ökonomische Nützlichkeitsnachweis nicht ausfallen. Unter diesen war auch die Humboldt-Universität vertreten, die im Rahmen der Exzellenzinitiative inzwischen zur Eliteuniversität geadelt wurde. Ob eine Erfolgsbilanz der beschriebenen Art im Sinne ihres Gründers war, der von Bildung und ihrer Nützlichkeit seine eigene Vorstellung hatte, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
40 Richard Münch, Unternehmen Universität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 45, 2009, S. 15. 41 Das stolze Messergebnis lautete: 24 800 Arbeitsplätze wurden geschaffen, 1,7 Milliarden Euro an Einkommen und 1 Milliarde an Konsumausgaben durch die Studierenden erwirtschaftet. Zusätzlich resultierten hieraus Steuereinnahmen in Höhe von 118 Millionen Euro. http://www.hu-berlin.de/pr/medien/publikationen/humboldt/2013/201306/humboldt-aus gabe-8 – 2012 – 13.
Preußen aus der Distanz – Eduard Spranger und der „Berliner Geist“ Von Hans-Christof Kraus I. Dass Eduard Spranger neben vielem anderen auch ein Historiker von Profession und Bedeutung gewesen ist – wie ein Blick auf seine Ausbildung ebenso zeigt wie sein Schriftenverzeichnis –, wurde nach seinem Tod (wie so vieles andere, das mit seiner Persönlichkeit zusammenhängt) allzu rasch vergessen1. Es wäre einmal eine eigene Betrachtung wert, warum sich dies eigentlich so verhält, denn niemand würde auch aus der Sicht der Gegenwart den Rang der historiographischen Arbeiten der beiden großen akademischen Lehrer Sprangers: Wilhelm Dilthey und Friedrich Paulsen – die beide, wie ihr Schüler, einen philosophischen Lehrstuhl bekleideten – in Frage stellen wollen. Die Bedeutung der bildungshistorischen Arbeiten Paulsens ist bis heute ebenso unbestritten wie diejenige der geistesgeschichtlichen und ideenhistorischen Analysen Diltheys. Insofern muss es eigentlich umso mehr verwundern, dass Sprangers im Umfang zwar deutlich knapperen, in ihrer Qualität jedoch ebenfalls beachtlichen und originellen ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Leistungen gegenwärtig weitgehend 1
Die bisherige Forschung zu Eduard Spranger beschränkt sich in aller Regel vornehmlich auf seine pädagogischen Leistungen, zumeist im Kontext der Reformpädagogik der Weimarer Republik sowie neuerdings der Pädagogik des Nationalsozialismus, ebenfalls zu einzelnen Aspekten seiner Philosophie; knappe Überblicke über diese Aspekte seines Wirkens bieten Gottfried Bräuer, Eduard Spranger, in: Josef Speck (Hrsg.), Geschichte der Pädagogik des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 66 – 78, und Michael Löffelholz, Eduard Spranger (1882 – 1963), in: Hans Scheuerl (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 2, 2. Aufl. München 1991, S. 258 – 276. Eine dringend zu wünschende ausführliche Biographie mit wissenschaftlichem Anspruch liegt bisher leider nicht vor; einzelne ausgewählte Aspekte behandelt quellennah Alban Schraut, Biographische Studien zu Eduard Spranger, Bad Heilbrunn 2007 (dort auch S. 383 – 404 eine umfassende Bibliographie). Eine Auswahl seiner Schriften liegt vor in: Eduard Spranger, Gesammelte Schriften, Bde. I-XI, Heidelberg/Tübingen 1969 – 1980. Wichtige neuere Gesamtwürdigungen: Reinhard Mehring, „Berliner Geist“ als „Lebensform“: Eduard Spranger (1882 – 1963), in: Individuum und Selbstbestimmung, hrsg. v. Jan-Christoph Heilinger/Colin G. King/Héctor Wittwer, Berlin 2009, S. 379 – 403, und vor allem ders., Das pädagogische Gewissen. Grundlinien der Bildungsphilosophie Eduard Sprangers (1882 – 1963), in: Pädagogische Rundschau 67 (2013), S. 405 – 420. Ein (allerdings partiell lückenhaftes) Schriftenverzeichnis liefert Theodor Neu, Bibliographie Eduard Spranger, Tübingen 1958; ergänzend: Ludwig Englert/Siegfried Mursch, Bibliographie Eduard Spranger 1957 – 1962, in: Pädagogische Rundschau 16 (1962), S. 631 – 644.
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in Vergessenheit geraten sind. Die Vermutung liegt zumindest nahe, dass dies etwas zu tun hat mit den gravierenden äußeren und inneren Umbrüchen, die sein Leben und das seiner Generation geprägt haben. Der ruhige und stetige, fast organisch zu nennende Bildungsgang, der für die Gelehrtengeneration, die sich um 1900 auf der Höhe ihrer Wirksamkeit befand, kennzeichnend war, gehörte für die um 1880 geborene Generation Sprangers bereits der Vergangenheit an. Umlernen, sich mehr als einmal neu orientieren, aus schweren Erfahrungen und gewaltsamen Zäsuren klug zu werden versuchen – dies alles kennzeichnete den Lebensgang derjenigen, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ihre akademische Berufslaufbahn beginnen konnten und diese erst in den 1950er Jahren beendeten. Spranger hat diesen Tatbestand aus der Sicht seiner späten Jahre einmal mit der lapidaren Feststellung knapp angedeutet, dass er selbst bei Antritt seiner letzten Professur in Tübingen nach dem Krieg „mit 64 Jahren noch einmal von vorn anfangen“2 musste. Auf seine historischen Arbeiten und Reflexionen angewandt, die bereits mit seiner 1905 bei Friedrich Paulsen vorgelegten Dissertation über „Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft“ begannen3, bedeutet dies, dass er nach den von ihm erlebten und erlittenen historischen Brüchen sich bestimmte geschichtliche Frage- und Problemstellungen jeweils neu erarbeiten musste, eben unter dem Blickwinkel der soeben gemachten Erfahrenen und in Rücksicht auf die Tatsache, dass bestimmte frühere Gewissheiten und vermeintlich fest begründete Überzeugungen plötzlich nicht mehr aufrecht zu erhalten waren; es genügt in diesem Zusammenhang, die drei Jahreszahlen 1918, 1933 und 1945 zu nennen. Dieser mehrfach eingetretene Perspektivenwechsel war es wohl, der vielen von Sprangers Arbeiten einen gewissen fragmentarischen, ja unfertigen Charakter gegeben hat – und dieser wiederum ist es, der ebenfalls seine im engeren Sinne historischen Studien (besonders diejenigen, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verfasst wurden) kennzeichnet. Das Fragmentarische kann sich jedoch auch, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, als Offenheit und Unabgeschlossenheit in der Deutung manifestieren, eben aus der Erfahrung heraus, dass die Reflexion eines Einzelnen über einen bestimmten Gegenstand niemals wirklich abgeschlossen ist, sondern sich – vor allem unter dem Eindruck unmittelbar erlebter gravierender Umbrüche – im gegebenen Fall grundlegend ändern kann.
2 Eduard Spranger, (Rückblick) o. J., in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. X, S. 428 – 430, hier S. 430. 3 Eduard Spranger, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Eine erkenntnistheoretisch-psychologische Untersuchung, Berlin 1905. – Hierzu bemerkt er im späteren Rückblick, Eduard Spranger, Ein Professorenleben im 20. Jahrhunderts (1953), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. X (Anm. 1), S. 342 – 360, hier S. 344, man merke dem 1905 erschienenen Erstlingswerk „kaum an, daß es aus schwerem Leiden an der Geschichte hervorgegangen ist. Diese Umsetzung des Erlebten in das Gedankliche ist vielleicht auch sonst für meine Art zu arbeiten charakteristisch“. Sein ganzes Leben lang hat sich Spranger immer wieder mit Theorieproblemen der Geisteswissenschaften beschäftigt; die meisten dieser zumeist kleineren Beiträge finden sich in: Eduard Spranger, Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. VI: Grundlagen der Geisteswissenschaften.
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Zwei zentrale Themen der Sprangerschen Geschichtsschreibung sind auszumachen: zum einen die Geschichte der Pädagogik – erinnert sei in diesem Zusammenhang vor allem an seine Pestalozzi-Studien – und die Schulgeschichte im engeren Sinne4 ; und zum anderen die Geistes- und Bildungsgeschichte Berlins und Preußens in einem weiteren Sinne, mit der sich Spranger von seinen frühesten wissenschaftlichen Anfängen bis in seine letzten Lebensjahre hinein kontinuierlich immer wieder beschäftigt hat5. Die letzteren sollen im folgenden etwas näher betrachtet werden. II. Der gebürtige Berliner Eduard Spranger, der sich selbst mit Stolz als genuines Produkt der alten Friedrich-Wilhelms-Universität der einst preußischen und deutschen Hauptstadt bezeichnet hat und stets bekannte, dass er seiner Alma mater im Grunde „alles verdankte“6, hat sich als Schüler Wilhelm Diltheys und Friedrich Paulsens, aber auch Gustav Schmollers, Otto Hintzes und vieler anderer bedeutender Berliner Gelehrter um und nach 1900 mit der Geschichte der eigenen, also der im engeren Sinne preußischen und speziell Berliner Bildungs- und Geistestradition, naheliegenderweise schon sehr früh eingehend befasst. Um deren stete Neuaneignung und Neurezeption unter jeweils veränderten Rahmenbedingungen bemühte er sich zeitlebens. Aber es ist ebenfalls klar, dass Spranger diese geistige Auseinandersetzung mit der Tradition, in der er selbst stand, in durchaus anderer Weise führen musste als seine akademischen Lehrer. Männer wie Dilthey, Paulsen, Schmoller hatten als junge und aufstrebende Akademiker am Beginn ihrer Laufbahn noch selbst den Weg des preußischen Staates zur führenden Macht in Deutschland, den Sieg über den ewigen Konkurrenten Habsburg und als dessen Folge die Begründung und den Aufstieg des 1871 gegründeten Deutschen Reiches miterlebt; sie empfanden sich selbst als „politische Professoren“ und damit als einen Teil gerade jener geistigen Bewegung an den deutschen Universitäten, die eben jene politischen Vorgänge begleitet, flankiert und unterstützt hatte7. 4 Siehe die Beiträge in: Eduard Spranger, Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. I: Geist der Erziehung. 5 Hierzu zählen neben Sprangers (gleich noch näher zu thematisierenden) Humboldtstudien auch seine universitätsgeschichtlichen Rückblicke in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. X: Hochschule und Gesellschaft, sowie seine Betrachtungen zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des deutschen Neuhumanismus, in: ders., Volk – Staat – Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1932, S. 1 – 56, endlich die sehr bedeutsamen kleineren Studien und Nachlassfragmente zur preußischen und Berliner Geistesgeschichte in: ders., Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen 1966. – Ein bibliographischer Überblick über Sprangers Publikationen, die preußischen Themen gewidmet sind, findet sich in: Eduard Spranger, Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. VIII, S. 452 – 454 (Quellenhinweise und Anmerkungen des Bandherausgebers Hermann Josef Meyer). 6 Eduard Spranger, Ein Professorenleben (Anm. 3), S. 349. 7 Zum deutschen Typus des „politischen Professors“ im 19. Jahrhundert vgl. neben der älteren Studie von Friedrich Meinecke, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik. Fried-
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Wenn diese Gelehrtenpersönlichkeiten nun Jahrzehnte später, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg – als sich die Berliner Universität nach einem späteren Wort Sprangers im „Zeitalter der Geheimräte“8 befand – bereits im Vollgefühl deutscher und damit preußischer Erfolge auf die Vergangenheit der letzten einhundert Jahre zurückblickten, dann konnten sie alle dies in dem stolzen Bewusstsein tun, sich auf dem Höhepunkt einer langen und erfolgreichen, von ihnen selbst mit herbeigeführten Entwicklung zu befinden9. Die Vergangenheit enthüllte sich in der Perspektive der akademischen Lehrergeneration Sprangers im Grunde also als Vorgeschichte einer großen Gegenwart, eines säkularen Aufstiegs der Deutschen zur Höhe einer mächtigen und wohlhabenden Nation. Wilhelm Dilthey etwa interpretierte das aus der nordostdeutschen Aufklärung hervorgegangene „Allgemeine Preußische Landrecht“ von 1793 als einen für die weitere Entwicklung Deutschlands höchst „wichtigen Moment auf dem Weg zur Realisierung des Rechtsstaates“10, und in der Reformbewegung nach 1806 erkannte er den zentralen Punkt des Übergangs nicht nur zur politischen, sondern auch kulturellen Moderne in Deutschland. Diltheys These vom besonders ausgeprägten „soziale[n] Beruf“11 der preußischen Monarchie berührte sich wiederum aufs Engste mit Gustav Schmollers Rekonstruktion der preußischen Sozial- und Finanzpolitik, in welcher der führende deutsche Ökonom und Wirtschaftshistoriker seiner Zeit eine der zentralen Voraussetzungen für den, wie er sagte, „Fortschritt der sittlichen Ideen und der intellektuellen Ausbildung“ in Deutschland erkannte – und darin zugleich einen Beitrag zum allgemeinen Kulturfortschritt sah, dessen Aufgabe es sei, „die Völker zu den höheren Stufen des socialen Daseins hinaufzuführen“12. Und Friedrich Paulsen rühmte in seinem historischen Hauptwerk, der „Geschichte des gelehrten Unterrichts“, und in seinem Standardwerk über „Die deutschen Universitärich Theodor Vischer – Gustav Schmoller – Max Weber (1922), in: ders., Werke, Bd. 9: Brandenburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart, 1979, S. 476 – 505, vor allem Rudolf Vierhaus, Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert, in: ders., Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödecker/Benigna von Krusenstjern/Michael Matthiesen, Göttingen 2003, S. 302 – 318. 8 Eduard Spranger, Das geistige Berlin, in: ders., Berliner Geist (Anm. 5), S. 39 – 48, hier S. 44. 9 Zur Mentalität und Selbstdeutung der älteren deutschen, vornehmlich Berliner Professorengeneration in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sei an dieser Stelle nur verwiesen auf die grundlegenden Studien von Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Björn Hofmeister/ Hans-Christoph Liess. Stuttgart 2006. 10 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. XII: Zur preußischen Geschichte, 2. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1960, S. 199. 11 Ebd., Bd. XII, S. 183; vgl. auch S. 183 ff. 12 Gustav Schmoller, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur Gründung des deutschen Reiches, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte besonders des preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. 104 – 246, hier S. 246.
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ten“ den mittlerweise erreichten höchsten Stand deutscher Bildung: Immer werde, diese Hoffnung formulierte er im Jahr 1902, „die deutsche Universität den Ruhm bewahren, die Hauptträgerin der deutschen Wissenschaft zu sein“13. Der jüngeren Generation jedoch, die um 1900 in die Universitäten einrückte, begann dieser Ton langsam fremd zu werden, zumal diese Nachwuchsgelehrten sehr viel genauer als die ergrauten Geheimräte mit den konkreten politischen und vor allem sozialen Problemlagen der damaligen deutschen Gegenwart vertraut waren. Zwar hielten auch die Jüngeren noch immer am weiterhin hoch geschätzten deutschen und preußischen Erbe fest, doch man gewichtete und interpretierte es anders als die ältere Gelehrtengeneration dies getan hatte und immer noch tat. Als ein Beispiel aus der Geschichtswissenschaft lässt sich Friedrich Meinecke nennen, der mit seiner 1905 erschienenen Darstellung des „Zeitalter[s] der deutschen Erhebung“ gerade keine deutsche oder preußische Selbstfeier beabsichtigte, sondern, im Gegenteil, die Erinnerung an die Reformzeit vor einhundert Jahren zum Anlass nahm, um im Rahmen einer historischen Parallelbetrachtung die dringende Reformbedürftigkeit des gegenwärtigen Deutschlands, also des Kaiserreichs im Jahrzehnt vor Beginn des Ersten Weltkriegs, aufzuzeigen, damit also das große Vorbild der Reformund Befreiungszeit auch gegenwartspolitisch produktiv zu machen14. Ähnliches gilt ebenfalls für den jungen Spranger, der in seinen späteren Lebensjahren einer der engsten persönlichen Freunde des zwanzig Jahre älteren Meinecke werden sollte15. Die frühen Humboldt-Studien Sprangers16 stehen zwar in ihrer idealistischen Grundrichtung noch erkennbar unter dem Einfluss der von den Lehrern Dilthey und Paulsen ausgehenden Deutungsvorgaben17, aber dennoch geht der junge Philosoph – vor allem im Schlusskapitel der umfangreichen Monographie über „Humboldt und die Humanitätsidee“ von 1909 – in letzter Konsequenz doch deutlich über sie hinaus. Während Paulsen (dem Sprangers Buch übrigens posthum 13 Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 10. 14 Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1795 – 1815, Bielefeld/ Leipzig 1906 (mehrere Neuausgaben); dazu auch Stefan Meineke, Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin/New York 1995, S. 90 ff. 15 Vgl. dazu u. a. die Bemerkung in: Eduard Spranger, Ein Professorenleben (Anm. 3), S. 347; der Briefwechsel beider ist (in Auswahl) gedruckt in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. VI: Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. v. Ludwig Dehio/Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 569 – 640. 16 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; ders., Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910. 17 Als kennzeichnend hierfür kann Sprangers, hier auf die Geschichte der Erziehung bezogene, einleitende Bemerkung zu seinem zweiten Humboldtbuch angesehen werden: „… das geistige Leben schafft sich äußere Formen, und aus den Formen wieder entstehen neue Richtungen des Lebens. Aber das eigentümlich Schöpferische spiegelt sich doch immer zuerst in der Theorie; denn sie schaut über das Gegebene hinaus und entwirft das Bild einer besseren Zukunft, unbekümmert um die kleinen Hemmnisse und die oft zufällige Kräfteverteilung der Wirklichkeit“, Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform (Anm. 16), S. 1.
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„in Dankbarkeit“ gewidmet war) noch mit Selbstverständlichkeit daran festgehalten hatte, dass „der klassische Unterricht die ewig unverrückbare Grundlage aller höheren Bildung“18 darstelle, so gab sein junger Schüler diese Bastion nunmehr unumwunden auf, indem er erklärte, das Altertum könne „nie und nimmer“ als „erste Quelle unsrer letzten Bildung … angesehen werden, sondern allein die deutsche klassische Literatur und der deutsche Idealismus“19. Ein idealisiertes Altertum „ästhetisch verklären und ein altes Traumbild fortspinnen“20 zu wollen, mache, so Spranger ausdrücklich, für die Gegenwart längst keinen Sinn mehr. Ähnlich wie zur gleichen Zeit Friedrich Meinecke versuchte also auch der junge Eduard Spranger, sich unter den deutlich veränderten und sich ständig weiter verändernden Bedingungen des modernen deutschen Staates nach der Wende zum 20. Jahrhundert an einer maßvoll kritischen, vor allem aber produktiven Aneignung des überkommenen deutschen und preußischen Erbes; ein starres Festhalten an der mit dem Namen Humboldt damals besonders eng verbundenen neuhumanistischen Tradition konnte dies allerdings nicht bedeuten. Sprangers Bestreben richtete sich denn auch auf eine konsequente Historisierung Humboldts und dessen einhundert Jahre zuvor mit so weitreichenden Wirkungen ins Werk gesetzter Bildungsreformpolitik. Und hierzu hat Spranger vor allem mit seinem zweiten Humboldtbuch, das auf intensiven Archivstudien beruhte und eine Fülle neuer Resultate zutage förderte, einen bis heute wichtigen Beitrag geleistet21. Nicht zuletzt sollte die bessere Erkenntnis der Art und Weise, wie Humboldt in den Jahren um 1809/10 die Probleme seiner Zeit zu lösen versucht hatte, den Blick öffnen auf die bildungspolitischen und bildungsreformerischen Notwendigkeiten des späten wilhelminischen Kaiserreichs. III. Die Jahreszahl 1918 bezeichnet die erste große politische Zäsur im Leben Sprangers und seiner Generation. Der verlorene Erste Weltkrieg und der anschließende, als fundamentale Diskriminierung Deutschlands verstandene Versailler Friedensvertrag von 1919 gruben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen ein und veränderten zugleich die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Vergangenheit. Am Beispiel der gezielten Verfemung gerade Preußens durch die Siegermächte lässt sich dies besonders klar erkennen, denn in der sog. „Mantelnote“ der Alliierten vom 16. Juni 1919, mit der die Vertreter der Sieger des Krieges den deutschen Protest gegen die erste Fassung des Versailler Vertrags zurückwiesen, wurde der Versuch un18 Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 3. Aufl., hrsg. v. Rudolf Lehmann, Bd. II, Berlin/Leipzig 1921, S. 652. 19 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee (Anm. 16), S. 497. 20 Ebd., S. 499. 21 Das gilt vor allem für die von Spranger erstmals ausführlich rekonstruierten Konzepte und Überlegungen Humboldts zur Schulreform in Preußen; vgl. Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform (Anm. 16), S. 133 – 233.
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ternommen, die „preußische Tradition“ als eigentliche Ursache für den vermeintlichen deutschen Versuch anzusehen, „ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren“22. Dieser Versuch einer aus durchsichtigen politischen Gründen vorgenommenen Diffamierung Preußens rief nun in Deutschland, was auch aus der Rückschau nicht weiter verwundert, die genau entgegengesetzte Reaktion hervor. Nicht zuletzt deshalb unterblieb damals eine im Grunde durchaus notwendige, sachliche und kritische Auseinandersetzung mit den preußischen Traditionen – eben weil man unter diesen Umständen die Verteidigung jenes Erbes gewissermaßen als nationale Pflicht im Rahmen einer als überlebensnotwendig angesehenen Abwehr alliierter Siegerpropaganda ansah. Auch Eduard Spranger, der während der Weimarer Zeit, wie er später bekannte, deutschnational gesinnt war, weil er „anfangs glaubte, es sei noch möglich, das Reich aus den Kräften des alten politischen Ethos … zu erneuern“23, konnte sich dieser Verpflichtung kaum entziehen. Das geht aus einem der nur wenigen Texte zu Preußen hervor, die er in dieser Zeit überhaupt publizierte, einem 1929 für einen Berliner „Studentenführer“ geschriebenen Abriss über den „Berliner Geist“, in dem – ganz im Stil jener Zeit – vom „Genius der Pflichttreue, der Hingabe an Volk und Staat, der Schöpferkraft, die groß in den Dimensionen, aber schlicht in den Formen denkt“24, die Rede ist. Das waren sicher martialische Formulierungen, doch die nächste, den Blickwinkel erneut verschiebende politische Zäsur – die von 1933 – ließ nicht mehr sehr lange auf sich warten, und gerade sie war es, die Spranger zum Umdenken und zur wenigstens partiellen Neubewertung des preußischen Erbes veranlassen musste. Schon wenige Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler unternahm die neue Regierung den Versuch, sich vor aller Öffentlichkeit selbst in eine preußische Tradition einzureihen, nicht zuletzt, um wenigstens von Teilen der einflussreichen, noch immer der Vergangenheit hinterher trauernden Führungsschichten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft akzeptiert zu werden und ebenfalls, um bestimmte Teile des „preußisch“ gesinnten norddeutschen Großbürgertums bewusst zu täuschen. Der am 21. März 1933 äußerst geschickt inszenierte sog. „Tag von Potsdam“, die Eröffnung des soeben neu gewählten Reichstags in der Postdamer Garnisonkirche an den Särgen des Soldatenkönigs und Friedrichs des Großen in Gegenwart des alten Reichspräsidenten von Hindenburg, der in seiner Uniform eines kaiserlichen Generalfeldmarschalls noch einmal vor aller Augen eben diese Tradition zu repräsentieren schien, – dies alles vermittelte ein spezifisches, politisch eingefärbtes Preußenbild, das bei vielen Zeitgenossen, jedoch keineswegs bei allen auf Beifall stieß25. 22 Abdruck der „Mantelnote“ in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Quellen zum Friedensschluss von Versailles (Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit, 30), Darmstadt 1997, S. 357 – 369, hier S. 358. 23 Eduard Spranger, Ein Professorenleben (Anm. 3), S. 347. 24 Eduard Spranger, Etwas vom Berliner Geist (1929), in: ders., Berliner Geist (Anm. 5), S. 49 – 57, hier S. 55. 25 Vgl. dazu Klaus Scheel, Der Tag von Potsdam, Berlin 1996.
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Zu denjenigen, die sich durch diese geschickte, aber in ihrer politischen Absicht letztlich doch recht durchsichtige Propagandainszenierung des neuen Regimes, wenn überhaupt, nur kurz täuschen ließen26, gehörte Eduard Spranger. Das hing nicht nur mit seinem bekannten Konflikt mit den Vertretern des NS-Regimes im Jahr 1933 zusammen27, sondern auch mit seiner genauen Kenntnis der politischen und geistigen Traditionen Preußens selbst. Doch es sollte noch einige Jahre dauern, bis er – nach seiner Rückkehr aus Japan (Ende 1937) – daran ging, sich dieses Erbes neu zu vergewissern. Wenn man heute diese Texte liest, dann ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Autoren und Leser von einigem geistigen Rang, die gezwungen sind, unter einem totalitären Regime zu leben und zu arbeiten, sich in aller Regel auf die Kunst des sorgfältigen Formulierens und des „Zwischen-den-Zeilen-lesens“ verstehen. Bereits in der Wahl bestimmter Formulierungen, auch in scheinbar belanglosen Andeutungen lassen sich bei genauem Hinsehen Residuen unverkennbarer, wenn auch eben zurückhaltend und vorsichtig vorgetragener Kritik ausmachen, die von späteren, in dieser Kunst eher ungeübten Lesern zumeist übersehen werden. Allerdings ist es ebenfalls nicht zu übersehen, dass Spranger – die neuere Forschung hat es dokumentiert28 – in vielen für ein größeres Publikum geschriebenen kleineren Beiträgen, vornehmlich Zeitungsartikeln, sich dem nationalsozialistischen Zeitgeist gelegentlich sehr deutlich rhetorisch angepasst hat, vermutlich auch, um weiter publizieren und öffentlich wirken zu können. Da bis heute eine ausführliche Lebensdarstellung Sprangers fehlt, ist es sehr schwierig, seine eigentlichen Motive für dieses Verhalten zu ermitteln. Vertrat er zeitweilig – wie auch andere Intellektuelle und Gelehrte in dieser Zeit – die Auffassung, dass „wer zu Wölfen reden will, … mit den Wölfen heulen“29 müsse? Gab er sich vielleicht, in guter (oder auch weniger guter) Hegel-Tradition, für einige Jahre der Überzeugung hin, dass sich jeder Denker letzten Endes demjenigen anzupassen habe, was als das „Wirkliche“, als „objektiver
26 Indiz hierfür ist Sprangers im April 1933 erschienener Artikel: März 1933, in: Die Erziehung 8 (1932/33), S. 401 – 408, der freilich streckenweise als sehr gequälter Versuch wirkt, sich den neuen politischen Gegebenheiten wenigstens nach außen hin anzupassen; der „Tag von Potsdam“ findet hier allerdings keine Erwähnung. 27 Dazu siehe neben Sprangers eigenen Darstellungen: Eduard Spranger, Mein Konflikt mit der national-sozialistischen Regierung 1933, in: Universitas 10 (1955), S. 457 – 473, davor bereits ders., Ein Professorenleben (Anm. 3), S. 350 f., auch Heinz-Elmar Tenorth, Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933. Politisches Handeln eines preußischen Gelehrten, in: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 573 – 596, sowie Takahiro Tashiro, Affinität und Distanz. Eduard Spranger und der Nationalsozialismus, in: Pädagogische Rundschau 53 (1999), S. 43 – 58; neuerdings auch Christoph Jahr, Die nationalsozialistische Machtübernahme und ihre Folgen, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 2, hrsg. v. HeinzElmar Tenorth, Berlin 2012, S. 295 – 324, hier S. 315 – 317. 28 Benjamin Ortmeyer (Hrsg.), Eduard Sprangers Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933 – 1945 (Dokumentation ad fontes I), Frankfurt a. M. 2008. 29 So (mit Bezug auf Carl Schmitt) Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts 2. Aufl., Berlin 1991, S. 83.
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Geist“ einer Epoche oder wenigstens eines historischen Zeitabschnitts erscheint?30 Hat er sich dem Regime offen angebiedert und damit zugleich seine humanistischen Bildungsideale verraten? Tatsächlich kam er gelegentlich, auch in seinen historischen Beiträgen, dem „Zeitgeist“ bedenklich nahe, so etwa, wenn er 1935 in einem Aufsatz zum einhundertsten Todestag Wilhelm von Humboldts31 dessen frühe liberale Ideen (niedergelegt vor allem in den 1792 verfassten, jedoch erst 1850 posthum veröffentlichten „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“) deutlich zu relativieren versuchte und statt dessen das frühe Interesse Humboldts „für die Individualität der Nationen“ herausstrich. „Wenn irgend etwas“, betonte Spranger hier, „so verdient dieser allmählich wachsende Sinn für das Leben der Nation in Humboldts Lehrjahren unsere Beachtung“32. Man kann in dieser partiellen Umdeutung oder vielleicht besser gesagt: bewusst einseitigen und vordergründigen Akzentuierung bestimmter Teilaspekte der Humboldtschen Gedankenwelt aber auch den Versuch erkennen, den großen Bildungsreformer und dessen Ideen für die Gegenwart präsent zu halten, vielleicht sogar zur Lektüre seiner Schriften anzuregen und darauf zu vertrauen, dass dem empfänglichen und intelligenten Leser die Differenzen zur Ideologie und Praxis des gegenwärtigen nationalsozialistischen Staats rasch ins Auge springen würden. Jedenfalls wird in anderen Texten, wenn man genauer hinsieht und bereit ist, auch auf Zwischentöne zu achten und Andeutungen zu verstehen, gleichzeitig ein ganz anderer Spranger erkennbar – einer der bemüht ist, wenigsten die Erinnerung an vollkommen verschieden geartete geistige Traditionen in die Gegenwart hinüberzuretten und für eine andere Zukunft präsent zu halten. In diesen Zusammenhang gehören seine in dieser Zeit erschienenen Publikationen zur preußischen Geistesgeschichte. Zwei bemerkenswerte Texte zur Wissenschaftstradition der alten preußischen Hauptstadt sind hier vor allem zu nennen, von denen er damals jedoch nur einen unter der Überschrift „Das geistige Berlin“ im Jahr 1940 als Zeitungsartikel publizierte33 ; der andere mit dem anspruchsvollen Titel „Berlin als Sitz Weltgestaltender Philosophie“ ist erst nach seinem Tod im Jahr 1966 veröffentlicht worden34. Jeden30 Mit dem Problem des „objektiven Geistes“ hat sich Spranger tatsächlich um 1933/34 befasst; vgl. dazu den aus einem Vortrag hervorgegangenen kurzen Artikel: Eduard Spranger, Der objektive Geist, in: Forschungen und Fortschritte 10 (1934), S. 241 – 242, in dem er den objektiven Geist als „Inbegriff von Sinn- und Wirkungsgebilden, der die geistige Umwelt einer Gruppe ausmacht“ (ebd., S. 241), definiert. 31 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt. Zu seinem hundertsten Todestage am 8. April 1935, in: Das humanistische Gymnasium 46 (1935), S. 65 – 77. 32 Die Zitate: ebd., S. 67. 33 Eduard Spranger, Das geistige Berlin (zuerst unter dem Titel „Berlin als geistige Weltstadt“, in: Das Reich, 6.10. 1940, S. 17 – 18), später mehrfach abgedruckt, jetzt in: ders., Berliner Geist (Anm. 5), S. 39 – 48. 34 Eduard Spranger, Berlin als Sitz weltgestaltender Philosophie (entstanden zwischen 1938 und 1944), in: ebd., S. 58 – 109.
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falls musste der Text von 1940 den geübten Leser aufmerken lassen: Neben „Arbeit“ und „Wirklichkeitssinn“ führte der Berliner Philosoph hier auch die „Kritik“ als einen von drei zentralen Faktoren spezifisch Berliner und preußischer Geistesart an. „Der Berliner ist kritisch. Er liest sogar seine Zeitung mit Kritik“, heißt es hier, und als ob dies nicht schon vergleichsweise deutlich genug gewesen wäre, fügte Spranger noch an: „Nur die produktive Kritik, die heute abseits steht, führt schließlich auf die neuen, ungeahnten Wege“35. Eine weitere Bemerkung in diesem Text warnte ausdrücklich vor der „große[n] Gefahr“ zu glauben, „die Organisation sei alles und man dürfe die Person ,subalternisieren‘“36; – deutlicher konnte man in dieser Zeit wohl kaum die nur allzu bekannte nationalsozialistische Parole konterkarieren, dass einzelne „nichts“, sein Volk aber „alles“ sei. Etwas subtiler argumentierte Spranger in dem anderen Text zur Geschichte der Berliner Philosophie, der freilich mit seiner Hervorhebung der untrennbaren Einheit von Nation, Staat und Sittlichkeit ebenfalls in der Sache sehr deutlich wurde. Eine darin ebenfalls zu findende, auf die Napoleonzeit bezogene Bemerkung ließ sich im übrigen mühelos auf die Gegenwart übertragen: Es sei klar, heißt es hier, „daß es geschichtliche Mächte gibt, die für die noch so autonome Person zum übermächtigen Schicksal werden; andererseits, daß die Persönlichkeit solche Schicksale in ihrem Inneren aushalten muß, ja daß sie das Schlachtfeld bedeutet, auf dem sie erst durch energische Gegenwehr zu sittlichen Entscheidungen werden“37. Diese Worte beziehen sich im direkten Zusammenhang dieses Textes zwar auf Hegel, sie können gleichwohl als historische Spiegelung des Autors selbst gelesen werden, damit also desjenigen, der in vergleichbarer Zeit und noch ausgeprägterer Zwangslage den Berliner Lehrstuhl Fichtes und Hegels innehatte und sich vor sehr ähnliche geistige Entscheidungen und vor die Notwendigkeit zur Bewahrung der eigenen inneren und geistigen Freiheit und Unabhängigkeit gestellt sah38. 35
Alle Zitate: Eduard Spranger, Das geistige Berlin (Anm. 33), S. 47. – Zum Verständnis von Sprangers ausdrücklich positiver Stellungnahme zum Begriff und zur Praxis der Kritik ist darauf hinzuweisen, dass das NS-Regime bereits seit 1936/37 dazu übergegangen war, den unerwünschten Begriff „Kritik“ in der publizistischen Kulturberichterstattung durch amtliche Verfügung zu verabschieden, also die bisherige Literatur- und Kunstkritik fortan durch eine – natürlich politisch linientreue – „Literaturbetrachtung“ und „Kunstbetrachtung“ zu ersetzen; vgl. dazu die Hinweise bei Joseph Wulff, Die Bildenden Künste im Dritten Reich – Eine Dokumentation, Reinbek b. Hamburg 1966, S. 126 ff.; ders., Literatur und Dichtung im Dritten Reich – Eine Dokumentation, Reinbek b. Hamburg1966, S. 310 ff. 36 Eduard Spranger, Das geistige Berlin (Anm. 33), S. 47. 37 Eduard Spranger, Berlin als Sitz weltgestaltender Philosophie (Anm. 34), S. 106. 38 In einem noch im Sommer 1944 publizierten Zeitungsartikel „Die Geisteswissenschaften in Berlin“ (zuerst erschienen im Berliner Lokal-Anzeiger, 9.7. 1944, Beiblatt), erneut abgedruckt in: Eduard Spranger, Berliner Geist (Anm. 5), S. 128 – 137) verweist er wenigstens indirekt bereits auf die Zeit nach dem Krieg (und damit nach Hitler!): „Starkes Gegenwartserleben, vertieftes, ausgebreitetes Verstehen, gestaltungsmächtiger Ausdruck haben die geisteswissenschaftlichen Forscher Berlins zu Werken befähigt, die fortdauern, wenn andere Werke des Menschen dem irdischen Schicksal verfallen, in Schutt und Trümmer zu sinken“ (ebd., S. 137).
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IV. Eduard Sprangers ohne Frage wichtigste und auch inhaltlich bedeutendste historische Publikation während der Zeit des Nationalsozialismus ist seine am 9. Juli 1942 in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgetragene und kurz darauf gedruckte Abhandlung „Der Philosoph von Sanssouci“, eine Studie über das Denken Friedrichs des Großen39. Das ist ein Thema, das bereits früher die Berliner Universitätsphilosophen intensiv beschäftigt hatte; Eduard Zeller etwa publizierte schon 1886 eine umfangreiche Monographie hierzu40, und auch Sprangers Lehrer Wilhelm Dilthey hatte sich mit dem philosophischen Denken des Preußenkönigs im Zusammenhang seiner Studien zur preußischen Aufklärung intensiv befasst41. Neu jedoch war an Sprangers Zugriff auf diesen anspruchsvollen Gegenstand zuerst zweierlei: Zum einen ging er nicht nach einer von den in Friedrichs Denken thematisierten Einzelthemen her bestimmten Systematik vor, sondern er baute seine Studie entwicklungsgeschichtlich auf, und zum anderen bezog er sich stärker als alle früheren Friedrich-Interpreten auf das bis dahin als eher peripher geltende, deshalb nur wenig beachtete, aber sehr umfangreiche französische Gedichtwerk des Königs, vor allem auf dessen philosophische Gedichte, die Friedrich noch zu Lebzeiten unter dem eher lapidaren Titel „Œuvres du philosophe de Sanssouci“ veröffentlicht hatte42. Auch diese Schrift Sprangers über das philosophische Denken Friedrichs, die sich in manchen Einzelheiten mit der Abhandlung über „Berlin als Sitz Weltgestaltender Philosophie“ berührt43, ist wenigstens in einigen Aspekten auch als – vorsichtige – geistige Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit zu sehen; man darf nicht vergessen, dass sich der Zweite Weltkrieg auf seinem Höhepunkt befand, als Spranger diesen Vortrag im Akademiegebäude Unter den Linden in Berlin hielt. Noch einen weiteren Aspekt darf man in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht ausblenden: Der populäre preußische König war von der nationalsozialistischen Propaganda schon seit 1933 zu einer populären Kultfigur stilisiert worden, die gerade im Krieg eine bestimmte Funktion zu erfüllen hatte – nämlich als Symbol einer großen historischen Führergestalt, die in sich zugleich den Durchhaltewillen verkörperte, der 39 Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1942. Phil.-hist. Klasse, Nr. 5), Berlin 1942. Mit wenigen Änderungen und einer Ergänzung versehene Neuausgabe: ders., Der Philosoph von Sanssouci, Heidelberg 1962 (nach dieser Ausgabe auch die folgenden Zitate). 40 Eduard Zeller, Friedrich der Große als Philosoph, Berlin 1886. 41 Wilhelm Dilthey: Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, 6. Aufl. Stuttgart/ Göttingen 1992, S. 81 – 205. 42 Diese Texte sind kürzlich im Rahmen der neuen Friedrich-Ausgabe erneut ediert worden: Friedrich der Große, Potsdamer Ausgabe, hrsg. v. Gérard Laudin/Günther Lottes/Brunhilde Wehinger, Bd. VII: Werke des Philosophen von Sanssouci/Œuvres du Philosophe de Sans-Souci, Berlin 2012. 43 Vgl. Eduard Spranger, Berlin als Sitz weltgestaltender Philosophie (Anm. 34), S. 66 ff. u. passim.
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schon bald mit der sich zunehmend zu ungunsten Deutschlands entwickelnden Kriegslage für das Regime immer wichtiger wurde. Der letzte der bekannten Friedrich-Filme, nicht zufällig ebenfalls im Kriegsjahr 1942 von Veit Harlan mit größtem Personalaufwand gedreht und 1943 unter dem Titel „Der große König“ uraufgeführt, zeigt eben diese Propagandaabsicht mit aller Deutlichkeit44. Hiergegen konnte der Berliner Philosophieprofessor Spranger im Rahmen eines akademischen Gelegenheitsvortrags natürlich nicht mit Erfolg ankommen, aber sein Text darf doch wohl als vorsichtiger, als solcher freilich nur für Kenner wahrnehmbarer Einspruch gegen die zeitgenössische propagandistische Instrumentalisierung und damit Verfälschung des Friedrichbildes gelesen werden. Denn gerade nicht der Kämpfer, der Kriegsherr steht im Mittelpunkt der Betrachtung Sprangers, sondern der sein Leben wie sein Tun auf höchstem gedanklichen Niveau reflektierende, ungemein gebildete Denker Friedrich, der sich in letzter Konsequenz als Stoiker erweist, der bereit ist, sein Schicksal zu akzeptieren und das, was er als seine Pflicht erkannt hat, zu erfüllen45, der sich aber gleichzeitig als Herrscher berufen fühlt, am von einer höheren Macht (die man Gott nennen kann oder auch nicht) vorgegebenen, von den Menschen jedoch nur bruchstückhaft zu erfassenden „Weltplan“, wie Spranger sagt, „in sittlicher Richtung mitzuarbeiten“46, immer dem Gewissen und demjenigen folgend, was die Pflicht zu tun gebietet. Dass die Handlungen des wahren Staatsmanns, wie Friedrich ihn in dieser Deutung darstellte, stets im „sittlichen Bewußtsein“47 verankert sein müssen, hat Spranger hier besonders nachdrücklich hervorgehoben. Schon der berühmte „Antimachiavell“, die politisch-philosophische Erstlingsschrift des jungen Preußenkönigs, zeichne zwar „durchaus kein rosenrotes Gemälde eines bloß humanen Fürsten“, aber eben doch „eine verständige Gegenüberstellung des Herrscherideals im 18. Jahrhundert gegen die brutalen Machtnaturen der Renaissance“. Zwar habe auch Friedrich um die moralischen Fallstricke der gelegentlich unausweichlichen Pflicht zur „Realpolitik“ gewusst, doch wenn sich seit Machiavelli der Stil der Politik geändert hatte, dann beruhte dies in Friedrichs Perspektive eben auch, wie Spranger hier formuliert, „auf Humanitäts- und Rechtsgedanken, die seitdem zu den realen Mächten in der Welt geworden“48 seien. Das waren, nimmt man den zeithistorischen Kontext des Jahres 1942 mit in den Blick, mehr als deutliche Formulierungen, in denen für jeden, der hören und lesen konnte, der tiefe, keineswegs nur historische Abgrund erkennbar wurde, der zwischen dem Preußenkönig und dem deutschen „Führer“ auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges lag. 44
Dazu Friedrich P. Kahlenberg, Preußen als Filmsujet in der Propagandasprache der NSZeit, in: Preußen – Versuch einer Bilanz, Bd. 5: Preußen im Film, hrsg. v. Axel Marquardt/ Heinz Rathsack, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 135 – 163, hier S. 156 ff. 45 Vgl. vor allem Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci (Anm. 39), S. 48 ff. 46 Ebd., S. 82; vgl. S. 83 f. 47 Ebd., S. 83. 48 Die Zitate ebd., S. 30.
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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich von Sprangers Text mit einem Vortrag, den der Wehrmachtsgeneral Wolfgang Muff ein halbes Jahr später, am 25. Januar 1943, vor der Deutschen Gesellschaft für Wehrwissenschaft und Wehrpolitik über das Thema „Die Philosophie Friedrichs des Großen“ gehalten und anschließend publiziert hat49. Dieser Vortrag zum 231. Geburtstag des Königs enthielt denn auch – obwohl er sich durchaus philosophisch informiert zeigte50 – in zentralen Elementen seiner Begrifflichkeit und seiner Deutungen genau das, was die Repräsentanten des Regimes bei solchen Gelegenheiten erwarteten und was bei Spranger eben nicht zu finden war: Vom „Blutserbe“ des Königs war hier ebenso die Rede wie von „Führung“ und vom Willen zum Durchhalten, endlich vom „Dämonische[n] in Friedrichs Natur“, das ihn dazu gebracht habe so zu handeln, wie er handelte – „damit eines großen Volkes Erdensendung sich vollende“51. – Bereits diese wenigen Formulierungen zeigen den unübersehbaren Abstand zwischen dem Deutungsgehalt, aber im Grunde auch dem gedanklichen Niveau beider kurz nacheinander und auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs entstandenen Texte. V. Nach dem dritten der großen politischen Brüche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem des Jahres 1945, wandelte sich der Blick auf das nunmehr untergegangene und mit dem Kontrollratsbeschluss des Jahres 1947 auch staatsrechtlich aufgelöste Preußen noch einmal radikal. In gewissem Sinne hatte die Propaganda des ebenfalls untergegangenen NS-Regimes ganze Arbeit geleistet, denn auch das Andenken an die Leistungen Preußens war jetzt im allgemeinen Bewusstsein – nicht nur in den Siegerstaaten – für einige Jahre fast vollständig ruiniert. Auch in Deutschland selbst setzte jetzt, und zwar in den westlichen Besatzungszonen ebenso wie in der östlichen, eine nachgerade erbarmungslose Abrechnung mit demjenigen ein, was man als spezifisch preußische Tradition ansah oder ansehen zu können meinte. Bei allen sonstigen weltanschaulichen Unterschieden waren sich streng katholische Autoren aus West- und Süddeutschland wie etwa der Historiker Karl Buchheim oder die Mitarbeiter der Augsburger Zeitschrift „Neues Abendland“ mit Ultraliberalen wie dem Ökonomen Wilhelm Röpke und sogar mit überzeugten Kommunisten wie dem späteren Kulturminister der DDR, Alexander Abusch, oder dem Philosophen Georg Lukács darin einig, dass im „Preußentum“ eine der zentralen Ursachen für
49 Wolfgang Muff, Die Philosophie Friedrichs des Großen, Berlin 1944 (der Text wurde im bekannten Militärverlag E. S. Mittler & Sohn veröffentlicht). 50 Manches spricht dafür, dass auch Sprangers Vortrag von Muff wenigstens vor der Drucklegung seines Textes rezipiert wurde. 51 Die Zitate: Wolfgang Muff, Die Philosophie Friedrichs des Großen (Anm. 49), S. 12, 39, 43 f.
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den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und die durch ihn verursachte geschichtliche Katastrophe gesehen werden müsse52. Im Abstand von neun Jahren nach Kriegsende hat der scharfsinnige Publizist Friedrich Sieburg diesen Tatbestand in seinem 1954 erschienenen Buch „Die Lust am Untergang“ treffend umschrieben: „Die Alliierten kamen 1945 mit einer festen historischen Vorstellung in unser Land, die sich … sehr schnell durchsetzte und in unseren Reihen viele eifrige Diener fand. Das große Alibi hieß Preußen, und der Nachweis, daß man schon immer gegen Preußen gewesen sei, genügte häufig, um den neuen Machthabern die von ihnen verlangte innere Wandlung vorzuführen. Die Willfährigkeit, mit der das deutsche Volk oder wenigstens seine gebildeten Schichten sich damals von Preußen getrennt, seine Auflösung gutgeheißen oder gar ignoriert haben, sollte nicht so schnell vergessen werden, wie peinlich es auch sein mag, daran zurückzudenken. Wer schon beim Anblick der erfolgreichen historischen Umerziehungskünste der Nationalsozialisten am geschichtlichen Sinn der Deutschen gezweifelt hatte, mußte nun, bei der schmachvollen Verscharrung Preußens, vollends gewahr werden, daß unser Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte höchst fragwürdig ist“53. Wenige dürften neben Sieburg diese Fragewürdigkeit gerade mit Blick auf Preußen und das preußische Geisteserbe so schmerzhaft empfunden haben wie Eduard Spranger, der sich in seinen späten Jahren fernab von Berlin, im schwäbischen Exil gewissermaßen, daranmachte, eben dieses Erbe noch einmal neu zu sichten und zu durchdenken, gemäß seiner Maxime, es gehöre zum Wesen der Geschichte, „daß auch längst Bekanntes immer wieder erzählt werden muß, weil es immer eine neue Generation ist, die zuhört“54. Jetzt hörten ihm die jungen Angehörigen der noch durch den Krieg geprägten studentischen Nachkriegsgeneration zu, denen der alte, aus Berlin kommende Professor auf den ersten Blick wie das Relikt einer längst entschwundenen fernen Epoche der deutschen Geistes- und Universitätsgeschichte erscheinen musste. Trotz der immensen Kräfte, die dem alten Mann von der erneuten Umorientierung nach dem Krieg sowie ebenfalls vom beruflichen Neuanfang im höheren Lebensalter abverlangt wurden, sah er es dennoch als seine Aufgabe an, die Erinnerung an den „Berliner Geist“ der von ihm noch miterlebten Epoche, der letzten Blütezeit des preußischen Geisteslebens um und nach 1900, wachzuhalten. Diese Leistung musste er jetzt freilich im Zeichen einer gleich dreifach gebrochenen Perspektive er52 Hierzu sei verwiesen auf die von mir an anderer Stelle veröffentlichten Ausführungen und Belege: Hans-Christof Kraus, Zur Einführung: Fragen und Probleme der Historiographie Preußens in der Zwischenkriegszeit und nach 1945, in: ders. (Hrsg.): Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945 (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F., Beiheft 12), Berlin 2013, S. 7 – 16, hier S. 12 f. 53 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang – Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, 101. 54 Eduard Spranger, Gedenkrede zur 150-Jahrfeier der Gründung der Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin (1960), in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. X, S. 377.
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bringen: In Abgrenzung erstens gegen die von ihm ebenfalls noch miterlebten Trivialitäten eines unreflektiert-selbstgewissen und überheblichen Borussismus, zweitens aber auch gegen den propagandistischen Missbrauch der preußischen Idee durch die Nationalsozialisten, und drittens nach 1945 ebenfalls gegen die Verdammung Preußens durch die Siegermächte und deren eilfertige und allzu dienstbeflissene Nachredner im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit. Vor allem das einhundertfünfzigjährige Gründungsjubiläum der alten Berliner Universität im Jahr 1960 – das damals nicht nur in beiden Hälften der seinerzeit geteilten Stadt begangen wurde – bot Spranger nach seiner Emeritierung die erwünschte Gelegenheit, noch einmal auf die Leistungen, aber ebenfalls auf die Grenzen des Berliner und des preußischen Geisteserbes hinzuweisen. Seine beiden späten Texte, die in diesem Zusammenhang entstanden sind: die 1960 in Tübingen gehaltene Gedenkrede zur Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität55 sowie die mit ihr in engem Zusammenhang stehende Untersuchung über das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 190056, erweisen sich als meisterhafte, auf hohem gedanklichem Niveau kritisch rekonstruierende und reflektierende Analysen, die sich zugleich als Summe lebenslangen Nachdenkens wie auch in Jahrzehnten wissenschaftlicher und geistiger Arbeit gewonnener Erfahrungen präsentieren. Es ging Spranger dabei keineswegs nur um einen bloßen Rückblick – schon gar nicht um eine Neuerweckung längst versunkener geistiger Welten im Sinne von Nietzsches Verständnis einer antiquarischen Historie57 –, auch wenn die großen Namen von Schleiermacher bis Harnack, von Hegel bis Dilthey, von Helmholtz bis Planck, von Ranke bis Hintze, von Schmoller bis Sombart hier noch einmal ausdrücklich und zumeist rühmende Erwähnung fanden. Denn Spranger scheute sich in seiner Gedenkrede durchaus nicht, ebenfalls nach möglichen Lehren zu fragen, die aus den großen Leistungen, aber eben auch aus den Fehlentwicklungen der deutschen Universitäts- und Bildungsgeschichte der vergangenen einhundertfünfzig Jahre für die Gegenwart zu ziehen seien. Jede deutsche Hochschule sei im Kern gefährdet, führte er hier aus, wenn ihre Träger vergessen, „1. daß echte Wissenschaft immer ein Werk der Freiheit ist; 2. daß sie mindestens das Ethos des Wahrheitssuchens zur Voraussetzung hat; 3. aber, daß sie sich der Kulturverantwortung in ihrem Volk und zu ihrer Zeit bewußt sein muß“58. 55
Ebd., Bd. X, S. 376 – 390. Eduard Spranger, Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900, in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. V, S. 430 – 446; zuerst aus Anlass des Berliner Universitätsjubiläums in: Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, hrsg. v. Hans Leussink/Eduard Neumann/Georg Kotowski, Berlin 1960, S. 425 – 443, danach ebenfalls in: ders., Berliner Geist (Anm. 5), S. 147 – 187. 57 Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. I, München 1969, S. 209 – 285, hier S. 225 ff. 58 Eduard Spranger, Gedenkrede zur 150-Jahrfeier (Anm. 54), S. 388. 56
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Worin diese letzte, von Spranger hier vielleicht etwas unpräzise formulierte Forderung besteht, hat er ausführlich in seiner etwa gleichzeitig entstandenen, zuerst in einem der Sammelbände der West-Berliner Freien Universität zum Jubiläum von 1810 publizierten Abhandlung über das „Historismusproblem“ an der Berliner Universität dargelegt. Es sei wenigstens „teilweise“, stellt er hier fest, „aus der Ratlosigkeit, die das Historismusproblem und das Versinken in den Relativismus erzeugt hatten“, zu erklären, „daß die Universität Berlin in unserem Jahrhundert zweimal unter die Herrschaft einer Gruppenideologie geraten“59 und auf diese Weise zum Opfer ebenso freiheits- wie wissenschaftsfeindlicher politischer Dogmensysteme geworden sei, „deren Nachprüfung untersagt war“60. Das Schlimmste aber sei im Verlust der moralischen Substanz zu sehen – „denn nur der Freie kann sich am Gewissen orientieren“61. VI. Spranger Rückblicke auf Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg erhoben den Anspruch, durchaus nicht unkritisch, aber eben auch sachlich und um Gerechtigkeit bemüht zu sein. Dort, wo er jedes Bemühen um eine angemessene und historisch gerechte Bewertung vergangener Persönlichkeiten oder Phänomene vermisste, scheute er sich ebenfalls nicht, gegebenenfalls mit deutlichen Worten Stellung zu beziehen. Das geschah am Beispiel Friedrichs des Großen, den er während des Krieges noch auf sehr vorsichtige und zurückhaltende Weise gegen dessen Inanspruchnahme durch die nationalsozialistische Kriegspropaganda in Schutz zu nehmen versucht hatte, indem er seinerzeit das explizite Gegenbild eines „anderen“ Friedrich gezeichnet hatte – eben das des subtilen und gebildeten Denkers, des philosophierenden Poeten, des aufgeklärten ersten Staatsdieners, des erfolgreichen Rechtsreformers. Der Neuausgabe seiner Schrift über den „Philosophen von Sanssouci“, die zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag des Monarchen im Jahr 1962 erschien, fügte Spranger deshalb ein „Zwischenspiel“ ein62, in welchem er jetzt den König erneut gegen zeitgenössische Vorurteile und Invektiven – nun eben diejenigen der zweiten Nachkriegszeit – entschieden verteidigte, auf die vielfachen Leistungen des aufgeklärten Herrschers in den verschiedensten Bereichen von Staat, Gesellschaft und Kultur verweisend: Bereits ein Beispiel allein genüge, stellte Spranger bei dieser Ge59
Eduard Spranger, Das Historismusproblem (Anm. 56), S. 441. Ebd., S. 442. 61 Ebd., S. 446. – In der Formulierung desjenigen, was er als möglichen Ausweg aus der Historismusfalle anzubieten hatte, blieb Spranger freilich bewusst vage: Ein Volk müsse, heißt es am Ende der Abhandlung, „sub specie eines sittlichen Kulturideals existieren und wollen. Eine Hochschule ist dazu berufen, es ihm zu deuten. Sie verkörpert daher für das Volk nicht nur das Wissen, sondern auch das Wahrheitsgewissen. In ihr muß ständig um den echten Gehalt des Kulturgedankens gerungen werden“ (ebd., S. 446). 62 Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci (Anm. 39), S. 71 – 80; kleinere Änderungen finden sich auch im Schlussabschnitt; man vgl. ebd., S. 85 – 87 mit der Fassung von 1942 (Anm. 39), S. 52 f. 60
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legenheit fest, um Friedrich „einen unverjährbaren Ruhmestitel in der Geschichte zu sichern: das rastlose Bemühen, aus dem absolutistischen Staat einen Rechtsstaat zu machen“. Auch wenn es in späterer Zeit „Versuchungen und Rückschläge“ aller Art gegeben habe, sei doch gerade mit den großen Verwaltungs- und Rechtsreformen ein „Stockwerk“ angelegt worden, auf dem „die nachfolgenden Generationen weiterbauen konnten“63. Dieses nachdrückliche Hervorheben des Rechtsreformers Friedrich, der mit dem von ihm inspirierten und vorbereiteten „Allgemeinen Landrecht“ durchaus zur Vorgeschichte des modernen deutschen Rechtsstaats gehört, war unübersehbar noch der Erfahrung der erst jüngst vergangenen Diktatur geschuldet. Und nicht zuletzt wollte Spranger mit dieser nur ein Jahr vor seinem Tod publizierten Interpolation in die Neuauflage seines Friedrichbuchs, wie er es selbst formulierte, „verhüten, daß die Zeitgenossen ungerechte Maßstäbe an einen Großen der deutschen Nation anlegen, um den andere Völker unser Volk beneiden. Leider haben wir uns“, fügte er noch hinzu, „aus der bürgerlichen Kleinlichkeit immer noch nicht herausgearbeitet, von der uns später ein hoher Geist des friderizianischen Staates, Wilhelm von Humboldt, befreien wollte“64. Hinterlassen hat Eduard Spranger schließlich noch einige fragmentarische Aufzeichnungen zu einer unvollendeten Schrift über „Das Preußische“, die erstmals 1970 im achten Band der Gesammelten Schriften publiziert wurden65 ; entstanden sind sie nach Ausweis des Herausgebers in den Jahren zwischen 1958 und 196266. Neben einigen eher allgemein gehaltenen historischen Reflexionen stehen zwei Gedanken hier im Vordergrund: Die Idee des Dienstes am Staat, den er in die Worte „Der Staat als Askese“ fasst und als „Kern des Preußischen“67 bezeichnet. Darin ist vor allem eine deutliche Distanzierung von utilitaristischen Auffassungen zu sehen, denn „Staat als Askese“ bedeutet zuerst einmal, dass niemand an sich das Recht besitzt, aus einer staatlichen Stellung Vorteile zu ziehen – im Gegenteil: „Niemand hat Genuß daran. Jeder steht im Dienst, jeder beherrscht erst sich selbst, ehe er rechtlich zu herrschen berufen wird“68. Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, die eigene Person und deren unmittelbare Interessen im gegebenen Fall auch einmal zurücknehmen zu können, erscheinen als unbedingte Voraussetzungen einer im wahren Sinne legitimen Machtausübung im Staat. 63
Die Zitate: Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci (Anm. 39), S. 79 f. Ebd., S. 80. 65 Eduard Spranger, Das Preußische (o. J.), in: ders., Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd. VIII, S. 392 – 410. 66 Vgl. ebd., S. 450 f., die Bemerkungen des Bandherausgebers Hermann Josef Meyer, der zugleich auf den engen zeitlichen und thematischen Zusammenhang dieser nachgelassenen Reflexionen zum „Preußischen“ mit der 1962 veranstalteten Neuausgabe des „Philosophen von Sanssouci“ hinweist. 67 Ebd., S. 393; vgl. auch S. 399 f. 68 Ebd., S. 393. 64
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Der andere Grundgedanke, den Spranger hier am Ende seines Lebens in seinen Reflexionen über „das Preußische“ entfaltete, ist derjenige einer sittlichen Bindung der Macht. Es liege „in der Bestimmung jedes Staates, dass er nach Macht strebt“, betont Spranger, und er wendet (hier mit Max Weber gegen die bekannte Formulierung Jacob Burckhardts) ein: „Die Macht an sich ist nicht böse, nur ihr unsittlicher Gebrauch. Gewaltübung sogar ist in der Rechtsvollstreckung unentbehrlich. Die Versittlichung eines Staates besteht darin, daß er sein Verhalten so weit wie möglich an Rechtsregeln bindet“69. Diese beiden Gedanken, die Selbstzurücknahme des Einzelnen und die Notwendigkeit einer Versittlichung (d. h. einer konsequenten Verrechtlichung) der Machtausübung bindet Spranger am Ende zu einer „Fundamentalthese“ zusammen: „Das Preußische besteht darin, daß der Staat jedem Einzelnen als sittliche Aufgabe wichtig ist, die den Interessen des Einzelnen und der vielen partikulären Gesellschaftsgebilde innerhalb des Staates vorzuordnen ist“70. Das waren schon zur Zeit Ihrer Niederschrift um 1960 durchaus unzeitgemäße Gedanken, und sie sind es heute erst recht. Aber in ihnen spiegelt sich, was nicht vergessen werden sollte, die Lebenserfahrung von sechs Jahrzehnten sehr aktiver und produktiver gelehrter Tätigkeit wider, dazu ebenfalls die Erfahrungen von drei säkularen politischen Umbrüchen und nicht zuletzt die Begegnung mit zwei totalitären Regimen. Die Frage, welche Bestände an ethischer Substanz im Bereich des Politischen – Spranger bezeichnete es als das Problem der Versittlichung der Machtausübung – vor dem Hintergrund der katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts noch zu retten und zu bewahren seien, hat den alten Denker bis zuletzt umgetrieben. Die Besinnung auf dasjenige, was er nach dem realen Untergang Preußens als spezifisch preußische geistige Tradition erkennen zu können meinte, hat ihm bis zuletzt geistigen Halt geben können, ihm vielleicht auch eine Art Schutzmechanismus gegen die Zumutungen einer neuen Zeit geliefert, deren Ideen er sich nicht mehr zu eigen machen konnte. Die Summe seiner Lebenserfahrungen als ein um 1900 gerade erwachsen gewordener Berliner, als ein noch im 19. Jahrhundert geborener Preuße und als ein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebender und wirkender Deutscher hat er vielleicht nicht zufällig in seinen Fragmenten über das „Preußische“ einprägsam formuliert: „Das Leben ist hart. Das soll man nicht verschleiern. Wer sich auf Schicksalsschläge gefaßt macht, ist innerlich gerüstet und leidet weniger. Kommt es gut, ist es immer noch Zeit, sich zu freuen. Aber maßvoll; denn es kommt auch wieder anders“71. 69 Ebd., S. 402. Jacob Burckhardts berühmte Verurteilung der Macht in: ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 97: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und so ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen“. Zu Max Webers Überlegungen zur Funktion und Bedeutung legitimer Machtausübung im Rahmen staatlicher Herrschaft siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Köln/Berlin 1964, Bd. 2, S. 691 ff. 70 Eduard Spranger, Das Preußische (Anm. 65), S. 403. 71 Ebd., S. 400.
Spranger und die philosophische Pädagogik Von Reinhard Mehring I. Naturalismusproblem gestern wie heute Ruhm und Nachruhm sind auch in der Wissenschaft zweierlei. In der jungen Geschichte der Universitätspädagogik1 hat das wohl niemand so intensiv erfahren wie Franz Ernst Eduard Spranger, der 1883 in Berlin geboren wurde und 1963 – vor 50 Jahren – in Tübingen verstarb. Setzt man die volle Etablierung der Universitätspädagogik eigentlich erst mit der Weimarer Republik an, wie es der Bildungshistoriker Tenorth2 ausführt, so gehört Spranger zu den wenigen Gründervätern des Faches.3 Schrittmacher war Berlin. Der gebürtige Berliner ist ein Kind und Erbe der Wilhelminischen Blüte der Berliner Universität. Spranger war ein Musterschüler im Spit1 Dazu Klaus-Peter Horn, Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert. Zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion, Bad Heilbrunn 2003. 2 Heinz-Elmar Tenorth, „… die praktische Seite der Philosophischen Fakultät“. Status und Funktion universitärer Pädagogik, Berlin 2011; ders., Pädagogik für Krieg und Frieden. Eduard Spranger und die Erziehungswissenschaft an der Universität Berlin von 1913 – 1933, in: Klaus-Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hg.), Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 191 – 226. 3 Spranger wird hier nach seinen Gesammelten Schriften (11 Bde., 1969 – 1980) zitiert. Nicht in den GS enthalten sind weitere wichtige Bücher und Sammlungen: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910; Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 1914, 5. Aufl. Halle 1925; Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1924; Volk, Staat, Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1932; Die Magie der Seele, Tübingen 1947; Der Philosoph von Sanssouci, 1942, 2. Aufl. Heidelberg 1962; Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen 1966; Goethe. Seine geistige Welt, Tübingen 1967; Georg Kerschensteiner-Eduard Spranger. Briefwechsel 1912 – 1931, hrsg. Ludwig Englert, München 1966. Die Spranger-Forschung thematisiert Spranger überwiegend historisch im Kontext der Weimarer Reformpädagogik und der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus. Einige neuere Titel sind: Joachim Hohmann (Hg.), Beiträge zur Philosophie Eduard Sprangers, Berlin 1996; Karin Priem, Bildung im Dialog. Eduard Sprangers Korrespondenz mit Frauen und sein Profil als Wissenschaftler, Köln 2000; Gerhard MeyerWillner (Hg.), Eduard Spranger. Aspekte seines Werks aus heutiger Sicht, Bad Heilbrunn 2001; Alban Schraut, Biographische Studien zu Eduard Spranger, Bad Heilbrunn 2007; Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit. Eduard Spranger, Hermann Nohl, Erich Weiniger u. Erich Petersen, Weinheim 2009; Klaus-Peter Horn, Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011.
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zengymnasium zum Grauen Kloster, studierte ab 1900 in Berlin und wurde Schüler von Friedrich Paulsen und Wilhelm Dilthey.4 Nach seiner Dissertation und Habilitation wurde er bereits 1911, noch keine 30 Jahre alt, Ordinarius für Philosophie und Pädagogik in Leipzig, der damals zweitgrößten Universität des Reiches. 1919 kehrte er dann nach Berlin auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik zurück. Er arbeitete mit den sozialdemokratischen preußischen Bildungsreformern zusammen und gehörte politisch zu den „Vernunftrepublikanern“. Seine Karriere war steil, sein bildungspolitischer Einfluss groß, sein Ansehen als Pädagoge jahrzehntelang geradezu singulär. Er erlebte aber auch furchtbare Dinge. Ab 1933 hatte er seinen „Todfeind“ Alfred Baeumler als nächsten Kollegen im Fach. Spranger wurde zum erklärten Gegner des Nationalsozialismus, ging bald nach dem Antikominternpakt, dem Schulterschluss von Berlin und Tokio gegen Moskau, mit „kulturpolitischem“ Auftrag für ein Jahr nach Japan, erlebte den Krieg im Brennpunkt Berlin, wurde nach dem 20. Juli 1944, seiner Mittwochsgesellschaft-Bekanntschaft mit einigen Widerstandskämpfern wegen, verhaftet, verbrachte einige Wochen im Gefängnis Moabit und kam nur nach glücklicher Intervention aus Japan frei. Den Einmarsch der Russen überlebte er nur knapp, durch sein Klavierspiel, wie er sagte;5 seine Frau wurde vergewaltigt. Spranger erlebte die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts im Brennpunkt Berlin aus großer Nähe. Auch in der Bildungspolitik erlitt er manche Niederlage. Als deutscher Wissenschaftler allerdings hat er alles erreicht, was man nur erreichen kann. Spranger wurde früh bereits Mitglied der Akademien der Wissenschaft in Berlin, Leipzig und Wien. Er erhielt Ehrendoktorwürden der Universitäten Budapest, Padua, Berlin, Köln, Mannheim und Tokio, diverse Orden und Preise, war Träger des Pour le mérite für Wissenschaften, war im Vorstand der Goethe-Gesellschaft engagiert, 1945/46 erster Nachkriegsrektor der Berliner Universität und konnte nach 1945 so ziemlich an jede westdeutsche Universität wechseln. Theodor Heuss holte ihn 1946 als Professor für Philosophie und Pädagogik nach Tübingen. Spranger hielt 1951 im Deutschen Bundestag die offizielle Festrede zur 2. Jahresfeier der Bundes4 Dazu vgl. Verf., Das pädagogische Gewissen. Grundlinien der Bildungsphilosophie Eduard Sprangers (1882 – 1963), in: Pädagogische Rundschau 67 (2013), 405 – 420; „Berliner Geist“ als „Lebensform“: Eduard Spranger (1882 – 1963), in: Individualität und Selbstbestimmung. Festschrift für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, hrsg. von Jan-Christoph Heilinger, Colin King und Héctor Wittwer, Berlin 2009, 379 – 403; zu meiner Sicht des Berliner Kontextes vgl. Verf., Die Berliner Universitätsphilosophie als Geschichte und als Mythos, in: Istvan Fehér u. Peter L. Oesterreich (Hg.), Die Philosophie und die Gestalt der europäischen Universität, Reihe Schellingiana, Stuttgart 2008, 258 – 283; Arthur Liebert, ein Geschäftsführer des philosophischen Humanismus im Exil, in: Gerald Hartung u. Kay Schiller (Hg.), Weltoffener Humanismus. Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutsch-jüdischen Emigration, Bielefeld 2006, 91 – 109; Friedrich Paulsens Metaphysik – anhand seiner „Einleitung in die Philosophie“, in: Thomas Steensen (Hg.), Friedrich Paulsen. Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus Nordfriesland, Husum 2010, 69 – 82. 5 Dazu vgl. Eduard Spranger, Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert, 1953, in: Gesammelte Schriften Bd. X, Heidelberg 1973, 342 – 360, hier: 356.
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republik Deutschland. Einige Jahre war er noch Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bald nach seinem Tod erschien eine elfbändige, voluminöse Gesamtausgabe, die aber nur einen Teil seines fast unüberschaubar großen Werkes umfasst. Seine Breiten- und Tiefenwirkung und sein Ansehen im deutschen Wissenschaftssystem und in der Lehrerschaft waren groß. Dieser Ruhm ist dann aber schon in den 60er Jahren sehr plötzlich implodiert. In der neueren Wissenschaftsgeschichtsschreibung wird gerne von „Paradigmenwechseln“ gesprochen. Spranger scheint damals mitsamt seinem Paradigma, der geisteswissenschaftlich-verstehenden oder auch philosophischen Pädagogik, gleichsam über Nacht beigesetzt und vergessen worden zu sein. Heute ist er in der aktuellen Diskussion so mausetot, dass unsere Studenten seinen Namen kaum je gehört haben. Sprangers philosophische Pädagogik wurde um 1968 herum durch neue Leitwissenschaften – Soziologie und Entwicklungspsychologie – paradigmatisch abgelöst. Freud und Erikson, Piaget und Kohlberg, Marx und Weber ersetzten die ältere Referenz an die philosophische Tradition. Heute erleben wir neue paradigmatische Verwerfungen und Umorientierungen. Man spricht von einer „empirischen Wende“ der Bildungswissenschaften im Zeichen von Pisa und Bertelsmann und wirft sich den Kognitions- und Neurowissenschaften als neuere Mode- und Leitwissenschaften in deren weit geöffnete Arme. Für die Geschichte universitärer Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert lässt sich, wie angedeutet, also thetisch und pauschal ein doppelter Paradigmenwechsel leitwissenschaftlicher Orientierungen konstatieren: von der Philosophie über die Soziologie und Psychologie zur neurobiologisch fundierten Kognitionswissenschaft. Nicht zuletzt dieser paradigmatischen Umstellungen wegen ist Spranger heute als erziehungswissenschaftliche Autorität ziemlich verrufen und vergessen. Detlef Garz erörtert diese Frage abschließend eingehender. Für unser Thema scheint mir beachtlich, dass die philosophische Pädagogik der Dilthey-Schule um 1900 bereits eine ähnliche Ausgangslage vorfand. Sie antwortete auf den Siegeszug und die paradigmatische Evidenz des Naturalismus und Materialismus nach Darwin. Die vielberufene „Wiedergeburt“ idealistischer Philosophie im Wilhelminismus war auch eine Trotz- und Abwehrreaktion auf den Triumph des Naturalismus und Materialismus der Jahrhundertmitte. Sigmund Freud6 sprach um 1900 prägnant von den „narzisstischen“ Kränkungen des humanistischen Stolzes durch Kopernikus und Darwin und schrieb seine Psychoanalyse keck in die Reihe der Kränkungen hinein. Die damalige Philosophie wurde lange unter dem Label des Neukantianismus allzu pauschal betrachtet. Klaus-Christian Köhnke7 zeigte die Heterogenität der Wilhelminischen Philosophie. Wilhelm Windelband, Alois Riehl und manche anderen schrieben um 1900 bereits knappe Rückblicke auf die „Wiedergeburt“ idealistischer Philosophie nach der Reichsgründung. Über die politischen Motive dieser
6 Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1917, in: Gesammelte Werke Bd. XII, 67. 7 Klaus-Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt 1986.
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Wiedergeburt, die Ulrich Sieg8 jüngst in einer Skizze der Deutschen Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus pointierte, sollten die bei Köhnke deutlichen philosophischen Fragen nicht zu kurz kommen. Naturalismus und Materialismus waren vor hundert Jahren als „Weltanschauungen“ schon deshalb fragwürdig, weil die Naturwissenschaften noch nicht so weit waren, sie ernstlich zu bestätigen. Die katastrophalen Folgen eines voreiligen und unwissenschaftlichen Materialismus zeigten sich im 20. Jahrhundert dann besonders im nationalsozialistischen Rassismus, der nicht wissenschaftlich fundiert war und über keine solide Genetik verfügte. Sie zeigten sich auch im Marxismus, der das Klassenbewusstsein und politische Wollen der „Arbeiterklasse“ ziemlich falsch einschätzte. Spranger war Schüler von Dilthey und Paulsen. Dilthey gilt heute als „Lebensphilosoph“, Paulsen als Neukantianer. Der dritte prägende Ordinarius der Berliner Philosophie war damals um 1900 Carl Stumpf, der Vater der Berliner Gestaltpsychologie. Stumpfs innovative Bedeutung wird heute in der Philosophiegeschichtsschreibung unterschätzt, weil er als Experimentalpsychologe gilt. Schon Dilthey setzte seine geisteswissenschaftlich verstehende und introspektiv „beschreibende“ Psychologie paradigmatisch gegen die Alternative einer experimentellen und naturwissenschaftlich „erklärenden“ Psychologie; er entwickelte seine Position in der Abgrenzung von Hermann Ebbinghaus und optierte gegen Ebbinghaus für Stumpf als einem philosophischen Psychologen, der mit seinem Ansatz kompatibel schien. Spranger folgte dieser philosophischen „Psychologie“ und verteidigte deren Grundentscheidung etwa auch in der Abgrenzung von dem psychoanalytisch beeinflussten Ansatz von Siegfried Bernfeld.9 Seine geisteswissenschaftlich-verstehende „Psychologie“ verteidigte die introspektive Teilnehmerperspektive gegen die ersten programmatischen Signale des Paradigmenwechsels und der Übernahme der Deutungshegemonie durch eine neue, objektivistisch beobachtende und erklärende Psychologie. Um die paradigmatischen Differenzen zu profilieren, sollte man deshalb primär von einer philosophischen Pädagogik und nicht von „Psychologie“ sprechen. Schon Diltheys „Psychologie“ war eigentlich eine Philosophie; den Titel des Psychologen beanspruchte Dilthey damals auch strategisch in der Konkurrenz mit den ersten Emanzipationsversuchen einer medizinischen und experimentell-beobachtenden Psychologie. Nach Helmholtz begannen sich die Wege von Philosophie und Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts zu trennen und die Pädagogik entschied sich dann für den Pfad der experimentellen Psychologie als Leitwissenschaft. Paulsen betrachtete die Pädagogik noch selbstverständlich als Teil der praktischen Philosophie und richtete sich gegen eigene Lehrstühle für Pädagogik. Die „Personalunion von Philosophie und Pädagogik […] beruht auf einer unaufhebbaren Realunion der Wis8
Ulrich Sieg, Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013. 9 Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Wien 1925; zur Kontroverse vgl. Heinz-Elmar Tenorth, Sigmund Freud über Siegfried Bernfeld. Ein ,Lehrauftrag für psychoanalytische Pädagogik‘ an der Universität Berlin, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 5 (1999), 301 – 312.
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senschaften selbst“, erklärte Paulsen 1906.10 Der Pädagoge müsse über Ethik, Politik und Sozialwissenschaft orientiert sein und auch die Psychologie in ihren metaphysischen Voraussetzungen vertreten können. Spranger sah es, anders als etwa Nohl,11 ähnlich und betonte die Wahlverwandtschaft von Philosophie und Pädagogik. Erst nach 1945 emanzipierte sich die Pädagogik institutionell von der Philosophie. II. Philosophische Apologie der Freiheit Warum ist die geisteswissenschaftlich-verstehende Psychologie eine Philosophie? Philosophie ist Logos- oder Begriffswissenschaft, im neuzeitlich-mentalistischen Paradigma – mit Husserl zu sprechen – „Egologie“ oder Ich-Analyse und seit Kant transzendentale Selbstreflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von „Freiheit“. Philosophie setzt mit dem „Geist“ auch das unhintergehbare Faktum individueller Autonomie und Freiheit voraus. Philosophie reflektiert diese unverzichtbare Freiheitspräsupposition. Philosophen nehmen Freiheit für sich in Anspruch und verteidigen die Evidenz der Freiheit. Kants Philosophie ist die „klassische“ Apologie dieses „Faktums“ der Vernunft. Auch das Weimarer Projekt einer Philosophischen Anthropologie verteidigte die exzentrische Position und Präsupposition der Freiheit. Von Diltheys Lebensbegriff schritt sie wieder zum „Geist“. Sprangers Berliner Kollege Wolfgang Köhler, ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus, der freiwillig seinen Lehrstuhl niederlegte und emigrierte, initiierte hier mit seinen berühmten Pionierstudien zur Intelligenz von Menschenaffen auch die Gegenprobe auf die Menschlichkeit der höheren Primaten. Es entspricht dem humanen Projekt der philosophischen Tradition, wenn die Philosophie des Geistes heute die MenschTier-Differenz erneut anspruchsvoll diskutiert und die Kriterien der Humanität scharf analysiert. Spranger findet eine andere Diskussionslage als der 1911 verstorbene Wilhelm Dilthey vor. Carl Stumpf, Wolfgang Köhler und die berühmte Berliner Schule der Gestaltpsychologie (Wertheimer, Lewin u. a.) waren seine Kollegen im Institut und somit seine Gesprächspartner. Diese Psychologie betrachtete er selbstverständlich als die aktuelle akademische Herausforderung, der er sich stellen musste, und nicht etwa die akademisch fragwürdige und ichpsychologisch damals noch kaum ausformulierte Psychoanalyse. Sprangers relative Ablehnung der Psychoanalyse – immerhin zitierte er an zentraler Stelle12 Alfred Adler anerkennend – darf selbstverständlich nicht mit einer Ablehnung akademischer Professionalisierung von „Psychologie“ verwechselt werden. Seine Vorbehalte teilte er mit seinen Berliner Kollegen in der Psychologie. Und die Verwissenschaftlichung der Psychologie erfolgte im 20. Jahrhundert insgesamt weitgehend jenseits der Psychoanalyse. Die 10
Friedrich Paulsen, Lehrstühle für Pädagogik, in: ders., Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, hrsg. von Eduard Spranger, Stuttgart 1912, 454 – 464, hier: 455. 11 Dazu vgl. Hermann Nohl, Die Ausbildung der wissenschaftlichen Lehrer durch die Universität, 1927, in: ders., Pädagogische Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1930, 183 – 189. 12 Eduard Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1924, 46 f.
