Politisches Denken. Jahrbuch 2012 [1 ed.] 9783428539598, 9783428139590

Das Jahrbuch Politisches Denken 2012 bietet einen aktuellen Schwerpunkt mit Beiträgen zur Lage von Rechtsstaat und Demok

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Politisches Denken. Jahrbuch 2012 [1 ed.]
 9783428539598, 9783428139590

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2012 Herausgegeben von

V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, R. Mehring,

H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Volker Neumann: Klares statt wahres Recht u Bernd Rüthers, Clemens Höpfner: Abschied vom Rechtsstaat? u Alexander Demandt: Wie scheitern Demokratien? u Alfons Söllner: Rousseau und sein „Contrat Social“ u Skadi Krause: Freiheit nach Burlamarqui u Gerard Raulet: C’est la faute à Rousseau u Reinhard Mehring: Vordenker der souveränen Diktatur? u Frank Schale: Rousseauinterpretationen in der Nachkriegspolitikwissenschaft u Oliver Hidalgo, Frauke Höntzsch, Samuel Salzborn: Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft u Markus Holzinger: Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? u Alessandro Somma: Links oder rechts? Die italienische politische Debatte um die soziale Marktwirtschaft

Politisches Denken · Jahrbuch 2012

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Reinhard Mehring Pädagogische Hochschule Heidelberg. Abteilung Politikwissenschaft. Im Neuenheimer Feld 581, 69120 Heidelberg. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig Politische Theorie und Ideengeschichte Universität Passau, 94030 Passau E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das Jahrbuch „Politisches Denken“ ist das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD). Das Spektrum des Jahrbuchs umfasst Beiträge mit historischem oder aktuellem Bezug sowie Themen- oder Theoretiker-zentrierte Beiträge. Alle eingereichten Manuskripte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Manuskripte bitte anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung ausgedruckt sowie als pdf-Datei an einen der Herausgeber senden. Der Textumfang des Beitrags sollte 25 Seiten (oder 50 000 Zeichen) nicht überschreiten. Genauere Hinweise zur Textgestaltung finden Sie unter: www.dgepd.de.

Politisches Denken Jahrbuch 2012 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Reinhard Mehring, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-13959-0 (Print) ISBN 978-3-428-53959-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83959-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Rousseau- und Fichte-Gedenkjahr 2012 – 300. und 250. Geburtstag – führte die Bundesrepublik politisch an Grenzen des Rechts. Mit dem Einstieg in die Europäisierung des Haushalts scheint der lange Abschied vom Nationalstaat nun definitiv eingeläutet zu sein. Das lässt sich auch bejahen: Nationalstaat und Verfassungsstaat sind schließlich zweierlei. Wenn Europa nur ein Verfassungsstaat ist! Drei eröffnende Beiträge widmen sich der Lage von Demokratie und Rechtsstaat. Die folgenden Rousseau-Beiträge basieren – mit Ausnahme des Beitrags von Skadi Krause – auf Vorträgen, die am 26. Januar 2012 auf einem Symposion zur Verabschiedung von Alfons Söllner an der TU Chemnitz gehalten wurden. Ein dritter Teil eröffnet mit einer Konzeptualisierung politischer Ideengeschichtsschreibung, die immer neu fällig ist. Es schließen Rezensionsabhandlungen und Rezensionen an. Erneut haben sich sehr prominente Autoren am Jahrbuch beteiligt. Wir danken allen und laden weiter zur Mitwirkung ein. Wir freuen uns, dass Clemens Kauffmann und Hans-Christof Kraus in den bestehenden Herausgeberkreis mit eingetreten sind. ✻  ✻  ✻

Wilhelm Hennis (1923–2012) verstarb am 10. November in Freiburg. Er gehörte dem Jahrbuch als Autor und Mitglied des Beirats an. Das politische Denken der Bundesrepublik hat ihm viel zu verdanken. Reinhard Mehring und Barbara Zehnpfennig

Inhaltsverzeichnis I. Zur Lage der Demokratie Klares statt wahres Recht. Wege zum Positivismus Von Volker Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abschied vom Rechtsstaat? Rechtsbrüche von Regierung und Justiz Von Bernd Rüthers und Clemens Höpfner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Wie scheitern Demokratien? Läßt sich der Verfassungskreislauf aufhalten? Von Alexander Demandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Rousseaus 300. Geburtstag Rousseau und sein „Contrat Social“. Abschiedsvorlesung an der Technischen Universität Chemnitz und eine späte Liebes­erklärung Von Alfons Söllner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Freiheit nach Burlamarqui. Rousseau im Naturrecht der Neuzeit Von Skadi Krause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 C’est la faute à Rousseau. Die Rousseau-Rezeption und das deutschfranzösische Verhältnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Von Gerard Raulet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Vordenker der souveränen Diktatur? Das antiliberale Rousseau-Bild und Carl Schmitt Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Rousseauinterpretationen in der Nachkriegspolitikwissenschaft Von Frank Schale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Zur aktuellen Diskussion über Ideengeschichtsschreibung Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft Von Oliver Hidalgo, Frauke Höntzsch und Samuel Salzborn . . . . . . . . . . . . . 175 Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? Niklas Luhmanns Staats­ konzept im Spiegel parastaatlicher Gewalt und informeller Staatlichkeit Von Markus Holzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

8 Inhaltsverzeichnis Links oder rechts? Die italienische politische Debatte um die soziale Marktwirtschaft Von Alessandro Somma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 IV. Rezensionsabhandlungen und Rezensionen Ein Feldzug mit weltpolitischen Folgen. Napoleons Scheitern an Russland im Jahre 1812 Von Herfried Münkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 „Die Gesellschaft unter dem Staat“ oder „Der Staat aus der Gesellschaft“? Florian Meinel über Ernst Forsthoff Von Bernd Rüthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Ideen wirken nur in der Realität. Axel Honneths neue Konzeption kritischer Sozialphilosophie Von Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Eine Demonstration der Freiheit. Über Mathias Döpfners „Freiheitsfalle“ Von Volker Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

I. Zur Lage der Demokratie

Klares statt wahres Recht Wege zum Positivismus1 Von Volker Neumann I. Die Diskreditierung des Positivismus Wer Jura studiert und an den Grundlagen seines Faches nicht völlig uninteressiert ist, wird früher oder später auf methodische Fragen und damit auf den Positivismus stoßen. Das war grundsätzlich auch in den ausgehenden 1960er Jahren so. Allerdings hatte jene Zeit mit juristischen Themen wenig im Sinn, da sie von der Studentenbewegung und einer damit einher gehenden Dominanz der Sozialwissenschaften geprägt war. Das erklärt, warum auf der Liste der Themen, die auch für einen wachen Jurastudenten ein Muss waren, weit oben der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie stand. Theodor Adorno hatte das Programm der kritischen Theorie formuliert: Die Soziologie soll die „gesellschaftliche Totalität und ihre Bewegungsgesetze“ untersuchen, worunter er so etwas wie einen das Denken der Menschen beherrschenden „Verblendungszusammenhang“ verstand, der überwunden werden sollte.2 Karl Popper hatte das bescheidenere Gegenprogramm des kritischen Rationalismus entworfen: Aufgabe der Soziologen ist es, Hypothesen auszustellen, um sie zu falsifizieren oder vorläufig zu verifizieren – so wie das die Naturwissenschaftler tun.3 Popper ging es um Einzelprobleme, Adorno um die Gesellschaft „als Ganzes“. Trotz oder gerade wegen dieses holistischen Ansatzes gab es damals keinen Zweifel, was „politisch korrekt“ war: Adorno galt als gut, weil kritisch hinterfragend, und Popper als schlecht, weil bürgerlich-affirmativ bewahrend. Obwohl der soziologische Positivismus mit dem juristi1  Der Text ist meine Abschiedsvorlesung, die ich am 10. Juli 2012 an der Humboldt-Universität in Berlin gehalten habe. 2  Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: ders. u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 3. Aufl. Neuwied  /  Berlin 1971, S. 81–101, hier: 81, 83. 3  Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Theodor W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 3. Aufl. Neuwied und Berlin 1971, S. 103–123, hier: 105 f. (Sechste These).

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schen Positivismus nicht sehr viel gemein hat4, wurden die Aversionen und Ressentiments gegen den einen auf den anderen übertragen. Dass diese Übertragung kaum auf Widerstand stieß, lag auch an einer generellen Diskreditierung des juristischen Positivismus durch eine Legende, die damals herrschende Meinung war. Folge war, dass bis in die 1970er Jahre hinein der Rechtspositivist als ein „minderwertiges Mitglied“ der juristischen Zunft galt.5 II. Von der Positivismuslegende zur Reformalisierung des Rechtsstaats Die lange Zeit unangefochtene Legende lautete: Der juristische Positivismus der Weimarer Zeit habe einem „grundsätzlichen Relativismus“ gehuldigt und an die „Allmacht“ des Gesetzgebers geglaubt.6 Die Weimarer Positivisten, allen voran Gerhard Anschütz, hätten jedwede Änderung der Weimarer Verfassung für zulässig erachtet, sofern nur das Verfahren nach Art. 76 WRV mit seinen Zweidrittel-Mehrheiten eingehalten wurde. Infolge dieser „Neutralität bis zum Selbstmord7“ sei die Weimarer Demokratie eine leichte Beute ihrer nationalsozialistischen Feinde geworden. Das Fortsetzungskapitel geht so: Aufgrund der „positivistischen Legalitätsvorstellungen“ sei Adolf Hitler als die unumstrittene „Quelle aller positiv-rechtlichen Legalität“ erschienen.8 Es sei also der Positivismus gewesen, der den deutschen Juristenstand „wehrlos“ gegen Gesetze willkürlichen und verbreche4  Zu den funktionalen Unterschieden zwischen dem soziologischen und juristischen Positivismus Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976, S. 47: „In gesellschaftlichen Systemen, die durch eine progressive politische Struktur und durch Abhängigkeiten in der Sozialstruktur gekennzeichnet sind, können Theorien, die sich positivistisch entweder in Bezug auf das Verfassungs- und Rechtssystem oder in Bezug auf das gesellschaftliche Substrat verhalten, nur entgegen gesetzte Intentionen haben“. 5  Erwin Riezler, Der totgesagte Positivismus, in: Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1972, S. 239–256, hier: 239. 6  Carl Schmitt, Nachbemerkung zu „Legalität und Legitimität (1932)“, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 2. Aufl. Berlin 1973, S. 345–350, hier: 346. 7  Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 2. Aufl. Berlin 1973, S. 263–345, hier: 301 f. – Zur Nachkriegsgeschichte des Selbstmord-Topos s. Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Zur Interpretation und Kritik von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1993, S. 146–149. 8  Carl Schmitt, Das Problem der Legalität (1950), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 2. Aufl. Berlin 1973, S. 440–448, hier: 442.



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rischen Inhalts gemacht habe.9 Noch im Jahre 1994 schloss ein Öffentlichrechtler seine Besprechung der „Lebenserinnerungen“ von Gerhard Anschütz mit dem böswilligen Satz: „Sein Positivismus hat zur Auflösung der demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur der Weimarer Verfassung beigetragen und damit dem Einbruch nationalsozialistischer Rechtsauffassungen den Weg geebnet“.10 Dass die Positivismuslegende „nachweislich falsch11“ ist, wussten wir damals als gerade einmal 20jährige Studenten nicht. Das ist auch kaum zu tadeln, da die ersten literarischen Zweifel an der Legende erst im Jahre 1969 angemeldet wurden.12 Die kritische Potenz des juristischen Positivismus wurde in der Auseinandersetzung mit dem Radikalenerlass, vulgo den Berufsverboten erkannt, die den von Rudi Dutschke angekündigten „Marsch durch die Institutionen“ verhindern sollten. Die erste Richtungsvorgabe kam aus Gießen. Helmut Ridder hatte den linken Juristen geraten, mit Hilfe der Verwissenschaft­ lichung ihrer juristischen Fertigkeiten als „Bremsfaktor“ von restaurativen politischen Prozessen zu wirken. Methodisch hieß das Abkehr sowohl von einer Soziologisierung des Rechts als auch von seiner Materialisierung und Hinwendung zum Exaktheitsanspruch des juristischen Positivismus.13 Beschleunigt wurde diese Hinwendung durch das Berufsverbote-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die einschlägigen Vorschriften des Beamtenrechts gerechtfertigt hatte, weil das Grundgesetz „aus der bitteren Erfahrung mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie“ die Bundesrepublik als eine „streitbare, wehrhafte Demokratie“ konstituiert habe, die Vorkehrungen dagegen treffe, dass der Staat seinen Feinden ausgeliefert werde.14 Das Urteil war so abgrundtief schlecht begründet, dass ein Kritiker zu Recht an die „Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs“ erinnerte.15 Das Urteil und seine Kritik beschleunigten die Wiederentdeckung des Rationali9  Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl. Stuttgart 1973, S. 339–350, hier: 344. 10  Carl Hermann Ule, Gerhard Anschütz. Ein liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Der Staat 33 (1994), S. 104–111, hier: 111. 11  Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 221. 12  Everhardt Franssen, Positivismus als juristische Strategie, in: Juristenzeitung 24 (1969), S. 766–775. 13  Helmut Ridder, Verfassungsreform und gesellschaftliche Aufgabe der Juristen, in: KritJ 4 (1971), S. 371–377, hier: 374 f. Zur Kritik an dieser Legalitätsstrategie s. Ulrich K. Preuß, Zur Funktion eines Zusammenschlusses gesellschaftskritischer Juristen, in: KritJ 4 (1971), S. 378–383 und die Antikritik von Ridder / Karl Heinz Ladeur, Zur Funktion eines Zusammenschlusses gesellschaftskritischer Juristen und von Juristen überhaupt, in: KritJ 5 (1972), S. 16–23. 14  BVerfG v. 22. 5. 1975 – 2 BvL 13 / 73 – E 39, 334–375, hier: 368 f. 15  Josef Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, in: Juristenzeitung 30 (1975), S. 555–558, hier: 557 f.

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tätsanspruchs positivistischer Traditionen, was sich in einigen Publikationen linker Staatsrechtler und Politikwissenschaftler niederschlug. Dieter Grimm hatte in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung diese Literatur unter dem Titel „Reformalisierung des Rechtsstaats“ kritisch besprochen und richtig erkannt, dass diese Reformalisierung methodisch mit einem „Comeback des Positivismus“ einher ging.16 Dieses „Comeback“ wurde durch rechtsgeschichtliche Arbeiten gefördert, die der Positivismuslegende den Boden entzogen. Der Positivismus konnte schon deshalb nicht für die „Auflösung der demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur der Weimarer Verfassung“ verantwortlich gewesen sein, weil die große Mehrheit der Weimarer Staatsrechtslehrer Anti­ positivisten waren und die wenigen Positivisten zu den Verteidigern dieser Verfassung gehörten. Im Übrigen ist es auch nicht so, dass einer wertneutralen wehrlosen Weimarer Rechtsordnung die rechtlichen Mittel zu ihrer Verteidigung gefehlt hätten. Horst Meier hat nachgewiesen, dass es ausreichende Ermächtigungsgrundlagen für Parteiverbote gegeben hatte, von denen aber nicht hinreichend Gebrauch gemacht wurde, was an der demokratiefeindlichen Einstellung großer Teile der staatlichen Funktionselite lag, unter der sich zahlreiche antipositivistische Staatsrechtslehrer tummelten.17 Und die Machtergreifung der Nazis erfolgte auch nicht auf dem parlamentarischen Weg durch das Ermächtigungsgesetz. Völlig zutreffend spricht Michael Stolleis in seiner „Geschichte des öffentlichen Rechts“ nicht von einer „Machtergreifung“, sondern punktgenau von der „Machtübergabe“.18 In der Tat übergaben die konservativen Funktionseliten am 30. Januar 1933 den Nazis die Macht „auf einem silbernen Tablett“. Das Ermächtigungsgesetz verlieh dem Ganzen dann nur noch den Anstrich der Legalität, was einiges leichter machte, aber für die weitere Entwicklung nicht entscheidend war. Noch abstruser ist die Behauptung, der Positivismus habe dem „Einbruch nationalsozialistischer Rechtsauffassungen“ den Weg geebnet. Der Nationalsozialismus sicherte die Konformität des Rechtsstabs in der Konsolidierungsphase nicht mit Hilfe der Sachlichkeit des Positivismus, sondern vor allem durch eine quasi-naturrechtliche Bindung der Rechtsanwender an die 16  Dieter Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung 20 (1980), S. 704–708, hier: 706. 17  Horst Meier, Parteiverbote und demokratische Republik. Zur Interpretation und Kritik von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes, Baden-Baden 1993, S. 321–325. 18  Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914– 1945, München 1999, S. 246: „Staats- und Verwaltungsrechtslehre nach der Machtübergabe“.



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nationalsozialistische Ideologie. Es war bekanntlich Carl Schmitt, der die Juristen aufgefordert hatte, die Generalklauseln strikt im Sinne der „Grundsätze des Nationalsozialismus“ auszulegen und anzuwenden.19 Die Zahl der Gesetze, die Unrecht in Gesetzesform gossen, war im Vergleich zum Gesamtumfang des Rechts eher klein, und die schlimmsten Verbrechen der Nazis erfolgten ohne jede gesetzliche Grundlage.20 Nein, es war schon so: Die nationalsozialistische Auffassung des Rechts war das gerade Gegenteil des positivistischen Rechtsdenkens.21 III. Was ist staatsrechtlicher Positivismus? Es ist das Verdienst meiner Generation, einen nicht unerheblichen Beitrag zur Widerlegung der Positivismuslegende geleistet zu haben. Darf man darauf stolz sein? Hat denn der Positivismus keine Defizite, die seine Ablehnung rechtfertigen könnten? Diese Fragen lassen sich erst beantworten, wenn geklärt ist, was mit Positivismus gemeint ist, von dem ich bis hierher unbefangen gesprochen habe. Einfach ist diese Klärung nicht, auch dann nicht, wenn nur nach dem Rechtspositivismus gefragt wird. Denn die einschlägige Literatur kennt viele Rechtspositivismen und versteht darunter nicht immer das Gleiche.22 Deshalb beschränke ich mich auf die Frage „Was ist staatsrechtlicher Positivismus?“ und gehe dabei so vor, dass ich 19  Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, in: Juristische Wochenschrift 62 (1933), S. 2793–2794. 20  Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt / Main 1987, S.  384 f. 21  Weiterführend Hubert Rottleuthner, Substanzieller Dezisionismus. Zur Funk­ tion der Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft Nr. 18, Wiesbaden 1983, S. 20–35. 22  Das Standardwerk von Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 32–104 unterscheidet vier Arten des Rechtspositivismus, nämlich einen etatistischen, psychologischen und soziologischen Positivismus und Mischformen aus diesen drei. Uneinheitlich ist sogar das Verständnis des eingeführten Begriffs „Gesetzespositivismus“. Ott versteht darunter eine Theorie, die das Recht mit dem im verfassungsmäßigen Verfahren zustande gekommenen staatlichen Gesetzesrecht identifiziert (S. 25), während andere Autoren eher eine Methode der Gesetzesinterpretation meinen, die Wortlaut, Genese und Systematik streng beachtet und auf einem entsprechend eng begrenzten Argumentationsfeld operiert (s. Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161–172, hier: 168). Wieder andere Autoren sprechen von einem „Subsumtions-“ bzw. „Anwendungspositivismus“. Vgl. Matthias Jestaedt /  Oliver Lepsius, Der Rechts- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen, in: dies. (Hrsg.), Hans Kelsen. Verteidiger der Demokratie, Tübingen 2006, S. VII–XXIX, hier: XIV.

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zunächst Autoren vorstelle, die – abgesehen von einer Ausnahme – unstreitig zu dieser methodischen Richtung gehören. Danach lasse ich Kritiker aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik zu Wort kommen und frage, was von ihrer Kritik zu halten ist. 1. Antworten der Gründungsväter Gerber und Laband Theoriegeschichtliche Darstellungen des staatsrechtlichen Positivismus beginnen zumeist und zu Recht mit Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, der die Wissenschaft vom Staatsrecht in zweifacher Weise verbessern wollte, nämlich erstens durch eine Präzisierung der dogmatischen Grundbegriffe und zweitens durch die Konstruktion eines Systems, in dem die einzelnen Institute des Staatsrechts als Ausdruck eines Grundgedankens erscheinen. Das erste Ziel sollte durch eine Verbannung jeder ethischen, politischen und philosophischen Betrachtung aus dem Staatsrecht erreicht werden, das zweite Ziel durch die Deutung aller staatsrechtlichen Beziehungen als Willensverhältnisse. Beide Ziele lassen sich in einem zusammenfassen, nämlich im übergreifenden Ziel der Begründung der Wissenschaft des Staatsrechts als selbständiger Disziplin. Es geht darum, das Staatsrecht „von der niederen Stufe einer abgeleiteten Wissenschaft zu erheben, d. h. einer solchen, welche ihr Material erst von anderen Wissenschaften erborgen muss, sei dies die Philosophie oder das Privatrecht“. Die Methode dieser Wissenschaft bezeichnet Gerber als „Positivität“ und meint damit die Entwicklung allgemeiner staatsrechtlicher Prinzipien in voller Freiheit nach ihren eigenen Gesichtspunkten und den Regeln ihrer eigenen Kunst.23 Der Ansatz Gerbers wird weitergeführt von Paul Laband, der das Staatsrecht endgültig „zu einer juristischen Wissenschaft von und für Juristen“ macht. Ihm zufolge ist das Recht für die Rechtswissenschaft eine Form, die unabhängig von ihrem Inhalt zu behandeln sei24. Da es auf die Inhalte des Rechts nicht ankommt, muss die juristisch-dogmatische Methode eine „rein logische Denktätigkeit“ sein, die für historische, philosophische und politische Betrachtungen keinen Raum lässt.25 Das wird näher erläutert: Die wissenschaftliche Erkenntnis einer Sache sei immer nur hinsichtlich einzelner Eigenschaften oder Beziehungen möglich. Daraus folgt, dass jeder Be23  Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (1865), Hildesheim / Zürich / New York 1998, S. 221 f., 225, 236 f., 238. 24  Paul Laband, Besprechung von Alfredo Bartolomei, Diritto pubblico e teoria della conoscenza, 1903, in: AöR 19 (1904), S. 615–619, hier: 616. 25  Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl. Tübingen 1911, S. V–X.



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griff das Resultat einer „Abstraktion“ und „Isolierung“ ist und wissenschaftlicher Fortschritt ohne eine „Teilung der Arbeit“ unmöglich ist.26 Laband erläutert das am Beispiel der Stadt, die aus einer geographisch-statistischen, wirtschaftlichen, sozialen oder auch rechtlichen Perspektive betrachtet werden kann. Eine Betrachtung aber, die alle diese Perspektiven vereinen wollte, wäre ohne jeden wissenschaftlichen Wert. Man sieht also: Das Verbot des Methodensynkretismus wird bereits in den Grundlagentexten des staatsrechtlichen Positivismus und nicht erst von der reinen Rechtslehre der Wiener Schule ausgesprochen. 2. Antwort der Reinen Rechtslehre Und damit bin ich beim dritten Autor. Ob Hans Kelsen dem staatsrechtlichen Positivismus zugeordnet werden darf, ist eine alte Streitfrage. Er selbst hat das getan, d. h. er hat sich „jener Richtung staatstheoretischer Erkenntnis eingegliedert, als deren bedeutendste Vertreter in Deutschland Karl Friedrich von Gerber, Paul Laband und Georg Jellinek genannt werden müssen“.27 Das hat ihn freilich nicht davon abgehalten, Laband und vor allem Jellinek einer recht barschen Kritik zu unterziehen. Jedenfalls nennt Kelsen seine eigene Theorie, also die reine Rechtslehre, eine positivistische.28 Positivität des Rechts bedeutet, dass es durch menschlichen Willen gesetzt ist. Deshalb richtet sich die erste Frontstellung gegen das Naturrecht. Wenn das positive Recht von Menschen gesetzt wird, ist es dann nicht das Produkt von empirischen Gesetzgebungsakten, d. h. von Seinstatbeständen? Dieser Schluss ist mit der zweiten Frontstellung der reinen Rechtslehre, nämlich der strikten Trennung von Sein und Sollen, unvereinbar.29 Nicht der empirische Gesetzgeber begründet die Normativität des Rechts, sondern die Grundnorm, die der Geltungsgrund aller Rechtsnormen ist, die sich auf sie zurückführen lassen.30 Zugleich soll die Grundnorm sicherstellen, dass die dergestalt erzeugte Rechtsordnung als eine sinnvolle begriffen werden kann.31 Sinnvoll ist eine Ordnung aber nur, wenn sie Regeln bereithält, die geeignet sind, interne Widersprüche 26  Paul Laband, Besprechung von Alfredo Bartolomei, Diritto pubblico e teoria della conoscenza, 1903, in: AöR 19 (1905), S. 615–619, hier: 616 f. 27  Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. VII. 28  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 112. 29  Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin 1928, S. 8 und 10: „Das Problem der Positivität des Rechts besteht gerade darin: dass dieses zugleich als Sollen und Sein erscheint, obgleich sich diese beiden Kategorien logisch ausschließen“. 30  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 197. 31  Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin 1928, S. 21.

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zu vermeiden bzw. aufzulösen.32 Demnach ist das positive Recht eine widerspruchsfreie Ordnung, also ein System von Rechtsnormen. 3. Hugo Preuß – ein Positivist? Wenn über methodische Fragen des staatsrechtlichen Positivismus gesprochen wird, werden im Allgemeinen noch die Namen Georg Jellinek, Gerhard Anschütz33 und Richard Thoma genannt. Üblicherweise nicht genannt wird ein Name, der mit der Berliner Juristenfakultät verbunden ist, obwohl der Namensträger hier niemals Professor werden durfte. Hugo Preuß war derjenige Staatsrechtler der Kaiserzeit, der das Staatsrecht für demokratische Vorstellungen öffnen wollte. Schon das scheint ein gewichtiges Argument gegen den Versuch zu sein, ihn in eine Ahnengalerie aufzunehmen, in der Laband als Schöpfer des autoritären Anstaltsstaats die überragende Figur ist. Ein weiterer Einwand könnte das methodische Vorgehen sein: Preuß setzt gegen Labands staatsrechtliche Konstruktion „von oben nach unten“ seine eigene „Methode entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung“, die für ihn ein gemeinsamer Grundzug der modernen Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften ist. Dies deshalb, weil sie vom niederen zum höheren, vom einfachen zum Komplizierten, vom engeren zum weiteren fortschreitet, also induktiv vorgeht. Insoweit sei die Genossenschaftstheorie nichts anderes als der „Darwinismus der Jurisprudenz“, während die deduktive Vorgehensweise der herrschenden Staatsrechtslehre ein „Erbstück aus der Anschauungswelt des absoluten Staates“ ist.34 Der akademische Lehrer von Preuß war Otto Gierke, der der erste prominente Kritiker Labands war. Seine Kritikpunkte waren die Überschätzung der formalen Logik und die damit verbundene Vernachlässigung der sozialen und historischen Zusammenhänge des Rechts.35 Die Kritik Preuß’ an der juris­ tischen Methode Labands ist nun aber sehr viel differenzierter als die seines Lehrers.36 Gewiss, auch Preuß rügt „eine harte und übertreibende Ein­sei­tig­ 32  Kelsen räumt ein, dass mit der Forderung einer widerspruchsfreien Ordnung die Rechtswissenschaft bereits die Grenzen des reinen Positivismus überschreitet, und bezeichnet die Grundnorm als „transzendentallogisches Naturrecht“. Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin 1928, S. 66. 33  Anschütz hat sich selbst als Schüler Labands bezeichnet: Paul Laband. Ein Gedenkblatt zum 1. und 24. Mai 1908, in: Juristisches Literaturblatt 20 (1908), S. 73. 34  Hugo Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, S. 95, 96. 35  Otto Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (1883), Darmstadt 1961, S. 14–29.



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keit“, für die „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen“ ohne Belang seien37. Zugleich rühmt er aber die „treffliche Schule des staatsrechtlichen Positivismus“38 und erkennt in der „positivistischen Methode der Teilung und Unterteilung der Arbeit“ mehr Vorzüge als Mängel. Ein Vorzug sei die Verhinderung eines Rückfalls „in die breite Oberflächlichkeit des alternden Nationalismus“, ein Mangel die Gefahr des Verlustes des orientierenden Überblicks über die Gesamtheit des Materials. Wenn er zur Berücksichtigung historischer, politischer und philosophischer Argumente rät, dann tut er das deshalb, weil er davon eine Verbesserung der juristischen Konstruktion erwartet. So erläutert er am Beispiel der publizistischen Theorie zum Städterecht, wie durch die Ausblendung historischer Argumente gerade das verfehlt wird, was erst die „theoretische Systematik“ der Publizistik ausmacht, nämlich die Zurückführung der Rechtsinstitute auf wissenschaftliche Leitgedanken und organisatorische Prinzipien. Vor allem fehlt bei ihm ein Stereotyp der Laband-Kritik völlig, nämlich der Vorwurf eines lebensfremden Formalismus und einer übersteigerten Logik. Dass das Recht „eine rein formale Kategorie“ ist, gilt ihm als eine unstrittige „Urväterweisheit“.39 Deshalb ist es folgerichtig, dass er im Vorwort seiner Habilitationsschrift an diesem Punkt für Klarheit sorgt: „Eines aber ist der Jurisprudenz in allen ihren Zweigen gemeinsam; sie ist die Wissenschaft der angewendeten Logik40“. Nimmt man noch seine Ablehnung von Naturrechtstheorien hinzu41 und erkennt die Gemeinsamkeiten seines induktiven Wissenschaftsverständnisses mit Labands Trias Arbeitsteilung, Abstraktion und Isolierung, dann ist die Einordnung in die rechtspositivistische Denktradition nicht ganz so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.42 36

36  Die Divergenzen zwischen Preuß und Laband werden m. E. überzeichnet von Michael Dreyer, Hugo Preuß (1860–1925). Biographie eines Demokraten, Habilitationsschrift Jena 2002, S. 24–26. 37  Hugo Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902, S. 2–5. 38  Hugo Preuß, Ein Zukunftsstaatsrecht. Rezensionsabhandlung von: Anton Menger, Neue Staatslehre, Jena 1903, in: Archiv für öffentliches Recht 18 (1903), S. 373–422, hier: 376. 39  Hugo Preuss, Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 24 (1900), S. 359–372, hier: 360, 370 f. 40  Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, Vorwort S. VIII. 41  Hugo Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, S. 138, 200. 42  Ähnlich äußerte sich schon Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S. 4: In der Staatsrechts-

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4. Drei Merkmale: Positives Recht – methodische Eigenständigkeit – formale Logik Es sind also drei Merkmale, die bestimmen, was der staatsrechtliche Positivismus ist.43 Das erste Merkmal betrifft den Begriff des Rechts. Recht ist nur das von Menschen gesetzte, das positive Recht. Die Klarheit des Erkenntnisgegenstands ist der erste Vorzug des Rechtspositivismus: Der Positivist weiß, wovon er redet, wenn er vom Recht spricht.44 Das positive Recht ist strikt von jedem Naturrecht zu unterscheiden und die Rechtswissenschaft hat sich jeder naturrechtlichen Betrachtung zu enthalten. An diesem Punkt besteht Einigkeit: „Rechtspositivismus heißt die Auffassung, die kein Naturrecht anerkennen will45“ und die das positive Recht auch von moralischen und ethischen Elementen frei hält.46 Das zweite Merkmal ist die Betonung der Eigenständigkeit der Staatsrechtswissenschaft und ihrer Methode im Verhältnis zu anderen Wissenschaften und deren Methoden. Labands Trias Arbeitsteilung, Abstraktion und Isolierung beschreiben diesen Prozess der Differenzierung. Der Positivismus lehnt jeden Methodensynkretismus ab, weil er auf die möglichst ungetrübte Erkenntnis des Rechts zielt.47 Der Rückzug der Staatsrechtswissenschaft auf sich selbst als Normwissenschaft geht mit der Trennung des Sollens vom Sein einher. Allerdings gibt es an diesem Punkt einige Dissonanzen und Irritationen; darüber ist noch zu sprechen.

lehre des Hugo Preuß würden sich drei Richtungen verbinden, „die mit den Namen Gneist, Gierke und Laband charakterisiert sind“. 43  Eine handliche Umschreibung des staatsrechtlichen Positivismus liefert Gerhard Anschütz, Aus meinem Leben. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Pauly, Frankfurt / Main 1993, S. 71 f.: Aufgabe des Staatsrechtlers sei es, „das positive Recht, so wie es geworden ist und gilt, zu erkennen und es wertfrei darzustellen, unter Ablehnung jeglichen Naturrechts … und unter Verzicht auf metajuristische, insbesondere politische und sozial-ethische Erörterungen“. Die Staatsrechtswissenschaft dürfe nur mit eigenen Mitteln, Methoden und Begriffen arbeiten und müsse sich bewusst von jeglicher Verwechslung des Seinsollenden mit dem Seienden fernhalten. 44  Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 224. 45  Klaus F. Röhl  / Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. Köln /  München 2008, S. 292 f. 46  Vgl. Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, Berlin 1995, S. 92 in Fn. 21, der mit dem Wort „juristischer Positivismus“ das Bestreben meint, „Recht ohne eine bewusste vorgefasste metaphysische Grund- und Werthaltung so weit wie nur möglich aus sich selbst heraus zu erklären, ohne dass seine soziale Bedingtheit ignoriert wird“. 47  Horst Meier, Lob des Rechtspositivismus (2005), in: ders., Protestfreie Zonen?, Berlin 2012, S. 210–216, hier: 211.