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Psychoanalyse konnte sich als Universitätspsychologie nicht durchsetzen. Spranger lag hier nicht falsch. III. Ethos – Ethik der Lebensformen Spranger war bekanntlich nicht der einzige Pädagoge der Dilthey-Schule. Zu nennen sind u. a. auch Hermann Nohl, Max Frischeisen-Köhler und Arthur Liebert, ferner Georg Misch und Paul Menzer. Sie alle waren in Berlin letzte Dilthey-Schüler und habilitierten sich dort (mit Ausnahme von Diltheys Schwiegersohn Nohl). Ältere Dilthey-Schüler wie Max Dessoir gingen dagegen mehr in Richtung Ästhetik. Die Neigung gerade der späten Dilthey-Schüler zur Pädagogik hängt gewiss auch mit akademischen Konjunkturen zusammen. Hier entstand plötzlich Bedarf. Nohl beschrieb diese Konjunktur als eine umfassende „pädagogische Bewegung“: von der Jugendbewegung ausgehend auch als Kunsterziehungs-, Volkshochschul- und Einheitsschulbewegung.13 Auch Spranger betonte den Zusammenhang mit der Jugendbewegung. Nationalpädagogisch ging es um die Integration der Arbeiterschaft in die Nation, lebensreformerisch auch um eine korrektive Antwort auf Verstädterung und Industriegesellschaft. Die Industriegesellschaft brachte einen neuen „realistischen“ Qualifikationsbedarf. Die politische Antwort auf Wilhelminismus und Industriegesellschaft geriet mit dem Ersten Weltkrieg und Versailles dann massiv unter nationalistischen Druck. Die „pädagogische Bewegung“ war nationalistisch geprägt, hatte aber auch eine sozialpädagogische und sozialistische Seite. Die praktische Philosophie musste sich dieser neuen pädagogischen Entwicklungen und Herausforderungen annehmen. Für die Einbeziehung der Pädagogik in die praktische Philosophie war Diltheys teleologischer Ansatz beim „Leben“ mit seiner Distanz zu einer starken deontologischen Pflichtenethik Kantischen Typs attraktiv. Von den genannten Autoren hat Spranger wohl am Intensivsten die Verbindung von Philosophie und Pädagogik gesucht. Sein Verhältnis zu Dilthey war dabei jenseits pietätvoller Würdigungen immer vorbehaltlich. Spranger kehrte von Diltheys Kategorien des „Lebens“ wieder stärker zum Geistbegriff zurück. Verglichen mit Dilthey argumentierte er prononciert idealistisch und christlich. In einer Rezension von Diltheys Pädagogikvorlesungen meinte er 1935 dazu: „Der Historiker [Dilthey] hat das Leben des Geistes durchleuchtet und verstanden wie kein anderer seit Hegel. Der Systematiker Dilthey besaß in der Entstehungszeit dieser Studien die begrifflich-philosophischen Instrumente noch nicht, um das auszudrücken, was er eigentlich meinte. In dieser Übergangsstellung ist er uns lehrreich“.14
13 Hermann Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 3. Aufl., Frankfurt 1949. 14 Eduard Spranger, Rezension von: Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften Bd. IX, in: ders., Vom pädagogischen Genius. Lebensbilder und Grundgedanken großer Erzieher, Heidelberg 1965, 216 – 221, hier: 221.
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Spranger entwickelte eine philosophische Pädagogik. Seine „Psychologie“ war in der Nachfolge Diltheys geisteswissenschaftlich, verstehend und introspektiv. Was kennzeichnet die philosophische Psychologie als Grundlegung der Pädagogik? Pauschal möchte ich sagen: die sinndeutende Selbstwahrnehmung von Entwicklungsprozessen als Bildungsprozesse. Menschen verstehen sich sinnhaft als psychophysische Wesen mit eigenlogischen Strebungen und Entwicklungsrichtungen. Sie unterstellen sich Freiheit, bewerten ihre Lebensumstände und richten ihre Lebensführung an mehrstufigen Zielen aus. Die Analyse teleologischer Lebensführung wird heute gerne unter dem Label einer Philosophie der „Lebenskunst“ erörtert. Spranger sprach hier ganz grundsätzlich von „Lebensformen“. Sein berühmtes philosophisches Hauptwerk Lebensformen, 1914 erstmals skizziert und ab 1921 dann monographisch stark erweitert in vielen Auflagen erschienen, markiert seine deutlichste Antwort auf Dilthey. Spranger übersetzte Diltheys Typologie der „Lebensund Weltansichten“ in eine „Ethik der Persönlichkeit“, so der Untertitel, die von der Möglichkeit individueller Entscheidung zwischen verschiedenen möglichen Lebensformen ausging. Dilthey unterschied in seiner späten „Weltanschauungslehre“ und „Philosophie der Philosophie“15 vor allem drei rational und idealtypisch mögliche Weltanschauungen: Naturalismus, Idealismus der Freiheit und objektiver Idealismus. Spranger unterschied in seiner „geisteswissenschaftlichen Psychologie und Ethik der Persönlichkeit“ dann sechs „ideale Grundtypen der Individualität“. Menschen können demnach verschiedene Grundtypen und „Lebensformen“ wählen und mehr oder weniger konsequent realisieren: sie können in bestimmten Grenzen wählen, ob sie ein „theoretischer“ „ökonomischer“, „ästhetischer“, „sozialer“, „religiöser“ Mensch oder ein politischer „Machtmensch“ sein wollen. Typologische Unterscheidungen von Lebensformen waren damals verbreitet. Kierkegaard hatte den Gedanken der existentiellen Wahl erneut betont. Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen war ein verwandtes akademisches Unternehmen. Emil Utitz, ein Enkelschüler Diltheys, entwarf eine Charakterologie. Der Gedanke der existentiellen Wahl von Lebensformen findet sich schon im Schlussmythos von Platons Staat. Jede Seele erlost und erwählt ihren Dämon oder Genius. Die Anzahl möglicher Lebensformen ist begrenzt und nicht jede Form wird unbegrenzt häufig vergeben. Die individuelle Entscheidung resultiert früheren Erfahrungen und Entscheidungen. Im Kreis der Wiedergeburten revidieren Individuen ihre Entscheidungen. Sokrates berichtet von einem Scheintoten, der ins Leben zurückkehrte und vom Hades erzählen konnte. „Zufällig sei die Seele des Odysseus als Letzte zur Wahl geschritten, wie es ihr Los vorschrieb. Da sie sich an ihre früheren Mühen erinnerte, habe sie jeden Ehrgeiz aufgegeben, sei lange Zeit umhergegangen und habe das Leben eines geruhsamen Privatmannes gesucht. Mit Mühe habe sie es irgendwo gefunden; es lag unbeachtet von den anderen da. Als sie es gesehen hätte, habe sie gesagt, sie würde dieselbe Wahl getroffen haben, auch wenn sie auf Grund 15 Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, in ders., Gesammelte Schriften Bd. VIII, Leipzig 1931.
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ihres Loses als erste zu wählen gehabt hätte, und habe es hocherfreut gewählt.“16 Goethes Gedichtzyklus „Urworte, orphisch“ ist die knappste Verdichtung des Credos vom Individuum, von der „geprägten Form“, die sich im Spannungsfeld von Dämon und Zufall, Liebe, Hoffnung und Notwendigkeit entwickelt. Max Weber erinnerte in seiner Wissenschaftslehre unter Berufung auf Platon an den dezisionären Zwang zur Stellungnahme und Wahl der „letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition“ und sprach vom individuellen „Dämon“. Der Mensch soll tun, „was sein Gott oder Dämon ihn heißt.“17 Spranger systematisierte solche Überlegungen und übertrug sie in seinen pädagogischen Best- und Longseller: der Psychologie des Jugendalters. Auch dieses feinsinnige und facettenreiche Werk entwickelt eine Typenlehre, die hier im damaligen Diskussionskontext nicht diskutiert werden kann. Bildung ist eine Entelechie, Möglichkeitsrealisation, ein Prozess der Entwicklung eines „inneren Formgesetzes“. „Bildung gedeiht nur in Freiheit“, schreibt Paulsen.18 Spranger beschreibt das Jugendalter als „zweite Geburt“ und „Grunderlebnis der Individualität“, „Entdeckung des Ich“ und des „Fürsichseins“.19 Er spricht von der „allmählichen Entstehung eines Lebensplanes“, einem individuellen Formgesetz und „Prozess der Selbstformung“ und Selbsterziehung. Jeder Mensch rationalisiert seine Erfahrungen lebensgeschichtlich und reimt sich sein Leben mehr oder weniger sinnhaft zusammen. Spranger beschreibt diese Selbsterziehung vom erotischen Streben und „Phantasieschaffen“ aus als ein „Hineinwachsen“ in den Möglichkeitsraum der Gesellschaft. Er trennt analytisch zwischen Sexualität und Erotik und betrachtet den Eros als eine produktiv treibende Bildungsmacht. Auch der Erzieher trennt im pädagogischen Verhältnis die pädagogische Liebe und Hinneigung von Sexualität ab. Spranger stellt also die Pubertätspsychologie ins Zentrum seiner entwicklungspsychologischen Pädagogik. Später publizierte er unter Berufung auf Goethe noch weitere knappe Charakterisierungen bestimmter Lebensphasen und Lebensalter. Er übertrug den Gedanken der „Lebensformen“ aber nicht nur in die Typik des Lebenszyklus, sondern auch in die Nationalcharakteristik. Nicht nur die Individuen, sondern auch Nationen und Kulturen haben ihre Lebensformen. Man kann an Sprangers literarisch gebildeter Charakteristik der Lebensformen vieles ergänzen und bemängeln. Wichtig ist hier vor allem, dass er seine Pädagogik vom Gedanken der Lebensformen und der individuellen Form der Bildungsprozesse her ansetzte. Bildung ist nach Spranger ein eigenlogischer Prozess individueller Selbstbildung und Selbsterziehung, Entelechie und Teleologie eines Lebens. Der Erzieher kann diese Form nur fördern, nicht aber ernstlich umlenken. Bildung meint Selbstbildung. Der Pädagoge betrachtet Ler16
Platon, Staat 620 cd; Übers. Otto Apelt. Max Weber, Der Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, 451 – 502, hier: 455. 18 Friedrich Paulsen, Bildung, 1898, in: ders., Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, Berlin 1912, 127 – 150, hier: 142. 19 Eduard Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1924, 38. 17
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nen grundsätzlich als unverfügbaren Prozess. Im Gleichnis gesprochen ist er vor allem ein Gärtner, weder Architekt noch Steinmetz. Mit seinen Schriften ging Spranger nach 1924 systematisch auf den ersten Blick kaum über seine beiden grundlegenden Monographien hinaus. Bei oberflächlicher Betrachtung schien er sein philosophisches Pulver schon Mitte der 20er Jahre verschossen zu haben. Das trifft aber genauer betrachtet nicht zu. Mit seinen Überlegungen zum „Ethos“ der Wissenschaft und des Wissenschaftlers antwortete er damals auch auf Max Weber und explizierte die philosophische Freiheitspräsupposition, Evidenz der Freiheit, dann religionswissenschaftlich und religionsphilosophisch subtil als Seelenglauben. Spranger hielt dabei Kants kritische Reserve fest: Freiheit ist empirisch letztlich nicht erweisbar; sie ist aber eine notwendige Überzeugung und ein „Glaube“. Dieser Seelenglaube ist ethnographisch als allgemeines religiöses Phänomen transkulturell erweisbar. Spranger führte das in vielen kleineren Publikationen der 30er Jahre und dann nach 1945 vor allem in seiner Schrift Magie der Seele20 aus. In zahlreichen Vorträgen und Abhandlungen reflektierte er in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur immer wieder auf „Seele“ und „Gewissen“ als transzendentale Voraussetzungen seiner Pädagogik. Pädagogen müssen die Individualität des Zöglings und den freien Willen zur Selbstbildung voraussetzen. Spranger explizierte diese Probleme auch in der ständigen Auseinandersetzung mit Sokrates, Hegel und den Klassikern der Pädagogik. Zunehmend wurde Goethe ihm dabei zum Organon seiner Weltanschauung. Die monographisch gesammelten GoetheStudien sind sein heimliches philosophisches Hauptwerk. Was Spranger nach 1924 über seine monographischen Grundschriften hinaus philosophisch zu sagen hatte, findet sich mit äußerster Klarheit und Dezenz in seinen beeindruckenden Goethe-Studien ausgesprochen. Philosophisch war Spranger Goetheaner.
IV. Ethik der pädagogischen Praxis Spranger war aber auch ein guter Historiker, der in die Archive ging, Pionierstudien vorlegte und Archive des Wissens verwaltete. Als Historiker unterschied er „Bildungsideale“ und Epochen „politischer Erziehung“. Seine Nationalpädagogik trägt preußische und nationalistische Züge, ist aber humanistisch, weltbürgerlich, liberal und christlich gehalten. Stets verteidigte Spranger den Rechtsstaat. Zur Demokratie war seine Einstellung dagegen vorbehaltlicher. Immerhin hatte er schon vor 1933 einen dezidierten Begriff von der „parlamentarischen Demokratie“, wenn er auch die Schwäche Weimars sah und für das Präsidialsystem optierte. Seine Nationalpädagogik begriff den bildungspolitischen Rahmen der Pädagogik. Wenn Bildungsprozesse primär Prozesse der Selbstbildung sind, muss Bildungspolitik passende infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Lernumwelten schaffen. Schon in den 20er Jahren zitierte Spranger hier ständig die Umweltlehre von Jakob von Uexkull. Seine diversen historischen Beschreibungen des Schul- und Hochschulwesens 20
Eduard Spranger, Die Magie der Seele, Tübingen 1947.
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sind eindrucksvoll. Spranger wusste, wovon er sprach. Wie sein Lehrer Paulsen war er auch ein gefragter bildungspolitischer Berater und Akteur. Die Personalunion des Bildungsphilosophen und des Bildungspolitikers hatte er schon 1910 in seinem Buch über Wilhelm von Humboldt und das Bildungswesen beschrieben. Die Rolle des Pädagogen als Politikberater ist riskant. Spranger würdigte sie an seinem Lehrer Paulsen.21 Nach frühen Auseinandersetzungen um seine Gedanken zur Lehrerbildung zog er sich aber, wie Manfred Seidenfuß darstellt, schnell entnervt und enttäuscht aus dem öffentlichen Engagement in diskretere Beratungsformen zurück. Bei klarer Einsicht in die institutionellen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung betonte Spranger die erzieherische Rolle des Lehrers und beschwor die platonische Liebe als pädagogisches Grundverhältnis. Obgleich er für die Phänomene von Macht und Herrschaft keineswegs blind war – er betonte sie in seinen späten Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung –, scheint hier manche Erziehergestalt allzu idealistisch gesehen oder dargestellt zu sein. Die pädagogische Liebe ist auch eine Form der Symmetrisierung der Beziehungen. Der Lehrer begleitet Schüler in die Selbständigkeit und führt sie in die Gesellschaft. Seine pädagogische Zuwendung ist eine harte Schule der Anerkennung. Der Aspekt asketischer Selbsterziehung im pädagogischen Bemühen klingt schon im ethischen Grundsatz des Sokrates an. Polos fragt Sokrates: „Du also wolltest Unrecht leiden lieber als Unrecht tun?“ Und Sokrates antwortet: „Ich wollte wohl keines von beiden; müsste ich aber eines von beiden, Unrecht tun oder leiden, so würde ich vorziehen, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.“22 Spranger war menschlich wohlwollend, dezent und bescheiden. Seine Schriften pflegen eine hermeneutische und sokratische Zurückhaltung auch in den eigenen Positionen. Spranger verkörperte den Habitus des irenischen Philosophen. Wenn sein Werk auch in vielen Aspekten historisiert und modernisiert werden muss, formuliert es doch zentrale Grundbegriffe der Erziehung und Bildung mit luzider Dezenz und schlichter Emphase. Mag es im rasanten Prozess der Etablierung und Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaften heute auch recht antiquiert, betulich und trivial erscheinen, artikuliert es doch wichtige Erfahrungen der Praxis und der Akteursperspektive der Erziehung. Es lohnt sich heute wieder, Spranger zu lesen. Sein Werk richtet sich heute kompensativ an angehende Lehrer, deren Perspektive der Praxis im Prozess sozialwissenschaftlicher Objektivierung und Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung auf der Strecke zu bleiben droht. Philosophische Pädagogik ist unverzichtbar, weil das pädagogische Verhältnis als personale Beziehung ethisch geklärt und begriffen werden muss. Der Lehrer begegnet den Schülern von Individuum zu Individuum. Diese Begegnung folgt ethischen Prinzipien und Normen. Die Entscheidung für den Lehrerberuf optiert für die philosophische Freiheit. Sie bejaht den Lehrerberuf als eine erzieherische Praxis, die durch die Rahmenbedingungen nicht 21 Wiederabdruck in Eduard Spranger, Vom pädagogischen Genius, Heidelberg 1965, 222 – 242. 22 Platon, Gorgias 469 c; Übers. Schleiermacher.
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vollständig determiniert ist und eine Freiheitspräsupposition der Bejahung der Individualität des Anderen impliziert. Lehrer verpflichten sich primär auf die Individualität der Schüler. Der Lehrer ist dem „Interaktionssystem Schule“ (N. Luhmann)23 ausgesetzt. Schon der Vorgaben der Gesellschaft und hohen personalen Verantwortung wegen bereitet seine Rolle oft einiges Unbehagen. Man muss sich hier auf die Individualität und Grenzen der „Bildsamkeit“ besinnen. Die Möglichkeiten der Erziehung sollten nicht zu hoch und die Rahmenbedingungen nicht zu niedrig angesetzt werden. Spranger lag hier insgesamt ziemlich richtig.
23
Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002.
Eduard Spranger und seine „Gedanken über Lehrerbildung“ Von Manfred Seidenfuß Am 4. Mai 1962 bedankte sich Eduard Spranger beim baden-württembergischen Kultusminister Gerhard Storz (1898 – 1983) für das Angebot, bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Pädagogischen Hochschulen am 29. Mai 1962 in Ludwigsburg an exponierter Stelle mitwirken zu dürfen. Spranger antwortete, dass er für „eine repräsentative Rede“ angesichts seiner körperlichen Kräfte nicht zu haben sei und den Neugründungen „mit einem zurückhaltenden Ausdruck“ „,sorgenvoll‘“ (hervorgehoben im Original, M. S.) entgegensehe. Spranger wolle in einer solchen Stunde lieber „ein paar Grußworte“ anstatt Beschwerden und Bedenken verschicken.1 Der zweiseitige Abdruck der Ludwigsburger Rede2 ist daher weder für die Rekonstruktion der leitenden Gedanken Sprangers für die Lehrerbildung noch für programmatische Kontinuitäten oder Entwicklungen von grundlegender Bedeutung. Und auch sonst war er auf wissenschaftlicher Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durch profilierte Publikationen zu diesem Thema hervorgetreten. Der Entschluss für Spranger muss auf einer anderen Ebene gelegen haben. Nicht die aktiven Professoren für Philosophie und Pädagogik, Otto F. Bollnow, oder für Pädagogik, Andreas Flitner, sondern den Tübinger Emeritus für Pädagogik und Philosophie wollte Storz auf dem Parkett. Spranger sollte der Veranstaltung (kognitiven) Glanz verleihen, gleichsam passte Person und Werk aus Sicht der Veranstalter zu diesem Anlass. Spranger wurde vermutlich deshalb ausgewählt, weil er zwischen 1946 und 1960 mit mindestens fünf Expertisen zur Lehrerbildung von Administrationen in drei Bundesländern und der Gewerkschaft „GEW“3 betraut worden war. Diese Gutachten verweisen wiederum auf die bekannten und oft rezipierten „Gedanken über Lehrerbildung“, präziser über die Volksschullehrerbildung, von 1920. 1 Nachlass Eduard Spranger in der Universitätsbibliothek Tübingen: Brief Eduard Sprangers an den baden-württembergischen Kultusminister Gerhard Storz vom 4. Mai 1962. 2 Eduard Spranger, Begrüßungsansprache am 29. Mai 1962 in Ludwigsburg, in: Landesanstalt für Erziehung und Unterricht in Stuttgart (Hg.), Zur Errichtung der Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg 1962, Stuttgart 1962, S. 15 – 17. 3 Zwei Gutachten über die Reseminarisierung der Lehrerbildung (1946, für den Staatsekretär für Finanzen von Südwürttemberg, Dr. Binder), zwei über die hochschulmäßige Lehrerbildung für die Kultusminister Hessens und Baden-Württembergs (1955, Arno Hennig (1880 – 1963) und Wilhelm Simpfendörfer (1888 – 1973)), ein Gutachten über Konfessionalität und Simultaneität“ im Auftrag der südwestdeutschen Gewerkschaft GEW (1960, Kurt Pöndl (1913 – 2008)).
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Spranger bearbeitete, so die zentrale These des Aufsatzes, in der Umbruchszeit von 1918/20 das Thema Lehrerbildung, das jedoch seinen Überlegungen, Vorstellungen und Überzeugungen zur Universität und seiner Bildungstheorie untergeordnet war und bis zu seinem Lebensende weitgehend konsistent blieb. Vertreter der bildungshistorischen Forschung kürten Spranger zum oder zu einem Nestor der Pädagogischen Akademien bzw. der Pädagogischen Hochschulen, was durch Selbstzeugnisse Sprangers befördert wurde. Hier wird übersehen, dass Spranger lediglich einen Verlegenheitsbegriff prägte, der als eine Strategie verstanden werden kann, die Akademisierung der Volksschullehrerschaft nach dem Ende des Kaiserreichs zu verhindern. Für den Beleg der These müssen Quellen und Vorarbeiten genannt werden. Die Denkschriften aus den Jahren 1918, „Grundsätzliches zur Umgestaltung der Volksschulseminare“ (eingereicht 19.09. 1918), und 1920, „Gedanken über Lehrerbildung“ (15.11. 1919 in Druck gegeben) sind eine wesentliche Grundlage der Analyse. Daneben wurde schwerpunktmäßig das Schriftgut über die Universität und die Universitätsreform gesichtet. Die dahinterstehenden Gedanken der Denkschriften, die in den öffentlich-politischen Bereich penetrieren und daher nicht enthoben sind von strategischen Schachzügen, wurden in Briefen an Vertraute gesucht, wobei der Briefwechsel (4.500 Briefe und Postkarten) mit Käthe Hadlich4 von 1903 bis 1960 herausragt. Aus der Spranger-Forschung sind an dieser Stelle zwei Punkte erwähnenswert. Entsprechend seines Oeuvres und seiner Rolle als Hochschullehrer ist die Forschung zum Beitrag Sprangers für die Lehrerbildung unterbelichtet, die sich bis zur Veröffentlichung der Studie von Gerhard Meyer-Willner (1986) auf die die leicht zugängliche Denkschrift von 1920 konzentrierte.5 Zum zweiten monieren die bildungshistorischen Studien von Meyer-Willner oder auch von Sigrid Blömeke6 Unzulänglichkeiten, Unschärfen und Widersprüche in den Denkschriften Sprangers, weil sie die spezifische Quellenart einer Denkschrift außer Kraft setzen. Denkschriften sind in der Regel Teil eines Gesamtprozesses, darunter fallen Auftragsarbeiten wie im Falle Sprangers, der für Administrationen und Organisationen verantwortlich zeichnete und dort seine Positionen vertreten konnte. In diesen Schriften interessiert weniger eine fein ziselierte, kontroverse und gelehrte Diktion, sondern die Entfaltung 4 Nachlass Eduard Spranger in der Universitätsbibliothek Tübingen: Briefverkehr mit Käthe Hadlich 1903 – 1960. Im Folgenden (Briefverkehr Spranger-Hadlich) stütze ich mich auf die inzwischen leicht zugängliche Sammlung bei (http://bbf.dipf.de/digitale-bbf/editionen/ spranger-hadlich (3. August 2013). 5 Gerhard Meyer-Willner, Eduard Spranger und die Lehrerbildung. Die notwendige Revision eines Mythos, Bad Heilbrunn 1986. Ders., Lehrerbildungskonzeptionen und gegenwärtige Reformaspekte, in: Werner Sacher/Alban Schraut (Hg.), Volkserzieher in dürftiger Zeit. Studien über Leben und Wirken Eduard Sprangers (Erziehungskonzeptionen und Praxis, 59), Frankfurt/M. 2004, S. 157 – 164. 6 Sigrid Blömeke, „… auf der Suche nach festem Boden“. Lehrerausbildung in der Provinz Westfalen 1945/46 – Professionalisierung versus Bildungsbegrenzung (Internationale Hochschulschriften, 321), Münster u. a. 1999, S. 23 – 28.
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von grundlegenden und schlüssigen Gedankengängen, die im Kontext eines noch offenen Meinungsbildungsprozesses eingesetzt werden. Deshalb ist auch die Anschrift dieser Texte von Bedeutung. Während jene Denkschriften, die noch auf das Kaiserreich oder die junge Bundesrepublik verweisen,7 an die politischen Administrationen und eine Gewerkschaft adressiert waren, publizierte Spranger die „Gedanken über Lehrerbildung“ bei Quelle & Meyer, woraufhin eine breite, kontroverse und zum Teil polemische Rezeption begann, die den Gelehrten dazu veranlassen sollte, die Frage der Lehrerbildung künftig wieder hinter den Kulissen zu bearbeiten. Dass diese Auseinandersetzung zu Beginn der Weimarer Republik bei Spranger tiefe Spuren hinterließ und dass er sich danach aus der öffentlichen Diskussion heraushalten wollte, belegen beispielsweise zwei Briefe im Abstand von über 30 Jahren zum Geschehen. Im Gutachten über die Frage der Konfessionalität und Simultaneität vom 30. Juli 1960 für die Gewerkschaft GEW ist zu lesen: „Herr Prof. Spranger hat den Wunsch geäußert, daß seine Stellungnahme nicht in der Presse erscheint, sondern nur dem Landtag und der Regierung zugänglich gemacht wird.“8
Aus dem Schreiben an den rheinland-pfälzischen Kultusminister Albert Finkh (1895 – 1956) aus dem Jahre 1952 geht die Lebendigkeit dieser Erfahrung ebenso wie die Erklärung seiner Haltung hervor: „Aber ich muss Sie, hochverehrter Herr Minister, bitten, meinen Namen in diesem Zusammenhange weder im Landtag noch in einer weiteren Öffentlichkeit überhaupt zu nennen. Meine Stellungnahme zu dem gleichen Thema 1919 hat mir eine solche Fülle von Haß und Verleumdung eingebracht, daß mir Jahre dadurch verdorben worden sind. Ich möchte keine Wiederholung dieser Hetze erleben – nicht, weil ich ,Angst‘ hätte, sondern weil ich jetzt Ruhe brauche, um Positives zu tun.“9
Damit sind wir in den Jahren 1919 und 1920 Jahre angelangt. Im Kontext der „Gedanken über Lehrerbildung“ hatte er sich seit der Jahreswende 1919/20 zum Teil vehemente Kritik von Lehrerverbänden oder Kreisen der Volksschullehrer eingehan-
7
Spranger verfasste die ersten beiden Denkschriften unter dem Eindruck des sich ankündigenden Endes des Kaiserreiches, der nach seiner Einschätzung die Gesellschaft und damit auch den Bildungsbereich grundlegend ändern würde: die erste war für den preußischen Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott gemünzt, die zweite zunächst aus eigenem Antrieb und danach für den Unterstaatssekretär Carl Friedrich Becker verfasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen sich zwei Gutachten auf die Reseminarisierung der Lehrerbildung (1946, für den Staatsekretär für Finanzen von Südwürttemberg, Dr. Binder), zwei auf die hochschulmäßige Lehrerbildung für die Kultusminister Hessens und Baden-Württembergs (1955, Arno Hennig (1880 – 1963) und Wilhelm Simpfendörfer (1888 – 1973)) und eines über Konfessionalität und Simultaneität“ im Auftrag der südwestdeutschen Gewerkschaft GEW (1960, Kurt Pöndl (1913 – 2008), Schreiben vom 29. Juni 1960, S. 340). 8 Nachlass Eduard Spranger in der Universitätsbibliothek Tübingen, Zusatz beim Gutachten vom 30. Juli 1960); zitiert nach Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 340. 9 Nachlass Eduard Spranger in der Universitätsbibliothek Tübingen, Entwurf, undatiert 1952, S. 339 f.
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delt, die als kleine Schriften,10 in der Leipziger-Lehrer-Zeitung11 oder in der überregionalen Schriftenreihe des Deutschen Lehrervereins erschienen waren, in der sich der mit Spranger befreundete Rektor und Schriftleiter („Die Deutsche Schule“) Carl Pretzel überaus sachlich mit der Schrift auseinandersetzte.12 Zusetzen sollte ihm indes eine polemische Entgegnung von Johannes Kühnel,13 den er in fünf längeren Briefen an Käthe Hadlich im kurzen Februar erwähnte.14 Vom 4. Februar 1920 stammt die bemerkenswerte Selbstdiagnose, dass er krank geworden sei „am Ekel über die gemeine Art, wie die LLZ (Leipziger-Lehrer-Zeitung, M. S.) die „Gedanken über Lehrerbildung“ entstellend herabzog und die (mir immer noch unbekannte) Kühnelsche Gegenschrift lobte. Ich fand einfach die Kraft des Widerstandes nicht mehr. Fieber hatte ich schon seit Sonntag. … Aber noch heut ist mir ganz miserabel schwach zu Mute. Hauptbeweis: keine Neigung zum Rauchen.“ Am 13. Februar dann: „Der Haß der Meute gegen mich ist grenzenlos. Es sollen unglaubliche Verleumdungen, bis nach Dresden, ins Ministerium, im Umlauf sein. Und mit den Leuten muß ich nun auf der Landesschulkonferenz verhandeln.“ Weiter teilt er mit, dass er sich in den letzten Tagen in einem Zustande wahrer Verzweiflung befunden“ habe. Er verglich seine Lage mit der des deutschen Volkes, denn „schließlich sei ja Deutschlands Schande und meine Verketzerung Produkt des gleichen Geistes.“ Erst am 19. Februar 1920 sah sich Spranger wieder auf dem aufsteigenden Ast. Die „psychische Depression von Kühnel und Konsorten“ habe er überwunden und in wenigen Tagen bereite er sich auf einen Vortrag über die Volksschullehrerfrage vor den Berliner Ordinarien vor. Diese Aufladung verweist einerseits auf die anstehende Reichsschulkonferenz (11. bis 20. Juni 1920) und die Ausgestaltung der Weimarer Verfassung. Wie schnell sich die Verhältnisse und damit auch die Maßstäbe für die Bewertung von Denkschriften oder Empfehlungen änderten, verdeutlichte Hadlich am 8. Juli 1920: „Wie seltsam schnell die Zeit sich wandelt: Damals warst Du zu fortschrittlich u. jetzt – – reaktionär!!“ Fortschrittlich war Spranger in seiner am 19. September 1918 eingereichten Denkschrift gewesen, in der er sich noch in besonderer Weise für eine Reform und für die Beibehaltung der Struktur der Volksschullehrerseminare ausgesprochen hatte, was in der der preußischen Volksschuladministration für Aufsehen und Widerstand sorgte.15 Wenige Monate später hatte sich die Großwetterlage nach der Abdankung des Kaisers, der Ausrufung der Republik und der Ausarbeitung 10 Matthias Meyer, Pädagogisches Neuland, Leipzig 1920; Remigius Stölzle, Universität und Lehrerbildung, Langensalza 1920. 11 F. Barth, Pädagogische Akademie oder Universität. Spranger-Kühnel, eine Buchbesprechung, in: Leipziger Lehrerzeitung 27 (1920), S. 62 – 64. 12 Carl L. A. Pretzel, Die Neuordnung der Lehrerbildung (Schulfragen in der Reichsverfassung. Schriftenreihe des Deutschen Lehrervereins H. 2), Berlin 1920. 13 Johannes Kühnel, Gedanken über Lehrerbildung. Eine Gegenschrift, Leipzig 1920. 14 Briefverkehr Spranger-Hadlich: 4., 13., 17., 23., 27. Februar, ferner am 24. Januar 1920. 15 Brief Spranger an Kerschensteiner vom 29.9. 1918: Ludwig Englert (Hg.), Georg Kerschensteiner – Eduard Spranger. Briefwechsel 1912 – 1931, München u. a. 1966, S. 135 ff.
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der Weimarer Reichsverfassung fundamental verändert. In dieser Umbruchszeit war ungewiss, wessen Positionen sich durchsetzen würden. Spranger verfolgte das politische Geschehen und wusste, dass das Kaiserreich mit seinen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, also auch des Bildungswesens und der Lehrerbildung, radikal zur Disposition stand. Die Zeichen für die Forderungen der Volksschullehrerverbände waren in der Revolutionszeit so günstig wie nie zuvor, was sich im Nachhinein bewahrheiten sollte. Sprangers Position in der Organisation der Volksschullehrerbildung stand jedoch in deutlichem Gegensatz zu den Volksschullehrerverbänden, die seit 1848 und besonders seit 1915 auf politischer Ebene ihr Entreebillet in die Universität und den Status eines Gymnasiallehrers einforderten. An Deutlichkeit nicht zu überbieten ist die Einschätzung des Programm des Deutschen Lehrervereins,16 das er Hadlich am 15. Februar 1919 zukommen ließ: „Der deutsche Lehrerverein ist verrückt geworden. Er macht Programme, die die deutsche Universität vernichten würden. Natürlich müßte ich eilige Schritte dagegen tun, da ja gerade das Verrückte Aussicht hat, morgen Gesetz zu werden. Den Professor Kühnel mußte ich neulich beinahe aus meiner Wohnung schmeißen, da er in der unverschämtesten Weise eine Universitätsprofessur forderte …“ An diesem Tag schien den Briefen zufolge das Ende der deutschen Universität zu nahen. Kerschensteiner gegenüber betonte er das „übertriebene Standesbewusstsein“ des Deutschen Lehrervereins und die Konsequenzen dieses Programmes, das wegen der Aufnahme der Volksschullehrer an die Universität „Vernichtung der Seminare“, „Verwüstung der Universität“ und deren Zugrundegehen bedeuteten und zu „furchtbarer Öde“ an einer erziehungswissenschaftlichen Fakultät führten. Die Universität müsste, so Spranger, „auf Tod und Leben dagegen kämpfen“.17 Diese Ausführungen sollten belegen, dass Spranger erstens das Ausmaß dieser Debatte unterschätzte und dass er zweitens erkannte, so am 18.9. 1919 an Hadlich formuliert, dass er hier nicht als Professor, sondern als Politiker gefragt sei. Diese permanente Diskrepanz zwischen den politischen Forderungen der Volksschullehrerorganisationen und der Position Sprangers hinsichtlich der Volksschullehrerbildung wurde nicht nur zu einem Strukturmoment in dieser Beziehungsgeschichte, sondern hat auch die Beziehung zu der Klientel, für die Spranger ja seine Überlegungen zur Lehrerbildung konzipierte, nachhaltig beeinflusst. Daraus resultierten letztlich unüberbrückbare Differenzen zwischen ihm und den Volksschullehrerverbänden. Egal, was Spranger über die Volksschule schreiben und sagen mochte, für die Organisation war klar, dass ihre Vision der Akademisierung der Lehrerbildung mit Spranger nicht zu realisieren war. Damit sind langfristige Wirkungen angesprochen. Spranger deutete die Ereignisse zwischen 1919 und 1920 als Revolution, allerdings als eine Revolution für die Universität, sofern die Universität Massen an Volksschullehrern aufnehmen sollte. 16 Schulforderung des Deutschen Lehrervereins, in: Die Deutsche Schule 22 (1918), S. 419 – 420. 17 Brief Spranger an Kerschensteiner, 15.2. 1919, in: Englert (Anm. 15), S. 148 f.
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In diesem historischen Kontext und noch offenen Entscheidungsprozess erarbeitete er zwischen dem 31. Oktober und 2. November 1919 in 2,5 Tagen in Dessau die Denkschrift.18 Nicht die Lehrerbildung, sondern die Zukunft der Universität stand auf der Agenda Sprangers, die unter allen Umständen vor den Volksschullehrern verschont werden musste. Spranger sah sich zwischen November 1919 und 1920 allein auf weiter Flur gegen die sogenannte „Meute“ der Volksschullehrer,19 die verständlicherweise während der Umbruchszeit ihre Forderungen nach Statuserhöhung und Qualitätsverbesserung mit Nachdruck verstärkten. Auf der Reichsschulkonferenz prallten diese Positionen aufeinander, wo Spranger laut Selbstauskunft eine „zentrale Rolle“ und einen „ungeheuren Einfluß“ ausübte.20 Dieser Einfluss konzentrierte sich wiederum auf die Universitätsvertreter, die er in einer abendlichen Sondersitzung im Rektoratszimmer der Berliner Universität „in einer energischen Ansprache“ in die Enge trieb, indem er die Entscheidung derart zuspitzte, dass die „ganze Zukunft der Universitäten auf dem Spiel stünde, und daß die Herren sich dieser Verantwortung bewusst sein sollten.“21 Weniger erfolgreich war er bei den Volksschullehrervertretern mit der Konzeption einer abgeschiedenen Ausbildung in Form einer Sonderhochschule für Volksschullehrer, die dann aber letztlich in Preußen doch realisiert werden sollte. Gehen wir nun auf die Denkschrift „Gedanken zur Lehrerbildung ein. Sie steht in geistigem Zusammenhang mit der Denkschrift zur Umgestaltung der Lehrerseminare in Preußen (1918) und der Weimarer Verfassung (§ 143, Absatz 2): „Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln.“ Nach zeitgenössischer Einschätzung bedeutete dies für die Volksschullehrer den Nachweis des Abiturs und die Ausbildung an einer anerkannten Hochschule oder an einer gleichgestellten Institution. Obwohl Spranger sich stets für die Eigenrekrutierung der Volksschullehrer aussprach, was sein Festhalten an der Institution des Seminars vor 1919 und nach 1928 verständlich werden lässt, war er in dieser Frage Etatist und nahm die neuen Vorgaben unwidersprochen an. Er entwickelte auf dem Fundament seiner Bildungstheorie eine konzise Gedankenführung, die letztlich die Universität vor Vermassung und Durchschnitt bewahren und deren eigentliche Aufgabe, das forschende Streben nach Wahrheit, sichern sollte. Keinen Zweifel ließ Spranger daran, dass nur eine geringe Anzahl des Volkes für diese Wissenschaftskultur die nötigen Voraussetzungen mitbrachte.
18 Hans Walter Bähr (Hg.), Gesammelte Schriften. Bd. VII: Briefe, Tübingen 1978, S. 103: Brief an Wilhelm Eduard Biermann 21.12. 1919. 19 Brief an K. Hadlich vom 13.2. 1920. 20 Postkarte an K. Hadlich vom 21.6. 1920. 21 Eduard Spranger, Meine Beteiligung an der Reichsschulkonferenz. 11. – 19. Juni 1920, in: Fritz Hartmut Paffrath, Eduard Spranger und die Volksschule. Eine historisch-systematische Untersuchung, Bad Heilbrunn 1971, S. 225 – 232., S. 226 f. Ausführlich: Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 268 – 278.
Eduard Spranger und seine „Gedanken über Lehrerbildung“
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Der Bildungsgedanke war der Fixpunkt und auch der Ausgangspunkt seiner auf 47 Seiten zu lesenden Denkschrift.22 Er reserviert für das Bildungskonzept, die Bildungswerte und die Bildsamkeit knapp 17 Seiten, klärt dann den Bildungsaspekt im Zusammenhang von Wissenschaft und Technik auf drei Seiten, entwirft auf weiteren drei Seiten die Orte für die Einrichtungen der Wissenschaft (Universität), der Technik (Technische Hochschulen) und der Bildung (Bildnerhochschule), bevor er zur organisatorischen Frage der Lehrerbildung an Pädagogischen Hochschulen auf neun Seiten übergeht. Zuletzt diskutiert er auf acht Seiten alternative Organisationsformen für die Volksschullehrerbildung (Universität, Unterabteilung der oder äußerliche Angliederung an die Universität), wobei er sich selbstverständlich für die Eigenständigkeit der Volksschullehrerbildung an Pädagogischen Hochschulen ausspricht. Erziehung und Bildung sind nicht Produkte einer Technokratie oder der Erkenntnisse der Wissenschaften, sondern Prozesse im Hinblick auf individuelle Handlungsfähigkeit oder übersetzt in die Denkschrift: „die persönliche Aneignung von objektiven Werten“ unterschiedlicher Kulturbereiche, die sich in der vita activa im „Selbstgenuss der Persönlichkeit“ manifestiert (S. 31). Jeder Mensch hat seine Individualität, seine spezifische Beziehung zu den objektiven Werten, und gleichsam einen Anspruch auf die Entfaltung seiner Individualität, für die der Erzieher mitverantwortlich ist. Spranger präzisiert seine Theorie und differenzierte nach materialen und formalen Bildungswerten (S. 33), womit er die Bildungstheorie Wolfgang Klafkis in zentralen Termini vorwegnimmt. Die geistigen Tätigkeiten, das Formale, stehen selbstverständlich mit den Inhalten in Verbindung, die wiederum in eine Sinnbeziehung mit der Individuallage und mit den anderen Themen der schulischen Arbeit zu setzen sind. Sprangers Bildungswerte sind ganzheitlich, dem individuellen Leben und dem Einleben in die aktuelle Kultur, Gesellschaft und Berufswelt verpflichtet. Er integriert selbst den Staat und dessen Bildungsinteressen, der aber im Sinne eines Kulturund Rechtsstaates übergreifende Instanzen respektiert. Er distanziert sich deutlich von Bildungswerten, die sich einseitig oder hegemonial an einer Abbilddidaktik von wissenschaftlichen Disziplinen orientieren. Eine Konzentration auf die Wissenschaft der Bildung und damit auch der Lehrerbildung wäre nach dieser Argumentation eine nicht zu tolerierende Verengung des Bildungsgedankens. Stattdessen muss der Lehrer den Bildungssinn von Inhalten und Denkweisen in unterschiedlichen Domänen reflektieren, was an einer Universität höchstens randständig exerziert wird. Sein Wissenschaftsverständnis ist konservativ und exklusiv. An der Universität wird – wie bereits erwähnt – systematisch und problemorientiert geforscht und das Wissen geordnet. Technische Hochschulen sind Anwendungsorte der Universität, wo das Wissen nach Bedarf und nach Nützlichkeits- und Effizienzüberlegungen (S. 45) erzeugt wird und die übergreifende ethische Perspektive weitgehend ausgeblendet werde. Weil es ihm letztlich um die individuelle Entwicklung geht, spricht er sich gegen jede Form von Methodenstarrheit oder Unterrichtstechnologie aus. Diese 22 Veröffentlicht bei: Ludwig Englert (Hg.), Gesammelte Schriften. Bd. III: Schule und Lehrer, Heidelberg 1970, S. 27 – 73.
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sind eher von nachrangiger Bedeutung und lediglich von funktionalem Wert für die Entwicklung der individuellen Kräfte. Den Bildungsgedanken überträgt er auf die dafür maßgeblichen Institutionen. Die Lehrerbildung kann weder an einer Technischen Hochschule noch an einer Universität realisiert werden, es sei denn, an der Universität beschäftige sich der Student mit den Zielen, den Wegen oder den Implikationen der Bildung. Das wäre die Theorie der Pädagogik, als dessen Repräsentant sich Spranger sieht und die natürlich an der Universität ihren Platz habe. Spranger spricht sich für eine nicht-universitäre Lehrerbildung aus. Das ist insofern stringent, weil er die Wissenschaft als Ort und Veranstaltung begreift, bei der es um die forschende Suche nach Wahrheit geht, aber gleichzeitig überholt, weil in einigen Fakultäten oder Disziplinen wie der Medizin die Anwendung des Wissens ebenfalls seit Langem praktiziert wurde. Wissenschaft ist bei Spranger eine theoretische Veranstaltung, folgt keinen utilitaristischen Prinzipien und schon gar nicht der Frage der Praxis und Anwendung. „Für die Wissenschaft ist die Wissenschaft Selbstzweck“ (S. 47). Wissenschaftler sind im Unterschied zu Lehrern keine Lebenshelfer, sondern Wahrheitssucher. Der Lehrer braucht theoretisches Wissen der Pädagogik im Hinblick auf den Sinn der Erziehung. Daneben bedarf er auch eines Anwendungswissens jenseits eines technokratischen Wissens von simplen „Wenn-Dann“-Beziehungen und eines Zusammendenkens von Bildungs- und Lernprozessen im Hinblick auf individuelle Entfaltung der Bildungswerte. Nach dem Wissenschaftsverständnis Sprangers waren die letzten beiden Bereiche an einer deutschen Universität deplatziert und die Technische Hochschule wiederum ungeeignet für Theorie und Bildung. Deshalb führte er einen neuen Terminus ein: Bildnerhochschule. Folgende Alternativen kursierten für die reichsweite Regelung der Volksschullehrerbildung, die Spranger in seiner Schrift implizit und explizit bearbeitete: 1. die Philosophischen Fakultäten der Universitäten oder die allgemeinbildenden Abteilungen der Technischen Hochschulen, 2. eigene Pädagogische Fakultäten an den Universitäten bzw. Technischen Hochschulen, 3. Pädagogische Institute in Verbindung mit Universitäten bzw. Technischen Hochschulen, 4. gleichrangige pädagogische Sonderhochschulen wie Pädagogische Hochschulen oder Akademien. An Eindeutigkeit ist Spranger in dieser Frage nicht zu überbieten, was auch deshalb verständlich wird, weil er in der Umbruchszeit den Beginn des Endes, Todes oder Öde der Universität wahrnahm. Der Brief an den damaligen Unterstaatssekretär Carl Heinrich Becker vom 6. Januar 1920 ist in diesem Sinne eine Ausnahme, weil hier überhaupt die Alternativen 1, 2 und 4 diskutiert wurden. Die ersten beiden Modelle würden zum „Verfall der Universität und der Volksschule“ führen und einen
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neuen Lehrertypus ohne einen Mittelpunkt herausbilden lassen. Spranger ging sogar so weit, dass er Becker im Falle der Errichtung einer Pädagogischen Fakultät mit seinem Rückzug von der Universität an die Schule drohte.23 Im letzten Kapitel der Denkschrift setzt er sich schließlich mit einem Programm für diese Bildnerhochschule auseinander, das sich deutlich von dem Selbstverständnis, dem Forschungszuschnitt und der Organisationsstruktur einer Universität unterscheiden musste. Dafür prägt er den Begriff „Pädagogische Hochschule“. Zum Konzept: In der Hochschule soll grundsätzlich Bildung und Erziehung gelebt werden. Bildung heißt hier Reflexion des eigenen Bildungsprozesses und Erziehung die Beziehung zu einem Kind über die Zeit der Ausbildung. Eine Besonderheit der Hochschule liegt im Ideal von Kreativität und Lebensoffenheit. Das Verhältnis von Theorie und Praxis wird durch wenige praktische Übungen in den ersten beiden und einem praktischen Jahr (3. Jahr) gelöst. Differenziert nach Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften wurde eine Fachverbindung Deutsch und Geschichte und eine mit Mathematik und Naturwissenschaften festgelegt mit jeweils 8 Stunden. Für den technisch-künstlerischen Bereich wurden weitere 8 Stunden reserviert, die man sich einerseits in Form von Musik und Kunst (natürlich mit Geschichte) andererseits als lebenspraktische Bereiche (Landwirtschaft, Körperkultur, Turnen, Hygiene, Warenkunde) vorstellen kann. Insgesamt kommt der Volksschullehrer bei seinem strukturierten Stundenplan auf 20 Stunden (mit Religion auf 22). An einzelnen Nachmittagen werden praktische Übungen angeboten oder die Gegenfächer studiert. Abgeschlossen wird die Ausbildung durch ein Berufsjahr. In seiner Publikation aus dem Jahre 1930 über die deutsche Universität, als die Umleitung für die Volksschullehrer längst gelegt war, kritisierte er die Präsenz des höheren Lehramts ebenso wie „alle möglichen Berufskunden“ wie Wohlfahrtspfleger, Apotheker, Bibliothekare.24 Schon 1925 hatte er vor der „Philologisierung und Pädagogisierung“ der Philologischen Fakultäten gewarnt.25 Die Universität ist ein zeitenthobener Ort, an dem eine geistige Elite in einer spezifischen Erkenntnisund Lebensform zusammengefasst ist. Exzellenz ist zwangsweise exklusiv, weil eine Gesellschaft „nicht beliebig viele hochschulfähige Begabungen“ hervorbringe26 23 Nach Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5): Brief Spranger an C. H. Becker vom 6. Januar 1920, S. 233 – 236 (Zitat S. 235). 24 Eduard Spranger, Das Wesen der deutschen Universität, in: Michael Doeberl u. a. (Hg.), Das akademische Deutschland. Bd. III: Die deutschen Hochschulen in ihren Beziehungen zur Gegenwartskultur, Berlin 1930, S. 1 – 38, S. 18. 25 Eduard Spranger, Die Ausbildung der höheren Lehrer an der Universität, Berlin 1925. Diese Schrift wurde ohne Namensnennung veröffentlicht, kann aber, nach Nach Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 87, Spranger zugeschrieben werden. Diese Schrift wurde von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ohne Gegenstimme angenommen und an den preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, C. A. Becker, übergeben. Der Beleg findet sich im Brief an K. Hadlich vom 10.3. 1925. 26 Eduard Spranger, Die Verschulung Deutschlands, Leipzig 1925, S. 276.
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und auch nur begrenzt Akademiker „aushalten“ könne.27 Diese Grundposition in seinem Universitätsverständnis vertrat Spranger bereits in der bewegten Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs. Im Jahre 1919 warnte er vor der „Übertragung der allgemeinen unbestimmten Demokratisierungstendenz auf die Hochschule“, die „zerstörend wirke und insgesamt in die Mittelmäßigkeit“ führe.28 Das Phänomen der Vermassung führe zur Durchschnittlichkeit und nicht zur Exzellenz. Deshalb war Spranger kategorisch gegen eine Erhöhung der Studentenzahlen und akzeptierte sogar Selektionsinstrumente für Studienanfänger. Die Gefahr des Eindringens von berufskundlichen Zuspitzungen und Füllungen in die Universität und damit auch von Massen an Volksschullehrern war für ihn ein ständiger Zeitbegleiter in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, die er bis an sein Lebensende in den angeführten Gutachten weiter vertreten sollte.29 Da die zentralen Fundamente der Denkschrift, Bildungstheorie und Universitätsverständnis, überzeitliche und damit unveränderliche Größen waren, überrascht es nicht, dass Spranger seine Position zur Lehrerbildung im Laufe seiner Biographie nicht modifizierte. Im Folgenden geht es um die These des Verlegenheitsbegriffs und um die Auseinandersetzung mit der neueren Forschung. In der bildungshistorischen Forschung wurden Spranger und Becker bis in die späten 1980er Jahre als ein kongeniales Paar gedeutet, das die preußischen Akademien und späteren Pädagogischen Hochschule begründet und geprägt hätte. Diese Sicht der Forschung beförderte Spranger selbst, indem er sich dreimal in Briefen zwischen 1919 und 1961 als deren geistigen Begründer bezeichnete, was vielleicht mit seiner persönlichen Eitelkeit erklärt werden könne. Meyer-Willner meint in seiner gründlich recherchierten Schrift diese Deutung revidiert, den Mythos Sprangers als Begründer der Pädagogischen Akademien entzaubert und den Anteil Sprangers für die Lehrerbildung auf ein kleines Maß zurechtgestutzt zu haben. Er argumentiert aus den Quellen heraus und stützt sich vor allem auf die Analyse der Verwendungsgeschichte der Termini. Spranger wird ein „Namenswirrwarr“30 attestiert, d. h. er war sich in der Bezeichnung dessen, was er angeblich wollte, nicht immer sicher.31 Tatsächlich werden in der Denkschrift mehrfach die Termini „Bildnerhochschule“, „Lehrerhochschule“ „Pädagogische Hochschule“ benannt, die meines Erachtens aus didaktischen Gründen bewusst gewählt wurden. An dem Namenswirrwarr ist m. E. weniger Spranger, als vielmehr die unpräzise Sekundärliteratur verantwortlich. Mit dem Terminus „Bildnerhochschule“ verdeutlichte Spranger, dass die Volksschullehrerbildung einen spezifischen, außeruniversitären Ort und den Status einer Institution erhalten sollte, der gleichwertig, aber eben nicht gleichartig gegenüber Universität und Technischer Hochschule 27
Eduard Spranger (Anm. 24), S. 39. Nach Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 203; Eduard Spranger, Die Erneuerung der Hochschule, 1919. 29 Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 342 – 412. 30 Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 220. 31 Differenziert und pointiert: Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 215 – 221 und S. 324 – 331. 28
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sein und damit qualitativ aufgewertet werden sollte. Dieser Bildnerhochschule gab Spranger eine spezifische Konzeption und ein Profil, das in groben Zügen durch ein Curriculum und eine Studienstruktur präzisiert wurde, wofür der Terminus „Pädagogische Hochschule“ eingeführt wurde. Spranger wird etwa von Meyer-Willner vorgeworfen, dass er sich selbst zum Begründer der Pädagogischen Akademie stilisiert habe. Schauen wir uns die Belege, die dies eindeutig belegen sollen, genauer an. Meyer-Willner übersieht bei seinem ersten Beleg, dass im Jahre 1919, als die Bezeichnung der neuen Volksschullehrerinstitution noch in den Sternen stand, nicht er, sondern sein Doktorand Gunnar Thiele (1882 – 1958) am 22. Dezember der Meinung gewesen sei, dass die Denkschrift die Stiftung „Päd. Akademie“ bedeute. Der zweite Einwurf von Meyer-Willner bezieht sich auf das Jahr 1932, als die Pädagogischen Akademien eingeführt worden waren und nach den Sparmaßnahmen der Grimme-Administration teilweise aufgelöst werden mussten. Am 23. Februar 1932, in einem Brief an F. Büchner, ist zu lesen, dass die Pädagogischen Akademien auf seinen Vorschlag zurückgegangen seien.32 Tatsächlich legte Spranger einen Vorschlag vor, er wurde 1917 als Berater in das preußische Kultusministerium bestellt, 1919 wurde er an die Friedrich-WilhelmsUniversität berufen, was mit einer Tätigkeit für die preußische Administration verbunden wurde. Spranger pflegte trotz zeitweiliger Differenzen mit Becker und später mit A. Grimme einen kontinuierlichen schriftlichen und persönlichen Austausch und war über Lehrerbildung und die Frage der Universität wohlinformiert. Seine Vorschläge zur Lehrerbildung zeigten eindeutig Wirkung. Johannes von den Driesch wurde von Becker zum 1. April 1925 mit dem Auftrag in sein Ressort geholt, die Denkschrift über „Die Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen“ auszuarbeiten und damit die Einführung der Akademien für Lehrerbildung in Preußen vorzubereiten.33 Meyer-Willner meint in diesem Text gravierende Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen“ zu erkennen.34 Über diese Denkschrift wurde Anfang 1925 in Berlin im Rahmen einer mehrtägigen Konferenz intensiv gesprochen, an der rund 30 Gegner und Befürworter, darunter Adolf Reichwein, Romano Guardini und auch Eduard Spranger, nach heftigen Auseinandersetzungen am Ende ein positives Votum für die Volksschullehrerbildung abgaben.35 Spranger hatte also ein Forum für seine Gedanken, die er deshalb nicht fundamental und offensiv vertreten musste und wollte, weil sein eigentliches Ziel einer gesonderten organisatorischen Volksschullehrerbildung auf einem guten Weg war. Zweitens folgte von den Driesch aber konzeptionell in weiten Teilen der Denkschrift Sprangers, indem er das Prinzip der Lebensgemeinschaft der Seminaristen, die Lebensnähe des Curriculums und die Pflege der geistigen, ethischen und künstlerischen Werte von Natur, Kultur und Volkstum übernahm. Ebenso wie bei Spranger akzentuierte der Ministerialrat die 32
Brief Spranger an Franz Büchner vom 23.2. 1932: Bär (Anm. 18), S. 145. Johannes von den Driesch, Die Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen, 1925. 34 Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 295. 35 Sigrid Blömeke (Anm. 6), S. 39. 33
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Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit und wollte bei diesen Lehrkräften nicht einen wissenschaftlichen Habitus küren.36 Unterschiede sind indes nicht von der Hand zu weisen, erstens in der konfessionellen Ausrichtung der Akademien, die jedoch in den Gedanken zur Lehrerbildung keinerlei Valenz erfahren hatten, und zweitens im geringeren fachlichen Anteil. Wie man auch immer den Anteil Sprangers bei der Anbahnung der Pädagogischen Akademien in Preußen bewerten mag, sind die Prinzipien Sprangers erkennbar, derer sich von den Driesch bediente. Dieser teilte Spranger im Jahre der Einführung der ersten Akademien brieflich mit, dass sich die Pädagogischen Akademien den Vorschlägen näherten.“37 Bei diesen Ehrscharmützeln wird übersehen, worum es Spranger eigentlich ging. Sein Programm, die preußischen Lehrerseminare zu reformieren und qualitativ zu verbessern, war nach dem Ende des Kaiserreichs und den neuen Rahmenbedingungen der Weimarer Verfassung begrifflich nicht mehr zu halten. Das Pädagogische Seminar war aber nach dem Ende des Kaiserreichs zu einem politischen Kampfbegriff geworden, der für die einflussreichen Volksschullehrerverbände in der Umbruchszeit nicht akzeptabel war. Dies war Spranger durchaus bewusst und deshalb suchte er nach einer „klangvollen Devise“ (unterstrichen im Original, M.S.), um wieder Schwung in die verfahrene (Begriffs-)Diskussion mit den Volksschullehrerverbänden zu bringen,38 worüber er Becker in zwei Briefen zu überzeugen meinte.39 Er kreierte daraufhin die Begriffe „Bildnerhochschule“ und „Pädagogische Hochschule“. „Auf den Namen kommt es weniger an, sobald man sich nur über die Sache einig geworden ist“, schrieb er bereits im Jahre 1916 in einem anderen Zusammenhang.40 Für Spranger war der Begriff eindeutig nachrangig, die institutionelle Trennung von der Universität indes war das entscheidende Kriterium. Deshalb konnte er auch im Jahre 1928 einer Reseminarisierung der Pädagogischen Akademien befürworten.41 Und laut eines Gedächtnisprotokolls seines Doktoranden Walter Eisenmann hielt er noch im Jahr 1962 daran fest, dass ein verbessertes Lehrerseminar die beste Ausbildungsstätte sei.42 Nach dem Studium der Schriften und Briefe komme ich zu dem Schluss, dass in der turbulenten Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg die Rettung der Universität allerhöchste Priorität genoss. In dieser für ihn als kritisch wahrgenommenen Phase zwischen 1918 und 1920 musste er einen neuen Begriff prägen, der die Universität 36
Ähnliche Einschätzung: Ebd., S. 40. Brief an K. Hadlich: 23.2. 1927. 38 Brief Spranger an Becker vom 26.10. 1919, nach Gerhard Meyer-Willner (Anm. 5), S. 229 f. 39 Der Begriff der „klangvollen Devise“ wiederholte er in dem Brief an Becker vom 6.1. 1920, nach: Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 235. 40 Eduard Spranger, Die Idee einer Hochschule für Frauen und die Frauenbewegung, Leipzig 1916 (Vorwort). 41 Aufschlussreich ist der Briefwechsel mit Kerschensteiner im Dezember 1928. Englert (Anm. 15), S. 266 ff. 42 Nach Gerhard Meyer-Willner (1986, Anm. 5), S. 420 f. 37
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vor einer Vermassung schützen und der gleichzeitig für die Volksschullehrerbildung Modernität, Reform, Statusgewinn und Qualitätsgewinn in Aussicht stellen konnte. Nachrangig ging es ihm indes auch um eine Qualitätsverbesserung der Volksschullehrerausbildung, die er in den Denkschriften von 1918 und 1920 ausgebreitet hatte und für die er sich aber niemals mit ähnlichem Engagement wie bei der Universitätsfrage politisch und öffentlich positionierte.
Bildung als Politikum Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts in der Perspektive Eduard Sprangers Von Georg Zenkert Eduard Sprangers Humboldt-Bücher, die 1909 publizierte umfangreiche Studie „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“ sowie das ein Jahr später erschienene Werk über Humboldt und die Reform des Bildungswesens1 prägen nicht nur das Humboldt-Bild des 20. Jahrhunderts, sondern leisten auch einen entscheidenden Beitrag zur philosophischen Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Mit dieser sind sie – wie das gesamte Werk Sprangers – in Vergessenheit geraten. Die Vergegenwärtigung dieser Pionierleistung dient deshalb nicht nur historischem Interesse, sondern konturiert durch die Kontrastwirkung den theoretischen Rahmen gegenwärtiger pädagogisch-politischer Debatten. Die Fokussierung auf Humboldt erlaubt es, diese Differenz auszumessen, da Humboldt nach wie vor positiv oder negativ Bezugspunkt anthropologischer Verortung pädagogischen und bildungspolitischen Denkens ist. Ohne die Geschichte der Humboldt-Rezeption auch nur grob zu skizzieren, muss jedoch auch die Einseitigkeit von Sprangers Auffassung diagnostiziert und in Rechnung gestellt werden. Da er mit seinen Monographien das Humboldt-Bild geprägt hat, sind damit auch für die Humboldt-Kritiker in der Abkehr von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik die Kategorien ex negativo vorgegeben. Die Defizite zeitgenössischer Pädagogik können nur dann zum Vorschein kommen, wenn die Einseitigkeit von Sprangers Humboldt-Rezeption zur Sprache gebracht wird. Deshalb soll, nach einer einleitenden Charakterisierung von Sprangers Ansatz (I.) und der Erörterung der Problematik von Individualität und Gattungscharakter des Menschen (II.) die sprachphilosophische Erweiterung von Humboldts Bildungstheorie in den Blick kommen (III.), um abschließend eine Bilanz zu ziehen (IV.).
1 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910 (im Weiteren zitiert als Humanitätsidee bzw. Reform des Bildungswesens).
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I. Die methodischen Mängel der Studie sind im rezeptionsgeschichtlichen Rückblick offenkundig und auch von Kritikern moniert worden.2 Spranger hat keine einzige Schrift im Zusammenhang analysiert. Viele Texte wie etwa der frühe programmatische Versuch über die „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ werden ignoriert. Die wichtigen sprachtheoretischen Schriften, die einen prominenten Platz in Humboldts Werk einnehmen, vernachlässigt er vollständig. Er baut seine Darstellung auf eine Mixtur aus einzelnen Zitaten auf, rekurriert dabei allerdings nicht nur auf die Hauptschriften, sondern extensiv auch auf den umfangreichen Briefwechsel, erwähnt biographische Details und rekonstruiert Motive Humboldts. Sprangers besonderes Anliegen ist zu zeigen, dass sich in Humboldts Persönlichkeit das in seinen Schriften entfaltete Bildungsideal manifestiert. Humboldts Charakter erscheint als exemplarische Verkörperung seines Denkens. Dies gelingt ihm virtuos und die Übereinstimmung zwischen Lebensideal und Schriften erscheint frappierend. Spranger rekonstruiert ein Bildungskonzept, dass sich nur exemplarisch in einzelnen gelungenen Fällen demonstrieren lässt. Damit ist der methodische Zugriff auch sachlich begründet, denn ein so aufgefasstes Konzept lässt sich per definitionem auf dogmatischem Wege nur unzureichend begründen, es ist im Idealfall durch den Autor selbst zu veranschaulichen. So erfüllt sich Humboldts Denken nach Spranger in dessen intellektueller Biographie.3 Sprangers hermeneutischer Zugang wird gemeinhin in die Tradition Diltheys gerückt. Aber das Verhältnis zu Dilthey ist eher distanziert. Der Promotionsversuch bei Dilthey scheiterte und an der Habilitation wirkte Dilthey nur deshalb als Hauptgutachter mit, weil Sprangers Lehrer Friedrich Paulsen kurz zuvor verstarb. Paulsen ist der prominenteste und einflussreichste Pädagoge im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er verbindet das Interesse an der Aristotelischen Ethik mit einem neukantianischen Wissenschaftsmodell und zeigt Verständnis für den Individualismus eines John Stuart Mill. Paulsen betrachtet Humboldt vor allem unter dem Blickwinkel humanistischer Bildungsreformen als Protagonist der Griechenverehrung.4 Gegenüber dem philosophischen Anspruch Humboldts bleibt Paulsen dagegen neutral. Es ist deshalb nur noch ein kleiner Schritt, wenn Spranger Humboldts Denken in Kategorien rekonstruiert, die dem Neukantianismus entstammen. Das Schema von Me2 Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie, Weinheim/München 1995, S. 21 ff. 3 Diese Identifikation von Person und Werk ist genau der Ansatzpunkt für die HumboldtBiographie Kaehlers, der Sprangers Humboldt-Verständnis konterkariert und damit gegen diesen selbst richtet. Er schildert Humboldt als radikalen Individualisten, dessen Theorie der Ausdruck seines asozialen Denkens ist (Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat: ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München 1927, S. 43 ff.). Daraus folgt fast zwangsläufig die Diagnose des politischen Scheiterns. 4 Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 2 Bde., Leipzig 1885, S. 523 ff.
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taphysik, Psychologie, Ästhetik und Ethik, das Sprangers Analyse der Schriften Humboldts zu Grunde liegt, ist Ausdruck des vermeintlich neutralen philosophiehistorischen Einstellung, die dem Autor gerecht werden will, obwohl diese Einteilung Humboldts Denken gänzlich fremd ist. Dennoch ist dieser Ansatz fruchtbar und die Stoßrichtung plausibel, sofern Sprangers Ausgangspunkt berücksichtigt wird. Es zeigt sich, dass Spranger die Überwindung des cartesischen Dualismus als das Grundproblem der modernen Anthropologie betrachtet. Dass der Mensch einerseits Objekt der naturwissenschaftlichen Betrachtung ist und sich und andererseits als geistig-geschichtliches Wesen versteht, also kausal determiniert und zugleich frei sein soll, ist das Skandalon der modernen Anthropologie. Spranger sieht in Humboldts Werk die Realisierung des durch Kants Kritik der Urteilskraft umrissenen Modells einer Verbindung von Erscheinungswelt und intelligibler Welt. Im humanistischen Menschenbild zeichnet sich der Zusammenhang von empirischer Existenz und geistigem Dasein des Menschen ab. Mit diesem Programm eines „Dritten Humanismus“, der in Berlin durch Werner Jaeger seine philologischen Weihen erhält, trägt Spranger im Rückgriff auf Humboldt das pädagogische Denken bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Mit seinen umfangreichen Studien über Humboldt leistet Spranger Pionierarbeit, kann er sich doch nur auf wenige und zudem ausschließlich biografische Vorarbeiten beziehen.5 Schon dieser Umstand berechtigt zu der Annahme, dass es vor allem Spranger zuzuschreiben ist, wenn Humboldts Denken Eingang in die Pädagogik fand, nachdem die Humboldt-Rezeption im 19. Jahrhundert sich auf die rudimentäre institutionelle Reform beschränkt hat. Mit dem Bezug auf Humboldts Begriff der Humanität hat Spranger die geisteswissenschaftliche Pädagogik entscheidend geprägt. Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass die Dominanz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zunächst keineswegs selbstverständlich war. Spranger hat vielmehr positivistische Tendenzen gerade im Falle der Anthropologie zu gewärtigen, die sich auch im Bereich der Bildung niederzuschlagen beginnen.6 Die Kantische Anthropologie hat dieser Tendenz wenig entgegenzusetzen, weil sie sich auf den Bereich der Empirie beschränkt und die Entwicklung der seelischen Kräfte, der Erkenntnisvermögen und des Charakters untersucht, um schließlich praktische Fragen der Genese moralischen Bewusstseins zu erörtern.7 Bildung wird deshalb gemäß dem Dualismus von empirischer und intelligibler Welt einerseits als rein pragmatische Sozialisation,
5 Gustav Schlesier, Erinnerungen an Wilhelm von Humboldt, Stuttgart 1848, Rudolf Haym, Wilhelm Humboldts Lebensbild und Charakteristik, Berlin 1856. 6 Zu nennen ist beispielsweise Wilhelm Scherer, eine der dominierenden Gestalten der deutschen Philologie in Berlin, dessen positivistisch orientierte Schule die Germanistik des 19. Jahrhunderts prägte. 7 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe Bd. VII, Berlin 1907.
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andererseits als Moralisierung aufgefasst. Die Dominanz der Psychologie8 und der Ethik als pädagogische Leitwissenschaften ist damit begründet und wird dann von Herbart bekräftigt. Mit der Wendung zu Humboldt kehrt sich diese Perspektive um. Was Bildung sein kann, ergibt sich nicht aus der Anthropologie, sondern die Grundfragen der Anthropologie werden auf dem Boden einer Theorie der Bildung erörtert. Der Bildungsgedanken ist der Schlüssel zu einer neuen Wissenschaft vom Menschen, weil sich mit ihm die Grundprinzipien formulieren lassen, die eine empiristisch verengte Anthropologie sprengen und damit auch die Tendenzen einer positivistischen Reduktion der Wissenschaften unterlaufen.9 In Humboldts Humanitätsbegriff sieht Spranger die Möglichkeit der Befreiung von der Erblast des Dualismus. Dass die aufwändige Rekonstruktion einer Humboldtschen Metaphysik blass bleibt, kann unter dieser Voraussetzung nicht verwundern. Spranger selbst bezeichnet sie rückblickend als letztlich irrelevant im Hinblick auf den Humanitätsbegriff.10 Dies liegt in der Konsequenz einer Lesart, die den Hiatus von theoretischer und praktischer Philosophie durch eine an ästhetischen Kategorien entwickelte Charakterologie zu überwinden sucht. Nicht zufällig erscheinen die flankierenden Kapitel über Metaphysik und Ethik eher konstruiert, während die eigentliche Bildungsidee als geisteswissenschaftliche Psychologie und Ästhetik entfaltet wird. Neuralgischer Punkt des Humboldtschen Denkens ist das Prinzip der Individualität. Dessen historische Wurzeln liegen in Leibniz’ Philosophie, die Humboldt in schulmäßiger Gestalt rezipiert hat. Dieses Erbe bewahrt er auch gegen die Tendenzen der kantischen Denkens, das den absoluten Wert des Einzelnen sub specie seiner Gattungszugehörigkeit betrachtet und das Individuelle der Welt der Erscheinungen zuschlägt. Kants Einschätzung der Individualität bleibt deshalb ambivalent. Einerseits ist der Wert des Einzelnen absolut, andererseits verdankt er diesen Status seiner Gattungszugehörigkeit als Vernunftwesen, das sich insofern gerade nicht von anderen unterscheidet. Die reine Individualität wäre nur ein Produkt der Natur und insofern moralisch bedeutungslos. Spranger teilt diesen Vorbehalt gegenüber einer Verabsolutierung des Individuellen. Aber auch er sieht im Prinzip der Individualität den Fokus des Humboldtschen Werkes. Die Radikalität, mit der Humboldts dieses Prinzip vertritt, wird von Spranger jedoch sogleich relativiert durch den Bezug auf die Idee von Humanität, die für seine Untersuchung den Leitfaden bietet. Er gibt dies schon dadurch zu erkennen, dass er, dem Duktus der Untersuchung gemäß, die Persönlichkeit Humboldts ganz 8 Kant freilich denkt nicht an eine naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, die er Physiologie nennt, sondern an eine Weltkenntnis, die sich aus individueller Erfahrung, geschichtlichen und literarischen Quellen speist. 9 Sprangers Kritik am Positivismus geht einher mit eine Anerkennung des Historismus, der sich in einem realistischen Griechenlandbild niederschlägt (ders., Humanitätsidee, S. 494). 10 Eduard Spranger, Humanitätsidee, S. 204.
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aus dem Prinzip der in sich ruhenden Individualität interpretiert, um dann zu gestehen, dass sich in dieser aristokratischen Haltung zwar echter griechischer Geist zeigt, diese Lebensform aber insgesamt eine Einseitigkeit nicht verbergen kann, die nur durch Annäherung an das moderne Ideal der Humanität zu korrigieren wäre.11 II. Hauptaugenmerk von Sprangers Darlegung ist die Überwindung der Aporie von Individualität und Allgemeinheit, die gewiss für Humboldts Freund Schiller eine Herausforderung darstellt, für Humboldt jedoch nicht im Vordergrund steht, weil er dessen kantische Prämissen nicht teilt. Individualität steht gemäß der Konzeption Kants in unaufhebbarer Spannung zur begrifflichen Allgemeinheit. Es kann dem Individuellen deshalb kein absolutes Recht eingeräumt werden, solange dieses sich nicht mit dem Allgemeinen der Vernunft vermitteln lässt. Für Humboldt dagegen bedarf das Individuelle keiner Läuterung, ist nicht ambivalent, sondern bietet im Idealfall eine exemplarische Verkörperung des Allgemeinen. Auch wenn Spranger Humboldts Texte in einer eigenwilligen Perspektive liest, ist seine Interpretation doch nicht ohne Plausibilität. Wie können überhaupt Individuen zum Gegenstand sowohl wissenschaftlicher Betrachtung als auch praktischer Auseinandersetzungen werden, wenn Individualität sich per definitionem jedem begrifflichen Zugang sperrt, also der Theoriebildung entzieht? Diese wissenschaftstheoretische Perspektive ist für Spranger leitend. So kommt er zu der Hypothese, dass Humboldt die Individualität zwar als Ausgangspunkt des Denkens versteht, dennoch aber „als echter Kantianer von dem Ideal eines allgemeinen-menschlichen Charakters überzeugt war und selbst den Begriff des menschlichen Gattungscharakters seinen Deduktionen zu Grunde gelegt hatte.“12 In diesem Spannungsfeld verortet Spranger seine Konzeption einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, die auf eine Typologie baut. Typenbildung ist das methodische Instrument, das Individualität wissenschaftlich fassbar zu machen erlaubt. Tatsächlich hat sich auf Humboldt in seinem „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ damit befasst, um dann jedoch die irreduzible Verschiedenheit der individuellen Charaktere hervorzuheben. Deren Entfaltung ist das unbedingte Ziel jedes Menschen. Die Anthropologie unterstützt diesen Prozess, indem sie die Vielfalt der Charaktere zu erkennen und selbst noch zu steigern erlaubt.13 Man kann in Sprangers Modell der Typenbildung einen Versuch sehen, der unüberbrückbaren Distanz zwischen Individualität und Gattungscharakter ein Mitte zu geben, ein Konzept, das er in seiner Philosophie der „Lebensformen“ (1914) ausgearbeitet hat. Dieses Werk steht in der von Aristoteles und Theophrast begründeten und von Kant in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ aufge11
Eduard Spranger, Humanitätsidee, S. 112. Ders., Humanitätsidee, S. 226. 13 Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Darmstadt 1960, Bd. I, S. 345. 12
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nommenen Tradition, die eine Charakterologie zwischen wissenschaftlichem Anspruch und praktischer Alltagsklugheit entwickelt. Anders als Leibniz und ihm folgend Humboldt betrachtet Spranger Individualität als ambivalent. Sie ist Inbegriff der Einseitigkeit des Einzelnen, die nie vollständig aufzuheben, aber durch eine Annäherung an die mit dem Begriff der Menschheit insinuierten allgemeinen normativen Standards zumindest relativiert werden kann. Humboldt dagegen sieht im Individuum nichts Beschränkendes. Wie sonst könnte er fordern, dass in allem Streben die Entfaltung der Individualität anzustreben sei. „Der wahre Zweck des Menschen (…) ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“14 Für Humboldt scheinen die Entfaltung der Individualität und die Erfüllung des normativen Anspruchs, der mit dem Begriff der Menschheit verbunden ist, unmittelbar zusammen zufallen. „Dem Begriff der Menschheit in unserer Person (…) einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“, ist die Aufgabe, die das Individuum durch Bildung seiner selbst erfüllt.15 Dieser Gedanke, dass sich in der entfalteten Individualität Menschheit exemplarisch realisiere, ist für Spranger unvollständig. Nur unter Voraussetzung weiterer Kriterien kann es nach seiner Auffassung zu dieser Koinzidenz kommen. Die Schranken der Individualität werden erst durch Bezug auf deren Gegenpol, die Universalität, durchbrochen.16 Durch die Horizonterweiterung, durch Vergleichung der Erscheinungsformen individueller Bildung qualifiziert sich laut Spranger die Individualität im Blick auf Universalität. Es ist ein komplexes hermeneutisches Modell, das Spranger hier entwickelt. In ihm ist die Entfaltung des Individuums in Orientierung an den Manifestationen des objektiven Geistes angelegt, die eine geisteswissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte als Bedingung seriöser Bildung auszeichnet. Die Hermeneutik des Individuums gelingt folglich genau in dem Maße, in dem dieses sich selbst hermeneutisch seiner geschichtlichen Welt vergewissert. Verstanden werden kann ein Individuum dann nur insofern, als es selbst sich im Verstehen bildet. Für die Explikation des Verhältnisses von Individualität und Universalität greift Spranger wieder auf Kant zurück, dessen ästhetische Grundbegriffe das Rüstzeug liefern. Wie in der ästhetischen Idee das Allgemeine, das Vernünftige im einzelnen endlichen Phänomen zur Erscheinung kommt, so kann im Individuum die Universalität des Menschseins erfahren werden. Die Verbindung dieser beiden antagonistischen Prinzipien, der Individualität und der Universalität, sieht Spranger in der Totalität, der durch die Aneignung der Welt geläuterten Individualität. Durch die ästhetische Veredelung wird der Einzelne zum Repräsentanten der Gattungsidee.17 So liest 14 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Werke, Bd. I, S. 64. 15 Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, Werke, Bd. I, S. 235. 16 Eduard Spranger, Reform des Bildungswesens, S. 46 f. 17 Eduard Spranger, Humanitätsidee, S. 431.
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Spranger Humboldts Formel der „höchsten und proportionirlichsten Bildung aller Kräfte“. Der Begriff der Totalität steht dabei für die maßgebende Form, in der sich die Vielfalt der seelischen Kräfte in ihrer potentiell unendlichen Erweiterung zu einem harmonischen Ganzen fügen. Spranger registriert freilich, dass Humboldt die für das Harmonieideal zu postulierende gegenseitige Annäherung der Individuen nicht thematisiert. Dennoch unterstellt er, dass Humboldt, „ohne es auszusprechen (…) sich eine Art pädagogischer Wechselwirkung innerhalb der vollendeten Gesellschaft“ denkt.18 Schließlich glaubt er Spuren einer Werttheorie zu erkennen, in der Humboldt den Kosmos der Humanitätsidee auszubuchstabieren denkt. Aber was Spranger vermisst, liegt Humboldt tatsächlich fern. Sein Ideal der vollkommenen Persönlichkeit speist sich nicht aus einer abstrakten Humanitätsidee oder aus einer Werttheorie, sondern aus der für Spranger irritierenden radikal gedachten Konzeption von Individualität. Das Ziel dieser Entfaltung von Individualität liegt formal betrachtet in der Fähigkeit des Geistes, sich selbst verständlich zu werden und praktisch in der Fähigkeit des Willens, frei und unabhängig zu sein, wie Humboldt im frühen Fragment der „Theorie der Bildung des Menschen“ betont.19 Die Interpretation des Individuellen nach ästhetischen Kategorien, in die Sprangers Darstellung mündet, entspricht Humboldts Auffassung. Mit Schiller verbindet ihn das Ideal einer Versöhnung von Empfänglichkeit und Produktivität, Sinnlichkeit und Vernunft im Reich des Ästhetischen. Mit Schiller teilt er auch die Idealisierung der griechischen Welt, die zwar unwiederbringlich verloren ist, aber in ihrer einzigartigen Durchdringung von Form und Stoff als Maßstab für alle kommenden Kulturen gelten kann.20 Gegen diesen ästhetisierenden Blick auf die griechische Welt, der in allen ihren Erscheinungsformen nur das eine waltende Prinzip zu sehen glaubt, erhebt Spranger Einspruch. Er fordert eine nüchterne historisch-philologische Betrachtung des Griechentums,21 weil es nur so als Gegenstand der Bildung erschlossen werden kann. Während Humboldt die Synthesen von Sinnlichkeit und Vernunft, Ich und Anderen, Individuum und Gattung exemplarisch in der griechischen Kultur zu erkennen meint, sucht Spranger dagegen diese dem Einzelnen abzuverlangen und empfiehlt dazu die Lektüre der deutschsprachigen Klassiker, in denen dieses Ziel immerhin vorgezeichnet wird.22 Der ästhetische Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit wird abgelöst durch die Ästhetisierung der Innerlichkeit. So schließt sich für Spran-
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Eduard Spranger, Humanitätsidee, S. 437. Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, S. 235. 20 Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 20, Weimar 2001, 6. Brief. 21 Eduard Spranger, Humanitätsidee, S. 495. 22 Ebd., S. 494. 19
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ger der Kreis von hermeneutischer Wirklichkeitsaneignung und pädagogisch unterstützter Entfaltung der Persönlichkeit. Bildung ist praktizierte Hermeneutik. Die von Spranger kritisierte Verklärung Griechenlands hat möglicherweise dazu beigetragen, dass Humboldts Bildungstheorie selten eine kritische Auseinandersetzung erfahren hat und heute meist mit der Vorstellung eines musealen Humanismus in Verbindung gebracht wird. Im ästhetischen Schein der Humanität entrückt die zum Ideal stilisierte griechische Welt in ein ahistorisches und gesellschaftsfernes Utopia. Die soziale Welt erscheint deshalb bei Humboldt nur in der Brechung individueller Selbstbehauptung. Aber auch bei Spranger ist die soziale Dimension des individuellen Bildungsprozesses nicht erschlossen. Es ist nachgerade fatal, dass Spranger den blinden Fleck in Humboldts Bildungskonzept erkennt, ohne jedoch in seinem eigenen, an Humboldt entwickelten Humanitätsbegriff dieses Defizit zu sehen. Dieser ist nicht nur unpolitisch, geradezu aseptisch und völlig desinteressiert an Fragen, wie sie Humboldt etwa in der Schrift über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates umgetrieben haben. Man kann diese Distanz zur Welt der Politik durch das unbedingte Bestreben erklären, die Sphäre der Bildung vor ideologischen Zugriffen und politischer Instrumentalisierung zu bewahren. Aber während Humboldt gerade in dieser Absicht den Staat in extrem liberaler Betrachtung auf elementare Formen der Existenzerhaltung zu beschränken sucht, entrückt Spranger das Bildungsgeschehen in die Sphäre ideeller Humanität. Daran ändert auch die nationale Färbung nichts, die Spranger empfiehlt, da diese ihren politischen Charakter verleugnet. Diese ästhetische Verkürzung des Bildungsbegriffs ist freilich auch im frühen Denken Humboldts zu finden. Indem Spranger dieses Bild bekräftigt, wird Humboldt und Spranger mit ihm in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand der soziologischen und kulturtheoretischen Kritik, die dann die ausgeblendete Welt des Sozialen ideologiekritisch wieder ins Spiel bringt und den traditionellen Sinn von Bildung als Deutungsmuster bürgerlicher Selbstbehauptung zu demaskieren sucht.23 III. Dass dem humboldtschen Bildungsbegriff dieses Schicksal widerfährt, ist aber weder in der Sache begründet noch wissenschaftsgeschichtlich unausweichlich. In der Tat hat Humboldt in seinen späteren Arbeiten eine tiefgreifende Korrektur dieses ersten Konzeptes vorgelegt, das freilich nicht unter dem expliziten Anspruch einer Bildungstheorie, sondern als sprachtheoretisches Unternehmen angelegt ist. Mit 23 So zuletzt Georg Bollenbeck in seiner insgesamt verdienstvollen Untersuchung „Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters“, Frankfurt a. M. 1994. Die von Klafki begründete kritisch-konstruktive Didaktik geht von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik aus und sucht durch die Fokussierung der Bildung auf sogenannte epochaltypische Schlüsselprobleme den Anschluss an die soziale Wirklichkeit zu gewährleisten. (Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 1985.)
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der Sprache rückt kein Spezialthema in das Zentrum seines Interesses. In ihr fokussiert sich vielmehr der Versuch, Anthropologie als Theorie der Bildung zu etablieren und Bildung als Basis aller Anthropologie auszuweisen. Sprache ist schlechterdings das Medium aller Bildung, sofern sich darin der Mensch Welt aneignet und zu sich selbst kommt. Sprache ist, wie Humboldt an Schiller schreibt, „wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet“.24 Humboldts umfangreiche Studien zur Sprache, auf die im Folgenden einzugehen ist,25 stellen in der Tat eine Revision seines früheren Bildungskonzeptes dar, das nun um die soziale Dimension erweitert wird. Auch das Sprachstudium dient der Beförderung der Humanität und so kehrt hier die Thematik des Bildungskonzeptes wieder, die nun jedoch eine neue Beleuchtung erfährt. Zunächst wird die Vorstellung einer isolierten Individualität abgelöst von der Gestalt des individuellen Sprechers, der sich im Medium der Sprache artikuliert. Die Sprache transzendiert den Horizont des Individuums und bietet ihm dadurch eine sichere Basis seiner Entfaltung. Sie bewahrt das Subjekt vor der Isolierung. Doch ist Sprache nicht automatisch Garant von Objektivität. Sie ist perspektivisch, immer geprägt durch die Individuen, die sich den anderen mitteilen. Was bedeutet Bildung der Person im Medium der Sprache? Obgleich Humboldt immer am individuellen Zuschnitt aller Bildung festhält, steht doch der Einzelne durch die Sprache in Beziehung zu Anderen. Sprache ist kein Monolog, der sich zum Zwecke der Kommunikation auch an andere richtet, sondern realisiert sich in der dialogischen Rede. Alles Sprechen ist „auf Anrede und Erwiderung eingestellt“.26 Deshalb vollzieht sich auch das Denken nur in der Wechselrede der Individuen beziehungsweise im Dialog des Individuums mit sich selbst. Diese dialogische Sprachkonzeption scheint die Hermeneutik Gadamers vorwegzunehmen. Eine übergreifende Gemeinsamkeit der Perspektiven, wie sie die Hermeneutik Gadamers postuliert,27 ist mit Humboldts Sprachtheorie jedoch nicht vereinbar. Verständigung beruht nach Humboldt nicht auf Horizontverschmelzung, wie Gadamer ansinnt, sondern stellt sich ein im Wechsel von Entäußerung und Verinner-
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Wilhelm von Humboldt, Brief an Schiller, Sept. 1800, Werke, Bd. V, S. 196. Siehe dazu ausführlich Georg Zenkert, Fragmentarische Individualität: Wilhelm von Humboldts Idee sprachlicher Bildung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 52.5, 2004. 26 Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, Werke, Bd. III, S. 201. 27 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 31975, S. 359. Gadamer unterläuft die Individualität im Rekurs auf einen übergreifenden Sinnzusammenhang. Das Vorbild für diese Auffassung liefert Diltheys Konzeption des objektiven Geistes, die zwar den Sinn des individuellen Lebens hervorhebt, dabei aber auf das allen Individuen Gemeinsame vertraut (Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften Bd. 7, Göttingen 8 1992, S. 208). Das Individuum ist damit lediglich Repräsentant eines postulierten übergreifenden Sinnzusammenhangs. 25
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lichung des Gedankens durch die individuelle Rede. Das Individuum tritt aus sich heraus, um sich zu artikulieren, und es zieht sich in sich zurück, um zu verstehen. Deshalb kommt der Differenz der Sprecherperspektiven eine entscheidende, eine positive Bedeutung zu. Die Individualität des Sprechens ist kein bloßes Faktum, sondern eine schlechterdings notwendige Bedingung des Verstehens. Alles Verstehen ist „immer zugleich ein Nicht-Verstehen“.28 Dieses ist konstitutiv für das Verstehen, da erst die Differenz der Sprecher die Objektivität des Gesagten wahrscheinlich macht, indem sich die Rede im Dialog bewährt. Wenn, wie Humboldt betont, im Individuum die Sprache ihre letzte Bestimmtheit als adäquater Ausdruck des Gedankens erhält, dann muss der Hörer von dieser Bestimmtheit partiell absehen können, um die Mitteilung im Kontext seiner eigenen Begrifflichkeit zu verstehen. Ohne diese hermeneutische Differenz wäre die Sprache ein unverständlicher autistischer Akt oder eine tautologische Versicherung des ohnehin Bekannten. Denken wäre schlechterdings sinnlos. Damit sind aber zugleich dem Verstehen unüberwindliche Grenzen gesetzt. Je bestimmter und präziser ein Gedanke artikuliert wird, desto problematischer ist seine Vermittlung und desto subjektiver der Gebrauch der Sprache. Dieses Paradoxon betrifft gerade die elaborierte Sprache der Gebildeten, die eine umso individuellere Färbung annimmt, je allgemeiner und formbewusster sie sich zu geben weiß. Der Andere ist damit dem Individuum prinzipiell fremd. „Wir haben auch nicht einmal die entfernteste Ahnung eines anderen als eines individuellen Bewusstseyns“.29 Die wohlmeinende Aufmerksamkeit, die das Individuum Anderen gegenüber erweisen mag, kann diesem Problem nicht abhelfen, denn jede gelungene Verständigung bekräftigt die Differenz im Gebrauch der Sprache. Selbst eine methodische Gesprächsführung, die durch Rückfragen und Verständniskontrollen eine Annäherung erlauben soll, kann die Unschärfe des Verstehens nicht zurücknehmen. Vielmehr potenziert sich diese mit fortschreitender Ausdifferenzierung der Sprache. Die Grenze des Verstehens wird so mit jedem weiteren Verständigungsversuch nur verschoben und jede Verständigung fördert zugleich neue Differenzen zutage. Verständigung ist eine gegenläufige Entwicklung im Widerstreit von Gemeinsamkeit und Differenz. Zwar kann ein Individuum seinen Standpunkt durchaus verändern, dass aber gezielt der Standpunkt eines Anderen eingenommen wird, bleibt eine Illusion. Darin besteht die signifikante Differenz zu Schleiermachers Hermeneutik, die dem Interpreten ansinnt, durch Einfühlung oder „Divination“ das Individuum immer besser zu verstehen. Dieses Modell operiert mit der Unterstellung eines festen Identitätskerns, der sich in infinitesimaler Näherung erschließen lässt.30 Dieses Modell ist jedoch als Pa28 Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung der des Menschengeschlechts, Werke, Bd. III, S. 439. 29 Ebd., S. 408. 30 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. v. M. Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 167 ff.
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radigma der Textauslegung entwickelt und auf das Verstehen von Individuen nicht übertragbar, denn im Prozess des Verstehens ändert sich auch das Individuum. Die nach Humboldt unvermeidliche Begrenztheit des Verstehens ist vor allem deshalb brisant, weil sie auch das Selbstverständnis des Individuums betrifft. Da das eigene Verstehen vom Verstehen der Anderen abhängt, schlägt die Unvollkommenheit des Fremdverstehens auf die Identität des Einzelnen zurück. In der Feststellung, „dass der Mensch sich nur im Entgegensetzen eines andren erkennen kann“31, klingt das Motiv der Selbstentäußerung an, das den Bildungsgedanken seit seinen Anfängen begleitet. Das Individuum ist sich selbst zunächst nicht nur fremd, sondern gewissermaßen noch unentwickelt, solange seine Äußerungen sich nicht in einem Gegenüber reflektieren. Wenn aber der Andere unerreichbar ist beziehungsweise sich in seiner Gegenrede zugleich zeigt und entzieht, bleibt auch das Selbstverhältnis brüchig. So heißt es im Klartext: „Der Einzelne, wo, wann und wie er lebt, ist ein abgerissenes Bruchstück seines ganzen Geschlechts …“.32 Das Individuum ist ein Fragment, aber als solches immerhin Symbol der Menschheit. So bleibt zwar auch in Humboldts Sprachphilosophie noch der Humanitätsgedanke leitend, aber im Wandel vom Ideal zum Symbol macht sich eine Ernüchterung bemerkbar. Das Symbol verweist auf ein Ganzes, das den Individuen niemals präsent sein ist. Diese notorische Unzulänglichkeit, für Humboldt Ausdruck der Endlichkeit des Menschen, ist auch durch ein bloßes Mehr an Bildung nicht zu kompensieren. Gerade im Bestreben, die Fesseln der Innerlichkeit zu brechen und die Fragmentierung des Selbst aufzuheben, verstrickt sich der Einzelne immer mehr in seine je eigene Innenwelt. Das Individuum „macht also immer zunehmende Fortschritte in einem in sich unmöglichen Streben.“33 Die Fähigkeit, sich mit beliebigen Anderen zu verständigen, die als Ausweis der Bildung gilt, ist nur um den Preis einer zunehmenden Individualisierung zu erwerben, die der Verständigung zugleich entgegenarbeitet. Das gebildete Individuum wird weder den Anderen noch sich selbst vollständig transparent. Genau darin behauptet sich Individualität und setzt den Bestrebungen einer pädagogischen Zähmung enge Grenzen. Mit dieser Widerständigkeit ist auch der größtmögliche Abstand zu einer Disziplin gesetzt, die Bildung als Sozialisation umdefiniert, eine Tendenz, die sich ansatzweise auch in der Absicht zu erkennen gibt, den Einzelnen zu humanisieren. Bildung schleift nicht Individualität ab, sondern befördert sie. Das in Humboldts Sprachphilosophie eingearbeitete Bildungskonzept hat sich ganz zweifellos vom klassizistischen Harmonieideal des Anfangs verabschiedet. Sich selbst durchsichtig und frei zu werden lautet dort die Devise. Sie wird hier nicht negiert, aber als unendliche Aufgabe dargestellt. Dass auch der fragmentarische Einzelne Humanität verkörpert, kann unter den Prämissen eines selbst fragmentarisch gewordenen Ideals dennoch angenommen werden. Im Prozess des Verstehens 31
Wilhelm von Humboldt, Brief an Schiller, Sept. 1800, Werke, Bd. V, S. 197. Wilhelm von Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, S. 161. 33 Ebd., S. 160. 32
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differenziert sich das Individuum aus in seinen unendlichen Abschattungen. Er ist kein fester Besitz und entzieht sich jeder Definition. Nur dadurch kann die Integrität der Individuen gewahrt werden. Das humanistische Ideal eines ausgewogenen Charakters, der sich am Kanon überzeitlicher Bildungsgüter geschult hat, ist darin kaum mehr wiederzuerkennen. Aber bis zuletzt bleibt Humboldt dem Kern seines Bildungsgedankens treu: dem Prinzip der Individualität, das mit der Sprachphilosophie seine konsequenteste Ausgestaltung erfahren hat. IV. Dieser Bildungsbegriff sprengt das Paradigma, für das Spranger einsteht. Er ist dezidiert nicht-universalistisch und setzt keine normative Charakterologie voraus. Er lokalisiert Bildungsprozesse im sozialen Raum und macht deutlich, dass deren Ergebnis von der Teilnahme der Anderen entscheidend abhängt. Außerdem beleuchtet das ihm zugrunde liegende hermeneutische Konzept die Grenzen des Verstehens. Wenn die Fremdheit des Anderen nie aufzuheben ist und damit auch das Selbstverständnis dunkel bleibt, muss dem fragwürdigen Ideal vollständiger Transparenz abgeschworen werden, das gerade in der Welt der Pädagogik fatale Wirkungen zeitigt. Bildung der Individualität bedeutet immer, die Unverfügbarkeit der Anderen und des eigenen Selbst zu akzeptieren. Bildung widersetzt sich allen Versuchen vollständiger Integration. Einer mehr denn je auf Standardisierung, Tests und Leistungsmessung fixierten Erziehungswissenschaft ist dieser Bildungsbegriff nur schwer vermittelbar. Der Wahrnehmungsfilter der Statistik, der zeitgenössischer empirischer Bildungsforschung zugrunde liegt, blendet Individualität systematisch aus. Die Kluft zwischen Bildungswissenschaften und Bildung ist deshalb dramatisch. Um so größer ist die Leistung Sprangers einzuschätzen, der Humboldt zwar in gewisser Weise klassizistisch verkürzt, aber damit die Bildungsidee nicht nur in das 20. Jahrhundert gerettet, sondern die Basis für die geisteswissenschaftliche Pädagogik geschaffen hat. Dass gegen die Dominanz der flankierenden Disziplinen wie insbesondere der Psychologie der „pädagogische Grundvorgang“ in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt werden muss, ein Anliegen, das Spranger seit seiner ersten Vorlesung zur Pädagogik vehement vertritt,34 ist eine Forderung von ungebrochener Aktualität. Dass man Humboldt, wie vielfach bemerkt, nicht mehr in der Perspektive Sprangers lesen kann,35 ist zu leichtfertig gesagt, wenn damit nur an das factum brutum der veränderten sozialen Wirklichkeit erinnert werden soll. Korrigiert wird Sprangers Humboldt nicht durch die soziale Realität, sondern durch ein Humboldtverständnis, das dem Bildungsgedanken in radikalerer Weise Rechnung trägt als Gesellschafts34 Eduard Spranger, Antrittsvorlesung: Die philosophischen Grundlagen der Pädagogik, Gesammelte Schriften Bd. II, Heidelberg 1973. 35 Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie, S. 24.
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analyse oder empirische Forschung. Die Rezeption Sprangers scheint an die Rezeption Humboldts gebunden zu sein und umgekehrt. An Sprangers Humboldt lässt sich in mehrfacher Weise anknüpfen. Seine unbestrittene Leistung besteht erstens darin, dass er Humboldts Bildungstheorie für die Pädagogik erschlossen hat. Damit ist Humboldt, dessen Werk zuvor kaum wahrgenommen wurde, anschlussfähig geworden für die Geisteswissenschaften. Trotz der inzwischen erfolgten Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften ist die Bildungsidee doch immer noch ein Platzhalter für Fragen, für deren Artikulation im herrschenden Diskurs sonst kein Platz mehr wäre. Wo immer heute der Bildungsbegriff thematisiert wird, findet dies im Rekurs auf Humboldt und letztlich vermittelt durch Spranger statt. Die Diskussion um Kompetenzen und Bildungsstandards ist bislang nur ansatzweise geführt. Es wäre noch zu prüfen, ob Bildungsstandards den Bildungsbegriff ablösen oder nur parasitär von ihm zehren.36 Zweitens rehabilitiert Spranger das Prinzip der Individualität, das im methodischen Rahmen der neukantianischen Geistes- und Kulturwissenschaften einen prekären Stellenwert hat. Deren idiographischer Zugang garantiert noch nicht den Sinn für Individualität, denn Disziplinen wie die Geschichtsschreibung verfahren nicht ohne Abstraktion in der Unterscheidung von Bedeutendem und Unbedeutendem. Für die Soziologie und die Psychologie gilt Individualität nur als Bezugspunkt der Zuschreibung von Eigenschaften. Radikale Individualität aber entzieht sich diesem verobjektivierenden und wertenden Zugriff. Zwar betrachtet Spranger das Individuum immer nur im Bezug auf die universale Humanitätsidee, doch gelingt es ihm gerade dadurch, den Sinn für die konstitutive Bedeutung unhintergehbarer Individualität zu schärfen. Die zeitgenössischen Versuche, das Prinzip der Diversity im Bildungswesen zu verankern, ist nur ein schwaches Echo dieses Plädoyers für Individualität. Aufgrund ihrer undogmatischen Diktion laden Sprangers Schriften dazu ein, über ihn hinauszugehen und Individualität radikaler zu denken, als es ihm selbst möglich war. Drittens schließlich ist die Ästhetisierung des Bildungsbegriffs, die er mit Humboldt teilt, nicht nur als Mangel, sondern auch als Stärke zu verstehen, indem damit der Instrumentalisierung der Bildung ein Riegel vorgeschoben wird. Die Inanspruchnahme von Bildung für externe Zwecke, sei es der Employability oder der Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, ist eine Gefahr für die Freiheit. Auch eine wohlwollende strategische Steuerung von Bildungsprozessen ist noch eine Entmündigung der Individuen, in deren Namen fremde Interessen als unumgänglich deklariert werden. Wenn mit dem Rekurs auf die Humanitätsidee heute keine Fragen mehr beantwortet werden können, so kann sie doch als Index für das offene Problem der Bildung dienen, für das sich in einer technizistisch durchgeplanten Bildungswelt kaum noch eine Stimme erhebt. Gerade in der radikalen Konzentration auf das Indi-
36 Siehe dazu kritisch Andreas Gruschka, Verstehen lernen. Ein Plädoyer für guten Unterricht, Stuttgart 2011, S. 138 ff.
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viduum und der Verweigerung politischer Instrumentalisierung ist der Bildungsbegriff Humboldts eminent politisch.
II. Aufsätze
Demokratisches Denken gegen eine „halbierte Moderne“ Beobachtungen zu Henning Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ Von Clemens Kauffmann I. Vor siebzehn Jahren veröffentlichte Henning Ottmann an dieser Stelle unter dem Titel „In eigener Sache: Politisches Denken“ eine programmatische Skizze. Darin entwickelte er seine Gründe dafür, weshalb die Erforschung des Politischen in einer transdisziplinären Gemeinschaftsanstrengung beim politischen Denken in seiner ganzen Breite ansetzen solle und wie dies geschehen könne. „In eigener Sache“, das war durchaus mehrdeutig gemeint. Zum einen war dies institutionell zu verstehen, als diese Initiative aus der Mitte der „Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens“ kam, deren Gründung im Jahr 1989 ganz wesentlich von Ottmann mit ins Werk gesetzt worden war. Sein konzeptioneller Vorstoß konnte als Orientierung für die Arbeit der Gesellschaft dienen. Mit der Gesellschaft war zugleich das Jahrbuch „Politisches Denken“ adressiert, sich seines Auftrags, seines Gegenstandes und seiner Methodik zu vergewissern. „In eigener Sache“, so zeigte sich bald, hatte darüber hinaus eine ganz persönliche Bedeutung. Ottmann hatte sich unterdessen an die Arbeit gemacht, im Alleingang die Geschichte des politischen Denkens aus der Perspektive der Politischen Wissenschaft aufzuarbeiten. Mochte man damals ein solches Vorhaben kaum mehr als durchführbar angesehen haben, so hat er die Skeptiker im Laufe der Jahre widerlegt. Das Vorwort zum abschließenden Band, der im Jahr 2012 erscheinen konnte, eröffnete er wiederum mit einem Satz in eigener Sache, in dem Freude und Genugtuung über das Gelingen mitschwingen: „Voilà, da ist er, der letzte Band dieser Geschichte“ (2012, Bd. 4/2, V)1. Die „Geschichte des politischen Denkens“ fasziniert zunächst einmal durch die enorme Fülle an Material, das in sie eingegangen ist. Über ihren informativen Gehalt hinaus stellt sie eine gewichtige Positionierung im politischen und wissenschaftlichen Raum dar. Die deutschsprachige Politische Wissenschaft war ebenso wie die deutsche Öffentlichkeit nach 1945 nicht arm an Auseinandersetzungen darüber, 1 Verweise auf das Werk werden in den Text unter Angabe der Jahreszahl, der Nummer der Teilbände und der Seitenangabe eingebunden. Jahreszahlen ohne Verweis auf einen Teilband verweisen auf weitere Schriften von Henning Ottmann, die im Literaturverzeichnis angeführt sind.
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was politisches Denken eigentlich ausmache, welche Funktion und Präsenz es in der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik habe, wie man mit ihm umgehen solle hinsichtlich Kanonbildung, Traditionsbestand, der Methodologie und Kritik und nicht zuletzt der Vermittlung im Bildungssystem. Ottmann hat keine langen konzeptionellen Debatten geführt, er hat die unverfängliche Ebene der Metatheorie verlassen und auf dem Boden der kulturellen Tatsachen im direkten und übertragenen Sinne des Wortes „Geschichte geschrieben“. Diese eindrucksvolle und nachhaltige Stellungnahme lädt dazu ein, sie aufzugreifen und in eine breite wissenschaftliche und politische Diskussion zu überführen. Jede ernsthafte Diskussion setzt eine sorgfältige Wahrnehmung dessen voraus, was zu diskutieren ist. Dabei könnte sich der nachforschende Blick in den Details einer Rekonstruktion des zweieinhalbtausendjährigen Kontinuums (nicht nur) westlichen politischen Denkens verfangen und mit Ottmann die Debatte über das Verständnis und die Einbettung einzelner Motive suchen. Das bleibt jenem wissenschaftlichen Diskurs vorbehalten, den dieses monumentale Werk anstoßen will. Etwas anderes ist es, die Position zu vermessen, die Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ repräsentiert. Ottmann selbst ist in dieser Hinsicht nur selten explizit, in der Regel zwingt ihn die Ökonomie der Darstellung zur Sparsamkeit bei selbstexplikativen Äußerungen. Der Spurensucher wird der enormen Breite auch nicht annäherungsweise gerecht werden können. Er wird dankbar sein, wenn er bei versuchsweisen Sondierungen Einsichten gewinnen kann, die ihm Rückschlüsse auf Grundriß und Fundament des Ganzen erlauben. Dieser Absicht dient zunächst eine äußerliche Annäherung an das umfangreiche Werk (II.). Darauf folgt ein Versuch, Ottmanns Ansatz beim politischen Denken und seine systematische Perspektive auszuleuchten (III.). Auf dieser Grundlage kann möglicherweise ein „roter Faden“ aus der Gesamtdarstellung herauspräpariert werden, der Ottmanns eigene Position verortet (IV.). Dies erlaubt es schließlich, Anknüpfungspunkte für die weitere Diskussion vorzuschlagen (V.). II. Henning Ottmann ist in der akademischen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten vor allem durch seine bedeutenden Beiträge zur Hegel- und zur Nietzscheforschung ein Begriff. Der „Geschichte des politischen Denkens“ ging ein Sammelband voraus, den Ottmann 1990 zusammen mit Karl Graf Ballestrem unter dem Titel „Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts“ herausgegeben hatte. In der damaligen Einleitung betonten die Herausgeber bereits die Schwierigkeiten, mit denen das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik im 20. Jahrhundert belastet war. Daraus hat Ottmann offenbar die Konsequenz gezogen, breiter anzusetzen und politisches Denken im allgemeinen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Als eines seiner allgemeinsten Ziele bezeichnet er es, Politik und politisches Denken der verschiedenen Epochen zu begreifen, weil man auf diese Weise „das Programm der Geschichts-
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schreibung erweitern“ könne (2001, Bd. 1/1, 5). Die heute übliche Geschichtsschreibung politischer Ideen und Begriffe wird dem Umfang nach durch die umfassende Perspektive auf alle Epochen seit der griechischen Archaik erweitert. Damit ist auf beiden Seiten ein Relevanzurteil gesprochen, dort wo man antike und mittelalterliche Traditionsbestände in die Selbstvergewisserung demokratischen politischen Denkens einbindet ebenso wie dort, wo das Erbe der Vormoderne als gesunkenes Kulturgut abgetan wird. Das Programm wird aber auch inhaltlich erweitert, indem die Orientierung an Spezialistendiskursen zugunsten eines breiten Fundaments an Quellensorten aufgebrochen wird. Eine erste Orientierung vermittelt der Blick auf die äußere Gestalt der „Geschichte des politischen Denkens“. In Band 1 eröffnet Ottmann auf gut fünfhundertsiebzig Seiten den Blick auf die Gründungsphase der westlichen Tradition politischen Denkens zwischen dem 8. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. Nach einem Kapitel über die „Entdeckung der Politik bei den Griechen“ nimmt die Darstellung den Faden bei der epischen Dichtung Homers und Hesiods auf und trägt ihn über die aristokratische Kultur, die Tyrannis, Sparta, die attische Demokratie und ihre Historiker, schließlich die vorsokratische Philosophie, die griechische Tragödie und die Sophisten zunächst bis zu der Gründerfigur des Sokrates. Es schließen sich auf jeweils mehr als einhundert Seiten große Einzeldarstellungen der politischen Philosophie von Platon und Aristoteles an, auf weniger Raum wird auch Xenophon gewürdigt. Es folgen die Rhetoren und einhundertfünfzig Seiten über den Hellenismus. Band 2 wechselt vom östlichen in den westlichen Mittelmeerraum, um zunächst auf dreihundertsechzig Seiten Rom zu behandeln und auf weiteren gut dreihundert Seiten das Mittelalter. Hier laufen verschiedene Stränge zusammen. Die Ideen des Römertums werden zu einem Gewebe mit der griechischen Philosophie und Geschichtsschreibung verflochten, deren Adaption seit Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. durch die römische Expansion in den Osten als kulturelle Anerkennung eines politischen Konkurrenten betrieben worden war. In Darstellungen des politischen Denkens von Cicero, Caesar, Sallust und Augustus wird der Übergang von der Republik zum Prinzipat nachvollzogen – und zwar aus der Perspektive der politischen Akteure und deren literarischer Reflexion. In diese Situation hinein werden „Politische Lehren des Neuen Testaments“ eingeführt. Sie repräsentieren einen ganz anderen, nämlich auf Offenbarung beruhenden Typus politischen Denkens. Diese Linie wird bis zur Konstantinischen Wende und zum Untergang des heidnischen Roms verfolgt. Die Untersuchungen zum Mittelalter überblicken mehr als eintausend Jahre zwischen Augustinus und dem Konziliarismus des Nikolaus von Kues. Als Leitfaden dienen die für die Epoche entscheidenden Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Religion, die auch mit einem Seitenblick auf den Islam eingeordnet werden. Band 3 behandelt die Neuzeit und ist der umfangreichste Teil des Werkes. Auf gut eintausendeinhundert Seiten erfaßt Ottmann den Zeitraum von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zu Friedrich Nietzsches Tod im Jahr 1900. Schon in der Einleitung zum
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ersten Teilband zieht Ottmann eine Linie der Kontinuität, indem er darauf hinweist, daß die Neuzeit mit der Wiederkehr der Antike begonnen habe. Derlei Hinweise deuten zugleich Ottmanns übergreifende Absicht an, die politischen Einsichten der Antike mit den Errungenschaften der Moderne zu verbinden. Die Neuzeit ist neben der Vielzahl mehr oder weniger breiter Strömungen reich an überragenden Persönlichkeiten. Der Weg zur Amerikanischen und zur Französischen Revolution wird unter anderem in ihnen gewidmeten Einzeldarstellungen vermessen, die – in der Reihenfolge des Kapitelumfangs genannt – Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli, JeanJacques Rousseau, John Locke, Charles-Louis de Montesquieu, Jean Bodin und William Shakespeare gewidmet sind. In der Epoche des Umbruchs ragt Napoleon als Akteur aus den Denkströmungen hervor, welche die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution, den Deutschen Idealismus und die Deutschen Klassiker hervorgebracht haben. Napoleon verkörpere auf seine Weise die Verbindung von Altem und Neuem, er erscheint als moderner Caesar, als Wiederbelebung des antiken Monarchen, der die Errungenschaften der Französischen Revolution in die Zukunft hinein fortschreibt. In den Revolutionen gerinnt die Neuzeit zur Moderne. Das vollzieht Ottmann akribisch auf der Ebene des politischen Denkens nach, ohne die Sensibilität für die fragmentierenden Wirkungen des Projekts der Moderne zu verlieren. Neben den epochalen Schritten auf dem Weg zur Freiheit sind es die Krisen, die den Rhythmus der Moderne bestimmen. Durchaus in Nähe zu Leo Strauss markiert Ottmann die Bruchstellen des politischen Denkens bei Rousseau und Nietzsche. Zwischen ihnen wird ein Bogen gespannt von der inneren Zerrissenheit der Moderne, die in der Spannung zwischen den Identitäten von Bürger und Mensch zum Ausdruck komme, hin zum Nihilismus, in dem die „enorme Zerstörung der geistigen Grundlagen“ auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausweise (2008, Bd. 3/3, 253 f.; vgl. 2006, Bd. 3/1, 2). In dem Gemenge von Fortschritt und Krise entstehen schließlich im 19. Jahrhundert jene Strömungen, deren Kämpfe in den Weltenbränden des 20. Jahrhunderts zu den Eruptionen von Gewalt, Vernichtung und Zerstörung geführt haben. Zwischen Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus erheben sich nur Alexis de Tocqueville als „Denker der Demokratie zwischen alter und neuer Welt“ und schließlich Friedrich Nietzsche, der das künftige Schicksal Europas vorweggenommen habe. Band 4 behandelt auf mehr als neunhundert Seiten das 20. Jahrhundert. Dieses wird in gewisser Weise als eine Darlegung der von Nietzsches Philosophie ausgegangenen Wirkungen verstanden (2008, Bd. 3/3, 254). An Klassikern ragen hier relativ wenige hervor: Max Weber auf vierzig, Carl Schmitt auf sechzig Seiten, Jürgen Habermas auf dreißig und Karl Popper auf fünfzehn Seiten sowie – mit Abstrichen – John Rawls auf etwas mehr als zwanzig Seiten. Möglicherweise war es die „Affinität von Kritischem Rationalismus und Demokratie“, die Ottmann für Popper eingenommen hat und diesem einen Platz in der Nähe von Ottmanns demokratischem Konzept politischen Denkens sichert. Mit Popper wird zugleich eine antiplatonisch gemeinte Wendung zur „Bescheidung“ gegenüber „Überlegenheitsansprüche[n] des Wissens sowie (angeblich) Wissender“ bekräftigt (2012, Bd. 4/2, 135).
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Die innere Struktur der Kapitel ist weitgehend homogen. Sie orientiert sich an der Dreiteilung zwischen historisch-biographischen Hintergründen, einem darstellenden Mittelteil und einer Rezeptionsskizze – ergänzt um biographische Kurzübersichten und ausführliche Literaturhinweise. Inhaltlich entwickelt sich die Darstellung weitgehend unmittelbar an den Quellen. Das ist für den Verfasser aufwendiger, aber es ist ein Zeichen für die Verläßlichkeit und Qualität der Information und es sichert die Einheitlichkeit der darstellenden Perspektive und der beurteilenden Einordnung sowie der immer zu treffenden Entscheidung zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem. Als ein Gewichtungskriterium dient die Bedeutung, die Ottmann den jeweiligen Klassikern beimißt. Anderes wird der Wirksamkeit breiterer Strömungen zugerechnet. Das ist durchaus von inhaltlicher Relevanz, insofern – um nur ein Beispiel zu nennen – Karl Marx nicht mit einem eigenen Kapitel gewürdigt wird, sondern sich mit fünfunddreißig Seiten zwischen frühsozialistischen und spätsozialistischen Utopien zufrieden geben muß. Ottmann antizipiert den Protest, den diese Einordnung bei manchem Leser provozieren könnte (2008, Bd. 3/3, 147). Aber er sieht in Marx einen Türöffner für die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und hält ihn historisch für überholt. Gewichtiger könnte sein, daß Marx „überhaupt kein Gespür für die Bedeutung der modernen Rechte“ gehabt habe (2008, Bd. 3/3, 148). Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ ist in einer angenehm distanzierten Sprache geschrieben. Nirgendwo gibt es einen Jargon, kaum je eine Empörung. Der Fluß der Darstellung ist leicht und nicht selten mit Witz und Ironie verfeinert. Vielleicht gilt für seine eigene Darstellung, was er an Tocquevilles Sprache rühmte: „Kein Sturm kräuselt die glatte Oberfläche, die gleichwohl nicht ohne Tiefe ist“ (2008, Bd. 3/3, 109). Hinsichtlich der begrifflichen Fixierung ist Ottmann einer Kontinuitätsthese verpflichtet. Er zeigt keinerlei Berührungsangst zwischen moderner Terminologie und älteren Ideen. So sei die griechische Volksversammlung „öffentlich-rechtlich“ konstituiert (2001, Bd. 1/1, S. 31). Athens Politik wäre „imperialistisch“ gewesen (2001, Bd. 1/1, 147 f.). Sparta könne man als „totalitäre Gemeinschaft“ (2001, Bd. 1/1, 90; vgl. 2006, Bd. 3/1, 506) verstehen. Die attische Demokratie habe „ein Verfahren der Normenkontrolle“ besessen, in dem jeder Bürger ein Dekret „als materiell oder formell verfassungswidrig verklagen“ konnte (2001, Bd. 1/1, 107). Pythagoras bringe eine „Umwertung der Werte“ (2001, Bd. 1/1, 163; vgl. 192). Platon habe die „politische Theologie“ erfunden (2001, Bd. 1/2, 84, vgl. 96, 99). In diesem Geist richtet sich die Analyse an begriffsgeschichtlichen Elementen und an Termini politischer Relationen aus. Das gilt beispielsweise für die Spannung zwischen Altem und Neuem wie für die zwischen Republikanismus und Liberalismus (2006, Bd. 3/1, 6 f.; vgl. 2010, Bd. 4/1, 322, 410; 2012, Bd. 4/2, VI). Die „entscheidende Frage“ liegt für Ottmann „darin, daß in den Sozial- und Geisteswissenschaften die jeweils gewählte Sprache die ,Tatsachen‘ immer schon normativ prägt. Durch die gewählte Begrifflichkeit wird die normative Bedeutung quasi geschaffen […]. Mit der Wortwahl ändert sich das Phänomen selbst“ (2012, Bd. 4/2, 143; vgl. 2010, Bd. 4/1, 53, 58 f.). Diese Bemerkung kann zugleich als eine kritische Wendung gegen Max Webers Postulat der Wertfreiheit gelesen werden. Soziale und politische
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Phänomene erschließen sich erst in Wertungen, so Ottmann, weil die Sprache, mit der man sie zu fassen versuche, immer werte. Dem entsprechend müsse die Politische Wissenschaft „zwischen guten und schlechten Herrschaftsformen, zwischen Demokratie und Diktatur wertend unterscheiden können. Tut sie dies nicht, wird sie zur bloßen Technik, die für jedes Regime verwendbar ist“ (2010, Bd. 4/1, 59). III. Henning Ottmann hat sich der enormen Herausforderung einer Geschichte des politischen Denkens in Alleinautorschaft gestellt. Schon angesichts des zu bearbeitenden Materials – von anderen Herausforderungen ganz zu schweigen – verlangt ihm seine Entscheidung vieles ab. Er ist sich dessen ganz und gar bewußt, wie manche Äußerungen zeigen (z. B. 2002, Bd. 2/1, 157; 2006, Bd. 3/1, 7, 11). Sie hat ihm aber auch den Vorteil verschafft, in der „Geschichtsschreibung aus einer Hand systematische Perspektiven entwickeln und ihnen treu bleiben“ zu können (2001, Bd. 1/1, V). Um welche systematischen Perspektiven handelt es sich dabei? Im Hintergrund von Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ wirkt ein explizit demokratisches Konzept politischen Denkens. Das wurde bereits zu Beginn des Unternehmens deutlich, als er 1996 grundsätzliche Überlegungen in einem Sechs-Punkte-Programm zur Diskussion stellte. Was ist das Ergebnis dieser Verbindung von wissenschaftlichem Programm und demokratischem Impuls? Erstens ist die enge Verflochtenheit von politischem Denken und Lebenswirklichkeit für Ottmann von grundsätzlicher Bedeutung. Politisches Denken habe in seiner Breite und Vielfalt einen geringeren Abstand zur Lebenswirklichkeit als andere kognitive Phänomene (1996, 1). „Politik läßt sich aus dem Zusammenhang des Lebens nicht lösen“ (2012, Bd. 4/2, V). Diese Grundeinsicht mag selbstverständlich klingen, sie ist es aber nicht für eine sich zunehmend „professionalisierende“ Politikwissenschaft. Ottmanns Verweigerung der Lebensferne ist der Motor seiner „Geschichte des politischen Denkens“. Politik aus ihrer Eingebundenheit in die Lebenszusammenhänge der Generationen, der Jahrhunderte und der Jahrtausende verstehen zu wollen, bedeutet, sie breit einzukreisen, sie aus den Fesseln einer Politikwissenschaft, einer politischen Theorie, einer politischen Philosophie oder gar aus einer politischen Doktrin zu befreien. Genau das ist eines von Ottmanns Zielen, das politische Denken der Menschen aus ihrer politischen Erfahrung und die dabei hervortretende Pluralität der Standpunkte in demokratischer Öffentlichkeit sprechen zu lassen. In diesen Zusammenhang kann die Unterscheidung von klassisch Zeitlosem und Zeitgebundenem gestellt werden (2001, Bd. 1/1, 2). Klassisch – zeitgebunden, das ist eines der Begriffspaare, zwischen denen Ottmanns „Geschichte“ aufgespannt ist. Woran entscheidet sich, wer ein Klassiker ist? „Unerschöpflichkeit und zeitlose Gegenwärtigkeit machen den Klassiker aus“, lautet Ottmanns Antwort. Klassisch „ist ein Werk, das immer aktuell und immer lesenswert ist“ (2001, Bd. 1/1, 1). Klassiker setzen Maßstäbe, sie sind „Richtschnur und Muster“ (2001, Bd. 1/1, 2). Sie stehen
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über den politischen Lagern (z. B. Tocqueville 2008, Bd. 3/3, 108). Klassiker sind unverzichtbar, aber eine Beschränkung der Geschichtsschreibung auf die Klassiker hieße, sich „auf einen Höhenweg des Geistes“ zu begeben, „auf einen Gipfelweg von Denker zu Denker“, auf dem man in Gefahr geriete, die Niederungen der politischen Wirklichkeit und die Talsohlen der politischen Erfahrung aus dem Blick zu verlieren. Die Politik der Zeit ist die Quelle allen politischen Denkens. Häufig taucht die Beurteilung auf, ein Denkmuster entspreche „der Stimmung der Zeit“ (vgl. 2001, Bd. 1/ 1, 11; 2001, Bd. 1/2, 265; 2002, Bd. 2/1, 205, 224; 2008, Bd. 3/2, 257; 2008, Bd. 3/3, 109, 261; 2012, Bd. 4/2, V, 40, 51, 57; 2010, 70). Es gehört zu Ottmanns Axiomen, daß mehr oder weniger jede Reflexion auf die Politik „aus der Erfahrung politischer und sozialer Krisen“ entstehe (2001, Bd. 1/1, 2). Die Geschichtsschreibung müsse demnach neben den Klassikern auch die breiteren Strömungen in den Blick nehmen. „Wer das Bleibende und Stets-Aktuelle erkennen will, muß ebenso begreifen, was eine Zeit in ihrem ureigensten Verständnis umgetrieben hat“ (2001, Bd. 1/1, 2). Das demokratische Konzept politischen Denkens ist zweitens offen für die Interdisziplinarität der Politischen Wissenschaft (1996, 2). Ottmann ist es wichtig, die peinliche Perspektive des Fachegoismus aufzubrechen und die philosophischen, theologischen, ökonomischen, rechtlichen, historischen und gesellschaftlichen Gesichter der Politik zu zeigen. Dieser breite Ansatz ist programmatisch in der Aufgabenstellung einer „Geschichte des politischen Denkens“ gebündelt. Das bringt es auch mit sich, daß Ottmann weniger einen akademischen Dialog mit Deutungskonkurrenten führt als daß er „welthistorische Individuen“ (2010, Bd. 4/1, VI), Denker, Dichter und andere Künstler zu Wort kommen läßt und ihre Kunstwerke, Bauten und Denkmäler zu seinen Quellen zählt. Zum demokratischen Konzept des politischen Denkens gehört es, schon auf der vorwissenschaftlichen Ebene die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche als autonome Provinzen eigener Dignität stehen zu lassen. Keine praktische Orientierung werde erst durch ihre Rückbindung an eine grundsätzlichere, zum Beispiel philosophische Reflexion oder ein genauer auszuweisendes Wissen gültig – sie steht für sich und trägt als solche zum Begreifen von Politik bei. Ein solcher Zugang kann das Untersuchungsfeld danach ordnen, wie weitgehend ein Autor eine epistemische Rückbindung als Fundierung verlangt. Er unterstreicht zudem das Bedürfnis nach einem interdisziplinären Verständnis von politischer Wissenschaft. Drittens sei politisches Denken praktisch orientiert und vom Interesse am politischen Handeln geleitet (1996, 6). Ottmann favorisiert entschieden ein Politikverständnis, das er mit dem Klassiker Aristoteles und der „Neo-Klassikerin“ Hannah Arendt verknüpft. Demokratische Politik spielt sich nach dieser Vorstellung in einem Bezugsraum ab, in dem Menschen im „Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln“ die gemeinsamen Angelegenheiten regeln (2001, Bd. 1/1, VI, 11, 14; 2001, Bd. 1/2, 111; 2004, Bd. 2/2, 132; 2010, Bd. 4/1, 444; 2012, Bd. 4/2, 115). Bei aller Hochschätzung des vernünftigen Miteinanders erwächst aus der praktischen Orientierung des politischen Denkens in der Demokratie eine spezifische Normativität. Ottmann gibt in seiner Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas gegenüber dem Diskursmodell zu bedenken, daß Miteinander-Reden stets ambivalent
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bleibe und es nur „gemeinschaftsförderlich“ wirken könne, „wenn ihm ein Wille zur Verständigung vorausgeht“ (2012, Bd. 4/2, 118). Der diskursive Austausch von Gründen stoße in der räumlichen und zeitlichen Beschränkung konkreter Politik an eine natürliche Grenze, man müsse angesichts der Handlungserfordernisse auch die Rationalitätserwartungen, die an politische Diskurse gestellt werden können, dämpfen und dürfe nicht unterschlagen, daß das Reden in Entscheidungen münden und den Worten Taten folgen müßten. Dies alles geschehe zudem im Rahmen einer repräsentativen Demokratie, in der man nicht nur miteinander rede, sondern „einige für andere reden (und entscheiden)“ (2012, Bd. 4/2, 120). Die pragmatische Grundhaltung führt zu einem nüchternen Erwartungshorizont. „Entscheidungen, so muß man hoffen, gewinnen durch vorausgehende Diskussionen an Qualität“ (2012, Bd. 4/2, 119). Viertens liegt eine der wichtigsten Grundentscheidungen für das demokratische Modell politischen Denkens in der Überzeugung, daß es keinen privilegierten Zugang verlange (1996, 6). Die Erfahrungen des Bürgers und des Künstlers seien ebenso belangvoll wie die des Intellektuellen oder des Politikwissenschaftlers. Mehr noch: „,Experten‘ für Politik sind wir alle. Der Begriff des ,politischen Denkens‘ bringt diese Urkapazität eines jeden Bürgers zum Ausdruck“ (2001, Bd. 1/1, 3; 1996, 1). Eine Geschichte des politischen Denkens habe sich fünftens des kognitiven Status ihres Gegenstandes zu versichern, der irgendwo zwischen bloßer Meinung und exakter Theorie anzusetzen sei (1996, 6). Das Wechseln zwischen den unterschiedlichen epistemischen Ebenen, die in der Welt politischen Denkens vorzufinden sind, macht einen flexiblen hermeneutischen Anspruch erforderlich. Unterschiedliche Epochen und Kulturen erfordern jeweils eigene hermeneutische Instrumente. Typen des Denkens produzieren ihre besonderen Argumentationsformen und Darstellungsmittel. Verschiedene Medien und Sprachen müssen verstanden, Widersprüche zwischen den Denkern und ihren Denkarten, innerhalb der Werke selbst und in der enormen Tradition der Rezeption müssen ausgehalten werden. Gerade in den Rezeptionsgeschichten sei immer wieder zu beobachten, daß vor allem die „Großen“ „an alle politische Fronten gezerrt“ wurden (2006, Bd. 3/1, 302). Da ist es nur angemessen, wenn Ottmann in vielen Fällen unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten offenlegt und darauf hinweist, daß die Quellen verschiedenen Lesarten Nahrung geben können (2006, Bd. 3/1, 432 zu Montesquieu). Abschließende Beurteilungen wird man deswegen seltener finden als – wie in Machiavellis Fall – einen abwägenden „Versuch eines Urteils“ (2006, Bd. 3/1, 55). Der Ansatz beim politischen Denken führt nach Ottmann zu einer „Hermeneutik, welche ,Realfaktoren‘ und ,Ideen‘ aus ihrer vielfältigen Verflochtenheit versteht“ (1996, 3). Dabei suchte er eine Mittelposition, vielleicht eine Art konstruktive Synthese zwischen Reinhart Kosellecks „Historischer Semantik“, Joachim Ritters „hermeneutischer Hypolepsis“, der Immanenzhermeneutik von Leo Strauss (vgl. dazu den Hinweis auf Heidegger 2010, Bd. 4/1, 348) und dem „Kontextualismus“ der
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Cambridge School. Ottmann steht für eine synthetische Hermeneutik, in der scheinbar gegenläufige Tendenzen als wechselseitige Korrektive verstanden werden können. Sechstens ist für Ottmanns Interpretationsansatz die Überzeugung maßgeblich, daß politisches Denken der freiheitlichen Ordnung verpflichtet sein müsse (1996, 7). Die Bindung an die Demokratie ist eine zweiseitige. Einerseits wird die Geschichte politischer Denkmuster von ihren demokratischen Implikationen her gedeutet, andererseits werden bestimmte Denkmuster als notwendige Voraussetzung demokratischer Politik anerkannt. Ohne ein politisches Denken, das mehr bürgerliche Erfahrung denn Spezialistendiskurs ist, könne es keine freiheitliche Politik geben. Das demokratische Leben ruhe auf bestimmten öffentlichen Überzeugungen als seiner eigentlichen Grundlage (2012, Bd. 4/2, 143). Es ist demnach ein demokratisches Erfordernis, „daß wir jedermann ein politisches Urteil zutrauen, gleichgültig, wie gebildet oder nicht gebildet er ist“ (2010, Bd. 4/1, 492). Die Bindung politischen Denkens an die Demokratie rückt folglich in den Rang eines hermeneutischen Prinzips auf. Autoren und Strömungen können je nach ihrem Abstand zu diesem Konzept positioniert werden. Der Dichtung wird in einer solchen historischen Konstruktion ein anderer Ort zukommen als der praktischen Erfahrung, der Sophistik ein anderer als der Wissenschaft, der Religion ein anderer als der Philosophie. Die demokratiebasierte Hermeneutik läßt sich mit einem weiteren Aspekt von Ottmanns systematischer Perspektive verbinden, nämlich der Annahme eines demokratischen Kontinuums, das in der „Geschichte des politischen Denkens“ greifbar wird und das die Dichotomie von antik und modern überbrückt (2001, Bd. 1/1, 11 f., 110). Generell könne für die antike Demokratie gelten: „Alles was wir heute an schätzenswerten Einrichtungen besitzen, ist damals erfunden worden: Wahlverfahren und Annuitätsregeln, Rechenschaftsablagen und Amtskontrollen, Rederecht und Klagerecht für jedermann. Jeder Bürger war Mitglied der Volksversammlung; jeder konnte Richter in den Gerichtsversammlungen sein – eine unglaubliche Leistung politischer Organisation“ (2001, Bd. 1/1, 12). Diese Gesamtperspektive leuchtet Ottmann im Einzelfall aus. Die Bedeutung von Solons „Eunomia“ verortet er in der „Geburt einer Grundvoraussetzung der Demokratie: der verantwortlichen Politik“ (2001, Bd. 1/1, 98). Selbst noch die politischen Defizite der Tyrannis wirkten demokratiefördernd – „die Demokratie hatte viele Väter, darunter auch einige, die es unfreiwillig gewesen sind“ (2001, Bd. 1/1, 94). Aristoteles trug seinen Teil in Form der postplatonischen praktischen Philosophie bei: „Aristoteles stellt sie, – wenn man so sagen darf – ,ganz modern‘ nicht mehr auf eine metaphysische Grundlage. Seine praktische Philosophie ist Ethik und Politik ohne Metaphysik“ (2001, Bd. 1/2, 113). Aus dieser übergreifenden Perspektive ergibt sich ein Bild, das sich als Ottmanns eigentliches Anliegen verstehen lassen könnte: „Warum sollen sich antike Politik und moderne Freiheit nicht miteinander vereinen lassen?“ (2001, Bd. 1/1, 12) Die Absicht, Kontinuitäten in der Großgeschichte des politischen Denkens fruchtbar zu machen, setzt für Ottmann einen reflektierten Umgang mit Denkfiguren aus entfernteren Zeitschichten voraus. Man müsse sich, wolle man Zugang zu ihnen finden, „a) mit der Wirkungsgeschichte
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eines Textes befassen, b) die eigenen Vorurteile reflektieren und c) diese am Text bewähren oder revidieren“ (2010, 73). Ottmanns Sorge gilt den versteckten normativen Implikationen eines demokratiebasierten Interpretationsansatzes und den „hermeneutischen Vorgaben“, die aller Kritik und aller technischen Rationalität vorausgehen und die „einzuholen und zu diskutieren sind“ (2012, Bd. 4/2, 142). Im Vorwort zum ersten Band der „Geschichte des politischen Denkens“ nimmt Ottmann zwei Selbst-Positionierungen vor. Einerseits stünde er „der neoklassischen Philosophie der Gegenwart nahe“ (2001, Bd. 1/1, VI; 2010, Bd. 4/1, V), andererseits sei er „einem Modernitätskonservatismus verpflichtet“, dessen Ziel es sei, „die Voraussetzungen der modernen Freiheit zu bewahren, die diese aus sich selbst nicht garantieren kann“ (2001, Bd. 1/1, VI). Konservatismus ist für Ottmann ein vielschichtiges politisches Phänomen, das selbst ein Krisenkind der Moderne ist und deshalb nicht modernitätsfeindlich sein muß. „Ein attraktiver Konservatismus liegt irgendwo in der Mitte zwischen Kritik und Apologie der Moderne. In seinen besten Formen ist er der Versuch, die nicht-modernen Bedingungen der Möglichkeit moderner Freiheit zu bewahren, die die Moderne aus ihren eigenen Ressourcen nicht sicherstellen kann“ (2008, Bd. 3/3, 4). So sei die moderne Emanzipation des Menschen als Menschen bewahrungswürdig, sie müsse sich aber mit den herkunftsgestifteten Bindungen vereinbaren lassen. Dazu gehört der Optimismus des klassischen politischen Denkens, für „Wertungen“ vernünftig argumentieren zu können. Hier haben Ottmanns Hegelstudien nachhaltig gewirkt, habe doch Hegel antike Sittlichkeit und moderne Freiheit zusammen denken können (vgl. 2008, Bd. 3/2, 222). Ottmann setzt demnach auf Kontinuitäten in der Geschichte des politischen Denkens in der Annahme, es „würde der Blick auf die Moderne wohl entdramatisiert, wenn man von vornherein auch die Kontinuitäten und sich durchhaltenden Begriffe in Ansatz brächte“ (2010, 71). An der „neo-klassischen“ politischen Philosophie rügt Ottmann generell die Schärfe ihrer Modernitätskritik. Diese sei zwar „zu beachten“, aber mancher „Neo-Klassiker“ sei über das Ziel hinausgeschossen (2010, Bd. 4/1, 408; vgl. 2010, 67 f.). Es sind vor allem Leo Strauss und Eric Voegelin, die wegen ihres „Antikizismus“ das „modernitätsverträgliche Potential“ der Aristotelischen politischen Philosophie „teilweise wieder verspielt“ hätten (2001, Bd. 1/2, 215; vgl. 2010, 72). Daß es auch ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg noch keinen Anlaß für eine Modernitätseuphorie gibt, zeigt sich in Ottmanns Kritik jedes „Modernismus“ und seines universalistischen Utopismus (vgl. 2012, Bd. 4/2, 120). Das „Sowohl-als-auch“ von Ottmanns Modernitätskonservatismus bestimmt seine Einordnung der Epochen. Er verweigert sich jedem Versuch, die Neuzeit über einen Kamm zu scheren und entweder als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte zu lesen. Es kommt ihm darauf an, ihre Ambivalenzen und Widersprüche ernst zu nehmen (2006, Bd. 3/1, 3, 8, vgl. 2010, Bd. 4/1, 341). Ein starkes Motiv dafür ist die Einordnung des Totalitarismus, den man weder angesichts der zivilisatorischen Fortschritte der Moderne als Betriebsunfall abtun noch angesichts der Schwächen als einzige Konsequenz hinstellen dürfe. Aber man könne die totalitären Diktaturen und
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Bewegungen „als primär moderne Formen der Herrschaft verstehen“ (2010, Bd. 4/1, 341). IV. Wie gelingt es Ottmann, die Verbindung von antiker Politik und moderner Freiheit wirksam herzustellen? Er beginnt die Darstellung im antiken Griechenland. Zwar habe es „Politik immer schon gegeben“, aber in einem „anspruchsvollen Sinn“ könne man von Politik „erst seit den Griechen sprechen“ (2001, Bd. 1/1, 12). Das gilt insbesondere für Homer, denn bei ihm „beginnt die griechische Entdeckung der Politik, die die Entdeckung des Handeln-Könnens voraussetzt“ (2001, Bd. 1/1, 21). Der griechische Weg des politischen Denkens ist für die westliche Zivilisation von so erheblicher Bedeutung, weil er auch ein Weg zur Demokratie war. Ottmann mag indessen keine intentionale Struktur in der Entwicklung des Denkens für die Herausbildung der Demokratie erkennen. Zwar sei anspruchsvolle Politik im Sinne des Miteinander-Handelns und Miteinander-Sprechens in Griechenland entstanden, aber die wichtigen „Stationen des Weges waren nicht geplant und nicht gewollt“ (2001, Bd. 1/1, 71). Das würde allerdings bedeuten, daß politisches Denken keine begründende Funktion für die Ausprägung und Existenzweise politischer Ordnungen und folglich auch nicht für die attische Demokratie haben mußte. „Die Geburt der Demokratie entsprang keinem Plan und keinem politischen Programm. Sie war nicht das Resultat einer politischen Theorie. […] Man wollte dies oder das, aber heraus kam die Demokratie“ (2001, Bd. 1/1, 93). Immerhin gebe es einen „Geist der Demokratie“ (2001, Bd. 1/1, 99) und habe die attische Demokratie „eine enorme Urteilsfähigkeit der Bürger“ (2001, Bd. 1/1, 110) vorausgesetzt. Die Darstellung des ersten Bandes verbindet Denkfiguren mit Historischem, mit der institutionellen Entwicklung der Polis und ihrer Verfassungsordnungen. Die Totenrede des Perikles ist für Ottmann „der Höhepunkt des griechischen politischen Denkens vor der klassischen politischen Philosophie, die reflektierteste Synthese der großen Tendenzen der griechischen politischen Kultur, der agonalen und der politischen“ (2001, Bd. 1/1, 135; vgl. 2001, Bd.1/2, 11). Von Bedeutung für die Gesamtentwicklung sei auch die Entdeckung der „traditionellen“, der „reinen“ Theorie durch die Griechen gewesen, mit der zugleich die Wissenschaft geboren worden wäre (2001, Bd. 1/1, 158 f.). Ottmann mißt dem Werden der Wissenschaft eine eminente politische Bedeutung bei: „Im Blick auf die Entstehung der westlichen Rationalität ist die Entdeckung der Theorie ein gar nicht zu überschätzender Schritt. […] Erst durch die Entdeckung der Theorie wird der Mensch frei, weil man nur in dem frei sein kann, was man begreift und durch das Begreifen zum eigenen macht. So besehen ist nichts ,nützlicher‘ (und auch nichts ,politischer‘) als Theorie!“ (2001, Bd. 1/1, 159) Aus diesem Blickwinkel beansprucht Ottmann, mit einer politischen Lektüre der Vorsokratiker „Neuland“ zu betreten. In der Weite des Begriffs des politischen Denkens finden alle Erscheinungen ihren Ort. Nachdem Ottmann die politische Bedeutung der Philosophie als Wissenschaft hervorgehoben hat, ordnet er auch die Sophistik in diese Tradition ein. Er spricht von einer „sophistischen Philosophie“ (2001,
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Bd. 1/1, 213). „Das Fragen des Sokrates und die Geburt der klassischen Philosophie entspringen derselben Krise, auf welche auch die Sophistik eine Antwort zu geben versucht. Es ist die Krise des Herkommens, des Zerbrechens der Einheit von göttlichem und menschlichem Nomos, von Gesetz und Natur. Sophistik und klassische Philosophie bezeugen beide, daß auf die Krise der Herkunft durch das Miteinander-Reden zu antworten war. Der Dialog des Sokrates und die Rhetorik der Sophisten gehen aus demselben Ursprung und derselben Krise hervor“ (2001, Bd. 1/1, 212, vgl. 234). Sokrates müßte im Zentrum von Ottmanns Überlegungen stehen, ist der doch „der letzte Philosoph, der zugleich noch Bürger sein will“ (2001, Bd. 1/1, 251, vgl. 235, 237). In ihm, dem Begründer der politischen Philosophie, manifestiert sich die Zusammenkunft und die Wirklichkeit von politischem Denken und politischer Erfahrung. Es ist aber jener Sokrates, der in Platons Dialogen präsentiert wird, dem Ottmann mit Skepsis begegnet. Ottmanns Lesart ist Platon-kritisch angelegt. Der Platonische Sokrates, ein „Obermanipulator“ (2001, Bd. 1/2, 40), sei ein Verächter der Demokratie gewesen und habe das demokratische Credo – Politik halte man für das, was jeder kann –, das Ottmanns Geschichte die Richtung weist, zurückgewiesen (2001, Bd. 1/ 2, 11, vgl. 227). Platon selbst habe sich mit der Demokratie „einen Spaß gemacht“ und, diese Bemerkung taucht immer wieder auf, von ihr nur eine Karikatur gezeichnet (z. B. 2001, Bd. 1/1, 12, 110, 216; 2001, Bd. 1/2, 24, 205). Platons Lehre der „Politeia“ komme mit ihrer Gleichberechtigung der Geschlechter und dem Kommunismus einer „Kulturrevolution“ gleich und spreche sich für die Herrschaft von Experten aus, die mit dem „Paternalismus des Fachmanns“ eine elitäre Hierarchie zu etablieren gesucht hätten (2001, Bd. 1/2, 39, 41, 45, 55, 111). War Ottmann in der sehr grundsätzlichen „Einleitung“ zum Gesamtwerk davon überzeugt, oft sagten „die Dichter mehr über Politik als die Philosophen“, und „besser sagen sie es sowieso“, dann mußte ihm Platons Dichterkritik in der „Politeia“ als „ein Rätsel und ein Stein des Anstoßes“ erscheinen (2001, Bd. 1/1, 3; 2001, Bd. 1/2, 41). „Die Konkurrenz mit den Dichtern hat dem Philosophen das Auge getrübt“ (2001, Bd. 1/2, 45). Diese Sichtweise auf Platon ist nur konsequent, wenn die breite und offene Geschichte des politischen Denkens zum Ausgangspunkt des Begreifens von Politik gewählt wird. Jede Position, die auf eine qualifizierte Entfaltung der Vernunft im Wissen und im politischen Wirken setzt, wird als exklusiv erscheinen müssen. Und das kann dem Eindruck eines hierarchischen und antidemokratischen Ordnungsdenkens Vorschub leisten (vgl. 2001, Bd. 1/2, 55). Vor dem Vorwurf des „Totalitarismus“ möchte Ottmann Platon indessen bewahren, da immerhin in den „Nomoi“ eine Kehrtwende vollzogen worden und eine Annäherung an das Gesetz festzustellen wäre. Und das habe – im steten Rückblick auf die „Politeia“ – viel „Neues“ hervorgebracht (2001, Bd. 1/2, 82, 88 – 95, 101; 2002, Bd. 2/1, 114). Aristoteles steht für das in der klassischen Antike, was Ottmanns Konzept des politischen Denkens am nächsten kommt. „Platon empfahl eine Expertokratie. Aristoteles gibt eine Rechtfertigung der Bürgerpolitik. […] Politik kehrt zum MiteinanderReden und Sich-Beraten gleichberechtigter Bürger zurück“ (2001, Bd. 1/2, 111,
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vgl. 194). Aristoteles repariert im griechischen Denken, was Platon beschädigt hatte. Vor allem habe er das Einheitsdenken durch „Pluralisierungen“ aufgelöst und die Konkurrenz zwischen Philosophie und Dichtung beendet (2001, Bd. 1/2, 119, 132, 173, 187). Ottmann hebt insbesondere die „Eigenart und Eigenständigkeit“ (2001, Bd. 1/2, 137) der praktischen Philosophie des Aristoteles hervor. Diese Eigenständigkeit ist einerseits als philosophische, wissenschaftlich-methodische und disziplinäre Eigenständigkeit zu verstehen, indem Aristoteles Politik nicht von metaphysischen oder theologisch-mythischen (2001, Bd. 1/2, 176) Prinzipien her grundlegen wollte, sondern von der Normalität des bürgerlichen Lebens her verstanden habe. In politischer Hinsicht ist die praktische Philosophie andererseits weniger eigenständig, weil sie „an das bereits bekannte Wissen und die schon gemachten Erfahrungen anknüpft“ (2001, Bd. 1/2, 185). „Die Politik des Aristoteles besitzt damit eine anthropologische Grundlegung, die der politischen Praxis der attischen Demokratie nahesteht. Die Anthropologie ist eine rhetorische. Sie versteht den Menschen als das Wesen, das sich mit anderen bereden und aus dem Sich-Bereden und Beraten zum klugen Handeln und zum Glück finden kann“ (2001, Bd. 1/2, 178). Nun schließt sich der Kreis, indem Ottmann Aristoteles als denjenigen identifiziert, der mit Hilfe der Summierungstheorie die öffentliche „Deliberation“ der Bürger jedem Fachwissen überordnet, weil in der Politik wie beim Kochen „nicht den Fachleuten, sondern den ganz gewöhnlichen Normalverbrauchern und Normalbürgern das bessere Urteil zu[steht]“ (2001, Bd. 1/2, 195). Von diesem systematischen Ort leitet sich der demokratische Impuls her, der Ottmanns Konzeption politischen Denkens auszeichnet. Dieser Grundauffassung hinsichtlich der Aristotelischen praktischen Philosophie ordnet Ottmann auch das Aristotelische Naturrecht ein, das sich „nur auf die relativen Allgemeinheiten des praktischen Wissens [gründe], die bei Aristoteles Orientierung in der Welt der veränderlichen Handlungen sind“ (2001, Bd. 1/2, 154). Ottmann verteidigt in dieser Einstellung den hohen Rang, den das politische Leben neben dem theoretischen genieße. Es behalte sein eigenständiges Recht und „dies sogar mehr, als es der Wortlaut der aristotelischen Darstellung deutlich macht“ (2001, Bd. 1/2, 171). Auch stehe nicht die „beste“ Verfassung im Zentrum von Aristoteles‘ Politikbegriff, sondern eine „gute“ (2001, Bd. 1/2, 172, vgl. 197, 209 – 212). Diese gute Verfassung ist die Mischverfassung der Politie. Sie ziehe als „bürgerpolitische, republikanische Verfassung“ bis zum heutigen Tag „alles Interesse auf sich“ (2001, Bd. 1/2, 199). Daß dies nicht immer so war, bezeugt Ottmanns Bemerkung, der zufolge „Machiavelli seinen Principe aus den Tyranniskapiteln der Aristotelischen Politik abgeschrieben hat“ (2001, Bd. 1/2, 202; vgl. 2006, Bd. 3/1, 30). Diese postulierte Verbundenheit zur Lebenswirklichkeit läßt Aristoteles zu einem Paradebeispiel für Ottmanns Konzept des politischen Denkens avancieren. Und so entsteht in wechselseitiger Bereicherung ein Bild politischen Denkens und demokratischen Lebens, das ganz wesentlich von Aristoteles inspiriert ist und dem im Gegenzug Ottmanns moderne Vorstellungen „mit verschiedenen Argumenten zu Hilfe eilen“ (2001, Bd. 1/2, 171).
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Das griechische Politikverständnis hatte es schwer, sich in den Zeitläuften zu behaupten. Einen Grund sieht Ottmann in der Konkurrenz von Politik und Religion. Die christliche Offenbarung habe „ein neues politisches Denken in die Welt“ gebracht (2002, Bd. 2/1, 202). Mehr noch: die Paulinische Theologie habe das antike Denken „revolutioniert“ (2002, Bd. 2/1, 215). Die klassische Kardinaltugend der Gerechtigkeit wurde aus der Sphäre des Menschlichen herausgelöst. Ein neuer Boden für die Gleichheit der Menschen wurde eingezogen, der zugleich zum Boden für die grundlegende Ungleichheit zwischen Gläubigen und Ungläubigen geworden wäre. Ottmann nähert sich dem schwierigen Thema zunächst historisch. Er stellt biblische Quellen und religiöse Bewegungen vor. Der Text des Neuen Testaments wird nicht selten „aus der jeweiligen Zeitlage“ seiner Autoren erläutert (2002, Bd. 2/1, 224). Die Hauptfrage, die sich stelle, lautet: „Wie politisch ist der Tod am Kreuz?“ (2002, Bd. 2/1, 207) Historisch gesehen habe es sich bei der Kreuzigung um eine „politische Hinrichtung“ gehandelt, der allerdings „ein Fehlurteil, ein welthistorisches Mißverständnis“ zugrunde gelegen habe. Durch das Fehlurteil einer Obrigkeit könne aber nicht alle Obrigkeit delegitimiert werden. Als „Grundbedingung“ hält Ottmann fest, im Christentum finde sich ein politisches Denken, welches die Politik „auf eine nie dagewesene Weise relativiert“ habe (2002, Bd. 2/1, 202). Mit dem Christentum kommt daher nicht notwendigerweise eine antipolitische Gegenwelt ins Spiel. Ottmann scheint der Auffassung zuzustimmen, daß – obwohl es einen „Kampf der Religionen und geistigen Mächte“ gegeben habe (2002, Bd. 2/1, 228) – die politischen Lehren des Neuen Testaments angemessen im Horizont der Zwei-ReicheLehre zu denken wären (2002, Bd. 2/1, 209, 224). Im theologischen Zusammenhang des christlichen Denkens bedeute das insbesondere, daß die Politik von der Sorge um die letzten Ziele des menschlichen Lebens „entlastet“ werde (2002, Bd. 2/1, 224; 2004, Bd. 2/2, V). Dies ist im Sinne einer Trennung von Politik und Religion zu verstehen. Damit ist auf Augustinus verwiesen. Es ist Augustinus, dessen Auffassung Ottmann in der religiösen Frage durchaus folgt. So ist in dem Kapitel, das Augustinus gewidmet ist, zu lesen, die „Scheidung von Politik und Religion“ habe ihn interessiert, die „Herabsetzung aller politischen und irdischen Ziele zu vorletzten“, und dies sei „für die freiheitliche Entwicklung des Westens von enormer Bedeutung gewesen“ (2004, Bd. 2/2, 23 f., 26 f.). Mit Augustinus die Politik von der Religion zu trennen, zielt bei Ottmann darauf ab, die Verbindung zwischen beiden Bereichen zu kappen. Es gehe dabei um eine wirkliche „Depotenzierung der Politik“ (2004, Bd. 2/2, 26 f., 30, 31), um ihre „Zurückstufung“ auf ein realistisches Maß an Rationalität, Gemeinsamkeit und Eintracht (2004, Bd. 2/ 2, 31). Sie diene als „Korrektiv erwartbarer Übel“ (2004, Bd. 2/2, 31) und braucht sich um die letzten, die entscheidenden menschlichen Dinge nicht zu kümmern. Von hier aus wird die demokratische Note verständlich, nach der das politische Denken Sache von jedermann ist. Ottmann ist vollkommen bewußt, daß hinter den Kulissen des religiösen und kirchlichen Lebens ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt war und daß Politik im Sumpf des Verbrechens fußen kann. Aber das gilt als anthropologische Realität,
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der die Vernunft der Institutionen entgegenzusetzen wäre. Geschichtlich ist gewiß kaum zu übersehen, daß die Politik keine isolierbare Kulturprovinz sein kann, sondern daß die Religion in ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben eine politische Kraft darstellt. Das zeigt Ottmanns Kritik an Luther, der es „den Deutern der Zwei-Reiche-Lehre schwer gemacht“ habe (2006, Bd. 3/1, 73). Luther habe „parteilichen Eifer“ gezeigt und sich manches Mal im Ton und in der Sache vergriffen (2006, Bd. 3/1, 74, 75). Luthers Position sei „eine Haltung scheinbarer Apolitie, die unmittelbar umschlägt in eine radikale Affirmierung des Gehorsams und des Status quo“ (2006, Bd. 3/1, 75, vgl. 64). Augustinus’ Zwei-Reiche-Lehre hätte Luther „zur unversöhnlichen Antithetik verkürzt“ und damit den Weg zum Obrigkeitsstaat gebahnt (2006, Bd. 3/1, 75 f., vgl. 2010, Bd. 4/1, 336). Thomas Müntzer hätte diese Kluft indessen wieder geschlossen und damit ein noch größeres Übel provoziert. „Man könnte Müntzers Politik als einen Paradefall nehmen für das, was Sternberger (1978) unter ,eschatologischer Politik‘ versteht, die Übertragung der Scheidung von Erlösten und Verdammten in die Politik, die damit terroristisch und unversöhnlich wird. Das Letzte wird politisch gemacht. Das Ende, das extra nos liegt, wird in die Politik gezogen. Dort muß es eine Feindschaft erzeugen, die unter Menschen nicht mehr versöhnbar ist“ (2006, Bd. 3/1, 81). Ottmann betrachtet in diesem Kontext auch die geschichtliche Wirksamkeit des Islam. Der Islam zeige im Grunde eine ähnliche Situation wie die reformatorische Politik Müntzers. Im Islam gebe es keinen Vorbehalt und keine Relativierung von Politik, sondern eine religiös-politisch einheitliche Welt. „Einen Freiraum weltlicher Politik gibt es streng genommen nicht“ (2004, Bd. 2/2, 132). Als Ahnherr eines islamisch-expertokratischen Politikverständnisses wird Platon genannt, dessen „politische Metaphorik“ der des Islam entspreche (2004, Bd. 2/2, 132). Das überrascht, zumindest insoweit Ottmann das Verhältnis von Religion und Philosophie als das „Hauptproblem“ der politischen Philosophie des Islam kennzeichnet und die Lage der Philosophen als „prekär“ (2004, Bd. 2/2, S. 129). Die Zuordnung und Einhegung von Politik und Religion in den unterschiedlichen Lebenssphären vorletzter und letzter Dinge sollte realpolitisch ein Traum bleiben. Ungelösten religiösen und theologischen Problemen verdankte das politische Denken in der Moderne so manchen Impuls. Aber auch ihre innere Zerrissenheit kann als ein Erbe der Tradition verstanden werden. Rousseau war für Ottmann der erste, der die ambivalente Entwicklung einer schonungslosen und umfassenden Kritik unterzogen habe. In seinen Werken zeigten sich alle Widersprüche und Probleme, die ganze innere Gespaltenheit und die „bewußt reflektierte Dialektik der Moderne, die hinter jedem Fortschritt dessen Kehrseite erkennt“ (2006, Bd. 3/1, 462). Eine der grundlegenden Spannungen wäre die zwischen Mensch und Bürger, zwei Rollen, die kaum miteinander zu versöhnen wären (2006, Bd. 3/1, 492). Es blieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel vorbehalten, ein System der Versöhnung und eine Kontinuität zwischen Antike und Moderne zu stiften. In Hegels politischer Philosophie habe die bürgerliche Gesellschaft erstmals theoretische Konturen als die
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Sphäre angenommen, „in welcher die Freiheit des Menschen ihre moderne Form gewinnt“ (2008, Bd. 3/2, 258). Hegels Leistung habe aber darin bestanden, zu zeigen, daß die bürgerliche Gesellschaft allein nicht realisieren könne, was in ihren Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Menschsein angelegt wäre. Deshalb habe er eine Lehre vom sittlichen Staat entworfen, in dem moderne Freiheit und sittliche Lebensformen zueinanderfinden könnten. Insofern ist Hegel ein Knotenpunkt in Ottmanns Akzentuierung der Geschichte des politischen Denkens. Hegel verstehe „seine Politik als eine Synthese von antiker Sittlichkeit und moderner Freiheit, als Zusammenschluß von alter und neuer Welt“ (2008, Bd. 3/2, 261). So konnte Hegel trotz mancher „verblasenen spekulativen Begründung“ in Gestalt der Rezeptionslinie der Hegelschen Mitte durch sein „Begreifen der gegenwärtigen Vernunft, seine hermeneutische Hypoleptik und seine Bewahrung der politischen Modernität vor den ihr eigentümlichen Gefahren […] so etwas wie die liberal-konservative Normalphilosophie der Bundesrepublik Deutschland werden“ (2008, Bd. 3/2, 264, 272). Hegels Philosophie steht zugleich für einen Bruch und die Wendung der Philosophie zur Tat. Sie wurde zum Ausgangspunkt der unterschiedlichen doktrinären Bewegungen, die zur Krise des Geistigen und zur Katastrophe der Politik geführt haben. Der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ist gewissermaßen die Nagelprobe für eine modernitätskonservative Geschichte des politischen Denkens. Hier muß abgegrenzt werden, welche Traditionsbestände ihren Niederschlag im Marxismus-Leninismus und im Stalinismus, im Kommunismus, in Faschismus und Nationalsozialismus gefunden haben. Es muß geklärt werden, was für eine Art politischen Denkens es ist, das die totalitären Systeme mit ermöglicht und mitgetragen hat. Hinsichtlich Leninismus und Stalinismus wird Ottmann vergleichsweise konkret, sie ließen „sich als eine phantastische Züge annehmende Modernisierung deuten. Ein in seinem Kern utopisches Projekt, so himmelstürmend wie Tatlins Turm und so unrealisierbar wie dieser“ (2010, Bd. 4/1, 135). Lenins Parteitheorie, der zufolge nur ein speziell geschulter Trupp von Berufsrevolutionären der Arbeiterklasse das „richtige“ Bewußtsein von außen bringen muß, ist der kontradiktorische Gegensatz zur demokratischen Auffassung, der zufolge jedermann und jede Frau Expertin in Politik sein kann (2010, Bd. 4/1, 100 f.). Hinsichtlich des Nationalsozialismus sind die Erklärungsmöglichkeiten komplex. Ottmann macht deutlich, daß Hitler „das schwierigste Thema“ ist, „welches das 20. Jh. stellt“ (2010, Bd. 4/1, 298). Mit aller gebotenen Umsicht arbeitet er heraus, inwiefern Hitlers Weltanschauung „Züge eines politischen Glaubens“ getragen habe (2010, Bd. 4/1, 305). Hier kommt Ottmann Eric Voegelin näher, an dessen „Politischen Religionen“ aus dem Jahr 1938 er den „Spürsinn dieses Denkers“ bewundert, der „gewisse Aspekte des Phänomens erahnt“ hätte (2010, Bd. 4/1, 346, vgl. 134, 340). Das Kapitel über „Faschismus und Nationalsozialismus“ mündet in eine Sichtung von Faschismustheorien, die an der Frage nach einer möglichen historischen Erklärung interessiert und an ausgewogener Vermeidung von Einseitigkeiten orientiert ist.