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Das dritte Merkmal folgt aus dem zweiten. Wenn philosophische, soziologische und historische Inhalte des Rechts ausgeblendet werden und nur noch die reine Form betrachtet wird, dann bleibt der Staatsrechtswissenschaft nur noch die logisch-formale Betrachtung und Ordnung des positiven Rechts. Das einzige Kriterium für die Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Rechtsordnung ist dann die Widerspruchsfreiheit. IV. Kritik am staatsrechtlichen Positivismus 1. Im Namen der ewigen Gerechtigkeit Bis hierher habe ich das Bild nachgezeichnet, das der staatsrechtliche Positivismus von sich selbst entworfen hat. Nun zur Kritik am Positivismus. Im Zentrum dieser Kritik steht die strikte Ablehnung naturrechtlicher bzw. ethischer Fundierungen des Rechts und – korrespondierend dazu – die Orientierung am positiven Gesetz. Stilbildend für die Positivismuskritik wurde ein Text, von dem wohl jeder Jurist irgendwann einmal etwas gehört hat, obwohl ihn nur die wenigsten gelesen haben dürften. Julius von Kirchmann hatte im Jahre 1848 die „Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ damit begründet, dass das positive Gesetz aus der Rechtswissenschaft als einstiger „Priesterin der Wahrheit“ eine „Dienerin des Zufalls, des Irrtums, der Leidenschaft, des Unverstandes“ gemacht habe.48 Wer sich so laut artikuliert, wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, schuldet Antwort auf mindestens drei Fragen: Worin ist die zeitlose Gültigkeit, die behauptete Wahrheit des Naturrechts begründet? Welchen Zugang hat der Mensch zu diesen ewigen Grundsätzen? Und schließlich: Wie lauten diese Wahrheiten ganz konkret? Die Antworten der Weimarer Antipositivisten sind so unklar, dass sie Ratlosigkeit hinterlassen. Hermann Heller will den Staat an überpositive Rechtsgrundsätze binden, die staatlichem Handeln so etwas wie eine „sittliche und metaphysische“, wenn man will: naturrechtliche „Fundierung“ verleihen sollen.49. Was diese Rechtsgrundsätze sind, ja, ob sie überhaupt als naturrechtliche angesehen werden können, bleibt ebenso im Dunkeln wie die Frage, wie wir sie erkennen. Heinrich Triepel setzt der Isolierung des positiven Rechts von ethischen Gehalten die „Rechtsidee, die ewige Gerechtigkeit“ entgegen50, ohne ein einziges Wort über den Inhalt dieser Schlag48  Julius von Kirchmann, Von der Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848), Darmstadt 1973, S. 23. 49  Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 249– 278, hier: 261. 50  Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik. Rede beim Antritte des Rektors der Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1926, Berlin und Leipzig

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worte zu verlieren. Nicht vorenthalten darf ich Ihnen einen Diskussionsbeitrag auf einer Tagung der Staatsrechtslehrer in den 1920er Jahren: Recht sei die „willensentrückte Rechtsüberzeugung der Gesamtheit51“ – Recht soll also eine Überzeugung sein, die aber mit dem menschlichen Willen nichts (mehr) zu tun haben darf. Carl Schmitt ist zu schlau, um solche Peinlichkeiten zu begehen. Er meidet das Wort „Naturrecht“ nach Möglichkeit ganz und fabuliert stattdessen über die Anerkennung „substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes“. Etwas klarer wird er bei der Angabe, wo­ gegen diese „Substanzen“ gerichtet sind, nämlich gegen eine „wert- und qualitätsfreie, inhaltslos formalistisch funktionalistische Lega­ litäts­ vor­ stel­ lung“.52 Und wer das nicht glaubt, dem droht er mit der Rache der „Wahrheit“. „Dann rächt sich die Wahrheit“. Erheblich deutlicher als die Aussagen zum Inhalt von Naturrecht und seiner Erkenntnis ist die ihm zugeschriebene Funktion. Gierke vermisste an Labands „einseitig logisch-formalen Verfahren“ den „idealen Gehalt“ des Rechts, woraus die Gefahr entstehe, „dass heute diese und morgen jene Mächte und Interessen es eben nur noch als ihr Werkzeug verwenden“.53 Zutreffend wurde diese Kritik in der Aussage zusammengefasst, Labands Formalismus bilde den monarchischen Obrigkeitsstaat in allzu realistischem, zu wenig idealisierendem Lichte ab54. Dass es dem Pragmatiker Triepel nicht um Naturrecht oder Ethik geht, sondern um die Errichtung von materialen Schranken gegen den demokratischen Gesetzgeber, lehrt ein Satz von brutaler Offenheit: „Ohne den Glauben an irgend etwas „Überpositives“ kommen wir nicht durch55“. Eine etwas deutlichere Vorstellung davon, wer das ist, gegen den „wir“ „durchkommen“ müssen, hat Erich Kaufmann formuliert: Die „Substanzlosigkeit“ der neukantischen Rechtsphilosophie sei für die „Abstumpfung“ des Rechtsgefühls „in unserem Volke“ und die daraus folgende Widerstandslosigkeit ge1927, S. 40. Vgl. auch ders., Die Zukunft des Völkerrechts. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 11. März 1916, Leipzig und Dresden 1916, S. 4 f.: „Auch das Gesetz schöpft seine Geltung aus der Autorität sittlicher Mächte, die außerhalb und überhalb der Welt des Rechts gelegen sind“. 51  Freiherr Marschall von Bieberstein, Diskussionsbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 4 (1928), S. 87. 52  Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, 2. Aufl. Berlin 1973, S. 263–245, hier: 280, 344 f. 53  Otto v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (1883), Darmstadt 1961, S. 97. 54  Bernd Schlüter, Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, Frankfurt / Main 2004, S. 379 f. 55  Heinrich Triepel, Diskussionsbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 50 f.



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genüber Marxismus und Anarchismus verantwortlich.56 Das ist die wohl einzige richtige Erkenntnis der Antipositivisten: Der staatsrechtliche Positivismus ist als Legitimationsideologie ungeeignet. 2. Lob des Methodensynkretismus Fast ebenso häufig wie das Fehlen einer naturrechtlichen Fundierung wird das zweite Merkmal des staatsrechtlichen Positivismus kritisiert, also die Eigenständigkeit der juristischen Methode. Heller meint, die Behauptung des Positivismus sei falsch, es gebe rechtswissenschaftliche „Einzelerkenntnisse“, die nicht in philosophisch-systematischen Voraussetzungen eingebaut und durch sie determiniert wären. Ebenso falsch sei die Vorstellung, es könne eine juristische Dogmatik ohne seinwissenschaftliche Erkenntnisse geben.57 Der „Imperialismus einer einzigen Methode“ sei immer unfruchtbar, nur ein „methodensynkretistischer“ Ansatz könne die Erkenntnis erweitern. Schmitt bläst in das gleiche Horn: Der Positivismus habe die verfassungstheoretischen Grundfragen aus dem Staatsrecht in die allgemeine Staatslehre verdrängt, „wo sie zwischen Staatstheorien im Allgemeinen und philosophischen, historischen und soziologischen Angelegenheiten eine unklare Stelle fanden“.58 An die Stelle des verfassungstheoretischen Denkens seien die Methoden von Laband getreten, die sich in der „Kunst der Wortlautinterpretation“ des Verfassungstextes beschränkten.59 Der Positivismus wird also für eine Verarmung und Verflachung der Staatsrechtslehre verantwortlich gemacht. 3. Dissonanzen und Irritationen Eine irritierende Besonderheit der Kritik an der Isolierung der Rechtswissenschaft von anderen Wissenschaften ist, dass sie auch von Autoren vorgetragen wird, die der positivistischen Schule angehören oder ihr nahe stehen. Ein Beispiel ist Preuß, der meint, dass eine soziale Erscheinung erst dann voll erfasst ist, wenn zur juristischen Konstruktion die historisch-politische oder ökonomische Betrachtung hinzu kommt.60 Ein anderes Beispiel ist 56  Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921, S. 76, vgl. auch S. 96 f. 57  Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 249– 278, hier: 256, 278. 58  Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. Berlin 1970, S. IX. 59  Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. Berlin 1970, S. 6. 60  Hugo Preuss, Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 24 (1900), S. 359–372, hier: 370 f.

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Gerhard Anschütz, der die „rein juristisch-konstruktive Betrachtung“ Labands durch die Einbeziehung der hinter den Verfassungsinstitutionen wirkenden historisch-politischen Kräfte ergänzen und vervollkommnen will.61 Eine noch härtere Kritik oder besser Selbstkritik findet sich bei Richard Thoma: Jedes staatsrechtliche Institut sei sowohl positivistisch zu fixieren als auch als ein im Strom der Geschichte stehender Versuch zur Lösung politischer Probleme zu begreifen.62 Diese und andere Aussagen Thomas vermitteln den Eindruck, dass es fast schon ein Begriffsmerkmal des staatsrechtlichen Positivismus ist, die eigene Methode immer wieder einmal einer herben Selbstkritik zu unterziehen. V. Zum Verhältnis von Konstruktion und Auslegung des Rechts 1. Logisch-formale Theorie des Rechts – ungebundene Rechtsauslegung? Jeder, der praktisch juristisch arbeitet, wird der geforderten Erweiterung der juristischen Methode um eine wirklichkeitswissenschaftliche Dimension intuitiv zustimmen. Wie aber ist eine solche Erweiterung mit der logischformalen Konstruktionsarbeit methodisch zu vermitteln? Einen Hinweis in die Richtung, in der die Antwort zu finden ist, gibt Hans Kelsen. Bekanntlich will die reine Rechtslehre das Recht vor Politisierungen durch eine strikte Formalisierung der rechtswissenschaftlichen Begriffe schützen.63 Die Formalisierung bezieht sich aber nur auf die wissenschaftliche Theorie des Rechts, nicht auf die Rechtserzeugung und Rechtsanwendung.64 Das Urteil eines Gerichts oder der Verwaltungsakt einer Behörde sind in gleicher Weise Anwendung des Gesetzes und Rechtserzeugung wie die Gesetzgebung Anwendung der übergeordneten Verfassungsnorm und Rechtserzeugung ist.65 Die anzuwendende Norm determiniert also die Entscheidung des Rechtsanwenders niemals vollständig, woraus folgt, dass nicht nur die Ent61  Gerhard Anschütz, Paul Laband. Ein Gedenkblatt, in: Deutsche Juristenzeitung 23 (1918), Sp. 265–270, hier: 268 f. 62  Richard Thoma, Gegenstand – Methode – Literatur, in: Gerhard Anschütz / ders. (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, B. 1, Tübingen 1930, S. 1–11, hier: 5 f. 63  Sehr deutlich Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: Juristische Wochenschrift 58 (1929), 1723–1726, hier: 1724. 64  Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: Juristische Wochenschrift 58 (1929), 1723–1726, hier: 1725 f. 65  Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz VI (1930 / 31), S. 576–628, hier: 592.



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scheidungen des Gesetzgebers, sondern auch die der Justiz und Verwaltung politische, historische, soziologische oder moralische Elemente aufweisen können.66 Allerdings bildet – so fährt Kelsen fort – die anzuwendende höhere Norm für die Erzeugung der niederen Norm einen Rahmen, dessen Grenzen „mit allen erlaubten Mitteln der Interpretation“ zu ermitteln seien.67 Dass mit dieser Aussage der im Kern dezisionistische Ansatz nicht wirklich zurückgenommen wird, beweist Kelsens Interpretationslehre68: Die Auslegung und Anwendung des positiven Rechts ist eine „letztlich willkürliche, in ihrem Kern nicht zu rationalisierende, immer zugleich auch subjektiv wertende Willensentscheidung“69, in die moralische Wertungen ebenso ungeschieden eingehen können wie Seinstatsachen. Bis hierher scheint es so zu sein, dass Kelsen in Sachen Dezisionismus Carl Schmitt um Längen schlägt. Die Trennungslinie zwischen formaler Theorie des Rechts und ungebundener Rechtsanwendung wird von anderen Positivisten nicht so klar herausgearbeitet wie von Kelsen. Allerdings ist sie der Sache nach auch bei ihnen vorhanden. So unterscheiden Gerber und Laband zwischen juristischer Konstruktion einerseits und Auslegung des positiven Rechts andererseits. Gerber spricht die Verbannung geschichtlicher, politischer und ökonomischer Zusammenhänge nur für die formal grundbegriffliche, also die kon­ struktive Seite des Rechts aus, nicht aber für die hermeneutischen Aufgaben der Rechtswissenschaft. Hierfür setzt er unbefangen die herkömmlichen Auslegungsmethoden einschließlich der historischen und genetischen ein.70 In ähnlicher Weise spielen für Laband bei der Auslegung der Gesetze historische, teleologische und damit auch soziologische Befunde eine entschei66  Für jeden Vollzugsakt „ist die Notwendigkeit rechtlicher Bestimmung durch die generelle Norm verbunden mit der Unvermeidlichkeit freien Ermessens“. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl. Tübingen 1923, Vorwort S. XII f. 67  Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl. Tübingen 1923, S. 508. 68  Kelsen hat seine Interpretationslehre in den Schlusskapiteln §§ 45–47 der Reinen Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 346–354 prägnant zusammengefasst. 69  Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl. Baden-Baden 1990, S. 146. – Kelsens „methodischer Nihilismus“ hat viele Kritiker gefunden. Ulla Held-Daab, Das freie Ermessen. Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre, Berlin 1996, S. 245 fordert eine Ergänzung des positivistischen Ansatzes durch eine Auslegungslehre. Jochen von Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001, S. 179 sieht in dieser Fehlstelle einen „Einbruch von Subjektivität“ in das positive Recht. 70  Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (1865), Hildesheim / Zürich / New York 1998, S.  9 f.

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dende Rolle.71 Und für Thoma – um nur eine Weimarer Koryphäe zu nennen – gehörte zur Auslegung auch „Dogmengeschichte und Entstehungs­ ge­ schichte“.72 Anderes gilt für jene Fragen, die sich – wie beispielsweise die bundesstaatliche Struktur des Reiches – nicht durch den Rekurs auf den Wortlaut von Verfassungsnormen lösen lassen.73 Hier kommt dann die juristisch-konstruktive Methode zum Zuge. 2. Abdankung der juristischen Konstruktion zugunsten des Gesetzespositivismus? Lässt das geltende Recht aber überhaupt noch Raum für das, was Gerber und Laband juristische Konstruktion genannt haben und was wir heute gern als rechtswissenschaftlichen Positivismus bezeichnen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Arbeit des Staatsrechtlers sich in der Auslegung und Anwendung des positiven Verfassungsrechts erschöpft? Wurde also der rechtswissenschaftliche Positivismus nicht schon längst von einem engen Gesetzespositivismus abgelöst? Im Zivilrecht wurde beobachtet, dass mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs der rechtswissenschaftliche Positivismus sich zum Gesetzespositivismus gewandelt hat. Bernhard Schlink hat im Staatsrecht keine Anzeichen eines solchen Wandels erkannt. Denn die Staatsrechtswissenschaft habe schon früh eine Variante des Positivismus hervorgebracht, in der die Verpflichtung auf die rechtswissenschaftlichen Begriffe, Systeme und Konstruktionen mit der Verpflichtung auf das Gesetz und dessen Auslegung zusammengeht. Das ist auch einsichtig, weil der spärliche Verfassungstext der Konstruktion einen erheblichen Freiraum lässt.74 3. Zwei Problemlösungen Juristische Konstruktion einerseits und Auslegung und Anwendung des positiven Rechts andererseits bleiben also nebeneinander bestehen. Wie aber 71  Zum Verhältnis von Konstruktion und Auslegung bei Laband s. Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, Tübingen 1993, S. 177–192. 72  Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Erster Band: Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102–117, Berlin 1929, S. 1–53, hier: 9. 73  Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, Tübingen 1993, S. 174 f. 74  Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161–172, hier: 166.



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ist ihr methodisches Verhältnis zueinander zu bestimmen? Genau das ist die bis heute unbeantwortet gebliebene zentrale Frage des staatsrechtlichen Positivismus. Es bieten sich zwei Lösungswege an, die in entgegen gesetzte Richtungen weisen. Die fraglose Hinnahme des vermeintlichen „methodischen Nihilismus“ Kelsens wäre eine Lösung, die man noch durch den Hinweis stark machen könnte, dass es bis heute nicht gelungen ist, eine intersubjektiv verbindliche juristische Methodik zu entwickeln. Gegen diese Lösung spricht allerdings, dass mit dem Verzicht auf eine rationale Auslegungslehre ein großer Vorzug des juristischen Positivismus gefährdet wäre, nämlich die klare Bestimmung des Erkenntnisgegenstands Recht. Die zweite Lösung wäre die Ergänzung der positivistischen Rechtstheorie um eine positivistische Auslegungslehre. Das müsste eine Lehre sein, die wortlautbezogenen und systematischen Auslegungstechniken eine herausgehobene Stellung einräumt. Es gibt vor allem in den staatsrechtlichen Schriften Kelsens Hinweise darauf, dass er die Probleme erkannt hat, die von einer Verwendung offener Rechtsbegriffe und der Beliebigkeit ihrer Auslegung aufgeworfen werden.75 Was aber fehlt, sind methodische Vorgaben zur Lösung dieser Probleme.76 Wenn die zweite Lösung, also eine methodische Verbindung von positivistischer Dogmatik und Auslegung angesteuert werden soll, dann kann es nicht sein, dass die juristische Methode eine – wie Laband schrieb – „rein logische Denktätigkeit“ ist. Was aber auf alle Fälle richtig bleibt, ist ein Satz, den Hugo Preuß den Juristen ins Stammbuch geschrieben hat. Dieser Satz, der übrigens am Anfang meiner Überlegungen zum Thema stand, lautet: „Was unlogisch ist, das ist überall und immer unjuristisch77“. 75  Ein Beispiel ist Kelsens Warnung vor den Gefahren, die mit einer Verwendung hoher Ideale und hehrer Prinzipien wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Billigkeit, Sittlichkeit etc. in Verfassungstexten verbunden sind. Wenn eine Verfassung ein Verfassungsgericht einsetzt, müssten derartige Phrasen vermieden werden, weil damit dem Verfassungsgericht eine Macht eingeräumt würde, „die schlechthin als unerträglich empfunden werden muss“. Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer 5 (1929), S. 30–88, hier: 69 f. 76  Kelsen hat in seinen späten rechtstheoretischen Schriften Probleme der Auslegung und Anwendung des positiven Rechts durchaus thematisiert, etwa in der Frage, ob die Subsumtion des konkreten Tatbestands unter die Begriffe der generellen Norm eine logische Operation oder eine rechtliche Wertung sei. Kelsen favorisiert die Auffassung, dass die Mehrdeutigkeit des Wortlauts, unter den subsumiert wird, die logische Deduktion nicht ausschließt. Alle diese Äußerungen geben aber noch nicht einmal ausreichenden Stoff für die Errichtung des Fundaments einer Auslegungslehre ab. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 151 (auch Fn. 131 S. 305 f.), 212–214 (auch Fn. 180 auf S. 357 f.). 77  Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie, Berlin 1889, Vorwort S. VIII.

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VI. Positivismus – was sonst! Rechtsphilosophische Entwürfe wie die Spielarten des Positivismus lassen sich nicht danach beurteilen, ob sie wahr oder unwahr sind, sondern danach, ob sie geeignet sind, wünschenswerte theoretische und praktische Ziele zu fördern. Es kommt also darauf an, ob die Vorteile des Rechtspositivismus mögliche Nachteile überwiegen. Ein Nachteil mag die Schwierigkeit bei der strafrechtlichen Bewältigung „gesetzlichen Unrechts“ sein. Dieser Nachteil wird aber durch den Vorteil einer realistischen Betrachtung des nationalsozialistischen Rechts mehr als nur kompensiert. Gerhard Werle hat gezeigt, dass der naturrechtliche Ansatz zu unerträglichen Verzerrungen in der Wahrnehmung des Nationalsozialismus führt78: Wenn die Mordbefehle der Staatsführung kein Recht und damit keine Rechtfertigungsgründe waren, hätten die Täter zur Tatzeit als Mörder nach dem weiter geltenden Mordparagraphen des Reichsstrafgesetzbuchs verfolgt und bestraft werden müssen. Auf die naheliegende Frage, warum das nicht geschehen war, antwortete die Nachkriegsjustiz mit der steilen These, dass die Haupttäter Hitler, Himmler, Göring und Konsorten die Justiz gefesselt und lahmgelegt hätten. Das Bild der gefesselten Justiz ist falsch und unehrlich, weil es Mittäter nachträglich zu Opfern stilisiert. Den ersten Vorteil rechtspositivistischer Ansätze habe ich bereits genannt, nämlich die Klarheit in der Bestimmung des Gegenstands der Rechtswissenschaft. Daraus folgt ein weiterer Vorteil: Weil die Geltung des Rechts nicht unter Berufung auf politische, moralische, philosophische oder theologische Argumente angefochten werden kann, fördern rechtspositivistische Entwürfe die Rechtssicherheit. Nicht unerwähnt bleiben darf die analytische Distanz, die der Positivismus zur jeweils herrschenden Rechtsordnung einnimmt und die sich vor allem darin zeigt, dass er keinen Zusammenhang zwischen juristischer Geltung und sittlicher Gehorsamspflicht herstellt.79 Klügere Antipositivisten wie Hermann Heller haben diese Leistungen der positivistischen Jurisprudenz erkannt, sich davon aber nicht überzeugen lassen. Das belegt ein Satz Gierkes, den Heller zustimmend zitiert: „Das Dünne ist durchsichtig, das Seichte verständlich, das Formelhafte scharf umgrenzt, und so ist der ersehnten Klarheit Genüge getan“.80 Dünn, seicht und formelhaft sei die positivistische Jurisprudenz – so Gierke und Heller 78  Gerhard Werle, Der Holocaust als Gegenstand der bundesdeutschen Strafjustiz, in: Neue Juristische Wochenschrift 45 (1992), S. 2529–2535, hier: 2534. 79  Horst Meier, Lob des Rechtspositivismus (2005), in: ders., Protestfreie Zonen?, Berlin 2012, S. 210–216, hier: 215. 80  Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre (1926), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 3–30, hier: 9. Die Fundstelle des Gierke-Zitats ist:



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– deshalb, weil sie gegenüber allen echten Problemen der allgemeinen Staatslehre hilflos sei. Und dann nennt Heller „echte Probleme“, für welche die Positivisten keine Lösung parat haben, und beginnt seine Aufzählung mit der Frage nach dem Wesen des Staates. Auf diese Frage weiß der Positivist in der Tat keine Antwort, ebenso wenig wie auf die Frage „Was ist Wahrheit?“. Ja, er weigert sich, solche Fragen auch nur zu stellen, weil er weiß, dass sie sich wissenschaftlich nicht beantworten lassen. Wissenschaft ist – so Max Weber – Hilfe „zur Klarheit“, was allerdings voraussetzt, dass wir selbst diese Klarheit besitzen.81 Was Klarheit ist, lässt sich in den Attributen des boshaften Gierke-Satzes angeben: Durchsichtigkeit, Verständlichkeit und begriffliche Schärfe. Ein in diesem Sinne klares Denken ist nichts, was Juristen genetisch mitbringen, nichts, was sie haben oder nicht haben. Klares Denken lässt sich lernen, aber auch verlernen. Lernen lässt es sich vor allem in der Auseinandersetzung mit Methoden und Theorien, die über diese Klarheit verfügen. Im öffentlichen Recht ist das der staatsrechtliche Positivismus: Eine andere vergleichbar klare Theorie haben wir nicht.

Otto Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, Tübingen 1915, S. 1 f. 81  Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl. Tübingen 1982, S. 582–613, hier: 607.

Abschied vom Rechtsstaat? Rechtsbrüche von Regierung und Justiz Von Bernd Rüthers und Clemens Höpfner Nach Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die strikte Gesetzesbindung unterstreicht das Primat des Parlaments. Allein die erste Gewalt ist durch Wahlen unmittelbar demokratisch legitimiert. Die Regierung und die übrige Verwaltung üben personell wie inhaltlich nur abgeleitete Staatsgewalt aus. Gleiches gilt für die Richter, deren Unabhängigkeit ohne die Gesetzesbindung als notwendiges und untrennbares Korrelat nicht zu rechtfertigen ist (Art. 97 Abs. 1 GG). Die Justiz und Teile der Rechtswissenschaft haben mit diesem Verfassungsgebot Probleme. Seit vielen Jahren ist in der Gerichtsbarkeit zu beobachten, dass die rechtsstaatlich gebotene Gewaltenteilung von der Judikative nicht mehr ernst genommen wird. Selbst ehemalige Verfassungsrichter und namhafte Professoren erklären, die Gesetzesbindung der Gerichte sei „ein unerfüllbarer Traum“ (W. Hassemer, D. Simon, R. Ogorek). Neu ist, dass sich nun auch die Regierung ihrer Gesetzesbindung zu entziehen versucht. Jüngstes Beispiel ist das sog. Atommoratorium. Bereits drei Tage nach dem Erdbeben in Japan kündigte die Bundeskanzlerin eine Kehrtwende in der Atompolitik an: Per „staatlicher Anordnung“ sollten sieben Altmeiler umgehend vom Netz genommen werden. Die rechtliche Qualität des Regierungsbeschlusses brachte der Bundesaußenminister auf den Punkt: „Das Moratorium ist keine Vertagung. Das Moratorium ändert die Dinge.“ Die Gesetzesbindung der Exekutive lag offenbar außerhalb der im Kabinett angestellten Erwägungen. Der Bundesumweltminister wird mit den Worten zitiert: „Wir lösen uns von der Gesetzeslage.“ (!) Erst nachdem die Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens öffentlich bezweifelt worden war, änderte die Regierung ihre Strategie und begründete das Moratorium nachträglich als eine Regelung zur Gefahrenabwehr im Atomgesetz. Die rechtliche Diskussion um das Moratorium nannten Bundeskanzlerin und Bundesumweltminister „spitzfindig“. Tatsächlich handelt es sich keineswegs um eine juristische Haarspalterei. Es geht um nichts weniger als um einen gezielten Verfassungsbruch von Seiten der Regierung. Verletzt worden

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sind die Gesetzesbindung der Regierung, die Gewaltentrennung sowie das Prinzip des demokratischen Rechtsstaats. Die Rechte des Bundestages wurden mißachtet. Das BVerfG hat schon früh entschieden, dass aus der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht eine Pflicht zur Anwendung von Gesetzen folgt. Diese Verpflichtung gilt auch für die Bundesregierung. Will sie von einem Gesetz abweichen, so kann sie eine entsprechende Gesetzesinitiative in den Bundestag einbringen oder – sofern sie Bedenken an der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hat – das BVerfG anrufen. Eine umfassende „Eilkompetenz“ der Bundesregierung sieht das GG auch im Rahmen der 1968 eingefügten „Notstandsverfassung“ nicht vor. Die spontane Aktion der Kanzlerin kann also nicht mit einer vermeintlichen „Ausnahmelage“ infolge der Vorfälle in Fukushima begründet werden. Der Bundestag hat zudem beim EU-Stabilitätsgesetz seine Handlungsfähigkeit in Drucksituationen bewiesen. Ihn von der Willensbildung auszuschließen, bestand kein Anlass. Dem unbefangenen Beobachter drängt sich der Eindruck auf, dass eher innenpolitische Motive den Ausschlag für die Blitz­ aktion gaben. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung neuerdings dazu neigt, die Missachtung des gewählten Parlaments zur Methode zu machen. So wendet sie seit über einem Jahr das sog. Zugangserschwerungsgesetz zur Sperrung von Internetseiten mit kinderpornographischem Inhalt nicht an, sondern lässt entsprechende Seiten ohne gesetzliche Grundlage löschen. Bundestagspräsident Lammert hält das mit Recht für „grob rechts- und verfassungswidrig“ (F.A.Z. vom 12.3.2011, S. 7). Schließlich ist in diesem Zusammenhang die vorzeitige Aussetzung der Wehrpflicht zu nennen. Da das Wehrpflichtgesetz bislang formell nicht geändert wurde und die Wehrersatzbehörden bei der Einberufung kein Entschließungsermessen haben, ist es zweifelhaft, ob die Einberufungspraxis bereits vorab geändert werden durfte. Die ungewöhnliche Eile bei der gesetzlichen Regelung des „Atomausstiegs“ lässt erneut die Neigung zur Missachtung des Parlaments vermuten. Die Unbekümmertheit von Bundesregierungen gegenüber ihren verfassungsrechtlichen Kompetenzgrenzen ist nicht völlig neu, aber in dieser Intensität doch ungewöhnlich. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil des Zweiten Senats vom 19. Juni 2012 (2 BvE 4 / 11) festgestellt, daß die Regierung bei den Verhandlungen über den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM den Bundestag nicht ausreichend informiert und damit die Rechte des Bundestages verletzt hat. „Demokratie hat ihren Preis. Bei ihr zu sparen, könnte aber sehr teuer werden“, sagte der Präsident des BVerfG im Rahmen der Begründung. Das Erfordernis der umfassenden Unterrichtung will, so das Gericht in der Begründung, dem Deutschen Bundestag die Wahrnehmung



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seiner Mitwirkungsrechte ermöglichen. Dementsprechend sei eine umso intensivere Unterrichtung geboten, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Qualität, Quantität und Aktualität der Unterrichtung. Die im Grundgesetz genannte Zeitvorgabe „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ der Unterrichtung ist danach so auszulegen, dass der Bundestag die Informationen der Bundesregierung spätestens zu einem Zeitpunkt erhalten muss, der ihn in die Lage versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesregierung nach außen wirksame Erklärungen, insbesondere bindende Erklärungen zu unionalen Rechtsetzungsakten und intergouvernementalen Vereinbarungen, abgibt. Der Schwund des Rechtsbewusstseins von Regierenden in diesem Land zeigt sich an zahlreichen anderen Vorfällen. Was ist davon zu halten, wenn die Kanzlerin nachgewiesene, schwerwiegende Rechtsverletzungen und Sittenverstöße eines Bundesministers mit der Bemerkung abtut, sie habe ja keinen „wissenschaftlichen Assistenten“ eingestellt. In der Tat: Nur einen Bundesminister! Der Ministerpräsident des Landes Bayern, zugleich Vorsitzender der CSU, kündigt an, er und seine Partei seien gewillt, diesem Minister, der wegen eklatanter, hartnäckig geleugneter Rechtsverstöße zum Rücktritt veranlasst worden war, neue politische Führungsaufgaben zu verschaffen. Die „Politik“ steht mit dem zunehmenden Schwund ihres Rechtsbewusstseins nicht allein. Auch oberste Bundesgerichte und Teile der Rechtswissenschaft lassen die Neigung erkennen, grobe Verstöße gegen das Gebot der Gesetzesbindung zu praktizieren, zu kaschieren oder zu verharmlosen. Es wird behauptet, der Richter könne seine jeweilige Methode der Gesetzesauslegung von Fall zu Fall nach dem von ihm für richtig gehaltenen Ergebnis frei wählen. Das würde bedeuten: Nicht die verfassungstreue Methode bestimmt die Ergebnisse, sondern die Gerichte können ihre Methode nach den von ihnen gewünschte Ergebnissen frei wählen. Jeder Fall hat dann seine eigene Methode. Anfang 2009 haben drei Richter des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem spektakulären Sondervotum (F.A.Z. vom 17. Juni 2010, S. 7 – Az. 2 BvR 2044 / 07) das Verhältnis der drei Staatsgewalten zueinander und den Verfassungsrang der Gesetzesbindung in die Erinnerung gerufen. Sie schrieben angesichts einer unverkennbar gesetz­ widrigen Entscheidung dem Bundesgerichtshof (BGH) ins Stammbuch: „Der Senat verkennt die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung … Im Zusammenwirken zwischen Legislative und Judikative gebührt dem demokratischen, unmittelbar legitimierten Gesetzgeber der Vorrang.“

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Der Verstoß des BGH gegen ein geltendes Gesetz ist kein Einzelfall. Dem Sondervotum im Zweiten Senat folgend hat nur der Erste Senat des BVerfG in einer spektakulären Grundsatzentscheidung zum Unterhalts­anspruch geschiedener Ehegatten (Beschluss vom 25. Januar 2011 – Az. 1 BvR 918 / 10) die Gesetzesbindung der Gerichte als unverrückbare Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung hervorgehoben: „Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss … den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten B ­ edingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen … Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetz­gebers setzt.“ Die Entscheidung ist geeignet, eine eingefahrene, angeblich „objektive“, in Wahrheit „gesetzesübersteigende“ Auslegungspraxis der Gerichte in Deutschland einschneidend zu verändern. Über Jahrzehnte hin haben oberste Bundesgerichte je nach dem von ihnen gewünschten Ergebnis darauf verzichtet, zunächst die Regelungsziele der Gesetzgebung zu ermitteln. Auch das BVerfG hat dem historischen Normzweck lange eine zweitrangige Bedeutung zugemessen und gemeint, die Verfassung schreibe keine bestimmte Methode der Gesetzesauslegung vor. Jetzt erkennt der Erste Senat: Methodenfragen sind Verfassungsfragen, weil sie die Normsetzungsmacht zwischen Parlament und Justiz regeln. In der Judikatur des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist dieses Problem seit Jahrzehnten aktuell. Zum Beweis genügt der Hinweis auf die Rechtsprechung etwa zum Kündigungsschutz, zur Betriebsverfassung und – besonders – zum Arbeitskampfrecht. Da die Gesetzgebung diese Materie wegen der innenpolitischen Brisanz dauerhaft scheut, besteht das Arbeitskampfrecht fast ausschließlich aus dem Richterrecht des BAG. Die für Arbeitskämpfe verbindlichen Grundsätze hat der Große Senat des BAG in zwei Grundsatzentscheidungen von 1955 und 1971 festgelegt. Sie sind für alle Senate des Gerichts verbindlich. Will einer davon abweichen, so ist er gesetzlich verpflichtet, die Frage dem Großen Senat vorzulegen (§ 45 Abs. 2 Arbeitsgerichtsgesetz). Dieser ist dann der allein zuständige „gesetzliche Richter“ nach Art. 101 Abs. 1 GG. Der zuständige 1. Senat des BAG hat seit 1976, also über 35 Jahre hin, in einer Serie von Entscheidungen gezielt gegen diese Vorlagepflicht verstoßen und die Grundsätze des Großen Senats buchstäblich auf den Kopf gestellt („Warnstreiks“, „Neue Beweglichkeit“, „Aussperrungsquoten“, „Sympathiestreiks“, „Flashmob“). Das gebotene Verhandlungs- und Kampfgleichgewicht der Tarifparteien wurde massiv verschoben, der Arbeitskampf wurde vom „letzten Mittel“ („ultima ratio“) bei Tarifkonflikten zum Eröffnungsritual bei Tarifverhandlungen promoviert. Die „Flashmob“-Entschei-



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dung machte den Streik, der nur unter den kämpfenden Tarifparteien zulässig ist, zu einem allgemeinen Volksvergnügen. Die streikführende Gewerkschaft kann beliebige Bevölkerungsgruppen zur Teilnahme an der Lahmlegung eines Einkaufszentrums aufrufen, etwa Parteigenossen, erlebnisfröhliche Jugendgruppen oder Mitglieder beliebiger Kegel-, Sport- und Tierzuchtvereine. Mit dem umkämpften Tarifvertrag müssen sie nichts zu tun haben. Das BAG hat mit dieser Entscheidungsserie – die sich aus anderen Gebieten des Arbeitsrechts ergänzen ließe – trotz ständiger Kritik in der Literatur fortwährend gegen das Arbeitsgerichtsgesetz und gegen das Grundgesetz verstoßen. Auf diese Weise behielt der 1. Senat unter dem Vorsitz des jeweiligen Präsidenten wegen der Regelungsscheu des Parlaments das faktische Normsetzungsmonopol in dieser brisanten Materie. Der Einfluss dieser Rechtsprechung auf den rasanten Anstieg der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland seit 1982 (Zwei-Millionen-Grenze) sollte nicht übersehen werden. Insgesamt kann das gegenwärtige Arbeitskampfrecht des 1. Senats beim BAG als „richterliches Gewohnheitsunrecht“ eingestuft werden. Es ist zudem nur ein Beispiel für viele. So hat jüngst etwa der 7. Senat das absolute Vorbeschäftigungsverbot bei sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen zwar arbeitsmarkpolitisch sinnvoll, aber gleichwohl offensichtlich gesetzeswidrig „in einem Anfall kreativer Rechtsschöpfung“ (Budras, F.A.Z. vom 29.4.2011, S. 11) durch eine dreijährige Sperrfrist ersetzt. Ein Wechsel des Vorsitzenden im zuständigen Senat hat also bewirkt, was zuvor zwei Bundesregierungen trotz entsprechender Selbstverpflichtungen im jeweiligen Koalitionsvertrag nicht gewagt hatten. Die schleichende Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien stellt keine Ausnahmeerfahrung dar. Sie hat, wie gezeigt, bereits zwei der drei Verfassungsgewalten erfasst. Es geht auch nicht mehr um vereinzelte Ausrutscher und Fehlleistungen. In den genannten Beispielen dokumentiert sich die Gefahr der Bildung und Fortführung eines „Gewohnheitsunrechts“. Der Vorgang legt drei Fragen nahe: (1) Welches sind mögliche Ursachen dieses Trends? (2) Was sind zu erwartende Folgen? (3) Wie ist diese Entwicklung zu bremsen oder im Sinne der Verfassung zu domestizieren? (1)  Bei dem „Atommoratorium“ könnte man vielleicht an einen durch die Dramatik der Vorgänge in Fukushima ausgelösten, massenpsychologisch bedingten „Ausnahmezustand“ denken. Dafür enthält das Grundgesetz aber keine Grundlage. Die dort verankerten Notstandsregelungen sind, soweit sie die Rechte der Gesetzgebung einschränken, enge Ausnahmevorschriften und können von der Regierung nicht eigenmächtig erweitert oder analog werden. Der anschließend mit breiter Mehrheit vom Bundestag beschlossene „Ausstieg aus der Atomenergie“ soll bis 2022 vollzogen sein. Das zeigt, dass

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von einer unmittelbaren Katastrophengefahr in Deutschland keine Rede sein konnte. Dieselbe Nachlässigkeit bei der Überschreitung ihrer Kompetenzgrenzen zeigte die Bundesregierung in den übrigen genannten Fällen. Es scheint sich, wie auch die übrigen Beispiele des Regierungshandelns zeigen, eine zunehmende Neigung der politischen Exekutive auszubreiten, bei medial aufgeheizten Themen ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Bindungen vor der Öffentlichkeit reflexartige Handlungsbereitschaft zu demonstrieren. Das gilt auch für die übereilten Maßnahmen zur vorzeitigen Realisierung der Aussetzung der Wehrpflicht. Die eigenmächtige Verletzung der Gesetzesbindung durch Gerichte, zunächst vor allem im Arbeitsrecht, inzwischen in allen Gerichtsbarkeiten, hat mehrere Ursachen. Da ist zunächst die rasante Veränderungsgeschwindigkeit moderner Gesellschaften in Technik, Ökonomie und Sozialstruktur. Sie bewirkt, daß Gesetze bald nach ihrem Erlaß veralten, vom sozialen Wandel überholt werden und mehr Lücken als Regelungen enthalten. Die Hektik der Gesetzgebung führt oft zu verminderter Qualität der Gesetze. Die Gerichte handeln dann gern nach der Ansicht, ihre eigene Lösung der Konflikte sei sachgemäßer und gerechter als die gesetzliche Regelung. Die staatlich verordnete Juristenausbildung in Deutschland hat die Bedeutung der Grundlagenfächer (Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Methodenlehre) so abgewertet, daß deren Grundzüge den meisten Juristen nicht mehr selbstverständliches Handwerkszeug sind. Sie meinen, sie könnten sich ihre Methode der Gesetzesanwendung oder -ablehnung eigenmächtig wählen. (2) Der demokratische Rechtsstaat bezieht seine Autorität und Würde aus der Wahrung des Rechts in allen Lebensbereichen. Das Vertrauen des Staatsvolkes in das „System“ setzt die Rechtstreue der Staatsorgane voraus. Sowohl bei Regierungsmitgliedern wie bei Richtern ist auch die Treue zum Amtseid betroffen. Es geht bei der Feststellung dieser Entwicklungen schlicht um die Erhaltung und die Festigung rechtsstaatlicher Grundsätze, die, wie sich zeigt, nicht nur von außen, sondern durch Mitglieder von Staatsorganen gefährdet werden. (3) Wer kann diese Entwicklung bremsen? Der Bundestagspräsident hat in den letzten Monaten getreu seinem Amtseid die Einhaltung mehrfach Verletzungen der Rechte des Bundestages durch die Bundesregierung gerügt und die Einhaltung der Verfassung angemahnt. Von der jeweiligen Regierungsmehrheit im Bundestag ist hingegen ein Widerstand gegen die verfassungsrechtlichen Eigenmächtigkeiten „ihrer“ Regierung selten und in der Regel nur bei koalitionsspezifischen Konflikten zu erwarten. Immerhin hat es in einigen der genannten Problemfälle auch mahnende Stimmen aus der größeren Regierungspartei gegeben.