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Aber was ist damit gesagt hinsichtlich eines Typus von Denken, das sich in Dogmen, in Ideologien, in Phrasen und Haßtiraden artikuliert? Interessanterweise steht für Ottmann hinter den Kernelementen von Hitlers Ideologie – Rassismus, Antisemitismus und der Lehre vom „Lebensraum“ – „so etwas wie der Wahn eines Jahrhunderts“ (2010, Bd. 4/1, 314). Und dieser Wahn habe sich aus einem „Schub der Säkularisierung“ und der modernen Wissenschaft gespeist (2010, Bd. 4/1, 342). „Am Anfang dieses Prozesses steht die moderne Naturwissenschaft […]. Einen großen Anteil an der Karriere des Rassismus hatten populär werdende Wissenschaften wie der Darwinismus, die Evolutionstheorie und die Vererbungslehre. Sie formten sich zu Weltanschauungen und Ideologien aus, aus denen soziale und politische Konsequenzen gezogen worden sind“ (2010, Bd. 4/1, 314, 317). Die weitere Darstellung führt dann zu der präsisierenden Beurteilung, es handele sich um ein „Selbstmißverständnis“, wenn sich Ideologien als Wissenschaft ausgäben, wo die Schlußfolgerungen doch „nur Ausgeburten des Hasses und des Fanatismus sind“ (2010, Bd. 4/1, 342). Die bodenlosen Erfahrungen mit dem Totalitarismus waren ein Anlaß, im 20. Jahrhundert erneut den Anschluß an das klassische politische Denken zu suchen. Ottmann selbst hat sich in Fühlung zu jener Denkerin positioniert, der er unter den „Neo-Klassikern“ am nächsten steht: Hannah Arendt. Sie habe vor allem in „Vita activa“ versucht, „die klassischen Unterscheidungen der praktischen Philosophie“ zu erneuern (2010, Bd. 4/1, 428; vgl. 2001, Bd. 1/2, 137). Ihre Philosophie sei vor allem dort gelungen, wo sie an Aristoteles angeknüpft habe (2010, Bd. 4/1, 431, vgl. 439, 440, 444, 453; vgl. 2001, Bd. 1/2, 137, 187). Der entscheidende – wenn auch nicht hinreichende – Punkt sei das Grundverständnis vom Menschen als einem politischen Lebewesen, insofern der Mensch sich selbst als ein vernunftbegabtes und kommunizierendes Wesen versteht. Eine Anknüpfung an Aristoteles wäre in diesem Kontex angezeigt, als dieser „modernitätskompatibler“ als mancher alte Zeitgenosse gewesen wäre (2010, Bd. 4/1, 468). An Aristoteles könne man deshalb anschließen, weil er die Trennung von Metaphysik und praktischer Philosophie vollzogen habe, weil er von Vielheit ausgegangen wäre und die Politie mit einer abwechselnden Regierung hochgeschätzt habe. Insofern rechnet Ottmann Arendt letztlich auch nicht allgemein zu den „Neoklassikern“, sondern präziser zum „Neo-Aristotelismus“ (2010, Bd. 4/1, 468). Ottmann stimmt Arendts Kritik an Marx zu, weil „Arbeit kein Modell für Politik und politische Praxis sein kann“ (2010, Bd. 4/1, 436). Politik werde, dies hätten die Griechen entdeckt, „durch Miteinander-Reden und Miteinander-Handeln gemacht“ (2010, Bd. 4/1, 444). Aber, und das ließe sich kritisch gegen Arendt einwenden, Politik könne darüber hinaus auf Gewalt nicht verzichten und bedürfe eines Machtverständnisses im Sinne Max Webers. Sie lebe im öffentlichen Raum zudem von Darstellung wie auch Verstellung, weil Personen im öffentlichen Raum „zum Maskentragen und Rollenspielen gezwungen“ wären (2010, Bd. 4/1, 444). Eric Voegelin und Leo Strauss werden anders als Arendt von Ottmann eher kritisch gesehen. Beiden wird zugute gehalten, daß sie sich in der Kontroverse um die Werturteilsfreiheit gegen Max Weber gestellt hätten (2010, Bd. 4/1, 58 f., 458). An-
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sonsten habe jeder der beiden eigene Fehlurteile zu verantworten. Neben einer überzogenen Kritik an der Moderne sei es ihr Hauptfehler gewesen, daß sie „nur mangelhaft“ zwischen Aristoteles und Platon unterschieden hätten (2010, Bd. 4/1, 467). Voegelin habe ein problematisches Verhältnis zur Transzendenz gepflegt und sei dadurch „in gefährliche Nähe zu Privatoffenbarungen“ geraten (2010, Bd. 4/1, 460, 467). Strauss habe unter anderem hermeneutische „Sünden“ begangen und ein „antidemokratisches Bekenntnis“ abgelegt (2010, Bd. 4/1, 482, 483, 492). Unter den Lebenden gilt Jürgen Habermas der größte Respekt, ist er doch „der einflußreichste deutsche Philosoph und Soziologe unserer Tage“ (2012, Bd. 4/2, 100). Inhaltlich bleibt Ottmanns Zustimmung verhalten. Immerhin, die deliberative Demokratie, für die Habermas steht, „kann mit einem gewissen Recht als ein Erbe der griechischen Demokratie auftreten“ (2012, Bd. 4/2, 116). Sie ziele „eine Belebung der Öffentlichkeit“ an, bleibe aber „subjektlos“ und in ihren Ergebnissen unzuverlässig (2012, Bd. 4/2, 117). Im Schlußkapitel des Werkes, in dem Ottmann sich an die Überlegung herantastet, wie es mit der Demokratie weitergehen könne (2012, Bd. 4/2, 379), wird er indessen deutlicher. Habermas’ Deliberationsmodell verrate eine problematische Tendenz, namentlich eine „schleichende Verschiebung von der Partizipation zur Deliberation, vom Mit-Entscheiden zum Mit-Beraten. Deliberation wird zum Teilhabeersatz“ (2012, Bd. 4/2, 390). Die gegenwärtig dominierenden Vorstellungen mit ihrer Aussicht auf eine Weltrepublik, eine kosmopolitische Demokratie oder globale Gouvernementalität kritisiert Ottmann als eine „Theorie der halbierten Moderne“ (2012, Bd. 4/2, 390). Diese ist das gerade Gegenteil von Ottmanns eigenem Modernitätskonservatismus. Die Moderne werde dort „halbiert“, wo nur einzelne Tendenzen akzentuiert und im Sinne eines Projekts fortgeschrieben werden würden. Man dürfe die beharrenden und vergangenheitsbezogenen „Gegenkräfte“ nicht ignorieren (2012, Bd. 4/2, 390). Man muß Konflikte aushalten können. Der Beschleunigung des kulturellen Wandels stehe eine sich ausbreitende Historisierung gegenüber, über dem Schwinden der räumlichen Distanzen dürfe die grundsätzliche Lokalität des Lebens nicht vergessen werden und der Angleichung der Zivilisationen arbeite eine dauernde Differenzierung der Regionen entgegen. Entschieden sei gar nichts, meint Ottmann, denn „noch wird im bayerischen Bierzelt Blasmusik gespielt und nicht Sirtaki getanzt“ (2012, Bd. 4/2, 391). Die Moderne bleibt vorerst bodenständig. V. Henning Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ ist ein weit leuchtender Meilenstein in der allgemeinen und der politisch-intellektuellen Historiographie. Mentalitätsgeschichtlich dokumentiert sie die kaum noch für möglich gehaltene Fähigkeit des Gelehrten, sich über einen langen Zeitraum den Moden und Zwängen der Gegenwart zu entziehen und sich einem umfassenden Vorhaben zuzuwenden. Dies geschieht im nüchternen Geist einer Politik der Mitte im aristotelischen Sinn. Sie ver-
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meidet Übertreibungen und Schlagseiten, sie setzt auf das vernünftige, verständigungsorientierte Subjekt. Sie erreicht die Öffentlichkeit in einer Zeit, in der sich die Politikwissenschaft in zunehmend „professionalisierten“ Diskursschleifen abzuschotten und den Kontakt zu den immensen lebendigen Erfahrungsschätzen und überlieferten Wissensbeständen zu verlieren beginnt. Ottmann hat in dieser Situation Zeichen gesetzt. Er führt den Politischen Wissenschaften insgesamt vor Augen, wie lebendig, wie breit gestreut, wie konkret und folglich wie relevant die politische Begriffs- und Ideenwelt ist. Damit verbunden ist ein deutliches Signal, die Politischen Wissenschaften wieder stärker aus ihrer internen transdisziplinären Verfassung heraus zu verstehen und zu betreiben. Er formuliert ein starkes Bekenntnis zur kontinuitätsstiftenden Bedeutung der griechischen und der römischen Antike. Er zeigt, daß das politische Denken zwischen Augustinus und der Reformation von hoher Bedeutung für die Konstitution der europäischen Kultur ist und in der Gegenwart viel stärker wirkt, als die Bezeichnung „Mittelalter“ zwischen den massiven Blöcken der Antike und der Moderne vermuten läßt. In wissenschaftspraktischer und wissenschaftspolitischer Hinsicht dokumentiert das Werk die Stärke der Einzelleistung gegenüber der Zerstreuung, der Vertiefung gegenüber der Vernetzung und nicht zuletzt der umfassend gelehrten deutschsprachigen Wissenschaftstradition. Die Fülle und Intensität, aber auch die enorme Strahlkraft des deutschsprachigen politischen Denkens seit der Reformation kann den Eindruck, die deutschsprachige Kultur sei unpolitisch, nachhaltig entkräften – in seinen die Menschheit erhellenden Momenten ebenso wie in seinen tragischen Irrtümern und Verstrickungen. Die zahlreichen Anknüpfungspunkte, die Ottmanns „Geschichte des politischen Denkens“ für weitere Diskussionen bietet, können in solche unterscheiden werden, welche die Interpretation und Einordnung bestimmter Denker oder Denkfiguren betrifft, und solche, die sich aus dem Phänomen „politisches Denken“ als solchem ergeben. Hinsichtlich letzterer erscheinen mir verschiedene Gesichtspunkte in systematischer, hermeneutischer, epistemischer, ethischer und politischer Perspektive besonders weittragend zu sein. Eine grundsätzliche, systematische Frage betrifft die Funktionalität politischen Denkens in politischen Prozessen. Ottmanns Ansatz lebt von der Voraussetzung, daß das politische Leben des politischen Denkens bedarf. Das gilt jedenfalls für die Demokratie von der „bürgerlichen Gegenwärtigkeit“ in der Antike über den „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ bei Hegel bis hin zu Problemen der politischen Kultur in den modernen Verfassungsstaaten. Eine Revolution ist nicht schon durch die körperliche Anwesenheit von Massen eine Revolution, sondern erst durch die Präsenz einer politischen Absicht zur Neugründung der Freiheit in der Massenbewegung. Wenn sich zeigen läßt, daß bestimmte Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in einer demokratisch organisierten Gesellschaft als deren Funktionsbedingung wirksam vorausgesetzt werden müssen, wäre dies ein starkes Argument gegen die historisch-materialistische These vom Überbaucharakter aller kognitiven Strukturen. Der Zusammenhang zwischen der Präsenz von politischen Bewußtseinsgehalten, von Ordnungsideen und Zeitvorstellungen auf der
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einen Seite und der Funktionalität und Qualität politischer Ordnungen auf der anderen eröffnet ein breites Feld für interdisziplinäre Forschungsansätze. In methodologisch-hermeneutischer Hinsicht wirft das breite, horizontale Konzept politischen Denkens Fragen auf, die sich aus der teilweise disparaten Diversität der Quellen ergeben. Wer im Unterschied zu positivistischen Ansätzen davon ausgeht, daß nicht die Methode die Wissenschaftlichkeit ausmacht, sondern daß Wissenschaftlichkeit darin besteht, die Adäquatheit von Methoden gegenüber den Gegenständen und Erkenntniszielen festzustellen, der wird ein breites Methodenspektrum für erforderlich halten, um der Vielzahl von Quellen des politischen Denkens gerecht werden zu können. Politische Kampfschriften, publizistische Äußerungen, massenmediale Präsentationen, offizielle Verlautbarungen, rechtliche Regelungen, religiöse Texte, philosophische Traktate, Objekte der bildenden Kunst, musikalische Strukturen – politisches Denken ist an kein bestimmtes Medium gebunden. Es sucht sich je nach Herkunft seine besonderen Ausdruckmittel. Der wissenschaftliche Umgang mit der Vielfalt der Ausdrucksmittel wird spätestens dann zur Herausforderung, wenn man nicht bei der Beschreibung der kulturellen Vielfalt stehen bleiben, sondern diese in eine spezifische Perspektive zurückführen möchte. Das wäre dann erforderlich, wenn die politische Bedeutung kultureller Produktionen angemessen aufgefaßt und Beurteilungskriterien wie „nützlich“ oder „unnütz“, „wahr“ oder „falsch“ beziehungsweise „richtig“ oder „gefährlich“ zum Zuge kommen sollen. Das Konzept politischen Denkens hat des weiteren eine vertikale epistemische Struktur. Politisches Denken, das sich nicht in seiner Präsenz im bürgerlichen Handeln erschöpft, sondern sich literarisch oder auf andere Weisen vermittelt, erreicht in der Wahl seiner spezifischen Darstellungsmittel immer eine höhere Reflexionsform als es seine meist implizite Präsenz im normalen Leben verlangt. Zwischen politischem Denken, politischer Theorie, politischer Philosophie und politischer Theologie – um nur einige zu nennen – bestehen ganz unabhängig von ihrer politischen Bedeutsamkeit epistemische Unterschiede. Unterschiedliche Formen des Wissens, Typen des Denkens oder Gestaltungen der Vernunft können in vertikaler Stufung besondere Konturen zeigen. Die Autoren der Einleitung zu dem bereits erwähnten Band von 1990 gaben zu bedenken, daß gerade in Krisenzeiten ein umfassendes Ordnungswissen nötig wäre, um die Krise zu deuten und zu überwinden. Dabei gaben sie zu bedenken, „nicht jedes Nachdenken über Politik ist politische Philosophie. Dieser geht es nicht um Einzelphänomene, sondern um das Wesentliche und Ganze, um die letzten Gründe für Ordnung und Unordnung im Zusammenleben der Menschen“ (1990, 7). Eine politische Antwort auf die Krise der Moderne müsse indessen „durch politische Philosophie zu geben sein“, genauer gesagt durch „eine Synthese von politischer Erfahrung und philosophischer Einsicht“ (1990, 8, 10). Mit dem Blick auf die vertikale epistemische Struktur politischen Denkens stellt sich die Frage nach der Quelle von Normativität. Selbst wenn man akzeptiert, daß im politischen Denken „Werturteile“ unverzichtbar sind, so bleibt zunächst noch offen, wo die hinreichende Quelle für Normativität gefunden werden kann. Kann man im
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politischen Denken Ebenen von „mehr“ oder „weniger“ Vernunft, „mehr“ oder „weniger“ Emotionalität, „mehr“ oder „weniger“ geistiger Autonomie unterscheiden? Entscheiden gegebenenfalls die formale oder innere Logik oder andere kognitive Standards über „richtiges“ und „falsches“ Denken? Oder spielen seine sozialen Voraussetzungen beziehungsweise seine Herkunft aus umfassenden moralischen, philosophischen und religiösen Lehren die maßgebliche Rolle? Man kann auch den verantwortungsethischen Blick auf die Folgen oder mit Ottmann die „demokratische Bonität“ politischen Denkens als Beurteilungskriterium heranziehen (2012, Bd. 4/ 2, 118). Politisches Denken, so wie es allen Menschen aufgrund ihrer kommunikativen und vernünftigen Begabungen möglich ist, bleibt grundsätzlich ambivalent. Es gründet nicht nur in gesundem Menschenverstand. Die Erfahrungen des politischen Lebens garantieren nicht, daß man die richtigen Schlüsse aus ihnen zieht. Es bleibt zudem ambivalent hinsichtlich des Gebrauchs, der von den verschiedenen politischen Ideen, die Gegenstand des politischen Denkens sind, gemacht werden kann. Und ob man sich schließlich auf den friedlichen Streit in der Konkurrenz auf dem Markt politischer Ideen beschränkt oder den Sieg der jeweils eigenen Ideen zu erzwingen versucht, bleibt zunächst ebenfalls offen. Ottmann plädiert dafür, sich in politicis daran zu orientieren, was demokratisch erwünscht ist und was nicht (2012, Bd. 4/2, 117). Daran bemesse sich die Brauchbarkeit eines Denkmusters als breit akzeptierte „Normalphilosophie“. Eine „Normalphilosophie“ wird indessen den Repräsentanten emanzipatorischer Dialektik von Marx über Habermas bis Foucault, von der Kritischen Theorie bis zur deliberativen Demokratie verdächtig erscheinen. Politisches Denken ist nie nur Denken des Politischen, sondern stets auch Denken unter den Bedingungen der herrschenden Politik. Mancher Zeitgenosse tritt dafür ein, auch in demokratischen Ordnungen hinter allen Diskursen die Macht erscheinen zu lassen, die sie steuert. Politische Diskurse werden dadurch zu Momenten eines stillen Kriegs, in dem jeder Bürger zum Mittäter wird. Solcherlei Impressionen münden in die Hoffnung, politisches Denken möge sich emanzipieren und in eine Gesellschaftstheorie transformieren. Diese und viele weitere Punkte können im Ausgang von Ottmanns großem Werk die kommende Diskussion beschäftigen. Ihm ist es zu danken, mit der „Geschichte des politischen Denkens“ der Forschung Impulse von kaum zu überschauender Reichweite gegeben zu haben. „Der Geschichtsschreibung der Begriffe und Ideen stehen große Veränderungen bevor“, schrieb Ottmann kurz vor Abschluß seines Werks (2010, 73). Es wird darauf ankommen, die richtigen Fragen im Konzert der Disziplinen und Fächer, der Schulen und der Kulturen weiter zu erforschen. Es ist der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens“ eine Ehre, Henning Ottmann in ihrer Mitte zu wissen. Es bleibt ihr Anliegen, sich – nicht nur in eigener Sache – mit Henning Ottmann der weitsichtigen Fortsetzung dieser wichtigen Arbeit zu widmen. Dafür bieten die Gesellschaft und ihr Jahrbuch das geeignete Forum.
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Literatur Ballestrem, Karl Graf/Ottmann, Henning (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München, R. Oldenbourg Verlag, 1990. Ottmann, Henning: In eigener Sache: Politisches Denken. Oder: Warum der Begriff „Politisches Denken“ konkurrierenden Begriffen vorzuziehen ist. In: Politisches Denken: Jahrbuch 1995/96. Stuttgart/Weimar, Verlag J. B. Metzler, 1996. – Geschichte des politischen Denkens. 4 Bände in 9 Teilbänden. Stuttgart/Weimar, Verlag J. B. Metzler, 2001 – 2012. – Wie man heutzutage in Deutschland (und anderswo) die Geschichte der Ideen und Begriffe schreibt. In: Politisches Denken: Jahrbuch 2010. Berlin, Duncker & Humblot, 2010, S. 65 – 75.
Eternity and Crisis Eric Voegelin and Karl Löwith on Human Temporality1 Von Bruno Godefroy I. Introduction Although referring to a major classical philosophical question, the problem of human temporality tends to remain unseen in its practical, political significance. In this double understanding, as a relevant topic for politics and philosophy, the problem of human temporality seems to touch upon a particular feature of modernity. For Reinhart Koselleck, modernity is precisely characterized by the growing gap between what he calls the “space of experience” and the “horizon of expectation,” that is, between the past experiences made present and the anticipation of future. This “asymmetry,” the increasing of anticipation and its emancipation from past experiences, is the principal characteristic of modernity – not only of its ideologies. “Kant strenuously opposed the thesis that, as he once summarized it, ‘things would always remain as they were’ and that, consequently, one could not forecast anything which was historically new. This statement contains a reversal of all the usual forms of historical forecast customary until then.”2 In our time, this asymmetry and the primacy of the future still prevails through the very actual idea of “crisis.” Koselleck distinguishes two different meanings, a medical and a theological one.3 The Greek use of the term refers to “separate,” “choose” and “decide,” especially with regard to a state of illness requiring a judgement and a treatment at the right time. In the Septuagint, the juridical meaning remains, but as a judgement at the end of the world, the “crisis” also means a redemption. With its adaptation into Latin, the metaphorical sense expands into the social and political sphere: “There 1 This text is a slightly modified version of a paper presented on the panel “Crisis of the West: Philosophical and International Perspectives” at the 2013 Annual Meeting of the American Political Science Association (APSA) in Chicago. I am grateful to the participants for their questions and remarks. 2 Reinhart Koselleck, ‘Erfahrungsraum’ und ‘Erwartungshorizont’ – zwei historische Kategorien, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1989, p. 364 (Futures Past: On the Semantics of Historical Time, New York, Columbia University Press, 2004, p. 267). 3 For the following development on the meaning of “crisis,” see Reinhart Koselleck, Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Crisis, trans. M. W. Richter, Journal of the History of Ideas, Vol. 67, No. 2 (Apr. 2006), pp. 357 – 400).
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it is used as a transitional or temporal concept (Verlaufsbegriff) […]. It indicates that point in time in which a decision is due but has not yet been rendered.”4 The main transformation occurs, according to Koselleck, from the second half of the 18th century on.5 The political meaning of this concept blends in a philosophy of history, reactivating its religious connotation in a “post-theological mode,”6 for the first time in Schiller’s dictum “die Weltgeschichte ist das Weltgericht”, “world-history is the world’s court.” Especially Rousseau “turns an eschatological concept into a philosophy of history”7 by using “crisis” to question an optimistic faith in progress and to anticipate the future of history, thereby occulting all previous history. Since then, modernity could be understood as the “age of crisis,”8 and crisis as “the fundamental mode of interpreting historical time”9 within a philosophy of history. The present-day omnipresence of this concept tends to confirm the pertinence of Koselleck’s analysis, so that it seems difficult to accept Hans Ulrich Gumbrecht’s assertion of the transition from an old futuristic time regime, which he calls a “chronotope,” to a new “presentist” one.10 On the contrary, it seems that present-day perspectives still accord an overriding importance to anticipation and expectations, as they underline the importance of temporality, placing emphasis on the future to come.11 The “age of crisis,” the eschatological understanding of historical time, has not come to an end. Consequently, according to the conception of “crisis” as be4
Ibid., p. 361. Ibid., p. 370 sq.: “[…] the metaphor of illness as well as the associational power of the ‘Last Judgment’ and the ‘Apocalypse’ remain pervasive in the way the term is used, leaving no doubt as to the theological origins of the new way in which the concept is constructed.” This emphasis on the theological origins of modern concepts unavoidably leads to the unending debate on “secularisation” and its different meanings. Here, the concept of “metaphor” could remind Hans Blumenberg’s position, but the way Koselleck uses the term “crisis,” implying a pervasiveness of theological motives in the “post-theological” philosophy of history, is much nearer to Löwith’s understanding. On Löwith’s influence on Koselleck, see Hans Joas, Die Kontingenz der Säkularisierung. Überlegungen zum Problem der Säkularisierung im Werk Reinhart Kosellecks, in: Hans Joas (ed.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2011. 6 Ibid., p. 370. 7 Ibid., p. 373. 8 Ibid., p. 381. 9 Ibid., p. 371. 10 Given the often striking proximity between Koselleck’s and Gumbrecht’s analysis as well as the fact they personally knew each other, one could understand Gumbrecht’s idea of a new presentist “chronotope” in his recent work as a rival answer to the same problem originally discerned by Koselleck and as an attempt to emancipate himself from Koselleck’s perspective. See Hans Ulrich Gumbrecht, After 1945: Latency as Origin of the Present, Stanford, Stanford University Press, 2013. 11 Regarding this present-day emphasis on futuristic temporality, especially in ethics and politics, see the remarkable popularity of Hans Jonas’ Imperative of Responsibility and, in France, Jean-Pierre Dupuy’s Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain, Paris, Seuil, 2002. 5
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longing to the field of philosophy of history, the answer to this problem has to be sought on a specific level, namely the one of temporality and historical time. This is precisely what both Eric Voegelin and Karl Löwith attempted. The historical context of Eric Voegelin’s and Karl Löwith’s works is apparently quite different from today’s situation. During and after World War II, both of them were directly confronted with totalitarianism – national-socialism and marxism decisively influenced their works. More precisely, Voegelin and Löwith share a common criticism of the eschatological orientation of these regimes. In contrast to present-day “catastrophism,” which aims at changing the present using prophecies of a coming doom, the temporal scheme of totalitarianism entails an inclusion of the present state in a time line, as a necessary step towards a perfect future. Nonetheless, the accentuation of the futuristic dimension of temporality remains. Both the present-day experience of time as “crisis” and the critique of totalitarianism developed by Voegelin and Löwith highlight parallel problems. Regarding both phenomena, notwithstanding Gumbrecht’s idea of a new “chronotope,” the predominant feature of temporality is its eschatological orientation towards the future, what Matthias Riedl describes as “proleptic existence,”12 that is, existence in relation to the “anticipation of a transformed world,” a possibility that is always present as an existential modality. In this context, the answer to the “crisis” as an understanding of historical time, as a category belonging to a philosophy of history, may be found on the level of temporality in the emphasis of time’s counterpart, eternity. Löwith’s adoption of Kierkegaard’s words may reveal the most important issue of this problem: “In these times everything is politics. […] what our time demands [i.e. social reforms and a new political order – Löwith] is the contrary of what it needs (was ihr not tut), namely something absolutely static (Feststehendes).” Löwith adds: “The misfortune of the time is therefore its focus on the temporal, whereas it believed to be able to dispense with eternity.”13 Consequently, I will focus on the recovery of eternity as an answer to the “crisis”. Which paths do Voegelin and Löwith follow and to what extent are they, as I would like to suggest, both parallel – at the beginning – and yet characteristic of two different positions? Firstly, I would like to present more clearly the diagnosis of a disturbed temporality, as it may be found in the works of Karl Löwith and Eric Voegelin, especially the role of eschatology. Then, I will focus on the very different but complementary approaches of Voegelin and Löwith regarding the recovery of human temporality through the rehabilitation of the concept of eternity.
12 Matthias Riedl, Living in the Future – Proleptic Existence in Religion, Politics and Art, International Political Anthropology, vol. 3 (2012), n8 2, pp. 117 – 134. 13 Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Sämtliche Schriften 8, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu Sein und Zeit (1942/1943), Stuttgart, J.B. Metzler, 1984, p. 100.
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II. Disturbed Temporality: The Problem of Eschatological Existence Eschatology conventionally refers to a very defined experience, based on the Christian expectation of the second coming of Christ at the end of the world, as revealed in the Apocalypse of John. However, this understanding of time not only applies to Ancient Christianity, but can also be widened as a category of temporality, which can be used as a mean of describing the temporality of political order. What does eschatological temporality mean? A valuable starting point is Oscar Cullmann’s work Christ and Time, which was a major source for Karl Löwith’s Meaning in History – according to Cullmann, Löwith was the only “secular” philosopher who truly understood his book14 –, as well as for Eric Voegelin. Secondly, Cullmann’s account on eschatology is quite balanced, between the neutralizing accentuation of present in Rudolf Bultmann’s existentialist interpretation and the futuristic orientation of Albert Schweitzer’s “consequent eschatology,” so that it seems possible to use Cullmann’s perspective as potentially including all aspects of eschatology. For Cullmann, who criticizes both Bultmann and Schweitzer, the birth of Jesus-Christ is the decisive element for the Christian conception of time as well as for the understanding of history. Past, present and future form a time-line, whose meaning appears in its center. Thus, Cullmann strictly distinguishes this conception from the cyclical one of the Ancient greeks, which considered time spatially as a worldly, endlessly recurring dimension, finally leading in gnostic movements to the idea of an escape into a timeless eternity. On the contrary, “in ancient Christianity, faith and thought are not based on the opposition between this world and the beyond (Diesseits-Jenseits), but on the temporal differentiation erstwhile-now-then (Ehemals-Jetzt-Dann).”15 Time and eternity are both temporal, as the conception of eternity in Ancient Christianity does not refer to an independent space out of time, but to an endless time. For Cullmann, this temporality of eternity is essential to understand the dynamic of history in Christianity, i. e. the development of salvation in history through the “kairoi,” the providential moments chosen by God. Therefore, time is not only linear, but essentially meaningful and dynamic. According to Cullmann, this conception of time concerns both Christianity and Judaism, but the structure of time changes radically with the coming of Christ. Whereas the center of Jewish hope essentially lies in the future – in the coming of the Messiah –, Christianity is not first and foremost futuristic. Indeed, in contrast to Judaism, the source of meaning in Christianity is not the future, but the middle, the Resurrection, which already took place. In terms of meaning, the importance of the future could seem to vanish, but this reconfiguration of the temporal structure represents rather, as Cullmann points out, an “increased intensity of the expectation for the future.” He frequently uses the metaphor of Victory-Day to picture this new experience of time: “The hope for the final victory is even 14 See Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, Zürich, EVZ-Verlag, 1962 (1st edition 1946), S. 25. 15 Oscar Cullmann, Christus und die Zeit, p. 49.
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more intensive, when the conviction is steadfast present, that the decisive battle for this victory already occurred.”16 This increased intensity and dynamic is the main feature of Christian eschatology and has a central importance for its political transcription. However, this is not enough to establish the efficiency of Christian eschatology in the world. As Karl Löwith – or Erik Peterson – point out, “as an eschatological proclamation of the reign of God, the theology of the New Testament is essentially indifferent towards this world’s political history.”17 This idea of a non-political, ahistorical eschatology refers to a later development of Christianity, what Voegelin describes, in the New Science of Politics, as the transition from an “eschatological” to an “apocalyptical” understanding of Christianity, i. e. the transition from the “eschatology of the realm in history toward the eschatology of trans-historical, supernatural perfection,”18 especially in Augustine’s works, aiming at the neutralization of eschatological expectations. What Oscar Cullmann criticizes as a “hellenization” of Christianity was to become its main form, represented in the Church. In this weaker form of eschatology, time as linear and meaningful remains present, but points beyond the world, so that the concrete efficiency of this dynamic experience of time remains questionable. How can we then agree with Karl Löwith, who affirms that Jewish messianism and Christian eschatology kindled “those appalling energies of creative activity which changed the Christian Occident into a world-wide civilization?”19 How does this temporal scheme become politically relevant? This question is the underlying reason for the insistence on “mundanization” (Verweltlichung) or “temporalization” (Verzeitlichung) in the works of Eric Voegelin and Karl Löwith. The supposed development of a “secularization-theory” questioning the legitimacy of the Modern Age is, at most, secondary. For Eric Voegelin, the radical understanding of eschatology, although abandoned, still remained present 16
Ibid., p. 89. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Sämtliche Schriften 2, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949/1953), Stuttgart, J.B. Metzler, 1983, p. 203. See also Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, Leipzig, Hegner, 1935. 18 Eric Voegelin, The New Science of Politics. An Introduction, CW 5, p. 176. See Alois Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1954 (1st edition 1929), p. 72. According to Dempf, Voegelin’s main source for the distinction between “eschatological” and “apocalyptical” Christianity, the absence of precise distinction explains the misunderstanding of Christianity as a “mere moral teaching” or “mere eschatology.” According to Dempf, this misunderstanding comes from “a fluctuation in the biblical texts themselves, where an antique theory of cosmological and political catastrophe at the beginning of a new eon remains along with the actual fundamental transformation of the political messianism into a religious-historical messianism through Christ.” Thus, according to him, the very problematic “political” and “cosmological” eschatology should not be considered as genuine christian. 19 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, SS 2, p. 217 (Meaning in History, Chicago, University of Chicago Press, p. 203). 17
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in “components that were suppressed as heretical by the universal church.”20 Voegelin’s account on Joachim of Fiore, who played a key role in the revival of eschatology in the 12th century, was decisively influenced by two similar works, Jacob Taubes’ Occidental Eschatology – whereas Taubes develops his perspective from the opposite political side – and Karl Löwith’s Meaning in History. According to Löwith, “there have always occurred and recurred apocalyptic speculations and expectations of an imminent consummation, but never until Joachim of Floris have they been elaborated into a consistent system of historic-allegorical interpretation.”21 Joachim’s doctrine starts with a revelation he received about the true meaning of the Apocalypse of John, about the meaning of all symbols of the Old and New Testament, “converging in a total picture of the history of salvation from beginning to end and the historical fulfillment of the Apocalypse.” This comprehension of the historical structure of both Testaments leads to a “last and all-inclusive comprehension of history,”22 including the world-history (Weltgeschichte) as a part of the history of salvation (Heilsgeschehen). Therefore, Joachim does not distinguish between history and prophecy, the meaning of history as a totality concerns the whole time-line, and not only a past event, the coming of Christ: “the ‘fulness of time’ is not to be conceived traditionally as a unique event of the past but as something to be worked in the future […].” First and foremost, “this consummation does not occur beyond historical time, at the end of the world, but in a last historical epoch.”23 As Löwith points out, the revolutionary consequences of Joachim’s foundation of the idea of a meaningful progress in the world towards a future – worldly – eschaton were not his intention. Namely, the strengthening of the ascetic way of life of monks against the profanity of the Church was, according to Löwith, his real purpose. But his speculation could also lead to the revival of the eschatological expectations of Ancient Christianity and to the pursuit of their realization in history, “and it was actually the late result of his prophecy of a new Testament.”24 At the end of the chapter on Joachim of Fiore in Meaning in History stands out one of the very few comments on contemporary history contained is this overall very reserved book, revealing the actual critical-political meaning of Löwith’s work: “The third Testament of the Joachites reappeared as a third International and a third Reich, inaugurated by a dux or a Führer who was acclaimed as a savior and greeted by millions with Heil! The source of all these formidable attempts to fulfill history by and within itself is the passionate, but fearful and humble, expectation of the Franciscan Spirituals that a last conflict will bring history to its climax and end.”25 Through Joachim’s temporalization and mundanization of Christian eschatology, the eschatological conception of time acquires a direct political relevance, which 20
Eric Voegelin, The New Science of Politics. An Introduction, CW 5, p. 175. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, SS 2, p. 158 (145). 22 Ibid., p. 161 (147). 23 Ibid., p. 165 (151). 24 Ibid., p. 172. 25 Ibid.
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becomes particularly clear in Voegelin’s and Löwith’s parallel attempts to find the source of totalitarianism in this eschatological experience of time. In his Autobiographical Reflections, Eric Voegelin criticizes his early study on “political religions”, stating that “the interpretation [in terms of political religions] is not all wrong, but I would no longer use the term religions because it is too vague and already deforms the real problem of experiences by mixing them with the further problem of dogma and doctrine.”26 Indeed, the common ground of the symbols Voegelin analyzes, such as “ecclesia”, “apocalypse”, “spiritual and temporal”, is the temporal dynamism that all of them imply as a reactivation of a radical understanding of Christian eschatology. Therefore, it may be more appropriate not to speak of “political religions” but of a “political eschatology,” a term Löwith already coined in 1941 in his study From Hegel to Nietzsche.27 This link between a conception of time and totalitarianism not only refers to a line of continuity in the western history of ideas, at the same time it reveals a theoretical affinity between eschatology and modern thought. For Karl Löwith, this affinity is particularly present in Heidegger’s understanding of historicity in Being and Time – and even after Heidegger’s so-called “turn” (Kehre). The guideline of Heidegger’s temporal understanding of Being and of his existential construction of history is “the draft (Entwurf) of a genuine ‘possibility of total being’ (Ganz-sein-können) of the human Dasein,” opposed to the vulgar one, and fundamentally depends on the acceptance of death as “being to death” (Sein zum Tode) and on its inclusion in the existence of the Dasein. Consequently, “the willingness towards death as a finite eschaton must give to the Dasein ‘the aim as such.’ The temporal extension of this finite aim in the future to come gains therefore a theoretical primacy over the other dimensions of time.”28 With this conception of temporality including a worldly eschaton as the aim of existence, Heidegger’s “godless theology” negates Christianity but presupposes a mundane eschatology, where “the death undertakes […] the role of eternity for a Dasein which is determined to everything as well as to nothing.”29 Although this one-sided focus on temporality does not culminate in a revolutionary doctrine, it is nonetheless politically relevant. Namely, the eschatological conception of existence and the replacement of eternity by death lead, according to Löwith, to the absence of any fixed “philosophical measure for the evaluation of what happens,”30 and therefore to an arbitrary adaptation to circumstances, to “occasional decisionism.”31 Due to the lack of any eternal point of reference, as Löwith
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Eric Voegelin, Autobiographical Reflexions, CW 34, p. 78. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1939), SS 4, p. 261. 28 Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953/1960), SS 8, p. 168. 29 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, SS 4, p. 262 sq. 30 Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953/1960), SS 8, p. 171. 31 Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt (1935), SS 8, p. 61 sqq. 27
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appropriately points out, “Heidegger does not engage with Plato’s question of the good regime.”32 Hence, in view of this double implication of eschatological temporality – on the one hand, increased expectations in this world, on the other hand, the complete loss of every eternal measure –, the need to reestablish a balanced understanding of time, a philosophical as well as political matter, seems to be clear. In Eric Voegelin’s and Karl Löwith’s works, this aim is inextricably linked to the question of eternity.
III. Eric Voegelin – Recovering Eternity by Transcendence The problem of time is present in Eric Voegelin’s works already in his first book On the Form of the American Mind33 and its first chapter on “Time and Existence.” However, its importance grows with the late works, especially Anamnesis and the fourth volume of Order and History, The Ecumenic Age, as the answer to the crisis of modernity shifts from the critique of a problematic continuity in history – gnosis – to the question of time and history itself. Whereas the first volumes of Order and History seemed to presuppose a linear idea of historical time, leading from past to future through progressive steps, Voegelin radically questions this chronological conception at the beginning of The Ecumenic Age. He writes, “history was conceived as a process of increasingly differentiated insight into the order of being in which man participates by his existence.”34 But “the conception was untenable because it had not taken proper account of the important lines of meaning in history that did not run along lines of time.”35 The discovery of the symbolic form of “historiogenesis” plays a crucial role in the rejection of a straight-linear, chronological construction of history, because it is not simply a theoretical perspective, but a very consciously used device starting already “by the end of the third millennium B.C. in the empires of the Ancient Near East”36 to achieve political purposes. Breaking with the idea of a precarious order of human things, which had to be regularly restored by rituals of foundation and renewal,37 historiogenesis “implacably places events on the line of irreversible time where opportunities are lost forever and defeat is final.”38 By doing so, the present state is meant to be not only legitimate, but is also the necessary result of a development which already begins in the origins of the world. This speculation does not only refer to the past and present, but also to the future, as it aims at removing the political order itself from the changes implied by worldly temporality. As Voegelin points out, “this construction is a metastatic device, meant to sublimate 32
Ibid. Eric Voegelin, CW 1. 34 Eric Voegelin, CW 17, p. 45. 35 Ibid., p. 46. 36 Ibid., p. 51. 37 See Mircea Eliade, Le mythe de l’éternel retour, Paris, Gallimard, 1969. 38 Eric Voegelin, CW 17, p. 114. 33
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the contingency of imperial order in time to the timeless serenity of the cosmic order itself.”39 Hence, the continuity of history, the “lines of meaning in history”, can not correspond to an unilinear continuity of time, as in the perspective developed in the first volumes of Order and History, which would then also correspond to a form of historiogenesis. To avoid this, the continuity should not depend on worldly events, it is rather “the meaningful advances of differentiating consciousness,”40 i. e. a non-linear continuity of experiences. Voegelin concludes that “the analysis had to move backward and forward and sideways, in order to follow empirically the patterns of meaning as they revealed themselves in the self-interpretation of persons and societies in history. It was a movement through a web of meaning with a plurality of nodal points.”41 This transition from a “line of meaning” to a “web of meaning” is decisive for Voegelin’s interpretation of modernity. Namely, it should probably qualify Voegelin’s very polemical and not so convincing accounts on the gnostic origins of modernity, for example in Science, Politics and Gnosis, more precisely the so-called “gnosis-thesis,” based on the idea of a linear continuity, which is itself a form of negative historiogenesis, aiming at delegitimizing a present state. Thanks to the shift of the late works, it is possible to understand this “derailment” of modernity not as a continuous development in history, but as the reactivation of an experience of time, which is always present as a modality in consciousness.42 In this regard, Christian eschatology, especially its Pauline development, has a very ambiguous signification. On the one hand, Paul “differentiated the truth of existence, i. e., the experience of its ordering process through man’s orientation toward the divine ground” and its response, showing, according to Voegelin, a “superior degree of differentiation.”43 The distinction between a world-transcendent God and the immanent sphere of man and the world is the “point of clarity”44 and actually the eschaton of Voegelin’s own conception of history.45 He even tends to make eschatology a necessary step in the process of differentiation. Namely, regarding Paul’s “pneumatic theophany” – the revelation of God in the soul of man –, “an eschatology is required to complete the meaning of the movement. Indeed the Pauline myth pursues the drama of the movement to its conclusion in the eschatological events. And finally, Paul has fully differentiated the experience of man as the site where the movement of reality becomes luminous in its
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Ibid., p. 115. Ibid., p. 52. 41 Ibid., p. 106. 42 See Matthias Riedl’s concept of “proleptic existence” in: Matthias Riedl, op. cit. 43 Eric Voegelin, CW 17, p. 315. 44 Eric Voegelin, CW 1, p. 21. 45 On this critique of “Order and History “as being itself a teleological understanding of history, placing “transcendence” at the end of a necessary development, see Stanley Rosen’s harsh but to some extent convincing critique in: Stanley Rosen, “Order and History”, The Review of Metaphysics, vol. 12, n82 (december 1958), pp. 257 – 276. 40
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critical occurrence.”46 According to Voegelin, eschatology seems to be a part of the highest step of differentiation, or “point of clarity,” namely the complete differentiation of transcendence, the distinction between a world-transcendent God and the immanent sphere of world-immanent beings. But on the other hand, this highest degree of differentiation includes at the same time the seeds of its loss. Indeed, as Voegelin underlines, “we have experiences of alienation; of being strangers in a world that is not ours; of a true measure of existence that is not taken from existence in this world; of a true reality, not of this world, whence this measure comes to us; of a longing for that other world, for a new heaven and a new earth; of a diminution of reality attaching to life in this world, the Pauline tonality of the ‘as if not’; in brief, of ‘eschatological existence’.”47 Hence, eschatological existence, as it appears in Paul’s vision, already contains the elements of gnosticism, although it has to be considered as a genuine experience of man and as a further, “superior” differentiation of consciousness. On the contrary, “Plato kept the theophanic event in balance with the experience of the cosmos. He did not permit enthusiastic expectations to distort the human condition.”48 Voegelin’s account on Paul is highly ambiguous. On the one hand, by including Paul’s vision in the line of differentiating consciousness, as a further development of Plato, he tries to lower the destructive, in his terms “gnostic” potential of Ancient Christianity. On the other hand, he admits this possibility by showing that the roots of the so-called “derailment” of modernity can already be found in Paul’s differentiation of an “eschatological existence.” As Voegelin himself points out, “the Pauline ‘time’ is ambiguous inasmuch as it lets the time of existence blend into the Time of the Tale.”49 By doing so, Paul inaugurates the experience of time of primordial importance for the “crisis” of modernity: “The constant has been traced back to its Pauline source.”50 Focussing on time in Voegelin’s late works, one cannot ignore his previous criticism of the modern “derailment” and has therefore to deal with the question of authentic temporality. The Pauline example shows how a disturbed experience of time leads to “eschatological existence,” which motivated historical speculations and their political consequences. In the foreword to Anamnesis, Voegelin explains that the first study of his book, “Historiogenesis”, “is balanced by the last one, on ‘Eternal Being in Time.’ While the first one is concerned with the symbolism of linear time [and its political effectiveness – BG], the last one explores the problem of the ‘flowing presence’ in which time and eternity meet.”51 To what extent does this conception of a 46 Eric Voegelin, CW 17, p. 316. This “full differentiation” has to be taken absolutely seriously, since there is no sign of a further step – although it cannot be dismissed – in Voegelin’s account of the process. On the contrary, this full differentiation of transcendence rather seems to go astray after Paul. 47 Eric Voegelin, History and Gnosis, CW 11, p. 172. 48 Eric Voegelin, CW 17, p. 303. 49 Ibid., p. 314. 50 Ibid., p. 336. 51 Eric Voegelin, Anamnesis, CW 6, p. 35.
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“flowing presence” respond to the question of human temporality? Voegelin’s theory of consciousness is based on the platonic concept of “metaxy” or “In-Between”, which comes to light in theophanic and noetic events. According to Voegelin, “the philosophical experience discloses the soul as the locus of the tensions between the temporal being of the experiencing man and eternal being, whose realization is experienced.”52 The soul is not an object as such, but the term refers rather to its role as the place of the tensions, particularly to its “sensorium of transcendence.”53 Notwithstanding the ambiguous impact of the differentiation of “transcendence,” Voegelin still holds to it as a main feature of his theory, without explicitly articulating it. In their correspondence, Löwith noticed this and adds: “I do not really understand what you mean with spiritual ‘experience of transcendence’ [Transzendenzerlebnis]. If you mean exceeding [Überschreiten] every natural conditions, then N. [Nietzsche. He is the main topic of the correspondence between Löwith and Voegelin – BG] is extremely transcending, but not for the sake of a vague Jaspers-like transcending [Transzendieren], but rather transcending towards a precise, non christian aim, namely: ‘Dionysiac world’.”54 Actually, Löwith’s hidden criticism regarding Voegelin’s understanding of “transcendence” seems quite relevant. Although Voegelin does not explicitly refers to Jaspers regarding this central notion,55 their positions are very similar. According to Jaspers in his Philosophy, “transcendence is Being, which is not Dasein and not consciousness nor existence, but transcends all of them.”56 Transcendence is not an object (Gegenstand) and cannot actually be expressed easily. Jaspers’ positive reference to the negative theology reveals a supplementary affinity between him and Voegelin, who mentions it as his own position.57 The “right order of the soul”, so Voegelin, is the “philosophical tension between time and eternity.”58 By highlighting the tension, Voegelin emphasizes the impossi52
Ibid., p. 321. Ibid., p. 322. 54 Karl Löwith/Eric Voegelin, Briefwechsel, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, 2007/6, p. 775. 55 Voegelin often refers to Jaspers’ “axis time” as an interesting concept, but also criticizes it. Surprisingly, he very rarely refers to Jaspers’ understanding of transcendence and more broadly to his philosophy, although this seems to be one of Voegelin’s main sources of inspiration. Some indirect hints remain, for example in his correspondence with Alfred Schütz: “The only important interpretations of N. [Nietzsche] are the Georgian one of [Ernst] Bertram and the existentialist one of [Karl] Jaspers”, Eric Voegelin/Alfred Schütz, Eine Freundschaft, die ein Leben ausgehalten hat: Briefwechsel 1938 – 1959, Konstanz, UVK Verlagsgesellschaft, 2004. Jaspers’ reading of Nietzsche is precisely focussing on transcendence and its absence. The affinity between Voegelin and Jaspers often remains unseen, except in: Udo Kessler, Die Wiederentdeckung der Transzendenz, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1995, which is still not completely satisfying. 56 Karl Jaspers, Philosophie – I. Weltorientierung, Berlin, Springer Verlag, 1956 (1932), p. 50. 57 See Karl Löwith/Eric Voegelin, Briefwechsel, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, 2007/6, p. 771. 58 Eric Voegelin, Anamnesis, CW 6, p. 326. 53
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bility of bringing eternal being into the present time of the world, which would result in the mundanization of eschatology, or to eternalize events occurring in the temporal sphere of man: “[…] in the philosophical experience of the tension between the two poles of time and eternity, neither the eternal being becomes an object in time, nor the temporal being is transposed into eternity.”59 Indeed, “metaxy”, the place of the soul in the order of time, is “neither time nor eternity”: “We remain in the “in-between,” in a temporal flow of experience in which eternity is nevertheless present.”60 According to Voegelin, the true understanding of man’s temporality is neither world-time nor the timelessness of eternity, but a non-directional “flow” or lasting (durée), where differentiations occur under the “flowing presence”61 of transcendent eternal being. But, as long as the structure of history depends on noetic and theophanic events, i. e. on manifestations of the eternal being, an eschatological element still remains. Comparable to the long-awaited “parousia of Being”62 in the late works of Martin Heidegger, Voegelin’s conception of history and time includes a process of differentiation presupposing transcendence both as its source and as its aim, insofar as its differentiation is supposed to be the higher degree of the process. Regarding transcendence, “the structure of history is [still – BG] eschatological.”63 IV. Karl Löwith – Immanent Eternity In the face of the “crisis”, Löwith represents a more radical questioning of the roots of the modern understanding of temporality. In opposition to Voegelin, Löwith strictly distinguishes two “modes of experience (Erfahrungsweisen) of history.”64 Athens and Jerusalem, Homer and the Bible, Socrates and Christ are not comparable steps in a process of differentiation, but “either-or.”65 According to Löwith, eschatology does not represent an insight into a true understanding of temporality, but a perversion of the healthy conception of the Ancient Greeks of a historical and human time as essentially cyclical, the recurrence of the same. However, Löwith does not think, as Leo Strauss suggests in their correspondence, that this truth of the Ancient Greeks should be – or could be – intentionally renewed in our modern times.66 Es59
Ibid., p. 272. Ibid., p. 329. 61 Ibid. 62 Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, SS 8, p. 164 sq. 63 Eric Voegelin, CW 17, p. 375. 64 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, SS 2, p. 247 sqq. 65 Ibid., p. 248. 66 Against Strauss’ appraisal of ancient philosophy as the “genuine” philosophy and as an “eternal possibility”, especially regarding natural right, Löwith states: “Regarding a cat or a dog, nature always emerges, but history is too deeply tied in man for thinking Rousseau or Nietzsche or your future heroes of the natural being could restore something which already ran out during the Late Antiquity.” Moreover, “the unease of modernity towards itself actually results from the historical consciousness, from the knowledge of ‘better’ times and, as soon as 60
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pecially, Löwith refers positively to Nietzsche’s project of reestablishing the cyclical temporality of the Ancient Greeks, by “uniting his own will with the necessity of the cosmos.”67 While acknowledging the necessity of this project, Löwith asks: “But how, in view of the modern freedom of the will to can, should it be possible to recapture that ancient intimacy with what must be and cannot be different, so that the fate once written in the stars could be transformed into an individual fate by willing necessity, so that the individual may finally say, ‘I am fate myself, and I have determined existence since eternity,’ ‘I am myself among the causes of eternal recurrence’?”68 Under the modern conditions, it was not only impossible for Nietzsche to find a “time-immanent notion of eternity,” as it is present in the idea of an eternal recurrence of the same; this impossibility also leads more generally to an abandonment or violation of the notion of eternity as such, to the search for substitutes. According to Löwith, “the few who still asked after eternity turned to the ‘eternal’ truths of the Catholic Church, spoke ‘of the eternal in man,’ became intoxicated with forgotten ‘images’ of cosmic life, conjured with ‘codes’ [Chiffren, an explicit reference to Jaspers – BG] of being , while the majority obeyed the summons of the time, which offered them the racial hardware of a political zoology as a substitute for eternity.”69 But this inability to repeat the experience of the Ancient Greeks does not mean that eternity should be completely abandoned, nor should it be abandoned because the philosopher, as Heidegger writes, “does not know anything about eternity.”70 But according to Löwith, it seems possible to find a modern renewal of eternity beyond both the repetition of the eternal recurrence of the Ancient Greeks and Heidegger’s denial in the work of Franz Rosenzweig, Heidegger’s contemporary “counterpart.” Löwith highlights their very similar starting point, the “facticity” of the naked Dasein. But in Heidegger’s works, the analysis is inclined to turn into a mundane and meaningless eschatology of Being as “Being to death [Sein zum Tode].” Although “death” is not less important in Rosenzweig’s perspective, “the fundamental difference within these similarities is that Rosenzweig treads a path to ‘eternal life,’ through the beginning as creation, the middle as revelation and the end as redemption, which corresponds to an ‘eternal truth,’ the Star, whereas Heidegger only knows […] temporal truthes.”71 Consequently, Rosenzweig does not answer to existential this consciousness disappears – like in the Russian generation born after 1910 and in the German generation born after 1930, modernity won’t be seen as something one musts overcome – on the contrary.” See Löwith’s letter to Strauss from August 18th, 1946 in: Leo Strauss, Gesammelte Schriften 3, Stuttgart, J.B. Metzler, 2001, p. 664 – 665. 67 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, SS 4, p. 249. 68 Ibid. (196). 69 Ibid., p. 250. (197). 70 Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, SS 8, p. 164. One should also keep in mind that many contemporary and very influential conceptions of time, such as Hartmut Rosa’s Social Acceleration, implicitly admit this radical temporal starting point. 71 Karl Löwith, M. Heidegger und F. Rosenzweig. Ein Nachtrag zu Sein und Zeit (1942/ 1943), SS 8, p. 78.
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fear using the pathos of an undetermined “determination” (Entschlossenheit). The answer does not exist in time, but is to be found in the “acceptance of the Dasein itself as a creature, by opening itself to revelation and retrieval of eternity.”72 The concrete presence of this eternity is the Jewish, “eternal” people chosen by God. Therefore, Rosenzweig had a chance to recover eternity in the eternal truth of the “Star.” His answer can be considered as the counterpart of Nietzsche’s try to reestablish a radical immanent eternity by recovering the experience of eternal recurrence. But, as Löwith adds in a quite personal remark, “for the ones who are neither religious Jews nor pious Pagans or who are only Christians, like ‘one’ [man] is German or French, Rosenzweig’s search for the ‘Eternal’ or always-being [das Immerseiende] remains a question. But the willingness to seriously try, within modernity, to bring back eternity in the life of man – be it the eternity of the physical cosmos or of the God of the Bible – was condemned to fail.”73 It is particularly difficult to clearly discern Löwith’s own view of eternity, given his insistence both on the importance of the question and on the failure of any recovery – from the side of Athens as well as from the side of Jerusalem. However, the necessity of regaining a conception of an immanent eternity and hints regarding its principal features are present everywhere in his works. The core of his conception refers obviously to a particular understanding of “nature,” which stands out in multiple references. The main one is Goethe, the latest one is Paul Valéry. According to Löwith, who considered Goethe as “a pure source of the truth regarding the relation of man to himself and to the world,”74 the nature is the core of Goethe’s conception of an “immanent” eternity: “Everything is always present in it. It knows no past and future. The present is its eternity” – “Nature is always Jehovah: what it is, what it was, and what it will be.”75 For Löwith, the eternity which has to be recovered in nature is therefore strictly independent from an act of faith or will, it is instead a matter of openness towards something which is always present. The temporality it implies strictly differs from the timeless eternity of the Christian God, and most notably, it does not imply a tension between this world and the beyond. On the contrary, the eternity of nature refers to an everlasting immanence. However, this conception leads to a certain indifference or vagueness regarding the role of man, seeing that the everlasting “nature” tends to occult both him and his actions.76 During the French Revolution, Goethe was concerned with the metamorphosis of plants, during the
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Ibid., p. 91. Ibid., p. 100. 74 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, SS 4, p. 254. 75 Ibid., p. 267. 76 Nevertheless, Löwith’s Habilitationsschrift is actually a work on ethics, focussing on “Being-with-others,” so that the accusation of neutrality towards human affairs cannot be, in his case, totally convincing. See Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928), Sämtliche Schriften 1, Stuttgart, J.B. Metzler, 1981. 73
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campaign in France, with the phenomena of colors and during the Revolution of July, with morphology.77 An answer to this possible eclipse of man is Paul Valéry’s uniting symbol “CEM,” meaning “Corps-Esprit-Monde” (Body-Mind-World), which is central in Löwith’s very last book, a study on Valéry’s works. As usual, Löwith’s own position stays in the background, so that one can only presuppose a “kindred philosophical attitude”78 between them. Valéry’s interest lays on “the whole” (das Ganze), although not on the whole as world, God or cosmos, but on “the relation and difference, on the accord and disaccord of CORPS, ESPRIT and MONDE.”79 CEM refers to the position of man in the world, at the same time “his” world, especially regarding Valéry’s focus on the man’s possibilities in it, which can be discovered through distance towards the world – an “alienation”80 (Entfremdung) between CE and M. Hence, Valéry could be considered as a “godless mystic,” but, as Löwith interestingly points out, although his perspective was to some extent “godless,” he was no mystic: “The possibility of detaching oneself from the whole does not imply transcending to any transcendence, but relies on the essence of man and is, from a religious point of view, irreligious, if not antireligious.”81 The distance between the man – body and mind – and the world does not reveal any transcendence of the ground of all beings, but the immanence of it, i. e. the immanence of the world, which is what preexists and remains when C and E retreat. However, the “world” cannot be the ordered cosmos of the Greeks any more, but “nature” stands for it. For Valéry, “nature is only what is originally ‘given’ (das ursprünglich Gegebene), the beginning of everything and as such the permanent basis of every intellectual activity too.”82 “Given” does not mean “created,” nature is not one finished product of any creation, but creates itself constantly through its multiple phenomena, and even the intellectual activity is actually a natural one. Even the man is, according to Valéry, an accidental product of nature: “Fortune begins and fortune accomplishes, but in between is our realm.”83 However, although this period of time between birth and death enables human actions, the radical difference between their results and natural development strongly relativizes their importance, that is the importance of history and politics, which Valéry calls together “HP.” According to him, the events are not more than “the sea foam,” but 77
Ibid., p. 284. Nachwort of Henning Ritter in: Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit – G.B. Vico – Paul Valéry, Sämtliche Schriften 9, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens (1971), Stuttgart, J.B. Metzler, 1986, p. 419. 79 Karl Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens (1971), SS 9, p. 299. A comparison between Valéry’s “CEM” and Voegelin’s quaternary structure of the “community of Being” would be particularly interesting and may reveal why Valéry could overcome the problem of eschatology, whereas Voegelin could not. 80 Ibid., p. 307. 81 Ibid., p. 308. 82 Ibid., p. 312. 83 Ibid., p. 320. 78
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only the sea itself interests him. “One fishes in the sea; one sails on the sea; one dives into the sea … And what about sea foam?”84 As a matter of fact, it seems quite difficult to discern a political statement in Valéry’s position. However, the strong relativization of the importance of human or historical events is actually the true basis of Valéry’s and Löwith’s political ethics, which are both founded on the recovery of the outlasting and everlasting temporality of nature in order to balance the anticipations, expectations and actions of man. Hence, notwithstanding modernity, one could find here the ahistorical temperance of the Ancient Greeks, far away from any “crisis.” At the end of the Third Punic War, Polybios relates Scipio’s words after the destruction of Karthago, affirming that the same fate would one day be Rome’s. It would be hard, according to Löwith, to find a more profound and more statesmanlike utterance.85 And he adds further, “but it is difficult to imagine a modern statesman, be it in the West or in the East, saying after the victorious end of the last World War: the same fate we today condemned Berlin to, will once strike Moscow and Washington!”86 V. Conclusion Obviously, Eric Voegelin and Karl Löwith offer parallel but different attempts to grasp the problem of time and eternity as an answer to eschatology and to the modern “crisis.” Their understanding of eschatology as a particular experience of time and of its political consequences is similar, but the alternatives they propose are opposite. Concerning Voegelin’s work, the new direction adopted in the fourth volume of Order and History permits him to develop of a conception of history no longer based on linear time, but on the continuity of experiences. The “flowing presence” is the notion referring to the temporality of the metaxy, between time and eternity, of man in his openness towards “transcendence.” However, due to the conception of “transcendence” as the aim of the process of differentiation, an eschatological direction of history still remains. By importing Jaspers’ concept, Voegelin also imports its weaknesses and fails to legitimate it. Particularly Voegelin’s hellenized view on Christianity reveals the tendency to excessively emphasize the continuity of experiences in the process of differentiation, which partly comes close to an idea of progress, notwithstanding Voegelin’s willingness to break with a Hegelian philosophy of history. Löwith criticizes this point in their correspondence, asking “and why should it be impossible or absurd to return back to an already attained degree of consciousness + for example with Nietzsche, to translate the man back in the original text ‘natura’? These attempts are only absurd, if one supposes that the minimum of progress, i. e. ‘continuity’, is the thin guideline history should follow” (07/01/1945). Indeed, the “eschatological direction” of Voegelin’s conception of history induces to ask if his earlier attempt to condemn the “gnosticism” of certain political movements 84
Paul Valéry, Œuvres, II, Paris, Gallimard, 1984, p. 1508. Karl Löwith, Meaning in History, p. 8. 86 Polybios’ story recurs very often in Löwith’s works, among others in Karl Löwith, Mensch und Geschichte, SS 2, p. 350. 85
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may not be itself a form of “historiogenesis,” aiming at justifying a political regime in the context of an ideological conflict. Löwith’s own position is, as he mentions in his letter of November 16th, 1946, “very little constructive according to the american taste.” But his skeptic distance is not a simple retreat from the reality of the political world, as Jürgen Habermas once affirmed,87 but per se a political position. Indeed, the possibility of recovering an immanent notion of eternity in “nature” implies the refusal of any “political eschatology,” i. e. any idea of a political order referring to a future to come, and strongly relativizes the meaning of human actions in history. In addition to this, one should not forget Löwith’s phenomenology of the Mitmensch, which underlines the necessity of considering the man first and foremost amongst his Mitmenschen. Not hope, but attention to others could be the principle of this political ethics. Thus, both Voegelin and Löwith agree on the necessity of rethinking time and its political consequences by developing a philosophical anthropology. In this project, the recovery of eternity reenables us to ask the question of the good regime beyond the temporality of worldly events, and establishes a distance to them and to time itself, which can no longer be the criterion of human action and being. But maybe only the most compact symbol can express this experience. “When I left Japan, Kitaro Nishida gave me a farewell present, a kakemono bearing a black circle and a few characters written by himself. […] These words suggest that a mind that has become perfect or enlightened is like the lonely light of a full moon; it swallows every phenomenon. The empty circle indicates the moon, that is, the spirit, and at the same time, the Buddhist ‘nothing’ or emptiness. In the light of the spiritual moon all things are simply what they are, for they have neither a whence nor a whither. What really is is eternally what is. The whole movement of history is like the motionless movement of a waterfall, which has the clear-cut shape of a ribbon and yet is totally shapeless, changing at every moment and yet always the same.”88
87 Jürgen Habermas, Karl Löwiths Rückzug vom historischen Bewußtsein, Merkur, XVII. Jahrgang, 1963. 88 Karl Löwith, The Japanese Mind (1943), SS 2, p. 561.
Schiller und der Rechtsstaat Bemerkungen zu Matthias Tresselts „Friedrich Schiller und die Demokratie“, zu Yvonne Nilges’ „Schiller und das Recht“, über einige Klischees und zu den Schwierigkeiten transdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit Von Hasso Hofmann I. Zu behaupten, das Thema „Schiller und das Recht“ habe derzeit Konjunktur, wäre sicher eine Übertreibung. Aber gestiegen ist das Interesse daran im letzten Jahrzehnt zweifellos. 2001 hat Jutta Limbach, die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, in ihrer Marbacher Schillerrede das Thema aufgegriffen. Unter dem anspruchsvollen Titel „Schiller und das Recht“ sprach sie – nach einem Blick auf Schillers Schaubühnen-Rede über das Theater als moralische Anstalt – hauptsächlich über die berühmte Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. Sie fand indes, dass der Text weniger das Interesse Schillers am Recht als am „Verhältnis von strafendem Staat, Gesellschaft und Individuum“ und an der Kriminalpsychologie zeige.1 2005 erschienen gleich zwei einschlägige Beiträge: Klaus Lüderssens rechtsphilosophische Reflexionen2 und eine kleine, aber sehr aufschlussreiche Untersuchung von Udo Ebert, der – ebenfalls Jurist – die Frage nach den Perspektiven und Absichten der Äußerungen Schillers zum Recht erhellte.3 In den Folgejahren publizierte Michael Kloepfer zwei Aufsätze zu den beiden Dramen Schillers, die den Verfassungsrechtler in besonderer Weise ansprechen: „Don Karlos“ und „Wilhelm Tell“.4 Weiter greift die 2009 erschienene Tübinger juristische Dissertation von Matthias Tresselt aus. Sie will die „Demokratie-Bezüge in Schillers Werk“ darstellen und „anhand 1
S. 5. 2
Jutta Limbach, Schiller und das Recht, Marbacher Schillerreden 2001, hg. v. Ulrich Ott,
Klaus Lüderssen, „Daß nicht der Nutzen des Staats Euch als Gerechtigkeit erscheine“: Schiller und das Recht, 2005. 3 Udo Ebert, Schiller und das Recht, in: Schiller im Gespräch der Wissenschaften, hg. v. Klaus Manger, Gottfried Willems, 2005, S. 139 – 169, mit dem Fazit: Schiller habe das Recht jeweils als Dramatiker, Psychologe, Aufklärer, Historiker und Kunstphilosoph betrachtet, sei am Recht als solchem aber nicht besonders interessiert gewesen. 4 Michael Kloepfer, Verfassungsdenken in Schillers „Don Karlos“, in: Neue Juristische Wochenschrift 2006, S. 560 – 565; ders., „Wilhelm Tell“ und das Recht, in: Festschrift für Detlef Merten, 2007, S. 331 – 349; beide Aufsätze jetzt in: Michael Kloepfer, Dichtung und Recht, 2008, S. 16 – 59. Beide Aufsätze hat Nilges (N 6) übersehen.
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eines modernen Ideenbegriffs der Demokratie bewerten“.5 All’ das zu übertreffen, unternimmt nun die Germanistin Yvonne Nilges in ihrer ambitionierten Heidelberger Habilitationsschrift „Schiller und das Recht“, die im vorigen Jahr erschienen ist. Nilges möchte die bislang fehlende „umfassende Gesamtdarstellung über Schiller und die außergewöhnlich reichhaltigen Rechtsbezüge seiner Werke“ liefern, ja mehr noch: ihn „als eine(n) der bedeutendsten – und aktuellsten – Dichter und Denker in Fragen des Rechts“, insbesondere als Geburtshelfer des „modernen Rechtsstaats“ zeigen.6 II. Was zunächst die „Demokratie-Bezüge“ in Schillers Werk anlangt, so will sie Tresselt7 nach dem Leitbild eines „entpolitisierten Ideenbegriffs“ der modernen westlichen Demokratie bestimmen, also vollständig von dem politisch-polemischen Gebrauch des Terminus Demokratie in der Revolutionszeit absehen, ohne jedoch Schillers Texte insgesamt aus dem historischen Kontext jener Zeit herauszulösen. Als Elemente seines (aktuell nun freilich höchst politischen) „Ideenbegriffs“ benennt Tresselt – nach „Substanz“, „Struktur“ und „Universalität“ gegliedert – Rechts- und Freiheitsschutz der Bürger (Substanz), Gleichheit, Variabilität der Ausgestaltung, vorpositive Werte (Struktur) sowie europäische Identität und humanitäres Völkerrecht (Universalität). In dieses so nicht allzu fein kartierte Begriffsfeld sucht er einzutragen, was Schiller hauptsächlich in seinen Geschichtsdramen über Recht und Staat geäußert hat. Dieses Verfahren zeigt nach Tresselts Meinung, dass Schiller – obwohl er publizistisch nicht auf Seiten der „Demokraten“ i. S. seiner Zeit focht – dennoch „ein demokratischer Denker“, sogar ein sehr moderner Denker der Demokratie war (191). Natürlich geht bei diesem Verfahren, das man als einen retrospektiven Ideenfischzug mit Hilfe eines selbstgestrickten Begriffsnetzes bezeichnen könnte, etliches durch die Maschen. Die vielen literarhistorischen Bezüge, Abhängigkeiten und Einflüsse, aber auch manche dramatische Feinheiten und Eigengesetzlichkeiten kommen auf diese Weise kaum in den Blick. So spielt z. B. für Tressel die von Nilges sehr stark betonte Auseinandersetzung Schillers mit dem demokratischen Kirchenvater Rousseau selbstverständlich nicht die geringste Rolle. Und die große, fast die Einheit des Dramas sprengende Spannung zwischen Tells privater Notwehr und dem politischen Widerstand der Kantone wird bloß nebenbei und indirekt durch Literaturzitate in einer Fußnote angesprochen – Folge des Umstandes, dass Tresselt das Drama von vornherein allein unter dem Gesichtspunkt „Durchsetzung der Demokratie“ betrachtet (122). Alle Gedanken aber, die sich Tresselts Demokratie-Schema nun gar nicht fügen wollen, müssen als zeitbedingte Trübungen der Idee, als figurenund rollenspezifische Äußerungen oder als begrenzte Ausnahmen relativiert werden. Insbesondere soll Schillers Rechtfertigung des gewaltsamen Widerstands eine ganz 5
Matthias Tresselt, Friedrich Schiller und die Demokratie, 2009, S. 11. Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, 2012, S. 7, 16, 87 ff. 7 Die Zahlen im folgenden Fließtext beziehen sich auf die Seiten des in N 5 genannten Buches. 6
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eng begrenzte Ausnahme von seiner Verurteilung aller revolutionären Gewalt sein. Allerdings klingt Stauffachers berühmte Rechtfertigungsrede (Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht …) ausweislich der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung nicht so viel anders als die Rechtfertigungen der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die Abgrenzung gerechtfertigter und nicht gerechtfertigter politischer Gewalt bleibt unklar. Klar ist jedoch, dass gerade der Rechtfertigung des gewaltsamen Widerstands das Hauptinteresse des Dramatikers gilt. Sie steht im Mittelpunkt, nicht das Postulat der Gewaltlosigkeit. Ein anderes Beispiel: Die Kritik an der Mehrheitsherrschaft in der „Verschwörung des Fiesko“ und in „Maria Stuart“ sei von den Situationen, Figuren und Rollen in den beiden Dramen bestimmt und nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Das jedoch könnte im Hinblick auf Schillers Haltung zur Französischen Revolution durchaus bezweifelt werden. Auch das Thema Todesstrafe fügt sich dem Schema nicht recht. Im Einklang mit einer vornehmlich von Cesare Beccarias epochemachendem Werk über „Verbrechen und Strafen“ von 1764 inspirierten Strömung der Aufklärung lehnte Schiller die Todesstrafe aus humanitären Gründen ab. Die religiöse Überhöhung der von Maria Stuart letztlich innerlich akzeptierten Hinrichtung passt dazu allerdings nicht. Also versucht es Tresselt mit dem Argument einer noch nicht ausgereiften Idee. Dieses Drama lasse „noch keine klare Stellungnahme Schillers im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe erkennen“ (73). Tatsache ist indes, dass sich Schiller längst vordem entschieden gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte. Dieselbe Eindeutigkeit in der Tragödie aber hätte das Handeln der Elisabeth schlicht auf unmenschliche Willkür verkürzt und der Figur der Maria Stuart etwas von der religiösen Dimension ihres Charakters genommen. Das Theatergenie Schiller lässt sich von den eigenen abstrakten Grundsätzen nicht einengen. Er nutzt das bühnenwirksame Potential rechtlicher Konflikte als Dramatiker, nicht als Dichter und Denker des Rechts. III. Der Ansatz von Nilges unterscheidet sich von dem Tresselts in dreifacher Hinsicht. Als Germanistin gründet sie ihre Überlegungen auf eindringliche literarhistorische Studien, knüpft also nicht vorab ein Fangnetz rechtlicher Begriffe. Dabei rückt sie aus gutem Grund die theoretischen und historischen Texte Schillers in den Vordergrund. Im Gegensatz zu dieser breiten, beziehungsreichen und differenzierten Aufarbeitung des literarischen Materials steht – das ist der zweite Punkt – die reichlich vage Bezeichnung der Entwicklungs- bzw. Untersuchungsperspektive. Da ist, fernab vom Stand der nicht unkomplizierten verfassungsrechtlichen Diskussion,8 nur sehr allge8 Siehe nur Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof, B. II, 3. Aufl. 2004, S. 541 ff.
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mein von Schillers „rechtsstaatlichen Idealen“ die Rede,9 von dem „Dispositiv eines modern werdenden Rechtsstaates“ (166), auch von der immer ausgefeilteren Vorwegnahme der „Grundprinzipien“ des Rechtsstaats (343) oder dem „freiheitlichen Rechtsstaat als Prinzip“ (344). Begründet wird dieses „Leitbild“ von Fall zu Fall mit Schillers Kampf für Freiheitsrechte und Menschenwürde, seinem Eintreten für das Gleichheitsprinzip, die repräsentative Demokratie und das Widerstandsrecht. So gut wie gar nicht ist dagegen von der Gewaltenteilung – seit der Französischen Revolution Kernstück der Rechtsstaatslehre – und vom Gesetzmäßigkeitsprinzip, also dem Vorrang und dem Vorbehalt des (Parlaments-)Gesetzes die Rede. Nur andeutungsweise erscheint das Thema in der Maria Stuart, insofern Nilges sie als Opfer eines „Maßnahme“- oder „Einzelfallgesetzes“ sieht (301 f.): Wehe/Dem armen Opfer, wenn derselbe Mund,/Der das Gesetz gab, auch das Urteil spricht! klagt die unglückliche Königin mit einer berühmten Wendung Montesquieus, der in seinem klassischen Kapitel über die Gewaltenteilung die Richter ausdrücklich den „Mund“ nennt , der bloß die Worte des Gesetzes ausspricht (Vom Geist der Gesetze XI 6). Der von Nilges sonst gern zitierte Autor wird hier jedoch nicht erwähnt. In der Tat ist die Sache etwas kompliziert: Montesquieu schreibt zwar, wie schon Aristoteles, über die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, verbindet diese Unterscheidung aber mit dem Freiheitsgedanken und einer spezifisch neuzeitlichen Balance-Vorstellung: le pouvoir arrête le pouvoir. Von wechselseitiger Hemmung kann freilich nur bezüglich der sozialen Mächte oder politischen Institutionen die Rede sein, denen jene Staatsfunktionen zugeordnet sind. Und das sind wiederum drei: der über die Exekutivgewalt verfügende Monarch, Adel und Volk, welche in spannungsvoller Einheit die gesetzgebende Körperschaft bilden. Die Gerichtsbarkeit dagegen ist weder einem der Stände noch einer permanenten Einrichtung zugeordnet, sie ist en quelque façon nulle, zudem streng an die Gesetze gebunden, ist nur der Mund der Gesetze und bedarf deswegen keiner weiteren institutionellen Hemmung im Interesse der Freiheit. Doch wehe, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden getrennt ist, der Richter also Gesetzgeber wäre. Dann gibt es nach Montesquieu keine Freiheit. Für Schiller gilt das – weniger sinnfällig – auch umgekehrt, wenn ein tyrannischer Gesetzgeber nachher auch die Urteile spricht. Deswegen erhebt Nilges den Vorwurf der Verurteilung aufgrund eines „Maßnahme“- oder „Einzelfallgesetzes“. Kann man aber sagen, dass die Urteilsgrundlage, der Act for the Security of the Queen’s Royal Person, gegen das moderne rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesallgemeinheit bei Grundrechtseinschränkungen verstieß? Bei abstrakter Formulierung des Gesetzes ist das nicht der Fall. Denn gegen „Einzelfall-Anlassgesetze“ bestehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine verfassungsrechtlichen Bedenken, und den vagen Begriff des Maßnahmegesetzes hält das Gericht ohnehin für „verfassungsrechtlich irrelevant“. Im Übrigen ist es auch hier wohl so, dass Schiller weniger für rechtsstaatliche Verfahren plädieren, als im Interesse der dramatischen Spannung 9 Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, (N 6) S. 12. Die Zahlen im folgenden Fließtext beziehen sich auf die Seitenzählung dieses Werks.
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die verhängnisvolle Möglichkeit politischen Missbrauchs legaler Instrumente zeigen will. Und was den „Wilhelm Tell“ betrifft, hat der Jurist Schwierigkeiten, das Widerstandsrecht, das dessen dramatisch außerordentlich dankbaren Kern ausmacht, zugleich als ideellen Höhepunkt rechtsstaatlichen Denkens zu verstehen, als den ihn Nilges’ vorletztes Kapitel (317 ff.) erscheinen lässt. Dagegen steht nicht nur der historische Umstand, dass es Kant und andere Autoritäten der Überlieferung rechtsstaatlichen Denkens verworfen haben. Man erinnere sich zudem: Die Aufnahme des Widerstandsrechts in das Grundgesetz erfolgte erst 1968 und diente als symbolische Kompensation der Mehrheitsbeschaffung für die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Über die symbolische Bedeutung hinaus hat die Konstitutionalisierung des Widerstandsrechts wenig rechtliche Relevanz und spielt daher in der Diskussion um das Rechtsstaatsprinzip eine denkbar geringe Rolle. Und das alte ständische Widerstandsrecht hat mit den Prinzipien des modernen Rechtsstaats ohnehin nichts zu tun. Der literarhistorische Ansatz von Nilges zeitigt schließlich – wie schon angedeutet – noch einen besonders interessanten Aspekt, der bei Tresselt trotz der demokratietheoretischen Ausrichtung seiner Untersuchung nicht vorkommt: die angeblich „komplexe Rezeption Rousseaus“ bei Schiller (Nilges, S. 12). Darauf wird zurückzukommen sein. Aber der Reihe nach! IV. Im einleitenden ersten Teil ihres Werks behandelt Nilges, den Spuren von Limbach folgend, ebenfalls die „Schaubühnen-Rede“ Schillers von 1784 und die zwei Jahre jüngere Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“. Was die beiden Texte Schillers verbindet, ist dessen Forderung „Mehr Menschlichkeit für alle“ und die – jeweils unterschiedlich akzentuiert – Kritik an der Gerichtsbarkeit des Absolutismus. Nilges’ unerreichtes Vorbild in dem zweiten Punkt ist Reinhart Kosellecks luzide Darstellung der Entwicklung von Schillers Gerichtsbarkeit der Bühne zur politischen Kritik.10 Näher an unser Thema scheint der Abschnitt über Schillers Erzählung vom Räuberhauptmann ,Christian Wolf‘ heranzuführen, den Staat und Gesellschaft durch übermäßig harte, ja grausame Reaktionen auf jugendliche Verfehlungen in eine Verbrecherlaufbahn geradezu hineingetrieben hatten. Nilges’ eindringliche, umsichtige und detailreiche Untersuchung gipfelt in zwei Thesen. Die erste besagt, „dass „(d)ie alte strafrechtliche Trias – Richter, Verbrecher und Sanktion“ von Schiller „obduziert und demontiert (wird) und an ihrer statt … von Ferne ein erneuertes triadisches Prinzip auf(leuchtet): das medizinische Modell des Richters als Arztes, des Verbrechers als Patienten und der ,Kur‘, der Therapie“ (68; Hervorheb i. O.). Darüber hinaus erweise sich der junge Schiller in dieser Erzählung – dies die zweite These – ganz aus Eigenem als „Kriminalsoziologe avant la lettre“ (83). Schillers „Beschreibung einer 10
Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, 1959, S. 82 ff.
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verhängnisvollen Wechselwirkung zwischen den Handlungen des Straftäters und Negativerwartungen des Mitmenschen“ (ebd.) entspreche dem labelling approach amerikanischer Kriminologen in der Nachfolge Frank Tannenbaums (Crime and the Community, 1938). Wie aber sind diese trefflichen Assoziationen in die thematische Perspektive der Entwicklung rechtsstaatlicher Prinzipien einzuordnen? Jener kriminologische ,Etikettierungsansatz‘ hat jedenfalls nichts mit der Entwicklung eines rechtsstaatlichen Strafrechts oder einer entsprechenden Strafrechtstheorie zu tun. Und das angedeutete Bild vom Richter als Sozialarzt weist zwar – was Nilges nicht erwähnt – auf Franz v. Liszt und die von ihm gebrochene Bahn zurück. Seine „Neue“, nämlich soziologische Schule des Strafrechts wollte über die Rechtsdogmatik hinaus die Ursachen und Erscheinungsformen der Straftaten erforschen und kriminalpolitisch das Strafrecht gegen den Grundsatz der Tatvergeltung auf die Täterpersönlichkeit und auf den Erziehungs- und Sicherungszweck ausrichten. Sie wandte sich damit jedoch gegen die „klassische“, bürgerliche Rechtsstaatstradition mit ihrer idealistischen Rechtfertigung der Strafe. Diese sozialkritische, eher wohlfahrtsstaatliche Bewegung förderte zunächst erfolgreich den Resozialisierungsgedanken, ohne freilich die Straftheorie vom Schuldausgleich und der Generalprävention verdrängen zu können. In den letzten Jahren hat die Überzeugungskraft des Resozialisierungsgedankens zudem durch empirische Befunde hartnäckiger Verweigerung bzw. der Erfolglosigkeit, auch durch Kritik am Paternalismus des Konzepts wie durch den Eindruck der längst voll resozialisierten Massenmörder von Auschwitz sehr gelitten. Offenkundig muss es demnach für Nilges’ Qualifizierung des Resozialisierungsgedankens als einer typisch rechtsstaatlichen Errungenschaft einen anderen Grund geben. Tatsächlich ist es die leitende Vorstellung, dass „Kardinalthesen“ aus Montesquieus De l’ esprit des lois – einem Buch, das „heute als maßgebend für den modernen Rechtsstaat gilt“ – Schillers Erzählung den Weg weisen (45). Bei Montesquieu glaubt Nilges als erste die bei Schiller wiederkehrenden „progressiven, liberalen Grundsätze des (Straf-)Rechts“ gefunden zu haben. Zum Beweis hebt sie die folgenden Sätze Montesquieus hervor (hier in Übersetzung): „Strenge Strafen entsprechen mehr der despotischen Regierung, deren Prinzip der Schrecken ist, als der Monarchie und der Republik, deren Triebfedern Ehre und Tugend sind. … In diesen (sc. den gemäßigten) Staaten wird ein guter Gesetzgeber weniger auf die Bestrafung als auf die Verhütung bedacht sein; er wird sich mehr bemühen, die Sitten zu bessern, als Strafen zu verhängen.“
Das Zitat stammt aus Montesquieus Vergleich der drei von ihm angenommenen Regierungsformen – Despotie, Monarchie und Republik (mit den Unterformen Aristokratie und Demokratie) –, und zwar dem Kapitel, das die „Strenge der Strafen unter den verschiedenen Regierungsformen“ behandelt (VI 9). Dabei bezieht Montesquieu den Vorrang der Besserung der Sitten vor der Bestrafung ausdrücklich auf alle „gemäßigten Staaten“, und das heißt bei ihm auf Monarchie, Aristokratie und Demokratie in gleicher Weise. Wir haben es also mit einem Stück der (analytisch-deskriptiven,
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nicht normativen) Handlungstypologie zu tun, die Montesquieu seiner systematischen soziologischen Typologie der Verfassungsformen zugeordnet hat. Natürlich beschränkt jede Form der Herrschaft nach Gesetzen die Macht und ist der Freiheit damit förderlicher als die Despotie. Das ist ein alter Gedanke. Aber einen direkten Weg zum strafrechtlichen Resozialisierungsgedanken gibt es (anders als bei der Gewaltenteilungslehre und den modernen Verfassungen) nicht. Besserung der Sitten durch gute policey ist etwas ganz anderes als die Rückführung von Straftätern in die Gesellschaft. Und die einzige Entwicklungstendenz, die den Autor der Considérations sur la grandeur et la décadence des Romains interessierte, war der Verfall. So beschließt er seine vergleichende Verfassungslehre mit dem VIII. Buch über den „Verfall der Grundsätze der drei Regierungsformen“. Allerdings findet sich bei Montesquieu nächst der Gewaltenteilungslehre noch eine andere Spur der Rechtsstaatsgenese. Sie zeigt sich im XII. Buch, das dem über die Gewalteneilung folgt und außer von der vernunftrechtlichen Rationalisierung der Strafarten (XII 4) vom Strafverfahren handelt (XII 2 und 3). Man erinnert sich dabei, dass die ältesten und bis heute unverzichtbaren verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien solche des Habeas-Corpus-Typs sind. Aber das alles steht auf einem anderen Blatt. V. Dem zentralen Thema – „Es ist dies Schiller – und der Staat“ (so Nilges, S. 90) – wendet sich die Autorin im II. Teil ihres Werks mit großer literarischer Geste zu: „Die Geburt des modernen Rechtsstaats aus dem Geist der Historie: Schiller, der Zeitbürger auf dem Weg in die Moderne“. Die Untertitel lauten: „1. Das Alte und das Neue auf überschwängliche Weise verbunden: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung (1788); 2. Über den kommenden Sieg der Demokratie: ,Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon‘ (1789); 3. Die Krise als Kairos: Unterwegs zum Europarecht in der Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs (1791 – 1793); 4. Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit: Paralipomena zu Schillers usueller Staats-Semantik“. Da Schillers Auffassung von Staat und Recht aus seinen historiographischen Arbeiten naturgemäß nur indirekt gemäß der Verwendung gewisser Schlüsselbegriffe und ihrer Konnotationen rekonstruiert werden kann, ist eine systematische Interpretation schwierig. Zudem bringt der exzentrische Blickwinkel die Gefahr mit sich, dass Assoziationen, Voraus- und Zurückverweisungen, mancherlei Einschübe, Behauptungen und Anspielungen wuchern. Immerhin sind bei der Behandlung des Abfall(s) der Niederlande zwei Schwerpunkte auszumachen. Der eine ergibt sich (105 ff.) aus dem Umstand, dass Schiller in diesem Text wiederholt den Ausdruck „Menschenrecht(e)“ gebraucht. Im „Don Karlos“ war das ein Jahr zuvor noch nicht der Fall. Erst jetzt greift Schiller dieses Stichwort einer längst lebhaften zeitgenössischen Diskussion auf. Nilges schließt (109): „Als notwendige Konsequenz der Menschenrechte folgt für Schiller nicht allein die religiöse, sondern auch
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politische Freiheit der Niederlande …“ Bei Schiller steht es freilich anders: „Nichts ist natürlicher als der Übergang bürgerlicher Freiheit in Gewissensfreiheit.“ (IV 65)11 Interessanter ist der zweite Punkt, den die Autorin zunächst so andeutet (89): „Im Abfall der Niederlande … verbindet Schiller das ,alte‘ Recht historiographisch mit dem ,neuen‘, aufgeklärten – und zeigt sich uns als überschwänglich-liberaler Zeitbürger des 18. Jahrhunderts, der rechtsphilosophisch bereits unverkennbar auf dem Weg in die Moderne ist.“ Wenig später schreibt sie (93, Anm. 8) im Anschluss an ihren akademischen Lehrer Dieter Borchmeyer, sie suche aufzuzeigen, „inwiefern das ,alte Recht‘ sich im Abfall der Niederlande einer ,neuen‘ Rechtsphilosophie koordiniert und beide Konzepte in Schillers Rechtsdenken einander wechselseitig, vielfältig durchdringen.“ Was damit konkret gemeint ist, wird erst deutlicher, als Nilges S. 102 den „Angelpunkt“ dieser Bewegung benennt: „Grotius – das ist bislang nie dargestellt worden – wird für Schiller dergestalt (sc. wegen dessen ,humanitärer Völkerrechtslehre‘) zum Angelpunkt, welcher das Alte mit dem Neuen in der Vorwegnahme eines modernen Rechtsstaates verbindet.“. Ihr zweites Argument (nach dem Verweis auf das angeblich humanitäre Völkerrecht bei Grotius) leitet Nilges daraus ab, dass Schillers Rechtfertigung des niederländischen Widerstandes sich mit Fallbeispielen deckt, in denen auch Grotius ausnahmsweise das Recht zum aktiven Widerstand bejaht – in Übereinstimmung allerdings mit William Barclay, dem „stärkste(n) Verteidiger der königlichen Gewalt“ (Grotius), der gegen die von ihm bleibend so benannten (calvinistischen) „Monarchomachen“ kämpfte. In allen diesen Fällen ist bei Grotius von Naturrecht freilich keine Rede. Dass alle Menschen nach dem Naturrecht das Recht haben, „Widerstand zu leisten, um dadurch ein Unrecht von sich abzuwehren“, gilt nach Grotius (De iure belli ac pacis, I 4, 2) ausdrücklich nur für das bellum privatum, also den Streit zwischen Privaten, nicht für den Streit mit der (vertraglich eingesetzten) Obrigkeit. Grotius’ Argument ist in diesem Fall nicht das Naturrecht, sondern die Übereinstimmung von Absolutisten und Monarchomachen (s. dazu Prol. 40). Die Textbasis, auf der Nilges ihre These hochzieht, ist also – sagen wir – äußerst schmal. Dabei unterstellen wir mit ihr bereits, dass Schiller nicht nur die von ihm zitierten Annales et historiae de rebus Belgicis von Grotius gelesen, sondern auch das von ihm nicht genannte grotianische Hauptwerk ausgewertet hat. Inwiefern dies epochemachende Werk tatsächlich etwas mit der Herausbildung des modernen Verfassungsstaates zu tun hat, erschließt sich freilich erst, wenn man es als systematische Umarbeitung des göttlich hierarchischen Naturrechts zum konsensorientierten Vernunftrecht begreift. Zu ergänzen bleibt, dass Nilges ihren Standpunkt bei Behandlung der zweiten historischen Monographie Schillers über die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs revidiert. Wird Grotius’ Hauptwerk für Schillers Darstellung des Abfalls der Niederlande als „elementar“ bezeichnet (147), erscheint es nunmehr gegenüber dem fort11 Friedrich Schiller, Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung; zit. nach Band und Seite der fünfbändigen von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert besorgten Ausgabe sämtlicher Werke.
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schrittlichen, modernen Schiller als arg rückständig. Tatsächlich hat der Rekurs auf die brutalen Kriegsbräuche der Antike (De jure belli ac pacis, III, 4, 6 ff.) Grotius den Vorwurf eingebracht, zur Barbarisierung des 30-jährigen Krieges beigetragen zu haben.12 Begann sich das „humanitäre Völkerrecht“ doch „erst im Lauf des 19. Jahrhunderts ganz allmählich durchzusetzen“ und „kommen“ die modernen Menschenrechte doch „erst sehr viel später als bei Grotius auf“ (so Nilges, S. 152). In der Tat: so ist es. Jetzt ist es Schiller, der die „,Menschlichkeit‘ zur Grundlage des Völkerrechts erhebt“, und zwar „erstaunlich eigenständig … und der eigenen Zeit weit voraus (Nilges, ebd.). Denn er empört sich – vermutlich weder als erster noch als einziger – über die unmenschlichen Grausamkeiten des 30-jährigen Krieges namentlich bei der Einnahme und Zerstörung Magdeburgs durch die kaiserlichen Truppen unter Tilly und nennt eine von Wallenstein den schwedischen Gesandten angedrohte Behandlung völkerrechtswidrig (wie er das in einem vergleichbaren Fall auch schon im Abfall der Niederlande getan hatte, von Nilges dort noch als Beweis für die Abhängigkeit von Grotius gewertet, bei dem die antiken Lehren von der Unverletzlichkeit der Gesandten zusammengefasst sind: De iure belli ac pacis, II 18). Viel ist das nicht. Erinnert man sich zudem, dass Schillers Rechtfertigungsgründe für den niederländischen Widerstand auch einer Theorie des monarchischen Absolutismus entnommen sein könnten, fragt man sich, was von der These der Entwicklung des modernen Rechtsdenkens aus dem alten bei Schiller bleibt. Da nützt auch die Berufung auf den akademischen Lehrer nichts: Borchmeyers eher triviale Bemerkung, dass es im niederländischen Aufstand wie beim Rütli-Bund anfänglich um die Wiederherstellung alten Rechts gegangen, das Ergebnis aber etwas „ganz Neues“ gewesen sei,13 trägt so weit nicht. Beifallswürdig ist dagegen die nachdrückliche Hervorhebung des europäischen Aspekts in Schillers Geschichtswerk. Ihn interessiert nicht die einschneidende Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Reichsstaatsrecht und die Ausbildung der Landeshoheit. Vielmehr rückt er das Friedensinstrument von Münster und Osnabrück sehr betont gleich am Anfang in die Perspektive einer – von Napoleon indes alsbald konterkarierten – gesamteuropäischen Vision: „Europa ging ununterdrückt und frei aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum erstenmal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte; und diese Teilnehmung der Staaten an einander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen“ (IV 366). Merklich gedämpfter klingt freilich schon kurze Zeit später der Schluss (ebd., S. 745): „(W)as endlich der Inhalt dieses Friedens war, was durch dreißigjährige Anstrengungen und Leiden von jedem einzelnen Kämpfer gewonnen oder verloren worden ist, und welchen Vorteil oder Nachteil die europäische Gesellschaft im großen 12
Hersch Lauterpacht, The Grotian Tradition in International Law, in: The British Yearbook of International Law 23 (1946), S. 1 – 53 (12 ff.). 13 Dieter Borchmeyer, Goethes und Schillers Sicht der niederländischen ,Revolution‘, in: Schiller als Historiker, hg. v. Otto Dann u. a., 1995, S. 149 – 155 (151 ff.).
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und ganzen dabei mag geerntet haben – muß einer anderen Feder vorbehalten bleiben.“ Eine gewisse Überraschung bietet der II. Teil des Buches von Nilges noch insofern, als sie ausgerechnet der Vorlesung über „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ (1789) „grundsätzliches Gewicht für Schillers (Staats- und Rechts-)Denken“ beimisst (117 Anm. 34), darin gar den „bisherige(n) Höhepunkt in Schillers reflektierter Staatsauffassung“ zu erkennen glaubt (129). Schiller selbst sah das offenbar anders. Hat er den Text doch wegen seiner weitgehenden Abhängigkeit von den Vitae parallelae Plutarchs, also wohl wegen mangelnder Originalität, nicht in die Sammlung seiner „Kleineren prosaischen Schriften“ aufgenommen. Nilges’ Argument: Am Ende der Vorlesung erscheine Schillers Ideal: die „repräsentative Demokratie“, mithin „eine dezidiert moderne Form der Demokratie …, die Schiller unter dem Eindruck Lockes und Montesquieus als zukunftsweisend für die Alte Welt begreift“ (128 f.). Der Textbefund ist freilich wieder viel karger. Schiller schreibt (IV 831 f.): „Die Übel, die von einer Demokratie unzertrennlich sind, tumultuarische und leidenschaftliche Entscheidungen und der Geist der Faktion, konnten freilich in Athen nicht vermieden werden – aber diese Übel sind doch weit mehr der Form, die er wählte, als dem Wesen der Demokratie zuzuschreiben. Er (sc. Solon) fehlte sehr darin, daß er das Volk nicht durch Repräsentanten, sondern in Person entscheiden ließ, welches wegen der starken Menschenmenge nicht ohne Verwirrung und Tumult und wegen der überlegenen Anzahl der unbemittelten Bürger nicht immer ohne Bestechung abgehen konnte.“ Schiller folgt damit der Kritik Montesquieus – der angebliche Einfluss Lockes ist nur assoziativ postuliert, nicht belegt –, bleibt jedoch hinter der eindringlichen Analyse Montesquieus zurück. Während Schiller nur die möglichen Störungen und Verzerrungen der in der Volksversammlung gefällten Entscheidungen erwähnt, hebt Montesquieu positiv den „großen Vorteil der Repräsentanten“ hervor, der in der Möglichkeit von Verhandlungen liegt (XI 6). Sie setzen allerdings voraus, dass die Vertreter nicht durch Instruktionen gebunden sind (ebd.). Erst das freie Mandat macht die gewählten Vertreter zu modernen Repräsentanten. Und erst die Theorie des großen Verfassungskonstrukteurs Sieyes macht die repräsentative Demokratie für Kontinentaleuropa zukunftsfähig. Die Verwendung des alten Terminus Repräsentation allein tut’s nicht. Er ist zu vieldeutig.
VI. Im III. Teil nimmt Nilges mit der Interpretation der Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ einen neuen Anlauf. Sie versteht sie als „Versuch“, nicht mehr nur aus der Historie, sondern in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution „einen modernen Rechtsstaat zu bereiten“ (167). Der Meinung zufolge, dass die Revolution „sich“ auf Rousseaus Gesellschaftsvertrag „gestützt
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hatte“ (169),14 erscheint nach dem mehr oder minder fruchtlosen Rekurs auf Montesquieu und Grotius jetzt Rousseau als Angelpunkt. Angeblich bezögen sich jene Briefe am Anfang und am Schluss „nahezu allenthalben auf Rousseaus Kultur-, Gesellschafts- und Verfassungstheorie“ und wendeten „dieselbe nun gegen sich selbst“ (174). Dass Rousseau namentlich nicht genannt wird, stört die Autorin nicht. Sie benennt im Wesentlichen vier Kritikpunkte. 1. Rousseaus volonté générale unterstelle „rein theoretisch-abstrahierend“ eine Urteilsreife, zu der der Mensch nach Schiller „erst durch die Ästhetische Erziehung finden kann“ (176). Ihr Ausdruck „rein theoretisch-abstrahierend“ zeigt, dass der Autorin der Begriff des Normativen fehlt. Rousseaus volonté générale verlangt Einsicht und Bürgertugend. Also müssten deren Gewinnung und Ausbildung, wie sie nach Rousseau nur Folge des gesellschaftlichen Lebens sein können, dem Gesellschaftsvertrag eigentlich vorhergehen (Contrat social, II, 7, 9), was nicht möglich ist. Die notwendige Verwandlung des Naturmenschen in einen citoyen bedarf mithin der charismatischen Kraft eines ersten Gesetzgebers (ebd., II 7, 3). Für den schon entsprechend erzogenen Émile genügt unter der Leitung seines Erziehers die Darstellung der Grundsätze des Staatsrechts. Er hört folglich nichts von jenem Gesetzgeber. 2. Diesen ersten Gesetzgeber, d. h. den Verfassunggeber, vergleicht Rousseau, um dessen notwendigerweise extrakonstitutionelle Stellung hervorzuheben, ein einziges Mal mit dem Konstrukteur einer Maschine, die dann von einem Arbeiter in Gang gesetzt wird (Contrat social, II 6). Nilges glaubt deswegen, im Gegensatz zu Schillers „Kunstwerk“ ,Staat‘, vom „Maschinenstaat Rousseaus“ sprechen zu können (178). In Anbetracht von dessen ständigem körperschaftlichen Sprachgebrauch, namentlich angesichts der genossenschaftlichen Formulierung des Gesellschaftsvertrages (Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens, und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.) ist das schon eine arge Verzerrung. 3. Gegen Rousseaus direkte Volksherrschaft „durchwaltet“ nach Nilges „Schillers Ideal der repräsentativen Volksherrschaft“ auch die Briefe über die ästhetische Erziehung (181). Beweisen soll das „ein abermaliges Bekenntnis zur demokratischen Repräsentativität“ (190) im 4. Brief. Dort spricht Schiller mit Verweis auf Fichte von der großen Aufgabe, den „Mensch(en) in der Zeit mit dem Menschen in der Idee“, d. h. mit dem „reinen idealischen Menschen“, in Übereinstimmung zu bringen, indem er „zum Menschen in der Idee sich veredelt“ (V 577). Das bedeutet, dass das Individuum Staat wird, insofern sich „die Teile“ (notabene nicht anders als in Rousseaus Formel vom Gesellschaftsvertrag) „zur Idee des Ganzen hinaufgestimmt haben“ (V 14 Das ist ein Klischee. 1789 war Rousseau in Frankreich hoch berühmt – als Autor empfindsamer Romane. Den Contrat social kannten die wenigsten. Nur ganz wenige Bibliotheken besaßen ein Exemplar. Erst im Verlauf der Revolution wurde der Text in einer anderen Rezeptionsschicht zum Favoriten und erlebte rasch mehrere Auflagen. Mit Recht hat man gesagt, dass nicht das Buch die Revolution, sondern die Revolution das Buch gemacht habe. Übrigens hat ihr vager Rousseauismus die Revolutionäre nicht gehindert, für eine Repräsentativverfassung zu stimmen.
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578). Das wiederum ist möglich, weil „der Staat der reinen und objektiven Menschheit in der Brust seiner Bürger zum Repräsentanten dient“ (ebd.). Anders gewendet: Der idealische Mensch „wird repräsentiert durch den Staat“ (V 577), der damit nichts anderes ist als „die deutlichere Formel“ von dessen „innern Gesetzgebung“ (V 578). Repräsentieren heißt hier also so viel wie Verdichtung, Bildung und Vorstellung. Im 6., der Zivilisationskritik gewidmeten Brief tritt noch die Bedeutung der Verkörperung hinzu, wenn Schiller vom Griechen der Klassik als „Repräsentanten seiner Zeit“ spricht. Den Sinn eines demokratischen Mandatsverhältnisses rührt keine dieser Stellen auch nur von Ferne an. Anders klingt indes eine Passage – allerdings unter negativem Vorzeichen – in der Schiller im 6. Brief (genau wie Rousseau) die kulturelle Selbstentfremdung des Menschen, den Verlust seiner inneren Harmonie und Einheit durch Arbeitsteilung und Spezialisierung beklagt. Er schreibt (V 584): „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus, … entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“ Das Ganze hat damit nur noch einen abstrakten und mechanischen Charakter, „der Staat bleibt seinen Bürgern fremd“ (V 585). Von der anderen Seite her gesehen bedeutet das: „Genötigt, sich die Mannigfaltigkeit seiner Bürger durch Klassifizierung zu erleichtern und die Menschheit nie anders als durch Repräsentation aus der zweiten Hand zu empfangen, verliert der regierende Teil sie zuletzt ganz und gar aus den Augen“ (V 585). Und das alles soll „ein Bekenntnis zur demokratischen Repräsentativität“ sein? 4. Hervorragende Bedeutung kommt schließlich dem 27. und letzten Brief über die ästhetische Erziehung zu. Er ist ein Zeugnis der tiefen Enttäuschung Schillers über die politische Entwicklung. Der Dichter zieht sich aus der Welt der politischen Theorien einer realen „Staatsverwandlung nach moralischen Prinzipien“ (4. Brief: V 576), aber auch aus der Geschichtsphilosophie der Selbstentfremdung, dieser „nachteiligen Richtung des Zeitcharakters“ (6. Brief: V 586) zurück und flieht in das Reich des harmonischen schönen Scheins: „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“ (V 667) Dieses „dritte, fröhliche Reich“ trägt den Namen „ästhetischer Staat“. Er erfüllt mit seinen Grundgesetzen der Freiheit und Gleichheit die von der Französischen Revolution erweckten und dann enttäuschten Hoffnungen (V 667, 669). Und er „(stiftet)
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Harmonie in dem Individuum“ (667), indem er aus dem sinnlichen und dem geistigen Teil des menschlichen Wesens ein Ganzes macht, das individuelle Sinnenwesen und das durch die Vernunft definierte Gattungswesen vereint. „Das Schöne allein“, schreibt Schiller, „genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich, d. h. als Repräsentanten der Gattung“ (668). Diese „Natur des Individuums … vollzieht den Willen des Ganzen“ (667). Das ist ganz im Sinne Rousseaus gedacht, der die Vertretung durch Repräsentanten ablehnt, weil jeder citoyen in gleicher Weise das Ganze repräsentiert. Nilges folgert indes (215): „(I)n der Metapher des ästhetischen Staates herrscht – zeitlos und als Surrogat für die Realität – die repräsentative Demokratie.“ Demokratie? Gewiss, so wie in der „reine(n) Kirche oder (der) reine(n) Republik“ oder „in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln“, wie Schiller am Schluss mögliche Konstitutionen des ästhetischen Staates beschreibt (669) – genau so, wie Rousseau seinen neuen Gesellschaftsvertrag, wenn überhaupt, nur in kleinen Gemeinschaften für realisierbar hielt. Aber wieso repräsentative Demokratie? Weil das Ganze, wie Nilges wiederholt versichert, sich gegen Rousseau richte. Denn Rousseau steht für direkte Volksherrschaft und die stehe (dies in Übereinstimmung mit dem Totalitarismus-Vorwurf in der Rousseau-Diskussion der Nachkriegszeit) für die Unterdrückung der Individualität. Mehr noch: Schillers ästhetischer Staat sei ein „Gegenentwurf“ zu dem „depravierte(n) Staat“ der Rousseau’schen Kulturkritik (214). Das ist in dem Sinne richtig, dass Rousseau, der seinen neuen Gesellschaftsvertrag ausdrücklich als Heilmittel bezeichnet hat, im selben Atemzug von der notwendigen Vervollkommnung der Kunst sprach. So schrieb er im berühmten 2. Kapitel der Erstfassung des Contrat social: Montrons …, dans l’art perfectionné, la réparation des maux, que l’art commencé fit à la nature. In Wahrheit haben wir es also mit zwei Gegenentwürfen zu dem im Zivilisationsprozess verdorbenen Staat zu tun, die auch ihrerseits in Opposition zueinander stehen. Aber in diesem zweiten Gegensatz spielt das demokratische Repräsentativprinzip keine Rolle. VII. Dem ob seines Farbenreichtums dankbarsten Sujet – „Recht und Gerechtigkeit in Schillers Dramen“ – ist der abschließende IV. Teil des Buches gewidmet. Ausgewählt hat Nilges die Dramen Don Karlos, Wallenstein, Maria Stuart, Wilhelm Tell und das Demetrius-Fragment. Im Mittelpunkt der Interpretation des Don Karlos steht, wie könnte es in diesem Kontext anders sein, die berühmte Audienz-Szene (III 10) mit Posas Forderung: Geben Sie Gedankenfreiheit! Damit verlangt der Aufklärer nicht nur die herkömmlich darunter verstandene Religionsfreiheit. Posa beruft sich zur Bekräftigung ja selbst sogleich – ganz rousseauistisch – auf die Freiheit als das natürliche Prinzip der Schöpfung.15 Nilges begnügt sich allerdings nicht damit, Posas Postulat als „An15 Hier vermisst man bei Nilges eine genauere Auseinandersetzung mit Paul Böckmanns These von der „offensichtlichen Wirkung Rousseaus auf die Posa-Gestalt“ und deren Forde-
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tizipation der Grund- und Freiheitsrechte“ (223) zu deuten. Sie geht weiter und meint, dass die Religionsfreiheit bei Schiller auch die Gewissensfreiheit umfasst (was kaum zu bestreiten ist), aber nicht nur als Teil der Religionsfreiheit, sondern als ein von der religiösen Begründung unabhängiges, selbständiges Grundrecht. Mit dieser Unterscheidung, die durch keine Textstelle belegt wird, aber der durch Rückgriff auf das „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“ untermauerten modernen Vorstellung entspricht – sei Schiller „der eigenen Zeit erstaunlich weit voraus“ (247). Schiller als Grundrechtsdogmatiker? Das wird man indes so ernst nicht nehmen müssen. In seinem Aufsatz über das „Verfassungsdenken in Schillers ,Don Karlos‘“ hat Kloepfer übrigens auf ein zentrales Element verfassungsstaatlichen Denkens aufmerksam gemacht, das schon eingangs der Szene zur Sprache kommt. Posa, vom König im Hinblick auf dessen Verdienste aufgefordert, sich eine Gnade zu erbitten, lehnt ab. Es genüge ihm, wie jedem guten Bürger, dass er die Gesetze genieße. Damit trete Posa, so Kloepfer,16 „in gewissem Sinn als Vertreter des Rechtsstaatsgedankens avant la lettre auf“. Denn es sei die „rechtsstaatliche Leitidee der Mäßigung der Macht“, die es dem König verbiete, „das von selbstgesetzten Maximen gesteuerte Glücksstreben der Einzelnen zu lenken“ (ebd.). Eindrucksvoll gelungen ist Nilges der Abschnitt, der vom größten und gewaltigsten der Dramen handelt, vom Wallenstein: „Das Schwert ist nicht bei der Waage mehr“ (255). Unter dem Gesichtspunkt des Rechts ist der Wallenstein in der Tat der „Tiefpunkt aller Schiller’schen Tragödien“ (256). Denn „auf intrikate Weise werden alle schuldig – und müssen zugleich entlastet werden, weil klare und unfehlbare Begriffe … von ,Schuld‘ … sich in der Verwirrung der Geschichte selbst verloren haben“ (270). Und damit fehlt jeder Anhaltspunkt für rechts- und staatsphilosophische Aktualisierungsversuche. Ganz im Gegensatz zum Wallenstein präsentiert Wilhelm Tell präzise bestimmte Rechtsprobleme: die Rechtfertigung des Tyrannenmordes und das Widerstandsrecht des Volkes. Damit ist zugleich die Kernfrage des dramatischen Geschehens bezeichnet: Wie verhält sich die private Notwehraktion des Familienvaters Tell zum Rückgriff des Schweizer Volkes auf ein Widerstandsrecht, das Schiller sowohl historisch wie naturrechtlich begründet. Unterstrichen wird dieser Gegensatz durch die strikte Weigerung Tells, sich an den Vorbereitungen des Aufstandes der Eidgenossen zu beteiligen. Zwangsläufig beschäftigt diese Parallelität der Handlungsstränge die Interpreten von Benno v. Wiese bis Peter-André Alt und Michael Kloepfer,17 um nur einige zu nennen. Dass die Sache sich am Ende fügt, indem das Schweizer Volk, wie Stauffacher sagt (V 1), in Tell seinen Retter und Stifter seiner Freiheit anerkennt, weil er „das Größte“ getan, nämlich den Tyrannen getötet hat, beantwortet nicht die Frage rung: Schillers Don Karlos – Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar, 1974, S. 490 – 528 (bes. 491, 500, 507, 520, 522). 16 Michael Kloepfer, Verfassungsdenken (N 4), S. 23. 17 Ders., „Wilhelm Tell“ (N 4), S. 49 ff.
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nach dem tragenden Grund, der eine bloß zufällige Konvergenz der Handlungsstränge ausschließt. v. Wiese fand ihn in dem nicht nur privaten, sondern zugleich auch politisch-öffentlichen Charakter der Tat Tells, weil er sich mit seinem Eintreten für die Familie den Grund der Schweizer Freiheit, nämlich des ,Herdes Heiligtum‘ verteidigte18. Alt interpretiert dramaturgisch mit einem moralisch-politischen Komplementärverhältnis: Das Attentat werde auf diese Weise von politischen Motiven freigehalten, die Verschwörung andererseits moralisch entlastet.19 Der Jurist neigt zur Annahme eines rechtlich-politischen Ergänzungsverhältnisses: Von einer jesuitischen Ausnahme in der spanischen Spätscholastik abgesehen hat das ständische Widerstandsrecht nie – auch mit naturrechtlich-vertragstheoretischer Begründung nicht – den individuellen Tyrannenmord gedeckt. Andererseits taugt das natürliche Individualrecht des Naturzustandes, sich und das Seine gegen jeden gegenwärtigen Angriff notfalls mit Gewalt zu schützen, nicht dazu, den kollektiven politischen Volksaufstand gegen Kaiser und Reich zu rechtfertigen. Zu alledem musste die Assoziation mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. als Konsequenz der Französischen Revolution vermieden werden. Nilges nimmt dieser Konstellation jede Spannung der Zweipoligkeit, indem sie das Problem gemäß ihrer, sagen wir, Lieblingsidee auf den einen Nenner des „Repräsentativitätsprinzips“ bringt (335). So deutet sie den individuellen Tyrannenmord – nach Stauffachers Schlussrede auf dem Rütli als eine Selbsthilfe eher „Raub am allgemeinen Gut“ (II 2) – einfach als Steigerung des dort beschworenen kollektiven Widerstandsrechts. „Im Tyrannenmord Gesslers steigert Schiller … das bejahte Recht auf Widerstand im Sinn des konstitutionellen Repräsentativitätsgedankens (sic) bis zum äußersten Grade der Notwehr.“ (336). Tell, der „beispielhafte Stellvertreter“ der Schweizer (ebd.) vermehrt und übertrifft durch seine Tat das Recht der Vertretenen? „Die Repräsentativität der Tell’schen Sonderhandlung bekräftigt … einerseits Schillers verfassungsrechtliches Ideal, die repräsentative Demokratie, während sie andererseits das Widerstandsrecht auf dem Rütli konsequent zu Ende führt und potenziert.“ Das sei bislang so nicht gesehen worden. Mag sein – aber vielleicht ja nicht ohne Grund. Die Tat des Tell beruht nun einmal auf einem ganz anderen als dem Rütlischwur: Als du mit grausam teufelischer Lust/Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzulegen -/Als ich ohnmächtig flehend rang vor dir,/ Damals gelobt ich mir in meinem Innern/Mit furchtbarem Eidschwur, den nur Gott gehört,/Daß meines nächsten Schusses erstes Ziel/Dein Herz sein sollte – Was ich mir gelobt/In jenes Augenblickes Höllenqualen,/Ist eine heilge Schuld, ich will sie zahlen. Tells Opfer seiner Unschuld – eine „Steigerung“ des kollektiven politischen Widerstandsrechts? Der Jurist verspürt, offen gestanden, wenig Sympathie für den Versuch, die dramatischen Gegensätze einer genialen Dichtung derart abstrakt und anachronistisch zu nivellieren.
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Benno v. Wiese, Friedrich Schiller, 3. Aufl. 1963, S. 774. Peter-André Alt, Schiller, Bd. 2, 2009, S. 583.
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VIII. Um es nicht zu vergessen: Nilges hat im ersten Teil ihrer Arbeit dankenswerterweise viel Material aus Schillers Zeit auf der Karlsschule erhoben und ausgewertet. Das ist vor allem im Hinblick auf die Lektüre des jungen Schiller wichtig. Ansonsten gibt das Buch dem Juristen reichlich Anlass, bei Schiller selbst nachzulesen und sich dabei auf den Reichtum seines Werkes einzulassen – unverstellt durch vordergründige Aktualisierungsversuche.
Das politisch-hermeneutische Problem: Zur Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“ Von Hans-Jörg Sigwart Abstract Der vorliegende Aufsatz stellt die Frage nach der Bedeutung der Hermeneutik für die politische Theorie und konzentriert sich dabei insbesondere auf das Problem der Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“. Ausgehend von Charles Taylors Überlegungen zu einem „interpretive turn“ der Politikwissenschaft und im Rahmen einer kritischen Interpretation der hermeneutischen Perspektiven von Hans-Georg Gadamer, Max Weber und George Herbert Mead wird die Frage nach der Integration von komplexen, differenzierten Gesellschaften in politische Gesamtzusammenhänge als politisch-theoretisch zentrales, jedoch in der hermeneutischen Tradition weitgehend vernachlässigtes konzeptionelles Problem herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage wird eine vorläufige Bestimmung des Gegenstands einer verstehenden Politikwissenschaft vorgeschlagen, in der die konstitutive Bedeutung der Rolle von Gesellschaften als den plural verfassten Interpreten ihrer selbst innerhalb solcher politisch-hermeneutischen Integrationsprozesse betont wird.
Einleitung Fragt man nach der Bedeutung der Hermeneutik in der Politikwissenschaft, ergibt sich ein unausgewogenes Bild. Einerseits gehören hermeneutische Methoden zum festen Bestandteil der empirischen politikwissenschaftlichen Forschungsarbeit, und in der politischen Theorie ist die Frage nach den konzeptionellen Grundlagen einer „verstehenden“ bzw. kulturwissenschaftlich orientierten Politikwissenschaft in regelmäßigen Abständen Gegenstand grundsätzlicher Überlegungen und Debatten.1 Andererseits haben diese Debatten bisher nicht den systematischen Stellenwert erreicht, den hermeneutische Fragen etwa in der Theoriedebatte der Soziologie spätestens seit Max Webers Grundlegung einer dezidiert „verstehenden Soziologie“ traditionellerweise einnehmen. Der Bedeutung hermeneutischer Methoden in der em1 Vgl. stellvertretend die Beiträge zur Frage einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Politikwissenschaft in Schwelling 2004, die Diskussion um die Bedeutung der Hermeneutik für eine kulturvergleichende politische Philosophie (etwa die Beiträge der entsprechenden Schwerpunktausgabe der Review of Politics 70/2008) und die Überlegungen zu einer „wissenspolitologischen“ theoretischen Grundlegung der empirischen Politikfeldanalyse bei Nullmeier 1993 und Nullmeier/Rüb 1993, S. 24 ff.
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pirischen Forschung steht insofern ein gewisses politikwissenschaftliches Theoriedefizit gegenüber. Dem entspricht, dass diesbezüglich wichtige konzeptionelle Fragen bisher am Rande der Aufmerksamkeit geblieben sind. Das gilt insbesondere für die in diesem Zusammenhang sich eigentlich aufdrängende Grundfrage nach dem besonderen, ihren methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen entsprechenden Gegenstandsverständnis einer „verstehenden“ Politikwissenschaft.2 Welchen besonderen Gegenstand bezeichnet der Begriff des Politischen, wenn er im Rahmen einer hermeneutischen Theorie der Politik verstanden wird? Diese Frage soll im Folgenden aufgeworfen, einige Argumente für ihre politik- und demokratietheoretische Bedeutung aufgezeigt und einige ihrer wesentlichen Aspekte identifiziert werden. Für eine solche hermeneutische Gegenstandsbestimmung der Politikwissenschaft hat besonders nachdrücklich Charles Taylor bereits in den frühen 1970er Jahren argumentiert und in diesem Zusammenhang auf wichtige wissenschaftstheoretische Aspekte hingewiesen, die meines Erachtens bisher zu wenig Beachtung gefunden haben. Im ersten Abschnitt geht es zunächst darum, diese Anregungen Taylors zu skizzieren. Im zweiten Abschnitt werden im Rahmen einer kritischen ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit einigen klassischen Konzepten des Verstehens die theoretischen Implikationen von Taylors eher vage bleibenden Hinweisen herausgearbeitet. Im dritten Abschnitt schließlich wird auf dieser Grundlage der Vorschlag einer vorläufigen Bestimmung des Gegenstands einer hermeneutischen bzw. „verstehenden Politikwissenschaft“ gemacht und insbesondere auf einige demokratietheoretische Implikationen dieser Gegenstandsbestimmung eingegangen. Insgesamt werden dabei im Folgenden zwei miteinander verknüpfte Thesen vertreten. Es wird erstens dafür argumentiert, dass die theoretische Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“ von der grundlegenden Frage der Integration von Gesellschaften als soziopolitische Gesamtzusammenhänge ausgehen muss. Aus einer politikwissenschaftlich-verstehenden Perspektive verweist diese Frage zweitens auf eigentümliche diskursiv-gesellschaftliche Prozesse politischer Hermeneutik. Die kognitive Grundlage politischer Praxis – gleichsam „die andere Seite des Handelns“, wie es Hannah Arendt formuliert hat (Arendt 2000, S. 125) – lässt sich vor diesem Hintergrund als ein spezifischer Modus hermeneutischer Rationalität, als eine bestimmte Art des „Verstehens“ und der „Interpretation“ von Wirklichkeit beschreiben, die eine spezifische Bedeutungsstruktur hat und als solche
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Vgl. allerdings die diesbezüglichen „wissenschaftspolitologischen“ Überlegungen bei Zifonum 2004, die allgemeinen Hinweise zur Frage einer „spezifischen politikwissenschaftlichen Perspektive“, ihres besonderen Gegenstands und der entsprechenden methodischen Implikationen bei Kittel 2009, S. 595 ff. und den politiktheoretischen Entwurf der Bestimmung eines „auf die gesamtgesellschaftliche Ordnungslogik einschließlich ihrer symbolischen Ausdrucksformen und institutionellen Konkretisierung hin konzipierte(n) Begriff(s) des Politischen“ von Jürgen Gebhardt (2004b, S. 159), dem die folgenden Überlegungen wichtige Hinweise und Anregungen verdanken.
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maßgeblich die Formeigentümlichkeiten öffentlicher Kommunikation und ihres „eigensinnigen politischen Kode(s)“ (Habermas 2011, S. 75) bestimmt. I. Charles Taylors Forderung eines „hermeneutic turn“ in der Politikwissenschaft In dem Aufsatz Interpretation and the Sciences of Man, in dem er sein Plädoyer für einen „hermeneutical standpoint“ der philosophischen, Kultur- und Sozialwissenschaften (Taylor 1985a, S. 3 f.) programmatisch entwickelt, konzentriert sich Charles Taylor vor allem auf das besondere Problem einer hermeneutischen Politikwissenschaft. Taylor entfaltet seine diesbezüglichen Überlegungen vor dem Hintergrund einer Kritik der „mainstream political science“ der Zeit und deren „naturalistischer“ Grundannahme, nach der die empirischen Gegenstände der Politikwissenschaft als mehr oder weniger interpretationsunabhängige „brute data“ betrachtet werden könnten: „(T)he basic building block of knowledge on this view is the impression, or sense-datum; a unit of information which is not the deliverance of a judgment, which has by definition no element in it of reading or interpretation, which is a brute datum. (…) By ‘brute data’ I mean … data whose validity cannot be questioned by offering another interpretation or reading, data whose credibility cannot be founded or undetermined by further reasoning. If such a difference of interpretation can arise over given data, then it must be possible to structure the argument so as to distinguish the basic, brute data from the inferences made on the basis of them.“ (Taylor 1985b, S. 19 f.)
Aufgrund dieser Reduktion des Gegenstandsverständnisses auf „Tatsachen“ geraten nach Taylor der politikwissenschaftlichen Forschung gerade die grundlegendsten Probleme politischer Praxis aus dem Blick. Ihre alternative epistemologische Grundlegung in einer besonderen Form von „post-Heideggerian hermeneutics“ (Taylor 1985a, S. 3 f.) müsse daher vor allem dieses reduktionistische Gegenstandsverständnis kritisch hinterfragen. Der Begriff der „Interpretation“ dürfe dabei nicht lediglich als „methodische“ Kategorie im engeren Sinne verstanden werden, sondern bezeichne in erster Linie selbst ein wichtiges gesellschaftliches Phänomen, in gewisser Weise sogar die wesentliche Formeigentümlichkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit überhaupt. Das hermeneutische Problem ist für Taylor also vor allem deshalb ein epistemologisches und methodisches Grundproblem der „Sciences of Man“, weil es als ein kognitives Strukturprinzip gesellschaftlicher und politischer Praxis selbst verstanden werden muss. Mit dem Problemzusammenhang von Hermeneutik und Politik ist daher nicht nur die Frage nach den Grundlagen einer verstehenden Methode der Politikwissenschaft, sondern auch die Frage nach der hermeneutischen „Logik der Praxis“ der Politik selbst aufgeworfen. Politik ist, so lässt sich Taylors Argument verstehen, selbst wesentlich „politische Hermeneutik“, eine Praxis der Interpretation, insbesondere der „self-interpretation“ von gesellschaftlichen Akteuren, die in ihrer Gesamtheit die objektiven Strukturen und Institutionen gesellschaftlicher
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Wirklichkeit fundieren.3 Gesellschaftliche Wirklichkeit besteht daher nicht in erster Linie aus gegebenen „Tatsachen“, sondern aus in intersubjektiven Interpretationsprozessen generierten „Bedeutungen“ bzw. „meanings“. Der Begriff „meaning“ bezeichnet nicht lediglich ein Attribut sozialer Phänomene, sondern buchstäblich die Phänomene selbst (vgl. Taylor 1985b, S. 38).4 Mit dieser These von der grundsätzlich interpretativen Form gesellschaftlicher Praxis, die er zu der anthropologischen Bestimmung des Menschen als eines „self-interpreting“ bzw. „self-defining animal“ zuspitzt (Taylor 1985b, S. 55), begründet Taylor allerdings zunächst seine Forderung nach einem „hermeneutic turn“ der „sciences of man“ ganz allgemein. Die Frage nach dem besonderen Zuschnitt einer verstehenden Politikwissenschaft ist damit noch nicht beantwortet. Aber sie ist in einen spezifischen erkenntnistheoretischen Referenzrahmen gestellt, der für das Verständnis gesellschaftlicher Praxis eine Reihe wichtiger Implikationen hat. Indem Taylor die inhärente Logik von gesellschaftlichen Handlungsprozessen primär als eine hermeneutische bzw. interpretative bestimmt, wendet er sich vor allem gegen rein instrumentell-funktionale Verständnisse gesellschaftlicher Praxis und ihrer Rationalitätsgrundlagen. Im Unterschied zum Primat des objektivierenden reinen Sachbezugs instrumenteller Rationalität wird dadurch erstens der subjektbezogene, also selbstreflexive und der am Zweck der Integration sowohl der jeweiligen sachlichen Inhalte als auch ihrer jeweiligen Interpreten in sinnvolle Gesamtzusammenhänge orientierte Charakter zumindest eines bestimmten Bereichs gesellschaftlicher Praxis hervorgehoben bzw. behauptet. Das damit betonte gesellschaftstheoretische Grundproblem der Integration kann mit Taylor in seinen kognitiven Implikationen demnach dadurch verdeutlicht werden, dass es mit dem erkenntnistheoretischen Grundproblem des „hermeneutischen Zirkels“ und insbesondere mit der hermeneutischen Fundamentalkategorie des „Ganzen“ in Verbindung gebracht wird. Sofern ihr eine genuin interpretative Rationalität zugrunde liegt, bewegt sich gesellschaftliche Praxis prinzipiell innerhalb einer hermeneutischen Zirkelstruktur zwischen dem „Einzelnen“ und dem „Ganzen“ gesellschaftlicher Bedeutungen. Im kognitiven Akt des „Verstehens“, der dieser Struktur entspricht, geht es daher nicht lediglich um die Gewinnung von Informationen zu einzelnen sachlichen Gegebenheiten zum Zweck ihrer instrumentellen Nutzung, sondern primär um die interpretative Einordnung solcher einzelnen Gegebenheiten in zusammenhängende Gesamtkonfigurationen und damit zugleich um die Orientierung und die „Verortung“ des Verstehenden selbst innerhalb dieser Gesamtkonfigurationen. Aufgrund dieser von vorne herein sowohl subjektiven als auch integrativen intentionalen Ausrichtung ergibt sich unter anderem ein ausgesprochen dynamisches Verständnis gesellschaftlicher Praxis, da jede Interpretation, weil sie stets einen subjektiven Bezug hat und inten3
Vgl. dazu auch die entsprechenden Überlegungen zu den verschiedenen Formen und Ebenen kognitiv-praktischer „Institutionsreproduktion“ bei Nullmeier/Rüb 1993, S. 51 ff. 4 Zu Taylors Verständnis von „meaning“, insbesondere zu dessen phänomenologischen Implikationen vgl. auch Smith 2004, S. 30 ff.
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tional stets auf die Annahme sinnvoller Gesamtzusammenhänge vorgreifen muss,5 immer nur Entwurfscharakter haben kann. „Verstehen“ ist daher, mit einer Formulierung Hannah Arendts, „im Unterschied zur fehlerfreien Information und dem wissenschaftlichen Wissen ein komplizierter Prozess, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.“ (Arendt 2000, S. 110) Zweitens darf diese gesellschaftliche Praxis der sachlichen Integration und der subjektiven Selbstverortung und Orientierung nicht lediglich als rein rezeptiver, sondern sie muss immer auch als aktiv-kreativer kognitiver Akt verstanden werden, in dem die Interpretation von „sinnvollen“ Gesamtkonfigurationen immer auch am Zweck ihrer aktiven praktischen Gestaltung, entweder ihrer affirmativen Reproduktion oder aber ihrer Kritik und aktiven Umgestaltung orientiert ist. Im Unterschied zur instrumentellen Rationalität ist dieser praktische bzw. unmittelbare Zweckbezug des Verstehens also ebenfalls primär an der wechselseitigen Zuordnung von Einzelnem und Ganzem, sozusagen an „Strukturierung“ im Sinne des Versuchs der Integration einer Vielzahl von Einzelfällen orientiert.6 Drittens hebt Taylors hermeneutische Bestimmung der Logik gesellschaftlicher Praxis nicht lediglich ihren subjektbezogenen, sondern außerdem ihren intersubjektiv vermittelten Charakter hervor. Auf der strukturellen Ebene ergibt sich dadurch ein sich ebenfalls gegen instrumentelle Perspektiven kritisch abgrenzendes Verständnis von institutionalisierten bzw. kollektiven Handlungslogiken. Gegen eine einseitige Betonung des instrumentellen Charakters von im weitesten Sinn institutionellen Rationalitäten hebt Taylors hermeneutische Gegenstandsbestimmung insofern deren intentionale Aspekte hervor, als praktische Regelmäßigkeiten und Strukturen nicht lediglich als rein funktional aggregierte und als solche von niemandem intendierte Systemlogiken, sondern daneben auch als Ergebnisse von in Permanenz ablaufenden integrativen Interpretationsakten und entsprechender intersubjektiver Aushandlungs- und Koordinationsprozesse bzw. entsprechender Deutungskämpfe zwischen konkurrierenden Interpretationsangeboten verstanden werden. Zusammenfassend lässt sich demnach die kognitive Grundlage gesellschaftlicher Praxis in Anlehnung an Taylor in erster Linie als die komplexe Gesamtheit interpretativer, vor allem selbstinterpretativer Prozesse und Sprachspiele verstehen, in denen im kognitiven Akt der Integration von Einzelerfahrungen in Gesamtzusammenhänge und der damit verbundenen „Selbstverortung“ von Subjekten Identitäten und Bedeutungen generiert, in intersubjektiv geteilten Narrativen verankert und in verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen verstetigt oder auch der Kritik und Umgestaltung unterworfen werden. Folgt man dieser allgemeinen gesellschaftstheoreti5 Im Zusammenhang von Gadamers philosophischer Hermeneutik ist dieses Charakteristikum hermeneutischer Rationalität mit dem Begriff des „Vorgriffs der Vollkommenheit“ als eines notwendigen Bestandteils jeder Interpretation bezeichnet. Vgl. Gadamer 1990, S. 299 ff. 6 Zum Begriff der „Strukturierung“ in diesem Sinne einer integrativen und konstitutiven sozialen Praxis vgl. auch die grundlegende Studie von Giddens 1997.
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schen Bestimmung, dann stellt sich für die politische Theorie vor allem die Frage, welcher besondere Aspekt das genuin Politische solcher Prozesse ausmacht, welche besonderen Sprachspiele, Narrative und Formen der Interpretation und welche besonderen Formen der Objektivierung und Verstetigung solcher gesellschaftlichen Selbstinterpretationsprozesse den eigentümlichen Bereich des Politischen im hermeneutisch durchformten Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Praxis konstituieren. In seinem Versuch, sich dieser politiktheoretischen Grundfrage zu nähern, unterscheidet Taylor mit der Kategorie der „common meanings“, die er in diesem Zusammenhang einführt, eine besondere Klasse von gesellschaftskonstituierenden Bedeutungen. „Common meanings“ sind im Verständnis Taylors innerhalb der interdependenten sozialen Matrix von „inter-subjective meanings“ offenbar in besonderer Weise mit dem Problem der „cohesion of modern societies“ (Taylor 1985b, S. 45), d. h. mit dem Problem der Integration im allgemeinsten Sinn, nämlich der interpretativen Konfiguration von konkreten politisch verfassten „Gesellschaften“ als tatsächlich gegebene sinnvolle Gesamtzusammenhänge verbunden. Es ist für Taylor offenbar die „Einheit“ einer bestimmten Gesellschaft, die das stets durchlässige und keineswegs hermetisch abgeschlossene, sondern dynamisch sich verändernde und sich permanent in Bewegung befindliche, aber dennoch maßgebliche umgreifende Ganze sozialer Interpretationsprozesse bildet, sofern sie spezifisch politischen Charakters sind. Diese „Einheit“ einer bestimmten Gesellschaft als Bedeutungsfeld ist aber so wenig bloße „Tatsache“, sondern selbst eine auf gesellschaftliche Interpretationsprozesse zurückgehende und daher immer nur Entwurfscharakter habende „Bedeutung“, wie es alle anderen wesentlichen Aspekte gesellschaftlicher Wirklichkeit sind. Die Kategorie der „common meanings“ scheint nun insbesondere auf die hermeneutisch-genetische Grundlage dieser besonderen „Bedeutung“ der „Einheit“ bzw. des „Ganzen“ einer Gesellschaft abzuzielen.7 7
Zur fundamentalen Bedeutung der Kategorie des „Ganzen“ für eine wissenschaftstheoretische Grundlegung politikwissenschaftlicher Forschung allgemein vgl. auch die entsprechenden Erläuterungen bei Patzelt 2005, S. 21 f.: Die Kategorie des „Ganzen“ meine in diesem Zusammenhang „eine spezifisch gegliederte ,Gestalt‘, eine ohne Zerstörung ihrer Individualität nicht durch weitergehende Segmentierung aufzulösende Konfiguration.“ Politikwissenschaftliche Forschung habe es hinsichtlich ihrer Gegenstände grundsätzlich mit solchen „konfigurativen Ganzheiten“ zu tun. „Grundsätzlich offen und nur im Einzelfall mehr oder minder gut zu beantworten ist zwar die Frage, was denn beim konkret verfolgten Forschungszweck als ein solches Ganzes gelten und vergleichend betrachtet werden soll. Doch wie auch immer die Antwort lautet: Zumindest hermeneutisch wird ein ,Ganzes‘ immer zumindest als Kontext der detailliert betriebenen Einzelvergleiche eingeführt und im Blick gehalten.“ Taylors Argument für die zentrale Bedeutung von „common menaings“ lässt sich vor diesem Hintergrund so verstehen, dass das „Ganze“ der politischen „Einheit“ von Gesellschaften als diejenige politisch-hermeneutische Grundkategorie verstanden werden kann, welche die angesprochenen vielfältigen „konfigurativen Ganzheiten“ möglicher politikwissenschaftlicher Gegenstände in die konfigurative Ganzheit eines umgreifenden, zusammenhängenden und wissenschaftstheoretisch als eigenständig ausweisbaren und damit ihr eigentümlichen Gegenstandsbereich der verstehenden Politikwissenschaft integriert.
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Insofern das Problem der „Integration“ einen wesentlichen Aspekt hermeneutischer Rationalität überhaupt darstellt, lässt sich Taylors Begriff der „common meanings“ so verstehen, dass in ihm die Analyse der Logik gesellschaftlicher Praxis in der Tat auf eines ihrer fundamentalen Grundprobleme hin zugespitzt wird. Und es ist diese besondere Frage, die sich in Taylors Skizze als der eigentliche Ausgangspunkt für die Gegenstandsbestimmung einer hermeneutischen Politikwissenschaft ausmachen lässt. Das genuin Politische sozialer Interpretationsprozesse und ihrer Objektivierungen scheint für Taylor nämlich unmittelbar mit der bei aller Komplexität, Pluralität und (funktionalen) Differenzierung gesellschaftlicher Prozesse offenbar dennoch permanent sich vollziehenden Integration dieser Prozesse in die mehr oder weniger klar abgegrenzten „Einheiten“ konkreter Gesellschaften verbunden zu sein. Und dieser besonderen Funktion entspricht eine besondere Form oder Struktur des entsprechenden Typs von Bedeutungen. „Common meanings“ sind für Taylor nicht lediglich intersubjektiv geteilte (nicht lediglich „shared“), sondern in besonderer Weise „kollektive“ Bedeutungen: „We can speak of a shared belief, aspiration, etc. when there is convergence between the subjective beliefs, aspirations, of many individuals. But it is part of the meaning of a common aspiration, belief, celebration, etc. that it be not just shared but part of the common reference world. Or to put it another way, its being shared is a collective act, it is a consciousness which is communally sustained, whereas sharing is something we do each on his own, as it were, even if each of us is influenced by the others. Common meanings are the basis of community. (…) (They) are not simply a converging set of subjective reactions, but part of the common world. What the ontology of mainstream social science lacks is the notion of meaning as not simply for an individual subject; of a subject who can be a ‘we’ as well as an ‘I’.“ (Taylor 1985b, S. 39 f.)
Es wird noch deutlich werden, dass diese Charakterisierung und insbesondere Taylors Verwendung des Pronomens der Ersten Person Plural auf wesentliche Aspekte des politisch-hermeneutischen Problems verweisen. Zunächst aber wirft die so bestimmte Kategorie der „common meanings“ mehr Fragen auf als sie beantwortet. Eine Erläuterung der verwendeten pronominalen Metapher etwa gibt Taylor hier nicht.8 Auch die sich aufdrängende Frage, wie ein „kollektiver Akt“ der Perzeption von Bedeutungen, der nicht lediglich aus einer Vielzahl von intentional und inhaltlich konvergierenden individuellen Perzeptionen bzw. Interpretationen einzelner Subjekte bestehen, sondern in seiner besonderen Struktur von der „triadischen“ Beziehung von sich über den Bezug auf ein gemeinsames Objekt konstituierender „Intersubjektivität“9 prinzipiell unterscheidbar sein soll, überhaupt gedacht werden 8 Zu Taylors häufiger, aber weitgehend ungeklärter Verwendung dieser Metapher vgl. auch die Bemerkungen bei Reese-Schäfer 1996 und bei Skinner 1991. 9 Vgl. dazu Jürgen Habermas’ Betonung der Bedeutung der entsprechenden Ergebnisse von Michael Tomasellos evolutionspsychologischen Forschungen, nach denen eine wesentliche Grundlage der „immer noch rätselhaften Phylogenese des Menschen“ in der sich bereits in basalen Zeigegesten konstituierenden „triadischen Beziehung“ zu sehen ist, in der aus der Erfahrung eines „gemeinsam identifizierten und wahrgenommenen Gegenstand(s) ein intersubjektiv geteiltes Wissen“ entstehe (Habermas 2009). Taylors Skizze von der besonderen
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kann, wird von Taylor hier nicht weiter verfolgt. Und schließlich auch die Frage, wie sich Taylor die Funktion solcher „kollektiven“ Bedeutungen bei der Generierung von gesamtgesellschaftlicher Kohäsion genau vorstellt, bleibt unbeantwortet. Diese konzeptionelle Unklarheit ist allerdings kein Zufall. In ihr spiegelt sich eine konzeptionelle Schwäche bzw. Leerstelle der erkenntnistheoretischen Tradition selbst, auf die sich Taylor bezieht.10 Die von Taylor hier angesprochene politiktheoretische Grundfrage nach dem „Ganzen“ einer bestimmten Gesellschaft als soziopolitische „Einheit“ bezeichnet in der Tat nicht nur eine wissenschaftstheoretische Grundkategorie, sondern in bestimmter Hinsicht zugleich auch eine begriffliche Lücke der hermeneutischen Tradition insgesamt. Die kritische Rekonstruktion dieser begrifflichen Lücke ist, wie im folgenden zweiten Abschnitt anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll, für das hier zu diskutierende Problem vor allem deshalb aufschlussreich, weil damit zugleich – sozusagen im Negativ – der systematische „Ort“ des politisch-hermeneutischen Problems, auf das Taylors Überlegungen hinweisen, noch genauer bestimmt werden kann. II. Philosophische und soziologische Konzepte des Verstehens und ihre politiktheoretischen Leerstellen Ein diesbezüglich exemplarischer Fall ist die Behandlung des Problems gesamtgesellschaftlicher Kohäsion bzw. der „Einheit“ von Gesellschaften in Hans-Georg Gadamers philosophischer Hermeneutik.11 Gadamer versucht bekanntlich im Rahmen seiner hegelianisch orientierten Neubestimmung der Hermeneutik die Akzente des hermeneutischen Zirkelproblems, nachdem jede Interpretation als oszillierende Bewegung zwischen den Polen des „Einzelnen“ und des „Ganzen“ ihrer Bedeutung verstanden werden muss, auf das Problem des Ganzen hin zu verschieben (Gadamer 1990, S. 226 ff. und 347 ff.). Bedeutungen sind demnach vor allem als die integralen Teile eines umfassenden Bedeutungszusammenhangs bzw., mit Taylors entsprechendem Begriff: eines umfassenden „Bedeutungsfeldes“ zu verstehen. Hinsichtlich der Frage, wie dieses konstitutive „Ganze“ hermeneutischer Zusammenhänge empirisch jeweils vorzustellen sei, greift Gadamer – auch hier kritisch gegen Diltheys allzu inBedeutungsstruktur von „common meanings“ bezieht sich auf dasselbe Problem, betont aber, dass deren besondere Bedeutungsstruktur in ihrer Eigentümlichkeit weder in einer intersubjektiv geteilten Intention von Subjekten auf einen Gegenstand noch in geteilten inhaltlichen Vorstellungen von dessen Bedeutung liege. Wie ich im Weiteren zeigen werde, deutet Taylor hier stattdessen eine Akzentverschiebung des Konstitutionsproblems des „Gemeinsamen“ von Bedeutungen weg von der Objektseite hin zur Subjektseite an. 10 Auf die eigentlich apolitische – im Fall Martin Heideggers vielleicht sogar anti-politische – Ausrichtung der klassischen philosophischen Hermeneutik ist vielfach hingewiesen worden. Vgl. für Heidegger exemplarisch die Einschätzung in Arendt 1994 und für die apolitische Ausrichtung von Diltheys hermeneutischer Geisteswissenschaft die Bemerkungen bei Riedel 1993 und Gebhardt 2004a, S. 50 ff. 11 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Sigwart 2012, S. 87 ff. (zu Gadamer) S. 66 ff. und 153 ff. (zu Weber) und S. 162 ff. (zu Mead).
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dividualistisch-biographische Perspektive gerichtet – auf die Kategorien Gesellschaft und Staat zurück. Es sind die „großen geschichtlichen Wirklichkeiten“ historisch konkreter Gesellschaften und Staaten, welche empirisch die umfassenden Bedeutungsfelder konstituieren, in deren Rahmen sich Hermeneutik als individuelle und gesellschaftliche Praxis vollzieht (Gadamer 1990, S. 281). Damit nimmt Gadamer zwar eine deutliche Akzentuierung des gesellschaftlichen Einheitsproblems vor, aber ohne sie politiktheoretisch fruchtbar zu machen. Insbesondere durch die Zuspitzung seiner systematischen Argumentation im entscheidenden Abschnitt von Wahrheit und Methode auf die These von der „exemplarischen Bedeutung der juristischen Hermeneutik“ (Gadamer 1990, S. 330 ff.) für diese Frage, in der Gadamer das „Modell für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart“ (Gadamer 1990, S. 333) schlechthin entdeckt, geraten ihre politiktheoretischen Implikationen aus dem Blickfeld. Die Einheit von Gesellschaften wird hier lediglich noch als das juristische Problem der Aktualisierung der rechtlichen Bedeutung von Gesetzen als einer „gerechten Erwägung des Ganzen“ (Gadamer 1990, S. 335) erfasst, die sich auf der Basis des im Grunde immer schon als gegeben vorausgesetzten Gesamtzusammenhangs des Rechts vollzieht.12 Selbst die grundlegende Kategorie des „Ganze(n) der geschichtlichen Überlieferung“ wird diesem Modell entsprechend als immer schon vorgegebener Gesamtzusammenhang verstanden, hinter den verstehend nicht zurück gefragt werden kann (Gadamer 1990, S. 346).13 Ein konzeptionell ähnlich gelagertes Problem zeigt sich auch in klassischen Konzepten der verstehenden Soziologie. Dem besonderen Zuschnitt von Max Webers politischer Soziologie als Herrschaftslehre etwa liegt dieselbe methodische Herauskürzung der Frage nach dem Gesamtzusammenhang des „Ganzen“ eines politischen Gemeinwesens – mit Weber gesprochen: eines „politischen Verbands“ – bzw. eine eigentümliche Transformation dieses Problems in eine stillschweigend immer schon vorausgesetzte Prämisse der Untersuchung zugrunde. Das überrascht nicht nur deshalb, weil die Frage der Konstitution des Ganzen in Webers allgemeiner Konzeption verstehender Soziologie als Problem durchaus präsent ist (und dessen Problematisierung außerdem in der Konsequenz seiner prinzipiell individualistischen Methode liegt), sondern auch deshalb, weil Weber selbst vor einem „undifferenzierte(n) Gebrauch“ von „Kollektivbegriffen“, der „stets der Deckmantel von Unklarheiten des Denkens oder Wollens, oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen, 12 In diesem Punkt scheint Gadamers „juristische“ Argumentation dieselbe problematische Prämisse vorauszusetzen, unter der das Problem der „Einheit“ des Staates in der deutschen Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit diskutiert wurde. Vgl. dazu Llanque 1995 und die hermeneutisch inspirierte zeitgenössische Kritik von rein „staatsrechtlichen“ Einheitskategorien in Voegelin 1931. Im direkten Gegensatz zu dieser Tendenz zu einer juristischen Verkürzung des „Einheitsproblems“ in diesem Sinn steht die zeitgenössische Integrationstheorie von Smend (1928), in der sich eine Reihe interessanter Anregungen zur hier verhandelten Problematik finden. 13 Eine Problematisierung der politischen Implikationen dieser Voraussetzung sind zumindest angedeutet in Gadamer 1993, S. 163 f.
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immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problemstellung zu hemmen“ sei (Weber 1988a, S. 212), ausdrücklich gewarnt hat. Dass gerade eine solche stillschweigende begriffliche Transformation von kollektiven Zusammenhängen, die eigentlich in gesellschaftlichen Verstehensprozessen generierte „Bedeutungen“ sind, in nicht mehr hinterfragte „Tatsachen“ („brute data“) aber dennoch in der Konsequenz seines Politikverständnisses liegt, zeigt sich in der begrifflichen Konzentration von Webers Herrschaftssoziologie auf den Begriff der Oktroyierung und dessen eigentümlicher idealtypischen Konstruktion. Der diesem Begriff zugrunde liegende besondere Typus einer legitimen Ordnung und ihres „Geltungsgrunds“ „kraft positiver Satzung“ hat zwar einerseits per definitionem eine prinzipiell abgeleitete Geltungsstruktur. Andererseits spielt er bei Weber faktisch die konzeptionelle Rolle einer unabhängigen und konstitutiven Kategorie. Die „Oktroyierung“ von Ordnungen gilt zwar idealtypisch zunächst im Sinne eines geltenden Verfahrens, also aufgrund prozeduraler Legitimität. Diesem Verfahren aber kommt seinerseits nur aufgrund einer ihm noch einmal voraus liegenden Ordnung Legitimität und Geltung zu. Jede legitime Ordnung dieses Typs ist hinsichtlich ihrer Geltung und hinsichtlich ihrer Konstitution ein vermitteltes, sekundäres Phänomen, da sie auf eine ihr vorgeordnete erste legitime Ordnung, nämlich eine „als legitim geltende Herrschaft von Menschen über Menschen“ (Weber 1956, S. 19 f.), also eine bestehende „Herrschaftsordnung“ innerhalb eines bestehenden „politischen Verbands“ verweist, allerdings ohne dass diese vorgelagerte konstitutive Ordnung konzeptionell in den Blick gerät. Webers Konzentration auf das Phänomen „Oktroyierung“ führt konsequenterweise dazu, dass der allgemeine Begriff der „Ordnung“ in dem wesentlich engeren und ein spezifisches und vor allem: ein abgeleitetes Phänomen bezeichnenden Begriff der „Herrschaft“ faktisch aufgelöst wird bzw. lediglich noch als stillschweigendes a priori der politischen Soziologie fungiert. Die Idealtypen von Webers Herrschaftssoziologie sind insofern in der Tat „das Produkt einer Reflexion über die Gesellschaft, die voraussetzt, dass die Gesellschaft ist und dass es in ihr Übereinstimmungen und Komplementaritäten in dem von den Subjekten Gemeinten geben kann und gibt“ (Castoriadis 1997, S. 600), ohne dass diese fundamentale Voraussetzung ihrerseits noch reflektiert werden könnte. Diesem besonderen Zuschnitt von Webers Herrschaftssoziologie entspricht die Tatsache, dass die fundamentalen Kollektivbegriffe, welche die Einheit des Untersuchungsgegenstands von Webers politischer Soziologie eigentlich begründen, nämlich die Begriffe Gesellschaft, Gemeinschaft, Staat und Nation, in einer sehr eigentümlichen und weitgehend ungeklärten Beziehung zueinander stehen. Mit Gesellschaft und Gemeinschaft stehen sich bei Weber bekanntlich grundsätzlich rationale Formen der Verstetigung sozialer Interaktion bzw. der Objektivierung von zunächst immer individuellen Sinndeutungsakten auf der einen Seite und affektuelle bzw. traditionale und damit per definitionem a- oder gar irrationale Formen solcher Prozesse auf der anderen Seite gegenüber. In seinem politischen Denken laufen diese beiden Kategorien zweckrationaler instrumenteller Vergesellschaftung, als welche auch der „Staat“ im Weberschen Sinn zu gelten hat, und grundsätzlich arationaler, vorwiegend
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affektueller Vergemeinschaftung, unter die insbesondere das politische Phänomen „eine(r) ,nationale(n)‘ Gemeinschaft“ (Weber 1956, S. 22) fällt, weitgehend unvermittelt nebeneinander her. Der Grund dafür ist wiederum eine stillschweigende konzeptionelle Ausklammerung, die Weber in seiner politischen Soziologie gegenüber seinen allgemeinen soziologischen Grundkategorien vornimmt. In der allgemeinen idealtypischen Bestimmung von „Vergesellschaftung“ (Weber 1956, S. 21 ff.), die sich als spezifisch rationale Form der Verstetigung sozialer Beziehungen von rein affektuellen bzw. traditionalen Formen von „Vergemeinschaftung“ wesentlich unterscheidet, nimmt Weber eine in diesem Zusammenhang wichtige Differenzierung vor. Als Untertypen von „Vergesellschaftung“ führt Weber hier zum einen die aus seiner Sicht maßgebliche, nämlich ihre zweckrationale Variante und zum anderen die Kategorie einer spezifisch „wertrationalen“ Form von „Vergesellschaftung“ ein (Weber 1956, S. 22). Es ist nun aber gerade diese letztere Kategorie, die, obwohl sie hinsichtlich der Frage der politischen „Einheitskonstitution“ von Gesellschaft von großem Interesse wäre,14 im Rahmen seiner politischen Soziologie keine Rolle mehr spielt.15 Stattdessen scheint Webers Position zwischen den zweckrationalen Kategorien von Gesellschaft und Staat einerseits und einem weitgehend irrational verstandenen Nationsbegriff andererseits hin und her zu schwanken, ohne dass die politische Integrationsfrage eine klare Antwort erführe. 14 Vgl. in diesem Zusammenhang auch John Rawls’ Verständnis von Gemeinschaft bzw. der „Einheit“ der Gesellschaft als einer „gesellschaftlichen Einheit gesellschaftlicher Einheiten“ („a social union of social unions“) in Rawls 1971, S. 520 ff. (das Zitat auf S. 527). Rawls’ entsprechende Argumentation, die das Problem der politischen Einheit der Gesellschaft explizit sowohl von dem rein instrumentellen Zusammenhang einer „private society“ (S. 521 ff.) als auch von der „notion of the community of humankind“ (S. 523) abgrenzt, kann meines Erachtens sehr weitgehend als die Konzeption einer „wertrationalen Vergesellschaftung“ im Weberschen Sinne verstanden werden. 15 Schon Webers Formulierung an dieser Stelle der „Soziologischen Grundbegriffe“ scheint den Typus grundsätzlich eher der Religionssoziologie zuzuweisen. Sein Beispiel für den wertrationalen Typus von Vergesellschaftung ist „der wertrational motivierte Gesinnungsverein: die rationale Sekte, insoweit, als sie von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen absieht und nur der ,Sache‘ dienen will (was freilich nur in besonderen Fällen in ganz reinem Typus vorkommt).“ (Weber 1956, S. 22) Zwar legen einzelne Stellen, etwa Webers Hinweis auf „Menschenrechte“ als eines „extrem rationalistischen Fanatismus“ (Weber 1956, S. 2) die Vermutung nahe, dass die Kategorie wertrationaler Vergesellschaftung durchaus auch bei Weber politische Implikationen hat. Aber dennoch spielt sie in seinem politischen Denken in der Tat keine Rolle. Ein Grund dafür ist sicherlich auch, dass die hier angesprochene „Sache“ bei Weber gerade nicht als ein öffentlicher, sozusagen gemeinsamer Gegenstand politischer Reflexion und politischer Prozesse, also als „common meaning“ im Sinne Taylors beschrieben wird. Als solcher figuriert im politischen Bereich stattdessen idealtypisch alleine das spezifische Mittel politischen Handelns, nämlich Macht. Die „Sache“ figuriert bei Weber in der Politik zwar als die als wesentlich betonte inhaltliche Substanz des Engagements des echten Politikers. Aber dessen „Entscheidung“ für eine „Sache“ in diesem Sinn ist bei Weber dessen innerlichste, persönlichste und daher letztlich nicht „verstehbare“ Angelegenheit. Dem entspricht, dass auch das Phänomen des „Charisma“ von Weber tendenziell in die Kategorie der „nicht oder nur in Bruchstücken verständlich deutbaren und motivationsmäßig erklärbaren“ sozialen Phänomene eingeordnet wird. (Weber 1956, S. 8)
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Webers eigentümliche Perspektive auf dieses Problem und sein entsprechendes Verständnis des Zusammenhangs von „Nation“ und „Staat“ wird in den Überlegungen besonders deutlich, die er im Rahmen einer Diskussion beim Zweiten Deutschen Soziologentag 1912 zu diesem Thema geäußert hat. Zu der „sehr schwierige(n) Begriffsbestimmung“ des Terminus „Nation“ bemerkt Weber dort: „Soweit hinter dem offenkundig vieldeutigen Wort überhaupt eine gemeinsame Sache steckt, liegt sie offenbar auf politischem Gebiet. Es ließe sich ein Begriff von Nation wohl nur so definieren: sie ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben. Die kausalen Komponenten aber, die zur Entstehung eines Nationalgefühls in diesem Sinne führen, können grundverschieden sein. Sehen wir einmal von der Gemeinschaft des religiösen Glaubens ab, die darin noch immer (…) ihre Rolle nicht ausgespielt hat, so kommen zunächst gemeinsame, rein politische Schicksale in Betracht, durch welche unter Umständen auch sonst heterogene Völker zusammengeschweißt werden können. (…) Auch eine bestehende staatliche Organisation aber, deren Heldenzeitalter von den Massen nicht empfunden wird, kann dennoch rein als solche, trotz größter innerer Gegensätze, der ausschlaggebende Faktor für ein mächtiges Gemeingefühl sein. Der Staat als Garant der Sicherheit wird gewertet und dies zumal in Zeiten der Bedrohung von außen, wo dann ein solches nationales Gemeinschaftsgefühl wenigstens intermittierend aufflackert.“ (Weber 1913, S. 50)
Neben solchen „schicksalsgemeinschaftlichen“ Bindungen und den gleichsam „gefühlsmäßigen“ Spiegelungen staatlicher Macht, mit deren Hilfe Nationen „zusammengeschweißt“ werden können, benennt Weber außerdem das „Kulturelement“ der „Sprache“ als „die wichtigste Grundlage der Bildung von Nationalgefühl“ und macht schließlich auch auf die entsprechende Wirkung „gemeinsamer Kulturgüter“ aufmerksam (Weber 1913, S. 50 f.). Auch sie können, so Weber, „ein einigendes nationales Band abgeben“, aber auch bei ihnen steht ihre gleichsam rein gefühlsmäßige Wirkung bzw. Spiegelung im Vordergrund: „Auf den objektiven Wert dieser Kulturgüter“ dagegen komme es, so Weber, „dabei … gar nicht an und deshalb darf man ,Nation‘ nicht als ,Kulturgemeinschaft‘ fassen.“ (Weber 1913, S. 51) Der Begriff der „Kulturgemeinschaft“ soll hier offenbar einen „wertrational“ begründeten Zusammenhang bezeichnen, und vor dem Hintergrund von Webers soziologischen Grundbegriffen müsste daher an dieser Stelle konsequenterweise eher „Kulturgesellschaft“ stehen. Es ist jedenfalls gerade der damit angesprochene Zusammenhang, der weder in Webers Begriff der „Nation“ noch in seinem Begriff des „Staates“ Platz findet.16
16 Webers Bestimmungen in der früheren Fassung seiner Grundkategorien von 1913 sind in dieser Hinsicht übrigens ungenauer. Der Begriff des „Gemeinschaftshandelns“ etwa bezeichnet dort das ganz allgemeine, im Hinblick auf die angesprochene Unterscheidung noch undifferenzierte Grundphänomen, das in den Soziologischen Grundbegriffen mit dem Topos „soziales Handeln“ beschrieben wird. Vgl. Weber 1988b, S. 441. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die politiktheoretisch interessanten Erläuterungen zu Webers Begriff der „Verbrüderung“ bei Nippel 2002.
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Etwas pointiert lässt sich Webers Position so zusammenfassen, dass die sowohl für seine allgemeine als auch seine politische Soziologie gegenstandskonstitutive Frage nach der „Einheit“ der Gesellschaft als politischer Gesamtzusammenhang von ihm entweder als stillschweigendes, konzeptionell ungeklärtes Apriori behandelt oder aber, an den wenigen Stellen, an denen er sich dem Problem bewusst zuwendet, als das dezidiert irrationale, rein affektuelle, als solches allerdings unverzichtbare Fundament des kulturellen Kosmos der sich ansonsten durchgreifend rationalisierenden modernen Gesellschaft konzeptualisiert wird. Mit dieser eigentümlichen Position zu den politiktheoretischen Implikationen seines hermeneutischen Gesellschaftsbegriffs, nämlich ihrer Ausklammerung bzw. Entproblematisierung durch eine Apriorisierung und gleichzeitige Irrationalisierung des Problems der politischen Integration von Gesellschaft steht Weber stellvertretend für einen Großteil der verstehenden Soziologie.17 Ein besonders interessantes weiteres Beispiel in dieser Hinsicht ist George Herbert Meads symbolischer Interaktionismus. Auch bei Mead bleibt das Problem der Konstitution von Gesellschaft als politischem Gesamtzusammenhang konzeptionell weitgehend am Rande der Aufmerksamkeit. Deutlicher als Weber scheint Mead allerdings die grundlegende Bedeutung der Frage nach dem „Ganzen“ soziopolitischer Zusammenhänge einzuräumen. Das zumindest legen die folgenden Bemerkungen in einem Aufsatz nahe, in dem sich Mead explizit mit der Frage beschäftigt, auf der Grundlage welcher besonderen sozialen Prozesse sich überhaupt politische Gesamtzusammenhänge im Sinne einer „Einheit“ von „Gesellschaft“ in ihrer „Vielgestaltigkeit“ konstituieren. Bei seinem Versuch einer Beantwortung dieser Frage geht Mead zunächst von seinen bekannten Grundkategorien der Konstitution individueller Identitäten aus, die sich stets aus den beiden Momenten eines sozial konstituierten „Me“ und eines reflexiven „Ich“ zusammensetze (Mead 1987b, S. 469). Die Kategorie des „Me“ bringt die Tatsache zu Bewusstsein, dass im Problem der „Ich-Identität“ das Soziale und die „Sprache einer äußeren Kommunikationsgemeinschaft, der organisierten Menschenwelt […], der wir angehören“ immer schon präsent ist, dass nur indem „wir […] das Gespräch der Gruppe in die Konferenz unseres Inneren mit hinein (nehmen)“ sich überhaupt individuelle Identität konstituiert. Entscheidend ist aber, dass dieser komplexe Prozess der sozialen Konstitution von Ich-Identität sich offenbar auf einer objektiv-kulturellen Grundlage vollzieht, die er sozusagen selbst nicht garantieren bzw. generieren kann, sondern immer schon voraussetzt: nämlich, wie es Mead am Ende des vorliegenden Aufsatzes formuliert, die „Identität eines Gemeinwesens“ (Mead 1987b, S. 481). Die Prozesse sozialer symbolischer Interaktion implizieren als ihre Voraussetzung die konkrete „Einheit“ der jeweiligen Gesellschaft als des Rahmens, in dem sich diese Prozesse entfalten. Und diese „Einheit“ impliziert „eine Zusammenhalt stiftende Kraft“ (Mead 1987b, S. 473), die sich in den sozialen Prozessen der Konstitution
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Vgl. dazu auch Peters 1993, S. 20 ff.
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von Ich-Identitäten zwar unmittelbar spiegelt bzw. auswirkt, die in ihnen aber offenbar gerade nicht generiert wird.18 Mithilfe von Jürgen Habermas’ Interpretation von Meads Sozialpsychologie lässt sich dieser Sachverhalt auch so formulieren: So wie im Problem der Ich-Identität das Soziale und insbesondere die „in die Person gleichsam eingewanderten normativ generalisierten Verhaltenserwartungen der sozialen Umgebung“, welche das „Me“ in den „intersubjektiv anerkannten und eingespielten Normen und Lebensformen“ als „das anonyme Ergebnis sozialisatorischer Interaktionen“ immer schon vorfindet, von vorneherein präsent ist, so scheint im so beschriebenen Sozialen das Problem des Politischen, nämlich das „Ganze“ bzw. die „Identität“ dieser sozialen Umgebung als einer konkreten „partikularen Gesellschaft“, also die Identität eines „gesellschaftlichen ,Wir‘“ immer schon präsent zu sein (Habermas 1992, S. 219 f.). Zwar nimmt Mead selbst eine solche explizite Ergänzung seiner pronominalen Metaphorik von „I“ und „Me“ um die politiktheoretische Metapher „We“ hier nicht vor. Aber es wird deutlich, dass auch für Mead der besondere „psychologische Mechanismus“, der mit dieser Frage nach der „Identität eines Gemeinwesens“ in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, von der sozialen Konstitution individueller Identitäten prinzipiell unterschieden werden muss. Allerdings wird das Problem von Mead zunächst, ganz ähnlich wie schon bei Weber, im Sinne rein affektueller Vergemeinschaftung und in teilweise deutlich kollektivistisch und antagonistisch konnotierten Kategorien beschrieben. Historisch betrachtet scheine es in erster Linie das „Gefühl einer Überlegenheit der eigenen Nation oder Gesellschaft, das uns zusammenhält.“ Und es scheine, als könne allein der Krieg, der Kampf, die Identifikation eines Feindes und ein auf dieser Grundlage ruhender Nationalismus die entsprechende „gemeinschaftsbildende Macht“ entfalten, die „das Gemeinwesen zu gemeinschaftlichem Handeln zu organisieren“ und die „Einheit“ einer Gesellschaft und ihre staatliche Verfasstheit zu garantieren in der Lage ist (Mead 1987b, S. 467, 474, 476 f.). Die konzeptionelle Irrationalisierung des Problems der politischen Integration von Gesellschaft, die in diesem schmittianisch (bzw. hegelianisch19) anmutenden historischen Realismus zum Ausdruck kommt, erweist sich für Mead jedoch vor allem 18
Dieser Befund vom Problem des „Ganzen“ als unausgesprochener Voraussetzung von Meads Kategorien bestätigt sich auch in seinem Hauptwerk. Er gilt etwa auch für die Kategorie des „verallgemeinerten Anderen“, die zwar für die „Organisation der ihrer selbst bewussten Gemeinschaft“ als eines konkreten gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs von wesentlicher Bedeutung ist, die von Mead aber ihrerseits in erster Linie als Auswirkung bzw. Spiegelung des Faktums eines politischen Ganzen und eines entsprechenden „Geist(s) der Gemeinschaft“ (Mead 1993, S. 315) in individueller Identität beschrieben wird, in der „das Leben der ganzen Gemeinschaft in das bewusste Leben der einzelnen Mitglieder einzudringen vermag“ (Mead 1993, S. 302 f.). Auch Meads Interpretation von Phänomenen der „Verschmelzung von ,Ich‘ und ,ICH‘ in den Haltungen von Religion, Patriotismus und Teamwork“ im 35. Kapitel von Geist, Identität und Gesellschaft (Mead 1993, S. 320 ff.) liegt grundsätzlich in dieser Linie. 19 Für eine prägnante Charakterisierung von Hegels diesbezüglicher Position vgl. Gillespie 1988.