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Für die Gerichtsbarkeit ist die zitierte Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein möglicher neuer Orientierungspunkt, um die unbekümmerten Gesetzesverweigerungen und -verwerfungen etwa im Arbeitsrecht und in allen anderen Gerichtszweigen einzuschränken. In der Juristenausbildung sollten Rechtsgeschichte und juristische Methodenlehre wieder den Rang erhalten, der die Juristenberufe wieder mit dem erforderlichen wissenschaftlichen Rüstzeug ausstattet, dessen der Rechtsstaat gerade deshalb bedarf, weil er – als Folge der angedeuteten Entwicklung – unvermeidlich zum „Richterstaat“ mutiert ist. Ganz verwegene Theoretiker verkünden heute schon die These, es gebe gar kein Recht, es gebe nur noch Richter. (Ausführliche und aktualisierte Fassung eines Artikels aus der FAZ Nr. 198 vom 26. August 2011, S. 9)

Insulsi est animi manentem in terris exquirere civitatem Pius II.

Wie scheitern Demokratien?1 Läßt sich der Verfassungskreislauf aufhalten? Von Alexander Demandt Im Herbst des Jahres 522 v. Chr. ist es den Verschwörern in Susa gelungen, den angeblichen Usurpator des persischen Thrones zu töten.2 In dieser Stunde Null beraten sie nun, welche Staatsform sie einführen sollen. Fürst Otanes empfiehlt die Demokratie, Megabyzos spricht für die Aristokratie und Darius, der spätere Großkönig, plädiert für die Monarchie. In diesem Verfassungsgespräch bietet Herodot (III 80 ff.) eine erste Typologie von Staatsformen mit ihren Vorzügen und Nachteilen. Otanes fordert die Herrschaft für das ganze persische Volk, aus dessen Mitte die Amtsinhaber jeweils ausgelost werden sollen. Sie seien Rechenschaft schuldig und müßten ihre Beschlüsse vor die Gemeinschaft bringen. Das schönste Prinzip heiße Gleichberechtigung, isonomia. Monarchie hingegen erzeuge Hybris, Rechtlosigkeit und Mißbrauch der Gewalt. Herodot hat hier die solonische Verfassung Athens und die Erfahrungen mit der Tyrannis im Auge. Megabyzos sodann will die Herrschaft wenigen anvertrauen, den besten Männern Persiens, die von den Verschwörern auszuwählen seien. Er akzeptiert die Argumente des Otanes gegen die Alleinherrschaft, mißtraut aber der politischen Vernunft der Menge: sie sei unwissend und leidenschaftlich. Herodot hatte einschlägige Erfahrungen mit der attischen Demokratie. Darius schließlich übernimmt die Einwände gegen die Volksherrschaft, wendet sich aber ebenso gegen die Aristokratie, weil in ihr Parteiungen entstünden, indem zwischen den Adligen unweigerlich Eifersucht und Streit 1  Vortrag auf der der Tagung „Demokratiedämmerung“ auf der Schönburg am 20. Januar 2012, erweiterte Fassung. 2  A. Demandt, Darius und der „falsche“ Smerdis 522 v. Chr, in: ders. (Hg.), Das Attentat in der Geschichte, 1996, 1 ff.

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erwachse. Der daraus entstehende Bürgerkrieg bringe den Stärksten an die Macht, so wie auch die Umtriebe in der Demokratie den Mann der Ordnung an die Spitze bringen müßten. Daher solle man doch gleich die Monarchie einführen. Denn die beste Herrschaft sei die Herrschaft des Besten. Das war er selbst. Die von Herodot aufgezeigten Schattenseiten der drei „reinen“ Staatsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie wurden durch Platon zu einer Verfallslehre des Staates ausgearbeitet. Im achten Buch seiner ‚Politeia‘ beschreibt er die Stufen und Gründe des Niedergangs, dem selbst der von ihm entworfene Idealstaat nicht entgehen könne. Irgendwann, heißt es, entartet das Erbgut. Dann gibt es unter den Philosophenkönigen Streit, weil der Primat der Weisheit dem Wunsch nach Ansehen, nach timē weicht. Es entsteht eine militärisch gestützte Timokratie, sodann eine Oligarchie der Reichsten, eine Plutokratie. Dem Volk werden die Waffen verweigert, weil eine Revolution zu befürchten ist. Die herrschende Klasse aber zerfällt und verweichlicht, da die Kinder verwöhnt werden wie die Prinzen in Persien, die nichts müssen und alles dürfen.3 Einzelne deklassierte Elemente der Oberschicht werfen sich auf zu Führern des verarmten Volkes, und es entsteht die buntscheckige, von Demagogen beherrschte radikale Demokratie. Platon gibt auch der gemäßigten, solonischen Demokratie keine Chance, sondern sieht sie grundsätzlich in der Gefahr, daß unter den Parolen von Gleichheit und Freiheit alles in Anarchie endet, was schließlich die Tyrannis heraufbeschwört, die schlechteste aller Staatsformen. Der Tyrann enteignet die Reichen und bezahlt damit seine Schutzstaffel. Eine Bodenreform sichert ihm die Liebe der Bürger, alle Maßnahmen erfolgen im Namen des Volkes, die „Volksfeinde“ werden ins Exil getrieben. Das heißt katharmos, Säuberung. Es geht um Reinheit.4 Nachdem er so die Ordnung wieder hergestellt hat, ist der Tyrann eigentlich überflüssig geworden. Um aber weiterhin unentbehrlich zu sein, zettelt er Kriege an. Er benötigt erst innere, dann äußere Gegner, um seine Macht zu rechtfertigen. Unschwer findet er Dichter und Künstler, die ihn verherrlichen. Das Volk aber ist in Knechtschaft geraten, ohne es zu bemerken, ein Maximum an Zwang erwuchs aus einem Maximum an Freiheit. Das Freiheitsbegehren wird von Platon als dauerhafter Rauschzustand karikiert. Wer nicht will, geht nicht in die Schule, leistet keinen Kriegsdienst, übernimmt keine Amtspflichten. Gesetzesbruch wird nicht oder milde bestraft. Man liebt den Wein und die Musik; Völlerei und Abmagerungskuren folgen im Wechsel. Die Lehrer fürchten die Schüler, die Einhei3  Platon, 4  O.

Gesetze 694 D ff. Depenheuer (Hg.), Reinheit des Rechts, 2010.



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mischen die Fremden, die Väter die Söhne; und die Alten gebärden sich wie Jugendliche. Selbst die Hunde und die Esel werden nicht mehr gezügelt, anything goes. Daß wir hier aktuelle Bezüge heraushören, ist nicht neu. Als ich dieses Thema 1981 in meiner Vorlesung behandelte, genauer am 2. Juli, diskutierte das Berliner Abgeordnetenhaus über die Regierungserklärung des neuen CDU-Senats.5 Der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker zitierte aus dem VIII. Buch von Platons ‚Staat‘ die Frage: „Ist es nicht so, daß die Demokratie sich selber auflöst durch eine gewisse Unersättlichkeit in der Freiheit?“ Der Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel nahm das Zitat auf und bekannte sich zu dieser Unersättlichkeit. Weizsäcker aber meinte mit Platon, daß dem Freiheitsbegehren Einzelner – er dachte wohl an die Kreuzberger Chaoten – da ein Riegel vorgeschoben werden müsse, wo die Freiheit aller bedroht wird. Hier hätte die Debatte beendet werden können, wenn nicht der FDPAbgeordnete Kunze den griechischen Originaltext aus seiner Tasche hervorgezaubert hätte. Er akzeptierte die Ähnlichkeit des Athen von damals mit dem Berlin von heute, d. h. mit Spree-Athen, erklärte aber, Platon sei, wie Sir Karl Popper bewiesen habe, der „Erzvater des totalitären Staates“. Nicht Platon, sondern Solon müsse unser Vorbild sein, Solon habe die Krise Athens bewältigt. Der Herr von der FDP hatte offenbar Geschichte studiert. Nur hat er anscheinend jene Vorlesung versäumt, als aus der solonischen Demokratie die Tyrannis des Peisistratos hervorging. Platons Vermutung ist gar nicht so dumm, daß Freiheit in Zwang umschlagen kann, wenn die Demokratie nicht imstande ist, elementare Mißstände zu beheben. Platon liefert die Bausteine zu der Lehre vom Verfassungskreislauf, und das gilt nicht nur für die Logik des Verfalls, sondern ebenso für die Chance eines Umschlags von der schlechtesten wieder in die beste Staatsform. Im Jahre 366 folgte er dem Ruf von Dionys II, dem Tyrannen von Syrakus.6 Dieser suchte durch die Anwesenheit des Philosophen sein Ansehen zu steigern, während Platon hoffte, den Tyrannen zum Philosophenkönig zu erziehen. Der Versuch mißglückte. Im Jahre 357 gelang es dann Platons Freund und Schüler Dion, den Tyrannen zu stürzen. Die wieder erstandene Demokratie betrachtete Platon allerdings als einen Krämerladen, wie denn der „demokratische Mensch“ zum Gelderwerb erzogen werde.7 Ein erneuter Rückfall in die Tyrannis blieb nicht aus. Wo es allein um das Leben im Überfluß gehe, so Platon, 5  A.

Demandt, Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, 1993, 88 f. Laertios III 13 ff.; Platon, 7. Brief. 7  Platon, Staat 572 B. 6  Diogenes

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da gebe es einen ewigen Wechsel von der Demokratie in die Tyrannis, weiter in die Oligarchie und wieder in die Demokratie.8 Platons Gedanken zum Verfassungswechsel finden sich wieder bei seinem Schüler Aristoteles9 und dann im 2. Jahrhundert v. Chr. bei Polybios. Er brachte die Theorie vom Verfassungskreislauf in die fortan gültige Fassung.10 Die anfängliche Einherrschaft in der Form des Königtums degeneriert infolge der korrumpierenden Wirkung der Macht in die Tyrannis. Dagegen erheben sich die Besten und begründen die Mehrherrschaft der Aristokratie, bis diese durch die Verführung des Reichtums in eine Plutokratie ausartet. Nun revoltiert die verarmte Unterschicht und errichtet die Volksherrschaft, zunächst in der Form der Demokratie. Diese aber zerfällt in Parteien, die ihre Gruppeninteressen über das Gemeinwohl stellen, und damit wird die Pöbelherrschaft zur Cheirokratie, zur Herrschaft des Faustrechts. Der nachfolgende Bürgerkrieg bringt den stärksten Bandenführer an die Macht, und nun entscheidet die Zufälligkeit seines Charakters, ob mit der Tyrannis die schlechteste oder mit dem Königtum die beste aller Staatsformen entsteht. Diese, zumal in der griechischen Welt vielfach bestätigte Zustandsfolge habe die Römer bewogen, so meint Polybios (VI 11,11 ff), keine reine, sondern eine gemischte Staatsverfassung aufzubauen. Die römische Repu­ blik besitze ein demokratisches Element in der Volksversammlung, in der die Beamten gewählt, die Gesetze und Kriege beschlossen werden. Daneben verkörpere der Senat das aristokratische Element, denn ihm obliege die Überwachung der Politik. Das monarchische Element findet Polybios in der weitgehenden Amtsgewalt, dem imperium der Konsuln, den Leitern des Staates und Anführern des Heeres. Durch das so geschaffene Gleichgewicht der Kräfte schien die Republik gesichert. Gefahr erwuchs aus der Kriegsführung, zuerst durch die Popularität Scipios, der Rom vor Hannibal gerettet hatte und ins Exil gehen mußte, und dann durch Gaius Gracchus, der die im Kriegsdienst verarmten Bauern hinter sich brachte, aber von der Senatspartei erschlagen wurde. Der Niedergang der Republik folgte dem Wachstum des Reiches und des Reichtums. Die außenpolitischen Erfolge destabilisierten die innenpolitische Ordnung. Polybios sah das klassische Dekadenzschema am Wirken.11 Diese seit Pythagoras12 bekannte Erfahrungsregel besagt, daß ein Leben in bescheidenen äußeren Umständen zur Anspannung der inneren Kräfte anregt, daß dadurch 8  Platon,

7. Brief 326 D; 8. Brief 354 DE. Politik V. 10  Polybios VI 3 ff. 11  A. Demandt, Geschichte als Argument, 1972, 18 ff.; ders., Philosophie der Geschichte, 2011, 42 ff. 12  Stobaios, Florilegium 43,80. 9  Aristoteles,



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die äußere Lage verbessert wird, daß Macht und Reichtum die Folge sind, wodurch aber umgekehrt die inneren Kräfte erschlaffen, Sorglosigkeit und Bequemlichkeit einkehren, so daß die äußere Lage sich wieder verschlechtert und in den Anfangszustand zurückführt. Der damit erklärte Sittenverfall begann laut Polybios (VI 11,1) mit der Überwindung der Niederlage gegen Hannibal 216 v. Chr. bei Cannae, dem Höhepunkt der römischen Verfassungsgeschichte. Noch Cicero freilich glaubte an die ewige Dauer der römischen Mischverfassung,13 sah aber deutlich, daß dem Bürger (englisch: dem mob) mehr an Unterhalt und Unterhaltung, an panem et circenses14 gelegen war als an der Politik. Nur eine Minderheit beteiligte sich überhaupt noch an den Wahlen,15 während Männer des Ritterstandes wie Ciceros Freund Atticus16 fern der Politik dem Gelderwerb frönten, und selbst viele Senatoren sich schon damals lieber dem Ausbau ihrer prachtvollen Villen widmeten als dem Staatsdienst. Gleichzeitig lieferten sich Demagogen mit ihrer Gefolgschaft Straßenkämpfe. Cicero erkannte, daß der Staat einen Retter, einen moderator rei publicae benötigte.17 Ein solcher erschien in der Person Julius Caesars.18 Nachdem schon zuvor die reichen Kriegsherren Marius (sieben Mal Konsul), Sulla (dictator) und Pompeius (consul sine collega) notstandsbedingt Ausnahmegewalt, ja quasimonarchische Positionen besessen hatten, hat Caesar seine verfassungswidrige Alleinherrschaft durch Senat und Volk auf Dauer stellen lassen. Er war durch seine immense Beute aus Gallien der reichste Mann der Welt, und hat, gestützt auf seinen Siegesruhm und seine Rednergabe, durch Spiele und Spenden das Volk geködert. Caesar hat mit Geld Politik gemacht. Er hatte seine Karriere fremdfinanziert und war zuletzt bei der Bewerbung um das Konsulat so hoch verschuldet, daß die Gläubiger ihn weiter unterstützen mußten, wenn sie ihre Investitionen wiedersehen wollten. Ihre Spekulation ging auf, Politik war zum Geschäft geworden. Augustus vollzog den von Platon erhofften Übergang von einer korrupten Republik19 in eine prosperierende Monarchie.20 Caesars Adoptivsohn und Erbe beendete den Bürgerkrieg und begründete die Pax Augusta. Der Un13  Cicero,

De re publica I 69; II 2. X 81. 15  Cicero, Pro Sestio 109, aus dem Jahr 56 v. Chr; ders., De re publica I 9; ders., De officiis I 71. 16  Cornelius Nepos XXV; O. Perlwitz, Titus Pomponius Atticus, 1992. 17  R. Heinze, Vom Geist des Römertums, 1960, 141 ff. 18  M. Gelzer, Caesar. Der Politiker und Staatsmann, 1921. 19  Nepos XXV 6,2: corruptis civitatis moribus. 20  H. Schlange-Schöningen, Augustus, 2005. 14  Juvenal

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tergang der Demokratie – so nannten die Griechen die Republik21 – war ein enormer zivilisatorischer Fortschritt. Augustus wurde als Retter der Welt gefeiert. Machtbasis waren seine Autorität beim Heer und seine Einkünfte aus Ägypten. Er war wiederum der reichste Mann im Staat. Die Umwälzung vollzog sich juristisch getarnt hinter der alten Fassade. Alle republikanischen Institutionen blieben bestehen. Das hat nicht nur Theodor Mommsen bewogen, einen Fortbestand der republikanischen Verfassung anzunehmen.22 Augustus kumulierte und perpetuierte nur republikanische Ämter in seiner Person, so daß er in seinem politischen Testament erklären konnte, er habe als der erste Bürger im Staat, als princeps, mit seiner Privatarmee die von den Parteien zerstörte Freiheit der Republik wiederhergestellt: rem publicam dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi. Caesar hatte gesagt, die res publica sei bloß noch ein leerer Begriff,23 und tatsächlich blieb das Wort res publica noch bis zu Einhard24 unter Karl dem Großen für das damals oströmische Kaiserreich in Geltung. Politische Begriffe sind Gummihülsen. Augustus nutzte die allgemeine Politikmüdigkeit. Die Volksversammlungen bestätigten, was der Kaiser beschlossen hatte, bis sie – unter Claudius – nicht mehr stattfanden. Der Senat tagte in zeremonieller Form. Er hatte nichts Wesentliches mehr zu entscheiden, aber die Toga war vorgeschrieben. Die meisten Senatoren privatisierten. Die Versuche von Tiberius und Nero, sie an der Staatslenkung zu beteiligen, scheiterten. Die Entpolitisierung durch den Wohlstand war schon Herodot (I 155) bekannt. Als der Perser Kyros die Lyder unterworfen hatte, fragte er den besiegten König Kroisos, wie er verhindern könne, daß die Lyder sich gegen ihn empören. Da riet Kroisos dem Sieger: „Verbiete den Lydern die Kriegswaffen, befiehl ihnen, warme Kleider und hohe Schuhe zu tragen, laß sie Handel treiben und Musik machen. Dann werden die Männer zu Weibern und lassen die Finger von der Politik.“ Das befolgte auch Augustus. Er hat den Verfassungskreislauf angehalten. Dieser hatte mit Romulus und den Königen begonnen. Ihr Machtmißbrauch führte zur Freiheitstat des Brutus und zur Errichtung der Senatsrepublik. Sie hat sich schrittweise demokratisiert, indem neben den Patriziern auch die Plebejer zum cursus honorum zugelassen wurde. Dann aber bildeten sich Parteien. Optimaten kämpften gegen die Popularen, bis letztere unter Augustus triumphierten. Er bestätigte die Prognose des Darius bei Herodot und begründete die dauerhafteste Staatsform der europäischen 21  Cassius

Dio LII 5,4. 6,1; 9,1 f; 13,6. Castritius, Der römische Prinzipat als Republik, 1982. 23  Sueton, Caesar 77. 24  Einhard, Annalen zum Jahr 803. 22  H.



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Geschichte. Die Völker Europas wurden seitdem 1800 Jahre lang monarchisch regiert, stets unter Bezugnahme auf Rom. Die antiken Staatsdenker haben für den Verfall der Demokratien der Sittenverderbnis das entscheidende Gewicht zugemessen. Sie wähnten, durch moralischen Appell das Gemeinwesen doch noch in der alten Form erhalten zu können. Aber die Entwicklung war durch Beschwörungen nicht aufzuhalten, mit der Unruhe kam der Ruhestifter. Am naivsten predigte hier Sallust, neben Cicero der zweite Wortführer der Wertediskussion, als er in einem offenen Brief Caesar aufforderte, er solle dem Geld sein Ansehen nehmen: auctoritatem pecuniae demito.25 Das aber ist nicht einmal Buddha, Diogenes und Jesus Christus gelungen. Stets haben die Menschen „Schätze auf Erden“ gesammelt und dem gehorcht, der sie bezahlt hat. Im Blick auf Caesar schrieb Oswald Spengler 1923:26 „Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst.“ Neben den inneren sind auch die äußeren Krisenfaktoren nicht zu übersehen. Dies zeigt die wechselhafte Verfassungsgeschichte in Syrakus und den anderen Griechenstädten auf Sizilien. Sie lebten unter ständiger Kriegsdrohung durch Karthago. Sobald der Ernstfall eintrat, war ein Oberbefehlshaber vonnöten. Die Bürger bestellten einen stratēgos autokratōr, und wenn dieser die Stadt gerettet hatte, blieb er, anders als ein befristeter römischer dictator, im Amt und vererbte es an seinen Sohn, bisweilen sogar an seinen Enkel, bis die Dynastie abgewirtschaftet hatte und die Demokratie erneuert werden konnte. So entstand und verschwand im 5. Jahrhundert dort die ältere Tyrannis und im 4. Jahrhundert die jüngere.27 Kriege ruinierten ebenso die Demokratie in Karthago. Die Feldherren der Kaufmannsrepublik gewannen in den Außengebieten, auf Sizilien und in Spanien eine erbliche Machtposition, die im Falle Hannibals sogar dessen Niederlage gegen Scipio Africanus überdauerte. Seit der Schlacht bei Zama 202 regierte Hannibal seine Vaterstadt als quasidemokratisch gewählter Ober­ beamter in monarchischer Position, bis seine oligarchischen Gegner und die Forderung aus Rom ihn 196 v. Chr. ins Exil trieben.28 Die damals erneuerte demokratische Ordnung währte bis zur Zerstörung Karthagos 146 v. Chr.

* Innere und äußere Gründe bestimmten ebenso die Geschichte der Demokratie in ihrer Mutterstadt, in Athen. Die um 600 v. Chr. aufkommende 25  Sallust,

Briefe II 10. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, II 1923, 578. 27  A. Demandt, Antike Staatsformen, 1995, 163. 28  W. Hoffmann, Hannibal, 1962. 26  O.

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Geldwirtschaft hatte zu einer Verschuldung des Volkes beim grundbesitzenden Adel geführt. Am Rande des Bürgerkrieges wählte man Solon zum Schiedsmann.29 Er verfügte die berühmte seisachtheia, die „Lastenabschüttelung“ und hätte durch die damit gewonnene Popularität sich zum „Tyrannen“ aufschwingen können, so wie andere Männer aus dem Kreis der Sieben Weisen,30 dem er selbst angehörte. Stattdessen schuf er 594 v. Chr. die erste freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Geschichte der Demokratie beginnt mit einer Schuldenkrise. Solon hat sie nur vorübergehend gelöst. Der soziale Friede kehrte nicht ein. Im Jahre 561 errichtete der schon erwähnte Peisistratos seine Tyrannis. Er besaß Gold- und Silbergruben im Pangaiongebirge und ließ die ersten Eulenmünzen in Athen prägen. Der Spruch „Man trägt keine Eulen nach Athen“ lautet heute: „Man trägt keine Euros nach Athen.“ Peististratos überlebte einen Mordversuch durch den Adel. Daraufhin gewährte das Volk ihm eine Garde aus Stockträgern. Gestützt auf die Bürgerschaft, die als schwerbewaffnete Hopliten den grundbesitzenden Reiteradel militärisch marginalisiert hatten, betrieb Peisistratos eine volksfreundliche Politik, die es ihm erlaubte, ohne Minderung seiner Vorrangstellung den demokratischen Schein zu wahren und weiterhin Wahlen durchführen zu lassen. Sein Nachfolger und weniger populärer Sohn Hippias wurde 510 durch den im Exil befindlichen Adel und die Spartaner gestürzt. Die wiederhergestellte, durch Kleisthenes reformierte Demokratie bestand ihre Bewährungsprobe in den Perserkriegen. Die siegreichen Feldherren aber wurden vertrieben, um einem Rückfall in die Tyrannis vorzubeugen, so nacheinander Miltiades, Aristides, Themistokles und Kimon. Ähnlich handelten die Demokraten von Ephesos, gemäß Heraklit, als man den ersten Bürger mit der Begründung verbannte: „Von uns soll niemand der Tüchtigste sein.“31 Erst förderlich, dann verderblich für die attische Demokratie wurde das Geld. Die Silbergruben von Laurion an der Spitze von Attika erlaubten den Bau einer Flotte, gerudert von ärmeren, immer besonders demokratisch gesinnten Bürgern.32 Gestützt auf die Seemacht, begab sich Athen auf den Weg zur Großmachtpolitik, der in die Katastrophe führte. Seit 462 stand Perikles an der Spitze des Staates.33 Durch militärische, rhetorische und politische Fähigkeiten ausgezeichnet, wurde er 16 mal Jahr für Jahr zum 29  Plutarch,

Solon 8 ff. Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, 1971. 31  H. Diels / W. Kranz, die Fragmente der Vorsokratiker 1937, Nr. 22, B 121. 32  Herodot VII 144; Nepos II 2,2. 33  G. A. Lehmann, Perikles, 2008. 30  B.



Wie scheitern Demokratien?47

Oberbeamten gewählt. Obschon er jeweils neun gleichberechtigte Kollegen hatte, regierte er laut Thukydides (II 9) wie ein Monarch. Er verringerte die Zahl der zum Empfang von Diäten berechtigten Bürger, die nun einen Abstammungsnachweis vorlegen mußten, und forderte die traditionelle Hegemonialmacht Sparta heraus. Er starb aber 429 im zweiten Jahr des Peloponnesischen Krieges. Dieser Krieg offenbarte die Labilität der attischen Demokratie. Im Jahre 415 versuchten die Athener unter der Führung des Alkibiades, in Sizilien Fuß zu fassen und ihre Macht ins westliche Mittelmeer auszuweiten. Den abwesenden Alkibiades verklagten seine Gegner, er mußte die Expeditionsarmee verlassen. 413 wurde sie aufgerieben. Daraufhin setzten die Freunde des Alkibiades die Abschaffung der Demokratie durch. Athen wurde oligarchisch regiert. Da auch dies nichts half, stellte Alkibiades, nun als Retter Athens gefeiert, die Demokratie 408 wieder her. Aber nach dem Mißerfolg einer seiner Admirale wurde Alkibiades ein zweites Mal verbannt. Ein Seesieg Athens über die Spartaner folgte und bewog diese zu einem Friedensangebot. Die attische Volksversammlung, siegesgewiß, lehnte ab. Stattdessen beschloß sie die Hinrichtung ihrer Admirale, die in einem Seesturm die Ertrinkenden nicht hatten retten können. Nun ohne fähige Führung, wurde die Flotte Athens 405 vernichtet, die Stadt von den Spartanern zur Kapitulation gezwungen und den sogenannten Dreißig Tyrannen unterstellt. Zwar konnte die demokratische Verfassung 403 wieder eingeführt werden, doch machten sich die Schwachpunkte des Systems immer wieder bemerkbar. Dies waren kurzsichtige und emotionale Entscheidungen, sowie Projekte ohne Augenmaß, die schon Platon kritisiert hatte.34 Ein äußerer Niedergangsfaktor war der Aufstieg Makedoniens. Philipp, der Vater Alexanders, erschloß sich weitere Goldbergwerke im Pangaion. Damit schuf er ein Heer und gewann in ganz Griechenland Anhänger.35 „Ein goldbeladener Esel steigt über jede Mauer“, soll er gesagt haben.36 Vergeblich hat sich Demosthenes, Griechenlands letzter großer Demokrat, mit einer Philippika nach der anderen dagegen aufgelehnt. 338 unterlag er. Die griechische Freiheit, d. h. die Möglichkeit der Demokratie, nach Belieben Krieg zu führen, war dahin. Philipp verkündete einen allgemeinen Landfrieden. Die geringen militärischen Mittel Athens machten die Stadt hinfort außenpolitisch handlungsunfähig, d. h. friedfertig. Sie ist unfreiwillig verschweizert, war aber weiterhin Kulturhauptstadt der Welt. Darin fand Wilhelm von Humboldt 1807 den Trost für den „Untergang der griechischen Freistaaten.“ 34  Platon,

Gorgias 515 D ff.; Isokrates, Über den Frieden (or. VIII). XVI 54,3. 36  Cicero, An Atticus I 16,12; Plutarch, Moralia 178 B, 35  Diodor

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Athen zeigt das intensive, aber ambivalente Zusammenspiel von Geld und Demokratie, und ähnliches sehen wir in Sparta. Die dortige konstitu­ tionelle Monarchie wurde von einem Beamtenkollegium regiert, das von den grundbesitzenden Vollbürgern gewählt wurde. Schon im 4. Jahrhundert kam es jedoch zu einer Besitzkonzentration mit einem Schwund der Vollbürger und einer Verschuldung der Mehrheit. Diesen sozialen Mißstand nutzten nacheinander zwei Könige, Agis und Kleomenes, zu einer Bodenreform und einer Entmachtung der Reichen. Gestützt auf das Volk, schufen sie sich eine Art dynastisch legitimierte Tyrannis, ließen sich dann allerdings auf militärische Abenteuer ein, die im Jahre 222 Sparta ruinierten und in die Bedeutungslosigkeit versenkten. Das mehr oder weniger demokratische Stadtregiment blieb indessen mit tyrannischen Zwischenspielen erhalten, wie in Sparta, so in Athen. Hier verschwand es noch einmal im Jahre 88 v. Chr., als Mithridates von Pontos den Kampf gegen Rom eröffnete. In Athen entstand eine romfeindliche Partei, welcher Mithridates Hilfe und Übernahme der Schulden versprach. Im Bürgerkrieg gegen die Romfreunde in Athen schwang sich der Parteigänger des Königs zum Tyrannen auf, bis Sulla ihn stürzte. Ein außenpolitisches Wagnis, gepaart mit Schuldenkrise und Bürgerzwist, hatten die Demokratie suspendiert.37 Die Römer stellten die Demokratie in Athen wieder her,38 wie Sulla damals, so später Marc Aurel, nachdem der steinreiche Herodes Atticus die Herrschaft über die Stadt an sich zu reißen drohte.39 Demokratie von oben oder von außen war ein bewährtes Herrschaftsinstrument und ist schon von den Persern40, den Athenern41 und Alexander dem Großen erfolgreich angewandt worden.42 Die Bereitschaft des entpolitisierten Demos, sich einer Schutzmacht anzuvertrauen, beruht auf dem Vorrang des Friedens vor der Freiheit.43 Auch Friede kann die Demokratie schädigen. Das zeigt im Römerreiche die Verschuldung der Städte. Diese beruhte auf ehrgeizigen Baumaßnahmen, auf den Kosten für die Errichtung von Thermen, Theatern und anderen Prestigeobjekten. Kaiser Trajan verordnete verschuldeten Städten eine staatliche Finanzaufsicht durch Korrektoren.44 Im 4. Jahrhundert wuchs kriegs37  Ch.