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aus modernisierungstheoretischen Gründen als letztlich unhaltbar – oder zumindest als historisch überholt. Die historisch dominante Form der Identitätsbildung politischer Gemeinwesen erweise sich unter den Bedingungen der Moderne zunehmend als selbstzerstörerisch. Die konventionelle Art der politischen Einheitsstiftung durch Konflikt, durch die Identifikation von Feinden und die Generierung von Kampfbereitschaft sei für die Zukunft moralisch undenkbar und sogar „logisch unmöglich“ (Mead 1987b, S. 474 f.) geworden. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich für Mead – allerdings eher normativ-prospektiv als analytisch – eine alternative konzeptionelle Lösung des Problems der „Einheit“ von Gesellschaften ab: nämlich dessen Beschreibung als Prozess politischer Integration, der sich nicht in der Form affektueller Dissoziation nach außen, sondern in der Form „rationalen Selbstbewusstseins“ vollzieht, das offenbar für eine die technische und soziale Modernisierung der Gesellschaft begleitende bzw. einholende politische Rationalisierung steht. Als ein solcher Prozess der Modernisierung – ein „Prozess der Zivilisation“, wie Mead hier sagt – ist die Konstitution des „Ganzen“ von gesellschaftlichen Bedeutungsfeldern nicht mehr ein ausschließlich irrational-emotionales, sondern ein in bestimmter Weise rationales, ein kognitiv konstituiertes Phänomen (Mead 1987b, S. 476).20 Mit dieser rationalen Wendung des Problems der politischen Integration von Gesellschaften rückt die Frage in den Vordergrund, die nicht nur im Zentrum einer (von ihm selbst allerdings nicht durchgeführten) politiktheoretischen Weiterentwicklung von Meads symbolischem Interaktionismus stehen müsste, sondern die, mit Taylor verstanden, allgemein den Ausgangspunkt einer theoretischen Ausarbeitung des politisch-hermeneutischen Problems bezeichnet. Dessen Konzeptualisierung müsste sich, so lässt sich das Ergebnis der in diesem Abschnitt durchgeführten ideengeschichtlichen negativen „Ortsbestimmung“ zusammenfassen, auf die Frage nach der Konstitution des „Ganzen“ von Gesellschaften als umfassende Bedeutungsfelder konzentrieren und damit die in der klassischen Hermeneutik notorisch apriorisierten Kollektivbegriffe etwa der „Tradition“, des „Überlieferungszusammenhangs“ oder auch der „Gesellschaft“ explizit zum Gegenstand einer politiktheoretischen Problematisierung machen und auf ihre gesellschaftlich-hermeneutische Genese und Reproduktion hin untersuchen. Es ginge dabei insbesondere darum, dieses „Ganze“ nicht lediglich auf seine affektuell-irrationalen Grundlagen, sondern darüber hinaus auf seine Fundierung in interpretativ-narrativ durchformten und also eine spezifisch hermeneutische Rationalität aktualisierenden gesellschaftlichen Prozessen hin zu begreifen.
20 Beide Typen der Einheitsbildung, die Mead hier historisch unterscheidet, beschreibt in ähnlichem Sinn auch Lutz Wingert mit seiner Kategorie des sich auf der Grundlage ausschließender Wir-sie-Gegensätze konstituierenden „negatorischen Wir“ einerseits und der Kategorie eines spezifisch „bürgerschaftlichen Wir“ andererseits (Wingert 1998, S. 37 ff.).
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III. Gesellschaften als die pluralen Subjekte ihrer politischen Selbstinterpretation Wie lässt sich diese ideengeschichtliche Kritik klassischer hermeneutischer Konzepte für die Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“ nutzen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das eben formulierte Zwischenergebnis in zweierlei Hinsicht zu Missverständnissen einlädt, die es vorab auszuräumen gilt. Das erste naheliegende Missverständnis betrifft seine möglichen normativen Implikationen. Die anvisierte konzeptionelle „Rationalisierung“ des gesamtgesellschaftlichen Einheitsproblems ist hier jedoch zunächst einmal nicht als unmittelbar normatives oder begründungstheoretisches, sondern in erster Linie als analytisches Argument gemeint. Der Versuch, Gesellschaften in ihrem konkreten Gesamtzusammenhang nicht lediglich als affektuelle Konglomerate oder schlicht als a priori vorgegebene Größen, sondern eher bis zu einem gewissen Grad als „Denkkollektive“21 zu verstehen, die auf ihre Konstitution in gesellschaftlichen Interpretationsprozessen hin untersucht werden können, berührt die Frage ihrer besonderen „Legitimität“ zunächst einmal vor allem auf der deskriptiv-analytischen Ebene – auf der Ebene also, auf der etwa auch Raymond Geuss’ politischer Realismus den Begriff der Legitimität verortet (Geuss 2011, S. 52 ff.). Konzeptionelle „Rationalisierung“ bedeutet hier also keineswegs unmittelbar Legitimierung oder Affirmation von „kollektiven Identitäten“.22 Die mit ihr einhergehende begriffliche Problematisierung der entsprechenden Kollektivbegriffe ist sogar eher geeignet, ihre stillschweigenden normativen Implikationen kritisch zu hinterfragen. Diese analytischen (und kritischen) müssen also von den normativen Implikationen der hier rekonstruierten Fragestellung klar unterschieden werden. Auf der normativen Ebene selbst lassen sich die Frage nach der politischen Integration von Gesellschaften und der Versuch ihrer politisch-hermeneutischen Konzeptualisierung vor allem durch ihre Verknüpfung mit bestimmten demokratietheoretischen Problemen fruchtbar machen. Das gilt insbesondere für die aktuell kontrovers diskutierte Frage nach der demokratietheoretischen Bedeutung und den Möglichkeiten einer die postnationale Konstellation berücksichtigenden demokratietheoretischen Reformulierung des Begriffs des „Demos“ bzw. der „peoplehood“23 und für die damit eng zusammenhängende Frage nach einer demokratietheoretischen „Rekonstruktion der Volkssouveränität“, wie sie etwa Ingeborg Maus vorschlägt. Maus’ Plädoyer für die demokratietheoretische Bedeutung des klassischen Begriffs der Volkssouveränität versteht sich als Gegenentwurf zu den von ihr diagnostizierten aktuellen Tendenzen 21 Der Begriff geht auf Ludwig Fleck (1980) zurück, der ihn allerdings im Kontext von wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Überlegungen entwickelt hat. 22 Für eine prägnante Charakterisierung der ambivalenten normativen Implikationen des damit angesprochenen Problems vgl. Kerner 2006 und Sigwart 2012, S. 284 ff., 439 ff. und 483 f. Für eine entsprechende Unterscheidung der deskriptiv-phänomenologischen von den normativ-moralischen Implikationen von Charles Taylors Argument für einen „interpretive turn“ der „human sciences“ vgl. Choi 2009 und Smith 2004, S. 42 ff. 23 Vgl. etwa Näsström 2007, Colliot-Thélène 2011 und Habermas 2011.
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einer neokorporatistischen Funktionalisierung und „Refeudalisierung der politischen Integrationsmuster“ gesellschaftlicher Zusammenhänge (ebd., S. 28). Ihre „soziologische Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Rekonstruktion starker Demokratie unter den radikal veränderten Bedingungen der Gegenwart“ (Maus 2011, S. 12) setzt damit ebenfalls am Fundamentalproblem politischer Integration an und wendet sich dabei kritisch gegen solche Varianten der aktuellen Demokratietheorie, die, da sie „weder den ,Ort‘ noch das Subjekt der Souveränität“ in demokratischen Gesellschaften zu bestimmen versuchten, lediglich eine theoretische Entsprechung der „faktischen Vernetzungen und der Zirkularität der heutigen politischen Entscheidungsprozesse“ lieferten (ebd., S. 22). Gerade gegen diese instrumentell-funktionalen Verkürzungen gesellschaftlicher und kommunikativer Zusammenhänge aber, die Maus in der zunehmenden Dezentralisierung und damit „Refeudalisierung“ politischer Entscheidungsprozesse notwendigerweise angelegt sieht, müsse eine kritische Demokratietheorie die wesentlichen Emanzipationspotentiale des klassischen Begriffs der „Volkssouveränität“ wieder stark machen. Gegen die rein sachlogischen, instrumentellen theoretischen Perspektiven und faktischen Realitäten sich zunehmend dezentralisierender Subpolitiken müsse die kritische „Fundamentalfrage nach dem politischen Subjekt“ (ebd., S. 23) gestellt und damit die Substanz des klassischen Begriffs der Volkssouveränität, nämlich die Idee der „Selbstgesetzgebung“ im Sinne einer faktisch „souveränen“ und demokratisch legitimierten Legislativgewalt wieder einzuholen versucht werden. Maus’ Vorschlag läuft konkret darauf hinaus, der faktischen Dezentralisierung politischer Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse mit einer institutionellen Dezentralisierung von demokratischen Rechtssetzungsprozessen zu begegnen, welche aber zugleich die „Generalität“ demokratischer gesetzgeberischer Souveränität zu gewährleisten bzw. überhaupt erst wieder herzustellen in der Lage sein soll. Zur Fundierung dieses Vorschlags konzentriert sich Maus vor allem auf einen prozedural gefassten Verfassungsbegriff, aus dem alleine sich ein „enttraditionalisierter postkonventioneller Volksbegriff“ gewinnen lasse, „der sich mit einer pluralistischen und mulitikulturellen Gesellschaft verträgt.“ (Ebd., S. 43) Die hier vorgeschlagene hermeneutische Konzeptualisierung der politischen Integrationsfrage lässt sich unmittelbar mit mehreren Punkten von Maus’ demokratietheoretischem Entwurf in Verbindung bringen. Sie teilt nicht nur die Kritik rein instrumentell-funktionaler Rationalitätsverständnisse, sondern auch die Betonung der Fragen nach genuin politischen Formen gesellschaftlicher Integration und nach einer begrifflichen Fassung des „politischen Subjekts“. Die politisch-hermeneutische Perspektive kann insbesondere zur Erhellung der kognitiven Grundlagen solcher alternativer Politikbegriffe beitragen, auf deren Grundlage die emanzipatorischen und kritischen Potentiale dieser Fragestellungen zur Geltung gebracht werden können. Zugleich lenkt sie den Blick deutlicher auf diejenigen politisch-kulturellen Voraussetzungen einer solchen demokratietheoretischen Perspektive, die bei Maus selbst lediglich angedeutet sind. Denn auch ein rein prozedurales Verfassungsverständnis, das sich „nicht an der Fixierung vorentschiedener Inhalte orientiert, sondern die Ver-
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fassung als Festlegung von Verfahren begreift, in denen überhaupt erst über Inhalte entschieden wird“ (ebd., S. 41 f.), gründet für seine demokratische Legitimität letztlich auf denjenigen „kollektiven demokratischen Reflexions- und Entscheidungsprozesse(n)“ (ebd., S. 40), in denen sich die souveränen Bürgerinnen und Bürger an der Festsetzung zumindest bestimmter prozeduraler Regeln, etwa der konkreten Ausgestaltung legislativer Dezentralisierung, unmittelbar oder mittelbar beteiligen. Der von Maus betonte Aspekt der Inhaltslosigkeit ihres letztlich prozeduralen Begriffs von Volkssouveränität ist allerdings auch für eine hermeneutische Rekonstruktion der politischen Integrationsproblematik von entscheidender Wichtigkeit, und zwar sowohl aus normativer als auch aus analytischer Perspektive. Die offensichtlich auch aus demokratietheoretischer Perspektive zentrale Frage nach dem „Ganzen“ von politisch integrierten Gesellschaften darf auch hinsichtlich ihrer politisch-kulturellen Grundlagen nicht im Sinne inhaltlicher „Vorentscheidungen“ beantwortet werden, wenn sie mit den Gegebenheiten einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft nicht nur normativ, sondern auch empirisch vereinbar sein soll. Damit ist auch das zweite Missverständnis angesprochen, das die oben durchgeführte ideengeschichtliche Rekonstruktion vielleicht nahe legt, nämlich das Missverständnis eines unmittelbar inhaltlich gebundenen Verständnisses des politischen Integrationsproblems. Die Frage nach dem „Ganzen“ bzw. der „Einheit“ von politisch verfassten Gesellschaften lässt sich jedoch auch hermeneutisch verstanden schon auf der analytischen Ebene gerade nicht durch den Verweis etwa auf die Vorstellung eines inhaltlichen Konsenses beantworten. Darauf weist schon Charles Taylor mit Nachdruck hin: „The inter-subjective meanings which are the background to social action are often treated by political scientists under the heading ,consensus‘. By this is meant convergence of beliefs on certain basic matters, or of attitude. But the two are not the same. Whether there is consensus or not, the condition of there being either one or the other is a certain set of common terms of reference. A society in which this was lacking would not be a society in the normal sense of the term, but several. (…) (On the other hand) a high degree of inter-subjective meanings (…) can go along with profound cleavage. (…) (I) inter-subjective meaning is not a matter of converging beliefs or values. (…) (W)e cannot really understand this phenomenon through the usual definition of consensus as convergence of opinion and value. For what is meant here is something more than convergence.“ (Taylor 1985b, S. 36 f. und 39.)
Was die Inhalte gesellschaftlicher Interpretationsprozesse betrifft, so sind sie auch dort, wo sie gesellschaftliche Integration generieren und also im hier skizzierten Sinne politisch-hermeneutisch strukturiert sind, nicht inhaltlich kohärent und auch nicht notwendigerweise konsensual, sondern immer pluralistisch und potentiell immer auch konfliktiv und antagonistisch verfasst und daher nicht nur durch konsensorientierte Diskurse, sondern ebenso durch hermeneutische Deutungskämpfe und von Macht und Hegemonialstreben bestimmte Sprachspiele geprägt. Aber wenn dem so ist, wie lässt sich dann überhaupt die gesellschaftskonstitutive im Sinne einer integrativen Funktion solcher Interpretations- und Sprachspiele denken? Meine These ist, dass diese kohäsive Funktion überhaupt nicht primär in den
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Inhalten bzw. auf der Objektseite öffentlicher Diskurse und gesellschaftlicher Interpretationsprozesse, sondern sozusagen auf ihrer Subjektseite zu suchen ist. Das „Ganze“ einer politisch verfassten Gesellschaft konstituiert und reproduziert sich in politisch-hermeneutischen Prozessen der „Selbst“-Interpretation nicht so sehr durch die Herstellung inhaltlicher Kohärenz, aber auch nicht lediglich prozedural, sondern primär, dabei gleichsam die Pluralität und Heterogenität von unter Umständen radikal konfliktiven Deutungskämpfen um Inhalte unterlaufend und zugleich die Geltungsgrenzen konkreter demokratischer Prozeduren festlegend, durch die Deutung der Gesellschaft als das „Subjekt“ dieser Prozesse. Das scheint mir die eigentliche Pointe zu sein, auf die Taylors insgesamt sehr vage bleibende Hinweise und insbesondere seine nicht weiter erläuterte Verwendung der pronominalen Metapher der Ersten Person Plural hinausläuft. Die Eigentümlichkeit von „common meanings“ ergibt sich nicht unmittelbar aus ihren Objekten bzw. Inhalten, sondern primär aus der ihnen inhärenten und durch sie performativ generierten besonderen Vorstellung des Subjekts der (Be-)deutungen.24 So verstanden treffen sich Taylors mit ähnlichen Überlegungen einer Reihe hermeneutisch inspirierter politischer Theoretiker. Entsprechende Hinweise auf die politiktheoretische Bedeutung dieser eigentümlichen personalen Metaphorik finden sich zum Beispiel in John Deweys Theorie der Öffentlichkeit, die übrigens insgesamt zahlreiche interessante Anregungen für die Konzeptualisierung einer verstehenden politischen Theorie enthält.25 In Deweys einschlägiger Studie Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, die zwei Jahre vor Meads oben diskutiertem Aufsatz erschienen ist, rückt die Frage einer „Rationalisierung“ des politischen Integrationsproblems der Gesellschaft in der Tat ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Was konstituiert eine „Öffentlichkeit“ als bestimmbare und insbesondere als eine für sich selbst als solche „erkennbare“ Einheit? Auf welche gesellschaftlichen Prozesse geht die „Tatsache“ zurück, dass die politische Öffentlichkeit einer bestimmten Gesellschaft in diesem Sinne überhaupt existiert? Das ist die zentrale Frage, die Deweys Theorie der Öffentlichkeit zu klären versucht und die er mit dezidiert politisch-hermeneutischen Argumenten im hier skizzierten Sinne beantwortet.26 Es sind nicht die instrumentell-rationalen Zusammenhänge einer komplexen, sich in unterschiedliche Sphären und entsprechende Handlungslogiken differenzierenden modernen Gesellschaft und es ist 24 Vgl. in diesem Zusammenhang Taylors entsprechende Verweise auf das Problem des Subjekts von „inter-subjective“ und „common meanings“ (Taylor 1985b, S. 16, 40, 52). 25 Die Interpretation von John Deweys instrumentellem Experimentalismus als hermeneutisch inspirierte politische Theorie versteht sich nicht von selbst, kann sich aber auf entsprechende Einschätzungen anderer Interpreten berufen. Vgl. etwa die Einschätzung Karl Otto Apels, der klassische Pragmatismus, insbesondere „der finitistische Pragmatismus des Psychologen W. James und des Sozialpädagogen J. Dewey“ bilde „in mancher Hinsicht das amerikanische Gegenstück zur europäischen Existentialhermeneutik“, wie sie von Heidegger und Gadamer vertreten wurde (Apel 1970, S. 133, Fußnote 62). 26 Vgl. dazu ausführlicher Sigwart 2012, S. 214 ff.; zu den konzeptionellen Parallelen zwischen Deweys pragmatistischer politischer Theorie und der philosophischen Hermeneutik allgemein vgl. auch Bernstein 2010 und Vessey 2010.
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auch nicht der Bezug auf ein rein affektuell-irrationales „Wir-Gefühl“,27 sondern es sind die von den instrumentellen Logiken der „Great Society“ zu unterscheidenden, allerdings nicht rein affektuell, sondern ihrerseits rational, nämlich verstehend-hermeneutisch verfassten Prozesse der gesellschaftlichen Selbstinterpretation, in denen die politische Öffentlichkeit einer Gesellschaft ein „Bewusstsein“ von sich selbst erlangt und artikuliert. Entscheidendes Charakteristikum solcher öffentlichkeitskonstituierenden Interpretationsprozesse ist auch für Dewey ihre selbstreflexive Sinnstruktur und die in ihnen generierte Idee von der Öffentlichkeit als dem „Subjekt“ ihrer politischen Selbstartikulation, und auch Dewey greift in diesem Zusammenhang auf die „Wir“-Metapher zurück (Dewey 2001, S. 130 f.). Aufschlussreich sind auch Hannah Arendts entsprechende Überlegungen zur Frage des „Subjekts“ politischen Verstehens bzw. des „Autors“ öffentlichkeitskonstituierender Narrative. Während diese Frage in ihrer Handlungstheorie noch unbeantwortet bleibt, läuft ihre spätere Theorie des Geistes auf dieselbe These hinaus, die sich auch bei Taylor und Dewey abzeichnet: Die integrative, öffentlichkeitskonstituierende Wirkung politischer Narrative ergibt sich aus der ihnen inhärenten und in ihnen performativ konstituierten Form von Subjektivität, nämlich der „Erweiterung des dualen Ich-und-ich zu einem pluralen Wir.“ Politisches Verstehen als die kognitive Seite politischen Handelns hat die Subjektform der Ersten Person Plural; im politischen Handeln ist „stets ein Wir mit der Veränderung unserer gemeinsamen Welt beschäftigt“: „Die einzige Gemeinsamkeit (der) verschiedenen Formen und Gestalten menschlicher Pluralität ist die einfache Tatsache ihrer Entstehung, nämlich dass zu irgendeinem Zeitpunkt und aus irgendeinem Grunde eine Gruppe von Menschen sich als ein ,Wir‘ zu begreifen beginnt.“ (Arendt 2006, S: 426 f. und 428) Den beiden genannten Beispielen ließen sich zahlreiche weitere hinzufügen.28 Aus politisch-hermeneutischer Perspektive lässt sich die Wir-Metapher als das poli27
Vgl. dagegen die in diese Richtung deutende Interpretation von Deweys Studie bei Jörke 2003, S. 193. 28 Hinweise auf die politiktheoretische Bedeutung dieser eigentümlichen Wir-Metaphorik finden sich zum Beispiel in der Diskussion um die politischen Implikationen des vor allem von Hegels Philosophie sich herleitenden Begriffs der „Anerkennung“ (vgl. exemplarisch Honneth 1992 und 2010, besonders S. 261 ff.). Auch Jürgen Habermas weist in seinen „Studien zur politischen Theorie“ auf die Bedeutung der Perspektive der „Ersten Person Plural“ insbesondere für ethische Diskurse (im Unterschied zu moralischen Diskursen) hin (1999, S. 40 ff.; 2011, S. 90). Die Wir-Metapher wird in Robert Putnams Überlegungen zu zivilgesellschaftlichem Engagement ebenso konzeptionell genutzt (Putnam 1996, S. 292) wie in der Debatte um die Eigentümlichkeiten eines „liberalen Nationalismus“ (Scruton 1999). Sie spielt bei Richard Rorty (1988, S. 15, 85 und 97) ebenso eine wichtige Rolle wie in Michael Walzers Überlegungen zum Problem der „Kritik“ (1991, S. 29 und 314 und 1990, S. 115, Fußnote 42). (Vgl. zu letzterem auch Straßenberger 2005, S. 127 ff. und Forst 1996, S. 247, die auf Walzers entsprechende Verwendung des Personalpronomens „Wir“ hinweisen.) Auch Benjamin Barbers Versuch, das Politische als eine eigenständige „Epistemologie“ zu bestimmen, rückt die Wir-Metaphorik in das Zentrum der konzeptionellen Aufmerksamkeit (Barber 1994, S. 107 f., 149, 152, 220, 223 und insbesondere 154 ff.). Ähnliche Fragen werden schließlich auch in der philosophischen Kognitionsforschung und Sozialphilosophie (vgl. die Beiträge in der
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tiktheoretische Äquivalent der pronominalen Metapher des „Man“ in Heideggers Existentialphilosophie (Heidegger 2001, S. 113 ff., 180 ff. und 267 ff.) oder der Metapher des „Du“ in Gadamers Beschreibung der sozusagen personalen Form von Überlieferungszusammenhängen (Gadamer 1990, S. 363 ff.) verstehen, und zwar insofern als sie, wie diese, die subjekt-förmige und subjekt-konstitutive Sinnstruktur des „Ganzen“ gesellschaftlicher Zusammenhänge behauptet. Im Gegensatz jedoch zu Heideggers pejorativ konnotiertem „Man“ und Gadamers traditionalistisch konnotiertem „Du“ öffnet die Metapher der Ersten Person Plural in ihren theoretischen Implikationen die Perspektive für eine politik- und demokratietheoretische Problematisierung dieses „Ganzen“, indem sie den Ort des gesamtgesellschaftlichen Einheitsproblems, sozusagen den inhaltlich betrachtet in der Tat „leeren“ Signifikanten (Laclau 1996, S. 36 ff.) oder auch „leeren“ Ort der Macht (Lefort 1990) bezeichnet, in dem die komplexen und pluralistisch verfassten, teils konsensual orientierten, teils konfliktiven politischen öffentlichen Diskurse und Interpretationsprozesse zusammenlaufen und dadurch gesamtgesellschaftliche Kohäsion generieren. Entscheidend für die integrativen Effekte solcher genuin politischen Diskurse erscheint dabei aber weder deren inhaltliche „Leere“ bzw. Unbestimmtheit noch deren vermeintlich konsensuale Verfasstheit, sondern die ihrer spezifischen Semantik inhärente bzw. in ihr überhaupt erst generierte und in Permanenz reproduzierte Idee von der Gesellschaft als dem pluralen Subjekt ihrer „Selbstinterpretation“. Unabhängig von der Frage, welche Inhalte in ihnen verhandelt bzw. diskutiert werden und wie kontrovers und konfliktiv diese Diskussionen sich ausgestalten, wird in politischen Diskursen solange immer auch gesamtgesellschaftliche Kohäsion generiert, solange sie in ihrer Sinnstruktur „selbst“-reflexiv auf das stets mitlaufende eigentliche „Objekt“ politischer Interpretationsprozesse, nämlich der jeweiligen „Gesellschaft“ oder „Öffentlichkeit“ als ihrem pluralen Subjekt zurück gebunden bleiben.29 Den damit skizzierten Zusammenhang also, das ist meine abschließende These, möchte ich als Ausgangspunkt der Gegenstandsbestimmung einer „verstehenden Politikwissenschaft“ vorschlagen. Das Politische wäre demnach zu verstehen als ein besonderer Modus der Interpretation von Wirklichkeit, in dem sich die Integration soziokultureller Prozesse in konkrete politisch verfasste Gesellschaften als erkennbare, relativ abgrenzbare Einheiten bzw. Bedeutungsfelder vollzieht. Subjektiv ist das Politische, so verstanden, eine eigentümliche, evokative Wirkungen entfaltende Art Schwerpunktausgabe der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 55/3 (2007) zum Thema „kollektive Intelligenz“) und in der evolutionsbiologischen Anthropologie (Tomasello 2009) diskutiert. 29 So verstanden müsste auch die integrale Funktion von Verfassungen bei der Repräsentation der Einheit gesellschaftlicher Selbstinterpretationsprozesse und in Prozessen der gesamtgesellschaftlichen „symbolischen Integration durch Normen“ primär in den in ihnen artikulierten pluralen Subjektvorstellungen gesucht werden. Vgl. dazu Brodocz 2004, S. 132 und 142 ff. und Vorländer 2002 sowie die interessante Interpretation der pronominalen Metaphorik in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der US-Verfassung („We hold these truths to be self-evident“ bzw. „We the people“) bei Arendt 1986, S. 248 ff. und bei Barber 1998.
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des praktischen „Verstehens“. Objektiv beschreibt es ein eigentümliches Formprinzip von „Kultur“, nämlich die Tatsache, dass „Kultur“ im Sinne eines „historisch überlieferte(n) System(s) von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein(es) System(s) überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, (…) mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“ (Geertz 1987, S. 46) sich empirisch in der Form von konkreten historischen „Gesellschaften“ artikuliert, die bei aller Differenzierung und Vielfältigkeit gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse jeweils als das mehr oder weniger stark integrierte sinnvolle „Ganze“ eines politischen Gemeinwesens beschrieben werden können. „Gesellschaft“ ist der zu den vielfältigen Prozessen funktionaler und kultureller Differenzierung gleichsam quer liegende objektive Bedeutungszusammenhang des konkreten „Ganzen“, der sich als die Praxis der politisch-hermeneutischen Selbstauslegung eines Gemeinwesens in Permanenz konstituiert. Das Politische ist der spezifische Modus des Verstehens von Wirklichkeit, der sich in dieser Praxis aktualisiert. Eine wichtige Eigentümlichkeit dieses politischen Erfahrungs- und Interpretationsmodus scheint dabei seine selbstreferenzielle Bedeutungsstruktur zu sein, welcher allerdings eine eigentümliche Vorstellung von „Selbst“ bzw. des „Subjekts“ der Interpretation zugrunde liegt. Nicht nur dass das „Selbst“ der Interpretation zugleich ihren Gegenstand bildet und also insofern, mit Mead gesprochen, „die Identität im Bewusstsein … stets ein Objekt ist“ (Mead 1987a, S. 241), sondern außerdem, dass dieses „Selbst“ in eigentümlicher Weise zwischen den Vorstellungen eines individuellen und eines kollektiven Akteurs changiert, macht die besondere Semantik politischer Diskurse aus. Die spezifische Differenz politischer Bedeutungen, durch die sie sich etwa von den „triadischen“ Formen von Intersubjektivität im Allgemeinen unterscheiden, ergibt sich aus der ihnen eingeschriebenen und in ihnen generierten besonderen Form von Subjektivität. Dem Politischen ist die Vorstellung eines weder individuellen noch kollektiven, sondern eines pluralen Subjekts inhärent, das sich überhaupt erst und in Permanenz im Vollzug dieser genuin politischen Selbst-Interpretation der Gesellschaft konstituiert und es sich insofern, so könnte man sagen, bei der genuin politischen um eine autopoietische Praxis der gesellschaftlichen Interpretation handelt. Diese Vorstellung von der Gesellschaft als eines pluralen Subjekts ist aus der hier skizzierten Perspektive also das wesentliche Charakteristikum des politischen Ganzen von Gesellschaften. Sie soll aber dadurch nicht als eine problemlos gegebene, a priori gesetzte (und damit entproblematisierte) oder gar als unmittelbar, ohne weitere Qualifikationen normativ geltende Kategorie, sondern als das zentrale politisch-hermeneutische „Problem“ ausgewiesen werden, das es zu „verstehen“ gilt. Die Metapher der Ersten Person Plural bezeichnet im Zusammenhang des politischen Modus des Verstehens gerade keine immer schon vorgegebene, sondern eine ihrerseits „hermeneutische“ Entität, und zwar insofern eine ausschließlich hermeneutische Entität, als sie sich nicht nur in ihrer jeweils konkreten Form, sondern bereits in ihrem bloßen Gegebensein überhaupt erst im Prozess der Selbstauslegung, ihrer hermeneutischen
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Autopoiesis konstituiert und in Permanenz reproduziert. Das „Ganze“ von Gesellschaften ist nicht nur hinsichtlich seiner konkreten inhaltlichen Ausdeutung prinzipiell stets offen und daher inhaltlich plural (und immer auch konfliktiv, in der Form von Deutungskämpfen) verfasst, sondern bereits in seiner bloßen faktischen Gegebenheit prinzipiell prekär. Für Gesellschaften gilt in ungleich größerem Maße als für Individuen, dass ihr „Subjekt“ und damit ihre „Einheit“ nicht einfach „gegeben“ ist, sondern in Permanenz „gemacht“ wird (vgl. Saar 2004, S. 333). Für die „Grenzen eines politischen Gemeinwesens“, so bemerkt etwa Habermas hinsichtlich der Frage nach dem Bestehen und den Grundlagen einer gesamteuropäischen politischen Gesellschaft, „gibt es keine Gegebenheiten. […] Auch Nationen sind wie alle anderen vergleichbaren Referenten keine Naturtatsachen, wenngleich normalerweise auch nicht nur (wie im Falle vieler kolonialer Staatengründungen) Fiktionen.“ (Habermas 2011, S. 77) Die Einheit einer bestimmten Gesellschaft als politisches Gemeinwesen ist keine „Tatsache“ im Sinne eines „brute datum“, sondern eine „Bedeutung“, eine empirisch betrachtet offenbar äußerst persistente, in den verschiedenen Formen ihrer institutionellen Verstetigung sehr langlebige, aber eine dennoch für grundlegende Uminterpretationen – und auch für weitreichende Transformationen in der konkreten Ausdeutung der ihr zugrunde liegenden Subjektstruktur (vgl. Habermas 2011, S. 65 ff.) – stets offene Bedeutung. Literatur Apel, Karl-Otto (1970): Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der Semiotik des Pragmatismus, in: Rüdiger Bubner et al. (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik. Bd. I, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 105 – 144. Arendt, Hannah (1986): Über die Revolution, München/Zürich: Piper. – (1994): Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, in: Hannah Arendt, Essays in Understanding 1930 – 1954. Edited and with an Introduction by Jerome Kohn, New York: Schocken, S. 428 – 447. – (2000): Verstehen und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz, München/Zürich: Piper (2. Aufl.), S. 110 – 127. – (2006): Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Hrsg. von Mary McCarthy, München/Zürich: Piper (3. Aufl.). Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg: Rotbuch. – (1998): The Rights of We the People Are All the Rights There Are, in: Benjamin Barber, A Passion for Democracy. American Essays, Princeton (Princeton University Press), S. 60 – 78. Bernstein, Richard J. (2010): Pragmatism and Hermeneutics, in: Paul Fairfield (Hrsg.), John Dewey and Continental Philosophy, Carbondale/Edwardsville (Southern Illinois University Press), S. 148 – 160. Brodocz, André (2004): Die symbolische Dimension konstitutioneller Institutionen, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 131 – 150.
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III. Rezensionen und Rezensionsabhandlungen
Rezensionen
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Ontologie, Sozialphilosophie oder Politische Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft? Zu einer Fundamentalalternative der Praktischen Philosophie Manfred Riedel, Bürgerliche Gesellschaft – Eine Kategorie der klassischen Politik und des modernen Naturrechts (Hrsg. Harald Seubert unter Mitarbeit von Friedemann Sprang), Steiner-Verlag, Stuttgart 2011, 380 Seiten In memoriam Manfred Riedel Wilhelm Hennis I. Wenn die Habilitationsschrift eines der bedeutendsten Förderer der Rehabilitierung der Praktischen Philosophie in Deutschland1 einem so zentralen Thema der Selbstverständigung moderner politischer Gemeinwesen gewidmet ist, wie es von der Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft gebildet wird, dann ist besondere Aufmerksamkeit umso mehr ratsam, wenn sie gleichwohl erst mehr als eine Generation nach ihrem Abschluß – und überdies auch noch postum – veröffentlicht wird. Immerhin hat diese Rehabilitierung während der vergangenen Jahrzehnte in großer Breite und Tiefe Früchte getragen. Die Frage ist daher nur allzu naheliegend, ob die postum publizierten Untersuchungen eines der wichtigsten Initiatoren dieser modernen Gestalt der klassischen philosophia practica von den Erträgen und den Methoden der Untersuchungen auf diesem Feld während der vergangenen mehr als vierzig Jahre nicht überholt worden sind. Wenn dies so wäre, so könnte man darin durchaus auch ein Indiz für einen schönen Erfolg des damals entworfenen Forschungsprogramms sehen. Es kann denn auch keinen guten Zweifel daran geben, daß der Erschließung, Interpretation und Beurteilung der von Riedel behandelten Texte und der darin präsentierten Begriffe, Argumente und Theorien seit damals in jeder Hinsicht beträchtliche Fortschritte gelungen sind. Wenn Riedels Untersuchungen eine so späte retractatio gleichwohl lohnen, dann deswegen, weil er sich von Anfang an von fundamentalphilosophischen Voraussetzung über die Struktur der in einer bürgerlichen Gesellschaft möglichen Politik leiten läßt. Damit begibt er sich indessen schon zu seiner Zeit auf ein theoretisches Feld, dessen innere Spannungen die Erörterungen um Grundfragen der Politischen Philosophie als Teildisziplin der Praktischen Philosophie bis heute in Atem halten. Der eine Pol dieses Spannungsfeldes ergibt sich aus Riedels Leitthema: „Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen steht […] der Ursprung und der Sinn der Identitätsformel: societas sive societas civilis“ (9). „Ihnen [also ihrem Ursprung und Sinn, R.E.] muß wenigstens insoweit nachgegangen werden“ (10) als „[…] nach begriffsimmanenten Verweisungszusammenhängen zwischen Politischer Theorie und Ontologie gefragt werden [soll]“ (ebd.); denn ausschlaggebend sei „[…] der Einfluss, den die klassische Ontologie auf die Begriffskonzeption der bürgerlichen Gesellschaft ausübt“ (10). Den „[…] Begründer dieser Begriffskonzeption“ (14) identifiziert Riedel im § 5 von Teil I seiner Untersuchungen mit Aristoteles, ihren letzten Repräsentanten im letzten Teil IV seines Buchs mit Hegel (235 – 338).
1 Vgl. Manfred Riedel (Hrsg.), Zur Rehabilitierung der Praktischen Philosophie, 2. Bde., Freiburg/Br. 1974.
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Der eine der beiden nicht-ontologischen Pole im Spannungsfeld der Politischen Philosophie ergibt sich aus dem Umstand, daß zur Zeit der Ausarbeitung von Riedels Habilitationsschrift schon die sozialphilosophische Fundamentalkonzeption der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft vorlag, die Jürgen Habermas zehn Jahre früher in seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft2 und vor allem in seiner programmatischen Abhandlung Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie3 entwickelt hatte. In dieser Konzeption gilt von „[…] der bürgerlichen Gesellschaft“, daß sie sich während des 18. Jahrhunderts „[…] als Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit nach eigenen Gesetzen etabliert“4. In der klassischen griechischen, vor allem Aristotelischen Konzeption sind in Habermas’ Aufarbeitung „Die Bürger […] zwar von produktiver Arbeit entlastet; die Teilhabe am öffentlichen Leben hängt aber von ihrer privaten Autonomie als Hausherren ab“5. In diesem Modell des Bürgers und seiner öffentlichen Tätigkeit bleibt für Habermas „[…] die gesellschaftliche Formation, die ihm zugrunde liegt“, unterbelichtet, während „[…] das ideologische Muster selbst […] seine Kontinuität, eben eine geistesgeschichtliche, über die Jahrhunderte bewahrt“6. Die Wahrheit über den Status des Bürgers und über die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft erschließt sich im Rahmen dieser Konzeption ausschließlich einer sozialökonomischen Analyse. Der andere nicht-ontologische Pol dieses Spannungsfeldes ergibt sich aus der von Wilhelm Hennis energisch wiederbelebten systematischen Beziehung zwischen Politik und praktischer Philosophie7 sowie aus seiner daran anknüpfenden wissenschaftstheoretischen Wiederbelebung der Politik als praktische Wissenschaft8. Auch Hennis lenkt die Aufmerksamkeit auf „[…] den Zusammenhang der alteuropäischen ,societas civilis‘ im Sinne der Staat und Gesellschaft ungeschieden umgreifenden koinonia politike“, ohne zu verkennen, daß diese Konzeption „[…] natürlich ihre Folgegeschichte auch in der bürgerlichen Gesellschaft in jenem neuzeitlich sozial- und verfassungsgeschichtlichen Sinn“9 hat. Für den Bürger-Typus, der die legitime (politische) Herrschaft in einer neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft gewährleistet, ist eine spezifische Tugend charakteristisch: Im unmittelbaren Anklang an die spezifische kognitive und praktische Tugend der phronesis des Bürger-Typus, der in der Aristotelischen PolitikKonzeption diese koinonia politike trägt, charakterisiert Hennis sie als praktisch-phronetisch.10 2 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (11962), Neuwied 21965. 3 Vgl. Jürgen Habermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied 1963, S. 13 – 51. 4 Jürgen Habermas, Strukturwandel, S. 12 – 13. 5 Ebd., S. 13; vgl. hierzu unten S. 5 – 6. 6 Ebd., S. 14. 7 Vgl. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963. 8 Vgl. Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968. 9 Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Politische Vierteljahresschrift. Sonderdruck 7/1976. Legitimationsprobleme politischer Systeme, hrsg. von Peter Graf Kielmannsegg, S. 20. 10 Wilhelm Hennis, Eine Replik auf Jürgen Habermas, in: ders., Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (11976), in: Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 289 – 96, hier S. 293.
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Und zur Überwindung der zuerst von Rousseau diagnostizierten Entfremdung der Bürger (bourgeois) von den zivilen Herrschaftsformen11 in den zu groß gewordenen modernen Nationalstaaten12 konzipiert er ein Bürger-Modell, dessen Kern von der „[…] ,cognitiven‘ Freiheit“13 gebildet wird. Denn der Bürger moderner Gemeinwesen „[…] muß mindestens so viel Wissen von den Zusammenhängen politischen Lebens besitzen, daß er diese Welt nicht als eine fremde, seiner Einsicht entzogene betrachtet“14. Das ,bürgerliche‘ Format der modernen bürgerlichen Gesellschaft zeigt und bewährt sich – zumindest analog wie im Licht der Aristotelischen BürgerKonzeption – am Format der spezifisch praktisch-politischen kognitiven Tugend ihrer ,bürgerlichen‘ Träger, an ihrem „Bürgersinn“.15 An der umfassenden und tiefenscharfen Gelehrtheit der begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung, die R. dem Thema seiner akademischen Zweckschrift von 1968 hat angedeihen lassen, kann nicht mit guten Gründen gezweifelt werden. Nicht nur in seinem Artikel Bürgerliche Gesellschaft des großen Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe16 hatte er die wichtigsten Ergebnisse seiner unveröffentlicht gebliebenen Untersuchungen der weiteren Forschung schon längst zugänglich gemacht. Unter diesen Umständen liegt es nahe, die späte Publikation seiner Habilitationsschrift zum Anlaß für die Frage zu nehmen, wie sich R. mit den systematischen Leithypothesen seiner Untersuchungen in dem Spannungsfeld fundamentaler Alternativen orientiert, das zur Zeit von deren Ausarbeitung durch exemplarische Entwürfe wie die von Habermas und Hennis über die in bürgerlichen Gesellschaften mögliche Politik schon länger eröffnet war. II. Unbeschadet der zahlreichen, durch tiefe geistes- und realgeschichtliche Epochenbrüche zersprengten literarischen Quellen seiner Untersuchung (vgl. S. 361 – 65), erprobt Riedel im Ausgang von der Aristotelischen Politik sowie der Nikomachischen und der Eudemischen Ethik die Tragfähigkeit und Tragweite der Prämisse, „[…] daß die Unterscheidung zwischen 11 „[…] qui dans l’ordre civil veut conserver la primauté des sentiments de la nature, ne sait ce qu’il veut. Toujours en contradiction avec lui-même, toujours flotant entre ses penchans et ses devoirs il ne sera jamais ni homme ni citoyen; […] un Bourgeois“, Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l’éducation, in: ders., Oeuvres complètes, Bd. IV, Paris 1969, S. 249 – 50. 12 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Art. Économie politique, in: d’Alembert/Diderot, Encyclopédie des Sciences, des Arts, et des Métiers, Paris 1755, S. 261 f. 13 Wilhelm Hennis, Das Modell des Bürgers (11957), wieder abgedr. in: ders., Politik, S. 201 – 12, hier: S. 210. 14 Ebd., S. 209. Mit dieser Konzeption einer gegen die Entfremdung der politischen Wirklichkeit möglichst resistenten ,cognitiven Freiheit‘ des Bürgers zugunsten seiner politischen Urteilsbildung zeigt sich Hennis bereits 1957 der These von der ,emanzipatorischen‘ Funktion überlegen, die Habermas zehn Jahre später für die Sozialwissenschaften reklamieren wird, vgl. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Philosophische Rundschau, Sonderheft (Beiheft 5) Februar 1967, bes. S. 192 – 95. 15 Vgl. Wilhelm Hennis, Motive des Bürgersinns, in: ders., Politik, S. 213 – 23. 16 Vgl. Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Hrsg. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck), Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 719 ff.; ders., Metaphysik und Politik bei Aristoteles, in: ders., Metaphysik und Metapolitik, Frankfurt/Main 1975, S. 63 ff.; vgl. aber auch schon ders., Der Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1969, S. 135 ff.
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theoretischer und praktischer Philosophie bei Aristoteles selber ontologisch begründet ist“ (56). R. schreibt dieser von ihm unterstellten ontologischen Begründung durch die Aristotelische Ursprungstheorie des Politischen eine außerordentliche Tragweite zu. Diese zeigt sich in der für ihn wichtigsten Theorie an der geschichtlichen Schwelle zu unseren gegenwärtigen Großrepubliken, in Hegels Staatstheorie, die „[…] das ontologische Prinzip der klassischen Politik-Tradition bei[behält]“ (329).17 Es gehört indessen zu den Fortschritten, die die Forschungen auf dem Feld der Praktischen und insbesondere der Politischen Philosophie in der Zeit nach dem Abschluß von R.s Habilitations-Schrift erzielt haben, daß seine Prämisse einer ontologischen Begründung der Politik verworfen werden konnte. Die Untauglichkeit der ontologischen bzw. ontologisch relevanten Kategorien der Aristotelischen Theoretischen Philosophie, den von Aristoteles analysierten praktisch-politischen Strukturen gerecht zu werden, hat vor allem Eckart Schütrumpf ausführlich und detailliert aufgezeigt.18 Aristoteles schließt die praktischen Entitäten und deren praktische Eigenschaften (Handlungen-gut/schlecht)19 sogar ausdrücklich selbst von der Anwendung dieser Kategorien aus.20 In der Kategorien-Schrift erörtert Aristoteles ausdrücklich das für seine Politische Philosophie so wichtige Verhältnis zwischen Herrn und Sklave (vgl. Cat. 6a 30 – 31, 7a 28 – 39). Er sieht indessen nicht den geringsten Anlaß, irgendwelche substanz- und akzidenztheoretischen Aspekte zu berücksichtigen. Er erörtert vielmehr ausschließlich unter relationenlogischen und begriffsanalytischen Aspekten die These, daß, wenn ein Sklave ist, dann auch ein Herr (7b 18) (bzw. kontrapositiv: 7b 7 – 8), und wenn ein Herr ist, dann auch ein Sklave (6b 21 – 22) sowie die These, daß aus Mensch-sein weder Herr-sein noch Sklave-sein folgt. Für die zentralen praktischen Entitäten der politischen Praxis – also für die Bürger – und deren charakteristisches Format konzipiert er indessen die exklusiv praktische ,Kategorie‘ der Autarkie. Er gibt damit indirekt selbst zu verstehen, daß man den spezifischen Entitäten und den spezifischen Strukturen der Praxis, insbesondere der politischen Praxis auch nur mit Hilfe von exklusiven, spezifisch praktisch-politischen ,Kategorien‘ gerecht werden kann. Es ist daher völlig unverständlich, wie Riedel allen Ernstes der Auffassung sein kann, daß auf dieser Linie „[…] die substantialistische Interpretation […] des Verhältnisses des Einzelnen zur polis […] ihre eigentliche politische Relevanz erhält“ (67, Hervorhebung R.E.), weil sie „[…] die selbständige Substanz des Einzelnen [bezeichnet]“ (ebd.). Riedels ontologischer Seitenweg ist umso irritierender, als er nur zu gut weiß, worin die, sit venia verbo ontologico, praktisch-politisch relevante ,Substanz des einzelnen Bürgers‘ besteht. Er hat dieser Frage den ganzen § 6 des Teils I seiner Untersuchung gewidmet und sie in einer Form beantwortet, deren Trefflichkeit nur allzu deutlich zeigt, daß er mit seiner ontologischen Interpretation des Bürger-seins einen Irrweg eingeschlagen hat. Denn diese ,Substanz‘ ist nichts anderes als „[…] das eigentliche Vermögen der praxis“ (70), das „[…] Vermögen zu handeln“ 17
Vgl. hierzu unten S. 198 ff. Vgl. Eckart Schütrumpf, Kritische Überlegungen zur Ontologie und Terminologie der aristotelischen „Politik“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2/1981, S. 26 – 47, in gezielter Auseinandersetzung mit Riedel, Metaphysik; zu dieser Kritik vgl. auch Eckart Schütrumpf, Aristoteles, Politik Buch I. Einleitung, Übersetzung und Kommentar, Berlin/ Darmstadt 1991 (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9, Politik, Teil I), S. 102 ff.; ebenso urteilt Wolfgang Kullmann, Man as Political Animal in Aristotle, in: A Companion to Aristotle’s Politics (Hrsg. D. Keyt, F. D. Miller, jr.), Cambridge/Mass., Oxford 1990, 94 – 117, bes. S. 108 – 14. 19 Vgl. Cat. 4a 15 – 16. 20 Vgl. ebd., 4a 10 – 22. 18
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(ebd.), das im „[…] ,praktischen‘ Wissen (vq|mgsir)“ (ebd.) des Bürgers bestehende spezifisch praktisch-politisch relevante kognitive Vermögen. Daher ist die vq|mgsir die ,Substanz‘ – oder besser, wie Riedel selbst andeutet, die \qw^ (vgl. 69) – des Bürgers bzw. seines Handelns.21 Mit der Aristotelischen Konzeption der Bürger-phronesis erledigt sich auch Habermas’ Zurückführung des von Aristoteles konzipierten Bürgerstatus auf den sozialökonomischen Status des Herrn des Hauses, der Familie und des ,Gesindes‘.22 Allerdings leistet Riedel selbst und trotz seiner trefflichen ,phronetisch-praktisch‘ (Hennis) orientierten Rekonstruktion des Kerns der Politischen Philosophie des Aristoteles gleichwohl der irrigen sozial-ökonomischen Reduktion des Bürger-Status Vorschub, wenn er argumentiert: „Denn politische Autonomie, die Qualität des Bürgers als eines Freien, setzt Autarkie, Herrschaft über das Haus und diejenigen, welche ihm ,anhängen‘, voraus“ (68). Es ist indessen ein wichtiger formaler Fehler aller derartigen sozial-ökonomischen Reduktionen, die spezifischen sozial-ökonomischen Voraussetzungen der Möglichkeit des Erwerbs dieser phronesis mit der konditionalen Rolle dieser phronesis als der spezifisch praktisch-politisch-kognitiven Bedingung der Ausübung dieser Autonomie und Qualität zu verwechseln. Auch die ,häusliche‘ Autarkie bzw. Herrschaft besteht daher vor allem in der kognitiv-praktischen, ,phronetischen‘ Tugend, die den Hausherrn ertüchtigt, das häusliche Wohl und die Mittel zu seiner Erreichung angemessen zu erwägen, zu beurteilen und zu realisieren. Daß jemand nur unter spezifischen sozial-ökonomischen Bedingungen zu einem solchen Hausherrn werden und die für die Ausübung dieses Status taugliche phronesis erwerben kann, ist trivial. Es ist denn auch offensichtlich, daß Riedel selbst seinem ontologischen Seitenweg weder ein hermeneutisches noch ein sachliches noch ein problemgeschichtliches Potential beimißt, sondern einer ganz anderen Leitprämisse folgt: „Phronesis, der Grundbegriff der praktischen Philosophie des Aristoteles, meint die Klugheit vernünftigen Handelns, die es 1. mit dem zu tun hat, was sich der Vorgegebenheit technischer Zwecke und den Mitteln zu ihrer Verwirklichung entzieht, und 2. wirksam ist in einem bloß ,theoretischen‘ Wissen unzugänglichen Bereich, so dass Aristoteles hier vom Menschen als dem Freien ausgeht, der es actu besitzt, dem phronimos“ (73, Hervorhebung R.E.). An dieser trefflichen phronesis-zentrierten Rekonstruktion der Aristotelischen Auffassung können auch ontologisierende Paraphrasen wie „[…] der Freie in der uns geläufigen Selbständigkeit seines Seins“ (70, Hervorhebungen R.E.) nichts ändern.23 R. konzen21 Zu Recht hat schon Schütrumpf, Kritische Überlegungen, auch darauf hingewiesen, daß die von R. geübte neuzeitlich geprägte Rede von einer bürgerlichen Gesellschaft im Kontext der Aristotelischen Politischen Philosophie irreführend ist, vgl. S. 4532; angemessener ist es, von einer Bürgerschaft zu sprechen. 22 Vgl. oben S. 193 – 194. 23 Zum Begriff des Freien (1keuheq|r) vgl. Arist., Pol. 1317B 11 – 13. Die Tragweite von Riedels Aristoteles-Interpretation zeigt sich bedauerlicherweise auch in einer irreführenden Stereotypisierung, zu der der ontologisierende Seitenweg seiner Interpretation zumindest beigetragen hat. Vor allem bei Repräsentanten einer sog. dialektisch-kritischen bzw. einer empirisch-analytischen Politischen Wissenschaft bzw. Sozialwissenschaft ist die Rede von einer angeblich auf Platon und/oder Aristoteles zurückgehenden ontologisch-essentialistischen bzw. ontologisch-normativen Konzeption der Politik zu einem beliebten polemischen Stereotyp geworden. Hennis zeigt daher ganz zu Recht sein völliges Unverständnis für die polemischen Versuche, die von ihm „[…] vertretene Sicht der praktischen Wissenschaft als ontologisch-essentialistisch“, Wilhelm Hennis, Legitimität. Replik, in: ders., Politik wissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 294, zu entstellen. Noch 1992 spricht Jürgen Habermas, Norm und Faktizität, Frankfurt/ Main 1992 „[…] von den substantialistischen Vorstellungen der auf Aristoteles zurückge-
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triert sich denn auch ganz unabhängig von diesem ontologischen Seitenweg nicht nur darauf, „[…] die Strukturformen des praktischen Wissens“ (ebd.) zu erörtern. Er fragt über die Aristotelische Konzeption dieser kognitiven Strukturformen der Praxis hinaus „[…] nach der politisch-geschichtlichen Relevanz dieser Strukturformen und der von Aristoteles vorgenommenen Differenzierung im Praxisbegriff“ (ebd., Hervorhebungen R.E.). Diese Tragweite zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Reichweite bis in die Gegenwart. R.s aristotelische Begriffsbildung des Freien berührt sich gerade angesichts seiner eigentlichen Grundorientierung an der spezifisch praktisch-politischen kognitiven Tugend des Bürgers – und insbesondere des politische Ämter ausübenden Bürgers – in aufschlußreicher Weise sogar mit dem von Hennis im Blick auf die Gegenwart geprägten Begriff der kognitiven Freiheit (vgl. oben S. 3) als der zentralen praktisch-politischen Tugend des gegenwärtigen Bürgers in Gemeinwesen mit parlamentarisch-repräsentativem Regierungssystem. Denn gerade weil das praktische und speziell das politische Beratschlagen, Urteilen und Handeln vor allem die kognitive Tüchtigkeit voraussetzt, die dem guten häuslichen wie dem guten öffentlichen Leben angemessenen Ziele und die diesen Zielen angemessenen Mittel ausfindig zu machen, ist der von Aristoteles konzipierte Bürger-Typus auf Grund seiner dafür trefflichen phronesis sowohl frei von Befangenheiten in ökonomischen und sozialen Abhängigkeiten wie auch frei für ein treffliches Beraten, Beurteilen und Ausüben praktisch-politischer Angelegenheiten. Aufschlußreich ist die Berührung zwischen R.s Interpretation des durch phronesis ,Freien‘ und Hennis’ Konzeption der kognitiven Freiheit des Bürgers allerdings erst dann, wenn man berücksichtigt, daß Hennis’ Konzeption ganz anderen politischen und gesellschaftlichen Erfordernissen gerecht zu werden sucht als die von Riedel rekonstruierte Aristotelische. Der Unterschied zwischen diesen Erfordernissen ist in einer Hinsicht sogar inkommensurabel, so daß in dieser Hinsicht ganz einfach ein tertium comparationis fehlt. Doch gerade diese unüberbrückbare Kluft macht die Berührung gleichwohl so aufschlußreich. Denn Hennis entwirft das Modell des Bürgers einerseits im vollen empirischen Licht der faktischen Strukturen sowohl der modernen Industriegesellschaft24 wie im vollen empirischen Licht der faktischen Strukturen der parlamentarisch-repräsentativen Regierungssysteme25 eben dieser Gesellschaften. Doch angesichts der irreversibel immer noch weiter wachsenden Komplexität dieser Regierungssysteme sowie der Regierungstechniken, die von den ebenso wachsenden Komplexitäten dieser Gesellschaften nötig gemacht werden, wird der Erwerb der von Hennis angemahnten kognitiven Freiheit des Bürgers nötig, weil dieser „[…] mindestens so viel Wissen von den Zusammenhängen politischen Lebens besitzen [muß], daß er diese Welt nicht als eine fremde, seiner Einsicht entzogene betrachtet“26, also die andernfalls unvermeidliche „[…] Entfremdung zumindest zum Teil aufhebt“27. Mit solchen Erwägungen verläßt Hennis zwar die Dimension der empirischen Struktur- und Funktionsanalysen und -beschreibungen moderner Industriegesellschaften und der ihnen angehenden Tradition“, von denen „[…] das intuitive Verständnis der demokratischen Selbstbestimmung [befreit]“ werden müsse, S. 383. 24 Vgl. Wilhelm Hennis, Parlamentarische Opposition und Industriegesellschaft (11956), wieder abgedr. in: ders., Politik, S. 105 – 25. 25 Vgl. Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre (11965), wieder abgedr. in: ders., Politik, S. 85 – 104, sowie Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik (11964), wieder abgedr. in: dass., S. 161 – 88. 26 Wilhelm Hennis, Das Modell des Bürgers, S. 209. 27 Ebd., S. 210.
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messenen Regierungssysteme und -techniken. Gleichzeitig vollzieht er damit den charakteristischen methodologischen Schritt einer als praktische Wissenschaft kultivierten Politischen Wissenschaft: Er formuliert eine nicht nur formal notwendige, sondern auch normativ notwendige Bedingung für ein kognitives Gelingen der Möglichkeiten und der Aufgaben eines Bürgers in den entfremdungsgefährdeten Gemeinwesen, die aus den neuzeitlichen Nationalstaaten des Westens – einschließlich der USA – hervorgegangen sind. Er gibt also nicht nur in der methodischen Einstellung einer distanzierten und objektivierenden desinvolture durch eine formale Beschreibung zu verstehen, daß ein solcher Bürger einer solchen Entfremdung nur dann vorbeugen kann, wenn er über ein solches politisches Minimalwissen verfügt; er gibt solchen Bürgern in ihrem Status als seinen Mitbürgern in einer politischen Schicksalsgemeinschaft darüber hinaus auch in teilnehmend-solidarischer Sorge den praktisch nötigen Rat, sich um der Fähigkeit einer authentischen Beurteilung der politischen Agenden ihres Gemeinwesens willen um den Erwerb eines solchen elementaren politischen Wissens zu bemühen. Doch wenn eine Rehabilitierung speziell des ,praktisch-phronetischen‘ Kerns der Aristotelischen Politischen Philosophie zugunsten einer zeitgemäßen Politischen Wissenschaft als praktischer Wissenschaft fruchtbar sein können soll, dann ist dies nur um den Preis einer erheblichen methodologischen und sachlichen Komplizierung möglich. Hennis gelingt diese Rehabilitierung nur dadurch, daß er die praktisch-politische Notwendigkeit respektiert, einer tiefen funktionalen Spaltung Rechnung zu tragen, die die moderne politische und gesellschaftliche Entwicklung dem ,praktisch-phronetischen‘ Kern des Politischen abverlangt. Denn nur das eine ,Spaltprodukt‘ wird in Gestalt der ,kognitiven Freiheit‘ des Bürgers in einem modernen politischen Gemeinwesen greifbar. Das andere ,Spaltprodukt‘ muß man in den politisch maßgeblichen Ämtern und Personen der Regierungen, der Ministerialbürokratie und der Volksvertretungen in parlamentarisch-repräsentativen Demokratien suchen. Nur deswegen kann Hennis dem zentralen II. Teil der Grundzüge seiner richtungweisenden modernen Regierungslehre28 die treffliche Überschrift Die Aufgabe: Erkennen, Beschließen, Ausführen29 geben und die kognitiven Aufgaben der Politik mit Hilfe einer alt-ehrwürdigen Metaphorik in den „institutionalisierten Augen und Ohren“30 dieser Ämter und ihrer Inhaber angemessen aufgehoben sehen. Diese Augen-und-Ohren-Metaphorik verweist in der kürzest möglichen Form auf die kognitiven Fähigkeiten, Kompetenzen, Befugnisse und Arbeitsmethoden dieser Ämter und ihrer Inhaber: Diese müssen in analoger Form unmittelbar auf die praktisch politisch relevanten inneren und äußeren Situationen des ihnen anvertrauten Gemeinwesens konzentriert sein wie die Augen und die Ohren jedes einzelnen Menschen auf die praktisch relevanten Situationen seiner unmittelbaren Umgebung konzentriert sein müssen, wenn er situationsangemessen handeln will. Es ist kein Zufall, daß Aristoteles die Augenmetaphorik ausgerechnet in jenem 12. Kapitel des VI. Buchs der Nikomachischen Ethik verwendet, in dem er seine unmittelbar vorangegangenen klassischen Erörterungen der Urteilskraft (cm~lg)31 und ihres Status sowie ihrer Funk28
Vgl. Wilhelm Hennis, Politik, S. 100 – 04. Ebd., S. 100. Es kann gar nicht genügend betont werden, daß diese zentrale regierungspolitische Trias aus Erkennen, Beschließen und Ausführen wörtlich mit einer Bestimmung der Regierungs-Konzeption in Hegels Staatstheorie übereinstimmt, vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie der Rechts, § 289, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke (Hrsg. Hermann Glockner), Siebenter Band, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 397; vgl. hierzu auch unten S. 9 f. 30 Wilhelm Hennis, Politik, S. 93. 31 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 1143a 2 ff.; vgl. hierzu nach wie vor die richtungweisende Untersuchung von Pierre Aubenque, La prudence chez Aristote, Paris 1963, bes. S. 43 – 52. 29
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tionen in einem prägnanten Bild zusammenfaßt, um die kognitive Überlegenheit der im praktischen Leben Erfahrenen zu pointieren: ,Weil sie durch ihre Erfahrung ein Auge bekommen haben, sehen sie die Dinge richtig‘.32 Indem er sie mit der Fähigkeit identifiziert, Einzelnes in zutreffender Form unter Allgemeines zu subsumieren,33 konzipiert er sie als die ausgezeichnete kognitive Fähigkeit, Einzelnes richtig zu beurteilen. Im elementaren Fall handelt es sich um die Beurteilung z. B. individueller natürlicher Dinge oder individueller natürlicher Personen; in komplexen Fällen, wie sie charakteristisch für die praktische Politik sind, handelt es sich indessen um die Beurteilung, was in einer individuellen Situationen des ganzen Gemeinwesens gesetzgeberisch zu tun oder zu unterlassen sei34, also ob oder ob nicht eine solche konkrete Situation es nötig macht, das Handeln der Bürger einem bestimmten Gesetz zu unterwerfen. Pierre Aubenque betont daher zu Recht, daß „[…] pour Aristote en particulier […] [l]a politique […] est […] affaire […] de jugement“35. Zwar hat R. dem Thema der Urteilskraft zwei Jahrzehnte nach dem Abschluß seiner Habilitationsschrift eine konzentrierte Aufsatzsammlung Urteilskraft und Vernunft gewidmet.36 Doch diese Sammlung bleibt darauf konzentriert, Kants ursprüngliche Fragestellung einer überaus trefflichen gelehrten Erschließung zugänglich zu machen. Die Pionierleistung, die Aristoteles’ richtungweisendem Traktat über die Urteilskraft im VI. Buch der Nikomachischen Ethik zufällt, wird hier mit einer einzigen pauschalen Nebenbemerkung über Gemeinsamkeiten Platons und Aristoteles’ eher verdunkelt als pointiert.37 Pierre Aubenques Rehabilitierung von Aristoteles’ Pionierleistung bleibt unberücksichtigt. Will man unter diesen Umständen im Spannungsfeld der fundamentalen Alternativen von Ontologie, Sozialphilosophie und Politischer Philosophie einen aufschlußreichen und fruchtbaren zeitgenössischen Entwurf zur Politischen Wissenschaft und zur Politischen Philosophie studieren, der den praktisch-politischen Strukturproblemen moderner parlamentarisch-repräsentativ regierter Großrepubliken gerecht wird, dann wird Hennis’ Lebenswerk die Berechtigung eines solchen Anspruchs wie kaum ein anderes dokumentieren. Zwar hat Hennis den begrifflichen Schlüssel zu dem von ihm in vielen Jahrzehnten eingekreisten und sowohl empirisch wie begriffsanalytisch und praktisch durchdrungenen ,praktisch-phronetischen‘ Zentralfaktor aller Politik erst spät mit derselben kognitiven Fähigkeit identifiziert, die Wolfgang Wieland im Rahmen seiner Konzeption der ärztlichen diagnostischen und therapeutischen Tätigkeit als die Ur32
Aristoteles, Eth. Nic. VI, 12, 1143b. – Vgl. hierzu auch den aufschlußreichen Hinweis von Dirlmeier, der darauf aufmerksam macht, daß Aristoteles hier die Ohren-Metaphorik vernachlässigt, die Platon am entsprechenden locus classicus Tim., 47a 1-c 4, für dies kognitive Vermögen verwendet, Franz Dirlmeier, Anmerkungen, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd.6: Nikomachische Ethik, Berlin 1956, S. 467 – 68. 33 Vgl. ebd., 1143a 2 ff. 34 Vgl. Eth. Nic. I, 1094b 5 – 6. 35 Pierre Aubenque, Aristote et la démocratie, in: Aristote Politique. Études sur la Politique d’Aristote, Paris 1993, S. 255 – 64, hier: S. 263. 36 Vgl. Manfred Riedel, Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt/Main 1989. 37 Vgl. ebd., S. 63 f. Zu der unmittelbar von Rousseaus Konzeption der Urteilskraft ausgelösten ,ursprünglichen Fragestellung‘ Kants und dessen Ausarbeitung dieser Fragestellung auf dem ,kritischen Weg‘ vgl. vom Verf., Krise und Kritik der Urteilskraft/Kriterielle Funktionen der Urteilskraft, in: ders., Bedingungen der Auflärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2008, S. 515 – 624.
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teilskraft des Arztes in Erinnerung ruft38 und in diesem Licht selbst mit dem Hinweis auf den Parallelfall der Politikwissenschaft als praktischer Wissenschaft verbindet.39 Eine systematische monographische Untersuchung zu Struktur, Genese und Funktion des politischen Urteils unter den Bedingungen der parlamentarisch-repräsentativen Großrepubliken moderner Gesellschaften liegt allerdings erst mit dem Buch Political Judgement von Ronald Beiner vor.40 III. Während die Aristotelische Konzeption des Politischen in R.s Untersuchungen die Ursprungstheorie des Politischen bildet, bildet Hegels Staatstheorie für R. die wichtigste Schwellentheorie des Politischen. An der realgeschichtlichen Schwelle zur allmählichen Gründung unserer modernen Großrepubliken unternimmt diese mit der ,Anstrengung des Begriffs‘ den Versuch, den politischen und den gesellschaftlichen Strukturwandlungen der modernen Welt gerecht zu werden, indem sie sich an zwei zentralen Diagnosen orientiert: „Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an“41 und „Die bürgerliche Gesellschaft ist vielmehr die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue“42. Angesichts dieser von ihm diagnostizierten modernen Gestalt ungeheurer gesellschaftlicher Macht konzipiert Hegel eine politische Verfassung des Staates, die ein „System der Vermittlung“43 ist und geeignet sein soll, diese ungeheure Macht mit Hilfe von spezifisch politischen Strukturen und Funktionen zu hegen. Deren spezifisch politische Funktion besteht darin, gegen diese Macht „[…] eine Garantie des öffentlichen Wohls und der vernünftigen Freiheit zu sein“44. Mit der Arbeit an dieser Konzeption, so argumentiert R. im Rahmen der vorzüglichen Interpretationen des letzten Teils IV seines Buchs zugunsten seines abschließendes Urteils, gerate Hegel jedoch in „Aporien der Vermittlung“ (329 – 338). In diese Aporien gerät Hegel nach R.s Einschätzung gegen seine eigene Intention. Dies zeige sich darin, daß Hegel mit Blick auf die „[…] bewegliche Seite der bürgerlichen Gesellschaft“ (336), also mit Blick auf jede diese Seite mitkonstituierende „Genossenschaft, Gemeinde und Korporation“ (ebd.) ausdrücklich nicht von ihrer „politischen Stellung und Bedeutung“ (ebd.) spricht, sondern von „[…] ihrer Repräsentation […] innerhalb der gesetzgebenden Gewalt“ (337) „[…] und damit die Gegenwart der repräsentierten Sphären und ihrer Interessen im Akt der Repräsentation“ (ebd., Hervorhebung M.R.) meint. Doch in der Form dieser partikularen Interessen-Repräsentation hält die ,ungeheure Macht‘ der bürgerlichen Gesellschaft innerhalb der gesetzgebenden Gewalt Einzug und interferiert störend mit der eigentlich politischen Orientierung an „[…] der höchsten konkreten Allgemeinheit“ (ebd.). Denn diese partikulare Interessen-Repräsentation innerhalb der gesetzgebenden Gewalt ist dysfunktional für die durch die Verfassung zur politischen Zentralaufgabe 38 Vgl. Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin/New York 1975, bes. S. 96 ff. 39 Vgl. ebd., S. 881. Zu Hennis’ später, aber enthusiastischer Aufnahme dieses Konzepts für die Konzeption der politischen Wissenschaft als praktischer Wissenschaft vgl. Wilhelm Hennis, Max Weber und Thukydides. Die „hellenische Geisteskultur“ und die Ursprünge von Max Webers politischem Denken, Göttingen 2003, S. 41 f. 40 Vgl. Ronald Beiner, Political Judgement, London 1983. 41 G. W. F. Hegel, Grundlinien, § 182, Zusatz. 42 Ebd., § 238, Zusatz. 43 Ebd., § 302, Zusatz. 44 Ebd., § 301.
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gemachte ,Garantie des öffentlichen Wohls und der vernünftigen Wirklichkeit‘: „[I]n ihrer Erhebung zu politischen Wesen sui generis [widersprechen] [Korporationen, Genossenschaften, Gemeinden] dem Begriff [des Politischen, R.E.], worauf sie bezogen sind“ (337, Hervorhebung R.E.). Die von R. diagnostizierte Aporie der Vermittlung hat die Form dieses ,Widerspruchs‘. R.s Interpretationen, Analysen und Beurteilungen von Hegels Ausführungen zu dieser Form der Repräsentation gehören zweifellos zum Subtilsten und Besten nicht nur dieses Teils seines Buchs. Hermeneutische und sachliche Bedenken können daher erst dann zum Zuge kommen, wenn man sich daran erinnert, daß Riedel Hegels Staatstheorie fest mit der Tradition der Politik des Aristoteles verflochten sieht und „[…] mit der Kategorie der Sittlichkeit […] die Rekonstruktion der Platonisch-Aristotelischen Polistheorie […] verschränkt“ (294).45 Denn nicht nur vernachlässigt R. sowohl in seiner Aristoteles- wie in seiner Hegel-Interpretation den kognitiven Zentralfaktor des praktisch-politischen Urteils, in dem sich jede phronesis überhaupt erst in ihrem phronetischen Charakter bewährt. Er vernachlässigt in beiden Interpretationsrahmen den in beiden Theorien wichtigsten prozeduralen Modus dieser Urteilsbildung – die Beratung oder Beratschlagung. Aristoteles widmet diesem Thema unter dem Namen der bo}keusir sowohl in der Ethik wie in der Politischen Philosophie ausführliche Erörterungen.46 In Hegels Theorie des „[…] politischen Staat[s]“47 fällt dem deliberativen Modus der Urteilsbildung in allen drei von ihm konzipierten Organen der inneren Staatsverfassung nicht nur eine ebenso zentrale Rolle zu.48 In einem als System der Vermittlung konzipierten Staatswesen kann von diesen zentralen Verfassungsorganen nur allzu offensichtlich gar kein wichtigerer Modus der Vermittlung praktiziert werden als die Beratung oder Beratschlagung. Das Ziel dieser deliberativen Praxis wird von Hegel zwar nicht primär als Urteil konzipiert, wohl aber als „Reife der Entschließung“49, also als „Erkennen, Beschließen und Ausführen“50 mithin als die durch beratschlagendes „Abwägen der Gründe und Gegengründe“51 in allen politischen Organen zur kognitiven und praktisch-politischen Reife gelangte Entschließung. Wenn R. die ,Gegenwart der repräsentierten Sphären und ihrer Interessen im Akt der Repräsentation‘ zum zentralen Ausgangspunkt für seine Diagnose einer Vermittlungs-Aporie in Hegels Politischer Philosophie nimmt, dann ist diese Diagnose nur möglich, weil er in Gestalt der Beratung den wichtigsten prozedural-kognitiven Modus der Vermittlung vernachlässigt: Ihn sieht Hegel in dem von ihm 45 Wenn R. außerdem der Auffassung ist, daß Hegel „[…] das ontologische Prinzip der klassischen Politik-Tradition bei[behält]“ (329), dann kann er sich zwar an Hegels substantialistischem und akzidentialistischem Sprachgebrauch auch innerhalb von dessen Politischer Philosophie orientieren. Doch in der Theorie eines Autors, der den Staat planmäßig als System der Vermittlung konzipiert, ist dieser Sprachgebrauch nur allzu offenkundig gänzlich deontologisiert und funktionalistisch uminterpretiert, um zentrale – also ,substantielle‘ – staatliche Funktionen von solchen epizentralen – also ,akzidentellen‘ – staatlichen Funktionen unterscheiden zu können, die mehr oder weniger unmittelbar von den zentralen abhängen. 46 Vgl. Eth. Nic. VI sowie Pol. IV, Kap. 14 – 15. Vgl. hierzu auch die zusammenfassende Einschätzung von Aubenque: „Dans l’analyse de la praxis qu’il nous donne dans l’Éthique à Nicomaque, Aristote emprunte à la pratique politique, et singulièrement à la pratique des assemblées délibérantes, le concept pour lui central de „ délibérations“, bo}keusir“, Aristote, ebd., S. 262 – 63. 47 G. W. F. Hegel, Grundlinien, § 273, Hervorhebung R.E.; vgl. auch § 276. 48 Vgl. ebd., §§ 275, 279 (Zusatz), 283, 284, 289, 300, 308, 309, 310, 312, 314. 49 Ebd., § 313. 50 Ebd., § 289. 51 Ebd., § 279.
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konzipierten politischen ,System der Vermittlung‘ für alle Fälle vor, in denen die aus der ,ungeheuren Macht der bürgerlichen Gesellschaft‘ stammenden partikularen Interessen ihre endgültige rechtliche, politische und kognitive Mediatisierung durch alle Formen der Beratung in den zuständigen politischen Organen noch nicht erfahren haben.52 Der real- und der problemgeschichtliche Schwellencharakter von Hegels Politischer Philosophie kann schwerlich besser charakterisiert werden als durch die Differenzen und die Übereinstimmungen, die sie mit Blick auf den deliberativen Modus der politischen Urteilsbildung einerseits mit der Aristotelischen und andererseits mit den besten aktuellen Konzeptionen zeigt. Ist es im Horizont der Aristotelischen Theorie eine unterschiedlich organisierbare Volksversammlung, die in unmittelbarer Gegenwart der Inhaber der maßgeblichen Regierungsämter über eine Gesetzesagende beratschlagt und dadurch die Inhaber der Regierungsämter zu beraten hilft,53 so sind es in Hegels Theorie die Beratungen in den politischen Organen innerhalb des staatlichen ,Systems der Vermittlung‘. Im modernen parlamentarisch-repräsentativen Regierungssystem sind die institutionellen und die organisatorischen Knotenpunkte der Beratung von der Gesetzesinitiative bis zur letzten parlamentarischen Lesung eines Gesetzesvorschlags – im Kabinett, im zentralen Regierungsamt, in den federführenden Ministerien und deren zuständigen Organisationseinheiten sowie in den zuständigen Ausschüssen des Parlaments – weitgehend dieselben geblieben. Hingegen sind die technischen Formen der Beratung, die die Wohlbegründetheit des Urteils über die Gemeinwohldienlichkeit einer Gesetzesagende zu sichern suchen sollen, in dem Maß komplexer geworden, in dem die bürgerliche Gesellschaft ihnen durch ihre wissenschaftlich-technisch basierte Industrielle Revolution immer komplexer werdende kognitive Aufgaben abverlangt. Eine der unscheinbarsten, wenngleich wichtigsten institutionell-organisatorischen Neuerungen, die auf diesem Komplexitätsniveau ganz gezielt die von Hegel berücksichtigte und von R. skandalisierte parlamentarische Repräsentation der politisch nicht mediatisierten Partikular-Interessen der bürgerlichen Gesellschaft mit Geschäftsordnungsmitteln in die deliberative Obhut der Regierung legt, bildet im deutschen Regierungssystem § 23 (1)-(3) GGO (Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien) über Beschaffung von Unterlagen durch Heranziehung „[…] der beteiligten Fachkreise“ und „Spitzenverbände der Gemeinden und Gemeindeverbände“ „für die Vorbereitung von Gesetzen“ sowie „Bei Gesetzesentwürfen von besonderer politischer Bedeutung von „Vertretern der Spitzenverbände“.54 Doch so sehr sich die institutionellen, die organisatorischen und die technischen Formen der dem Gemeinwohl oder öffentlichen Wohl gewidmeten politischen Urteilsbildung auf dem real- und dem problemgeschichtlichen Weg von Aristoteles über Hegel bis in unsere Gegenwart auch geändert haben mögen – Beratung als der wichtigste kognitive und praktische Modus dieser Urteilsbildung und das durch diesen deliberativen Modus ermittelte Urteil als Medium des praktisch-politischen ,Erkennens, Beschließens und Ausführens‘ sind die invarianten Essentials im System der Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Interessen und gemeinwohlverpflichteter Politik geblieben. Diese Invarianz kann nur den verwundern, der diese Essentials mit Elementen eines ,ideologischen Musters‘ verwechselt, das allenfalls einer ,geistesgeschichtlichen Kontinuität‘ fähig sei. Er hat vergessen, was für die Politische Wissenschaft 52 Zu Hegels Politischer Philosophie vgl. im Zusammenhang vom Verf., Hegels Theorie des politischen Bewußtseins, Frankfurt/Main 1986, bes. S. 102 – 56. 53 Zum außerordentlich wichtigen kognitiven, praktischen und prozeduralen Unterschied kollektiver Beratschlagung und interpersonalem Rat und interpersonaler Beratung vgl. Wilhelm Hennis, Rat und Beratung im modernen Staat, in: ders., Politik, S. 65 – 80. 54 Vgl. zum ganzen Problemkreis Wilhelm Hennis, Verfassungsordnung und Verbandseinfluß, in: ders., Politik, S. 188 – 200.
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wie für jede Praktische Wissenschaft gilt: „Zu den charakteristischen Merkmalen einer praktischen Wissenschaft gehört auch, daß sie als solche, ist sie erst einmal etabliert, in ihrem Kern kaum noch fortschrittsfähig ist“55, aber auch nicht fortschrittsbedürftig. Auf diesem geschichtlich Weg in unsere gegenwärtigen Großrepubliken ist allerdings eine tiefe institutionelle und prozedurale Spaltung zwischen der amtlichen politischen Urteilsbildung und der politischen Urteilsbildung des Publikums nötig geworden. Die längst schon verloren gegangene reale Einheit der politischen Urteilsbildung, die durch die Struktur der Volksversammlung der klassischen antiken Kleinrepublik ermöglicht werden sollte, kann unter den Bedingungen dieser Spaltung allenfalls noch funktional gesichert werden. Der mediale Modus der bürgerlichen politischen Urteilsbildung, der unter den Bedingungen dieser Spaltung dem Modus der politischen Urteilsbildung der Amtsinhaber funktional komplementär ist, ist indessen mit Hilfe des Schlüsselbegriffs der Information am prägnantesten in einem der Schlüsselwerke der modernen Politikwissenschaft und Politischen Philosophie, in den Federalist Papers, schon zu Hegels Lebzeiten formuliert worden: „What are the sources of information by which the people […] must regulate their judgement of the conduct of their representatives in the […] legislature?“56. Die Antwort Hamiltons ist so einfach wie richtig: „They must […] depend on the information of intelligent men, in whom they confide“57; „[…] and how must these men obtain their information? Evidently from the complexion of public measures, from the public prints, from correspondences with their representatives, and with other persons who reside at the place of their deliberations. […] The public papers will be expeditious messengers of intelligence to the most remote inhabitants“58. Einen neuen strukturellen Zusammenhang des „[…] anarchischen Kerns […] jenes Potential[s] entfesselter kommunikativer Freiheiten, von dem die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats zehren müssen“59, und deliberativer Politik sucht Habermas zu konzipieren. Er stellt sich zu diesem Zweck die Aufgabe, einen „[…] normativ gehaltvollen Begriff der deliberativen Politik“60 zu klären. Er schreibt dieser deliberativen Politik nicht nur den „[…] deliberativen Modus einer bewußt und autonom vollzogenen Vergesellschaftung“61 zu. Das funktionale „[…] Herzstück deliberativer Politik“ – also das Herzstück dieses Modus von Vergesellschaftung – identifiziert er überdies mit „[…] einem Netzwerk von Diskursen und Verhandlungen, das die rationale Lösung pragmatischer, moralischer und ethischer Fragen ermöglichen soll“62. Auf der Linie seiner jahrzehntelangen Arbeit an einer Sozialphilosophie der Moderne ist es für Habermas offenkundig konsequent, seinen Begriff deliberativer Politik auch dadurch zu klären, daß er dessen normativen Gehalt mit den Mitteln seiner Theorie füllt, indem er die ,Vergesellschaftung‘ der Deliberation politischer Agenden mit Hilfe eines gesellschaftlichen ,Netzwerks von Diskursen und Verhandlungen‘ zur Norm erhebt. Doch sämtliche spezifisch republikanischen Bedingungen der Deliberation politischer Agenden, die von alters her mit 55 Wolfgang Wieland, Vorwort zur Neuauflage, in: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie (11975), Bibliothek des skeptischen Denkens, Warendorf 2004, S. 10. 56 Alexander Hamilton/John Jay/James Madison, The Federalist Papers, New York/Toronto 1961: No. 84 (Hamilton), S. 516, Hervorhebung R. E. 57 Ebd. 58 Hamilton et al., Federalist Papers, No. 84 (Hamilton), S. 516 f., Hervorhebung R.E. 59 Jürgen Habermas, Norm, S. 10. 60 Ebd., Hervorhebung R.E. 61 Ebd., S. 390, Hervorhebung R.E. 62 Ebd., S. 388 – 89.
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guten Gründen an die Institutionen- und Ämterordnungen der Verfassungen republikanischer Gemeinwesen gebunden sind, sind hier unter Berufung auf „[…] das intuitive Verständnis der demokratischen Selbstbestimmung“63 im „Grau in Grau“ (Hegel) einer ,Vergesellschaftung durch diskursive Netzwerke‘ buchstäblich verschwunden: 1.) ihre Bindung an relativ wenige öffentliche Ämter, durch die 1.a) die Beratung politischer Agenden einer kontrollierbaren und urteilsdienlichen prozeduralen Organisation zugeführt werden soll, und durch die 1.b) die Zurechenbarkeit von deliberativ gewonnenen politischen Urteilen, Beschlüssen und deren Ausführungen für die Bürgern publik gemacht werden soll; zum anderen die zeitliche Befristung der politischen Amtsinhaberschaft, durch die das Zutrauen der Bürger in die kognitive und die praktische Tüchtigkeit der von ihnen mehrheitlich berufenen Amtsinhaber innerhalb nicht zu kurzer und nicht zu langer Amtsperioden in Form von allgemeinen öffentlichen Abstimmungen auf die Probe gestellt werden soll, so daß die Amtsinhaberschaft durch „Verlust des Zutrauens“64 auch beendet und auf für zutrauenswürdiger gehaltene Kandidaten verteilt werden kann. Es kann daher zwar nicht gut bezweifelt werden, daß Habermas seinen Begriff deliberativer Politik mit Normen gefüllt hat, die „[…] durch Umsetzung der Theorie in Praxis wirklich werden“65 sollen; daß es ein Begriff deliberativer Politik sei, kann im Ernst nur meinen, wer bereit ist, in der republikanischen Politik auf alles zu verzichten, was sich unter dem klassischen Aristotelischen und Hegelschen – und nicht nur ihrem – Begriff politischer Deliberation zugunsten der Gemeinwohldienlichkeit am besten bewährt hat.66 Eine Auseinandersetzung mit Manfred Riedels Habilitationsschrift bildet gerade wegen ihrer gespaltenen internen Orientierung an einer Ontologie der Politik und einer nicht-ontologischen Philosophie der praktisch-phronetischen Tugenden der Politik und trotz ihrer späten Publikation nach wie vor ein vorzügliches Medium, um Tragfähigkeit und Tragweite von aktuellen fundamentalen Alternativen der Politischen Philosophie zu erproben. An der Abwägung dieser Alternativen wird daher in entscheidender Form die Eine Frage beteiligt sein: Verwechselt man die von Aristoteles zuerst durchschauten und von Hegel im großen Stil neu konzipierten Bedingungen politischer Deliberation mit einem ,ideologischen Muster‘ (Habermas), dessen geschichtliche Existenz einem angeblich praxisenthobenen Reich ,geistesgeschichtlicher Kontinuität‘ (Habermas) angehört, oder vermag man in diesen Bedingungen die für die Gemeinwohldienlichkeit günstigsten geschichtlichen Invarianten sowohl des politischen Denkens wie der praktischen Politik und der politischen Erfahrung wiederzuerkennen? Rainer Enskat
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Ebd., S. 383. G. W. F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands, in: G.W.F. Hegel. Werke in zwanzig Bänden (Hrsg. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel), Werke 1, Frankfurt/Main 1971, S. 459. 65 Jürgen Habermas, Die klassische Lehre, S. 51. 66 „Es darf doch nicht übersehen werden, welche Theorie […] bei Ar. praktisch werden kann: […] die der politischen Erfahrung“, Schütrumpf, Aristoteles, Politik I, S. 1021, Hervorhebung R.E. 64
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Michael Oakeshott, Leben und Werk im Spiegel der Forschung. Eine Hinführung aus Anlaß der Publikation zweier Sammelbände Politikwissenschaft und Philosophie in Deutschland haben das Werk des englischen Gelehrten Michael Oakeshott (1901 – 1990) lange Zeit mit weitgehender Nichtbeachtung bedacht. Es war nicht zuletzt das Verdienst von Wilhelm Hennis, daß immerhin zwei Bücher Oakeshotts ins Deutsche übersetzt wurden;1 doch die von Hennis gehegte Hoffnung, die Übertragungen würden eine intensivere Auseinandersetzung mit Oakeshott anstoßen, blieb bis in die jüngste Zeit hinein unerfüllt.2 Wenn Oakeshotts Name hierzulande tatsächlich einmal Erwähnung findet, begnügt man sich gerne damit, sein Denken in Schubladen zu stecken. Demnach erkennt man in ihm vor allem einen konservativen Denker,3 einen Anti-Rationalisten4 oder den Repräsentanten eines philosophischen Idealismus – womit dann die Überzeugung einherzugehen scheint, daß sein Werk als nicht gerade zeitgemäß anzusehen und eine Auseinandersetzung damit wenig lohnend sei. Zwar zeigen sich seit einigen Jahren erste Anzeichen für eine intensivere und unvoreingenommene Beschäftigung mit Oakeshott auch in Deutschland,5 doch steht diese Forschung erst in ihren Anfängen, was sich vor allem im Vergleich mit der Rezeption Oakeshotts in anderen europäischen Ländern und insbesondere im englischen Sprachraum zeigt. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich dort eine intensive und produktive Oakeshott-Forschung etabliert, die in einer stattlichen Reihe von Monographien und in einer stetig wachsende Zahl von Aufsätzen in politikwissenschaftlichen bzw. philosophischen Zeitschriften und Sammelbänden ihren Niederschlag findet. Diese überwiegend englischsprachige Forschung ist inzwischen so weit gereift und ausdifferenziert, daß sich zentrale Resultate, Problemfragen und Streitpunkte herauskristallisiert haben, die den Kern eines etablierten Forschungsstandes darstellen und die dementsprechend die gegenwärtige Diskussion um Oakeshotts Werk prägen. 1
Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik (engl. 1962), Neuwied, Berlin 1966; ders., Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik (engl. postum 1996), mit einem Vorwort von Wilhelm Hennis, hrsg. von Timothy Fuller, Berlin 2000. 2 Durchaus charakteristisch ist es, daß Oakeshott – anders als Karl Popper und Friedrich A. von Hayek (seine Kollegen an der London School of Economics and Political Science) – nicht vertreten ist in Theo Stammen/Giesela Riescher/Wilhelm Hoffmann (Hrsg.), Hauptwerke der Politischen Theorie, Stuttgart 1997. Dementsprechend ist es eine Ausnahme, wenn Oakeshotts Buch On Human Conduct vorgestellt wird in Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2007. Bezeichnenderweise wurde das entsprechende Kapitel von einem englischen Autor – Nevil Johnson – verfaßt. 3 Als Vertreter gar eines unpolitischen Konservativismus wird Oakeshott bezeichnet von Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, 56. Auf eine eingehendere Auseinandersetzung mit Oakeshott verzichtet Kondylis allerdings. 4 Henning Ottmann erwähnt im umfangreichen Abschlußband seiner großangelegten Geschichte des politischen Denkens Oakeshott ein einziges mal und kennzeichnet ihn dort lapidar als Anti-Rationalisten, siehe Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 4/2, Das 20. Jahrhundert. Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, Stuttgart, Weimar 2012, 332. 5 Siehe Michael Becker, Die Politische Theorie des Konservativismus: Michael Oakeshott, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 1, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage, Opladen 2009, 215 – 235; Till Kinzel, Michael Oakeshott. Philosoph der Politik, Schnellroda 2007; Pit Kapetanovic, Intellektuelle Abenteuer. Philosophie, Geschichte und Erziehung bei Michael Oakeshott, Hamburg 2010; Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik. Michael Oakeshott im Dialog, Tübingen 2013.
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Vor diesem Hintergrund lag es nahe, wichtige Ergebnisse der Oakeshott-Forschung auch in überblicksartigen Darstellungen zusammenzufassen. Eine entsprechende Initiative ergriffen nun zeitgleich die Herausgeber zweier Companions, also von Sammelbänden mehr oder weniger einführenden Charakters, die einen umfassenden Einblick in Oakeshotts Werk geben und dabei den aktuellen Forschungsstand reflektieren. In der zweiten Hälfte des Jahres 2012 erschien bei der Pennsylvania State University Press ein von Paul Franco (Brunswick, Maine) und Leslie Marsh (Vancouver) herausgegebenen Band; und in der prominenten Reihe der Cambridge Companions eine von Efraim Podoksik (Jerusalem) besorgte Sammlung.6 I. Den Sammelband von Franco und Marsh prägen nicht zuletzt die Beiträge aus der Feder von Pionieren der Oakeshott-Forschung wie Timothy Fuller, dem Herausgeber mehrerer Bücher Oakeshotts, dem jüngst verstorbenen Kenneth Minogue, ferner Martyn P. Thompson, David Boucher oder Paul Franco und Robert Grant, die 1990 zwei der ersten Monographien über Oakeshott veröffentlichten.7 Daneben enthält der Band aber auch Beiträge einer Reihe von jüngeren Wissenschaftlern, die sich wie Elizabeth Corey, Kenneth McIntyre oder Corey Abel inzwischen einen Namen in der Oakeshott-Forschung erworben haben. Für die Gliederung des Buches war nach Auskunft der Herausgeber (s. 6) die Überlegung leitend, daß Oakeshott zwar in der Hauptsache als politischer Denker zu gelten hat, daß sein Werk mit substanziellen Beiträgen zur Metaphysik, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie, Ethik, Religionsphilosophie, Ästhetik oder zur Philosophie der Erziehung die Grenzen politischer Theorie weit überschreitet. Dementsprechend ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Die sieben Beiträge des ersten Teils („The Conversation of Mankind“) thematisieren Oakeshotts Reflexionen über die verschiedenen Formen menschlicher Erfahrung, namentlich Philosophie, Geschichte, Ethik, Religion, Ästhetik und Erziehung, während die sieben Aufsätze des zweiten Teils („Political Philosophy“) seinem politischen (und seinem rechtsphilosophischen) Denken gewidmet sind. Dem ersten Teil vorauf geht neben der Einleitung der Herausgeber ein bemerkenswerter Beitrag Robert Grants zur Biographie Oakeshotts, näherhin zu dessen Liebesleben – „which is not the same as his sex life“ (15). In diesem Beitrag korrigiert Grant zunächst einige biographische Daten und Fakten, die er in seinem Buch von 1990 fälschlich angegeben hatte und widmet sich dann ausführlich Oakeshotts Reflexionen über die Liebe sowie der diesen Reflexionen entsprechenden Praxis, dabei fast die gesamte Lebensspanne des Philosophen in den Blick nehmend. Grant zeichnet hier das Bild einer janusköpfigen Persönlichkeit. Während sich Oakeshott in seinen Schriften zum Anwalt der Klugheit, des Maßhaltens, des Ausgleichs und des Takts macht, erweist er sich in seinen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht als ausschweifend, schwankend, maß- und sogar rücksichtslos. Diese beiden Seiten Oakeshotts charakterisiert Grant mit den nietzscheanisch verstandenen Adjektiven „apollinisch“ und „dionysisch“, ohne aber in der Art Nietzsches das Werk irgendwie ursächlich auf das persönliche Leben zurückzuführen (s. 36). Bemerkenswert sind Grants Darlegungen nicht zuletzt deshalb, weil sich hier besonders deutlich zeigt, daß jede vorschnelle Einordnung Oakeshotts in die Irre führt, etwa wenn man meinte, ein politisch konservatives Denken, für das Oakeshott in der Tat 6
Paul Franco/Leslie Marsh (Hrsg.), A Companion to Michael Oakeshott, University Park, 2012; Efraim Podoksik (Hrsg.), The Cambridge Companion to Oakeshott, Cambridge et al. 2012. 7 Paul Franco, The Political Philosophy of Michael Oakeshott, New Haven 1990; Robert Grant, Oakeshott, London 1990. Grant arbeitet gegenwärtig an einer umfangreichen Biographie des Philosophen.
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steht, müsse einem kleinkarierten Lebensstil und farblosen Erfahrungen entspringen oder entsprechen. Oakeshott selbst bemerkte einmal an einer von den Herausgebern zitierten (s. 4) Stelle im Aufsatz On being conservative (1956),8 es sei keineswegs widersprüchlich, in politischen Fragen konservativ, zugleich aber in nahezu allen anderen Unternehmungen radikal zu sein. Oakeshotts Biographie scheint hierfür ein Beispiel darzubieten, anhand dessen man auch einiges über zumindest seinen Begriff des Konservativismus lernen mag. Daß Oakeshott selbst ganz ungeachtet seiner Biographie aber auch für ein durchaus radikales Denken steht, offenbart sein Verständnis von Philosophie, das Gegenstand der Beiträge von David Boucher und Kenneth McIntyre ist. Die für die Philosophie charakteristische Erfahrung ist demnach gekennzeichnet durch rückhaltloses Nach- und Weiterdenken, das sich durch keine von außen auferlegten Bedingungen oder Vorgaben einschränken läßt und das auf eine „absolut kohärente Welt von Ideen“, das heißt: auf eine vollkommen kohärente Vorstellung der Welt bzw. auf das Ganze abzielt. Mit diesem „monistischen“ Konzept postuliert Oakeshott nicht etwa, daß eine entsprechende Vorstellung je abschließend zu erreichen sei oder gar in ein philosophisches System gefaßt werden könne. Das Streben nach einer vollkommen kohärenten Erfahrung bildet vielmehr das Kriterium der philosophischen Tätigkeit, das diese Tätigkeit unentwegt aufs Neue motiviert und sie zugleich als prinzipiell offen und unabgeschlossen kennzeichnet. Die prinzipielle Offenheit der philosophischen Erfahrung resultiert ferner daraus, daß ihr Ausgangspunkt ihrerseits sich stets wandelnde Erfahrungen sind. Philosophie reflektiert mithin auf Erfahrung und fragt nach ihren Voraussetzungen, Bedingungen und Begrenzungen. Daher ist es ihre zentrale Aufgabe, die unterschiedlichen Felder oder Modi menschlicher Erfahrung (in späten Texten von Oakeshott auch als „conversations“ bezeichnet) auf ihre Prinzipien und Grundlagen, ihre Beschränkungen und Mängel, ihre Zusammenhänge sowie ihre Beziehung zum Ganzen (und damit auch: zur Philosophie selbst) hin zu befragen. Die Erfahrungsmodi, die Oakeshott in seinem eigenen Werk neben der Philosophie in den Blick nimmt, sind namentlich die Praxis im allgemeinen und die politischen Praxis im besonderen, die Geschichtsschreibung, die Wissenschaft, die Kunst und – in spezifischer Weise – die Erziehung. Die Erfahrungsmodi konstituieren je spezifische, autonome Ideenwelten, also Realitäten; sie stellen das Ganze im Ausgang von ihren jeweiligen Voraussetzungen aus ihrer spezifischen Perspektive (und insoweit abstrakt) dar – und stehen als solche unverbunden nebeneinander. Boucher, der seit Jahrzehnten die Geschichte des englischsprachigen Idealismus erforscht, ordnet Oakeshotts Philosophiekonzeption in ihren philosophiegeschichtlichen Kontext, das heißt hier: in die Geschichte des Britischen Idealismus ein und arbeitet die Besonderheiten des absoluten Idealismus Oakeshotts innerhalb dieser philosophischen Strömung heraus. In diesem Zusammenhang setzt sich Boucher auch mit der in der Forschung umstrittenen Frage auseinander, ob sich Oakeshott vom absoluten Idealismus, wie er sich in seinem Buch Experience and its Modes von 1933 darstellt, später abgewandt habe, wenn er Philosophie als Gespräch („conversation“) charakterisierte. Boucher zeigt hier überzeugend, daß Oakeshott an seiner Variante des absoluten Idealismus festgehalten hat – ungeachtet aller Wandlungen in seinen Auffassungen. Diese Wandlungen verfolgt sodann McIntyre in seinem Beitrag, der inhaltlich nahtlos an denjenigen Bouchers anknüpft, aber zugleich eine andere Perspektive einnimmt. Zwar bleibt Oakeshott auch McIntyre zufolge idealistischen Überzeugungen über sein gesamtes Schaffen hinweg treu, doch sieht er eine deutliche Akzentverschiebung in Oakeshotts Philosophieverständnis. Nach McIntyre distanziert sich Oakeshott in der Nachkriegszeit vom anfänglich sehr strikten, monistischen Philosophiekonzept und stellt die Philosophie nunmehr als 8 Die deutsche Fassung des Aufsatzes findet sich in Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, 179 – 206.
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ebenfalls bedingten (und nicht länger bedingungslosen) Erfahrungsmodus vor, der auf bestimmten Traditionen und Wissensbeständen beruht. So wird Philosophie neben die anderen Modi der Erfahrung gestellt – und zugleich ihr Erkenntnisstatus relativiert. McIntyre rückt vor diesem Hintergrund Oakeshott denn auch explizit in die Nähe Gadamers,9 der Ordinarylanguage-Philosophie eines John L. Austin, Gilbert Ryle und des späten Wittgenstein sowie der erkenntnistheoretischen Positionen Michael Polanyis und Friedrich A. Hayeks (s. 72), während die Oakeshott-Rezeption Richard Rortys, die auf einer durchaus verwandten Interpretation von dessen Philosophieverständnis beruht, nicht erwähnt wird. Die weiteren Beiträge des ersten Teils gehen auf Oakeshotts Interpretation der diversen Erfahrungsmodi ein: Geoffrey Thomas widmet sich der Geschichtsphilosophie Oakeshotts, Timothy Fuller legt einen Aspekt des Oakeshottschen Praxisverständnisses auseinander, nämlich die „radikale Zeitlichkeit“ allen praktischen Lebens und den spezifisch modernen Umgang damit, während sich Elizabeth Corey den Überlegungen Oakeshotts zur Religion, Corey Abel der ästhetischen Erfahrung und Paul Franco schließlich Oakeshotts Reflexionen über Erziehung widmen. Dem Erfahrungsmodus der Wissenschaft hingegen ist (anders als in Podoksiks Sammelband) kein eigener Beitrag gewidmet. Kurz einzugehen ist hier nur auf eines dieser Themen, die Geschichte bzw. Geschichtsschreibung. Oakeshott, der seine akademische Karriere als Historiker begonnen hatte, beschäftigte sich zeitlebens mit der Eigenart der Geschichte und der Geschichtsschreibung. Von seinen philosophischen Voraussetzungen ausgehend kann die Geschichte (der Geschichtsschreibung) nur als erfahrungsbasierte Konstruktion konzipiert werden. Es gibt für Oakeshott keine Welt jenseits der Erfahrung, und da Erfahrung radikal präsentisch ist, insoweit also nur die Gegenwart existiert, ist Geschichte selbst eine gegenwärtige Welt. Als zentrale Frage erweist sich dann die Frage nach dem Charakter der Vergangenheit („past“). Oakeshott unterscheidet diesbezüglich mehrere Vergangenheiten, nämlich neben einer spezifisch historischen Vergangenheit („historical past“) etwa eine praktische oder auch eine poetische Vergangenheit. Es ist die historische Vergangenheit, welche die Geschichte konstituiert; sie ist es, die von den Historikern um ihrer selbst willen entfaltet wird, und als eine um ihrer selbst willen bestehende Welt von Ideen ist sie ein spezifischer und autonomer Erfahrungsmodus. Die in sich überaus verwickelte (und mit manchen Schwierigkeiten behaftete) geschichtsphilosophische Position Oakeshotts wird in dem Beitrag von Geoffrey Thomas luzide rekonstruiert. Dabei versäumt Thomas zwar weder, problematische Aspekte der Oakeshottschen Position, noch seine eigene Distanz gegenüber Oakeshott zu benennen, doch macht er auch deutlich, daß Oakeshotts Überlegungen gut ausgewiesen und rechenschaftsfähig sind. Dies wäre noch dahingehend zu ergänzen, daß Oakeshotts Reflexionen eine Vielzahl von Anregungen für die gegenwärtige Grundlagendebatte um Geschichte und Geschichtsschreibung enthält.10 Interessant an Oakeshotts Position ist nicht zuletzt, daß sich aus ihr von vornherein eine Pluralität von Geschichten und Geschichtsschreibungen ergibt, sie aber zugleich auch die Vorstellung einer objektiven Geschichtsschreibung bewahrt. So umgeht Oakeshott mit Blick auf die Geschichte einerseits die Kalamitäten eines postmodernen Relativismus, ohne andererseits einer positivistischen oder essentialisti9 Siehe dazu auch Kenneth McIntyre, Prejudice, Tradition, and the Critique of Ideology. Gadamer and Oakeshott on Practical Reason, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 177 – 200. 10 Das ist indes zumindest den Historikern verborgen geblieben, die sich mit der Theorie und Philosophie der Geschichte bzw. Geschichtsschreibung auseinandersetzen. Sowohl in Deutschland als auch unter englischsprachigen Autoren ist die Auseinandersetzung mit Oakeshott in einschlägigen Schriften eine Ausnahme.
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schen Geschichtsschreibung das Wort zu reden. Zugleich erinnert Oakeshotts Geschichtsphilosophie daran, daß es Alternativen zu einer Geschichtsschreibung mit erhobenem Zeigefinger gibt, wie sie auch in Deutschland nicht zuletzt in der Zeitgeschichtsforschung häufig betrieben wird. Einer pädagogisierenden Geschichtsschreibung dieser Art geht es nicht um die historische Vergangenheit in Oakeshotts Sinne und muß aus seiner Perspektive dem Feld der Praxis oder der Erziehung zugerechnet werden. Die Beiträge des zweiten Teils thematisieren verschiedene Aspekte der politischen Philosophie Oakeshotts, beginnend mit einem Beitrag Martyn P. Thompsons über Oakeshotts Konzeption einer Geschichte des politischen Denkens. Da eine solche Geschichte an dem Anspruch des strengen Geschichtsbegriffs Oakeshotts zu messen ist, geht Thompson der Frage nach, was den Charakter einer „historical past“ ausmacht, wenn sie von Historikern des politischen Denkens in Angriff genommen wird (s. 201). An dem hierfür herangezogenen Beispiel der verschiedenen Auflagen von Johannes Althusius’ Politica methodice digesta erläutert Thompson überzeugend das Diktum Oakeshotts, daß „a history of thought is a history of man thinking, not a ,history’ of abstract, disembodied ,ideas’“.11 Seine Rekonstruktion und Interpretation der Oakeshottschen Überlegungen ergänzt Thompson um einen Vergleich mit der einflußreichen Konzeption Quentin Skinners und der Cambridge School, und zwar anhand der unterschiedlichen Deutungen des Hobbesschen Leviathan, die von Skinner und Oakeshott vorgelegt wurden. Ungeachtet einer Reihe von Übereinstimmungen und Berührungspunkten erweist sich für Thompson die Skinnersche Auffassung von Geschichtsschreibung als gegenüber derjenigen Oakeshotts willkürlich beschränkt, indem sie Geschichte des politischen Denkens summa summarum als Ideologiegeschichte begreift. Dem Beitrag Thompsons folgen diejenigen des Hobbesforschers Noel Malcom über Oakeshott und Hobbes, Kenneth Minogues über „The Fate of Rationalism in Oakeshott’s Thought“, Leslie Marshs über Oakeshott und Hayek, Robert Devignes über Oakeshotts Konservativismus, Noël O’Sullivans über das Konzept der civil association und schließlich Stephen Gerencsers über „Oakeshott on Law“. Ein inhaltlicher Aspekt, der die meisten dieser Beiträge miteinander verknüpft, ist die Thematisierung des Konzepts der civil association, das Oakeshott vor allem in seinem späten Hauptwerk On Human Conduct (1975) entfaltet hat. Die civil association stellt die souveräne bürgerliche politische Ordnung dar, die das Zusammenleben der Cives auf der Grundlage des Rechts (rule of law) organisiert, ohne auf ein gemeinsames, übergeordnetes, substanzielles Ziel verpflichtet zu sein, dessen Realisierung Aufgabe der Regierung oder des Staates wäre. Vielmehr schafft die civil association die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens, in dem die Bürger ihre persönlichen Ziele und Absichten frei verfolgen können. Als eine solche Ordnung wird der civil association Autorität zugesprochen, und es ist diese Autorität, die die Auskömmlichkeit des Zusammenlebens bewirkt. Dem Konzept der civil association stellt Oakeshott dasjenige der enterprise association gegenüber, das dadurch gekennzeichnet ist, daß Bürger und Staat auf die Realisierung eines substanziellen Zweckes – etwa: soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Krieg gegen den Terror etc. – verpflichtet werden, an dem die Ordnung des Zusammenlebens ausgerichtet wird. Die enterprise association ist für Oakeshott ein Kind des neuzeitlichen Rationalismus, dessen Vorstellung von Vernunft er vor allem in einigen Arbeiten der 1940er und 1950er Jahre als einseitig und reduktionistisch dia-
11 Michael Oakeshott, Lectures in the History of Political Thought, hrsg. von Terry Nardin/ Luke O’Sullivan, Exeter, Charlottesville 2006, 42; zitiert auch bei Thompson (199).
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gnostiziert und kritisiert hatte12 – ohne dabei jedoch die Vernunft überhaupt verächtlich zu machen oder zurückzuweisen.13 So unzweifelhaft für Oakeshott die civil association den freiheitlichen Charakter moderner westlicher Gemeinwesen ausmacht, so sehr erkennt er doch auch, daß diese Gemeinwesen durch beide öffentlichen Assoziationsformen geprägt sind: Der moderne westliche Staat ist im Grunde eine hybride Ordnung, deren innere Spannungen nicht zuletzt durch die Pole der civil association und der enterprise association entstehen. Die große Sorge Oakeshotts galt dem Überhandnehmen des enterprise-Charakters moderner Gemeinwesen, also im Grunde der Verwandlung der Verfassung einer Gemeinschaft freier Bürger in eine nach Befehl und Gehorsam organisierte Fabrik. Als herausragenden Theoretiker der civil association hat Oakeshott neben anderen vor allem Thomas Hobbes gewürdigt. Oakeshotts Hobbes-Deutung interpretiert Noel Malcolm vor dem Hintergrund eines scheinbaren Widerspruchs: Wie nämlich kann Oakeshott Hobbes zu einem seiner wichtigsten Gewährsleute machen, wo dieser doch gemeinhin als Vertreter genau desjenigen neuzeitlichen Rationalismus gilt, der von Oakeshott so dezidiert zurückgewiesen wird? Malcolm beantwortet die Frage mit dem Hinweis, daß Oakeshott die rationalistischen Aspekte des Hobbesschen Werkes ausgeblendet und dafür dessen nicht-instrumentalistische Auffassung vom Staat ganz in den Vordergrund gerückt habe, was Hobbes zu einem paradigmatischen Vertreter der Auffassung vom politischen Gemeinwesen als civil association machte. Die Größe des Hobbes besteht für Oakeshott demnach darin, im Staat die neuzeitliche Bedingung eines zivilisierten Lebens erkannt zu haben, ohne ihn auf einen substanziellen Zweck zu reduzieren (s. 228). Dabei wird vorausgesetzt, daß der Frieden, den Hobbes doch als Zweck des Staates proklamiert, eben kein substanzieller, sondern ein gewissermaßen transzendentaler oder formaler Zweck ist, kein zu erstrebendes gemeinsames materielles Ziel, sondern die formale Grundlage, welche die Erreichung von Zielen unter Bedingungen von Individualität, Konkurrenz, Konflikt etc. überhaupt erst ermöglicht.14 Der Beitrag Noël O’Sullivans erläutert Oakeshotts Konzept der civil association ausführlich und identifiziert dabei sieben zentrale Bestimmungsfaktoren, die die Eigenart dieser politischen Ordnungsform ausmachen (s. 299 – 301). Neben einer Diskussion von ernst zu nehmenden Einwänden gegen Oakeshotts Entwurf findet sich bei O’Sullivan im Zusammenhang mit der Erläuterung von Mißverständnissen, denen Oakeshotts Konzept ausgesetzt sein kann, der wichtige Hinweis, daß die civil association keineswegs ohne weiteres mit der sog. Zivilgesellschaft, wie sie namentlich von osteuropäischen Dissidenten in der Zeit der Sowjetherrschaft entworfen worden war, gleichzusetzten ist.15 Die herausragende Bedeutung, die nach Oakeshott dem Recht für eine freiheitliche politische Ordnung zukommt, spiegelt sich in Stephen Gerencsers Beitrag wider. Gerencser identifiziert eine Spannung zwischen Oakeshotts früheren und seinen späteren Auffassungen vom Recht. Während Oakeshott die Autorität des Rechts zunächst darauf zurückführt, daß es die Lebensweisen und Traditionen einer Gesellschaft reflektiert, hebt er später primär auf den proze12 Die wichtigsten dieser Arbeiten wurden in der Aufsatzsammlung Rationalism in Politics von 1962 zusammengefaßt, die auch in deutscher Übersetzung erschien (siehe oben Fn. 1). 13 Weshalb die Kennzeichnung Oakeshotts als „Anti-Rationalist“ ohne eine nähere Erläuterung zumindest irreführend ist. 14 Siehe auch Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, 198. 15 Hätte O’Sullivan den Ausdruck „civil society“ nicht vermieden, wäre die Differenz bereits terminologisch zum Ausdruck gekommen.
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duralen Charakter des Rechts als Bedingung seiner Autorität ab – was ihn in die Nähe positivistischer Rechtsauffassungen rückt (s. 332).16 Gerencser legt dar, daß sich beide Perspektiven auf das Recht in Übereinstimmung bringen lassen und verweist dafür auf Hegel einerseits – und auf Georg Jellinek andererseits, dem es gelungen sei, eine entsprechende Integration vorzunehmen (s. 334). Der Beitrag Leslie Marshs, in dem Oakeshotts Denken mit jenem Hayeks verglichen wird, offeriert einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Zugang zum Thema, indem er als Ausgangspunkt die Theorie des Geistes wählt, in der die beiden Gelehrten Marsh zufolge sehr weitgehend zusammenstimmen: Für sie ist der menschliche Geist ein sozial und kulturell situiertes Vermögen, dessen Resultate epistemische Konstruktionen sind, weshalb die respektiven Ansätze als konstruktivistisch zu gelten haben. In dieser Perspektive rücken auch die sozial- und politiktheoretischen Ansätze Oakeshotts und Hayeks zusammen.17 Für die entsprechende Argumentation muß Marsh allerdings darlegen, daß Hayeks Theorie nicht als „ökonomistisch“ qualifiziert werden kann. Die enge Verwandtschaft, die sich so zwischen Oakeshott und Hayek ergibt, führt in Marshs Augen auch zu einer Relativierung der Kritik, die Oakeshott gelegentlich an Hayeks Ansatz äußerte.18 Die Texte des Bandes von Franco und Marsh führen allesamt nicht nur überaus kompetent und auf hohem Niveau in Oakeshotts Denken ein, sondern sie zeigen zugleich verschiedene Deutungsperspektiven auf, deuten kontroverse Aspekte dieses Denkens an und stellen Oakeshott in ein Verhältnis zu anderen Denkern wie Skinner oder Hayek. Die Komposition des Buches weist trotz unterschiedlicher Perspektiven der Autoren eine erfreuliche innere Stringenz auf: Die Darstellungen fügen sich sehr gut aneinander, knüpfen inhaltlich vielfach aneinander an und spiegeln so auch den inneren Zusammenhang, den die vielfältigen Themen in Oakshotts Werk haben. Grants biographischer Beitrag zeigt Oakeshott zudem als interessante und ob ihrer Ambivalenz überaus moderne Persönlichkeit. Mit Blick auf diesen Beitrag mag allerdings die Frage erlaubt sein, ob dem Anliegen des Companion eine überblicksartige Darstellung von Oakeshotts Leben und Werk im Ganzen nicht angemessener gewesen wäre, als ein Beitrag, der einen bestimmten Aspekt der Oakeshottschen Biographie (seine Passion für die Liebe) fokussiert. II. Eine Reihe der Autoren des von Podoksik herausgegebenen Sammelbandes sind, wie Terry Nardin oder Luke O’Sullivan, ebenfalls als Protagonisten der Oakeshott-Forschung anzusehen, und mit David Boucher und Elizabeth Corey finden sich darunter zwei, die für beide Sammelbände geschrieben haben. Daneben ist aber der Anteil solcher Autoren groß, die nicht zum engeren Zirkel der Oakeshott-Forschung zu rechnen sind und sich in der Hauptsache mit anderen Themen beschäftigen, sich jedoch über diese Themen vermittelt (und mitunter seit langem und immer wieder) mit Oakeshotts Werk befassen, wie James Alexander, Richard Flathman, Andrew Gamble, Byron Kaldis, Dana Villa oder Steven B. Smith. Der Band ist in drei Teile ge16 Siehe in diesem Zusammenhang auch Bart van Klink/Oliver W. Lembcke, What Rules the Rule of Law? A Comparison between Michael Oakeshott and Hans Kelsen, in: Henkel/ Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 225 – 246. 17 Siehe auch Hans Jörg Hennecke, Konservative Erfahrung und liberale Evolution. Michael Oakeshott und Friedrich August von Hayek, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.) Praxis und Politik, 201 – 221. 18 Siehe Michael Oakeshott, Rationalismus in der Politik, 30.
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gliedert. Der erste Teil widmet sich mit fünf Aufsätzen dem grundlegenden philosophischen Ansatz Oakeshotts („Oakeshott’s Philosophy“), der zweite Teil enthält fünf Aufsätze zu Oakeshotts praktischer Philosophie („Oakeshott on morality, society and politics“) und im dritten Teil finden sich vier Abhandlungen, die Oakeshotts Werk kontextualisieren und zu anderen Denkern in Beziehung setzen („Oakeshott and others“). Dem ersten Teil voran geht eine Einleitung des Herausgebers, die wiederum auf eine tabellarische Chronologie zu Oakeshotts Leben (xvi-xvii) folgt. Einen eigenen Beitrag zur Biographie Oakeshotts enthält der Band demgegenüber nicht. Dafür aber findet sich eine Bibliographie am Ende des Buches, die neben den Werken Oakeshotts (345 – 348) auch die im Band zitierte weitere Literatur anführt.19 Der umfangreiche Beitrag James Alexanders, der den ersten Teil eröffnet, gibt einen Gesamtüberblick über Eigenart und innere Entwicklung von Oakeshotts philosophischem Ansatz. Dabei werden mit Blick auf die Frage nach den Hintergründen, Kontexten sowie nach Einflüssen, die Oakeshott verarbeitete, zahlreiche Bezüge zu anderen Denkern hergestellt. Mancher Hinweis bleibt hier zwar etwas holzschnittartig, im übrigen gelingt es dem Autor aber, die grundlegenden Auffassungen Oakeshotts plausibel zu entfalten. Auch Alexander zufolge ist Oakeshott stets philosophischer Idealist geblieben, wenngleich sein Idealismus sich immer mehr zu einem idealistischen Skeptizismus hin entwickelte (s. 22). Auf den Beitrag Alexanders folgen vier Beiträge zu einzelnen Erfahrungsmodi: Luke O’Sullivan behandelt die Geschichte bzw. Geschichtsschreibung, Byron Kaldis die Wissenschaft (science), Elizabeth Corey die ästhetische Erfahrung und Kevin Williams die Erziehung. Hervorzuheben ist hier Kaldis’ Darstellung des Oakeshottschen Wissenschaftsverständnisses, das in der Forschung bisher ganz stiefmütterlich behandelt wird. Kaldis, dem hier auch eine ebenso knappe wie luzide Darstellung des Modus-Konzeptes gelingt (s. 67 f.), qualifiziert Oakeshotts Wissenschaftsauffassung im Sinne seiner allgemeinen Konzeption der Erfahrungsmodi als „dialektischen Konstruktivismus“, wonach die Wissenschaft eine autonome Welt von Ideen darstellt, das heißt: eine umfassende Realität entfaltet, die sich aus dem Charakter der Wissenschaft, ihren Voraussetzungen und Denkweisen selbst ergibt. Ganz richtig verweist Kaldis hier auf die Verwandtschaft dieser Vorstellungen mit der Duhem-Quine-These (s. 67, 70),20 mit Auffassungen Ernst Cassirers und Hermann Cohens sowie mit Wilfrid Sellars Wissenschaftsphilosophie (s. 79 – 82). Im zweiten, der praktischen und insbesondere der politischen Philosophie Oakeshotts gewidmeten Teil des Bandes stellt Steven B. Smith zunächst verschiedene Aspekte des Oakeshottschen Praxisbegriffs vor. In diesem Zusammenhang erläutert Smith in Auseinandersetzung mit Oakeshotts Interpretation von Platons Höhlengleichnis auch das Verhältnis zwischen Philosophie und Praxis. Für Oakeshott ist unzweifelhaft, daß die Philosophie gegenüber der Praxis kei19
Die bibliographische Auflistung der Werke Oakeshotts unterschlägt ein frühes Buch, das in beiden Sammelbänden auch sonst keine eingehendere Beachtung findet, nämlich: Michael Oakeshott/Guy T. Griffith, A Guide to the Classics, or, How to Pick the Derby Winner, London 1936. Dieses mit einem ironischen Augenzwinkern verfaßte, 1947 in überarbeiteter Form neu publizierte Werk handelt – in Gestalt der Frage, wie man das im Rennen obsiegende Pferd treffsicher bestimmt – letztlich von der Eigenart praktischer Ratio. Siehe dazu Rainer Schmidt, Das perfekte System? Michael Oakeshott über die Pferderennbahn als Schule des Politischen, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006), 103 – 105; ders., Schildkröten und Heublumen. Michael Oakeshotts Rationalismuskritik im Vergleich mit Hannah Arendt, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 59 – 75, hier: 59 – 63. 20 Siehe zu dieser These Jules Vuillemin, On Duhem’s and Quine’s Theses, in: Lewis Edwin Hahn/Paul Arthur Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of W. V. Quine, La Salle 1986, 595 – 618; Willard Van Orman Quine, Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie, Paderborn et al. 1995, 18 – 22.
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nen Suprematieanspruch erheben kann, zumal sie auch keinen Standpunkt außerhalb der Höhle einzunehmen vermag. Ein „Außerhalb“ kann es Oakeshotts Erfahrungsverständnis zufolge ohnehin nicht geben; daher gilt die Feststellung: „His is a philosophy ultimately written from inside the cave“ (149). Der Beitrag von Andrew Gamble geht der Frage nach, inwiefern Oakeshotts Vorstellungen als konservativ bzw. als liberal anzusehen sind. Danach legt Terry Nardin Oakeshotts Verständnis von Rhetorik und politischer Sprache auseinander und bespricht damit ein für Oakeshotts politisches Denken zentrales Thema.21 Die politische Sprache nämlich reflektiert den Charakter politischer Doktrinen und politischer Ordnungen. Oakeshott richtet seine Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf das allgemein geteilte politische Vokabular, das jedenfalls im neuzeitlichen Europa durch Mehrdeutigkeit charakterisiert ist. So sehr diese Mehrdeutigkeit Konfusionen hervorzurufen und sich einem klaren Verständnis der politischen Angelegenheiten immer wieder in den Weg zu stellen vermag, so sehr entspricht sie doch dem für freiheitliche politische Ordnungen unverzichtbaren gesellschaftlichen und politischen Pluralismus. Deshalb läuft der Versuch, eine Eindeutigkeit des politischen Vokabulars zu etablieren, letztlich auf eine Beseitigung der Freiheit hinaus. Daß es Oakeshott um die Freiheit zu tun und diese Freiheit nicht zuletzt mit einem Pluralismus verknüpft ist, heben Paige Digeser und Richard Flathman in ihrem Beitrag heraus, der Oakeshotts On Human Conduct zum Gegenstand hat und die für dieses Buch zentralen Begriffe (wie self-enactment, self-disclosure, societas, universitas, civil association, enterprise association, law, lex, authority etc.) und Überlegungen vorstellt. Hier kommt auch die große Bedeutung etwas ausführlicher zur Sprache (s. bes. 215 – 218), die Oakeshott dem Recht beimißt, dem im Sammelband ansonsten kein eigener Beitrag gewidmet ist. Den zweiten Teil des Buches beschließt ein Text William A. Galstons, der eine zusammenfassende Betrachtung der politischen Theorie Oakeshotts präsentiert und dann eine Reihe kritischer Einwände gegenüber drei zentralen Auffassungen Oakeshotts diskutiert (s. 236), wobei er selbst unverkennbar auf Distanz zu Oakeshott geht. Im dritten Teil ordnet David Boucher Oakeshott zunächst in den Kontext des Britischen Idealismus ein. Im Vergleich zu seinem Beitrag im Sammelband von Franco und Marsh diskutiert Boucher hier ausführlicher die Differenzen innerhalb dieser philosophischen Strömung mit ihren sich untereinander bisweilen erheblich unterscheidenden Positionen. Indes verteidigt Boucher auch hier seine Auffassung, daß Oakeshott in seinem Philosophieverständnis ungeachtet der Wandlungen seines Werkes stets am absoluten Idealismus festgehalten habe. Nicht nur die Auseinandersetzung mit den Autoren des Britischen Idealismus hat Oakeshotts Werk tief geprägt. Vielmehr gilt dies auch für den Idealismus deutscher Provenienz, namentlich für Hegel, auf den Oakeshott während seines gesamten Gelehrtenlebens immer wieder zurückgekommen ist.22 Oakeshotts Rezeption des Deutschen Idealismus wendet sich Efraim Podoksik zu, der die Fragestellung seines Beitrages zugleich in einer überraschenden Weise ausweitet. Oakeshott nämlich sei nicht nur ein britischer Schriftsteller gewesen, der deutsche Autoren rezipierte, vielmehr habe er überhaupt „to a great degree“ als ein „German philosopher“ (275) zu gelten. Am Leitfaden dieser These spürt Podoksik den Einflüssen deutscher Gelehrter auf Oakeshott nach. Dabei nimmt er nicht so sehr Kant und Hegel in den Blick, an die man zuerst denken würde, sondern Gelehrte, deren Spuren in Oakeshotts Werk keineswegs offensichtlich sind. So zunächst und verblüffenderweise Arthur Schopenhauer, der sich als 21 Das Thema wird von Oakeshott ausführlich behandelt beispielsweise in Michael Oakeshott, Zuversicht und Skepsis, passim. 22 Siehe dazu Paul Franco, Oakeshott’s Relationship to Hegel, in: Corey Abel/Timothy Fuller (Hrsg.), The Intellectual Legacy of Michael Oakeshott, Thorverton, Exeter 2005, 117 – 131.
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Gegenspieler Hegels verstanden hatte, den man desungeachtet zweifellos in gewisser Weise dem Deutschen Idealismus zurechnen kann. Jenseits dieser idealistischen Strömung stehen indes Heinrich Rickert, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, deren Bedeutung für Oakeshotts Denken Podoksik ebenfalls erläutert.23 Die Perspektive Podoksiks ist originell und seine Ergebnisse aufschlußreich, die von ihm herausgehobenen Übereinstimmungen zwischen Oakeshott und jenen Deutschen beachtlich. Ob man hier allerdings immer von Einflüssen sprechen kann, ist überaus fraglich; nicht nur, weil unklar ist, was eigentlich einen intellektuellen Einfluß ausmacht und ob er bereits aufgrund von Lektürezeugnissen und Zitaten behauptet werden kann. Vielmehr besteht eine entscheidende Problematik darin, daß die Originalität und Eigenständigkeit eines Autors aus dem Blick gerät, wenn man sein Denken nur noch als Summe von Einflüssen begreift. Ganz so weit indes geht Podoksik nicht. Auf die große Wertschätzung, die Oakeshott dem politischen Denken Thomas Hobbes’ entgegenbrachte, wurde bereits hingewiesen. Sie resultierte nicht zuletzt darin, daß Oakeshott seinem Landsmann mehrere Schriften widmete,24 die vor allem in der englischsprachigen HobbesForschung einige Aufmerksamkeit erlangten und die entsprechende Diskussion mitprägten. Ian Tregenzas Aufsatz widmet sich im Ausgang einer Darlegung von Oakeshotts Hobbes-Interpretation dessen Beitrag zur Hobbes-Forschung. Tregenza hebt als Verdienst Oakeshotts hervor, (im Verein mit anderen Gelehrten) einige der Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts gängigen Hobbes-Mythen entlarvt zu haben. So ging es Oakeshott etwa darum, die Diffamierung Hobbes’ als Vertreter einer absolutistischen oder gar totalitären Staatsauffassung, die für einen Individualismus keinen Platz ließe, zurückzuweisen. Solche Interpretationen verfehlten Oakeshotts Lesart zufolge Hobbes’ „conception of reasoning“ (305) und verstellten so den Blick darauf, daß Hobbes gerade als Verteidiger des Individualismus anzusehen sei. Der Sammelband schließt mit einem Beitrag Dana Villas über Oakeshotts Kritik des politischen Rationalismus im Kontext des Kalten Krieges, das heißt hier vor allem: im Kontext der angelsächsischen Totalitarismuskritik, wie sie seinerzeit namentlich von Hannah Arendt, Isaiah Berlin, Jacob Talmon und Karl Popper formuliert wurde (s. 318). Die Aufmerksamkeit Villas gilt dem Vergleich Oakeshotts mit Arendt und Berlin. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Oakeshotts Rationalismuskritik und die entsprechende Kritik totalitärer Herrschaft originell und subtil sei, gegenüber den spezifischer auf totalitäre Pathologien gerichteten Überlegungen Arendts und Berlins aber etwas verblasse („pales“), weil sie in ihrem Streben, allgemeine Tendenzen der westlichen Geistesgeschichte zu identifizieren, zu weit ausgreife und die pathologischen Besonderheiten der totalitären Entwicklungen des 20. Jahrhunderts unzureichend fasse. III. Die Beiträge der hier vorgestellten Sammelbände lassen rasch erkennen, daß Oakeshotts Werk nicht nur überaus vielschichtig, sondern – beispielsweise mit seiner Terminologie, den angebotenen Perspektiven oder dem vielfach mehr andeutenden als explizierenden Stil – auch durchaus eigenwillig ist. Das macht es nicht einfacher, Oakeshott richtig einzuordnen oder überhaupt sein Anliegen zu begreifen und sich auf ihn einzulassen. Es ist daher ein Verdienst der Companions, den Lesern diesbezüglich viele Hinweise und Handreichungen zur In23 Zu Oakeshott und Simmel siehe auch Efraim Podoksik, From Difference to Fragmentation. Oakeshott, Simmel and Worlds of Experience, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 97 – 117. 24 Die meisten dieser Arbeiten wurden zusammengefaßt in Michael Oakeshott, Hobbes on Civil Association (1975), foreword by Paul Franco, Indianapolis 2000.
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terpretation der Oakeshottschen Texte zu geben. So lassen sie auch unmißverständlich deutlich werden, daß sich Oakeshotts Denken, das auf den ersten Blick wenig zu den dominierenden Gegenwartsthemen zumindest der deutschen Politikwissenschaft beizutragen hat, dem zweiten Blick als überaus aktuell und „anschlußfähig“ erweist.25 Dies gilt etwa für die auch in Deutschland geführte Methodendebatte um die politische Ideengeschichte, die sich nicht zuletzt an Skinner und der Cambridge-School „abarbeitet“.26 Sodann zeigt sich beispielsweise mit Blick auf die zur Zeit intensive Rezeption des Werkes von Hannah Arendt, daß sich Arendts Themen und Anliegen in vielen Punkten mit jenen Oakeshotts berühren, wie auch der Text Villas zeigt. Während dort aber mit Blick auf die Rationalismuskritik die Differenzen zwischen beiden betont werden, dürften die Konvergenzen noch interessanter sein.27 So gehört Oakeshott zu den wenigen modernen Denkern, die wie Arendt Autorität und Freiheit nicht in einem Widerspruch, sondern in einem positiven Bedingungsverhältnis zueinander sehen, wonach Freiheit ohne Autorität nicht zu haben ist. Eine entsprechende Diskussion kann von einer Auseinandersetzung mit Oakeshott vielfach profitieren. Das dürfte in besonderer Weise auch für die politikwissenschaftliche Hobbes-Diskussion in Deutschland gelten, die in jüngerer Zeit in einer kontraktualistischen Engführung befangen zu sein scheint, wonach das Entscheidende bei Hobbes allein das Vertragsargument sei – weshalb man dann beispielsweise gerne auch die Bücher III und IV des Leviathan notorisch unbeachtet läßt. Nicht zuletzt aber ist es Oakeshotts prinzipiell anti-essentialistischer, konstruktivistischer Ansatz im Verständnis von Erfahrung – etwa der spezifisch wissenschaftlichen oder der spezifisch historischen Erfahrung –, der sein Denken für einschlägige Diskussionen interessant macht. Dies gilt vor allem, weil Oakeshott mit seiner allgemeinen philosophischen Theorie ein umfassendes epistemologisches Konzept anzubieten hat, mit dem sich ein konstruktivistischer Zugriff auf die Welt begründen läßt. Dieses Konzept ist dezidiert idealistisch; und wenn man es ernst nimmt, zeigt sich darin auch, daß der philosophische Idealismus alles andere als überholt sein dürfte – wie auch seine von Marsh angesprochene Verwandtschaft mit jüngeren Ansätzen in der Philosophie des Geistes und der Sozialität bestätigt. Der Erkenntniswert von Oakeshotts umfassendem philosophischen Ansatz erweist sich schließlich vor allem mit Blick auf ein angemessenes Verständnis der Zivilisation der Freiheit und der ihr angemessenen Politik. Eine entsprechende Betrachtung nämlich bliebe unvollständig, würde sie auf die Diskussion von politischen Institutionen oder Grundrechten beschränkt. So unverzichtbar jene auch für Oakeshott sind, so sehr macht seine Philosophie der Modi unmißverständlich klar, daß sich die Zivilisation der Freiheit nicht zuletzt darin erweist, dem Zwecklosen und Nicht-Nützlichen, der Muße und dem Spiel Raum zu geben, wie sie vor allem in Kunst und Religion zum Ausdruck kommen. Wie Elizabeth Corey und Corey Abel in ihren Beiträgen zeigen, besteht die Eigenart von Kunst und Religion darin, die Erfahrung des Gegenwartsgenusses zu ermöglichen, die Aussicht auf die Schönheit des Augenblicks zu eröffnen. Im Genuß der Gegenwart, in der Schönheit des Augenblicks mag dann sogar die Zeit-
25 Daß Oakeshotts Auffassungen sogar die deliberative Demokratietheorie zu befruchten vermögen, demonstriert Michael Minch, The Democratic Theory of Michael Oakeshott. Discourse, Contingency and the Politics of Conversation, Exeter 2009. 26 Siehe dazu etwa die Zusammenstellung von Texten bei Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Ideengeschichte, Stuttgart 2010. 27 Siehe auch Schmidt, Schildkröten und Heublumen; Michael Becker, Überlegen – Überzeugen – Überreden. Sprache und Politik bei Oakeshott und Arendt, in: Michael Henkel/ Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 141 – 159.
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lichkeit transzendiert werden – eine Paradoxie angesichts der von Oakeshott postulierten radikalen Zeitlichkeit aller Erfahrung. All diese hier nur angedeuteten Zusammenhänge zeigen, daß eine vorschnelle und schlagwortartige Verortung Oakeshotts nicht weiterführt und den Zugang zum Reichtum seines Denkens verbaut. Dies gilt auch für die ebenso zutreffende wie Mißverständnisse nahelegende Charakterisierung als konservativ, die in beiden Bänden ausführlich diskutiert wird.28 Es ist vielleicht hilfreich sich zu vergegenwärtigen, daß Oakeshott seine Parteinahme für konservative Auffassungen oder die konservative Wesensart nicht als parteipolitische Stellungnahme verstanden hat. Auch hat Oakeshotts Konservativismus nichts zu tun mit einer Berufung auf naturrechtliche Vorstellungen bzw. die Natur des Menschen oder mit einem Festhalten an dem, „was immer gilt“. Und so kann es nicht verwundern, daß er gegenüber vielen konservativen Positionen auf Distanz blieb. Für ihn bedeutet die konservative Wesensart schlicht eine Verteidigung praktischer Vernünftigkeit, eine Verteidigung letztlich dessen, was man in der Tradition mit Aristoteles als Klugheit kennzeichnet. Vor dem Hintergrund von Oakeshotts Überlegungen zum Charakter des westlichen Verfassungsstaates, insbesondere zur civil association, kann man diese Art von Konservativismus vielleicht angemessen als „Modernitätstraditionalismus“ im Sinne Odo Marquards begreifen, womit klar wird, daß Oakeshott als ein unzweideutiger, wenngleich überaus skeptischer Verteidiger der zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne zu verstehen ist.29 Als einen solchen stellen die beiden Sammelbände Oakeshott vor. Ihre Beiträge zeigen überzeugend und eingängig den Reichtum des Oakeshottschen Denkens, die Problemfragen der Forschung wie auch umstrittene Aspekte der Oakeshottschen Auffassungen. Sie erfüllen damit den Anspruch, den die Herausgeber erheben und der an einen Companion zu stellen ist. Wer sich einen ersten Überblick über Oakeshotts Werk verschaffen möchte, ist vermutlich mit Podoksiks Band besser bedient, während der Companion von Franco und Marsh denjenigen mehr bieten wird, die bereits etwas über Oakeshott wissen – solche Leser scheinen auch von manchen Autoren des Bandes vorausgesetzt zu werden, wie entsprechende Formulierungen (s. z. B. 31, 35, 254) nahelegen. Insgesamt ergänzen sich die Bände ob ihrer unterschiedlichen Akzentsetzung und Komposition hervorragend. Sie repräsentieren und dokumentieren in erfreulicher Weise den Stand der Debatte um das Werk Oakeshotts und seine Kontexte. Es ist zu wünschen, daß die beiden Companions auch in Deutschland zahlreiche Leser finden – und so die Neugierde auf Oakeshotts eigene Schriften wecken. Michael Henkel
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Siehe auch Martyn P. Thompson/Michael Oakeshott, Konservativismus und politische Bildung, in: Michael Henkel/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Praxis und Politik, 1 – 17. 29 Siehe in diesem Sinne ausführlich Efraim Podoksik, In Defence of Modernity. Vision and Philosophy in Michael Oakeshott, Exeter et al. 2003.
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Jenseits der Moderne? Was kann die politische Modernisierungssoziologie aus der Beschäftigung mit dem Stalinismus lernen? Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. C. H. Beck Verlag, München 2012, 606 Seiten1 I. Einleitung Wer über die mit Modernisierungsprozessen verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen sprechen will, wird sich auch heute des Eindrucks nicht verwehren können, dass das Bild der „modernen Gesellschaft“ nach wie vor durch eine Reihe von evolutionären Basisprämissen geprägt ist, die die ursprünglichen Strukturen und regionale Kontexte traditioneller Gesellschaften, so die Annahme ihrer Vertreter, auflösen und in Richtung einer modernen Gesellschaft hin ablösen. Zu diesen Basisprinzipien gehören im Wesentlichen die Prozesse funktionaler Differenzierung und Individualisierung, die Entwicklung von Arbeitsteilung, Marktkonkurrenz, Staatsformierung, die universale Expansion des liberal-demokratischen Rechtsstaates und die Nationenbildung, sowie die weltweite Verbreitung der Menschenrechte und ihre Rolle als strukturelles Integrationsmoment der Weltgesellschaft. Im Verlauf dieses Prozesses schwenken alle traditionalen Gesellschaften in den Modernisierungskurs ein und werden in moderne verwandelt. Dieses Szenario von der Moderne haben die Sozialwissenschaften lange hoch gehalten und geglaubt, insbesondere die funktionale Differenzierung von Institutionen mache moderne Gesellschaften anderen Gesellschaftsformationen überlegen. Für Ausnahmen, Systemzusammenbrüche, Vagheiten und Diskontinuitäten waren die Soziologie der Moderne und insbesondere die Theorie funktionaler Differenzierung nie besonders empfänglich. Sieht man einmal von Ausnahmen ab, ist unübersehbar, dass beispielsweise kriegerische Konflikte und Gewalt, zumal die Gewaltexzesse im „Kurzen 20. Jahrhundert“2 – anders als in der internationalen Politikwissenschaft oder in der Konflikt- und Friedensforschung – in der gegenwärtigen, insbesondere deutschen Sozialtheorie nach wie vor überwiegend kaum eine Rolle spielen. Die westliche Modernisierungstheorie wiege sich, so hat Hans Joas das Phänomen schon vor Jahren benannt, im „Traum von der gewaltfreien Moderne“.3 Und wenn diese Phänomene am Ende doch eine Rolle spielen sollten, so wurden sie fast immer als endogene, paradoxe Konsequenzen der Moderne selbst interpretiert und nicht etwa als Kontinuitätsbruch moderner Strukturen. Wenn es nun darum geht, historische Abbrüche, Ausnahmen von diesem Entwicklungspfad zu skizzieren und insbesondere eine Antwort auf die diktatorischen Exzesse unseres Jahrhunderts zu geben, lässt sich in jüngster Zeit im Kontext der Modernisierungstheorie kaum eine so interessante, wie auch umstrittene Arbeit auffinden, wie die historische Studie des OsteuropaHistorikers Jörg Baberowski über Josef Stalins Terrorherrschaft.Die Studie „Verbrannte Erde“ ist die in weiten Teilen umgeschriebene Neufassung von „Der rote Terror“.4 Nach der Proble1 Zahlen in Klammern verweisen nachfolgend auf Baberowskis Monographie, sofern kein anderer Text ausgewiesen wird. 2 Das sind für Hobsbawm die Jahre vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Eric Hobsbawm (2007), Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 8. Aufl., München. 3 Hans Joas (2000), Kriege und Werte, Weilerswist, S. 49 ff. 4 Jörg Baberowski (2007), Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 3. Aufl., Frankfurt/M.
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matisierung des Phänomens des Stalinismus im ersten Kapitel folgt in den nächsten fünf Kapiteln die chronologisch angeordnete Beschreibung und Interpretation dessen, was sich in den Jahren der Herrschaft Stalins von 1927 bis zu seinem Tode im Jahre 1953 in der Sowjetunion ereignete (II. Imperiale Gewalträume, III. Pyrrhussiege, IV. Unterwerfung, V. Diktatur des Schreckens, VI. Kriege) und als Fazit der Ausblick VII. über Stalins Erben. Das Buch ist vor allem deswegen instruktiv, weil Baberowski einer einschlägigen These der Modernisierungstheorie widerspricht, (die er im Übrigen in früheren Veröffentlichungen selbst vertreten hat), nämlich, dass es eben jene enge Verbindung zwischen Moderne und stalinistischer Gewaltherrschaft gegeben habe. Den Leitfaden dieser These bildete dabei Zygmunt Baumans Vermutung, dass das Verhältnis von Moderne und Gewalt als grundlegend ambivalentes zu fassen sei.5 Diese vorgestellte Zivilisationsannahme Baumans unterzieht Baberowski einer Kritik an ihren epistemologischen, methodischen und empirischen Defiziten, weswegen man einen spezifisch soziologischen Erkenntnisgewinn aus dieser Studie ziehen kann. Es lohnt sich daher, so meine These, insbesondere aus der Sichtweise der politischen Soziologie sich mit dieser Studie zu beschäftigen. II. Stalins Terrorsystem war keine Modernisierungsdiktatur Worin sind die Ursachen für Stalins Terrorherrschaft mit der Folge von Millionen von Todesopfern zu sehen? Bisher war man der Meinung, wie oben angedeutet, dass es für eine angemessene Erklärung des Terrorregimes ausschlaggebend sei, dass sich Kommunismus und Stalinismus in das revolutionäre und „sozialtechnologische“ Projekt der Moderne einfügten. Stalinismus verstand sich als „Zivilisation“ und Wertegefüge, das Anleihen bei der Europäischen Moderne nahm, wie Stephen Kotkin in seiner Studie über die im Ural gelegene Schwerindustrieregion Magnitogorsk urteilt.6 Das identifizierende und klassifikatorische Bestreben des modernen Gärtnerstaates, seien nach Bauman die Ursache für die bestialischen Vernichtungsprozesse gewesen. Die modernen Sozialtechnologien eines eisernen, totalitären Staates seien keine Irrläufer des Zeitalters der Moderne, sondern „legitime Kinder des modernen Geistes“. „Die Dysfunktionalität der modernen Kultur ist ihre Funktionalität.“7 Die „Makroverbrechen“ des 20. Jahrhunderts, wie etwa der deutsche Völkermord an den Juden und der stalinistische Terror, fielen demnach nicht aus der Referenzebene der Moderne heraus, wie manche fortschrittsoptimistische Modernisierungstheorien glauben machen wollten, sondern müssten als die wohl fatalsten, logischen Entwicklungsmöglichkeiten der Moderne angesehen werden.8 Baberowski nähert sich dem Verhältnis von Moderne und Gewalt in Abgrenzung zu dieser These in Kapitel II (Imperiale Gewalträume) auf unterschiedliche Weise. Zunächst stellt er sich die Frage: Sind die strukturellen Komponenten der europäischen Moderne überhaupt auf die Sowjetunion übertragbar? Ist der Staatsbegriff auf soziale Gegebenheiten des Russlands des 19. Jahrhundert anwendbar? Diese Frage ist für Baberowski wesentlich, weil der Begriff Staat immer wieder – zumeist ohne Reflexion über seine Angemessenheit – zur Beschreibung 5 Zygmunt Bauman (1995), Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M. 6 Stephen Kotkin (1997), Magnetic Mountain: Stalinism as a Civilization, University of California Press. 7 Zygmunt Bauman (1995), Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M., S. 45 und S. 22. 8 Peter Imbusch (2005), Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden, S. 19.
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russischer Gesellschaftsverhältnisse verwendet wird. Einer der wichtigsten Schritte ist zu zeigen, dass der russische Staat alles andere als ein starker Staat gewesen ist. Der Stalinismus war keine Modernisierungs-Diktatur. „Die Moderne ist nicht Urheber des totalen Vernichtungsterrors.“ (26, 28) Das Bild des Staates und seine notwendigen Schattenseiten in der Modernisierungssoziologie stellen für Baberowski den zentralen Schwachpunkt bisheriger Erklärungsmuster dar. Wer diesen Begriff des Staates in einer transhistorisch-universalen Bedeutung als die weltweit dominante historisch-konkrete Gestalt des Politischen deklarieren will, vernachlässigt vollständig die historische und regionale Variabilität des Staatsbegriffs. Es handelt sich hierbei um eine substantialisierende Interpretation des Nationalstaats. Weder ähnelte der russische Staat – sowohl vor Stalin, als im Stalinismus – dem semantischen Artefakt des Weberschen bürokratischen Staates, der dann schließlich seine vermeintlich „dunklen Seiten“ zeigte, noch war er eine übersteigerte Maßnahme der sowjetischen Modernisierungsanstrengungen. Der Stalinismus entstand vielmehr „als Herrschaftssystem und Zivilisation dort, wo sich von der industriellen und bürgerlichen Moderne nur wenig mehr zeigte als die Ideen, mit denen die Kommunisten ihre Gesellschaften verändern wollten. Der Stalinismus gedieh auf dem Boden der ‘Rückständigkeit’.“9 Im Gegensatz zu Europa war „die Verwaltungskultur in Russland bis in die 1860er-Jahre schlicht eine andere“.10 III. Staatsferne Räume Das zaristische Russland öffnete sich zwar bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhundert gegenüber westlichen Einflüssen. Man war der Überzeugung, „Europas Gegenwart werde die Zukunft Rußlands sein“ (34). Die russischen Modernisierungspraktiker waren gewillt das Land nach dem vorhandenen europäischen Muster umzugestalten. Ein solcher Staat sollte sich durch eine moderne Bürokratie mit legalen Verordnungen und eine Rechtsprechung auszeichnen. Der Plan bestand darin die „Barbaren“ an der Peripherie des Zarenreiches in zivilisierte Europäer umzuwandeln. Gemeint war damit das Bauerntum, das noch immer mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung stellte. Es gab in der Mitte des 19. Jahrhunderts große Reformen, die die Zentralbehörden in eine moderne, an Gesetzen orientierte Bürokratie umformen wollten (33 f.). Die Ministerien Alexanders II. waren nun nicht mehr patrimoniale, sondern aufgeklärte Bürokratien. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 und der Ausweitung der zaristischen Bürokratie wurde diese im Zentrum zunehmend versachlicht und formalisiert. In dieser Hinsicht wollten die zarischen Reformer dem westeuropäischen Vorbild des Nationalstaates folgen: „Personen haben keine Bedeutung, Institutionen entscheiden alles…“.11Die Gesetze und Verordnungen drangen aber nicht, wie Baberowski sagt, in die staatsfernen Räume an der Peripherie des multiethnischen Imperiums vor. Die Indienstnahme moderner Mobilisierungsfaktoren unter dem Banner einer „mission civilisatrice“ wurde niemals in die Lebensgewohnheiten der Landbewohner integriert. Der „interne Kolonialismus des zarischen Staates“ (36) scheiterte, wie Baberowski treffend sagt, an den enormen kulturellen und räumlichen Differenzen zwischen Elite und der bäuerlichen Lebenswelt. Die „gepflegte Semantik“ (Luhmann) 9 Jörg Baberowski (2008), Was war der Stalinismus? Anmerkungen zur Historisierung des Kommunismus, in: Deutschland Archiv, 6/2008, S. 1047 – 1056, hier S. 1049. 10 So Susanne Schattenberg (2008), Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York, S. 33 f. 11 Jörg Baberowski (2008), Vertrauen durch Anwesenheit: Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz: Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/M./ New York, S. 17 – 38, hier: S. 27.
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der russischen Modernisierungselite war reich an europäischem Wissen, hatte aber mit der russischen Wirklichkeit rein gar nichts zu tun. Staatsferne Räume sind somit nichts anderes als Regionen, über die die staatliche Souveränität keine Verfügung hat und in denen der Zugriff des staatlichen Gewaltmonopols nicht wirksam ist. Aber warum hatte die staatliche Zentralmacht keine Verfügungsgewalt über die Peripherie? Zunächst einmal wegen der endlosen Weite des russischen Imperiums. Die Provinz selbst erschien als „eine schier endlose Abfolge von Wäldern, Sümpfen, Steppen“ durch welche bestenfalls – mit der Ausbreitung der Eisenbahn – „die Eisenbahnschienen ihre Spinnennetze flochten“.12 Russland präsentierte sich noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor allem jenseits von St. Petersburg in seinen weiten Peripherien – im Gegensatz zu dem europäischen Idealtypus des Nationalstaates – als ein vormoderner Personenverbandsstaat (39), in dem vor allem einheimische Patronen und Clanchefs die Sitten der Bauerngesellschaft regierten. In dem multiethnischen Bauernland konnte die Hälfte der Bevölkerung weder lesen noch schreiben. Die „Mitglieder lokaler Anwesenheitsgesellschaften“ (37) wussten vom modernen Leben wenig, da sie ohne Krankenhäuser, Schulen, Polizisten und Richter auskommen mussten. Dem Staatsmonopol war es nicht gelungen die dörflichen Lebensbereiche bürokratisch zu durchdringen. Von den Inklusionseffekten globaler Teilsysteme einer angeblichen Weltgesellschaft konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Wolfgang Reinhard weist darauf hin, dass für vormoderne Institutionenkulturen kennzeichnend ist, dass Gruppen und Individuen aufgrund der relativ geringen Bedeutung formaler, organisationsbezogener Normen, vornehmlich auf informelle, persönliche Beziehungen zurückgreifen.13 Die personalen Netze ersetzen Funktionen und Leistungen, die staatliche Institutionen nicht erbringen konnten, wie etwa die Garantie persönlicher Sicherheit. In diesem Kontext galt als gerecht, „was die Überlebenschancen der Gemeinschaftsmitglieder erhöhte“ (38). „Gott ist hoch, und der Zar ist weit“ – dieses russische Sprichwort erinnert daran, wie gering der Einflussbereich des mächtigen Zaren auf die Lebensumstände in der Peripherie war. Mit einem modernen, rationalen Anstaltsstaat hatte dieser „Staat“ wenig zu tun, viel mehr mit einem vormodernen Staat, in dem sich ständische und partikulare Konfigurationen der Vormoderne erhalten hatten. Was zum Beispiel in Deutschland bereits existierte, nämlich ein homogener Nationalstaat mit einer modernen Industrie, das musste die Sowjetunion erst hervorbringen. In der Sowjetunion gab es weder einen Rechtsstaat mit einer ausdifferenzierten formalen Bürokratie, noch eine Zivilgesellschaft. Die Schwäche des Staates kam dann im ersten Weltkrieg vollends zum Tagen. Die immer stärker ansteigenden Kriegskosten, ökonomischen Krisen, Versorgungsengpässe und Hungersnöte und die offensichtlichen militärischen Defizite der russischen Armee, waren zusammen genommen der „Totengräber der alten und der Geburtshelfer der neuen Ordnung“ (43). Als im Frühjahr 1917 die Armee des Zaren zerfiel, brach auch das (schwache) staatliche Gewaltmonopol des Zaren zusammen. Unter diesen prekären Umständen konnten die regierenden Liberalen den nach vorwärts drängenden Bolschewiki nichts mehr entgegensetzen. Nicht Stärke, sondern soziale Anarchie und Destabilisierung waren demnach der Boden, auf dem Stalin seine Herrschaft aufbauen konnte.
12 Walter Sperling (2008), Der Eisenbahnbau und die „Entdeckung“ der russischen Provinz (1850 – 1920), in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/M./New York, S. 196 – 222, hier, S. 200. 13 Wolfgang Reinhard (1999), Geschichte der Staatsgewalt, München, S. 133 ff.
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IV. Der bolschewistische „Staat“ als Fortsetzung des vormodernen Personenverbandsstaates Der Staatsbildungsprozess in Russland vollzog sich erst zwischen 1917 und 1922 – wie das III. Kapitel (Pyrrhussiege) zeigt – durch die Bolschewiki nach einem zermürbenden Bürgerkrieg, in der das zarische Recht vollständig in einen Zustand der Anarchie und der Abwesenheit von Recht versetzt wurde. Er brachte freilich auch danach keinen demokratisch verfassten Staat, sondern einen militärisch-logistischen Erzwingungs- und Disziplinierungsstaat hervor, der mit einer bürgerlichen Gewaltenteilung nichts zu tun hatte. Denn das Recht wurde zu diesem Zeitpunkt permanent ausgesetzt. Den Bolschewiki ging es zwar darum die „Modernisierung des rückständigen Vielvölkerimperiums“ (199) zu forcieren, aber auch mit Stalin kam nicht die Moderne zum Durchbruch. Die staatlichen Aktivitäten ließen sich ebenso wenig – wie dies Marxisten behaupten würden – aus den Erfordernissen einer Produktionsweise ableiten, sondern es reproduzierten sich – nun in potenzierter Form – vormoderne Muster. Die Bolschewiki hatten keine Vorstellung von einem Staat. „Wir müssen uns im Gegenteil einen schwachen Staat vorstellen, dessen Repräsentanten Gefallen an der Inszenierung des permanenten Chaos und der Gewalt fanden, weil sie nur so ihren Herrschaftsanspruch ständig in Erinnerung halten konnten.“ (23) Nimmt man den Idealtypus des „demokratischen Rechts- und Interventionsstaates“14 als Maßstab für die Moderne, müsste die Geschichte der Verstaatlichung für die Sowjetunion als eine „Geschichte der Entstaatlichung“ geschrieben werden. 15 Nach innen orientierte sich, so Baberowski, Stalins Machtzentrum am Modell der Mafia (29). In viel skrupelloserer Weise als vorher wurde unter Stalin ein Staat konstituiert, der von Personen, von Beziehungs- und Denunziationsnetzen und nicht von formaler Bürokratie und deren Legitimitätsgrundlagen getragen wurde.16 Misstrauen, Verschwörungstheorien und eine allgegenwärtige „Atmosphäre des Verdachts“ (244) bezogen sich nicht nur auf die „Feinde“ der Bolschewiki, sondern drangen bis tief in den innersten Kreis der Macht ein. Nach außen (auf die Bevölkerung bezogen) errichtete Stalin eine Diktatur der Grenzenlosigkeit des Terrors. „Die soziale Ordnung des Stalinismus war eine Ordnung dauerhafter Gewalt.“ (15) Entscheidend ist auch an dieser Stelle die herrschaftssoziologische Bestimmung der Sowjetunion der Stalin-Zeit als (feudaler) „Personenverbandsstaat“, der von einem Despoten, Personen und ihren Netzen regiert wurde (121). Dennoch: Es war diesem merkwürdigen „Staat“ beschieden, die im Zarentum liegengebliebene Aufgabe in Angriff zu nehmen, eine eindeutige Ordnung in die Regionen des Vielvölkerreiches zu tragen. „Die bolschewistische Revolution war der Versuch, die Bevölkerung des Imperiums zu unterwerfen, zu kontrollieren und zu verändern.“ (367) Die zurückgebliebene Peripherie musste auch für den bolschewistischen Machtanspruch als Bedrohung erscheinen. Aber wie gelangt das Imperium in die Provinz? Der große Umschwung bestand zunächst erstens in einer Zerschlagung der alten sozialen Konfigurationen und Bindungen (Kapitel IV: Unterwerfung). Stalin forcierte dieses Ziel 14 Diese Defintion ist etwa die Ausgangsbasis für den SFB 597 „Staatlichkeit im Wandel“. Stephan Leibfried/Michael Zürn (2006), Vorwort, in: dies. (Hg.), Transformation des Staates, Frankfurt/M. S. 11 – 19, hier S. 11. 15 Jörg Baberowski (2007), Kriege in staatsfernen Räumen: Rußland und die Sowjetunion 1905 – 1950, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn, S. 291 – 309. 16 Ähnlich argumentiert Gerald M. Easter (2000), Reconstructing the State: Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, Cambridge, S. 164 – 167. Der Diktator habe es vorgezogen, seinen Einfluss in personalen Netzwerken wirken zu lassen.
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durch intensive Industrialisierung und den gewaltsamen und rigorosen Zusammenschluss von Millionen von Bauern in Kolchosen, die nun, nach der Bauernbefreiung, ihre zweite Leibeigenschaft erlebten. Die Kollektivierung destruierte die traditionale Lebensweise und das Leben in der Bauerngemeinde. „Der Kreuzzug für das Getreide“ war eine Art Beschaffungspolitik, die zu Landarbeitern degradierten Bauern zu zwingen, die Ernte in staatliche Hände zu überführen. Stalin sicherte sich mit der Zwangskollektivierung wichtige Agrarlieferungen. Zudem beschloss er Ende 1929 die Deportation der „Klasse“ der „Kulaken“. Kulaken waren wohlhabende Großbauern. Unter Stalin wurden die Kulaken als bäuerliche Kapitalisten und als Volksfeinde bezeichnet, deswegen befahl Stalin die „Liquidierung der Kulaken“. Der Aufbau des Systems von Konzentrationslagern (Gulag) begann somit parallel zur Kollektivierung der Bauern. Auf diese Weise geriet die sowjetische Landwirtschaft unter staatliche Herrschaft. Mitte März 1930 gehörten bereits 71 Prozent der sowjetischen Landwirtschaft zu Kolchosen. Daraus resultierte eine Hungersnot, die in den Jahren 1932 bis 1933 – vor allem in der Ukraine, im Nordkaukasus und in Kasachstan – bis zu Sieben Millionen Menschen tötete (186). Das „eigentliche Ziel der totalitären Ideologie“ jedoch, schrieb Hannah Arendt, „ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz und nicht die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst, die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozeß entgegenstellt“.17 Es folgte daher zweitens die Kulturrevolution (1927) in der das Gedächtnis der Gesellschaft „geleert“ werden sollte (132 ff.). In der Kulturrevolution ging es um nichts weniger, als einen „neuen“ Menschen zu schaffen, dem die traditionalen Normen nicht mehr orientieren sollten, sondern der sich dem neuen Ordnungsmuster ganz verschreiben, familiäre und religiöse Bindungen von sich abwerfen und zu einem „höheren Bewusstseinszustand“ finden sollte. Dazu mussten in einer Art Feldzug die alten geistigen und religiösen Eliten eliminiert werden. „Zum Staatsbildungsprozeß gehörte also die Standardisierung von Ritualen und Gewohnheiten.“ (144) Die Diktatur des Schreckens erreichte ihren Kulminationspunkt drittens bei den Säuberungsprozessen, die zum Ziel hatten die Partei zu homogenisieren und sie von vermeintlichen Widersachern zu entledigen. In einer detailreichen Darstellung in Kapitel V (Diktatur des Schreckens) skizziert Baberowski, wie die Säuberung der Partei und der Kampf gegen angebliche Schädlinge in Staat und Armee mit äußerster Brutalität und Rücksichtslosigkeit ins Werk gesetzt wurden. Im Zuge der großen Säuberung des Partei- und Staatsapparates wurde die Partei der Bolschewiki in einer Art „Blutaustausch“18 weitgehend ausgelöscht und neu positioniert. Allein in den beiden Jahren 1937/1938 wurden 3 Millionen Menschen verhaftet, wovon mindesten eine Million gewaltsam zu Tode kam. Der Terror blieb aber nicht auf die Partei beschränkt: „er wütete überall: in den Staatsbehörden, in Schulen und Universitäten, in Wirtschaftsbetrieben und Künstlerverbänden“ (304). Menschen wurden jetzt nach Quoten umgebracht. Dazu gehörte nicht zuletzt die Auslöschung ganzer Sippen, die Stalin zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution in einem Trinkspruch ankündigte: „Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe – bis zum Ende!“ (316). In einem vierten Schritt schließlich – das zeigt das Kapitel VI (Kriege) – richtete sich Stalins Gewaltherrschaft auf neue eroberte Territorien, wie den östlichen Teil von Polen, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen (369 ff.) und schreckte schließlich auch nicht davor zurück, in den Kriegsjahren 1941 – 1945, die eigenen russischen Soldaten durch rigide militäri17 Hannah Arendt (1995), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 4. Aufl., München, S. 701. 18 Gerd Koenen (1998), Utopie der Säuberung, Berlin, S. 225.