Habicht, Athen, 1995, 299 ff. XXV 4,4. 39  Philostrat, Vitae sophistarum 559. 40  Herodot VI 43. 41  Diodor XV 45,1. 42  Arrian I 17,10 ; 18,1 f; A. Demandt, Alexander der Große. Leben und Legende, 2009, 122. 43  Tacitus, Historien I 1. 44  Tacitus, Annalen IV 55 ff.; Plinius, ep. X 23 f. 38  Nepos



Wie scheitern Demokratien?49

bedingt die staatliche Besteuerung der Städte. Sie wurden immer ärmer, während die Kirche immer reicher wurde. Sie entzog sich dem Zugriff des Fiskus. Die Folge war, daß die Bischöfe zu Stadtherren aufstiegen. Dieser Zustand änderte sich erst im hohen Mittelalter langsam, als es den wohlhabend gewordenen Bürgern gelang, die Bischöfe nach und nach aus der Stadt zu drängen und sich selbst zu regieren. In Köln erhob sich 1074 die Eidgenossenschaft der Meliores, der Kaufherren gegen den Erzbischof; seit Anfang des 12. Jahrhunderts gibt es Bürgermeister und ein Stadtsiegel. Dieser in anderen Städten ähnliche Vorgang zeigt, wie Demokratie entstehen kann. Voraussetzung ist allemal ein dēmos in Gestalt einer selbstbewußten, sich organisierenden Gemeinschaft mit gleichen Ziel- und Wertvorstellungen. Das war schon in Athen und Rom nicht anders. Wechselhaft war das Schicksal der demokratischen Bewegung in den reichen Städten von Oberitalien, wo man früh an die römische Republik anknüpfte. Der hoffnungsvolle Versuch des Cola di Rienzo, in Rom die klassische Republik zu erneuern, scheiterte am Bündnis von Kaiser, Papst und Adel gegen ihn. Cola enttäuschte die Erwartungen der Römer und wurde 1350 in einem Volksaufstand erschlagen.45 Eine kontinuierliche Verfassungsentwicklung wurde in Italien erschwert durch die innerstädtischen Parteikämpfe zwischen dem ghibellinischen, kaisertreuen Volk und dem guelfischen, kaiserfeindlichen Adel. In diesen Bürgerkriegen verstanden es reiche Adelsfamilien, dauerhafte Herrschaften aufzubauen, so die Scaliger in Verona, die Visconti und dann die Sforza in Mailand sowie die Medici in Florenz. In seiner 1524 abgeschlossenen Geschichte der Stadt, namentlich am Anfang des 7. Buchs, hat Machiavelli die Gründe für die Schwäche und das Scheitern der republikanischen Ordnung erörtert. Die immer reicher gewordene Oberschicht war mehr an der Wirtschaft als an der Politik interessiert und führte Kriege mit Hilfe von Söldnern. Dabei entstanden Parteiungen unter einzelnen Führern mit einer festen Anhängerschaft, die um die Gunst des Volks wetteiferten und sich gegenseitig befehdeten. So konnte sich der Bankier Cosimo de’Medici 1434 als „Vater des Vaterlandes“ wie einst Augustus vom Volk die Staatsmacht, die balia, übertragen lassen, die seine Familie mit zwei Unterbrechungen bis 1743 bewahrte. Wer den Sturz der Demokratie durch diese Herren beklagt, wird ihnen doch ihre Bedeutung als Mäzene der Renaissancekultur zugute halten. In einem prosperierenden Gemeinwesen kann der Volkswille auch ohne Volksherrschaft verwirklicht sein.

* 45  P.

Piur, Cola di Rienzo, 1931.

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Im Jahre 1642 griff Thomas Hobbes das Thema von Herodots Verfassungsgespräch nochmals auf. Das 10. Kapitel seiner Schrift ‚De cive‘ erörtert wiederum die Vorzüge und Nachteile der drei Staatsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Dabei kommt Hobbes zu dem gleichen Ergebnis wie Darius bei Herodot, daß die Monarchie die beste Staatsform sei, allerdings wieder unter der Voraussetzung, daß der Monarch seiner Pflicht gemäß das Wohl des Volkes fördert, das ihn legitimiert. Das ist der Gang der Dinge: die Demokratie als die Urform des Staates löst sich auf in die Gefolgschaften einzelner Redner, aus deren Konkurrenz der begabteste die Monarchie begründet. Sie bietet den sichersten Schutz gegen den Bürgerkrieg, den schlimmsten Zustand eines Gemeinwesens. Diese Annahme fand Hobbes bestätigt, als 1641 die Erhebung gegen Karl I. ausbrach, als Oliver Cromwell 1649 den König hinrichten ließ und die Republik begründete, ehe die Monarchie 1660 wiederhergestellt wurde. In seinem Dialog ‚Behemoth‘ von 166846 behandelt Hobbes die letztlich materiellen Gründe für das Scheitern der Republik im Sinne des klassischen Verfassungskreislaufs und die „Irrlehre“ von der Stabilität einer Mischverfassung, die eben doch zur Monarchie zurückführe: Von Karl I. über das Parlament zur Diktatur Cromwells und wieder zu Karl II. Betrachten wir nun die neuere Demokratie in der Realität, so ist das Lehrbeispiel für deren Scheitern Frankreich mit seiner Abfolge von fünf Republiken seit der Französischen Revolution. So wie die antike Demokratie mit der solonischen Schuldenkrise begann, so steht am Beginn der modernen Demokratie die Finanzkrise von Ludwig XVI, die zur Einberufung der Generalstände für 1789 führte. Das mündete in die Revolution und 1791 in die Erste Republik. Sie wurde faktisch 1804 durch die Volksabstimmung beendet, die Napoleon zum Konsul auf Lebenszeit ernannte. Durch seine Siege hatte sich der Korse zum Retter des Staates qualifiziert und erklärte die Revolution für beendet. Er sah sich selbst als deren Ziel. Dem Sturz Napoleons 1815 folgte das Experiment mit der konstitutionellen Monarchie. Aber die sozialen Unruhen, bedingt durch die Industrialisierung, führten zur Revolution von 1848 und zur Errichtung der Zweiten Republik. Unter ihr setzte sich die Gärung im Lande fort. Dies nutzte der gleichnamige Neffe Napoleons zu seinem Staatsstreich von 18. Brumaire 1851. Die Aura seines Namens, das Wohlwollen der Kirche, insbesondere die Interessen des Großkapitals ermöglichten ihm, durch eine beispiellose Pressekampagne ein Plebiszit zu erwirken, das ihn als Kaiser legitimierte. Er scheiterte, als er die wachsende innere Opposition durch äußere Erfolge überwinden wollte und 1870 aus verletztem Stolz Preußen den Krieg erklärte. 46  J. Lips, Die Stellung des Thomas Hobbes zu den politischen Parteien der großen englischen Revolution, 1927.



Wie scheitern Demokratien?51

Zwei Tage nach der Gefangennahme Napoleons III. bei Sedan, am 4. Sep­ tember 1870, proklamierte Gambetta die Dritte Republik und liquidierte im Sommer darauf die Commune in Paris mit einer Blutorgie. Wie Napoleons Empire endete die Dritte Republik nach 70 Jahren ebenfalls durch ein außen­politisches Abenteuer, indem Paris am 3. September 1939 im blinden Vertrauen auf wirksame englische Hilfe Deutschland den Krieg erklärte. Übrig blieb ein autoritärer Reststaat unter Pétain in Vichy. Die Vierte Republik wurde nach dem Rückzug der Wehrmacht und der Niederlage Deutschlands im Oktober 1945 ausgerufen. Ihr Ende kam 1958. Das kann man allerdings nicht als gescheiterte Demokratie bezeichnen, da die damals gestiftete Fünfte Republik nur eine, wieder plebiszitär legitimierte Verfassungsänderung bedeutet. Ihr Ergebnis war die von de Gaulle begründete Präsidialdemokratie. Mit dieser Reform sollte der Algerienkrieg beendet und die Inflation eingedämmt werden. Wieder war in doppelter Krise ein Retter des Staates gefragt, doch begnügte sich de Gaulle mit der Schaffung einer neuartigen Machtstellung des Präsidenten auf Kosten des Parlaments. Hier wirkte das amerikanische Vorbild, so auch im Aufbau einer prestigeträchtigen, aber bisher nutzlosen nuklearen force de frappe. Die Frage, wie Demokratien scheitern, stellen wir in Deutschland im Hinblick auf das Ende der Weimarer Republik. Eine Antwort hat Hitler am 24. Februar 1933 selbst gegeben, als er mit dem Elend, das ihm zur Macht verholfen habe, die Weltwirtschaftskrise mit ihrer beispiellosen Arbeitslosigkeit meinte. Gewiß ist die damalige Notlage kein hinreichender Grund für die Etablierung des braunen Führerstaates. Seine Wurzeln reichen weit zurück, wenigstens bis Versailles. Hilfe leisteten Hitler der Pressekonzern Hugenbergs und der Düsseldorfer Industrieclub, also mal wieder das Geld.47 Dennoch ist anzunehmen, daß ohne die ökonomische Katastrophe von 1929 die Demokratie von Weimar gedauert hätte. Sie hatte sich als unfähig erwiesen, die Lage zu meistern, und so ihr Ansehen verloren. Die Wähler Hitlers wußten leider nicht, was sie vor sich hatten, wußten aber sehr genau, was sie hinter sich hatten, und was sie hinter sich lassen wollten. Das waren die Abhängigkeit von Wallstreet, waren die Saalschlachten und ein Berliner Reichstag, wo man sich, wie es hieß, mit Tintenfässern bewarf. Den Abschiedsgruß an die Weimarer Republik bildete die landesweite Euphorie im Sommer 1933. Hitler weckte Hoffnung und erfüllte sie zunächst. Es kommt in der Politik nicht darauf an, daß man Erfolg hat, sondern darauf, daß man ihn sich zuzuschreiben weiß. Hitler ließ in probater Manier die demokratischen Institutionen vorerst bestehen, hielt sich gleich zwei Schutztruppen und ließ sich durch eine Volksabstimmung bestätigen. 47  A.

Bullock, Hitler, 1953, 171.

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Den Übergang von der Demokratie zur Zentralgewalt bildet, wie wir sahen, zumeist eine soziale oder militärische Notlage, Anarchie oder ein Bürgerkrieg. Das zeigt in der Neuzeit der Aufstieg von Cromwell, Napo­ leon I. und III., von Lenin, Mussolini, Atatürk, Pilsudski, Franco und eben auch Hitler. Das Grundmuster kehrt wieder. Für den Althistoriker bildet hier wie oft die spätere Geschichte nur einen Kommentar zu dem, was ihm aus der Antike wohlbekannt ist.

* Überlegen wir abschließend, wie die Demokratie unserer Bundesrepublik scheitern könnte. Für eine Wiederholung von 1933 bedarf es eines Massenelends, eines Schreckgespenstes – das war der Kommunismus – und einer Retterfigur, eine Konstellation, mit der kaum zu rechnen ist. Die vielfach befürchtete Ausdünnung unserer Demokratie hingegen ist ein Prozeß mit Zukunft. Die darauf deutenden Vorgänge sind jedoch nicht unbedingt Krankheitssymptome, sondern teils Wesenszüge der Demokratie und ihrer kapitalistischen Basis, teils Wohl- und Wehetaten der Industrialisierung. Die Demokratie hat viele Gesichter. Georgi Dimitroff, seit 1935 Generalsekretär der Kommunistischen Internationalen, schuf den pleonastischen Terminus „Volksdemokratie“, und Dr. Joseph Goebbels verkündete 1944, die wahre Demokratie finde sich in Deutschland, da der Führer den Willen des Volkes verkörpere. Wer hier Sprachfälschung diagnostiziert, muß doch einräumen, daß auch der seriöse Sprachgebrauch sehr unterschiedliche Spielarten aufweist. Das lehrt nicht erst die jüngste Debatte in Straßburg mit und über Ungarn.48 Schon die Demokratie nach dem Muster Athens war für die griechischen Philosophen,49 für Cicero50 und die amerikanischen founding fathers51 nichts als Tyrannei des Pöbels, der souveränen Kanaille, wie es bei Schopenhauer heißt.52 Man orientierte sich an der römischen Repu­ blik mit gestaffelten Rechten und Pflichten. Definitionen sind, wie jede Grenzbestimmung Konvention und somit zeitund machtabhängig. Demokratie ist qualifizierbar und quantifizierbar. Bei jeder realen Demokratie können wir fragen, „wie demokratisch“ sie eigentlich sei. Trotz dieser Unschärfe hat „Demokratie“ seit zweihundert Jahren 48  FAZ

vom 19. Januar 2012. Xenophon, Vom Staat der Athener; Aristoteles, Politik 1317–1319. 50  Cicero, Pro Flacco 16. 51  A. Demandt, Die klassische Antike in Amerika, in: A. Chaniotis (u. a. Hgg.), Applied Classics, 2009, 91. 52  Schopenhauer an Frauenstädt 2. März 1849. 49  Ps.



Wie scheitern Demokratien?53

Konjunktur. Alle Welt schwört auf dieses Zauberwort.53 Es ist ungeheuer prestigeträchtig, so daß ihm eine lange Zukunft vorausgesagt werden kann. Auch in Deutschland. Was immer uns an Verfassungsänderungen im oligarchischen oder monarchischen Sinne bevorsteht, wird das Etikett „Demokratie“ tragen. So wie das Wort res publica tausend Jahre nach dem Ende der Republik für ein absolutistisches Imperium in Geltung blieb, werden sich die politischen Konvulsionen der Zukunft unter dem Deckmantel der Demokratie abspielen. Insofern ist der Verfassungskreislauf auf der begrifflichen Ebene wiederum bis auf weiteres stillgestellt, aber nur dort. Der Terminus „Demokratie“ läßt offen, was jeweils unter demos gleich „Volk“ zu verstehen sei, und macht keine Aussage darüber, in welcher Weise, in welchem Maße das Volk die Herrschaft ausüben solle. Interpreta­ tionsbedürftig sind gleichermaßen die demokratischen Grundrechte und Grundwerte wie Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit, wie Volkswille und soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Gemeinwohl. Die Auslegung und Umsetzung dieser Zentralbegriffe schwankt. Die geläufigen Formeln: „Menschenwürde ist unantastbar“ oder „Gerechtigkeit heißt: Jedem das Seine“ oder „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ oder „Meine Freiheit hört auf, wo die des anderen beginnt“ – all das sind Sprüche fürs Poesie-Album. Nehmen wir die Freiheit. Unser Grundgesetz erlaubt Freiheitsbeschränkungen im Verteidigungsfall,54 abgesehen von der Friedensmission im Hindukusch. Die meisten Freiheitsbegrenzungen erfolgen indessen im Frieden. Sie dienen dem Fortschritt, jedenfalls so wie der Gesetzgeber ihn sich ausmalt. Das deutsche Volk selbst zu befragen, wäre lästig und bedenklich, so, als es um das Interesse Deutschlands am Ersatz der D-Mark durch den Euro ging. Die Regierungen versorgen uns ohne Unterlaß mit Verordnungen und Vorschriften, Gesetzen und Bestimmungen, Regelungen und Normen bis hin zur Festlegung der zulässigen Form von Speisegurken aus dem Spreewald durch die Eurokraten in Brüssel. Unser Gängelband ist die Bürokratie, die schon Tocqueville55 und Max Weber56 als Instrumente der Unfreiheit bloßgestellt haben. Sie ist allerdings kein Kennzeichen allein der Demokratie, sondern der Modernität beliebiger Systeme. Durch die Bereitschaft des Bürgers, sich von der Obrigkeit bemut53  So treffend F. Fukuyama, The End of History, in: The National Interest, 1989, 3 ff. Doch bedeutet der globale Konsens über den Wert der Demokratie mitnichten das Ende der Geschichte. 54  GG. Artikel 17 a. 55  A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835), in: Ders., Das Zeitalter der Gleichheit, 1954, 39, 100 f. 56  M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft im Rom der Kaiserzeit (1909), in: Ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, 1968, 56 ff.

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tern zu lassen, bleibt es höchstens bei gelegentlichem Unwillen gegenüber den Auswüchsen der Reglementierung, so im Gurkenfall. Die Meinungsfreiheit war unter Friedrich dem Großen größer als heute. Datenschutz, Schweigepflicht, Volksverhetzung, Diskriminierung, Auschwitzlüge und political correctness sind demokratische Errungenschaften. Aber: „Zensur findet nicht statt.“57 Nicht weniger bemerkenswert als die Einschränkungen der Freiheit sind umgekehrt ihre Auswüchse, die Platon in der Zügellosigkeit der Armen und Karl Marx im Geschäftsgebaren der Reichen angeprangert hat, in der Akkumulation des Kapitals. In der freien Konkurrenz werden die kleinen Unternehmen von den großen geschluckt. Die Konzerne leisten gewiß Enormes in der Wirtschaft, dankenswert, aber sie gewinnen auch entsprechend Einfluß auf die Regierung. Die liberale Demokratie tendiert zur Plutokratie. Das beschrieb schon Aristoteles im 5. Buch seiner ‚Politik‘. Der erdrückende Reichtum in den Händen Weniger führte im späten Rom zum Cäsarismus. Die Konkurrenz zwingt auch die Banken zur Profitmaximierung. Das hat die Bänker in unserer globalisierten Welt zu riskanter Spekulation verführt, vermutlich im kindlichen Vertrauen darauf, daß mögliche Verluste der Staat aus Steuermitteln ausgleicht. Dient das dem Gemeinwohl oder beweist das die Abhängigkeit der Demokratie vom Großkapital? Die Fehlspekulationen beruhen auf der Wachstumsideologie. Hier wurde eine Erfahrung zum Dogma, ja zum Fetisch, wiederum nicht der Demokratie, nicht des Kapitalismus ausschließlich, sondern der Industrialisierung systemübergreifend. Unser Konsumbedarf erfordert die Ausbeutung aller Ressourcen. Man gibt mehr auf den Kuchen von heute als auf das Brot von morgen. Das läßt eine Verknappung und Verteuerung erwarten. Angesichts dessen wird sich die Demokratie als Mangelverwaltung bewähren müssen. Wenn sie es dann nicht schafft, die Reichen zur Kasse zu bitten, werden die Armen einmal mehr nach einem Retter rufen, nach einem Peisistratos. Vergleichsweise ungefährlich für die Demokratie ist die wachsende Politikverdrossenheit des Bürgers. Er sieht keinen Anlaß oder keine Möglichkeit zur Mitsprache und setzt sich am Wahlsonntag ins Auto. Er schaltet unten, und oben schalten die Technokraten. Die Finanzkrise birgt kein revolutionäres Dynamit, anders als in Athen, Rom oder Paris. Die Staatsverschuldung entfremdet Guthaben der Bürger zu öffentlichen Zwecken und betrifft Gelder, die von den Sparern aktuell nicht benötigt werden. Sie konsumieren ja wie bisher. Was hier Krise heißt, bewegt sich im Fettpolster der Wohlstandsgesellschaft, in der ein knappes Drittel unserer Güter und Lebensmittel unbenutzt oder noch ge57  GG.

Art. 5,1.



Wie scheitern Demokratien?55

brauchsfähig in den Abfall wandert. Der Müllberg ist unsere Wohlstandsreserve. Der Reichtum im Lande lockt Einwanderer, zumal in den armen Entwicklungsländern die Bevölkerung zunimmt. Daran ändert auch der gewinnträchtige Waffenexport durch die Industrieländer nichts, unter denen Deutschland einen ehrenvollen dritten Platz einnimmt. 2011 haben wir den Rüstungsexport nochmals um mehr als 50 % Prozent gesteigert. Das Waffengeschäft, das in kritischen Fällen der Geheimhaltung unterliegt, stabilisiert unsere Wirtschaft, sofern die Empfängerländer unserer U-Boote und Panzer nicht gerade, wie zur Zeit, Griechenland und Portugal heißen. Die Handfeuerwaffen von Heckler und Koch sind Weltspitze. Im römischen Reich war der Waffenexport strikt verboten. Das hatte keine humanitären Gründe, sondern geschah aus Furcht vor den Germanen, die aus dem armen Barbaricum über die Grenzen drängten und die friedliebenden Römer mit ihren eigenen Waffen besiegten. Die Völkerwanderung beendete eine Hochkultur. Diesem betrüblichen Vorgang verdanken wir das „finstere“ Mittelalter, die europäischen Völker und nicht zuletzt uns selbst. Parallelen zwischen Spätantike und Spätkapitalismus hat schon Max Weber 1909 gezogen.58 Auch wir nähern uns einem Versorgungs- und Verwaltungsstaat, in dem Parlamentswahlen zum Gaudi für „Piraten“ und Parlamentssitzungen Rituale werden wie spätrömische Senatssitzungen. Willensbildung ist nicht mehr erforderlich, sie ist bereits vollzogen im einhelligen Streben nach mehr Wohlbefinden. Alles Wichtige wird fürsorglich und basisfern von Fachausschüssen verhandelt. Das aber beklagt nur, wer dem Idealbild vom mündigen Bürger nachtrauert. Auch der gehört ins PoesieAlbum. Aber tempora mutantur. Die bewährte Wandlungsfähigkeit der Demokratie ist eine Voraussetzung für ihre Dauer. Wer will, daß alles so bleibt, wie es war, will nicht, daß es bleibt.

* Die Athener haben in der Spätzeit eine neue Göttin kreiert, die Göttin Demokratia, dargestellt auf der Agora als behelmte Dame. Sie genoß kultische Verehrung, ihr wurden Staatsopfer dargebracht, ihr Priester hatte einen Ehrensitz im Theater.59 Auch heute wird die Demokratie verhimmelt, und doch ist sie, wie jede Staatsform sehr irdisch, nur Ausdruck eines Geflechts von gesellschaftlichen Kräften. Sie ist gewiß die einzig angemessene Staatsform für eine Industriegesellschaft europäischen Typs, aber es wäre anmaßend zu meinen, unsere Demokratie sei der weltweit beste, ja der zeitlos 58  Weber,

Soziologie (s.o!) 58. I 3,3; Demandt, Staatsformen (s. o!) 277.

59  Pausanias

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ideale Staat, aufgerufen und imstande, die Menschheit in eine große glückliche Völkerfamilie und den Globus in ein Schlaraffenland zu verwandeln. Den idealen Staat gibt es weder in der Praxis noch in der Theorie, denn dazu benötigten wir die ideale Gesellschaft und den idealen Menschen, nennen wir ihn den wohltemperierten Endzeitbürger. Trotzdem ist es unbillig, gegen den Idealismus mit Realismus zu argumentieren, denn der Glaube an Ideale ist selbst eine Realität und aller Ehren wert. Ohne ihn gäbe es keine Geschichte und keine Historiker. Quod absit.

II. Rousseaus 300. Geburtstag

Rousseau und sein „Contrat Social“ Abschiedsvorlesung an der Technischen Universität Chemnitz und eine späte Liebeserklärung1 Von Alfons Söllner I. Ich habe mich bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung gefragt, was eine „Abschiedsvorlesung“ eigentlich ist. Ich weiß, was eine „Antrittsvorlesung“ ist, und habe vor 17 Jahren an dieser Universität selber eine gehalten. Ihr Thema lautete: „Asylkrise und neue Fremdenfeindlichkeit“2 und griff ein – im wörtlichen Sinne – brandaktuelles Thema auf: Der Zustrom von mehr als 400.000 Flüchtlingen pro Jahr hatte Anfang der 1990er Jahre nicht nur zu einzelnen Übergriffen, sondern zu Brandanschlägen auf Migranten geführt und war dann durch einen heiß umstrittenen Eingriff in das Grundrecht auf Asyl wieder „kanalisiert“ worden. Ich habe dann in den nächsten Jahren zwar immer wieder Lehrveranstaltungen zur Flüchtlingspolitik oder allgemeiner zur internationalen Migration abgehalten, bis das Thema auch für mich in den Hintergrund gerückt ist. Ich erlaube mir diese Reminiszenz, nicht weil ich das Problem für gelöst halte – das ist es nicht, wie der Blick in die Tageszeitung zeigt! –, sondern weil der Sinn einer „Abschiedsvorlesung“ wohl darin besteht, eine Bilanz zu ziehen oder wenigstens aus dem Gewebe der vergangenen Arbeitsjahre einen roten Faden herauszuziehen. Ich möchte an diesem Abend gar nicht verbergen, dass ich in einer etwas melancholischen Stimmung bin, und ich möchte dieses Gefühl auch nicht mit der stereotypen Formulierung überdecken, die ich von Professorenkollegen immer höre, wenn sie „in Rente gehen“: dass sie jetzt endlich wieder Zeit zum Forschen und Publizieren haben 1  Die Vorlesung wurde am 25. Januar 2012 im Museum Gunzenhauser gehalten. Der Vortragsstil wurde unverändert beibehalten, hinzu gefügt wurden lediglich die Anmerkungen. 2  Jahrbuch für Extremismus und Demokratie, Band 7, 1995, S. 43–59; vorher schon mein Habilitationsvortrag: Westdeutsche Asylpolitik, in: Abraham Ashkenasi (Hrsg.): Das weltweite Flüchtlingsproblem. Sozialwissenschaftliche Versuche der Annäherung, Bremen 1986, 295–342.

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werden! Wenn ich also zurückblicke, dann treten zwei Dinge in den Vordergrund: Zum einen, wie stark und kontinuierlich mich das Thema des intellektuellen Exils beschäftigt hat3; und zum anderen, dass sich die Einstellung zu meinem Fach im Laufe der vergangenen Jahre verändert hat. Die Politikwissenschaft rühmt sich bekanntlich, ein aktualitätsbezogenes Fach zu sein, und so gehört es zu ihrem Standardrepertoire, ein Thema, ein Buch oder einen Autor „auf seine Aktualität hin zu befragen“, zumal wenn sie von einiger historischen Distanz sind. Nichts scheint mir heute missverständlicher als diese so geläufige Forderung, ist sie doch alles andere als harmlos: einen historischen Autor primär auf seine Aktualität festzulegen, heißt immer, die Vergangenheit vor den Gerichtshof der Gegenwart zu zitieren. In diesem Prozess ist eigentlich von vorne herein klar, wer der Richter und wer der Verurteilte ist, wer der Sieger und wer der Verlierer sein wird. Es ist fast immer die Vergangenheit, die sich vor der Gegenwart blamiert, und dies vor allem deswegen, weil die Beziehung zwischen beiden in aller Regel unter der Fuchtel des Fortschrittsdenkens steht. Niemand hat dieses Schicksal deutlicher erfahren als Jean-Jacques Rousseau und besonders sein „Gesellschaftsvertrag“ aus dem Jahr 1762. In den genau 250 Jahren seit seinem Erscheinen ist dieser Autor, ist besonders dieses schmale Büchlein verantwortlich gemacht worden – zunächst für die Französische Revolution und die jakobinische „terreur“, sodann für die Radikalisierung der bürgerlichen zu den sozialistischen Revolutionen, im 20. Jahrhundert für den Stalinismus und seine Lager und schließlich – unter dem Stichwort der „totalitären Demokratie“ – für die modernen Diktaturen insgesamt. Jede dieser Rousseau-Interpretationen folgte ein- und demselben Schema: einem mehr oder weniger weit entfernten Autor wurde die Schuld an einer gegenwärtigen Misere in die Schuhe geschoben, und sein Denken war damit desavouiert: „Pauvre Jean-Jacques!“ Heißt das aber im Umkehrschluss, dass Rousseau im Jahr seines 300. Geburtstages vor allem „inaktuell“ ist? Haben wir nicht z. B. anlässlich der Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“ eine erstaunliche Renaissance der „direkten Demokratie“ erlebt, die von Rousseau bekanntlich aus der antiken Versenkung wieder herausgeholt worden war? Oder noch besser: Hat nicht der unerwartete Ausgang dieser Auseinandersetzung gezeigt, dass gerade die verstärkte Bürgerbeteiligung zur Wiederherstellung des üblichen Friedens „im Ländle“ führen kann, also keineswegs revolutionierend, sondern normalisierend wirkt? Trotzdem werde ich im Folgenden behaupten, dass eine eingehendere Beschäftigung mit Rousseau eher auf seine „Fremdheit“ ver3  Vgl. meine Bücher: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996; Fluchtpunkte. Stu­ dien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006.



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weist, als dass man seine Gedanken an gegenwärtige Konfliktlagen bequem assimilieren könnte. Wieso aber soll man sich dann noch mit ihm beschäftigen? Wieso den 100 Rousseau-Lektüren die 101. hinzufügen? II. Für eine erste Antwort nehme ich das Motto dieser Vorlesungsreihe beim Wort: „Mein Buch“ – das ist doch wohl die Aufforderung zu einem Bekenntnis, zu einem Geschmacksurteil.4 Warum ist Rousseau einer meiner Lieblingsautoren geworden und warum habe ich seinen Contrat Social ausgewählt, um diese Vorliebe zu begründen. Dazu sei mir zunächst eine biographische Auskunft gestattet: Ich hatte, als junger Student in München, das Glück, eine Rousseau-Vorlesung von Robert Spaemann zu hören, die mich elektrisierte5 – ich füge zur Charakterisierung des Zeitkolorits hinzu: die zweisemestrige Vorlesung eines katholischen Philosophieprofessors, während ich damals, im Windschatten der Studentenbewegung, alles andere als katholisch gestimmt war. Später, bei meinen Forschungen zur Emigration der Hitler-Flüchtlinge, ist mir Rousseau eher beiläufig, nämlich in der Form seiner Wirkungsgeschichte begegnet. Unvermeidlich aber stieß ich wieder auf ihn, als ich im Rahmen des Standardcurriculums, das zum Chemnitzer Magisterstudiums gehörte und das wir rudimentär auch in das neue Bachelor / Master-Studium hinüberretten konnten, ein Seminar über „Verfolgung und Flucht in der politischen Ideengeschichte“ anbot. Hier drängte sich nicht nur die wenig beachtete Tatsache auf, dass kritische Intellektuelle, wenn sie mit ihrem „Beruf“ Ernst machten, immer schon von den politisch Herrschenden drangsaliert und verfolgt worden sind – die Beispiele reichen von Sokrates, der die Verweigerung der Flucht bekanntlich mit dem Tod bezahlt hat, über Dante und Marsilius von Padua, Hugo Grotius und Thomas Hobbes bis hin zu Marx und Engels, von den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen.6 Und auf den ersten Blick mochte es scheinen, als ob Rousseau 4  Die Abschiedsvorlesung war gleichzeitig Teil einer öffentlichen Ringvorlesung, in der die Professoren der Philosophischen Fakultät ihr Lieblingsbuch vorstellen sollten. 5  Teile davon sind erschienen in: Robert Spaemann, Rousseau – Bürger ohne Vaterland, München 1980, wieder gedruckt als: Rousseau – Mensch oder Bürger?, Stuttgart 2008. 6  Anregend dazu ist nach wie vor, weil rückblickend aus der Perspektive des Hitler-Flüchtlings geschrieben: Franz L. Neumann, Intellektuelle Flucht und Sozialwissenschaft (1953), in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, Aufsätze 1930–1954, Frankfurt / M 1978, S. 402–423. Vgl. neuerdings Peter Burschel u. a. (Hrsg.), Intellektuelle im Exil, Göttingen 2011.

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in die Galerie der intellektuellen Flüchtlinge zwar gehörte, aber in ihr keine exponierte Rolle spielte. Als ich dann vor 1½ Jahren meine beiden letzten Semester plante, wusste ich weder etwas von dem bevorstehenden 300. Geburtstag von Rousseau, noch hatte ich einen zweisemestrigen Rousseau-Marathon im Sinn. Aber die Faszination durch ihn stellte sich sofort ein – oder besser: sie kam wieder zum Vorschein, als ich bei der Beschäftigung mit seiner Biographie bemerkte, wie stark diese intellektuelle Existenz von der Exilerfahrung geprägt war, und zwar nicht erst seit der akuten politischen Verfolgung im Jahr 1762, die von der Publikation des „Émile“ und des „Contrat Social“ ausgelöst wurde und ihn bekanntlich von der Schweiz über preussisches Territorium bis nach England führte. Schon lange vorher war nämlich eine Art intellektueller Selbstisolation am Werke, die ihn von seinen Freunden aus dem Kreis der Enzyklopädie entfremdete und die sich in den letzten Lebensjahren bis zur Paranoia steigerte. Wie immer man Rousseau psychologisch beurteilt (manche Autoren haben ihn tatsächlich für geisteskrank erklärt) – vielleicht war es gerade diese seltsame Tiefenhermeneutik von politischer Kritik und Verfolgungsangst, die Rousseau zu einem so modernen Intellektuellen gemacht und damit die dramatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hat.7 Sicherlich aber hängt damit eine andere Besonderheit zusammen, der man sich kaum entziehen kann, nämlich dass Rousseau sich ganz modern liest, d. h. dass er „anders“ schreibt als die meist sehr trockenen Politiktheoretiker der Vergangenheit wie der Gegenwart – auch in seinen theoretischen Abhandlungen gibt es keinen Satz, in dem nicht der „ganze Mensch Rousseau“ mitschwingt. Bei Rousseau wird, wie er selbst immer sagt, das Herz, „le coeur“ nicht zum Schweigen gebracht, gerade wenn er sich als Theoretiker, historisch gesprochen: als Aufklärer äußert. Und so wurde mir Rousseau ein weiteres Mal zum Paradebeispiel für eine intensive Leseerfahrung oder sogar eine bestimmte Lektüremethode, wie ich sie in meinen ideengeschichtlichen Seminaren regelmäßig anpreise: „Bitte den Text lesen und nochmals lesen, dann exzerpieren und den Kontext rekonstruieren und wieder den Text lesen“! usf. in einer spiralartigen Rezeptionsbewegung. „Text und Kontext“ – beides ist gleichermaßen wichtig, um einen Autor zum Sprechen zu bringen. Dieses einfache hermeneutische Credo ist für manchen Studierenden in Chemnitz schon zum Kalauer geworden, aber es gilt in jeder historischen Wissenschaft, also auch in der politischen Ideengeschichte: Die Aussagen bzw. Argumente eines Autors 7  Es wäre interessant, sich unter diesem spezielleren Gesichtspunkt die wahrscheinlich beste psychologische Rousseau-Deutung noch einmal vorzunehmen: Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt / M. 1988.



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wird man nur verstehen, wenn man sich tief in die persönliche und historische Situation einzufühlen versucht, aus der heraus er schreibt. Rousseau kommt dieser Methode wie kein anderer Autor entgegen, und gerade sein „Gesellschaftsvertrag“ ist ein Glücksfall für uns; denn er stellt keine große und systematische Abhandlung dar, wie es die Tradition des politischen Denkens seit Aristoteles und Hobbes eigentlich gefordert hätte – vielmehr erblickte dieses dünne Büchlein im Jahr 1762 beinahe nebenher, jedenfalls ausdrücklich als Fragment, das Licht der Öffentlichkeit. Für die Erstrezeption kann man geradezu sagen, dass dieser theoretische „Winzling“ zwischen den gleichzeitig gedruckten, den dicken Bestsellern Rousseaus fast erdrückt wurde, zwischen dem 800-seitigen Briefroman „Julie oder die Neue Heloise“ einerseits und dem ähnlich voluminösen Erziehungstraktat „Émile“ andererseits. Jedenfalls blieb der „Contrat Social“ für die zeitgenössische Wahrnehmung eher im Hintergrund. Aber gerade das Fragmentarische hatte es in sich, das konnte auch die Kanonisierung, die jedem Klassiker droht, nicht verdecken. Rousseau erlaubte sich die Naivität, schnurstracks auf die großen, auf die grundsätz­ lichen Fragen des politischen Zusammenlebens zuzugehen, und er beanspruchte, sie – wenigstens prinzipiell – auch gelöst zu haben. Dass dabei ein Text mit gewissen Lücken oder sogar mit „Löchern“ entstand – umso besser, gibt es doch etwas zu entdecken, wenn man nur hindurchsieht oder wenigstens „zwischen den Zeilen liest“.8 In diesem produktiven Spannungsverhältnis, das aufgeklärten „Großköpfen“ wie Voltaire sofort auffiel und bald zum Ärgernis wurde, kommt ein durchgehender Charakterzug Rous­ seaus zum Vorschein, auf den gleich zu Anfang hingewiesen werden muss und der natürlich der problematische Hintergrund für seine durchgängige Außenseiterstellung, aber auch der Grund für seine Provokationswirkung war: Rousseau war Autodidakt, er hatte keine Schule besucht und eine begonnene Lehre nicht abgeschlossen, er hatte kein Universitätsexamen abgelegt und der akademische Preis, mit dem 1750 seine Schriftstellerkarriere begann, war auch der Beginn seines Zerwürfnisses mit seinen Pariser Freunden aus dem Kreis der Enzyklopädie. Rousseau war Dilettant, der sich in so gut wie allen Genres versucht hat: vom Singspiel bis zum großen Roman, vom gesellschaftskritischen Essay bis zur didaktischen Abhandlung, vom öffentlichkeitswirksamen Traktat bis zur weltvergessenen romantischen Re8  Das ist eine simple Formulierung für die Lektüremethode, die Leo Strauss mit seiner Unterscheidung der esoterischen von der exoterischen Interpretation einführte. Im „Durchblick“ auf die Antike lag offensichtlich der Grund dafür, dass der sonst so konservative Denker eine so positive Interpretation von Rousseau vorlegen konnte. Vgl. sein Naturrecht und Geschichte (zuerst 1953), Frankfurt / M 1977, S. 263– 307.

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flexion. Dass aber die meisten dieser Versuche, dieser „essais“ bei den Zeitgenossen sofort einschlugen und später eine langfristige Wirkung entfalteten, das erweist diesen Dilettanten des 18. Jahrhunderts als genial, als Propheten, der die Fenster ins 19. und 20. Jahrhundert aufgestoßen hat. III. Ich möchte diese Behauptung zunächst an den ersten beiden Teilen des „Contrat Social“ demonstrieren – Rousseau nennt sie „Bücher“ (livres), aber es handelt sich in Wahrheit nur um Skizzen, die beinahe willkürlich hingeworfen sind und einen provozierenden Ton anstimmen: Einerseits wird erkennbar auf rhetorische Effekte gesetzt, andererseits jedoch ein entschiedener Anspruch auf logische Argumentation erhoben. Das bekannteste Beispiel dafür – vielleicht das berühmteste Rousseau-Zitat überhaupt, das seitdem wie eine Fanfare durch die europäische Ideengeschichte hallt, ist der Beginn des allerersten Kapitels: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.“ (S. 5)9 Es lohnt sich, diese Passage genauer anzuschauen, weil hier, wie in einer Ouvertüre, bereits sämtliche Leitmotive der Rousseauschen Weltsicht versammelt sind: die Voraussetzung einer naturgegebenen Freiheit des Menschen, d. h. aller Menschen; die Anklage gegen die korrupte Gesellschaft der Gegenwart, die sich im feudal-absolutistischen Frankreich, im Ancien Regime etabliert hat; sodann die Anspielung auf das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, die hier allerdings nur kokett ist; denn Rousseau hatte ja gerade in seinen skandalösen Anfangswerken alle Anstrengung auf den Nachweis verwendet, dass Kunst und Wissenschaft (Erster Diskurs) sowie die Erfindung des Eigentums (Zweiter Diskurs) an der gesellschaftlichen Ungleichheit mitschuldig seien; schließlich die Konzentration auf die eigentliche Frage: Wie lässt sich – wohlgemerkt normativ – eine „bessere“ Gesellschaftsordnung begründen, so, dass die Freiheit wieder zu ihrem Recht kommt? Diese Mischung aus aufmüpfiger Beobachtung und normativer Reflexion ist typisch für Rousseau: Er zieht aus suggestiven Skizzen verblüffend einfache Schlüsse, er greift ungeniert die bekannten Namen der abendländischen Denktradition heraus, bemüht sie entweder zur eigenen Unterstützung oder zitiert sie, um sie wieder fallen zu lassen. So wenn er – hier ganz 9  Ich zitiere im Folgenden nach der am leichtesten zugänglichen Ausgabe, der bei Reclam erschienenen deutschen Übersetzung von Hans Brockard: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977.



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Aufklärer – die anmaßenden und lächerlichen Behauptungen vom „Recht des Stärkeren“ und von der angeblichen „Natürlichkeit“ der Sklaverei an sich abgleiten lässt und dann die These aus der Tasche zieht, dass der Gesellschaftsvertrag selber, wenn man ihn nur ins Zentrum stellt, die Auflösung aller Geheimnisse ist, an denen die großen und kleinen „Besserwisser“ nur herumgerätselt haben. In gewissem Sinn wird gleich zu Anfang mit dem Problem auch schon seine Lösung präsentiert: „ ‚Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Menschen verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.‘ Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt.“ (S. 17) Der Vertrag ist ein ursprünglicher, gleichzeitig ein fiktiver Akt und umfasst alle Menschen, sobald sie in den Gesellschaftszustand eintreten. Aber Rousseau geht einen entschlossenen Schritt weiter: Er konstruiert ein Gleichgewicht zwischen der naturgegebenen Freiheit des Menschen einerseits und den Erfordernissen einer staatlichen Souveränität andererseits. Indem Rousseau das Erstere zum Ausgangspunkt und das Zweite zum Ergebnis erklärt und zwischen beiden Prinzipien einen Prozess der Legitimierung annimmt, entsteht aus einer logischen Zuordnung eine moralische Tatsache, die zur Annahme eines unbedingt bindenden Gesamtwillens (volonté générale) führt. Dieses Kernfaktum politischer Herrschaft wird jedoch nur in dem Maße ein legitimes Verhältnis, wie bestimmte Prämissen strikt eingehalten sind. In der lapidaren Beschränkung auf drei solcher Prämissen liegt die eigentliche Leistung von Rousseau, der sie im ausführlicheren Zweiten Buch in scharfgeschnittenen Formulierungen erläutert: Erstens gibt es nur einen einzigen und ungeteilten Souverän, von dem alle politische Gewalt ausgeht, und dies ist das in actu versammelte Staatsvolk selber (Volkssouveränität). Zweitens muss, in schmerzlicher Umwandlung der naturrechtlich vorausgesetzten Freiheit des Einzelmenschen, zwischen den Gesellschaftsgliedern eine künstliche Gleichheit hergestellt werden – oder, wie die Schlusspointe des ersten Buches lautet: „daß der Grundvertrag, anstatt die natürliche Gleichheit zu zerstören, im Gegenteil eine sittliche und rechtliche Gleichheit an die Stelle dessen setzt, was die Natur an physischer Ungleichheit unter den Menschen hervorbringen kann, und daß die Menschen, die möglicherweise nach Stärke und Begabung ungleich sind, durch Vertrag und Recht alle gleich werden.“ (S. 26) (staatsrechtliche Gleichheit). Drittens wird daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass der Souverän nur mittels allgemeiner und abstrakter Gesetze regieren darf, an die er sich selber bindet (Gesetzesherrschaft oder rule of law) – nur unter dieser Voraussetzung sind sowohl Freiheit (einschließlich des Privateigentums) als auch rechtliche Gleichheit der Bürger gesichert.

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IV. Ich wollte Sie heute Abend eigentlich nicht mit politischer Theorie langweilen, aber ohne eine gewisse Dosis davon kann ich nicht plausibel machen, weshalb Rousseau ein aufregender Denker ist und wie sich das sowohl in seinem Denkstil niederschlägt als auch in seinen Ergebnissen. Ich muss Sie also für die kommenden zehn Minuten um Geduld bitten. Immerhin: Rousseau versteht es, einen komplexen Sachverhalt mit rhetorischen Mitteln auf einen einzigen (logischen?) Punkt zu bringen. Tatsächlich ist das Resultat schon der Einleitungskapitel so einfach wie grundstürzend, es ist darin entschieden aufklärerisch und also modern. Rousseau weiß das und zögert nicht, seine Erkenntnisse stolz zu präsentieren, ja mit einer gewissen Aggressivität zu deklamieren: Sind alle drei der genannten Bedingungen erfüllt, so sagt er, dann liegt nicht nur eine rationale Begründung des gesellschaftlichen Zusammenlebens vor, sondern was darin greifbar wird, ist weit mehr: Es ist die einzig legitime Form von politischer Herrschaft überhaupt, an deren Maßstab sich jedes konkrete Regierungssystem messen lassen muss. Den Namen, den er dafür vorschlägt, entnimmt er der Tradition der Staatslehre, aber er hat jetzt einen neuen kritisch-programmatischen Sinn erhalten: „Republik nenne ich … jeden durch Gesetze regierten Staat … Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch“ (S. 41). „Auf einen einzigen logischen Punkt zuspitzen“, habe ich soeben gesagt, aber was Sie nicht hören konnten, ist das Fragezeichen, das hinter dem Wort „logisch“ steht; denn ist die Zusammenführung dieser drei Definitionselemente wirklich plausibel gelungen? Wie genau kommt der Übergang vom Willen der vielen, der „volonté des tous“ zum Allgemeinwillen, zur „volonté générale“ zustande? Wurde mit dem Begriff des „allgemeinen Willens“ nicht ein mystisches Wesen eingeführt, das allerlei Missbrauch Vorschub geleistet hat? Bedeutet diese monistische Variante der Vertragskonstruktion nicht einen Rückschritt in der Tradition des politischen Denkens? Wie steht sie zu den anderen Vertragstheorien, z. B. zur liberalen von John Locke oder später zur vernunftrechtlichen von Kant? Wie kommt das auffällige Zwangselement in Rousseaus Problemlösung hinein und ist die Gesetzesform als solche ausreichend, um ihm entgegenzuwirken und damit den Unterschied gegenüber dem Absolutismus von Thomas Hobbes zu markieren? Offenbart sich im Denkzwang, der schon an Rousseaus Problemstellung auffällt, vielleicht eine Art Identitätsfalle? Ganze Generationen von Rousseaulesern haben sich diese oder ähnliche Fragen gestellt. Und in der Tat ist ein unverkennbarer Identitätszwang am Werk, schon wenn der Gesellschaftsvertrag mit den Worten erläutert wird, dass er „auf die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rech-



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ten an das Gemeinwesen als ganzes“ hinausläuft (S. 17), wodurch der Einzelne „sozusagen mit sich selbst einen Vertrag schließt“ (S. 19), woraus wiederum für den Souverän gefolgert wird, dass er „kein dem ihren (den Individuen) widersprechendes Interesse hat und haben kann … Der Sou­ verän ist, allein weil er ist, immer alles, was er sein soll.“ (S. 20 / 1). Und besonders drastisch dann die Formulierung, die auf ein offenes Paradox hinausläuft: „daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein.“ (S. 21). Ich zitiere diese Sätze aber nicht, um Rousseau von vorne herein einen tödlichen Widerspruch nachzuweisen, sondern um unsere eigenen Reaktionen zu testen, die sich offensichtlich gegen derartige Identitätsformeln sträuben. Wogegen sträubt sich unser Gefühl, wenn wir Sätze wie die soeben zitierten lesen? Offenbar gibt es ein berechtigtes Misstrauen, dass im Verhältnis zwischen Souverän und Bürger die eine Seite den Kürzeren zieht, nämlich wir selber, die Bürger, dass also die Identitätslogik von vorne he­ rein einseitig arbeitet, nämlich zugunsten des Souveräns und zu Ungunsten der Bürger. Übersetzt man nun dieses Misstrauen, das wir alle kennen und das wir uns nicht nehmen lassen dürfen, in eine Lektürestrategie gegenüber Rousseau, so sollten wir wenigstens noch eine kleine Strecke an Textarbeit zurücklegen, um zu sehen, was sie erbringt: Besonders bietet sich dafür das Kap. II.6 an, das „Vom Gesetz“ überschrieben ist. Dieses für die Gesamtkonstruktion des Gesellschaftsvertrags evidentermaßen zentrale Kapitel beginnt nämlich nicht, wie zu erwarten, mit der Definition des Gesetzes selber, sondern mit einem überraschenden Verweis auf eine Denktradition, die ein „richtiger“ Aufklärer eigentlich hinter sich gelassen haben müsste: „Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er alleine ist ihre Quelle; aber wenn wir sie von so hoch oben zu empfangen wüßten, hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig.“ (S. 39) Hatte er schon vorher Zweifel, ob die Autorität, die mit der Herleitung des Gemeinwillens aus dem Volk beansprucht wird, tatsächlich für die Einrichtung einer guten und gerechten Gesellschaft ausreicht, so formuliert er jetzt den Selbsteinwand: ob denn das Volk, von dem ja alle legitime Gesetzgebung ausgehen muss, sich nicht irren, ob der Allgemeinwille nicht auch verfehlt werden könnte – oder wie Rousseau schreibt: „Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst. Der Gemeinwille ist immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt.“ (S. 42) Exakt dies ist der Punkt, an dem man sich eingehendere Erläuterungen zum Verhältnis von Souveränität und Volk wünscht, wenn dieses schon die alles entscheidende Quelle der Legitimität ist – Rousseau wird sie später, in den Kapiteln II.8 bis 10 auch zu geben versuchen, wenngleich in einer et-

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was verschleppten Form. Aber bevor er sich dahin auf den Weg macht, unterbricht er seinen Diskurs, macht abermals einen Einschub und führt eine seltsame Figur ein, die gar nicht in die bisherige Konstruktion hineinzupassen, ihr sogar zu widersprechen scheint. Diese Figur ist der Gesetzgeber, der legislateur. Er ist dazu da, die Lücke zwischen dem (empirischen) Volk und dem (idealen) Gemeinwillen zu schließen, und weil Rousseau offenbar nicht viel von der Weisheit der „normalen Menschen“ hält, ist der Gesetzgeber nicht nur unbedingt notwendig, sondern er muss auch ein Mensch mit ganz besonderen Eigenschaften sein. Seine Aufgabe ist eine Herkulesaufgabe und besteht darin, „sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein em­ pfängt.“ (S. 43). Zwar erlässt der Gesetzgeber nicht selber, was wir heute das Grundgesetz oder die Verfassung eines Staates nennen würden, aber er ist doch „ein in jeder Hinsicht außerordentlicher Mann im Staat.“ (S. 44), und die Beispiele, die Rousseau dafür nennt – Lykurg, der legendäre Gründer Spartas für die antike Welt, und Calvin, der Reformator der Genfer Republik für die moderne Welt – lassen das Bedürfnis nach einer starker Autorität demonstrativ durchschimmern, die hohe Intelligenz und taktische Klugheit miteinander verbindet – charismatische, jedenfalls nicht-alltägliche Eigenschaften, die in einem scharfen Kontrast zur Alltagsnormalität stehen. Und so endet dieses Kapitel nicht zufällig mit dem einem vorläufig noch rätselhaft bleibenden Hinweis auf die gegenseitige Nützlichkeit von Religion und Politik, wenn es um die Gründung und die längerfristige Stabilität eines Gemeinwesen geht. Die Dringlichkeit oder sogar Aufdringlichkeit, mit der sich der legislateur in den grundlegenden Kapiteln des „Contrat Social“ in den Vordergrund schiebt, ist das erste Beispiel für eine hochambivalente Beweisführung, die auf eine rationale Idealkonstruktion zusteuert, sich dafür identitätslogischer Annahmen bedient, dann aber gegenläufigen Einwänden ausgesetzt wird bzw. sie sogar selber produziert, um schließlich Gegeninstitutionen, Hilfsmittel, abstützende Maßnahmen ins Auge zu fassen. Mit einem sportlichen Bild könnte man sagen: der staatstheoretische Idealist, der politische Aufklärer prescht zuerst mutig nach vorne und rudert dann wieder zurück! Aber wohin geht die Reise insgesamt? Das wird, nach einigem Schlingern, erst am Ende des Zweiten Buches ganz deutlich: Rousseau zieht hier, nachdem er noch einmal die grundlegende Bedeutung von Freiheit und Gleichheit unterstrichen hat, ein Resümee und unterscheidet drei Typen von Gesetzen: Grundgesetze, bürgerliche Gesetze und



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Strafgesetze – um dann höchst pathetisch hinzuzufügen: „Zu diesen drei Arten von Gesetzen fügt sich eine vierte, die wichtigste von allen, die weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben wird; in ihr liegt die eigentliche Verfasstheit des Staates; sie kommt täglich zu neuer Kraft; sie belebt oder ersetzt die andern Gesetze, wenn sie altern oder verblassen, erhält ein Volk im Geist seiner Einrichtung und setzt unmerklich die Macht der Gewohnheit an die Stelle der Staatsgewalt.“ (S. 60) V. Verglichen mit diesem rhetorischen Sturzbach gleitet das Dritte Buch wieder in konventionellere Gewässer: Rousseau versucht sich an der traditionellen Staatsformenlehre und folgt – mit der bekannten Reihung, ob einer, mehrere oder alle die Träger der politischen Macht sind – der Aristotelischen Unterscheidung zwischen Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Rousseau glaubt sie erst durch ziemlich seltsame Proportionalrechnungen – etwa Zahl der Regierenden im Verhältnis zur Zahl der Regierten, innenpolitische Teilung der Macht versus außenpolitische Kraftkonzentration – verfeinern zu müssen. Aber Vorsicht: Solche Versuche zu einer „Mathematik“ des Regierens, die heute genauso verführerisch zu sein scheint wie damals, lässt er mit erkennbarer Selbstironie wieder fallen, weil er „doch sehr wohl weiß, daß die geometrische Genauigkeit bei moralischen Größen nicht am Platze ist.“ (S. 65). Schließlich hat er seinen herrschaftskritischen Ausgangspunkt keineswegs vergessen, setzt ihn vielmehr auf der Ebene der Regierungslehre jetzt fort. Was wir heute Legislative und Exekutive nennen, heißt bei Rousseau Souverän und Regierung, aber ihm kommt es darauf an, die Exekutive in ein eindeutiges Abhängigkeitsverhältnis zur Legislative zu bringen. Zwar klingt es versöhnlich, wenn er die Exekutive als Vermittlungsinstanz zwischen dem Staatsvolk und der Legislative platziert, doch lässt er keinen Zweifel daran, wohin seine Sympathien wie sein politischer Sachverstand tendieren – weder in Richtung der Erbaristokratie, die er als die zweitschlechteste Regierungsform ansieht, noch erst recht in die der absolutistischen Erbmonarchie: „Aber wenn es schon schwierig ist, daß ein großer Staat gut regiert wird, so ist es noch wesentlich schwieriger, daß er von einem einzigen Mann gut regiert wird.“ (S. 79). Was sich hier hinter der Ablehnung von großen, „unregierbaren“ Staaten überhaupt versteckt, ist in Wahrheit ein ziemlich aggressives gegenwartskritisches Urteil: ein Staat wie der französische, in dem der Monarch „a legibus solutus“, also nicht das Volk der Souverän ist, kann per definitionem kein legitimes Regierungssystem sein.

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An dieser Stelle muss man auf Rousseaus Haltung zur Demokratie zu sprechen kommen. Denn einmal ist es ein Gemeinplatz des populären Politikwissens, der in jedem Schulbuch wiederholt wird, dass Rousseau der „Vater der modernen Demokratie“ sei. Zum andern hatte Rousseau in der Tat eine „besondere“ Beziehung zur Demokratie, eine die man allerdings ausbuchstabieren muss. Was sich dann zeigt, ist eine weitere Ambivalenz, die diesmal einen umso schärferen Widerspruch darstellt, als Rousseau mit der demokratischen Regierung seinem theoretischen Republikmodell am nächsten kommt. Entscheidend ist, dass Rousseau sich unter der „wahren“ Demokratie nur und ausschließlich die direkte Demokratie vorstellen kann, also ein System, in dem das Volk, d. h. die in actu versammelten Staatsbürger der alleinige Souverän sind, der eigentlich auch die Regierungsgeschäfte leiten soll. Auf paradoxe Weise ist hier also die vorher betonte Unterscheidung von Legislative und Exekutive wieder aufgehoben. Und in diesem Zusammenhang kommt es zur Auflistung der Bedingungen, unter denen Rousseau sich die Verwirklichung seines Demokratieideals alleine vorstellen kann – ich fasse sie in Kurzform zusammen: Kleinheit des Staates (Stadtstaat), soziale Gleichheit oder zumindest geringe soziale Ungleichheit der Bürger, kein Luxus, sondern einfache und strenge öffentliche Sitten (S. 73) – in der Summe eine an der Antike abgelesene „spartanische“ Lebensform, die offenbar als Realtypus bereits der idealtypischen Konstruktion des Gesellschaftsvertrags zugrunde lag, also die „eigentliche Verfasstheit“ (S. 60) des politischen Lebens ausmacht. Die Abgleichung zwischen Ideal und Wirklichkeit aber – wenigstens darin ist Rousseau ganz klar – ist offen resignativ: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht“ (S. 74). Insgesamt ist der hervorstechendste Zug an Rousseaus Vorstellung von Demokratie eine kaum zu bändigende Sehnsucht nach Einheit und Geschlossenheit, die allerdings nicht technischer, sondern sozial-moralischer Art sein soll. Im Umkehrschluss, der Rousseau jederzeit geläufig ist, bedeutet dies die konsequente Ablehnung jeder Tendenz, die zur inneren Differenzierung, zur Aufsplitterung oder gar zur Auflösung der staatlichen Einheit führen könnte. Und hier ist der Ort, an dem man den starken antiliberalen Affekt Rousseaus sowohl verstehen kann als auch problematisieren muss. Zwar war Rousseau keineswegs ein prinzipieller Gegner der Gewaltenteilung, wie ihm oft vorgeworfen wurde, er schätzte vielmehr den etwas älteren Montesquieu und seinen „Geist der Gesetze“ sehr hoch, sagt aber nichts von einer eigenständigen Judikative. Ansonsten weisen fast sämtliche Argumente des Dritten und Vierten Buches, in denen sich so etwas findet wie Rousseaus (reichlich unsystematische) Institutionenlehre, in eine liberalismuskritische Richtung:



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Dazu gehört z. B. ein auffälliges Zurückweichen vor dem Widerstandsrecht – gegenüber dem ungesetzlichen Usurpator gibt es nur den Rückzug auf die ursprüngliche Volkssouveränität (93 ff.). Weiter wird betont, dass in der gesetzgebenden Versammlung möglichst keine Parteiungen auftreten sollen, die Abstimmung also möglichst einstimmig erfolgen soll. (S. 114 ff.) Vor allem aber wird jede Delegation oder Repräsentation der Volkssouveränität ausgeschlossen, einschließlich der Institution des Abgeordneten als solcher. (S. 102 ff.). Die Konfrontation, die sich hier auftut, musste im Bewusstsein der Zeitgenossen hohen Signalwert besitzen, und man kann sich vorstellen, dass sich Rousseau in diesem Punkt endgültig aus dem Kreis der europäischen Aufklärer hinauskatapultierte. Ich meine die durch und durch negative Einschätzung des englischen Parlamentarismus, der immerhin ein greifbares Gegenbild zum kontinentaleuropäischen Ancien Regime hätte darstellen können. Rousseau ist hier ganz kategorisch: „Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“ (S. 103) Rousseaus Gegenbild ist ein ganz anderes, es entstammt der griechischen Antike und wird von ihm selbst um den Preis der vorher so strikt abgelehnten Sklaverei festgehalten: „Bei den Griechen erledigte das Volk alle seine Obliegenheiten selbst: es war ununterbrochen auf dem Marktplatz versammelt. Es wohnte in einem milden Klima, war überhaupt nicht habgierig die Arbeiten taten seine Sklaven, seine große Angelegenheit war seine Freiheit.“ (S. 104) Nimmt man hinzu, dass Rousseaus Liebe ausdrücklich nicht so sehr dem eleganten Athen, sondern dem archaischen Sparta galt, wo die Bürgermoral ganz unter den Vorzeichen von militärischen Praktiken stand, dann quillt das Maß an Rigorismus und „spartanischer“ Bürgertugend über. Unterstrichen wird das alles noch einmal im Vierten Buch durch eine lange und reichlich idealisierende Abhandlung über die Willensbildungsmodalitäten im antiken Rom, wo angeblich „das freieste und mächtigste Volk der Erde“ (121) lebte und noch so „unrepublikanische“ Einrichtungen wie die kommissarische Diktatur oder das Zensorenamt nur dazu dienten, den Patriotismus zu stärken und die vox populi zur Geltung zu bringen. Da ist einer, der sich offenbar in der Gegenwart nicht mehr zurecht findet, panisch – oder soll man sagen: romantisch? – auf der Flucht in die Antike!

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VI. Wenn man das Referat über die „Prinzipien des Staatsrechts“, wie Rousseaus Untertitel lautet, so ausklingen lässt, nimmt man eine rückwärtsgewandte Perspektive ein und droht einer konservativen Interpretation zu erliegen. Das ist ganz und gar nicht meine Absicht. Ich möchte, im Gegenteil, zum Ausklang dieser Vorlesung Argumente dafür beibringen, dass das Interessanteste an Rousseau die – von ihm selbst so sehnlich erwünschte wie verbittert erwartete – Ausstrahlung in die Zukunft war. Und das bedeutet, dass man seine Schriften, 300 Jahre nach seiner Geburt und 250 Jahre nach der Veröffentlichung des „Contrat Social“, eigentlich nur vor dem Hintergrund seiner Wirkungsgeschichte richtig verstehen kann. Das macht die heutige Rezeption vieldeutig und voraussetzungsreich, und sie wird desto voraussetzungsreicher, je gegensätzlicher die Lektüren waren, denen Rousseau im Verlauf seiner Wirkungsgeschichte ausgesetzt war. Ich möchte diese offensichtliche Komplikation nur an einem einzigen Punkt aufgreifen. Er betrifft eine Frage, die in der bisherigen Literatur, soweit ich sehe, nicht gezielt gestellt wurde, und dies ist, wie könnte es anders sein, die Frage des Exilforschers, also meine Frage: Wodurch genau wurde die ­politische Verfolgung Rousseaus im Sommer 1762 eigentlich ausgelöst? Wir wissen, dass der „Contrat Social“ fast gleichzeitig mit dem „Émile“ publiziert wurde, wir wissen auch, dass der allererste Stein nicht etwa vom Pariser Parlament, sondern von der theologischen Fakultät der Sorbonne geworfen wurde, während es der königliche Zensor Malesherbes war, der Rousseau die Warnung zukommen ließ und seine Papiere vor dem Zugriff der Häscher versteckte. War also die polizeiliche Verfolgung Rousseaus nur in zweiter Instanz staatspolitisch, in erster Instanz aber religionspolitisch motiviert? Ich kann diese Frage nicht in extenso beantworten, aber möchte sie dazu benützen, um einen neuen Blick auf das Schlusskapitel des Contrat Social einzufordern, das schon immer als sein rätselhaftester Teil galt. Was steckt hinter den hier hingeworfenen Reflexionen über Religion und Politik? Und was hat es zu bedeuten, dass Rousseau sie erst im letzten Augenblick auf die Druckfahnen gekritzelt hat? Sicherlich ist es nützlich, sich einer gründlichen, d. h. einer immanent ansetzenden Interpretation des dichtesten reli­ gionsphilosophischen Traktats zu befleißigen, den wir von Rousseau be­ sitzen10: Die Vorstellung einer „natürlichen Religion“, wie sie im „Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars“ en détail artikuliert wird, war, zusammen mit der programmatischen Missachtung der katholischen Erzie10  So kürzlich vorgelegt von Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern, München 2011, S.  293 ff.



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hungsdoktrinen im „Émile“, tatsächlich der zentrale Angriffspunkt sowohl im Bannschreiben des Pariser Parlaments als auch im denunziatorischen Hirtenbrief des Pariser Erzbischofs Beaumont. Aber wie passt das zu Rousseaus politischen Ideen im engeren Sinn? Der Text des „Contrat Social“ ist soweit klar, dass Rousseau drei Formen der Religion ziemlich holzschnittartig unterscheidet: Während er mit seiner offenen Ablehnung des römischen Katholizismus, der ja mit der französische Krone im Bunde ist, ganz und gar nicht hinterm Berg hält, bekennt er sich doch zum Christentum im Allgemeinen: „Es bleibt also die Religion des Menschen oder das Christentum, nicht das heutige, sondern das des Evangeliums, das davon ganz und gar verschieden ist. Durch diese heilige, erhabene und wahre Religion erkennen sich die Menschen – Kinder des nämlichen Gottes – alle als Brüder, und die Gemeinschaft, die sie vereinigt, löst sich auch im Tod nicht auf.“ (S. 147) Damit ist also nicht der Calvinismus, d. h. Rousseaus eigenes Bekenntnis gemeint, sondern eine Art von antikirchlichem Urchristentum. Und dennoch setzt er am Ende auch nicht darauf, sondern auf eine „religion civile“, die in der Schwebe zwischen einem modernen Deismus und antiker Staatsreligion bleibt: „Es gibt daher ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein.“ (S. 151) Bei aller Zurückweisung des kirchlichen Dogmatismus beharrt Rousseau also doch wieder auf positiv zu bekennenden Glaubensinhalten, von denen er die folgenden hervorhebt: die Existenz einer allmächtigen Vorsehung, den Glauben an ein jenseitiges Leben und die „Heiligkeit“ des Gesellschaftsvertrags und der staatlichen Gesetze. Interessant wird es bei der Frage der Toleranz. Während die „bürgerliche Religion“ ausdrücklich darauf zielt, alle Religionen zu „tolerieren, die ihrerseits die anderen tolerieren“, setzt Rousseau spitzfindig hinzu: „sofern ihre Dogmen nicht gegen die Pflichten der Bürger verstoßen.“ (S. 152). Explizit ausgeschlossen ist also der Atheismus, selbst wenn er sich zur bürgerlichen Ordnung bekennt! Welche Zweideutigkeiten steckten in diesen religionspolitischen, welche in den vorne aufgelisteten staatstheoretischen Unterscheidungen? Wie verhalten beide Ebenen sich zueinander? Von hier aus ließe sich der Fragebogen erweitern und als – produktive oder destruktive – Projektionsfläche der Wirkungsgeschichte ausfalten: Ist die Verhältnisbestimmung zwischen der volonté des tous und der volonté générale tatsächlich „logisch“ oder verstecken sich darin politisch-theologische Implikationen, die auf einen modernen Mystizismus hinauslaufen? War der „Gesellschaftsvertrag“ eine rückwärtsgewandte, eine unpolitisch gemeinte Demokratieutopie oder das erste

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Fanal der Französischen Revolution? War Rousseau ein „Staatsabsolutist“ wider Willen oder ein romantisierender Vorläufer der liberalen Demokratie? Gab er das Stichwort für den Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder kann man mit dem „Gesellschaftsvertrag“ den heute schon wieder bedrohten So­ zialstaat retten? Selbst wenn sich Alternativen dieser Art nicht direkt an den vorne benannten Denksprüngen in Rousseaus Text festmachen lassen, so verweisen sie auf die vielfältigen Wege seiner Wirkung. Sie führen tief und breit durch die europäische Geschichte. Klar ist der negative Startpunkt: Zusammen mit dem „Émile“ wird der „Gesellschaftvertrag“ von der kirchlichen Nomenklatura geächtet und von einem staatlichen Gericht verbrannt – ein eklatantes Beispiel öffentlicher Bücherverbrennung. Und als Rousseau Hals über Kopf in seine Geburtsstadt Genf fliehen möchte, als deren Bürger er stolz auf dem Frontispiz posiert hatte, geschieht ihm dort dasselbe: eine Katastrophe für den „Citoyen de Genève“! Bis an sein Lebensende bleibt Rousseau ein intellektueller Flüchtling – die Einladung von Friedrich dem Großen, nach Potsdam zu kommen, schlägt er aus, in England verkracht er sich schnell mit seinem Gastgeber David Hume, die letzten Lebensjahre verbringt er wieder am Rand von Paris – halb unter polizeilicher Beobachtung, halb philosophischer Narr mit Armenierkappe. Seine vielleicht wirkungsmächtigste Schrift, die Lebensbeichte der „Confessions“ wird von den Behörden unterdrückt und kann erst posthum erscheinen. Aber gerade dadurch entsteht um ihn im vorrevolutionären Frankreich ein Kult der Verehrung, der sich weniger an seine politischen Schriften als an sein abenteuerliches Lebensschicksal heftet. Und dies ist auch die indirekte Form, in der Rousseau auf die Protagonisten der Revolution wirkt: Wichtiger als seine republikanischen Ideen war die literarisch vermittelte Mode eines em­ pfindsamen „Rousseauismus“ – heute würden wir von einer alternativen Subkultur sprechen. Zwar wissen wir, dass z. B. Robespierre Rousseau gelesen hat, doch folgte das Revolutionsgeschehen gerade in seiner zweiten Phase einer eigenen selbstdestruktiven Logik. Immerhin wurde Rousseau 1794, zusammen mit seinem einstigen Kontrahenten Voltaire, ins Pariser Pantheon aufgenommen und rückte seit dem frühen 19. Jahrhundert in die gesamteuropäische Galerie der großen Staatsphilosophen ein. Der „Gesellschaftsvertrag“ wurde von den deutschen Idealisten, von Kant und vom jungen Fichte, aber auch vom preußischen Hegel ins staatsphilosophische System eingebaut, und im Vormärz erblickten die Linkshegelianer, vor allem Marx und Engels, in Rousseau den Vorboten zuerst der bürgerlichen Revolu­tion und dann der kommunistischen Bewegung.11 11  Rousseaus Wirkungsgeschichte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wird in Umrissen sichtbar bei Herbert Jaumann (Hrsg.), Rousseau in Deutschland. Bei-



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Auch im 20. Jahrhundert ist Rousseaus politisches Denken, jetzt besonders unter dem Aspekt der Demokratietheorie, intensiv diskutiert, aber auch diametral verschieden interpretiert worden: Carl Schmitt berief sich auf den „Contrat Social“, um vom Postulat der Homogenität her die Weimarer Verfassung aus den Angeln zu hebeln, sein linker Kritiker Franz L. Neumann erklärte Rousseau zum „Staatsabsolutisten“, obschon er das theoretische Geheimnis der modernen Demokratie entschlüsselt habe, während später sein einstiger Kompagnon Ernst Fraenkel seine „studentenbewegten“ Schüler mittels desselben Rousseau vor der Schimäre der Rätedemokratie warnte. Der israelische Gelehrte Jacob L. Talmon sah Anfang der 1950er Jahre in Rousseau den Erzvater des modernen Totalitarismus, während der Politologe Iring Fetscher umgekehrt die Grundgedanken des „Gesellschaftsvertrags“ mit der deutschen Nachkriegsdemokratie zu versöhnen suchte, was nur mittels einer konservativen Deutung von Rousseaus Geschichtsphilosophie möglich schien.12 Angesichts dieser Wirkungsgeschichte ist es müßig, Rousseau auf einen einzigen Leisten festlegen zu wollen. Offenbar sind es gerade die Widersprüche, die immer neue Interpretationen provozieren und ihn „verwendbar“ machen. So stammt das „Faszinosum Rousseau“ auch heute weniger von seiner politischen Lehre im engeren Sinn als vielmehr davon, dass er den Archetypus des modernen Intellektuellen verkörpert: Pessimist unter den fortschrittsgläubigen Aufklärern, engagierter Gesellschaftskritiker und romantischer Träumer, Entdecker der Intimität und Tugendfanatiker in einer Person – so stellte er sich der Entfremdung des Menschen in der modernen Welt und wurde selber deren Opfer. Von Friedrich Schlegel stammt die Denkfigur des „rückwärtsgewandten Propheten“, aus heutiger Sicht passt die Radikalisierung besser, die Horkheimer und Adorno mit ihr vornahmen: Wenn sie die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts einer „Dialektik der Aufklärung“ zurechneten, so gab Rousseau im 18. Jahrhundert eine intuitive, aber realistische Prognose.

träge zu seiner Rezeption in Deutschland, Berlin 1995 sowie Iring Fetscher, Rüdiger Bubner (Hrsg.) Rousseau und die Folgen, Göttingen 1989. 12  Die deutsche Rousseau-Rezeption im 20. Jahrhundert ist ein ausgesprochenes Forschungsdesiderat, während aus französisches Sicht jetzt vorliegt: Céline Spector, Au prisme de Rousseau. Usages politiques contemporains, Oxford 2011. Vgl. die Besprechung von Kent Wright im Sommerheft der Zeitschrift für Ideengeschichte, 2012.