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sche Befehle zu verschleißen und ins Verderben zu schicken. Fast neun Millionen sowjetische Soldaten kamen zwischen Juni 1941 und Mai 1945 auf dem Schlachtfeld um (436). Nachdem der Hitler-Stalin-Pakt (1939) der Sowjetunion garantierte, die im Ersten Weltkrieg verlorenen Territorien des russischen Kaiserreichs wiederzugewinnen, wurde Ostpolen, Litauen, Estland und Lettland in die UDSSR eingegliedert. Bald schon wurden die „Bloodlands“ im Osten Europas zu Experimentierfeldern von Stalins Terror (und von Hitlers Vernichtungspolitik). Hauptziele waren für die Sowjetunion die Eliminierung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner des russischen Regimes, die Einschüchterung der neuen Bevölkerung, die Durchsetzung der Zwangskollektivierung, sowie die Russifizierung der besetzten Regionen. Nach Schätzungen Timothy Snyders sind in Polen, Ukraine, Weißrussland, Litauen, Lettland und Estland von Sowjets und Deutschen zwischen den Jahren 1933 und 1945 insgesamt über vierzehn Millionen Menschen Massenmordkampagnen zum Opfer gefallen.19 Diese Terrorherrschaft, so legt Baberowski im letzten Kapitel VII (Stalins Erben) nahe, endete erst mit der Auflösung der Herrschaft Stalins. Das geschah am 5. März 1953. Es war der Tag, an dem Stalin starb und mit ihm sein Schreckensregime. V. Zur Diskussion von Baberowskis Erklärungsmustern Es ist unvermeidlich, dass eine ambitionierte Detailanalyse des Stalinismus wie die Baberowskis, die die Darstellung sehr direkt auf die Person Stalins fokussiert, kritischen Einwänden eine breite Fläche liefert.20 Auf einige wenige dieser neuralgischen Punkte möchte ich im Abschluss dieses Textes zu sprechen kommen. (1) Eine zentrale Schwierigkeit liegt gewiss darin, dass Baberowski den Stalinismus als personalisierte Gewaltherrschaft fasst. Stalin erscheint dabei als absolutes Machtzentrum des Terrors. „Der Schlüssel zur Erklärung der exzessiven Gewalt ist also der Diktator selbst.“ (30) Ohne ihn, so betont Baberowski, hätte der Stalinismus als totalitäres System nicht existieren können. Alles drehte sich um die Entscheidungsmacht Stalins, der „Herr über Leben und Tod“ gewesen ist (11, 257). Stalin war ein „Psychopath“ und „Gewalttäter aus Leidenschaft“ (124). „Irgendwann rechtfertigte sich die Gewalt für Stalin von selbst, weil sie ein Garant für seine Alleinherrschaft war.“ (363) Mit dem Tod des Diktators am 5. März 1953 wurde das abrupte Ende der Diktatur und der Gewalt eingeläutet (30). Der Erklärungswert einer solchen personenzentrierten Interpretation greift freilich ab dem Moment zu kurz, an dem man andere kommunistische Parteien in den Blick nimmt – ob in China (Mao), Jugoslawien (Tito) oder Kambodscha (Pol Pot) –, die allesamt durch ähnliche exzesshaft entgleiste Terrorkampagnen ihre Herrschaft ins Werk setzten.21 Eine Reduktion des Stalinismus auf die Person Stalins missachtet zudem die Traditionslinien der Gewalt, welche sowohl vor Stalin als auch weiter bei Chruschtschow und Breschnew vorherrschend gewesen sind. Auch wenn man hier sicherlich keine Vergleiche zum Terror Stalins ziehen kann, ist auch heute davon auszugehen, „daß man Russland am besten versteht, wenn man nicht an einen Staat mit objektiven Regeln und Gesetzen denkt, sondern an ein Netzwerk persönlicher Beziehungen“.22 Amtsmissbrauch, die partielle Privatisierung des 19
Timothy Snyder (2010), Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München. Zu einem ersten Eindruck siehe die Sammlung verschiedener kritischer Aufsätze zu Baberowskis Buch in der Zeitschrift Osteuropa, 62 Jg., 4/2012, S. 81 – 140. 21 Gerd Koenen (2012), Weil es Stalin gefiel?, in: Osteuropa, 62 Jg., 4/2012, S. 81 – 88, hier S. 87. 22 Florian Hassel (2003), Vorwort, in: ders., (Hg.), Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien, Frankfurt/M., S. 7 – 14, hier S. 11. 20
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Rechts durch gekaufte Amtsträger sowie organisierte kriminelle Banden kennzeichnen auch heute das systemische Strukturversagen der politischen Macht und seiner Eliten.23 (2) Wir rühren hier an den Kern der Sache, der zugleich der Mittelpunkt der zweiten Frage ist. Lässt sich im Rahmen von Baberowskis Konzept sinnvoll das Verhältnis von Regime und Gesellschaft fassen? Gegen die Argumentation Baberowskis hat die „revisionistische“ Schule bereits vor Jahren eingewandt, dass der Stalinismus ohne die Mittäterschaft der vielen kleinen Nutznießer in Partei, Staat und Gesellschaft, auf unterer, mittlerer und höchster Führungsebene nicht existieren konnte. Hervorzuheben sind an dieser Stelle die Arbeiten von Sheila Fitzpatrick zur sozialen Mobilität einer neuen russischen Elite.24 Fitzpatrick argumentiert, dass es Stalin um die Kreation einer neuen, kommunistischen Klasse und funktionalen Führungsschicht ging. Er konnte somit nicht nur, wie Baberowski suggeriert, auf die traditionalen, „mafiotischen“ Rekrutierungs- und Loyalitätsstrukturen rekurrieren, sondern habe Anfang der 1930er Jahre verstärkt auf eine neue, ehrgeizige multifunktionale Aufsteigerelite gesetzt, die ihre Chance darin sahen, sich vom armen, ungebildeten Arbeiter zum studierten und anerkannten Ingenieur oder Mitarbeiter des Volkskommissariats zu erheben. Der Stalinismus von oben sei gleichsam durch diese kompetent-loyale Trägerschicht „von unten“ flankiert worden. Baberowskis Fokussierung auf Stalin könne nicht erklären, wie der Terror in die Gesellschaft diffundieren konnte. Es bleibe ungeklärt wie Gewalt und sozialer Aufstieg und Erfolg – zumindest für eine post-stalinistische Nomenklatura – koexistieren konnten.25 Bei Baberowski bleiben diese sozialgeschichtlichen Hintergründe und folgenschwere innerkommunistische Prozesse unanalysiert. Die zentrale Frage lautete also: Wie gelang es der stalinistischen Gewaltherrschaft die gesamte sowjetische Gesellschaft in ihren Bann zu ziehen? Wie konnte Stalin die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen besetzen? Von Stephen Kotkin ist die Interpretation des Stalinismus als Zivilisation zur Disposition gestellt worden. Kotkin betonte, dass man den Stalinismus auch auch als ein „set of values, a social identity, a way of life“ verstehen müsse. 26 Die neuen Menschen mussten, wie Kotkin es ausdrückt, „speak Bolshevik“, so dass sich nach einer Weile eine eigene russische „Subjektivität“ herauspräpariert habe, die schließlich das ganze Bewusstsein dominierte.27 Vor dieser Folie konstituierte der Stalinismus auch einen eigenen kulturellen Habitus, symbolische Wahrnehmungraster und kulturelle Normvorstellungen, welche das Verhalten der Untertanen steuern und die Reaktionen der Akteure auf weitestgehend übereinstimmende Weise instruieren sollte. Nun ist Baberowski die revisionistische/sozialkulturelle Argumentation durchaus bekannt. Er bezweifelt zwar nicht, dass zahlreiche regionale Parteiführer, Aufsteiger und Profiteure „dem Führer entgegenarbeiteten“ (18). Am „Stalinismus von unten“ kritisiert er jedoch, dass dieser nicht erklären könne, warum sich die aufsteigenden Untertanen selbst terrorisierten. Durch den Revisionismus verschwimme „der Charakter der stalinistischen Diktatur (…) bis 23 Peter W. Schulze (2012), Genesis und Perspektiven des politischen Systems in Russland, in: Gernot Erler/Peter W. Schulze (Hg.), Die Europäisierung Russlands, Frankfurt/M./New York. S. 33 – 114, hier S. 82. 24 Z.B. Sheila Fitzpatrick (1992), The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia. Cornell University Press. 25 Benno Ennker (2012), Ohne Ideologie, ohne Staat, ohne Alternative, in: Osteuropa, 62 Jg., 4/2012, S. 103 – 114, hier S. 108. 26 Stephen Kotkin (1997), Magnetic Mountain: Stalinism as a Civilization, University of California Press, S. 22. 27 Stephen Kotkin (1997), Magnetic Mountain: Stalinism as a Civilization, University of California Press, S. 187 – 237.
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zur Unkenntlichkeit“ (18). Für ihn gilt: Stalin war der Urheber und Regisseur des millionenfachen Massenmordes. Stalin schaffte es Furcht und Schrecken zu verbreiten und die Gesellschaft in ständige Erregung zu versetzen. Die Untergebenen reagierten auf die Verhaltensweisen des Despoten mit vorauseilendem Gehorsam. Schließlich habe die Komplizenschaft in der blutigen Gewalt des Massenterrors, aus den regionalen Eliten Kollaborateure gemacht. Das russische Volk hätte sich eingerichtet „in einer öffentlichen Welt der Lüge und einer privaten Welt der Wahrheit zu leben“ (213). So problematisch Baberowskis Perspektive erscheinen mag: Forschungsarbeiten, die die heute zugänglichen Unterlagen des Politbüros berücksichtigen, bestätigen die Vermutung, „daß die Massenrepression sehr wohl das Ergebnis einer von der höchsten Parteiinstanz, dem Politbüro, und insbesondere von Stalin getroffenen Entscheidung gewesen ist“.28 Stalin war der Initiator des Terrors. Es gibt tatsächlich keine relevante Entscheidung, die an Stalin vorüberging.29 Neuere Studien, wie etwa die Arbeit von Orlando Figes, unterfüttern zudem Baberowskis Thesen mikrohistorisch, indem sie einen unmittelbaren Einblick in die Innenwelt gewöhnlicher Sowjetbürger gewähren. Figes Studie zeigt, dass der Stalinismus eine Atmosphäre totaler Willkür und Unsicherheit erzeugt habe, der das gesamte russische Volk in ein Heer von „Flüsterern“ verwandelte. Insbesondere jegliche basale Form einer alltäglichen Vertrauenspraxis war zerrüttet, so dass sich die Sowjetbürger voneinander abkapselten: „Viele haben gelernt, sich gänzlich still zu verhalten (…) als lägen sie im Grab.“30 (3) Ein gravierendes Problem Baberowskis besteht nach Meinung einiger Kritiker darin, dass er die Rolle von Ideologien und Institutionen nur sehr vage skizziere. Die Verrohung der Gesellschaft sei, wie Baberowski behauptet, von Kriminellen, Psychopathen vorangetrieben worden, die Ideologie sei dabei völlig nachrangig gewesen. „Ideen töten nicht.“ (362) Machttechniken seien eher durch Praktiken der Mafia oder kaukasischer Räuberbanden bestimmt worden, als durch das Parteiprogramm der KPdSU. „Die Gewalt brachte sich nicht aus Ideen, sondern aus Situationen hervor.“ (131) Es gab in der Sowjetunion auch keine Institutionen (Bürokratie, Rechtsstaat), die die staatlichen Regelwerke hätten stützen können oder „gegen die sich die Gewaltorgie hätte durchsetzen müssen“ (28). Es gab in der Sowjetunion „keinen starken Staat und keine Kontrolle“ (23). Der Stalinismus als Regierungsform operierte letztendlich chaotisch und in ständiger Anspannung. Er sei unterinstitutionalisiert und am Modell des Ausnahmezustands (363) orientiert gewesen. Despotie und nicht bürokratische Herrschaft war das Kennzeichen des Regimes. Dieser Vorschlag lässt sich nicht problemlos mit der üblichen Argumentation vereinbaren, dass der Stalinismus als Teil eines „monströsen Staatsbildungsprozesses“ zu betrachten sei und grundsätzlich einer Politik des „social engineering“ folgte.31 Die systematische Frage, die sich hier freilich stellt lautet, welche theoretische Konstruktion des Staatsbegriffs man eigentlich benutzt. Es liegt durchaus in der Konsequenz seines thematischen Hauptinteresses, dass sich Baberowski von einem Staatsbegriff, wie ihn Weber etwa idealtypisch für Europa festgelegt hat, distanziert. Die Zuspitzung der Diskussion durch Baberow28 Stéphane Courtois u. a. (1998), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich, S. 208. 29 Oleg Chlewnjuk (1998), Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg. 30 Orlando Figes (2008), Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, 3. Aufl., Berlin, S. 379. 31 Benno Ennker (2012), Ohne Ideologie, ohne Staat, ohne Alternative, in: Osteuropa, 62 Jg., 4/2012, S. 103 – 114, hier S. 110.
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ski auf diesen Aspekt macht eine Stärke des Textes aus. Allzu sehr leidet die Modernisierungsforschung an der Unterstellung, dass Modernisierung politische und regionale Unterschiede zwischen den Weltregionen einebne bzw. dass sich europäische Ordnungsstrukturen – wie etwa der demokratische Nationalstaat – weltweit durchsetzen. Sie vergisst jedoch, – auf diese hermeneutische Gefahrenstelle haben in letzter Zeit viele Autoren hingewiesen –, dass im kulturellen Übersetzungsprozess ursprüngliche Konzepte verändert werden. Evident ist, „dass Konzepte, Deutungen oder Aneignungsweisen niemals – auch nicht im Zeichen von Globalisierung – nur „diffundierten“, sondern einzelne Menschen, Organisationen oder Netzwerke Transfers und Transformationen immer auch aktiv mitgestaltet und in ihrer Richtung beeinflusst haben“.32 Was die russische Staatsgeschichte demonstriere, so schreibt auch Stefan Plaggenborg, „dass Staaten entstehen und Bürokratien ausbilden, ohne auch nur im geringsten den Weberschen Kriterien der Rationalität und Effizienz zu entsprechen“.33 Nicht nur wurde in der Sowjetunion das Recht suspendiert, so dass politische Gewalt in der Maske des Rechts eingesetzt wurde. Auch der Staat wurde von den Bolschewiki suspendiert. Die Teilbereiche Staat und Partei gingen fließend ineinander über. Nach der Revolution kristallisierte sich in der Sowjetunion weder ein Staat – im Sinne einer Ordnungsmacht – noch ein Rechtssystem heraus. Mit anderen Worten: Der Staat war nicht der gewöhnliche demokratische Staat, wie man ihn häufig in der Modernisierungstheorie vorfindet, bei deren Darstellung die Berührungszonen zwischen Recht und Politik weitgehend beschränkt sind. Er war tatsächlich eine militärische Maschine und „das Resultat von Organisation in einer kriegerischen Ausnahmesituation“.34 Schon im Jahre 1978 hatte Sebastian Haffner verwandte Einsichten in seiner Schrift Anmerkungen zu Hitler entwickelt, als er die These aufstellte, dass „absolute Herrschaft nicht in einem intakten Staatswesen möglich ist, sondern nur in einem gebändigten Chaos“.35 Auch Karl Schlögel hat darauf verwiesen, dass der Stalinismus allzu häufig ein entfesseltes, politisches Chaos gewesen sei, sozusagen ein kontinuierlicher Extremzustand.36 In diesem Sinne dürfte es für die komparative Makrosoziologie ein Gewinn sein, theoretische und vergleichende Organisations- und Institutionenanalysen mit Baberowskis Theorem von den „staatsfernen Räumen“ zusammenzuführen. Ein nützlicher theoretischer Anfangshinweis auf dem Weg, der hier beschritten werden müsste, ist in den Arbeiten Peter Waldmanns37, Trutz von Trothas38 und Georg Klutes 39 zu finden, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass die Institutionalisierung des Staates in weiten Teilen der außerwestlichen Welt, am Voraussetzungsreichtum moderner Staatlichkeit gescheitert ist. 32
Simone Lässig (2012), Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 189 – 216, hier S. 207. 33 Stefan Plaggenborg (2006), Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/M./ New York, S. 198. 34 Ebd., S. 184. 35 Sebastian Haffner (2001), Anmerkungen zu Hitler, 22. Aufl., Frankfurt/M., S. 54. 36 Karl Schlögel (2008), Terror und Traum. Moskau 1937, München S. 29. 37 Peter Waldmann (2002), Der anomische Staat. Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika, Opladen. 38 Vgl. z. B. Trutz von Trotha (2000), Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit. Leviathan, 2, S. 253 – 279; Trutz von Trotha (1994): Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des ,Schutzgebietes Togo‘, Tübingen. 39 Alice Bellagamba/Georg Klute (2009), Beside the State. Emergent Powers in Contemporary Africa, Köln.
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Nicht-Staatlichkeit sei der „historische Normalfall“40 gewesen. Für die Autoren scheint ausgemacht, dass die Expansion des „Staates“ ohnehin ein komplexerer und differenzierter Prozess war, als ihn die Modernisierungstheorie – in der Grundfigur – häufig darstellt. Eines steht auf jedem Fall fest: „Tatsächlich ist es längst Zeit, sich von dem Gedanken zu verabschieden, die Geschichte Russlands könne angemessen in den Begriffen von Moderne und Fortschrittstheorie erfasst werden.“41Das Buch von Baberowski kann auch dazu anregen, die notwendige Debatte darüber zu führen. Markus Holzinger
40 Trutz von Trotha (2000), Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit. Leviathan, 2, S. 253 – 279; hier S. 262 f. 41 So Susanne Schattenberg (2008), Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M./New York, S. 33 f.
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Friedrich der Große, Potsdamer Ausgabe, Werke Bd. VII: Werke des Philosophen von Sanssouci. Oden, Episteln, Die Kriegskunst. Aus dem Französischen übersetzt v. Hans W. Schumacher, hrsg v. Jürgen Overhoff/Vanessa de Senarclens, Akademie Verlag, Berlin 2012, 648 Seiten Seit dem Jahr 2007 erscheinen die Werke Friedrichs des Großen in einer neuen zweisprachigen und kommentierten Edition (siehe hierzu und zu den früheren Ausgaben die Bemerkungen anlässlich der Besprechung des zuerst erschienenen Bandes VI in: Jahrbuch Politisches Denken 2008, S. 344 – 348), als „Potsdamer Ausgabe“ nunmehr herausgegeben von Gérard Laudin, Günther Lottes und Brunhilde Wehinger. Der als zweiter der neuen Ausgabe erschienene Band VII erhält die von Friedrich erstmals 1749 zusammengestellten und in sehr kleiner Auflage für seinen Freundeskreis gedruckten „Œuvres du Philosophe de Sans-Souci“, eine Sammlung seiner französischen Gedichte; insgesamt handelt es sich um zehn Oden, zwanzig „Epistel“, jeweils an eine bestimmte Persönlichkeit seines näheren oder weiteren Umfeldes gerichtet, und zusätzlich um ein längeres, im zweisprachigen Druck immerhin fast einhundert Seiten umfassendes Lehrgedicht der Kriegskunst („L’art de la guerre. Poème“) in sechs Gesängen. Die Überlieferungsgeschichte der Sammlung ist durchaus kompliziert und hängt aufs engste nicht nur mit den Schicksalen ihres Verfassers, sondern auch mit der politischen Entwicklung seit Ende der 1740er Jahre zusammen. Drei – strengstens limitierte – Ausgaben der Urfassung machen die für den VII. Band zuständigen Herausgeber Jürgen Overhoff und Vanessa de Senarclens in ihrer Einleitung (S. 11 – 24) namhaft; sie erschienen in den Jahren 1749, 1750 und 1752, jeweils in einem Band; die letzte – sie wurde in den Jahren 1750/51 von Voltaire auf Geheiß Friedrichs gründlich korrigiert – in einer Gesamtauflage von genau 44 Exemplaren! Fremden und vor allem Ausländern (eben mit Ausnahme Voltaires und einiger weniger französischer „Freunde“ und Günstlinge) blieb die Einsicht in diese – in der Tat brisanten – Texte verwehrt; Friedrich hatte im Berliner Schloss sogar eine kleine Druckerei einrichten lassen, die seine Bücher druckte. Die Verse des Königs boten wenigstens in einigen Passagen, worauf die Herausgeber hinweisen, tatsächlich politisch stark „kompromittierende Angriffsflächen“ (ebenda, S. 13), denn der dichtende Monarch hatte hier aus seinen Ansichten keinerlei Hehl gemacht: So äußerte er sich etwa sehr abfällig über die Russen als „barbarisches“ und wildes Volk oder übte Kritik am britischen König Georg II., der immerhin damals ein regierender Monarch und zugleich sein Onkel war. In einer weiteren „Epistel“ verspottete der royale Freidenker den christlichen Glauben (1767 ließ Papst Clemens XIII. das Buch übrigens auf den Index der von der katholischen Kirche verbotenen Bücher setzen!). Als 1760, mitten im Siebenjährigen Krieg, in Paris plötzlich und unerwartet ein Raubdruck der eigentlich streng sekretierten und limitierten „Œuvres“ erschien, war dies demnach eine hochpolitische und für Friedrich keineswegs ungefährliche Angelegenheit. Er ließ daher noch im gleichen Jahr eine neue Ausgabe herstellen, um der politischen „Fälschung“ der Franzosen eine neue, vorgeblich die „eigentliche“, d. h. unverfälschte Fassung entgegen zu stellen, nun unter einem neuen, durchaus harmloseren Titel „Poésies diverses“, die zugleich inhaltlich revidiert war: Die politisch bedenklichen bis gefährlichen Texte wurden herausgenommen, dafür drei neue Gedichte hinzugefügt, darunter nicht zufällig eine „Ode an die Verleumdung“ („Ode á la calomnie“). Ein weiteres der neu hinzugefügten Gedichte („Stances. Paraphrases de l’Ecclésiaste“) war offensichtlich deutlich religiös inspiriert; es endet mit der Aufforderung an den Leser (ebenda, S. 526 f.), den „ewige[n] Baumeister dieser weiten Welt“ („de ce vaste univers l’éternel architecte“), den Herrn der Natur und Schöpfer der Elemente mit dem Herzen zu verehren, denn „Rächer ist er der Waisen, er bestraft die Bösen“ („Vengeur de l’ophelin, il punit les méchants“). – Mit guten Gründen haben sich die Heraus-
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geber dafür entschieden, die Texte in der von Voltaire korrigierten, aber noch nicht politisch bereinigten Fassung von 1752 abzudrucken; die Zusätze der „Poésies diverses“ von 1760 werden in einem Appendix (ebenda, S. 503 – 527) ebenfalls mit aufgenommen. Die, wie man heute weiß, tatsächlich auf Betreiben der französischen Regierung im Jahr 1760 heimlich hergestellte Raubdruckausgabe der „Œuvres“ (mit fingiertem Erscheinungsort „Potzdam“!) stellte natürlich eine Sensation dar, denn nun war es endlich möglich, die Gerüchte, die bereits seit Jahren über die geheimen französischen Gedichte des Königs von Preußen kursierten, anhand der Originaltexte zu überprüfen. Auch die von Friedrich ebenfalls noch 1760 sogleich veranlasste „entschärfte“ Fassung, die „Poésies diverses“, wurde, wie im 18. Jahrhundert allgemein üblich, mehrfach nachgedruckt – spätestens seit den einschlägigen Forschungen von Darnton ist das Ausmaß dieser Raubdruckerei bestens bekannt. Das Literaturverzeichnis des Bandes VII verzeichnet (S. 627) nur die beiden 1760 mit den Erscheinungsorten „Potsdam“ und „Berlin“ versehenen, von Friedrich veranlassten Ausgaben der „Poésies“. Es existieren aber noch weitere: So erschien, mit der augenscheinlich fingierten Ortsangabe „a Sans-Souci“, gleichfalls noch im Jahr 1760 eine zweibändige, vermutlich ebenfalls in Frankreich hergestellte, die Varianten zwischen der älteren und der neuen „entschärften“ Fassung bereits sorgfältig verzeichnende und einander gegenüberstellende Ausgabe mit dem Titel „Poésies du Philosophe de Sans-Souci. Nouvelle Édition Conforme à celles avouées par l’Auteur, & plus ample d’un tiers; avec des Variantes très-curieuses qui ne se trouvent dans aucune des Éditions publiées jusqu’à present” (tome premier: xij, 284 + 79 Seiten; tome second: iv, 368 Seiten; „L’art de la guerre“ ist im ersten Band separat paginiert. Ein im Jahr 2006 bei einem Pariser Antiquar erworbenes Exemplar dieser Ausgabe befindet sich im Besitz des Rezensenten). In Paris war man also offensichtlich darum bemüht, Friedrichs Manipulationen seinerseits erneut propagandistisch auszumünzen! In formaler Hinsicht befand sich Friedrichs philosophische Poesie bereits nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit; der dichtende König orientierte sich in der von ihm zumeist gewählten, gelegentlich recht schwerfällig wirkenden dichterischen Form des Alexandriners, auch des Dekameters, weitgehend am poetischen Normenkatalog der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts, des von Friedrichs Freund Voltaire so gefeierten „Jahrhunderts Ludwigs XIV.“. Dieser traditionellen Form korrespondiert freilich ein höchst aktueller Inhalt, denn Friedrich befand sich geistig auf der Höhe seiner Zeit, und die von ihm in seinen Dichtungen behandelten Themen, deren Darstellung und Wertung, entsprachen den Normen und Gepflogenheiten des philosophischen und politischen Diskurses der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Texte sind durchzogen von Aphorismen und Maximen, enthalten aber auch kurze Fabeln, Märchen, Dialoge. Die Themen sind vorgegeben durch die allgemeinen Debatten der Hoch- und Spätaufklärung: Tugend, Freundschaft, Standhaftigkeit, Mut und Ehre, Glaube und Unglaube, Denkfreiheit und Vernunft, Nutzen von Kunst und Wissenschaft, Freiheit oder Unfreiheit des Willens, Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der Seele, Differenzen zwischen Empirismus und Rationalismus, Stoizismus und Epikureismus – und anderes mehr. Unpolitische Sujets (etwa Reflexionen über den Nutzen des Reisens im Jugendalter) wechseln ab mit hochpolitischen (etwa in „Les troubles du Nord“ mit den oben erwähnten stark russlandkritischen Passagen). Eduard Spranger hat in seiner in der Friedrichforschung bekannten Abhandlung über den „Philosophen von Sanssouci“ (1942 und 1962 erschienen), die erstmals die „Œuvres“ eingehend untersuchte, sehr mit Recht darauf hingewiesen, dass die Frage „Wie weit sind die philosophischen Gedichte des Königs ein treuer und vollwertiger Ausdruck seines Innern?“ nur mit großer Vorsicht beantwortet werden könne, denn man müsse deutlich zwischen der „Privatseele“ Friedrichs „und seiner politischen Seele“ unterscheiden (Ausgabe von 1962, S. 12). Dem
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folgen die Herausgeber des Bandes, indem sie zu Recht feststellen, dass der Monarch hier als „Politiker“ und „philosophe“ schreibt, wenn er seine aufgeklärten Ideen verkündet und mit seiner Dichtung „Wissen vermitteln, Aberglauben vertreiben, falsche Ideengebäude zerstören und mit Blick auf die alltägliche Lebenspraxis von Nutzen sein“ möchte (Einleitung, S. 15). Dass er in seiner, mit Spranger zu sprechen, „privaten Seele“ wesentlich pessimistischere – man könnte auch sagen: realistischere – Gedanken über die Menschen, ihr Wesen, ihre Natur und ihre Eigenschaften hegte, wofür es zahllose Belege gibt, kommt in den Gedichten nur sehr gelegentlich und indirekt zum Ausdruck. – Immerhin bieten sie einen wichtigen, ja zentralen Einblick in zumindest eine nicht unbedeutende Facette der deutsch-französischen Aufklärung und ebenfalls in das politische Denken eines Königs, der trotz aller Kritik, die man an ihm üben kann (und gelegentlich sogar muss), immer noch mit einigem Recht als „der Große“ bezeichnet wird. Hans-Christof Kraus
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Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Akademie Verlag, Berlin 2012, 303 Seiten Stefan Breuer ist nicht nur mit gediegenen Untersuchungen zu Werk und Wirkung Max Webers und Stefan Georges hervorgetreten, sondern gilt zugleich als sehr gelehrter Kenner des umstrittenen Komplexes „Konservative Revolution“ wie auch des unerschöpflichen Themas Carl Schmitt. Selbst wer sich den Thesen und Deutungen des Autors nicht in jedem Fall anschließen mag (so hat etwa die Empfehlung Breuers, den in der Tat unscharfen und problematischen Begriff der „Konservativen Revolution“ durch den des „Neuen Nationalismus“ abzulösen, sich nicht durchsetzen können), wird in jedem Fall durch die Lektüre seiner Untersuchungen reich belehrt – und gelegentlich auch zur kritischen, aber stets geistig produktiven Auseinandersetzung herausgefordert. Sympathisch an Breuers Vorgehen erscheint zudem die Fähigkeit zur unzweideutigen Selbstkorrektur früherer Auffassungen (in diesem Buch etwa auf S. 50, Anm. 30 zu finden) – wer gibt schon gerne eigene Fehler zu? Und ebenso bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass sich Breuer, durchaus im Gegensatz den meisten anderen Angehörigen der Soziologenzunft, keineswegs scheut, ins Archiv zu gehen, um sich dort nicht nur die Finger zu beschmutzen, sondern auch neue Entdeckungen zu machen. Das Buch behandelt die „Intellektuellenpolitik“ Carl Schmitts und seines Umfeldes, also die (so Breuers Definition) „Versuche Schmitts und einiger seiner Schüler, außerhalb des Feldes, in dem sie über professionelle Expertise verfügten – dem universitären bzw. wissenschaftlichen Feld – zu politischem Einfluß und Macht bzw. Herrschaft zu gelangen, indem sie als Organisatoren politischer Öffentlichkeit in der zeitgenössischen Publizistik auftraten, bisweilen aber auch Funktionen politischer Beratung in Expertengremien wahrnahmen“ (S. 9). Die ausschließlich texthermeneutisch bestimmte Methode tritt hier notwendigerweise in den Hintergrund, weil sie angesichts eines zeitlich ausgedehnten, inhaltlich breitgefächerten schriftstellerischen Lebenswerkes gerade dessen Brüche, Revisionen, Neuorientierungen und Akzentverlagerungen nicht angemessen in den Griff bekommen kann; an ihre Stelle muss in diesem Fall die historische, d. h. hier nicht zuletzt kontextbezogene (man könnte mit Schmitt auch sagen: lagebezogene) Analyse treten. Das ist bereits ihm selbst bewusst gewesen; die ausgeprägte Kontextabhängigkeit vieler eigener Schriften hat er stets betont. Die neun Kapitel, die der Einleitung folgen, thematisieren denn auch jeweils einen dieser Kontexte des Schmittschen Werkes in zumeist ausgesprochen produktiver, vorzüglich recherchierter und fast stets überzeugend interpretierender Weise. Die Münchner Erfahrungen der Jahre 1915 bis 1921 stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels, damit also Carl Schmitts merkwürdige, aber gut nachzuzeichnende Wandlung vom nach Orientierung suchenden Neomystiker und Ästhetizisten, Verehrer und Propheten Theodor Däublers zum Exponenten einer „anderen Moderne“ im Zeichen der Tradition, der Religion, einer antiromantischen Ordnungsidee und einer neuen Hinwendung zu Kirche und Staat als „haltenden Mächten“ im drohenden Chaos. Direkt hieran knüpft auch die zweite Studie zu Schmitts Sieyes- Rezeption an, in der Breuer zu zeigen vermag, dass Schmitt zu den Ahnherrn einer, wie man es nennen könnte, „anderen Sieyes-Linie“ gehört, einer rechten nämlich; er rezipiert den frühen Theoretiker der Französischen Revolution sozusagen konservativ, indem er dessen holistisch-territorialen Nationsbegriff ebenso – umdeutend – aufnimmt wie er die These von der Nichtexistenz eines vor- oder außerstaatlichen Rechts in Teilen des modernen Naturrechts übernimmt und sich aneignet. Indem er nach 1918 gerade nicht am Denken einer vergangenen Gestalt des Weltgeistes (repräsentiert etwa durch de Maistre und die Traditionalisten des 19. Jahrhunderts) festhielt, sondern Denker der „linken“, also revolutionären Tradition selektiv rezipierte und „rechts“ interpretierte, vermochte Schmitt am politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit intensiv teilzunehmen
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und auch bei Andersdenkenden Gehör und Beachtung zu finden. Nebenbei bemerkt: Diese spezifische Art der Rezeption unterstreicht im Grunde noch einmal die von Breuer eigentlich abgelehnte, schon 1950 von Armin Mohler getroffene Zuordnung Schmitts zum Ideenkreis der Konservativen Revolution. Ein zentraler Abschnitt des Buches ist dem seit längerem bereits viel diskutierten Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Max Weber gewidmet; bekanntlich saß der junge Jurist 1919 im Dozentenseminar des großen Ökonomen und Soziologen. Breuer weist die ältere Lesart zurück, wonach Weber „zu den ,Ahnherrn‘ von Schmitts Denken gehörte oder gar derjenige gewesen sei, der vielleicht den tiefgreifendsten Einfluß auf ihn gehabt habe“ (S. 82), wenngleich fraglos Ähnlichkeiten in ihrem Denken – etwa die nationalistische Instrumentalisierung der Demokratie und natürlich die schroffe Ablehnung der Versailler Nachkriegsordnung – zu finden seien. Die Differenzen kann Breuer vor allem am unterschiedlichen Rechts- und Legitimitätsverständnis beider anschaulich machen; Schmitts Trennung von Legitimität und Repräsentation etwa widerspricht Weberschem Denken entschieden. Dafür können andererseits stärkere Einflüsse Ferdinand Tönnies’ auf Schmitt nachgewiesen werden. Weber habe zwar, so Breuer, mit dem Begriff der „plebiszitären Führerdemokratie“ einen herrschaftssoziologischen Typus bereitgestellt, mit dessen Hilfe bonapartistische oder sonstige autoritäre und faschistische Regime analysiert werden könnten, doch: „Eine Blaupause für die autoritäre Transformation der Weimarer Verfassung hat er damit nicht geliefert. Dafür sind andere, übrigens nicht nur Carl Schmitt, verantwortlich zu machen“ (S. 109). Ein weiteres Kapitel, überschrieben „Den Adler des Zeus nähren“, rekonstruiert die überaus komplizierten Beziehungen Schmitts zu einigen marxistischen und sozialistischen Autoren am Ende der Weimarer Republik: Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel und Franz Neumann, von denen einer, Kirchheimer, zu Schmitts engerem Schülerkreis zählte und ein anderer, Fraenkel, nach dem Zweiten Weltkrieg zu den einflussreichsten Politikwissenschaftlern der frühen Bundesrepublik und wichtigsten Analytikern des nationalsozialistischen Herrschaftssystems gehören sollte. Dabei handelt es sich bei näherem Hinsehen im Grunde um eine Geschichte wechselseitiger Missverständnisse, und in diesem Zusammenhang ist Breuers Hinweis wichtig, dass es sich bei Schmitts Demokratieverständnis nicht, wie seine Kritiker von links damals wie später meinten, um ein „vormodernes“, gewissermaßen „absolutistisches“ handelte, sondern dass dieses Verständnis „auf jene von Schmitt selbst so bezeichnete ,andere Hegellinie‘“ bezogen werden muss, „wie sie nicht nur von Dilthey und Freyer, sondern auch von Droysen oder Treitschke repräsentiert wurde, die keine Mühe hatten, beides zusammen zu denken: die Ausdifferenzierung einer auf Privatautonomie gegründeten bürgerlichen Gesellschaft und das alles durchdringende Fluidum eines ,Volksgeistes‘, der von der gebildeten Elite artikuliert wurde“ (S. 133). Im Kapitel „Von der nationalen Demokratie zum totalen Staat“ werden nun jene „konservativen Revolutionäre“ behandelt, die um 1930 den politisch-intellektuellen Gegenpol zu den Kirchheimers, Neumanns und Fraenkels darstellten: Giselher Wirsing, Hans Zehrer sowie Schmitts wohl bedeutendste Schüler Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber. Die bisher im Schmittschen Kontext wenig beachteten, aber durchaus bedeutsamen Autoren Horst Grueneberg und Heinz O. Ziegler, zeitweilig wichtige Gesprächs- und Korrespondenzpartner Schmitts, werden hier ebenfalls mit einbezogen. Es folgen in weiteren Abschnitten Schmitts Beziehungen zu den Autorenkreisen der Zeitschriften „Der Ring“ und „Deutsches Volkstum“, die ebenfalls noch einmal das überaus weitgespannte und trotzdem partiell sehr eng geknüpfte rechtsintellektuelle Beziehungsnetz sichtbar werden lassen, in dem sich Schmitt während der Weimarer Zeit bewegte, freilich ohne bestimmte, partiell in diesen Kreisen noch vertretene nationalkon-
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servativ-protestantische Ideen einiger dem Hohenzollernreich hinterhertrauernder Autoren zu übernehmen. Schmitts junge, weltanschaulich sehr heterogene „Gefolgschaft“ sammelte sich um ihn, wie Breuer nüchtern feststellt, durchaus nicht nur aus Gründen persönlicher Faszination (die gleichwohl gelegentlich sehr stark sein konnte), sondern auch motivier durch – freilich nicht immer berechtigte – Hoffnungen auf Förderung und berufliche Protektion (S. 213). Nicht ganz so erhellend wie diese recht gelungenen Kapitel erscheinen die Schlussabschnitte des Bandes, in denen u. a. noch einmal das Verhältnis zwischen Schmitt und seinem abtrünnigen Schüler Waldemar Gurian nachgezeichnet wird. Das Gleiche gilt für einen kurzen Abschnitt über Oswald Spengler und Carl Schmitt. Der Autor des „Untergangs des Abendlandes“ verwendete in der Tat zwar gelegentlich ein ähnliches Vokabular wie der späte Schmitt (erinnert sei an Begriffe wie „Raumrevolution“ und „planetarisches Denken“ usw.), meinte damit im Rahmen seiner universalhistorisch-organischen Kulturzyklentheorie jedoch etwas ganz anderes als Schmitt. – An bestimmten Stellen des Buches könnten, dies bleibt abschließend zu sagen, einzelne politisch-historische Zusammenhänge noch klarer rekonstruiert und präziser aufgearbeitet werden: so wäre im Kontext der Debatten um neue Weltordnungsideen und Großraumkonzepte an die wissenschaftlich inzwischen vorzüglich erforschten „Weltreichslehren“ um und nach 1900 zu erinnern (S. Neitzel, Weltmacht oder Untergang? Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000), und bei Erörterung der bekannten Pluralismuskritik Schmitts und seiner durchaus produktiven Auseinandersetzung mit den Thesen etwa eines Harold Laski müsste ebenfalls die seit längerem vorliegende, einschlägige und ertragreiche Forschungsarbeit hierzu (erinnert sei vor allem an: A. M. Birke, Pluralismus und Gewerkschaftsautonomie in England, Stuttgart 1978, dazu wichtig: H. Quaritsch, Zur Entstehung der Theorie des Pluralismus, in: Der Staat 19, 1980, S. 29 – 56) mit einbezogen werden. Gleichwohl hat der Band, dies bleibt ebenfalls festzuhalten, ungemein viel zu bieten: neue Einsichten in Schmittsche Problemstellungen, das Aufzeigen bisher kaum bekannter Rezeptionswege und Deutungslinien, die Neuinterpretation vermeintlich aufgearbeiteter geistesgeschichtlicher Zusammenhänge (z. B. der bekannten „modernen“ Fehldeutung der „Politischen Romantik“ durch Schmitt), endlich auch die erhellende Historisierung von Schmitts strikt politischem Nationsbegriff anhand eines Vergleichs mit Max Weber, Arthur Moeller van den Bruck oder Heinz O. Ziegler (S. 65 f.). Das alles macht das neue Buch Breuers zu einer ausgesprochen lohnenden Lektüre, und zwar nicht nur für Schmittianer, Schmittisten und Schmittologen, sondern eigentlich für alle, die an einer intensiveren Erhellung des politischen Ideenlaboratoriums der 1920er und frühen 1930er Jahre interessiert sind. Hans-Christof Kraus
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Daniel Hildebrand, Rationalisierung durch Kollektivierung. Die Überwindung des Gefangenendilemmas als Code moderner Staatlichkeit, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2011, 579 Seiten Wie wird der moderne Staat nach seiner Entstehung begründet, wie funktioniert er, wie und weshalb existiert er fort? Diese Fragen beantwortet Daniel Hildebrand auf vielschichtige Weise, indem er Ideengeschichte mit der System- und Spieltheorie sowie der Neuen Institutionenökonomik verknüpft. Im Zentrum steht dabei die Annahme von der Rationalisierungsfunktion des Staates in Bezug auf das Gefangenendilemma, wonach die Summe der rationalen Eigeninteressen zu Ergebnissen führt, die für alle Beteiligten weniger günstig sind als jene, die sie durch kooperatives Verhalten erzielen könnten. Indem der Staat Kollektivgüter zur Verfügung stellt und Vertrauen unter den Individuen schafft, öffnet er dort, wo er nicht den optimalen Gesamtnutzen durch die Repression von Partikularinteressen zu erreichen sucht, sondern durch deren Integration in einen gesamtnutzenorientierten Mechanismus, den Weg der erfolgreichen Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Nutzenpräferenzen. Der Autor freilich hütet sich davor, die Rationalisierungsfunktion historisch zu überhöhen: Die „flächendeckende Erfassung durch eine zentrale Gewalt und standardisierte Verhaltensnormierung durch flächendeckende Rechtsgeltung“ sei nämlich zunächst nur auf den Aufstieg ehemaliger Lehns- zu Landesherren und damit einhergehenden Zugeständnissen wie Gegenreaktionen der jeweiligen Monarchen, zumal im Zuge der Glaubensspaltungen, zurückzuführen. Erst indirekt – über den Weg eines „iterationsbedingtem Kooperationsdrucks“ führte dies dazu, „dass Kooperation zu einer für die Akteure auch individualrationalen Verhaltensalternative wird“ oder m.a.W.: Die westliche Zivilisation bemerkte erst nachträglich, „wie zweckmäßig eine als Normalität perpetuierte Pathologie“ war. Den dadurch in Gang gebrachten Rationalisierungsprozess bekräftigte der Staat noch dadurch, dass er seit dem 18. Jahrhundert die Befolgungsbereitschaft der Individuen durch immer mehr Teilhabe erhöhte, was sich schließlich am effektivsten im Rahmen repräsentativ-rechtstaatlicher Demokratiemodelle vollzog. Je differenzierter sich fortan die westlichen Gesellschaften fortentwickelten, desto stärker war der Staat gefordert, koordinierend statt subordinierend Partikularinteressen aufeinander abzustimmen und Interessengruppen zur Kooperation zu bewegen. Parallel dazu erweiterte sich die Staatsbegründung um die Vorstellung von der Notwendigkeit des Staates als Folge von Marktversagen und der entstandene Markt selbst zeigte „eine nicht marktorientierte Lösung als rationellste Methode“ an, Kollektivgüter bereitzustellen, inkl. „soziale Sicherheit“. Zwar konkurriert der Staat bis heute mit der Familie, die „als kleinste und entscheidendste Einheit der Gesellschaft“ ebenfalls nichtmarktfähige Güter bereitzustellen in der Lage ist. Doch sei die „rationalisierende Wirkung“ im Falle von Familien nur für kleine Räume geeignet und dies auch nur, solange eine gewisse Staatlichkeit existiere, die Fehden unterbinden könne. Die Ratio des Staates ebnete schließlich den Weg in den Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der sich inzwischen so sehr ausgestaltet hat, dass, selbst wenn sich „zahlreiche Kollektivgüter effizienter, rationeller und schonender privatwirtschaftlich bereitstellen lassen, in entsprechende Kollektivgüterbereitstellung nicht in jedem Falle gewartet werden könne, bis langwierige und in ihrem Ergebnis offene Privatisierungsprozesse abgeschlossen sind.“ Nehme man also beherzt „das umwölkte Paradies einer staatslosen Gesellschaft“ ins Auge, würden Pfadabhängigkeiten überblendet und, daraus resultierend, Schreckensszenarien ignoriert, die allzu real seien, wie Agonie, Apathie, Depression und Schuldenhysterie. Dennoch zeigen alleine schon die Bedenken, die dem Staat inzwischen gegenübertreten, an, wie sehr er Gefahr läuft, seiner zentralen „Erfolgsgarantien“ verlustig zu gehen, d. h. seine eigene „Einheitlichkeit“ sowie informationel-
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le und regulierende Überlegenheit gegenüber den übrigen gesellschaftlichen Subsystemen nicht mehr überzeugend unter Beweis stellen zu können. In komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaften ist sogar die „Möglichkeit der Zwangsgewalt“, die dem Staate freilich weiterhin zugeeignet ist, nicht mehr als ein stumpfes Schwert. Die Studie legt die tieferen Gründe dieser Krise frei: Gelang es dem Staat tatsächlich, dissoziativen Effekten technisch fortschreitender, kulturell sich individualisierender, funktional sich ausdifferenzierender und international sich verflechtender Gesellschaften entgegenzuwirken, so beförderte dies zugleich immer die Expansion der staatlichen Koordinationsaufgaben und das Fortschreiten des Differenzierungsprozesses selbst. Die Resultate spiegeln sich in einer empirisch messbaren Staatsausdehnung, horrender Staatsverschuldung und dem Zerfasern staatlicher Tätigkeit wieder, zudem in der Tatsache, dass der Staat sich nicht nur, wie eh und je, „alten“ heilsideologischen Bemächtigungsversuchen, sondern zunehmend auch einer libertären Staatsskepsis zu erwehren hat. Letztere reagiert auf besagte Staatsexpansion und auf das, was der Autor als eine „Pathologie des Kreislaufs“ ebendieser Staatsausdehnung bezeichnet, wonach der Staat auf staatlich mitverursachte Probleme so reagiere, dass eine zunehmende Kollektivierung des individuellen Daseins und eine immer stärkere Fremdversorgung der Individuen folgen. Obwohl der Autor seiner Studie Schmitts Zitat voranstellt, wonach die „Epoche der Staatlichkeit“ jetzt zu Ende ginge, hält er gegen die Libertären fest, dass der Staat wenigstens in funktionaler Hinsicht „immer noch diejenige Spezies von Institutionensystem“ beschreibe, „die einen der höchsten Spezialisierungsgrade aufweist, um Gefangenendilemmata zumindest aufzuspüren und zu bewältigen.“ Die durchaus als notwendig erachtete Überwindung übermäßiger Staatsaktivität setze demnach stets besagte Bewältigung, also den Staat selbst, voraus und mithilfe von Privatisierung und „Zivilgesellschaft“ sei gar eine Art Selbstkur möglich. Wollte man hingegen gleich den ganzen Staat hinter sich lassen, wäre dies eben nur um den Preis einer rationalen Regression denkbar. Dies auf eindrückliche Art und Weise begründet zu haben, kann als ein Hauptverdienst der Studie angesehen werden. Libertäre Staatskritik täte demnach gut daran, sich ernsthaft mit dieser überaus wichtigen Arbeit auseinanderzusetzen. Lazaros Miliopoulos
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Niccolò Machiavelli, Der Fürst. Herausgegeben von Otfried Höffe, Akademie Verlag (Klassiker Auslegen, Bd. 50), Berlin 2012, 223 Seiten Ein Werk wie Machiavellis Principe mit seiner nun 500-jährigen Wirkungsgeschichte voller Kontroversen, Verdammungen und Vereinnahmungen für unterschiedliche Anliegen ist in jedem Fall ernst zu nehmen, auch wenn manche Interpreten des Textes davor warnten, ihn wörtlich zu nehmen. Die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts hielten ihn beispielsweise für eine verdeckte Satire auf die Herrschaftspraxis der Fürsten, die dem Volk in raffinierter Verkehrung des vorgeblichen Zieles, nämlich der Politikberatung, das Funktionieren tyrannischer Herrschaft vor Augen führen sollte. Heute halten manche Exegeten den „Fürsten“ für einen rhetorischen Übungstext in der Tradition der Beratungsrede (genus deliberativum), dessen Aussagen man daher keineswegs auf die Goldwaage legen sollte (MaurizioViroli). Außerdem gab es auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Viele Leser warfen Machiavelli Heuchelei vor, weil er sich in seiner einem Medici-Prinzen gewidmeten Schrift aus dem Jahr 1513 für die Idee der Monarchie und für einen starken Fürsten aussprach, während er in den zwischen 1513 und 1521 verfassten Discorsi für die Republik als beste Staatsform plädierte. Schwersten Anstoß über Jahrhundert hinweg erregte natürlich die vom Autor praktizierte Dissoziation von Politik und Moral, die als ruchloses Plädoyer für eine amoralische oder gar immoralische Politik verstanden wurde. Die lange Geschichte der öffentlichen Verurteilungen des 1532 erstmals gedruckten Werkes begann mit seiner Indizierung 1559 und fand mit der Publikation des von dem Hugenotten Innocent Gentillet verfassten Contre-Machiavel im Jahr 1576 einen ersten Höhepunkt. Der von Leidenschaften und Apriori-Urteilen geprägten Rezeptionsgeschichte steht ein in seiner Komposition anspruchsvolles, komplexes und hybrides Werk gegenüber, das an seinen Leser hohe Anforderungen stellt, zumal an den heutigen Leser, dem humanistischer Bildungskanon und historischer Entstehungskontext denkbar fremd geworden sind. Es zeigt sich jedoch immer wieder, dass jede Reflexion über das Politische von diesem seit 500 Jahren heftig diskutierten Text auszugehen hat. Daher ist es ein wichtiges Anliegen, ihn auch dem heutigen Publikum näher zu bringen. Diesen Versuch unternimmt die vorliegende Veröffentlichung, hoffentlich mit Erfolg. Die einzelnen Kapitel des Principe werden hier zu Themenkomplexen zusammengefasst und in kommentierenden Aufsätzen von neun ausgewiesenen Kennern analysiert. Die Klammer um diese analytische Präsentation des Machiavelli-Werkes liefert der Herausgeber Otfried Höffe, der sich mit Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „Fürsten“ befasst. Dabei ist es erstaunlich, dass die drei Grundmodi politischen Denkens ihre geradezu idealtypische Ausprägung in drei um das Jahr 1513 entstandenen fundamentalen Texten fanden: Idealismus (Erasmus von Rotterdam), Utopismus (Thomas Morus), Realismus (Machiavelli). Der Principe, den es im Zusammenhang mit Erasmus’ Institutio principis christiani und der Utopia des Morus zu sehen gilt, erhält seine epochale Bedeutung aus dem Bruch mit dem humanistischen Politikdenken. Von Aristoteles’ Politik und der Tradition des normativen Fürstenspiegels herkommend, hat der Mann aus Florenz doch etwas ganz Neues geschaffen, das von Dauer sein sollte. Für Höffe ist er ein „Pionier der politischen Moderne“, der eine autonome Theorie politischer Macht geschaffen hat, die sich ganz von ethischen Vorgaben ablöst. Dabei ist Machiavelli keineswegs jener „Entmoralisierer“ der Politik, als der er so oft angegriffen wurde, sondern ein informierter und redlicher Denker, der sich den strukturellen Komplikationen des Machtgeschiebes mit ehrlicher Erkenntnisabsicht stellt. Anders als vom Königsberger Philosophen Kant behauptet, ging es ihm nicht darum, die Rechtsverletzung als Prinzip zu rechtfertigen, sehr wohl war aber eine „provisorische Amoral“ des politisch Handelnden aus seiner Sicht angebracht, wenn es galt, den Staatszwecken zu dienen. Was diese Staatszwecke
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sein mochten, erfährt der Leser aus Machiavellis ab 1513 entstandenen Discorsi: Freiheit unter guten Gesetzen und Wahrung des Gemeinwohls gegen egoistische Gruppeninteressen. Man wird nicht unbedingt zu Machiavelli greifen müssen, um zu begreifen, dass hinter der Macht ein Telos steht, wenn sie nicht zum bloßen Selbstzweck verkommen soll. Dass die Staatserhaltung zwar keine Wissenschaft mit feststehenden Grundsätzen, aber doch eine erlernbare Kunst ist, verdeutlichte der nach dem Sturz der florentinischen Republik 1512 als Politiker selbst arbeitslos gewordene Autor bereits in den ersten Kapiteln seiner Schrift (Peter Schröder). Seine eigenen Erfahrungen als Diplomat und Geschäftsführer der Republik hatten ihn zu der Einsicht geführt, „dass nicht persönliche Treueverhältnisse, sondern zunehmend abstrakter werdende Mechanismen der Staatsräson die Geschicke der Staaten bestimmten“ (29). Er nahm als erster die moderne Entpersönlichung von Politik wahr, in der ein anonymes Machtkalkül anstelle personaler Bindungen um sich griff. Unter diesen Umständen konnte ein richtiges Verständnis von Politik für die Mächtigen überlebenswichtig sein. Doch war die auch mit unlauteren Mitteln operierende Staatskunst in Italien an ein hehres Ziel rückgebunden. Dieses wurde bei Machiavelli eingekleidet in die Pathosformel von der Befreiung der Halbinsel, die unter der Gewalt und der Grausamkeit ihrer Besatzer zu leiden hatte. Diese politische Aufgabe säkularen Ausmaßes dachte Machiavelli dem „neuen Fürsten“ zu, den er in den plastischen Machtverhältnissen der Halbinsel vom „Privatmann zum Fürsten“ aufsteigen sah (Rolf Geiger). Dieser neue Fürst musste sich als Virtuose in der Eroberung und Behauptung von Herrschaft bewähren, konnte er doch jeden Augenblick das Scheitern seines Werkes erleben, wie das Exempel Cesare Borgias lehrte. Die Analyse des fürstlichen Scheiterns gehörte für Machiavelli zum ehrlichen Studium der Politik. Aber selbstverständlich kam es ihm auf das Gegenteil an. Worauf beruhte letztlich der politische Erfolg, die Stärke der Herrschaft, ihre Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen (Mikael Hörnqvist)? Mit Lug, Tücke und Verbrechen haben es Herrscher in Altertum und Neuzeit oft weit gebracht, wie der belesene Autor an einer Reihe von Beispielen aufzeigen kann. Mit solchen Tricks lässt sich die wandelbare Fortuna aber nicht lange hinhalten. Dauerhafte Herrschaft muss folglich auch auf dem Anerkennung sichernden symbolischen Kapital von Ruhm, Prestige und Geltung beruhen. Dieses führt aber letztlich zur Stilllegung von Politik, wofür die sich hinter ihren festen Mauern verschanzenden deutschen Reichsstädte ein gutes Beispiel boten. Der Kirchenstaat stellte für Machiavelli einen weiteren Sonderfall dar, bei dem Symbolik und Macht bruchlos ineinander übergingen. Eigentliches Machtmittel und Instrument zur Gestaltung der Verhältnisse blieb für ihn das wohleingerichtete Heer (Erica Benner), das als Milizarmee auf einem staatsbürgerlichen Konsens beruhen musste, wenn es nicht als eine vom Zufall und der gemeinsamen Jagd nach Beute zusammengehaltene Bande von Abenteurern erscheinen sollte. Kriegswesen und Politik dachte der an die unruhigen Zustände der Frühmoderne gewöhnte Florentiner immer zusammen. Wie die Maler der oberitalienischen Frührenaissance versuchte sich Machiavelli in der Kunst der wirklichkeitstreuen Darstellung. Sein Objekt war der Machthaber, den er in eine schillernde Perspektive einfügte, in der Sein und Schein gemeinsam erst das Gesamtbild ergeben (Giovanni Panno). Die prudenza zwang den politischen Akteur zur realistischen Anpassung. Das Ergebnis ist in der Regel die Praxis des zur völligen Beliebigkeit gesteigerten Positionswechsels: „Das Sein des Fürsten ist gleichgültig, solange dieses in einem Schein resultiert, welcher zu Herrschaft und Ordnung führt“ (104). Damit ergibt sich am Ende das Bild des Fürsten ohne (wirkliche) Eigenschaften. Als wahres Charakteristikum läuft es damit wiederum auf eine „provisorische Amoral“ (Otfried Höffe) hinaus, die zwar grundsätzlich die sozialen Normen der Redlichkeit und Rechtschaffenheit anerkennt, diese aber im politischen Tagesgeschäft
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als unverbindlich annimmt. Ist damit der eigentliche Kern dessen beschrieben, was heute als „Machiavellismus“ bezeichnet wird, sind die folgenden Kapitel des Principe scheinbar zusammenhanglos dem Umgang des Fürsten mit seinen Untertanen gewidmet (Dirk Brantl) oder behandeln in historischer Darstellung die Gründe, die dazu führten, dass die Italiener die Herrschaft über eigenes Land verloren (Andreas Kablitz). Die Analyse der den Abschluss des Werkes bildenden Kapitel 20 – 26 des Principe verdeutlicht jedoch, dass hier nochmals die Machiavellischen Prinzipien von innen- und außenpolitischer Praxis konzentriert werden. Es handelt sich somit kompositorisch um die Zusammenführung und Verdichtung des Textes. Wenn Machiavelli hier so deutlich wie an keiner anderen Stelle auf die monarchische Lösung der vielen Probleme Italiens setzte, so ergab sich natürlich der Widerspruch zu seinen anderswo geäußerten Ansichten. War er am Ende nicht einmal ehrlich zu sich selbst? Kurzum, hat man sich Machiavelli als Monarchisten, als Republikaner oder als Opportunisten vorzustellen? Diese Frage wird abschließend noch einmal aufgegriffen und vertieft (Alessandro Pinzani). Die Antwort ist recht klar und lautet zugunsten des Florentiners. Vielleicht wäre es sogar besser, den seit bald 500 Jahren gebräuchlichen Buchttitel „Il Principe“ besser nicht mit „Der Fürst“ zu übersetzen, sondern eher mit „Der Staatsgründer“, wenn man dem Verfasser ganz gerecht werden will. Zu guter Letzt ließ Machiavelli nämlich keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Staat, um auf Dauer gedeihen zu können, republikanisch verfasst sein müsste. Um dies nachvollziehen zu können, müssen die Leser neben dem Principe auch noch seine anderen Schriften zur Hand nehmen. Niccolò Machiavelli wird entgegen landläufiger Anschauung als Mann von Überzeugungen kenntlich. Somit leistet der kleine Sammelband einen großen Beitrag zur Auslegung eines komplexen Werkes, das man auch nach 500 Jahren noch als unumgänglich bezeichnen muss. Thomas Nicklas
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Michaela Rehm/Bernd Ludwig (Hg.), John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung (Klassiker Auslegen, Bd. 43), Akademie Verlag, Berlin 2012, 192 Seiten Lockes Werke zur Pädagogik, Epistemologie und nicht zuletzt zur politischen Philosophie machen ihn zu einem der bedeutendsten Denker seiner Zeit; er gilt zu Recht als Klassiker des philosophischen Denkens. Wie im Falle eines jeden echten Klassikers sind dessen Lehren Produkt des zeitgenössischen Diskurses und weisen zugleich über diesen hinaus. Die Dichotomie zwischen intentionaler Bestimmtheit und inhaltlicher Offenheit, die erst diesen überkontextuellen Charakter des Lockeschen Oeuvres, besonders des politiktheoretischen Teils, ausmacht, steckt das Problemfeld der Interpretation ab. Michaela Rehm und Bernd Ludwig wollen mit ihrem Band zu John Lockes „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ den Versuch unternehmen, dieses Werk von ideologischer Überfrachtung und Fehlinterpretationen zu befreien, und zwar „durch unvoreingenommene systematische Durchdringung als auch durch sensible historische Kontextualisierung“, wie es in der Einleitung heißt. Die Auslegung findet in Form kooperativer Kommentare statt. Rehm und Ludwig, selbst ausgewiesene Kenner der europäischen Philosophie, konnten hierzu Beiträge von acht weiteren Locke-Experten zusammentragen, deren jeweilige Ausführungen sich primär auf einzelne Kapitel der Zweiten Abhandlung beziehen, in der Locke seine politische Theorie konkret entfaltet. Die inhaltliche Stoßrichtung wird dabei recht früh klar: Einseitigen Urteilen über Locke soll entsprechend des in der Einleitung zugrundegelegten textimmanenten und kontextbestimmten Interpretationsverfahrens begegnet werden. Nicht von ungefähr bildet den Anfang des Bandes der Beitrag Rehms zur Entstehung und Rezeption. Zu Beginn wird somit bereits deutlich, dass die unmittelbar von Locke verfolgte Intention zunächst eine Widerlegung absolutistischer Herrschaftsansprüche angesichts der „exclusion crisis“ war – und dies indem er sich durchaus traditioneller, christlicher Argumentationsmuster bediente. In dieselbe Richtung deuten die Ausführungen Francis Oakleys; seine mittlerweile recht bekannten (Erstveröffentlichung 1997) Einwände gegen eine „intellektualistische“ Deutung von Lockes Rechtsphilosophie (Singh) beruhen auf dem Nachweis von deren Verhaftetsein im „voluntaristischen“ Strang des spätmittelalterlichen Naturrechtsdenkens. Die „Zwei Abhandlungen“ bleiben nach diesem Verständnis zwar originär und in gewisser Weise „modern“, werden aber eben nicht in erster Linie im Sinne eines bürgerlich-liberalen Gründungsmanifests verstanden. Gegen eine im heutigen Sinne „liberalistische“ bzw. „libertäre“ Inbesitznahme (Nozick) von Lockes politischer Theorie wenden sich expressiv verbis Ludwig Siep und Birger P. Priddat. Beide zeigen unter anderem auf, dass in den „Zwei Abhandlungen“ keine unbegrenzte Kapitalakkumulation gerechtfertigt bzw. der Staat allein auf eine Nachtwächterfunktion reduziert wird; stattdessen bleibe für Locke, trotz aller individualistischer Tendenzen seiner Philosophie, die Gewährleistung des salus populi letztendlich wesentlicher Zweck des Staates. Den Höhepunkt der Dekonstruktion eines vordergründig „liberalen“ Locke, bildet Michael Schefczyks Aufsatz „John Locke – ein verkannter Republikaner. Gegen einige Deutungsklischees“. Unter dem provokativen Titel verbirgt sich eine kluge Argumentation gegen die schroffe Gegenüberstellung eines Liberalismus à la Locke und eines Republikanismus à la Rousseau (Skinner, Pettit). Lockes politisches Denken trage vielmehr Züge eines „neurömischen“ bzw. „transatlantischen Republikanismus“. Die These vom Gegensatz-Schema ließe sich mithin nicht halten, sondern stelle eine „ideengeschichtliche Konstruktion des neunzehnten Jahrhunderts“ dar. Auch die neomarxistische Deutung im Stile Macphersons hält nach dem Dafürhalten von Schefczyk und anderer Autoren des Bandes einer genauen Prüfung nicht stand. Die These von Locke als Anwalt eines „bürgerlichen Besitzindividualismus“ sei durch den Wortlaut
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der „Zwei Abhandlungen“ nicht hinreichend gesichert. So zeigt auch Peter Niessen in seinem Beitrag „Volkssouveränität als Herrschaftsbegrenzung: Lockes Theorie des Verfassungsstaates“ die egalitären Tendenzen in Lockes politischer Theorie auf; entscheidend bleibe stets die ursprüngliche Absicht Lockes, einen naturrechtlich begründeten Freiheitsbegriff, der prinzipiell Geltung für jeden Menschen besitzt, in Opposition zum absolutistischen Autokratiedenken zu entwerfen. Diese zentrale, aus der politischen und ideengeschichtlichen Problemlage entsprungene Wirkungsabsicht ist auch in den weiteren Beiträgen (Zurbuchen, v. Leyden, Ludwig, Simmons) das entscheidende Kriterium der Interpretation. Rehm und Ludwig haben mit ihrem Sammelband eine durchaus schlüssigen Auslegungsrahmen für die „Zwei Abhandlungen“ geliefert, der streng auf den Entstehungskontext, den Text selbst und auf eine logische Argumentation rückbezogen ist. Neue Ansichten kommen dabei zwar nur partiell zum Tragen (Schefczyk), aber gerade dies macht den Wert aus: Es wird nicht mit argumentativen Volten der Versuch einer übertriebenen Aktualisierung oder Skandalisierung unternommen. Allerdings sind die mitunter tiefergehende Kenntnisse voraussetzenden Beiträge wohl eher für den bereits eingehender mit Locke vertrauten Leser geeignet. Sven Prietzel
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Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 415 Seiten Dass die Aufklärung keine national beschränkte Erscheinung war oder dass sie zumindest eine gesamteuropäische Ausstrahlung hatte, ist seit langem bekannt. Aber selten wurde ihre Geschichte mit so leichter Hand nachgezeichnet wie in diesem 400-seitigen Buch. Hatte der in Hamburg lebende Literaturwissenschaftler vorher biographische Studien zu Kant und den Humboldt-Brüdern vorgelegt, so kommt es ihm jetzt darauf an, den großen Bogen nachzuzeichnen, der die Aufklärung tatsächlich als ein „europäisches Projekt“ ausweist, d. h. als ein geistesgeschichtliches Phänomen, das aus einem internationalen Kommunikationsprozess hervorging und mit dem sowohl politische Ziele verfolgt als auch universal-menschliche Ansprüche erhoben wurden. Da zudem behauptet wird, dass dieses Projekt für die heutige Lage der Europäischen Union, krisenhaft wie sie ist, von unmittelbarer Aktualität ist, darf man gespannt sein, wie diese verschiedenen Aspekte miteinander in Einklang gebracht werden. Zunächst ist das Gelände abzuschreiten, durch das uns der Autor in sieben ebenso kurzweiligen wie auf den ersten Blick disparaten Kapiteln führt. Es beginnt mit England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, verweilt auffällig knapp im vorrevolutionären Frankreich und gleitet dann, über einige holprige Exkurse ins 20. Jahrhundert hinweg, ins Deutschland des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Damit dieser geistesgeschichtliche Landschaftspark nicht zu unübersichtlich wird, hält der Autor sich an das so verstandene Kerneuropa, nimmt aber zwei weitere Blickbegrenzungen vor: Er beschränkt sich auf einprägsame biographische Skizzen zu den intellektuellen Protagonisten, und er verknüpft ihre Ideen und Theorien zu einer vielfältigen und dennoch Konsistenz beanspruchenden Wirkungsgeschichte. Dass auf diese Weise ein gut lesbare, ja sogar unterhaltsame Darstellung einer komplizierten Geschichte gelungen ist, hat dem Buch in ein- und demselben Jahr bereits die dritte Auflage beschert. Die Galerie der Aufklärungsintellektuellen mit John Locke zu eröffnen, macht von vorne herein die politische Spitze des Aufklärungsunternehmens sichtbar, und tatsächlich zieht sich der Toleranzgedanke, der sich gegen die religiöse und politische Bevormundung im alten Europa richtete, wie ein roter Faden durch die ganze Erzählung. Und indem dem Erfinder des politischen Liberalismus der weltläufige Lord of Shaftesbury humorvoll zur Seite springt, wird der pädagogisch-politische Diskurs durch den breiteren literarisch-moralischen Diskurs ergänzt, der alleine die Durchschlagskraft der aufgeklärten Ideen beim (bürgerlichen) Publikum erklären kann. Folgt man nun der Wanderung der Emanzipationsimpulse über den Ärmelkanal ins spätabsolutistische Frankreich, so wird man dem Autor nur zustimmen können, dass es Voltaires überragende Leistung war, den englischen Sensualismus und Empirismus auf dem Kontinent heimisch gemacht zu haben. Das Kapitel über die „bösen französischen Philosophen“ (Philipp Blom) aber ist offensichtlich zu knapp und zu harmlos angelegt, sowohl um die Dramatik der kulturellen Erschütterung zu ermessen, zu der sich die Aufklärungskritik im Frankreich des 18. Jahrhunderts auswuchs, als auch um die prinzipielle Tiefe auszuloten, in die sich der kompromisslose Habitus der Pariser „philosophes“ vorwagte – bis hin zum Atheismus von Holbach und Helvetius und zum radikalen Republikanismus eines Rousseau. Nicht dass der politische Konflikt geleugnet würde, der den empiristischen Angriff auf die Dogmen der christlichen Religion zu einem staatsgefährdenden – jedenfalls für die Protagonisten lebensgefährlichen – Unternehmen machte, wohl aber können in lebensweltlichen Skizzen, so anschaulich sie auch sind, die subtilen erkenntnistheoretischen Grundlagen der Aufklärung nur gestreift werden, die z. B. hinter dem Kampf um die große Enzyklopädie standen. Die Unterschätzung der französischen Stimmen im europäischen Aufklärungskonzert wird auch daran deutlich, dass keine ihrer stilbilden-
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den Gesamtdarstellungen auch nur erwähnt wird, weder die ältere von Ernst Cassirer aus den 1930er Jahren noch die neueren Forschungen z. B. von Jonathan Israel zum europäischen Spinozismus, die mittlerweile auf drei Bände angewachsen sind. So ergibt sich ein eher versöhnliches Panorama eines turbulenten Jahrhunderts, das bekanntlich das demokratische Zeitalter mit revolutionärem Aplomb, d. h. die moderne Welt im engeren Sinn erst heraufgeführt hat. Dementsprechend steht die ganze zweite Hälfte dieser Aufklärungsgeschichte eher im Windschatten der großen Revolution, sie spielt in Deutschland und damit in einer Region, die weder ein einheitliches Staatsgebilde noch eine programmatisch „aufgeklärte“ und in diesem Sinn schlagkräftige Intellektuellenformation kannte. Daher ist ein gewisser antifranzösischer Affekt unvermeidlich, wenn zunächst die so erstaunliche wie prekäre Karriere von Moses Mendelssohn im Berlin Friedrichs des Großen nachgezeichnet wird. Gelingt dem Verfasser hier, in Akzentuierung der Freundschaft mit Lessing und vor dem konkurrierenden Hintergrund der legendären „Mittwochsgesellschaft“, das höchst liebenswerte Portrait eines Humanisten, der sein Judentum nicht verleugnete, so kann man sich fragen, ob es Kants herausragender Stellung gerecht wird, wenn er mehr anhand der kleinen politischen Schriften als seiner großen philosophischen Kritiken eingeführt wird. Nur in jenen, wenn man so will: beiläufig ist allerdings der Aufklärungstopos auch direkt präsent. Schuld an dieser Akzentverschiebung ist nicht so sehr das philosophische Desinteresse des Autors, sondern die ziemlich bemühte Aktualisierung, die aus dem wackeren Königsberger Professor den „Ur- und Erzeuropäer“ überhaupt machen möchte, und zwar indem die anlässlich der amerikanischen Intervention im Irak von der damaligen Bush-Administration lancierten Vorwürfe gegen den falschen Pazifismus des „alten Europa“ aufgegriffen und durch „kantianische“ Gegenargumente (von Habermas, Derrida u. a.) pariert werden. Da ist es schon klüger, wenngleich nicht weniger weit hergeholt, auf die kantianischen Spuren z. B. bei Karl Popper oder Hannah Arendt aufmerksam zu machen, also ein neues wirkungsgeschichtliches Forschungsfeld jenseits des historischen Neukantianismus zu eröffnen. Und vollends gewollt wirkt es, wenn im abschließenden Kapitel die Quintessenz der europäischen Aufklärung schnurstracks am widerwilligen preußischen Hochschulreformer, am neuhumanistischen Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts festgemacht wird. Sicherlich stand der junge Humboldt unter dem Einfluss des alten Kant, und ebenso unbezweifelbar ist, dass sich dieser von der in die „terreur“ umschlagenden bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Frankreich nicht dazu bewegen ließ, den zentralen Aufklärungsimpuls, der auf „Selbstdenken“ und „Selbsthandeln“ ging, zu widerrufen. Gleichwohl liegen Welten zwischen der Wucht der französischen Emanzipationsforderungen und dem, was in Deutschland an politischem Republikanismus angekommen war. So wird man in das geistesgeschichtliche Kräftefeld der „Sattelzeit“ um 1800 (Karl Jaspers, Dieter Henrich) gleichgewichtig die widerstrebenden Kräfte einführen müssen, etwa die romantische Bewegung und den politischen Konservatismus, deren Durchschlagskraft ihrerseits nur in Reaktion weniger auf die Aufklärung im weiteren als auf die französische Revolution im engeren Sinn zu verstehen ist. Und dennoch: „Reform statt Revolution“ – dieses aus der Totalitarismuskritik des 20. Jahrhunderts stammende politische Credo lässt sich nicht so unvermittelt als methodischer Leisten verwenden, um den historischen Diskurs der europäischen Aufklärung zu bilanzieren. Alfons Söllner
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Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (USA 2011, dt. von M. Adrian). Berlin: Suhrkamp 2013 Gegen dieses Buch kann man eigentlich nur einen gewichtigen Einwand erheben, und der richtet sich nicht gegen den Autor, sondern gegen den Verlag. Die US-Originalausgabe hieß „Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe“, was Intention und Art des Buches sehr viel besser trifft als der Suhrkamp-Titel. Vor allem der Untertitel ist irreführend: Müllers Buch ist keineswegs eine Überblick über das 20. Jahrhundert, sondern eher eine Sammlung von sechs Essays, die aufeinander folgende Zeitabschnitte behandeln und inhaltlich lose vernetzt sind. In der Einleitung reflektiert Jan-Werner Müller, bisher besonders hervorgetreten durch eine problemorientierte Rezeptionsgeschichte zu Carl Schmitt („Ein gefährlicher Geist“, dt. 2007 bei der WBG) und jetzt Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University, den problematischen Standort seiner Schrift. Er bezeichnet sie als „Essay“ und als „Grenzgänger“ (9). Tatsächlich steht sie irgendwo zwischen „Der dunkle Kontinent“ (1998) von Mark Mazower und „Das vergessene 20. Jahrhundert“ (2010) von Tony Judt, um zwei Autoren zu nennen, mit denen Müller viel verbindet. Auf der einen Seite geht es nicht um die Realgeschichte Europas; ökonomische und soziale Tendenzen spielen bei Müller fast keine Rolle; lobenswerterweise werden aber außenpolitische Konzeptionen einbezogen. Auf der anderen Seite konkurriert Müllers Buch auch nicht mit ideengeschichtlichen Darstellungen, etwa dem herausragenden Werk von Henning Ottmann. Eine systematische Abhandlung ist es ebenfalls nicht; philosophische Argumente und soziologische Theorien wird man vergeblich suchen. Als Orientierungspunkte nennt der Autor stattdessen Publikationen von Pierre Rosanvallon und Michael Freeden (408). Die angestrebte Gratwanderung ist Müller hervorragend gelungen; über viele der im 20. Jahrhundert dominierenden politischen Ideologien wird der Leser auf angenehme Weise informiert. Oft findet der Autor treffende Formulierungen, die komplexe Zusammenhänge auf den Punkt bringen. Aus seiner umfassenden Lektüre hat er etliche schöne Zitate ausgewählt; auch die längeren sollten von schnellen Lesern nicht übersprungen werden; bestenfalls auf einige der vielen Motti hätte man verzichten können. Es wird erzählt, mit vielen interessanten biographischen Details, bisweilen sogar spannend und amüsant. Vor allem aber ist Müller immer fair und differenziert; er kann rechte, liberale und linke Denker gleichermaßen gut verstehen. Müllers Voraussetzungen seien hier zu einigen Thesen zugespitzt. Erstens behauptet er, dass Ideen und ihre Verkörperungen in Ideologien von großer politischer Wirksamkeit seien. Das gelte erstaunlicherweise vor allem für das 20. Jahrhundert, obwohl dieses doch durch schreckliche Kriege, Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen geprägt zu sein schien. Die zweite These ist, dass die dominierende Idee des letzten Jahrhunderts die der Demokratie war. Das 19. Jahrhundert, so Müller, war das Zeitalter des Liberalismus, aber eines Liberalismus der bürgerlichen Elite. Dieser erwies sich am Ende des langen 19. Jahrhunderts nicht mehr als zeitgemäß. Spätestens 1918 wurde das „Erfordernis massenhafter politischer Rechtfertigung“ deutlich (11) und dafür bedurfte es der politischen Ideologien. Das gelte auch für die totalitären Regime und gegenwärtig, so kann man ergänzen, für Putin, die iranischen Ayatollahs und den Latino-Sozialismus. Seit dem Ersten Weltkrieg wollten also alle Demokraten sein, aber – so die dritte These – in unterschiedlicher Weise. Deshalb wäre „Umkämpfte Demokratie“ der bessere Buchtitel gewesen. Die verschiedenen Typen von Demokratie werden in den sechs Kapiteln in historischen Essays beschrieben.
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Im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht Max Weber, der mit einer bürokratisch gestützten „Führerdemokratie“ sympathisierte, die nur in homogenen Nationalstaaten funktionieren könne und in der Wahlen bestenfalls „eine Art populärer Rückmeldung“ wären (20, 73 ff., 78, 82 u. ö.). Der deutsche Soziologe wird in allen Kapiteln vorkommen und sein Name ist insgesamt der in diesem Buch am häufigsten genannte. Eine wichtige Episode, die noch zweimal erwähnt wird, ist das Treffen von Max Weber, Joseph Schumpeter und Felix Somary 1918 im Wiener Café Landmann (71, 123, 253). Gegen den damals mit dem Sozialismus sympathisierenden Schumpeter hätte Weber in seiner unbeherrschten und lauten Art behauptet, dass aus dem russischen „Experiment“ nur Leichenberge und eine bürokratische Diktatur entspringen könnten. Daran knüpft das zweite Kapitel an. Es trägt den Titel „Experimente zwischen den Kriegen. Neue Völker, neue Seelen“ (85). Den Schwerpunkt bildet jetzt die politische Linke. Ihr Ziel war eine sozialistische Demokratie, von der es wiederum sehr unterschiedliche Vorstellungen gab: von der Sowjetdemokratie (66) eines kommunal gegliederten Staates über den Pluralismus des englischen Gildensozialismus und das schwedische Volksheim bis zum Stalinismus mit seiner Pseudo-Verfassung. Später wird Lukács die sozialistische Demokratie als „Lebensform“ propagieren (268). Insgesamt geht es mit dem Sozialismus im 20. Jahrhundert bergab: von den Träumen einer Weltrevolution über den „Sozialismus in einem Land“ (nicht Stalin, sondern Lenin, 70) und den „Sozialismus in einer einzigen Stadt“ (nämlich dem roten Wien der zwanziger Jahre, 103) bis zum „Sozialismus in einer Familie“, nämlich den Ceaus¸escus (153). Das dritte Kapitel behandelt den italienischen Faschismus und beginnt mit Georges Sorel. Noch interessanter ist aber, dass Giovanni Gentile im Faschismus den „demokratische(n) Staat par excellence“ sah (180, vgl. 12, 197 u. ö.). Dem ist ein Anhang über den deutschen Nationalsozialismus und die Idee einer auf Treue gegründeten „germanischen Demokratie“ (198) beigefügt. Das beste Kapitel, der Dreh- und Angelpunkt des Buches, ist auch das längste; Thema sind die Jahrzehnte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Müller wendet sich hier gegen die These Dahrendorfs vom sozialdemokratischen Jahrhundert (358, vgl. 14 u. ö.). Bis 1945 stimme dies ohnehin nicht, wenn man einmal von Schweden absehe. Nach 1945 wiederum sei nicht die Sozial-, sondern die Christdemokratie prägend gewesen. Der Einfluss des französischen Personalismus und vor allem von Jacques Maritain wird gebührend hervorgehoben. In den ehemaligen Diktaturen setzen sich Konzepte einer „wehrhaften“ bzw. einer „geschützten“ Demokratie durch (248 f.); viele Maßnahmen, von der starken Rolle der Verfassungsgerichte über den Sozialstaat bis zum europäischen Einigungsprozess, sollten der Stabilisierung der Nachkriegsgesellschaften dienen. Diese sei aber, so in pointierter Form der christdemokratische Gedanke, mit direkter und radikaler Demokratie unverträglich. Die Christdemokraten meinten, damit die Konsequenzen aus den politischen Katastrophen der Zwischenkriegszeit zu ziehen. In den letzten Jahrzehnten wurden sie selbst von zwei Seiten angegriffen, von der Neuen Linken und der „Antipolitik“ der Neoliberalen. Im fünften Kapitel behauptet Müller, dass das, was wir heute unter „1968“ verstehen, keineswegs politisch folgenlos war; so würden das Prinzip der Autonomie und die Idee der Selbstverwaltung durchaus weiterhin vertreten. Fast vergessen sei jedoch der wichtigste Theoretiker der damaligen Zeit, nämlich Johannes Agnoli mit seiner Schrift über „Die Transformation der Demokratie“ (308 ff.). Das letzte Kapitel behandelt die neoliberalen Entwürfe, die seit den siebziger Jahren Einfluss gewannen. Ideen, die Hayek sehr viel früher entwickelt hatte, wurden wieder aktuell. „Postdemokratie“ (391) sei für Marktradikale gar kein Problem, da der Staat ohnehin nichts ausrichten könne; Hayek selbst habe sich etwa für ein elitäres Oberhaus eingesetzt (373); sein Verehrer
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Hans-Hermann Hoppe bezeichnete später sogar die Demokratie als einen „Gott, der keiner ist“ (USA 2001, dt. 2004). Insgesamt liefert Müller ein beeindruckendes Panorama unterschiedlicher Demokratie-Vorstellungen, von denen hier nur wenige überhaupt erwähnt werden konnten. Das Buch endet mit dem Jahr 1989. In einem kurzen Abschnitt am Ende des sechsten Kapitels (399 – 407) zieht Müller Bilanz. Die Demokratie scheint gesiegt zu haben. Sie hat die Herausforderungen durch Neue Linke und extremen Liberalismus in Westeuropa gut überstanden und wurde sogar nach Osteuropa exportiert. Deshalb könne man nachvollziehen, dass Fukuyama sogar das „Ende der Geschichte“ ausrief; ein vergleichbarer Triumphalismus, mit begrenzterer Perspektive, findet sich auch bei den Historikern, für die der lange Irrweg Deutschlands nun endlich zu Ende sei. Aber das ist nicht der Standpunkt von Jan-Werner Müller. Zunächst einmal sei 1989 auch das Jahr, in dem neue außereuropäische Herausforderungen deutlich werden; dafür stehen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Beijing und Chomeinis Fatwa gegen Salman Rushdie (404). Sodann leite die Geschichte keine unsichtbare Hand. Durchgängig gab es Kämpfe um die Demokratie; viele Konflikte hätten anders ausgehen können; alte Ideen erlebten nach einigen Jahrzehnten einen zweiten Frühling. Die Debatten um die beste Form der Demokratie sollten also weitergehen und es wäre sogar schlecht, wenn sie enden würden. Immerhin, so deutet Müller an und so erhoffte es schon Kirchheimer (87), gibt es inzwischen einen Konsens, nämlich im Negativen: gegen einen Totalitarismus, der scheinbar Sicherheit und Einheit schafft, tatsächlich aber Frieden und Demokratie zerstört. Christian Thies