Freiheit nach Burlamarqui Rousseau im Naturrecht der Neuzeit Von Skadi Krause Rousseau hat sich mit seinem Gesellschaftsvertrag in die Tradition der klassischen Naturrechtslehre gestellt.1 Und doch bedeutet sein Werk nicht weniger als einen radikalen Bruch mit deren Rechtsbegründung.2 Rousseau hat die scholastische Frage über die prima virtus legis, nämlich ob das Gesetz vorrangig durch die von ihm ausgehende Zwangsgewalt oder vielmehr über seine moralische Verpflichtungskraft definiert wird, neu beantwortet. Zwischen Thomas Hobbes, der in seiner Begründung des Staates die Gesetze auf Zwangsmechanismen reduziert und Rechtsverbindlichkeit auf das Moment der effektiven Bindung durch äußere Pflicht zurückgeführt, und Rousseau, der die moralische und politische Unterwerfung der Menschen unter das Gesetz nur unter der Voraussetzung erfüllt sieht, dass diese selber zum Urheber des Gesetzes werden, liegt aber eine Entwicklungslinie der Naturrechtslehre, die bei der Deutung von Rousseaus Naturrechtstheorie nicht vernachlässigt werden darf. Denn Rousseau nutzte die über Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und Christian Thomasius weiterentwickelte Staatstheorie für seine Legitimation der Republik. Dabei spielen Jean Barbeyrac und Jean-Jacques Burlamarqui, die Grotius und Pufendorfs Naturrechtslehren im 18. Jahrhundert an ein französisch sprechendes Publikum vermittelt und interpretiert haben, eine besondere Rolle. Denn bereits bei Burlamaqui spielt der Bezug auf das Naturrecht als Grundlage der Rechtsverpflichtung keine Rolle mehr. Es ist der Begriff der Freiheit, der fortan für die moralische Verpflichtung und Selbstbindung an das Recht steht. Rousseau erweitert ihn, indem er Freiheit nicht nur jedem Individuum zuschreibt, sondern auch der politischen Gemeinschaft als solcher. Burlamarqui ist aber nicht nur für die rechtsphilosophische, sondern auch für die politische Deutung Rousseaus von Interesse, insofern er bei den politischen Auseinandersetzungen in Genf die Sache des Petit Conseil vertrat, während 1  Vgl. Richard Tuck: Natural Rights Theorie. Their origin and development, Cambridge: University Press 1979. 2  Vgl. Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophie. From Grotius to the Scottish Enlightenment, Cambridge: University Press 1996.

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Rousseau, der sich mit seinen politischen Schriften ebenfalls direkt auf die Verfassungsreform von 1738 bezog, die neu erworbenen Souveränitätsrechte des Conseil Général verteidigte. Diese Konfrontation macht nicht zuletzt deutlich, worum es Rousseau bei der Niederschrift seines Gesellschaftsvertrages ging und worin sein politisches Vermächtnis liegt. I. Rechtsstaatlich durch Zwang. Thomas Hobbes Wenn im folgendem auf die Naturrechtstheorien von Hobbes und dessen scharfe Kritiker Grotius, Pufendorf und Thomasius eingegangen wird, dann nur insofern, als sie für deren Begründung des Rechts und Staates relevant sind.3 Im Vordergrund steht dabei die Frage der Rechtsanbindung bzw. die Notwendigkeit, das Recht nicht nur durch äußeren Zwang, sondern als Form der Selbstverpflichtung der durch das Recht Gebundenen zu deuten. Denn dies ist für Rousseau die bestimmende Frage bei der Formulierung des Gesellschaftsvertrages, der eine Antwort darauf geben soll, „wie weit sich die jeweiligen Rechte des Souveräns und der Bürger erstrecken“ und „wie weit sich die letzteren gegenüber sich selbst, die einzelnen gegenüber allen und alle gegenüber jedem einzelnen von ihnen verpflichten können“4. Bereits diese Fragestellung markiert den Unterschied zur politischen Verpflichtung, wie sie Thomas Hobbes im Leviathan angelegt hat.5 Dieser hatte das Stabilitätsproblem des politischen Verbandes mit Hilfe einer Fiktion des Naturzustandes, der sich als Gegenentwurf zur politischen Lehre Aristoteles liest6, gelöst und den Zwang als Verpflichtungsgrundlage des Rechts begründet. Der Mensch ist in dieser Theorie von Natur aus weder ein soziales noch ein politisches Lebewesen. Das Fehlen jeglicher sozialer Bindungen und Strukturen schafft ein Individuum, dessen Erfahrungswelt durch Furcht und gewaltsame Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist. Denn Kraft ihrer Freiheit und Rationalität antizipieren die Menschen einen Mangel, der we3  Vgl. dazu: Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg  /  Brsg. 1998. 2. Auflage (Studienausgabe): Alber-Verlag 1999; Drs.: Vertragstheorie und Konstruktion der Souveränität bei ­Pufendorf, in: Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf (Reihe: Staatsverständnisse. Bd. 23). Baden-Baden: Nomos 2009, 36–50. 4  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: ders.: Sozialphilosophische und politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, 269–391, 294. 5  Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 17. Kapitel, S. 131 ff. Vgl. auch: Norberto Bobbio: Thomas Hobbes and the Natural Law Tradition, Chicago & London: University of Chicago Press 1993. 6  Vgl. dazu: Herfried Münkler: Thomas Hobbes. Frankfurt u. a.: Campus-Verl. 1993.



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niger auf einer realen Güterknappheit als auf der Möglichkeit einer zukünftigen Verknappung und damit einhergehender Unklarheiten hinsichtlich der Güterverteilung beruht. Hobbes’ antizipierter Mangel führt zu einer Reduktion des Sozialverhaltens des Menschen. Selbsterhaltung und Besitzanspruch bedingen einen Krieg eines jeden gegen jeden. Damit verkehren sich aber Autonomie und Souveränität des Menschen, wie sie Hobbes dem Naturzustand zugrunde legt, in ihr Gegenteil. Die Freiheit des Menschen von Zwang schlägt um in eine permanente Furcht um das eigene Leben und Überleben, insofern das natürliche Recht auf Alles und der unbegrenzte Wille zur Aneignung aller Naturgüter jedem in gleicher Weise zustehen. Selbsterhaltung ist aus dieser Perspektive zwar möglich aber nicht sicher.7 Es ist die Vernunft, die den Menschen nicht nur zum Kampf gegen seinesgleichen treibt, sondern ihn auch zu der Einsicht führt, dass die bloße Affektgebundenheit zu einem unhaltbaren Zustand des permanenten Krieges führt. Frieden zu sichern, wird bei Hobbes daher zum obersten Gebot der recta ratio. Die Bedingungen des Naturzustanden machen eine Preisgabe des Rechtes auf Alles zugunsten des Selbsterhaltungskalküls nötig. Doch kann eine solche Übereinkunft im Naturzustand keine Rechtsverbindlichkeit beanspruchen. Seine Prämisse lautet daher, dass die Naturgesetze keine wirksame Obligation enthalten, die das Leben im Naturzustand sichern könnte.8 Allein die Unterwerfung unter eine Zwangsgewalt, deren Sinn und Zweck es ist, den Frieden zwischen den Menschen zu sichern, kann Rechtsverbindlichkeit durchsetzen.9 Die Entstehung dieser Zwangsgewalt beinhaltet von vorherein mehrere Bedingungen. Erstens muss sie geschaffen werden; sie ist nicht natürlich gegeben: „Die Übereinstimmung […] der Menschen beruht nur auf Vertrag, der künstlich ist.“10 Zweitens muss sie als artifizielles Korrektiv der natürlichen Veranlagungen der Menschen, sich gegenseitig zu schädigen, wirken und die Bestrebungen der Individuen an ein positives Recht binden, „um ihre Übereinstimmung beständig und dauerhaft zu machen“, „sie in Zaum [zu] halten und ihre Handlungen auf ein Gemeinwohl hin[zu]lenken“11. Dies geschieht für Hobbes dadurch, dass sich die Einzelnen dazu bekennen, ihre natürlichen Rechte zugunsten einer künstlich geschaffenen Rechtsperson aufzugeben, unter der Bedingung, dass diese die natürlichen Rechte zum 7  Richard

Tuck: Hobbes, Oxford / New York: Oxford University Press 1989, 64 ff. Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 17. Kapitel, 134. 9  Ebenda. 10  Ebenda. 11  Ebenda. 8  Thomas

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Schutze der Gesamtheit verwaltet. Die bindende Kraft dieser Unterwerfung schafft einen Vertrag, der zugleich Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag ist. Die Vertragspartner belegen sich zwar mit einem wechselseitigen Versprechen, da sie sich aber nicht selbst verpflichten können, ist eine wirkungsmächtige Obligation erst durch die Unterwerfung unter den Willen des souveränen Gesetzgebers möglich.12 Das heißt, das Gesetz wird und kann nur durch die von ihm ausgehende Zwangsgewalt definiert werden. II. Selbstverpflichtung und Gesetzestreue. Samuel Pufendorf Schon früh hat die Rezeption Hobbes’ Begründung der Rechtsstaatlichkeit durch Zwang seine Konzeption des Naturzustandes als Krieg eines jeden gegen jeden und seiner Anthropologie des Menschen als eines asozialen Lebewesens in Frage gestellt. Es war Pufendorf13, der in seinem Natur- und Völkerrecht hervorgehoben hat, dass Hobbes Recht nicht als moralische Qualität erfassen kann, weshalb der Vertragsschluss zwischen den Akteuren des Naturzustandes als wechselseitiges Versprechen (ich verspreche, wenn auch du versprichst) wirkungslos bleibe, solange nicht der Grund der Verbindlichkeit in jedem einzelnen Akteur liege. Allein der leiseste Verdacht des Vertragsbruchs mache alle Selbstverpflichtungen zunichte: „Und ich kann nicht absehen noch begreifen mit was für Recht jemand unter dem Vorwand sich auffs Künftige wider alle besorglichen Gefahr in Sicherheit zu stellen dergleichen Leute unterzudrücken ohnversehens und gewaltsam zu fahren könne. Die gesunde Vernunft kann es niemals gut heißen, daß man jemanden von dessen Willen und Bemühung einem zu schaden keine gnugsame Gewißheit vorhanden ist, aus bloßem Argwohn alsbald über den Haufen werffe“14. 12  Bei Hobbes heißt es: Die Unterwerfung „ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch den Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas.“ Ebenda. 13  Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt, Frankfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711. Vgl. dazu: Thomas Behme: Samuel von Pufendorf. Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie; ihre Grundlagen und Probleme, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1995. 14  Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen



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Zudem kritisiert Pufendorf, dass der Schritt aus dem Naturzustand aus Vernunfteinsicht unzureichend begründet sei. Denn so Pufendorf: „der größte Hauffe folget nicht der Vernunft, sondern verkehrter Neigungen“, was zur Folge hat, dass „der Funke natürlicher Billigkeit und gesunder Vernunfft“ gewöhnlich ausgelöscht oder gewaltsam unterdrückt wird15. Wenn das natürliche Recht, so Pufendorf, aber schon mit keinem Anspruch auf wechselseitigen Respekt korrespondiere, könne das gegenseitige Versprechen zur Rechtsübertragung keinerlei Verbindlichkeit schaffen. Rechtsverbindlichkeit kann insofern nur entstehen, wenn der Mensch Einsicht in die Fehlbarkeit seines Handelns hat. Dementsprechend konzipiert Pufendorf seinen Naturzustand. Dieser ist für ihn nicht mehr ein gesetzloser Bereich menschlichen Handelns. Aufgrund seiner Moralität und Sozialität ist der Mensch zu einem friedlichen Sozialverhalten verpflichtet. Allein die Freiheit des Menschen macht ihn zu allem fähig und sie schafft Schuld.16 Deshalb ist es die moralische Pflicht des Menschen, sich eine Ordnung zu geben. „Es erfordert die Würde und Vortrefflichkeit des Menschen dadurch er alle andere Creaturen übertrifft, dass sein Thun und Laßen nach einer gewissen Richtschnur angestellet würde, als ohne welche keine Ordnung, kein Wohlstand und keine Schönheit seyn oder erdacht werden kann.“17 Seine Reformulierung des Hobbesschen Vertragsmodells beruht auf einem Naturgesetz, welches das Werk eines göttlichen Gesetzgebers ist, der dieses als Gebot des menschlichen Gewissens initiiert. Der Mensch kann nicht nur, er muss sich eine soziale Ordnung geben. Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbindung ist durch das Naturgesetz gegeben und die Rechtsübertragung begründet eine souveräne Instanz als moralische Rechtsperson. Die Folge ist eine doppelte Bindung der Individuen an die politische Ordnung: als natürliche Verpflichtung zur Vertragstreue und als Gehorsam gegenüber der Herrschaftsinstanz.18 Der Kern der Pufendorfschen Hobbes-Kritik bezieht sich insofern auf eine unzureichende Unterscheidung von Zwang und Verpflichtung. Hobbes, so lässt sich seine Argumentation zusammenfassen, hat ausschließlich einen negativen Begriff des Gehorsams geprägt, konnte aber keinen positiven Begriff von Selbstverpflichtung und Gesetzestreue entwickeln. In seiner Kritik bezieht sich Pufendorf dabei auf Hugo Grotius19, der ebenfalls das Naturrecht erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt, Frankfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711, S. 442. 15  Ebenda, S. 447. 16  Ebenda, S. 248. 17  Ebenda, S. 251. 18  Ebenda, S. 313. 19  Hugonis Grotii: De jure Belli ac Pacis libros, ovibus naturae & gentium jus explicavit, notae & animadversions subitariae. Wittebergae 1666; die entscheidende

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aus der sozialen Natur des Menschen abgeleitet hatte.20 Das Gebot der Unversehrtheit der Mitmenschen, aber auch die Verpflichtung, Versprechen zu halten, erwachsen für Grotius aus dem menschlichen Sozialverhalten. Das Naturrecht ist ein Gebot der menschlichen Vernunft und es ist der Maßstab dafür, ob unsere Handlungen mit der rationalen Naturordnung übereinstimmen.21 Grotius gesteht den Menschen zu, in der Relation zwischen menschlicher Vernunft und Naturordnung den göttlichen Gesetzeswillen erkennen zu können. Das Gebot der Einhaltung moralischer Normen resultiert folglich aus der vernünftigen Einsicht in die moralische Verfasstheit der Natur und nicht mehr aus Unterwerfung unter eine höhere Gewalt. Der Mensch als Vernunftwesen gelangt zu rationalen Einsichten, die sein Handeln anleiten und folglich zu Gesetzen seines Tuns werden können.22 Daraus ergibt sich eine doppelte Verpflichtung: die natürliche innere Verpflichtung einer moralischen Ordnung und die äußere Verpflichtung der Zivilgesetzgebung, die beide harmonieren müssen.23 Das Naturrecht wird zur Bedingung für menschliche Handlungsfranzösischsprachige Ausgabe: Hugo Grotius: Le droit de la guerre et de la paix; nouvelle traduction par Jean Barbeyrac, Bd. 1, Amsterdam: Pierre de Coup 1729. 20  Vgl. Vanda Fiorillo: Von Grotius zu Pufendorf, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 75. Jg. / Heft 2. 1989, S. 218–238. 21  „Pour commercer par le Droit Naturel, il consiste dans certains principles de (1) la droite raison, qui nous sont connoître qu’une action est moralement honnête (2) ou deshonnête, selon la convenance ou la disconvenance nécessaire qu’elle a avec une nature raisonnable (3) & sociale, & par consequent que Dieu, qui est l’auteure de la Nature, ordonne ou defend une telle action. 2. Les action a l’égard desquelles la raison nous fournet de tels principles, sont (4) obligatoire ou illicites par elle-mêmes, à cause de quoi on les concoit comme nécessairement ordonnées ou défendues de Dieu. Et c’est le caractére proper qui distinque le Droit Naturel, non seulement d’avec le Droit Humain, mais encore d’avec le Droit Divin volontaire, qui ne commande pas & ne defend pas des chose obligatoires ou illicites par ellemême & de leur proper nature, mais qui rend obligatoire ce qu’il commande, par cela seul qu’il le commande; & illicit ce qu’il defend, par cela seul qu’il le defend.“ Hugo Grotius: Le droit de la guerre et de la paix; nouvelle traduction par Jean Barbeyrac, Bd. 1, Amsterdam: Pierre de Coup 1729, Bd. 1, S. 65–66. 22  Ebenda, S. 71. 23  Für die Grotius-Kommentatoren bedeutet dies, dass beide Formen der natür­ lichen und zivilrechtlichen Verpflichtung nebeneinander bestehen müssen und dass die natürliche Verpflichtung gleichsam die Voraussetzung für alle weiteren Obliga­ tionsverhältnisse bildet. Zu den Grotius-Kommentaren im 17. und frühen 18. Jahrhundert: Ernst Reibstein: Deutsche Grotius-Kommentatoren bis zu Christian Wolff, in: Zeitschrift für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht 15(1954), 76– 102. Für die Rezeption entscheidend waren vor allem: Robert Sharrock: Hypothesis Ethike De officiis secundum Naturae Jus. Seu de Moribus ad Rationis normam conformandis Doctrina unde Casus omnes Conscientiae, quatenus notions a natura suppetunt, Oxioniae: Tho. Robinson 1660; sowie: Richard Cumberland: De legibus naturae disquisition philisophica (Londini 1672), Lubeca & Francofurti: Joannem Wiedenmeyerum 1683, frz.: Traité Philosophique des Loix Naturelles ou l’on recher-



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freiheit und zugleich die Voraussetzung für Gehorsam und ein gelingendes soziales Leben.24 Soweit ist Pufendorf allerdings nicht gegangen. Für ihn ist das Gesetz nicht ausschließlich Sache der Vernunft, weil die Vernunft an sich noch keine Selbstverpflichtung beinhaltet. Das Gesetz ist erst einmal nichts anderes als das Resultat eines freien Gesetzeswillen.25 Erst dadurch kann es auch moralische Effekte erzielen. Pufendorf unterstreicht damit den eigenständigen Charakter der zivilen Gesetzgebung.26 Zugleich mahnt er aber auch die Rationalität des Gesetzes an. Nicht allein der Gesetzeswillen eines Fürsten, sondern auch die Übereinstimmung der Gesetze mit dem Naturrecht ist für deren moralische Wirkung, d. h. die Selbstbindung der Untertanen wichtig. Das heißt, nicht nur die zivile Verpflichtung bestimmt die Möglichkeit der Menschen, ihre Handlungsfreiheit durch Übereinkünfte einzuschränken, es gibt auch eine natürliche moralische Verpflichtung. Dies wiederum bestimmt die Struktur des Gesellschaftsvertrages bei Pufendorf.27 Der Mensch im Nache et l’on établit par la Nature des Choses, la forme de ces Loix, leur principaux chefs, leur ordre, leur publication & leur obligation: on resute aussi les Eléments de la Morale & de la Politique de Thomas Hobbes, Amsterdam: Pierre Mortier 1744. 24  Richard Cumberland: Traité Philosophique des Loix Naturelles ou l’on recherche et l’on établit par la Nature des Choses, la forme de ces Loix, leur principaux chefs, leur ordre, leur publication & leur obligation: on resute aussi les Eléments de la Morale & de la Politique de Thomas Hobbes, Amsterdam: Pierre Mortier 1744: „Les Loix Naturelles sont le fondament de toute la Morale, & de toute la Politique“, ebenda, S. 1 25  Scharf kritisiert Pufendorf deshalb Grotius für seinen Ansatz, das Recht und seine Verbindlichkeit nur aus der Vernunft des Menschen herleiten zu wollen: „Denn wir können dißfals dem H. Grotio nicht beyfallen, welcher dafür halten wollen, es würden die Natürlichen Rechte auch seyn können, wenn Menschen zugeben, welches doch ohne die grösseste Gottlosigkeit in Ernst nicht könnte von jemand gesaget werden, dass kein Gott sey, oder dass er sich um der Menschen Thun und Lassen gar nicht bekümmere. Denn, gesetzt, dass einer die gottlose und närrische Meynung annehmen, und sich einbilden wollte, als ob das Menschliche Geschlechte bloß so von sich selbst entstanden wäre, so möchte es endlich wohl seyn, dass die Menschen die Außsprüche der Vernunft in Ansehung ihrer Nutzbarkeit beobachten, als wie ein Kranker den Rathe und der Fürschrift eines Medici folgte; allein die Kraft eines Gesetzes konnten sie doch dadurch bey ihnen nicht erreichen als wenn nothwendig ein Oberer erforderlich wird.“ Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbayrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt, Frankfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711, S. 368. 26  Ebenda S. 460; vgl. dazu auch Franciscus Suàrez Granatensi: Tractatus de legibus ac Deo legislatore, Antverpia: Ioannem Keerpergi 1738. 27  Vgl. dazu: Thomas Behme: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analys und Interpretation seiner Theorie, ihre Grundlagen und Probleme, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995; Gerald Hartung: Vertragstheorie und Konstruktion der Souveränität bei Samuel Pufendorf, in: Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden: Nomos 2009, 36–50.

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turzustand ist durch Moralität und Sozialität und daraus resultierender Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen und sich selbst gekennzeichnet. Pufendorf unterscheidet jedoch zwischen dem Gesellschaftsvertrag, der Vereinigung aller Willen zu einem Willen, und dem Herrschaftsvertrag, der Vereinigung aller Kräfte zu einer höheren Gewalt, wie sie bereits bei Grotius angelegt ist. Im ersten Vertrag verpflichtet sich jeder Einzelne gegenüber den anderen, sich mit den anderen zu einem einzigen Körper zusammenzuschließen und mit gegenseitiger Zustimmung über ihre gegenseitige Sicherheit zu wachen. Doch da die Gesellschaft sich nicht selbst binden kann, muss bei der Konstitution der werdenden Gesellschaft ein Beschluss über die Souveränität gefasst werden. Dies gipfelt in einem zweiten Vertrag, durch den die höchste Gewalt je nach Regierungsform an eine Person, eine Versammlung oder alle übertragen wird.28 Erst im zweiten Vertrag konstituiert sich folglich die Gesellschaft als Staat. Souveränität wird bei Pufendorf dabei nicht vom Volk auf den Herrscher übertragen, sondern im zweiten Unterwerfungsvertrag des Volkes unter einen Herrscher erst geschaffen. Insofern darf allein der Souverän mit Recht bestimmen, was die Untertanen zur Erhaltung der gemeinsamen Sicherheit tun müssen, denn ihnen kommt keinerlei Recht auf Einspruch oder Widerstand zu.29 Pufendorf lässt lediglich eine Ausnahme gelten, wenn nämlich das Volk unter extremer und ungerechter Gewalt des Fürsten leidet. Erst in einem solchen Fall darf es sein Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen. „In der Tat behaupten wir, daß die rechtmäßige Macht des Königs und die Pflicht der Bürger einander genau entsprechen, und wir verneinen mit Entschiedenheit, daß vom König etwas mit Recht angeordnet werden kann, was der Untertan mit Recht verweigern kann. Der König kann nämlich mit Recht nicht mehr anordnen, als mit dem Zweck des Staates übereinstimmt oder als übereinstimmend gedacht wird.“30 Damit führt Pufendorf jedoch das ein, was Hobbes unter allen Umständen vermeiden wollte: die Möglichkeit des Auseinanderdriftens von Gesellschafts- und Unterwerfungsvertrag. Durch das Zu28  Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt, Frankfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711, S. 368. 29  Vgl. auch: Simone Zurbuchen: Samuel Pufendorfs Theorie der Staatsformen und ihre Bedeutung für die Theorie der modernen Republik, in: Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden: Nomos 2009, 138–160, S. 143. 30  Samuel Freyherr von Pufendorff: Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht. Johann Barbeyrac und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesenen Anmerkungen erläutert und in die Teutsche Sprach übersetzt, Frankfurt am Mayn: Friedrich Knochen 1711, S 324; Vgl. auch Thomas Behme: Ziele und Grenzen der Staatsgewalt bei Samuel Pufendorf, in: Dieter Hüning (Hg.): Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, Baden-Baden: Nomos 2009, 51–70.



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sammenfügen war es Hobbes gelungen, die Konstitution der Gemeinschaft als künstliches Produkt eines von Menschen geschaffenen Herrschafts- und Staatsgebildes zu beschreiben und zugleich die Souveränität des Herrschers als unantastbar zu begründen. III. Rechtsnorm und Gesetzestreue. Christian Thomasius Es war Christian Thomasius, der diese Zweiteilung von Gesellschaftsund Herrschaftsvertrag neu zu interpretieren verstand und dadurch die Naturrechtslehre wesentlich weiterentwickeln konnte.31 In seinem zweiten großen naturrechtlichen Werk, den Fundamenta Juris Naturae et Gentium beruft er sich ausdrücklich auf Pufendorf und distanziert sich gleichzeitig von dessen Rechtslehre.32 Vor allem kritisiert er Pufendorfs unscharfe Trennung von natürlichem und positivem Recht und eine undeutliche Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Verpflichtung. Normen sozialen Handelns unterstehen nach Thomasius entweder der Vernunft oder dem Befehl. Während erstere dem Nutzenkalkül unterliegen und nicht befolgt werden müssen, erzwingt ein Befehl seine Befolgung. Deshalb kann nur ein Befehl die vollständige Wirkungskraft einer Norm entfalten. Das Gesetz wiederum ist eine Norm moralischen Handelns, das sowohl Befehl als auch die Fähigkeit zu überzeugen bzw. zu verbieten enthält. Innerhalb seiner Grenzen hat das Recht die Fähigkeit, Handeln aus freier Entscheidung an Normen zu orientieren und zu binden. Thomasius unterscheidet dabei zwischen angeborenen Rechten und positiven Rechten. Die ersten resultieren aus den Normen des Naturrechts. Zu ihnen zählt er die natürliche Freiheit. Die zweiten sind Normen des menschlichen Willens. Als Beispiele nennt er die Herrschaftsgewalt oder das Eigentum.33 Doch auch wenn für Thomasius 31  Vgl. Helmut Holzhey  /  Simone Zurbuchen: Christian Thomasius, in: Helmut Holzhey / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Bd. 4 / 2: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, Schwabe, Basel 2001, S. 1165–1202, S. 1170 f.; Gerald Hartung: Die Naturrechts­ debatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Studienausgabe, München: Karl Alber 1999, 83 ff. 32  Christian Thomasius: Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti honesti, justi ac decori, cum adjunct emendation ad ista fundamenta Institutionum Jurisprudentiae divinae edition quanta, Halae & Lipsiae 1718. 33  Christian Thomasius: Institutiones Jurisprudentiae divinae, in positions succinte contractae, in quibus Hypotheses illustris Pufendorfii circa doctrinam Juris Naturalis Apodicticè demonstrantur & corrobantur, praecepta vero Juris Divini Positivi Universalis primùm a Jure Naturali distictè secernuntur, & perspicuè explicantur, Francofurti & Lipsiae 1688, S. 152.

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der Mensch sich selbst moralisch verpflichten kann, so kann er sich doch nicht selbst richten. Das heißt, innere Verpflichtung begründet noch kein Recht. Thomasius’ Trennung von innerer und äußerer Verpflichtung schließt eine klare Abgrenzung von Moralphilosophie und Jurisprudenz ein. Damit hat sich Thomasius einerseits Hobbes wieder angenähert, der Recht ausschließlich am äußeren Zwang ausgerichtet hat. Andererseits geht es Thomasius aber um die Selbstbindung und Erziehung des Einzelnen, seine Affekte zu beherrschen. Das Naturrecht als moralische Kategorie beruht auf dem Gebot des gerechten Handelns, aus dem sich Rechtsansprüche gegenüber anderen entwickeln lassen, dem jedoch das Moment der Erzwingbarkeit fehlt.34 Rechtsnormen wiederum beruhen auf äußerem Zwang, stiften aber noch keine Selbstbindung an das Recht. Thomasius’ entscheidender Schritt besteht darin, Sitten- und Rechtslehre zu verbinden. Sind auf der einen Seite moralische Normen durch Rechtssetzung nicht veränderbar, so bedürfen auf der anderen Seite Menschen des positiven Rechtes, sind sie doch nicht immer in der Lage, das moralisch Richtige und Gerechte zu erkennen. Das heißt, das positive Recht muss dazu dienen, moralische Normen zu stärken und zu festigen, die wiederum Gesetzestreue fördern. Thomasius beantwortet damit die Frage nach der Stabilität politischer Herrschaft deutlich differenzierter als seine Vorgänger: Die äußere Rechtsprechung dient der Affektbindung, während die innere Rechtsorientierung eine Aufgabe der Erziehung zum moralisch verantwortlichen Menschen und Bürger ist.35 Damit ist Thomasius in der Rechtsbegründung Hobbes sehr nahe. Zugleich macht er aber deutlich, dass ohne die Stärkung der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbindung Staat und Recht auf äußerst schwachen Füßen stehen. Weder Recht noch Staat können aus sich heraus Legitimation erzielen. Es ist die gute Ordnung, die die Fähigkeit des Menschen, vernünftig und frei zu handeln, stärkt und schützt. IV. Freiheit und Selbstbindung. Jean-Jacques Burlamaqui Die theoretische Verbindung von Herrschaftszwang auf der einen und moralischer Selbstbindung auf der anderen Seite, wird schließlich bei JeanJacques Burlamarqui hergestellt. Rousseau erwähnt sein Werk an mehreren 34  Vgl. Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Studienausgabe, München: Karl Alber 1999, 83 ff. 35  Christian Thomasius: Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti honesti, justi ac decori, cum adjunct emendation ad ista fundamenta Institutionum Jurisprudentiae divinae edition quanta, Halae & Lipsiae 1718, 150; vgl. auch Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Studienausgabe, München: Karl Alber 1999, S. 98.



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Stellen, u. a. in seinem zweiten Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in dem er zugleich die politische Dimension der Naturrechtsdebatte ausweist.36 Denn bei Burlamaqui erhält die Deutung des Naturrechts eine neue Wendung. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern rückt er den Begriff der Freiheit in den Mittelpunkt seines Werkes. Das Gesetz erzielt nicht seine bindende Wirkung durch Herrschaft oder die moralische Erziehung des Menschen, weil das Gesetz, und nur das Gesetz, Ausdruck der Freiheit des Menschen sein kann. Freiheit bedeutet für Burlamaqui nicht, alles tun zu können, was reine Willkür wäre, sondern Freiheit ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst Regeln geben zu könne. Damit knüpft Burlamaqui an das aristotelische Menschenbild an, das Hobbes ausdrücklich verworfen hatte. Der Mensch ist für Burlamaqui nicht nur frei, es besteht auch eine Notwendigkeit zur Freiheit, soll der Mensch nicht ausschließlich seinen Trieben unterworfen bleiben.37 Freiheit meint in diesem Sinne, sich selbst einer selbstgegebenen Regel zu unterwerfen. Verpflichtung kann nicht das Produkt äußeren Zwangs sein, sondern muss vielmehr von jedem Mensch empfunden werden, insofern der durch sein Vernunftvermögen die moralische Qualität seines Handelns erkennt und sich von seiner Einsicht leiten lässt. Hier liegt auch die deutliche Differenz zu Pufendorf.38 Nicht Herrschaft garantiert die Selbstverpflichtung unter dem Gesetz, sondern allein die Selbstbindung des Willens aus Vernunft schafft Freiheit in Form von Gesetzgebung. Der Bezug auf ein Naturrecht des Menschen ist damit nicht mehr notwendig. Garantierte für Grotius nur die Übereinstimmung von positivem und natürlichem Recht, d. h. von äußerer und innerer Verpflichtung, menschliche Handlungsfreiheit, so ist für Burlamaqui ausschließlich die Zivilgesetzgebung Ausdruck menschlicher Handlungsfreiheit und zugleich die Voraussetzung für ein gelingendes soziales Leben. Die Verpflichtung zur Gesetzestreue folgt allein aus der menschlichen Vernunft. Dabei schreibt Burlamaqui dem Menschen neben der Vernunft eine zweite wesentliche Eigenschaft zu, die seine Fähigkeit zur Selbstbindung unterstreicht: den Drang zur Vervollkommnung seiner selbst in der Gemeinschaft mit anderen oder, wie er es 36  Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 37–161, S. 54. 37  „Pour agir donc avec sûreté, & pour ne pas trouver du mécompte, il faut le plus souvent suspendre ses premiers mouvement, examiner les choses de plus près, faire des discernemens, des calculs, des compensations; & tout cela demandoit l’usage de la liberté. La Liberté est donc, pour parler ainsi, une faculté subsidaire, qui supplée à ce qu’il peut y avoir de défectueux dans les autres facultéz, & don’t l’office cesse aussi-tôt qu’elle les a redresses.“ Jean-Jacques Burlamaqui: Principes du Droit Naturel, Geneve & Coppenhagen: Philibert 1762, S. 15. 38  Ebenda, S. 23.

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nennt l’amoure de soi-même: „Gott will, dass jeder nach Selbstvervollkommnung strebt, um das Glück, dessen er entsprechend seiner Natur und seinen Möglichkeiten zu erreichen in der Lage ist, sich zu erarbeiten“.39 Zur Selbstvervollkommnung gelangt der Mensch nur in der Gesellschaft mit anderen unter der Freiheit des selbstgegebenen Gesetzes. Die Selbstbindung des Menschen unter dem Gesetz wird damit gleichsam moralisch und rational verpflichtend. Gott schuf zwar das Naturrecht, aber erst im Staat und durch das positive Recht gelangt der Mensch aus Vernunft zur Selbstbindung und damit zur Freiheit. Grundlage der Gesetzgebung ist die Gesellschaft als Ganzes.40 Ihr Ziel ist das Gemeinwohl. Doch zugleich räumt Burlamaqui ein, dass es keine Herrschaft des Gesetzes ohne Souveränität gibt.41 Das heißt, die Gesellschaft als Ganzes kann sich nicht selbst unter dem Gesetz binden, vielmehr muss sie sich aus Vernunft und Freiheit einer Autorität unterordnen: „Wir sind also durch unsere eigene Vernunft dazu gezwungen, uns dem Befehl einer Autorität zu unterwerfen“.42 Hier schließt sich Burlamaqui wieder Pufendorf an. Es gibt eine innere Verpflichtung aus Vernunft, sich dem Gesetz zu unterwerfen, und es ist der Wille zur Freiheit, der die äußere Unterwerfung unter eine Autorität aus eigenem Antrieb sicherstellt.43 Doch im Gegensatz zu Pufendorf sind sowohl die Untertanen als auch der Souverän an dasselbe positive Recht gebunden, ja Souveränität gibt es erst aufgrund der Rechtstaatlichkeit. Im zweiten Band seiner Naturrechtslehre Principes du Droit politique betont Burlamaqui die Gesetzesgebundenheit des Souveräns und der Regierung und begründet damit die Notwendigkeit einer Verfassung.44 „Die Grundgesetze des Staates schaffen nicht nur den Körper der Nation und bestimmen die Form der Regierung […]; sie festigen auch die Verbindlichkeiten zwischen Volk und Souveränität und setzen die Schranken hoheitlicher 39  „Dieu veut dont que chacun travaille à sa conservation & à sa perfection, pour aquerir tout le bonheur dont il est capable, conformément à sa nature & à son état.“ Ebenda, S. 100. 40  Ebenda, S. 51. 41  Ebenda, S. 51. 42  „Nous sommes alors comme forcés, par notre propre Raison, qui nous presse & ne nous permet pas de nier, qu’un tel Supérier n’ait un véritable Droit de commander, & que nous ne devions nous y soumettre“. Ebenda, S. 59, vgl. auch S. 57. 43  „Nous remarquions ci-devant, que l’on pouvoit distinguer deux fortes d’obligation; l’une interne, qui est l’ouvrage de la seule Raison, & qui est fondée sur ce que nous appercevons de bon ou de mauvais dans la nature meme des choses: l’autre externe, qui est produit par la Volonté de celui que nous reconnoissons pour notre Superieur & notre Maitre.“ Ebenda, S. 61. 44  „La Constitution est la plus parfait qu’on puisse imaginer“. Jean-Jacques Burlamaqui: Principes du Droit politique ou second volume du droit naturel, Geneve: n.n. 1754, 77.



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Befugnisse.“45 Erst unter einer Verfassung wird das Volk zur politischen Einheit und aus der Regierung eine souveräne Gewalt. V. Freiheit und Selbstgesetzgebung. Jean-Jacques Rousseau Rousseau hat in seinen politischen Schriften nicht nur wesentliche Begriffe von Burlamaqui übernommen, sondern auch seine These der Konstitution des politischen Körpers des Volkes durch Recht. Wie bei Burlamaqui wird auch bei ihm der Begriff der Freiheit zum zentralen Terminus seines Werkes. Das Grundproblem, dessen Lösung Rousseau im Gesellschaftsvertrag anzubieten behauptet, lautet: „Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und die Habe jedes Mitglieds mit der ganzen Stärke verteidigt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er war?“46 Erst wenn individuelle und gesellschaftliche Freiheit zusammenkommen, so die vorweggenommene These, sind die Bedingungen des Rechts erfüllt und ist der Staat legitim. Bereits im Diskurs über die Ungleichheit47 hat Rousseau seinen Begriff von Freiheit entwickelt. „Der eigentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier muß also mehr in der Freiheit zu handeln liegen und nicht so sehr im Verstand“, heißt es dort. „Die Natur befiehlt einem jeden Tiere, und das Vieh gehorcht. Der Mensch fühlt denselben Drang, aber er spürt, daß er die Freiheit hat, dem Drang zu folgen oder zu widerstehen.“48 Anders als das Tier muss sich der Mensch selbst schaffen. Er hat „das Vermögen, sich vollkommener zu machen“49. Rousseau übernimmt hier von Burlamaqui die Begriffe der l’amoure de soi-même und der perfectibilité, um den Menschen nicht nur die Fähigkeit zur Selbsterhaltung zuzuschreiben, sondern seine Freiheit zur Selbstfindung und -erschaffung hervorzuheben.50 45  „Les Loix fondamentales de l’Etat, prises dans toute leur étendue, sont nonseleument des Ordonnance par lesquelles le Corps entier de la Nation, détermine qu’elle doit être la forme du Gouvernement, & comment on succedera à la Couronne, mais encore ce sont des Conventions entre le Peuple & celui ou ceux à qui il défére la Souveraineté, qui réglent la maniére don’t on doit gouverneer, & par lesquelles on met des bornes à l’autorité Souveraine.“ Ebenda, S. 45. 46  Gesellschaftsvertrag, S. 280. 47  Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 37–161. 48  Ebenda, S. 70. 49  Ebenda, S. 71. 50  Ebenda, S. 100. Vgl. auch Frederick Neuhouser: Rousseaus’s Theodicy of SelfLove. Evil, Rationality, and the Drive of Recognition, Oxford: University Press 2008.

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Das verändert den Blickwinkel auf die Legitimität politischer Ordnung. Nicht wie man das Recht als Zwang und den Staat als Friedensordnung rechtfertigen, sondern wie man durch sein eigenes Vernunftvermögen die moralische Qualität seiner Handlungen erkennen und sich von ihnen auch in der Gesellschaft leiten lassen kann, ist die bestimmende Frage Rousseaus, die er ­bereits in der Abhandlung über die politische Ökonomie formuliert: „Durch welche unbegreifliche Kunst hat man das Mittel ausfindig gemacht, die Menschen […] mit ihrem Einverständnis zu fesseln? Ihr Einverständnis gegen ihre Weigerung geltend zu machen, und sie zu zwingen, sich selbst zu bestrafen, wenn sie tun, was sie nicht tun wollten? Wie ist es möglich, daß sie gehorchen, und niemand befiehlt; daß sie dienen und keinen Herrn haben? Daß sie wirklich freier sind, da bei einer scheinbaren Unterwerfung jeder nur so viel von seiner Freiheit verliert, als er den anderen damit schaden könnte? Diese Wunderdinge sind das Werk des Gesetzes. Einzig dem Gesetz haben die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit zu verdanken. Dieses heilsame Organ des gemeinsamen Willens ist es, welches die natürliche Gleichheit zwischen den Menschen im Recht wiederherstellt. Diese himmlische Stimme ist es, welche jedem Bürger die Gebote der öffentlichen Vernunft vorschreibt, die ihn lehrt, nach den Grundsätzen seines eigenen Urteils zu handeln und mit sich selbst nicht im Widerspruch zu stehen.“51 Der wesentliche Unterschied zu Burlamaqui besteht darin, dass Rousseau nicht nur das Recht als wesentliche Voraussetzung der Freiheit des Menschen und die Selbstbindung des Willens aus Vernunft deklariert, sondern er die moralische Verpflichtung zur Gesetzestreue nur dann gegeben sieht, wenn es sich um ein selbstgegebenes Recht handelt. Denn, so hatte es schon Burlamaqui formuliert, Freiheit heißt sich selbst einer selbstgegebenen Regel zu unterwerfen. Was Burlamaqui als individuellen Freiheitsbegriff entwickelt hat, weitet Rousseau auf die politische Gemeinschaft aus. Wie der Mensch sich selbst schafft, indem er seinen eigenen Handlungen einen Rahmen setzt, so schafft sich ein Volk als moralische und politische Einheit, indem es sich selbstgegebenen Gesetzen unterwirft. Durch die Analogie, die Rousseau zwischen individueller und kollektiver Freiheit herstellt, gibt es eine moralische Verpflichtung des Volkes und jedes Individuums jeweils nur dann, wenn diese selbst zum Schöpfer der Verpflichtung werden. Denn nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann jeder Einzelne für sein Handeln verantwortlich gemacht werden. Dementsprechend sieht der Gesellschaftsvertrag bei Rousseau aus. Jeder verpflichtet sich gegenüber sich selbst, die einzelnen gegenüber allen und alle gegenüber jedem einzelnen durch das gemeinsam gegebene Gesetz, die Verfassung, die nicht nur die Gemeinschaft als solche begründet, sondern auch die individuellen Rechte ihrer Bürger 51  Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 37–161, S. 234–235.



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schützt.52 Damit entkräftet Rousseau zugleich den Einwand Althusius’, dass man nicht an Verpflichtungen gebunden ist, die man sich selbst auferlegt, denn, so Rousseau, „es ist ein großer Unterschied, ob man sich gegenüber sich selbst verpflichtet oder gegenüber einem Ganzen, von dem man ein Teil ist“53. Nicht mehr das Naturgesetz bewirkt durch seine Verpflichtungskraft, dass die Menschen bereit sind, sich in ihrem Handeln gesetzlichen Regelungen anzupassen, sondern die moralische Verpflichtung erwächst aus der Selbstbindung des Menschen unter dem selbstgegebenen Gesetz. Damit verzichtet Rousseau vollständig auf den Bezug auf das Naturrecht oder den Willen Gottes. Das Recht hat eine aktive moralische Qualität, die ausschließlich aus der Freiheit des Volkes, sich selbst als moralische Einheit zu schaffen, besteht. Rousseaus Gesellschaftsvertrag bezieht sich, das macht er sehr deutlich, nur auf die Konstituierung der Gesellschaft. Er unterscheidet zwar zwischen Zivilgesetzgebung, Strafgesetz und den für die Erhaltung des Rechtszustandes notwendigen Sitten und Gebräuchen, doch betont er ausdrücklich, dass unter diesen verschiedenen Gesetzesformen „einzig die Staatsgesetze“, d. h. die Verfassung, für seinen Gegenstand „von Bedeutung“ sind.54 Wie bei Burlamaqui bildet die Begründung des Verfassungsstaates den Kern seiner politischen Theorie. Neben Burlamaqui dürfte aber für Rousseau noch ein weiterer Zeitgenosse bestimmend gewesen sein: Emer de Vattel, ein Schüler Burlamaquis. „Die Verfassung des Staates“, schreibt dieser in seinem Hauptwerk Das ­Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, „ist entscheidend für seine ­Vervollkommnung und seine Fähigkeit, die Ziele der Gemeinschaft zu er­ reichen.“55 Indem sich ein Volk eine Verfassung gibt, schafft es die Grund­ lagen seiner Selbsterhaltung, seines Gemeinwohls und seiner Vervollkommnung. Während Zivil- und Strafgesetzgebung der Regierung überlassen werden können, muss das politisch vereinte Volk, die Nation, über die Verfassung wachen: „Der Angriff auf die Verfassung, d. h. die Verletzung der Grundgesetze des Staates ist ein schweres Verbrechen gegen die Gemeinschaft.“56 Für Vattel ist es daher notwendig, dass die Nation stets in der Lage sein muss, „die Verfassung aufzustellen, zu schützen, zu verbessern und nach eigenem Belie52  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 267–391, S. 294. 53  Ebenda, S. 282. 54  Ebenda, S. 314. 55  Emer de Vattel: Le dorit des gens ou principes de la loi naturelle. appliqués à la conduit et aux affaires des nations et des souveraines (1758), dt.: Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter, übersetzt von Wilhelm Euler, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1959, S. 41. 56  Ebenda, S. 42.

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ben alles, was die Regierung betrifft, zu regeln, ohne daß irgend jemand sie daran hindern darf. Die Regierung ist nur für die Nation eingesetzt, im Hinblick auf ihre Wohlfahrt und ihr Glück.“57 Deshalb dürfen und müssen ihre Befugnisse so weit gehen, dass die Nation in der Lage ist, selbst die Grundgesetze des Staates zu ändern. „Denn die Staatsverfassung muß dauerhaft sein, und da die Nation sie zuerst errichtet und alsdann die gesetzgebende Gewalt gewissen Personen anvertraut hat, sind die Grundgesetze von dem ihnen erteilten Auftrag ausgenommen.“58 Damit umreißt Vattel, worum es in der politischen Diskussion der Zeit geht: die klare Trennung der Gewalten und eine Deutung der Souveränitätsfrage, die sich an der Verfassung festmacht. Rousseau übernimmt in seinem vier Jahre später publizierten Gesellschaftsvertrag Vattels Unterscheidung von Souveränität und Regierung, die bei Burlamaqui noch nicht getroffen wird. Die Regierung ist nicht Teil der Souveränität, die allein der Nation zukommt. Im Gesellschaftsvertrag verwirft Rousseau daher auch das Repräsentationsprinzip. Wo Bürger Repräsentanten wählen, übertragen sie ihre Souveränitätsrechte und sind nicht mehr autonom: „sobald ein Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei; es ist nicht mehr.“59 Diese Konsequenz ergibt sich ganz plausibel aus der bereits angesprochenen Analogie, die Rousseau zwischen individueller Freiheit und kollektiver Souveränität herstellt. So wenig der Einzelne auf einen freien Willen verzichten kann, so wenig kann ein Volk seinen Willen übertragen, ohne sich als Volk aufzugeben.60 Bemüht Hobbes den Repräsenta­ tionsgedanken, um die Identität von Bürgern und Souverän als eine Fiktion darzustellen und die politische Verpflichtung als Selbstverpflichtung des Souveräns zu deuten, begreift Rousseau das Verhältnis von Bürgern und Souverän als reales Verhältnis und Identität von Herrschenden und Beherrschten. Nur in der vollständigen Wechselseitigkeit von Herrschen und Gehorchen sind die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit aller möglich. „Wenn also das Volk einfach verspricht, zu gehorchen, löst es sich durch diesen Akt selbst auf, verliert seine Eigenschaft als Volk; sobald es einen Herrn gibt, gibt es keinen Souverän mehr, und von da an ist der politische Körper vernichtet.“61 Die Republik ist damit die einzige Staatsform, die der Gemeinwille zulässt. Das bedeutet nicht, dass Rousseau Regierungen ablehnt. 57  Ebenda,

S. 43. S. 44. 59  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 267–391, S. 352. 60  „Die Souveränität kann nicht repräsentiert werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille läßt sich mitnichten vertreten: er ist er selbst, oder aber er ist ein anderer; einen Mittelweg gibt es nicht.“ Gesellschaftsvertrag, S. 350. 58  Ebenda,



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Ganz im Gegenteil. Demokratie, Aristokratie, Monarchie und Mischformen sind für ihn mögliche Varianten für die Gestaltung der Exekutive.62 Doch Grundlage des Handelns der Regierung ist das Gesetz, ja ihre Einberufung beruht schon auf dem Gesetz. Sie besteht demnach aus „Trägern der vollziehenden Gewalt, nicht Herren, sondern Beamten des Volkes“, die „ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllen, ohne das geringste Recht zu haben, über die Bedingungen zu streiten“.63 Wesentlich ist deshalb die klare Trennung zwischen Legislative und Exekutive, die die republikanische von der despotischen Herrschaft unterscheidet. Republik ist demnach nur derjenige Staat, in dem Volkssouveränität und eine klare Gewaltentrennung herrschen.64 61

VI. Rousseau und die Genfer Verfassungsdebatte Mit Hobbes, Pufendorf und Burlamaqui ist der naturrechtliche Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen Rousseau seine Verfassungslehre entwickelt hat. Doch es gibt auch direkte politische Bezüge, ohne die die Schriften Rousseaus nur halb zu verstehen sind. In der Rezeption wurde leider diese Frage bisher viel zu wenig aufgeworfen – vielleicht auch deshalb, weil der Bezugsrahmen allzu offensichtlich ist.65 Bereits seinen zweiten Diskurs widmete Rousseau der Genfer Republik. Wie Heinrich Meier in seiner Edition des zweiten Diskurses herausgearbeitet hat, ist das Anschreiben keine überschwängliche patriotische Empfehlung eines Exilanten, der sein Bürgerrecht wiedererlangen möchte, sondern eine „außerordentlich sorgfältig formuliert[e] und sehr überlegt konzipiert[e]“66 politische Stellungnahme. Bereits die Anredeformel macht dies deutlich. Rousseau wendet sich an den 61  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 267–391, S. 288–289. 62  Ebenda, S. 323. 63  Ebenda, S. 355. 64  Unbestreitbar ist hier natürlich der Bezug zu Montesquieu: Vom Geist der Gesetze I und II, hrsg. u. übers. v. Ernst Forsthoff, Tübingen: Laupp 1951. 65  Gabrielle Silvestrini: Le républicanisme de Rousseau mis en contexte: le cas de Genève, in: Les Etudes Philosophiques 4 / 2007, S. 519–541; Drs.: Vu de Genève: le Parlement anglais, la représentation et la liberté“, in: Valéry Cossy / Béla Kapossy / Richard Wharmore (Hg.): Genève lieu d’Angleterre 1725–1814, Genève: Slatkine 2010, S. 37–61; Drs.: Rousseau e la tradizione repubblicana. Repubblica, democrazia ed elezioni, in: Mauro Lency / Carmelo Calabro (Hg.): Viaggio nella democrazia. Il cammino dell’idea democratica nella storia del pensiero politico, Pisa: Edizioni ETS 2010, S. 69–87. 66  Heinrich Meier, in: Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Orginalausgaben und den Hand-

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Conseil Général, die Vollversammlung der Genfer Bürger, und nicht an den Petit Conseil, die Genfer Regierung, deren Zustimmung er für die Veröffentlichung einzuholen verpflichtet war. In der Widmung an die Republik Genf heißt es: „Ich hätte daher gewünscht, daß niemand im Staat von sich aus sagen könnte, er stehe über dem Gesetz, und daß niemand von außen ein Gesetz auferlegen könnte, das anzuerkennen der Staat genötigt wäre. Denn welches auch immer die Verfassung einer Regierung sein mag, wenn sich ein einziger Mensch findet, der dem Gesetz nicht unterworfen ist, so sind alle anderen notwendigerweise dem Belieben dieses einen ausgeliefert.“67 Das ist eine direkte Anspielung an die Genfer Verfassungsdebatte vor 1738. 1734 war es zu Unruhen zwischen den sogenannten Représentants, Bürgern, welche Beschwerde gegen die Aristokratisierung von Grand Conseil und Petit Conseil führten, und den Négatifs, welche den Forderungen nach mehr politischer Teilhabe und stärker Einbeziehung des Conseil Général kein Gehör geben wollten, gekommen. Erst nach dreijährigem Bürgerzwist konnte durch die Vermittlung von Frankreich, Bern und Zürich ein Kompromiss erzielt werden: die Mediationsregelung von 1738, die die Souveränitätsrechte des Conseils Général stärkte. Und so ergänzt Rousseau im Ausblick seines Schreibens an den Conseil Général: „Je mehr ich über Eure politische und bürgerliche Situation nachdenke, desto weniger kann ich mir vorstellen, daß die Natur der menschlichen Dinge eine bessere zulassen könnte. […] Eure mit dem Degen in der Hand erworbene oder wiedererlangte und mit großer Tapferkeit und Weisheit zwei Jahrhunderte hindurch bewahrte Souveränität ist endlich vollständig und universell anerkannt.“68 Auch im Gesellschaftsvertrag verweist Rousseau direkt auf die Media­ tionsregelung von 1738: „Da ich in einem freien Staat geboren und Mitglied des Souveräns bin, so ist mein Stimmrecht, wie schwach auch der Einfluß meiner Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten sein mag, doch Grund genug, mir die Pflicht aufzuerlegen, mich darüber zu unterrichten. Wie glücklich bin ich doch jedes Mal, wenn ich über die Regierungsformen nachdenke, bei meinen Untersuchungen stets neue Gründe zu finden, diejenige meines Vaterlandes zu lieben!“69 Und nicht zuletzt in den Lettres de la Montagne weist sich Rousseau als Verteidiger der Souveränitätsrechte des Conseil Général und der Exekutivrechte des Petit Conseils aus. „Man wird mir sagen, daß ich […] oft dem Kleinen Rat die Regierung zuschreibe. Ich schriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh (UTB) 1984, S. 8. 67  Ebenda, S. 13. 68  Ebenda, S. 25. 69  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 267–391, S. 270.



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geb es zu, allein, nur dem Kleinen Rat unter dem Vorsitz der Syndiks […]. Denn nach meiner Erklärung hat die Regierung weiter keine Gewalt als die, die ihr das Gesetz gibt“70. Dagegen ist der Conseil Général „von niemandem eingesetzt noch beauftragt […]. Er ist souverän aus eigener Machtvollkommenheit, er ist das lebendige Grundgesetz, durch das alles übrige Leben und Kraft erhält und keine anderen Rechte anerkennt als die seinigen. Der Allgemeine Rat ist kein Organ im Staat, er ist der Staat selbst.“71 Während Burlamaqui mit seinem Hauptwerk die Genfer Verfassung vor der Reform verteidigt, nämlich eine Wahlaristokratie, die durch die Vertretung der Bürger im Großen Rat an die Mehrheiten im Volk gebunden ist, sieht Rousseau im Petit Conseil nur das Exekutivorgan des Conseils Général. Durch den politischen Bezug zur Genfer Verfassungsdebatte wird außerdem deutlich, dass Rousseaus Verteidigung der Souveränität des Volkes sich auf die Souveränitätsrechte des Conseil Général bezieht, der Vollversammlung der Genfer Bürger. Es ist also nicht die antike Form direkter Demokratie, die Rousseau verteidigt, sondern die republikanische Form demokratischer Mitbestimmung des Volkes durch seine Verfassungsorgane. VII. Das politische Vermächtnis Rousseaus Es gibt in der politischen Theorie nur wenige Werke, die dem „Gesellschaftsvertrag“ an theoretischer und politischer Wirkung gleichkämen und das in seiner Rezeptionsgeschichte bis heute so konträr diskutiert worden ist. Grundlage der ausgedehnten Rezeption ist ein Gedanke Rousseaus, den er im Gesellschaftsvertrag immer wieder neu formuliert: den ungezwungenen souveränen Willen des Volkes. Danach ist „ein Volk, wie immer die Dinge stehen mögen, stets Herr seiner Gesetze und berechtigt, sie zu ändern, selbst wenn es die besten wären; denn wer hat das Recht, ein Volk daran zu hindern, sich selbst zu schaden, wenn es ihm beliebt?“72 War für Hobbes der Herrschaftsvertrag die Grundlage des Gesellschaftsvertrages und kam die Auflösung der Souveränität einem Rückfall in den Naturzustand gleich, ist für Rousseau der souveräne Wille des Volkes selbst nicht an eine bestimmte Form des Rechts gebunden, sondern entäußert sich erst in einer Verfassung. Das Volk kann sich mithin jederzeit neue Formen staatlicher Gewalt geben. Es ist Sieyès, der zu Beginn der Französischen Revo70  Jean-Jacques Rousseau: Briefe vom Berge, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 421–506, S. 448. 71  Ebenda, S. 432. 72  Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in: Sozialpolitische und Politische Schriften, München: Winkler Verlag 1981, S. 267–391, S. 313.

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lution diese Aussage Rousseaus aufnimmt und entsprechend der politischen Lage neu interpretiert. Denn die Frage nach der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Verfassung bestimmt sämtliche politische Debatten seit Einberufung der Generalstände 1788.73 Sieyès knüpft in den Debatten direkt an Rousseaus Idee der politischen Nation an. Ebenso wenig wie das zur politischen Nation vereinigte Volk seine Souveränität an eine exekutive Gewalt abtreten könne, sondern ihr lediglich das jederzeit widerrufbare Recht zur zeitweiligen Ausübung derselben zu übertragen vermöge, ebenso wenig kann sie sich durch eine Verfassung unwiderrufliche Beschränkungen in der Ausübung ihres souveränen Willens auferlegen: „Eine Nation darf und kann sich nicht an bestimmte Verfassungsformen binden“, schreibt Sieyès, „denn beim ersten Konflikt zwischen den verschiedenen Teilen dieser Verfassung, was würde da aus einer Nation, die so eingerichtet und geordnet wäre, dass sie nur nach der umstrittenen Verfassung handeln könnte? Beachten wir doch, wie wesentlich es in einer bürgerlichen Ordnung ist, dass die Staatsbürger in einem Zweige der handelnden Gewalt eine Autorität finden, die ihre Streitigkeiten rasch beendet. Ebenso müssen bei einem freien Volke auch die verschiedenen Zweige der handelnden Gewalt die Freiheit besitzen, bei allen unvorhergesehenen Streitigkeiten die Entscheidung der gesetzgebenden Gewalt anzurufen. Wenn aber eure Gesetzgebungskörperschaft selber zerstritten ist, wenn die verschiedenen Teile jener ersten Verfassung nicht miteinander harmonieren, wer ist dann der oberste Richter? Denn einen solchen muss es immer geben, oder die Ordnung weicht der Anarchie“.74 Das Urteil von Sieyès ist damit bereits umrissen: Der politische Wille der Nation muss sich zu jeder Zeit und unabhängig von allen existierenden rechtlichen, sozialen oder politischen Traditionen, Insti73  Vgl. Skadi Krause: Die souveräne Nation. Zur Delegitimation monarchischer Herrschaft in Frankreich 1788–1789, Berlin: Duncker & Humblot 2008. 74  „Une Nation ne doit ne peut s’astreindre à des fermes constitutionnelles, car au premier différend qui s’éleveroit entre les parties de cette constitution, que deviendroit la Nation ainsi disposée à ne pouvoir agir que suivant la constitution disputée? Faisons attention combien il est essentiel, dans l’ordre civil, que les Citoyens trouvent dans une partie du pouvoir actif, une autorité prompte à terminer leurs procès. De même, les diverses branches du pouvoir actif doivent pouvoir invoquer la décision de la législature dans toutes les difficultés qu’elle rencontrent. Mais si votre législature elle-même, si les différentes parties de cette première constitution ne s’accordent pas entre elles, qui sera le juge suprême? Car il en faut toujours un, ou bien l’anarchie succède à l’ordre. Comment imagine-t-on qu’un corps constitué puisse décider de sa constitution? Une ou plusieurs parties intégrantes. […] un corps moral n’est rien séparément. Le pouvoir n’appartient qu’à l’ensemble. Dès qu’une partie réclame, l’ensemble n’est plus; or s’il n’existe pas, comment pourroit-il juger? Ainsi, donc, on doit sentir qu’il n’y auroit plus de constitution dans un pays, au moindre embasses qui surviendroit entre ses parties, si la Nation n’existoit indépendante de toute règle & de toute forme constitutionnelle“. Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers-Etat?, s.l. 1789, S. 80–82.



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tutionen und Verfahren artikulieren und Geltung verschaffen können. „Auf welche Art und Weise eine Nation auch will, allein die Tatsache, dass sie will, ist ausreichend; dazu sind alle Formen gut, und ihr Wille ist immer das höchste Gesetz […]. Scheuen wir uns nicht, es noch einmal zu wiederholen: Eine Nation ist von jeder Form unabhängig; und auf welche Art und Weise sie auch will, die bloße Äußerung ihres Willens genügt, um gleichsam angesichts der Quelle und des obersten Herrn jedes positiven Rechts alles positive Recht außer Kraft zu setzen“.75 Im Gegensatz zu Rousseau ist der politische Wille der Nation bei Sieyès freilich immer ein durch eine repräsentative Körperschaft vermittelter Wille. Die verfassungsgebende Gewalt tritt somit stets in repräsentativer Gestalt auf. Die Nation ist zwar Schiedsrichter bei Unstimmigkeiten der verschiedenen Faktoren der Verfassung, aber für die verfassungsgebende Funktion selbst werden Repräsentativorgane, außerordentliche Stellvertreter mit Spezialmandat bestellt. Da sich eine große Nation nicht jedes Mal, wenn außerordentliche Umstände es möglicherweise erfordern, selbst versammeln kann, muss sie, so Sieyès, die in solchen Fällen notwendigen Vollmachten außerordentlichen Stellvertretern anvertrauen. An die Stelle der Versammlung dieser Nation tritt die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Diese vertritt „die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungs­ formen“76. Für Sieyès ist ein Machtmissbrauch nahezu ausgeschlossen, sind 75  „Quand elle le pourroit, une Nation ne doit pas se mettre dans les entraves d’une forme positive. Ce seroit s’exposer à perdre sa liberté sans retour, car il ne faudroit qu’un moment de succès à la tyrannie, pour dévouer les peuples, sous prétexte de constitution, à une forme […], qu’il ne seroit plus possible d’exprimer leur volonté, & par conséquent de secouer les chaînes du despotisme. On doit concevoir les Nations sur la terre, comme des individus hors du lien social, ou comme l’on dit, dans l’état de nature. L’exercice de leur volonté est libre & indépendant de toutes formes civiles. N’existant que l’ordre naturel, leur volonté, pour sortir tout son effet, n’a besoin que de porter les caractères naturels d’une volonté. De quelque manière qu’une Nation veuille, il suffit qu’elle veuille, toutes les formes sont bonnes, & sa volonté est toujours la loi suprême. Puisque pour imaginer une société légitime, nous avons supposé aux volontés individuelles, purement naturelles, la puissance morale de former l’association, comment refuserions-nous de reconnoître une force semblable dans une volonté commune, également naturelle? Une Nation ne fort jamais de l’état de nature, & au milieu de tant de périls, elle n’a jamais trop de toutes les manières possibles d’exprimer sa volonté. Répétons-le: une Nation est indépendante de toute forme; & de quelque manière qu’elle veuille, il suffit que sa volonté paroisse, pour que tout droit positif cesse devant elle, comme devant la source & le maître suprême de tout droit positif“. Sieyès, Qu’est-ce le Tiers-Etat?, s.l. 1789, 79–80. 76  „Un corps de Représentants extraordinaires supplée à l’Assemblée de cette Nation. Il n’a pas besoin, sans doute, d’être chargé de la plénitude de la volonté nationale, il ne lui faut qu’un pouvoir spécial, & dans des cas tares, mais il remplace la Nation dans son indépendance de toutes formes constitutionnelles“. Sieyès, Qu’est-ce le Tiers-Etat?, s. l. 1789, 83.

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jene Stellvertreter doch nur, ähnlich wie bei Rousseau der Gesetzgeber, für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet. Was Sieyès in seiner Schrift Qu’est-ce que le Tiers-Ètat grundlegend von Rousseau unterscheidet, ist seine Deutung des Volkskörpers als eigenständige Größe unabhängig von der geltenden Verfassung. Rousseau hat jedoch sehr klar formuliert, dass das Volk nicht getrennt von seiner rechtlichen Konstitution betrachtet werden kann. Erst unter einer Verfassung wird das Volk zu einer moralischen Größe und zur politischen Nation. Sieyès hat dies in seinem Preliminaire de la Constitution von 1789, als es darum ging, die Rechtskräftigkeit der Verfassung zu behaupten, selbst eingeräumt. Hier formulierte er, dass die Souveränität ausschließlich „durch die Verfassung begründet“ wird. Als Nation gilt „das Ganze der verbundenen Glieder, die alle vom Gesetz, dem Werk ihres Willens, regiert werden und ihm unterworfen sind“77. Erst durch die Verfassung als Ausdruck des Allgemeinwillens konstituiert sich die Na­ tion als politische Gemeinschaft, die gleichsam die nationale Souveränität legitimiert wie begründet. Dementsprechend bilden auch die Regierenden in Sieyès Augen nunmehr „eine von der Gesellschaft geschaffene politische Körperschaft“78, die durch die Verfassung definiert und begrenzt werden muss. D. h. die Ausübung der Souveränitätsrechte der Nation ist selbst wiederum an die Verfassung gebunden. Indem Sieyès die Nation an die Verfassung bindet, insofern für ihn die Nation erst durch ihre Verfassung als souveräne Macht begründet und begrenzt wird, spricht er ihr den naturrechtlichen Status ab, den er ihr in seinem Traktat Qu’est ce-que le Tiers Etat? noch gegeben hatte. Die Nation steht damit nicht mehr über der Verfassung, vielmehr ist die Verfassung Ausdruck der Formierung der Nation und ihres nationalen Willens. Die Nation kann sich nach Sieyès deshalb auch nicht mehr jederzeit eine neue Verfassung geben, sondern das Recht zur Verfassungsänderung muss durch die Verfassung selbst begründet und geregelt werden. Die Schlussfolgerungen, die Sieyès aus seiner Grundlegung der politischen Nation zog, läuteten die verfassungsrechtliche Revolution von 1789 ein: die Ausarbeitung einer Verfassung, die Abschaffung aller Privilegien, Gleichheit und Freiheit der Bürger durch Recht, die Bindung des Monarchen an die Verfassung sowie die Beschränkung seiner Macht auf rein ­exekutive Funktionen. Das war das eigentliche Vermächtnis Rousseaus. 77  „La Nation est l’ensemble des associés, tous gouvernés, tous soumis à la Loi ouvrage de leurs volontés, tous égaux en droits, & libres dans leur communication & dans leurs engagements respectifs“. Abbé Sieyès: Préliminaire de la Constitution Françoise. Reconnoissance et Exposition raisonnée. Des Droits de l’Homme & du Citoyen, s.l. 1789, 34. 78  „Les Gouvernans, au contraire, froment, sous ce seul rapport, un Corps politique de création sociale“. Ebenda, 34–35.

C’est la faute à Rousseau Die Rousseau-Rezeption und das deutsch-französische Verhältnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Von Gerard Raulet „Je suis tombé par terre, C’est la faute à Voltaire, Le nez dans le ruisseau, C’est la faute [à Rousseau].“

Mit dem letzten Reim dieses Refrains, den er nicht mehr ausatmen kann, fällt und stirbt der kleine Gassenjunge Gavroche, der emblematische Vertreter der rebellierenden „classes dangereuses“1 des Pariser Juni-Aufstands von 1832 – und nicht der 1848er Revolution, wie man häufig liest; aber das ist hier unwichtig. Es geht mir ja nicht um historische Genauigkeit, sondern um die symbolische Bedeutung des unausgesprochenen Namens Rousseau – um den Reim Gosse / Rousseau. Den Vertretern der französischen Rechten, egal welcher Tendenz, war Rousseau immer schon ein Dorn im Auge. Charles Maurras, der Theoretiker der Action Française, und Jacques Maritain, die Gallionsfigur des Reform­ katholizismus, erblickten beide in seinem „Protestan­tismus“ und in seinem „Germanismus“ eine Gefahr. Es sei ja kein Zufall, wenn Rousseau in Deutschland sehr rasch ein positives Echo gefunden habe (was übrigens auch stimmt). Maurras: „Das am wenigsten zivilisierte Europa konnte es nicht verfehlen, in diesem Naturkind, aus dem die Pariser ihr Idol gemacht haben, sich wiederzuerkennen und sich zu lieben. Auf diese Weise wurde von einem Teil seines Publikums und zwar dem schwerfälligsten (dem deutschen) seine Predigt wortwörtlich genommen: […] was einst als Unwissenheit zu korrigierende Unfertigkeit, reparierbare Schwäche galt, das behauptete jetzt die Überlegenheit seiner barbarischen Frische und Neuheit gegenüber der ausgetrockneten Erschöpfung der gebildeten, kultivierten, ans Ziel gelangten Rasse.“2 Maurras 1  Vgl.

Louis Chevalier, Classes laborieuses et classes dangereuses, Paris, Plon 1958. nach Iring Fetscher, „Jean-Jacques Rousseau“, in: Jacques Leenhardt / Robert Picht (Hg.), Esprit – Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München, Piper 1989, S. 166. 2  Zitiert

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ist kein isoliertes Beispiel. Paul Bourget, Maurice Barrès, Léon Daudet, der Nietzsche-Interpret Pierre Lasserre, u. a. m. versuchten nachzuweisen, der Geist des 18. Jahrhunderts sei „die verderbliche Frucht der […] germanischen, angeblich demokratisch-protestantischen Kulturinvasion mit der die französische Kultur aus ihren bewährten nationalen Bahnen gelockt worden sei.“3 Die Verurteilung Rousseaus richtet sich zugleich gegen Deutschland und gegen die französischen Republikaner. Das werden wir im Folgenden nicht vergessen dürfen. Umgekehrt mag es wundernehmen, dass gerade in Deutschland Rous­ seaus politisches Denken in konservativen Kreisen eine positive Rezeption erfuhr. Iring Fetscher, der zu den bedeutendsten Rousseau-Forschern auf deutschem Boden zählt, erinnert daran, dass konservative Denker wie Edgar Julius Jung und Carl Schmitt positiv an Rousseaus Begriff der volonté générale anknüpften, um sie „antiliberal und antidemokratisch gegen Institutionen der modernen Demokratie auszuspielen“4. Gerade im Spiegel der deutsch-französischen Rezeption werden brennende Fragen klar: Während auf französischer Seite Rousseau zum Ahnherrn der „demokratischen Republik“ gemacht wird, kann er auf deutscher Seite für die Erneuerung der „demokratischen“ Grundlage einer Gemeinschaft einstehen, die ggfs., ja im besten Fall durch eine Monarchie verkörpert werden könnte. Man kennt das Denkschema: es stammt von der politischen Romantik, insbesondere von Novalis in „Die Christenheit oder Europa“. „Echte Demokratie, d. h. die Herrschaft der nur metaphysisch zu begreifenden volonté générale, ist das höchste staatliche Ideal: es kann aus dem organischen Weltbild nicht weggedacht werden. In diesem Sinne ist Demokratie vollendeter Konservativismus. Wenn die Volksherrschaft allerdings als mechanisches Mehrheitssystem aufgefasst wird, dann beginnt eine Auslegung der Demokratie, welcher dieses Werk Kampf bis aufs Messer angesagt hat.“5 In diesem Spagat des politischen Denkens ist nur ein Aspekt des „Widerspruchs Rousseau“ erfasst, denn es gibt noch viele weitere Variationen. Rousseau ist ein besonders komplizierter Fall, weil er am Schnittpunkt mehrerer schwerwiegender ideologisch-politischer Problematiken steht. Es geht erstens um innerfranzösische politische Scheidelinien, die zu entwirren und klar zu zeichnen wären, weil sie das republikanische Denken direkt angehen; es stellt sich nicht zuletzt die Frage, inwiefern es eine geheime Verbindung gibt zwischen einem linken und einem rechten Nationalrepubli3  Kurt Wais, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang 1760–1789, Berlin, Junker und Dünnhaupt 1934, S. 1. 4  I. Fetscher, „Jean-Jacques Rousseau“, a. a. O., S. 161. 5  Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (1927), Berlin, Verlag Deutscher Rundschau 21930, S. 225.



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kanismus, wie dies ja dem französischen Republikanismus immer wieder entgegengehalten wird. Eine gewisse Plausibilität erhält dieser Vorwurf, insofern als Rousseau nicht nur von der linken Tradition für sich reklamiert werden kann, sondern weil die direkte Wahl des Präsidenten, wie sie die Verfassung der V. Republik durchgesetzt hat, über linke Gaullisten und Schmitt-Rezipienten wie der Verfassungsrechtler René Capitant in die Verfassung Eingang fand.6 Es geht dabei zweitens und im Hintergrund um die grundlegenden politischen – genauer: verfassungspolitischen Fragen, die ab dem 18. Jahrhundert eine deutliche Scheidelinie in den deutsch-französischen politischen Debatten bilden: ob demokratische Republik, oder republikanische Demokratie. Überdeterminiert wurde die Rousseau-Rezeption drittens durch Identitätsvorstellungen und Kämpfe um Identität, die wir rückblickend als exemplarische Prozesse der imagined communities bewerten müssen, in welche das „Jahrhundert der Nationalitäten“ mündete. Das Rousseau-Bild ist somit auch untrennbar von den „Klischees […], die schon immer zur Kennzeichnung der Deutschen (Einfühlung, Natur­ gefühl, Drang ins Unendliche, Treue zum Alten, deutsches Werden, Arbeitsamkeit und Sachlichkeit, Heiligung der Weiblichkeit, Freiheitsliebe, Schicksalsglaube) und der Franzosen (‚besoin d’émotions et de sensations, ordre et style, horreur de l’infini, curiosité pour les nouveautés et l’ennui, esprit de conquête, ambition, gloire, galanterie, liberté, fatalité‘) herhalten müssen“7. Neben diesen völkerpsycho­logischen Stereotypen spielt für das deutsch-französische Verhältnis – vor allem zwischen 1870 und 1914, und das heißt in der Phase der Etablierung der III. Republik – der Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus eine große Rolle. Die besiegte Nation, Frankreich, stellt einen Zusammenhang her zwischen der Überlegenheit Deutschlands und der „protestan­tischen Ethik“. Auf vielen Gebieten orientieren sich die französischen Republikaner, die zum Teil Protestanten waren, am deutschen Beispiel.8 Dass Rousseau Protestant und im calvi­nistischen Genf aufgewachsen war, ist umgekehrt für die deutsche Rousseau-Rezeption nicht ohne Bedeutung gewesen.9 6  Vgl. René Capitant, Ecrits d’entre-deux-guerres (1928–1940), textes réunis et présentés par Olivier Beaud, Paris Editions Panthéon-Assas 2004. 7  Frank-Rutger Hausmann, „Auch eine nationale Wissenschaft? Die deutsche Romanistik unter dem Nationalsozialismus. 1. Teil“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 22. Jg. 1998, Heft 1 / 2, S. 26. 8  Vgl. hierzu Raulet, Apologie de la citoyenneté, Paris, Editions du Cerf 1999. 9  Faktisch belegt wird dies im Einzelnen von Kurt Nowak, „Der umstrittene Bürger von Genf. Zur Wirkungsgeschichte Rousseaus im deutschen Protestantismus des

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Ich werde im Folgenden diese Stränge, die das politische und ideengeschichtliche Feld umspannen, zusammenhalten müssen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir dabei nicht rein philologisch bzw. philologisch rein verfahren können, sondern dass wir es mit diskursiven Strategien zu tun haben. Das Forschungsprojekt, das wir mit der Universität Chemnitz durchführen10, hat sich aber gerade zum Ziel gesetzt, zu untersuchen, wie die Politikwissenschaft ihre Geschichte „schreibt“ und welche Rolle und Funktion der politischen Ideengeschichte innerhalb der Identitätsbildung der Politikwissen­schaft eingeräumt wird. Es geht nicht darum, Doktrinen und Wissenschaftsdebatten um ihrer selbst willen (in der Tradition der Philosophiegeschichte) zu untersuchen, ebenso wenig handelt es sich darum, im Stil der Ideengeschichte der Abfolge von Thesen und Themen nachzugehen, als ob die Welt der Ideen von einem Eigenleben beseelt sei und Ideen aus sich andere Ideen erzeugten, eine Idee auf die andere wirkte, die Kritik an alten Ideen neue hervorbrächte. Vielmehr ist uns aufgefallen, dass die politische Ideengeschichte jeweils durch einen strategischen Bezug auf bestimmte Autoren sich ihrer Identität versichert bzw. diese ideale Identität konstruiert. Auch in der Ideengeschichte gibt es das Phänomen der imagined communities. Merkwürdigerweise sind es immer dieselben Autoren, die dazu dienen: Machiavelli, Hobbes, Spinoza, Rousseau. Natürlich bezieht man sich auch auf Kant, wie man auch ggfs. Hegel mobilisiert, aber ich neige zu der Ansicht, dass diese anderen unumgänglichen Klassiker eine andere diskursive Funktion erfüllen und dass sie wenigstens nicht in demselben Maße und auf dieselbe Weise strategische Weichen und strategische Ecksteine im Selbstbehauptungsprozess der politischen Ideengeschichte darstellen. Hingegen gehört Rousseau im eminenten Sinn zu den strategischen Eckpunkten des Selbst­ behauptungsdiskurses der politischen Ideengeschichten. In seinem Essay „Der umstrittene Bürger von Genf“ schreibt der zu früh verstorbene Theologe Kurt Nowak, mit dem unsere Forschungsgruppe in den 1990er Jahren im Rahmen von Projekten über die Geschichte des Protestantismus zusammengearbeitet hat, „dass die Arbeit an Rousseau im gleichen Atemzug, in dem sie geschieht, zum Medium eigner Selbstverstän18. Jahrhunderts“, in: Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 132, Heft 4, S. 8 f. Troeltsch und Imanuel Hirsch haben u. a. haben Rousseau in Enzyklopädieartikeln über die Geschichte des Protestantismus berücksichtigt. 10  „Geschichte der politischen Ideengeschichte“. Initiatoren: Alfons Soellner (TU Chemnitz), Gérard Raulet (Groupe de recherche sur la culture de Weimar, Paris, Maison des sciences de l’homme).



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digung wird“.11 Es verhält sich aber nicht so, als würde „jede Zeit sich ihren eigenen Rousseau [erschaffen]“.12 Wie ich es in imagologischen Arbeiten geltend gemacht habe, charakterisieren sich die Stereotype vielmehr durch eine relative „transchrone Invarianz“, d. h. dass sie sich über längere Perioden hinweg aufrechterhalten und je nach dem Zeitpunkt, zu welchem sie mobilisiert werden, eine mehr oder weniger aggressive Wendung nehmen. Insofern gehört auch die Widersprüchlichkeit zu ihrem Wesen: Sie lassen sich sowohl positiv wie negativ verwenden. Dafür war Rousseau gleichsam ein Musterbeispiel: „Was ist Rousseau seinen Zeitgenossen nicht alles gewesen“ (ich zitiere wieder Kurt Nowak): „ein Charakterschurke und ein Heiliger, ein geisteskranker Schwärmer und Weltweiser, ein gefährlicher Atheist und ein neuer Christus, ein plumper Campagnard und ein verdorbenes Produkt des französischen Geistes.“13 In einer Fußnote erinnert Nowak daran, dass Rousseaus Charakter schon im 18. Jahrhundert zu einer relativ reichhaltigen Literatur Anlass gegeben hat. Die Rezeption hat daran anknüpfen können, um das Rousseaubild in die eine oder andere Richtung zu biegen und dabei die vielfältigen Register der Klischees entsprechend zu ziehen. Das war zugleich billig und völlig illegitim. Denn Rousseaus Schriften, in erster Linie die beiden „Discours“, folgten sowieso dem üblichen Pro et contra-Modell. Sie waren als Wettbewerbsleistungen konzipiert worden. Dass sie sofort anders verstanden wurden und zu den heftigsten Reaktionen Anlass gaben, auch auf deutscher Seite, wo sie rasch vernommen wurden, ist als das Zeichen eines tiefgreifenden kulturellen Wandels zu deuten. Mit dem traditionellen spielerischen Für und Wider war es aus, man forderte eine verbindliche ethische und sogar politische Stellung­ nahme. Insofern sind Rousseaus Diskurse vielleicht das sprechendste Beispiel des Übergangs zur modernen Episteme. Das rhetorische Verfahren des Paradoxons gerät an seine Grenzen: Der Schmerz über die Verstümmelung und Selbst­preisgabe des Menschen wird beim Wort genommen und bald deutet man auch den Contrat social als den „verderblichen Irrthum“, der an der Revolution schuld ist. Das Urteil stammt von Eberhard, der zu den radikalsten Theologen der Aufklärung gehörte, den „Neologen“, die Lessing zu radikal fand, in seinen „Briefen über Jean-Jacques Rousseaus moralischen und schrift­ stellerischen Charakter“ (1789). Kennzeichnend ist der Verweis auf den „Charakter“ als Ausrede für die Radikalität. Die Psychologisierung gehört 11  K.

Nowak, a. a. O., S. 7. Darnton, „The Social Life of Rousseau. Anthropology and the Loss of innocence“, in: Harper’s Magazine, July 1985, 104. 13  Nowak, a. a. O., S. 6. Vgl. neuerdings noch den Titel des Heftes VI / 2 (Sommer 2012) der Zeitschrift für deutsche Ideengeschichte: „Idealist. Kanaille. Rousseau“. 12  Robert

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nämlich auch zu den Merkmalen des epistemologischen Umbruchs: Die subjektive Innerlichkeit soll für den Wahrheits­anspruch bürgen. Eine letzte Vorbemerkung sei hier noch erlaubt: Schön wäre es gewesen, einen „linken“ und einen „rechten“ Rousseau, oder zumindest zwischen linken und rechten Rousseau-Lektüren sauber unterscheiden zu können. Wie eingangs angedeutet ist dies nicht der Fall. Vielmehr steht Rousseau aus den genannten Gründen im Brennpunkt der diskursiven Strategien sowohl in den politischen Diskursen wie auch in den Diskursen der politischen Ideengeschichte. I. Romantiker oder Rationalist? Ernst Robert Curtius, der seine Klischees gern in den Mund anderer, vornehmlich französischer Kritiker legt und sie so durch den „Blick von außen“ für bestätigt halten will, schreibt 1930 in Die französische Kultur: „Noch heute ereifern sich in Frankreich manche Kritiker darüber, ob Rousseau, ob die Romantik, ob der Symbolismus gutgeheißen und als französisch angesprochen werden dürfe.“14 Rousseau wird im Buch nur an dieser Stelle genannt. Man darf sich wundern, dass im Gegensatz zu so vielen Literaturgeschichten und Frankreich-Büchern der Zwischenkriegszeit Rousseau in Curtius’ zentralem Kapitel „Die Literatur und das geistige Leben“ keine größere Rolle spielt – gehört er doch zu den „Literaten“, wie Thomas Mann sie nennt, d. h. zu den Schriftstellern, die die Literatur und das geistige Leben in den Dienst des politischen Kampfes gestellt haben. Aber gerade diese diskrete Präsenz hängt mit dem Tenor des Kapitels zusammen: Frankreich ist das Land der Klassik, eine französische Romantik ist so gut wie undenkbar. „Wenn die deutsche Literatur nach dem Metaphysischen neigt, so ist die französische eine Psycho­ logenliteratur.“15 Also eine durch und durch rationalistische Literatur. Auf welche Kritiker Curtius sich hier beruft, müsste erforscht werden. Wie dem auch sei, steht eines fest: Die Hauptströmung der Rousseau-Rezeption sieht in ihm einen Rationalisten, ja einen Cartesianer. Mit dem Namen Descartes ist der Stein des Anstoßes genannt. Ernst Cassirer, der, wie wir noch sehen werden, anderer Meinung war und andere Traditionslinien berücksichtigt – u. a., wie Carl Schmitt, den Einfluss von Malebranche –, musste umso mehr Kraft aufwenden, um diese in Deutschland fest etablierte Interpretation zu bekämpfen, als sie sich auf französische Quellen stützen konnte. So widmete er 1938 dem Essay von Georges Beau­ lavon „La philosophie de J.-J. Rousseau et l’esprit cartésien“, der in der 14  Ernst Robert Curtius, Die französische Kultur (1930), Bern und München, Francke 1975, S. 96. 15  Ebd.



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Descartes-Nummer der Revue de Métaphysique et de Morale 1931 erschienen war, eine lange Besprechung. Aus Rousseaus Äußerung: „Les plus grandes idées de la divinité nous viennent par la raison seule“ [„Zu den höchsten Ideen der Gottheit gelangen wir nur mittels der Vernunft.“] glaubt nämlich Beaulavon schließen zu dürfen, dass „das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikard […] der Ausdruck eines ‚unerbittlichen Rationalismus‘ (d’un rationalisme intran­sigeant)“ ist.16 Durch den Individualismus des Emile, die Sentimentalität der Nouvelle Héloïse und die Religiosität des Vicaire savoyard solle man sich also nicht blenden und irreführen lassen. Der Kunsthistoriker und Frankreichkenner Otto Grautoff zitiert in seinem Buch Die Maske und das Gesicht Frankreichs (1923), auf welches ich weiter unten noch eingehen will, Bergson: „La plus puissante des influences qui se soient exercées sur l’esprit humain depuis Descartes est incontestablement Rousseau.“ [Der mächtigste Einfluss, der seit Descartes auf den menschlichen Geist ausgeübt wurde, stammt zweifelsohne von Rousseau.]17 Das Heimtückische dieses Zitats wird heute erst im Lichte der BergsonRezeption klar. Es war aber für den damaligen gebildeten Leser sofort verständlich: Bergson selbst, den man zunächst für einen authentischen Lebensphilosophen gehalten hatte und der sich schließlich als ein Dualist erwies, zieht eine ununterbrochene Traditionslinie zwischen Descartes und Rousseau, indem er sie im selben Atemzug erwähnt. Wenn der „Abtrünnige“ Bergson es schon so sieht, dann muss also was dran sein. Das Urteil über Rousseau ist wortwörtlich dasselbe wie über Bergson: Man glaubt mit Denkern zu tun zu haben, die es mit dem Irrationalen aufnehmen, aber bei näherem Hinsehen sind es doch nur Dualisten und Antithetiker. Über Bergson schreibt Curtius: „Bergson selbst ist nicht oder nicht in erster Linie der dionysische Bejaher des Alllebens, nicht der Empörer gegen die Fesseln des Verstandes, als der er bei uns meist gesehen wird, sondern der vorsichtige Denker, der versucht, auf der Grundlage der Erfahrung und der Naturwissenschaft eine positive Metaphysik zu entwerfen.“18 Fast buchstäblich identisch schreibt der Philosoph Richard Müller-Freienfels in seinem Beitrag zum Handbuch der Frankreichkunde von Paul Hartig und Wilhelm Schellberg: „Aber auch der große Gegner der französischen Aufklärung, J. J. 16  Ernst Cassirer, „Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, in: Philosophie. Chronique annuelle publiée par l’Institut international de collaboration philosophique, Paris, Hermann, 1938, p. 78. 17  Otto Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs, Stuttgart / Gotha, Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G 1923, S. 5. 18  Curtius, a. a. O., S. 78; zur Bergson-Rezeption s. Raulet, „Ein fruchtbares Mißverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland“, in: Guillaume Plas / Gérard Raulet (Hg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, Nordhausen, Verlag T. Bautz 2011, S. 231–278 (= Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen, Bd. 4, Erster Teilband).

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Rousseau, ist bei aller an sich unfranzösischen Verschwommenheit seines Denkens ein ausgesprochener Antithetiker. Der Dualismus, den er überall erblickt, ist der feindliche Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation. Wie er in sich selbst den schmerzlichen Zwiespalt zwischen der Wirklichkeit und seiner gefühlvollen Traumwelt empfand, so sah er in der Welt den Zwiespalt zwischen der verderbten Kultur und der reinen Natur, einen Gegensatz, den er in leidenschaftlicher Rhetorik weit überspitzte.“19 Was hier mit dem Seitenhieb auf die Rhetorik gemeint ist, muss später noch kommentiert werden. Derjenige, der diese These am entschiedensten vertreten hat, ist Viktor Klemperer: „Der Geist Descartes’ spricht aus dem Contrat social, wie er aus Corneilles Dramen spricht.“20 Klemperer spricht Rousseau jegliche Verwandtschaft mit der Romantik ab: „Nun weiß ich wohl: Keime der Romantik sind französisches Eigentum, mächtige Anregungen sind von Rousseau ausgegangen, und die jüngsten tiefsinnigen Untersuchungen von Schmitt-Dorotić weisen mit einiger Berechtigung auf Malebranche zurück. Aber die eigentliche Romantik ist doch etwas durchaus und vollkommen Germanisches, ist von Deutschland – in erster Linie durch Frau von Staël – nach Frankreich übertragen und in Frankreich entromantisiert worden. So paradox es klingen mag: ich leugne die französische Romantik als Romantik, französische Romantik bedeutet eine contradictio in adiecto. Denn was ist Romantik? Der dauernde Zustand der Entgrenzung, das schmerzhafte Streben ins Grenzenlose, die Sehnsucht, die keine Erfüllung findet.“21 Dieses Urteil, aus dem so viele Anklänge an Ernst Bertrams Nietzsche-Buch von 1918 und an dessen Darstellung des „deutschen Werdens“ tönen, hat Klemperer in seinen zahlreichen literarhistorischen Beiträgen zur französischen Literatur nur vielfach variiert. So heißt es 1930 im Abschnitt zur französischen Klassik der Sammlung Idealistische Literaturgeschichte: „Auch Rousseau ist kein Romantiker, nur eine Wurzel der Romantik ist in seinem Werk zu suchen.“22 Zunächst eine gemäßigte Beurteilung, die den Anteil Rousseaus an „der Romantik“ – d. h. der europäischen, dabei aber entweder der echten, deutschen, oder aber der franzö­sischen – nicht von 19  Richard Müller-Freienfels, „Französische Philosophie und Wissenschaft“, in: Paul Hartig  /  Wilhelm Schellberg, Handbuch der Frankreichkunde, Zweiter Teil, Frankfurt / M., Verlag Moritz Diesterweg 1930, S. 203. 20  Klemperer, Idealistische Literaturgeschichte. Grundsätzliche und angewendete Studien, Bielefeld und Leipzig, Verlag von Velhagen & Klasing 1929 (= Neuphilologische Handbibliothek für die westeuropäischen Kulturen und Sprachen, hrsg. Von Professor Dr. Max Kuttner, Band 6 / 7), S. 42. 21  Viktor Klemperer, „Gang und Wesen französischer Literatur“, in: ders., Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien, München, Max Hueber Verlag 1926, S. 17. 22  Ebd., S. 41.



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vornherein ausschließt. Etwa 20 Zeilen weiter rutscht aber das Argument stark aus und der Tenor von Klemperers These kommt zum Zuge: Gegenüber der auf Gefühl und Individualität (zugleich wohl aber auch Gemeinschaftsgefühl) beruhenden echten Romantik schlage die nur scheinbare französische Romantik in die unerbittlichste Auslieferung des Individuums an die Staatsordnung aus. „Wer aber Rousseau ganz allgemein als den Romantiker schlechthin auffaßt, um seines Gefühlssturmes und seines Individualismus willen, der vergißt, daß auf die neue Héloïse und Emile der Contrat social; d. h. daß auf die Befreiung des Individuums seine Fesselung, seine Auslieferung an die Staatsordnung folgt, und daß das Denken, das fanatisch überkonsequente Denken diese Ordnung diktiert. […] Für den französischen Teil in Rousseaus Wesen und für die französische Entwicklung ist kaum so wichtig, daß in der neuen Héloïse das Individuum herrscht, wie daß im Contrat social das Individuum, nachdem es sich gefunden hat, seine Herrschaft freiwillig an die allgemeine Vernunft, an das staatliche Gemeinwesen wieder abtritt.“23 Klemperer wird nie müde werden, dieses Deutungsschema wiederaufzunehmen. Durch Feststellungen, die seiner These anscheinend widersprechen, lässt er sich nicht im mindesten verunsichern: Wenn bei Rousseau das Gefühl ab und zu die Oberhand erhält, solle man sich erinnern, dass in Frankreich die Vernunft leidenschaftliche Formen annehmen kann: „daß die Descartische Vernunft in ihrem ständigen Kampf mit den Gefühlen und Leidenschaften selber zum höchsten Gefühl und zur höchsten Leidenschaft wird. […] Der Deutsche sieht das Denken im Gegensatz zum Fühlen, er nennt es kalt und undichterisch; dem Franzosen gerät das Denken immer wieder durch die Erhitzung des Kampfes in Gefühlsglut und wird selber zum Gefühl.“24 Die Stichhaltigkeit dieses Arguments kann daran gemessen werden, dass es sich umstandslos umkehren lässt: Wo in der französischen Kultur das Gefühl die Beschränkungen zu sprengen scheint, solle man sich wiederum nicht verirren lassen, denn am Ende behauptet sich dann doch wieder der ewige französische Geist. „Gewiß, auch die französische Romantik entgrenzt, im Literarischen sogar sichtbarer als die deutsche, weil sie mit deutlicheren, körperhafteren ästhetischen Hemmungen zu ringen hat. Die französische Romantik bekämpft den klassischen Regelzwang, sie will freiere Bewegung, bunteres Leben, stärkere Betonung individueller Eigenart, sie betont auch den Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand und kämpft für das Gefühl. Aber wir haben gesehen, wie gefühlsheiß, wie fanatisch die französische Vernunft ist – und wir müssen immer wieder erkennen, wie vernünftig, wie kartesianisch klar das französische Gefühl ist. Die französische Romantik zerbricht die klassische Form und 23  Ebd., 24  Ebd.,

S. 41 u. 43. S. 44.

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schafft sich selber kunstvolle Form, sie individualisiert und arbeitet doch den Menschen an sich heraus – von Corneille bis Hugo ist es nah, von Racine über Marivaux zu Musset nicht sonderlich weit –, sie ist schwärmerisch christlich, und doch schlägt die alte Staatsreligion wieder durch. Und überall ist Grenze, Ziel und Tat, und überall somit bei allem romantischen Äußeren im Innersten Nichtromantik.“25 „Fanatisch“: das muss noch in einem weiteren Schritt dieses Vortrags aufgegriffen und kommentiert werden. Denn Klemperer hat das Adjektiv an anderer, exponierter Stelle, nämlich in der Schlusszusammenfassung seiner Einleitung zum Band über die romanischen Literaturen des großen Handbuchs der Literaturwissenschaft von Oskar Walzel wieder aufgenommen: „Rousseau löste die Fesseln des Instinkts, des Gefühls, er befreite den unberechenbaren, den unsozialen Teil des Menschen, das Individuum Mensch. Insofern schuf doch erst er […] die moderne Romantik, und insofern war die Romantik von Anbeginn etwas dem französischen Wesen so Widerstrebendes wie der Protestantismus. Aber im Contrat social tat Rousseau geradezu fanatische Buße für die individualistischen Sünden seiner Nouvelle Héloïse; hier lieferte er das von Montesquieu so leidenschaftlich geschonte Individuum an Händen und Füßen gefesselt dem Staat aus.“26 Für die scheinbaren Widersprüche und die bequeme Umkehrbarkeit seines Modells hat Klemperer eine sehr schöne dialektische Erklärung erfunden, die er zuerst in Romanische Sonderart erörtert und dann in allen seinen Schriften, u. a. in dem von ihm betreuten Band von Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft angewendet hat: den „Dreitakt von Satz, Gegensatz und Zusammenfindung“.27 Diesem Schema zufolge sind in den verschiedenen Epochen des französischen Geisteslebens und der französischen Literaturgeschichte immer dieselben zwei Grundkräfte und die ihnen entsprechenden Ausdrucksformen am Werk: einerseits Gefühl und Ausdruck – die Lyrik –, andererseits Denken und Beobachtung – die Prosa. Immer wieder geraten sie in Konflikt, bald sind jene Satz, diese Gegensatz, bald verhält es sich umgekehrt, aber immer führt deren Konflikt – in zunehmend gesteigerter und beschleunigter Form in der Moderne – zu einer Synthese, bei der das französische Wesen sich wieder behauptet. Die erste moderne Synthese habe zur Zeit Ludwigs XIV. stattgefunden – so dass das Klassische in der französischen Kultur für Synthese und Versöhnung bürge. Im 18. Jahrhundert habe sich diese „Dialektik“ durch das Spiel und Gegenspiel der rationalistischen Aufklärung und des Rokoko, des Rationalismus und des Spiels wieder25  Klemperer,

Romanische Sonderart, a. a. O., S. 18. Klemperer, „Einleitung“, in: ders. / Helmut Hatzfeld / Fritz Neubert, Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, Wildpark-Potsdam, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion m.b.H. 1928, S. 30. 27  Vgl. Klemperer, Romanische Sonderart, a. a. O., S. 419 f. 26  Viktor



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holt. Bevor die Romantik – genauer die Rousseausche „Präromantik“ die Dämme durchbrach – stellte das Rokoko ein Moment des vorläufigen Gleichgewichts dar.28 Im Endeffekt muss aber immer die Rückkehr in die Bahnen der Ordnung den Sieg davontragen. Ist doch die Ordnung das Schlüsselwort des französischen Geistes in seiner klassischen Ausprägung, und es ist Descartes, der als erster den doppelten Gestus der Auflösung und der „Zusammenfindung“ begründet hat: „Die Ordnung ist das Merkmal der klassischen Zeit. Einordnung in das absolute Staatsregiment, in die kirchliche Norm, in die Regeln Boileaus, in die straffste literarische Form. Die Descartesche Vernunft hat diese Welt der Ordnung und der Fesseln aufgebaut – die Descartesche Vernunft, zur vollen Erkenntnis ihrer Selbstherrlichkeit gelangt, hat diese Fesseln zerrissen. Auf das Jahrhundert der Ordnung folgt das Jahrhundert der Auflösung. […] uns aber gebührt es, auch diese Epoche als eine im Tiefsten wiederum Cartesianische, als ein siècle français anzusprechen.“29 Alles in allem müsse man also auf eine ununterbrochene Dominanz des klassischen Geistes in der französischen Literatur schließen, wie Klemperer es 1925 in „Die moderne französische Literatur und die deutsche Schule“ behauptet. Gleichsam als Gegenbeweis kann an dieser Stelle noch die Habilitationsschrift von Kurt Wais, Privatdozent der romanischen Philologie und vergleichenden Literaturwissenschaft in Tübingen, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang (1934), angeführt werden, die ich dem Beitrag des Leipziger Romanisten Fritz Neubert zur Walzel-Klempererschen Literaturgeschichte vorziehe, weil dieser, wie differenzierter auch immer, das Deutungsschema und die Kategorien von Klemperer anwendet. Wais’ Habilitationsschrift verfolgt hingegen das Vorhaben, die Spuren einer dem deutschen Denken verwandten literarischen Strömung auf französischem Boden ausfindig zu machen. Die Verwendung der paradoxen Bezeichnung „französischer Sturm und Drang“ begründet Wais wie folgt: „Die Bezeichnung Sturm und Drang, statt der an sich genaueren des Irrationalismus, wurde beibehalten, um, abgesehen von ihrer tatsächlichen Brauchbarkeit, die Beziehung zur deutschen Literatur zu vergegenwärtigen.“30 Dieses Unternehmen, das sich zum Ziel setzt, „die Literaturgeschichte des Rückschlags gegen die Aufklärung“ als „ein Stück des unbekannten Frankreich“31 zu rehabilitieren und das überdies häufig das Beiwort „völkisch“ verwendet, mündet in das recht kontraproduktive Ergebnis, dass die „antiphilosophische 28  Viktor Klemperer, „Einleitung“, in: Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, a. a. O., S. 29. 29  Ebd., S. 28. 30  Kurt Wais, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang, op. Cit., S. 3. 31  Ebd., S. 6.

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Gruppe“ aus einer Vielzahl zweitrangiger Autoren besteht, während Rousseau neben Fontenelle, Montesquieu und Voltaire zur dominanten Parti des Philosophes gezählt wird, wenn auch mit folgender Begründung, die stark an Klemperers Argumente erinnert: „Mit der nüchternen Aufklärungsdichtung im engeren Sinn hat [der] Kreis um Rousseau, Diderot, Mercier, Rétif, Beaumarchais ebensowenig mehr zu tun wie seine zahlreichen deutschen Freunde. Und doch, im weiteren Sinn gehören sie ihm allesamt noch an. Schon durch ihre gemeinsamen sittlich-sozialen Reformpläne, in denen die revolutionäre Aufklärungsidee nicht etwa überwunden, sondern nur positivistischer, wirklichkeitsnäher fundiert wurde, sind auch sie noch ‚Philosophen‘, wie man damals sagte. Sturm und Drang und Aufklärungsideen sind also noch nicht unbedingte Gegensätze: es gibt einen Sturm und Drang der Philosophen, dessen charakteristische Tendenz das polemische Zurück zur Natur! ausdrückt.“32 Eine ebenfalls eigenartige Interpretationsstrategie entwickelt der Germanist Max Kommerell, um Rousseau trotz der Breite seiner Rezeption in Deutschland jede Verwandtschaft mit dem deutschen Geist abzusprechen. Zum Wintersemester 1921 / 22 ging Kommerell nach Marburg, wo er durch den Historiker Friedrich Wolters, einen der ältesten Vertrauten Georges, in frühchristliche Kultur, Jean Paul und Rousseau eingewiesen wurde. Im Hause von Wolters lernte er Stefan George kennen, der ihm zum „Führer“ und „Vorbild“ wurde. Dies mag der Grund sein für die elitäre Verachtung der Demokratie, der westlichen Zivilisation und des rationalen Denkens, die in der Dissertation über Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau (1924) bereits spürbar ist und um 1928 in dem Werk Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin ihren Höhepunkt erreichen wird.33 Der Grundgedanke, auf dem Kommerells Dissertation beruht, ist, dass Rousseau „in die Reihe derer [gehört], die mehr Beweger als Schöpfer sind“34 – d. h. im Klartext, dass er nicht als selbständiger Theoretiker oder Dichter wichtig ist, sondern dass er „ins Heldenhafte gesteigert, weit über seine Natur erhoben wurde durch das Bild von ihm, das ein Heinse, ein Hölderlin, ein Jean Paul in sich trugen“.35 Die Studie untersucht dann den Einfluss Rousseaus auf „einzelne führende Geister des XVIII. Jahrhunderts in Deutschland“ – so der Titel des 2. Kapitels. 32  Ebd.,

S. 3. Raulet, „Benjamins Historismuskritik“, in Uwe Steiner (dir.): Walter Benjamin, Bern, Peter Lang 1992 (S. 103–122), wiederaufgenommen in: Raulet, Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin, Münster, Westfä­ lisches Dampfboot 2004. 34  Max Kommerell, Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau: nach den Haupt-Romanen dargestellt, Marburg: Elwert 1924, S. 35. 35  Ebd., S. 37. 33  Vgl.



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Zwar befasse sich Wieland im Agathon mit dem Gesellschaftsvertrag und mit der These des Naturzustands, auch Wielands Mutmaßungen über den Ursprung der Sprache berühren sich mit den Rousseauschen und er sei überdies ein enthusiastischer Bewunderer der Nouvelle Heloïse gewesen. Aber alles in allem erscheint der Abschnitt über Wieland als ein Vorspann, dessen Funktion darin besteht, diese positive Rezeption Rousseaus in Grenzen zu bannen: Wieland wird als „der eigentlichste Vertreter des leichten Rokokogeistes im deutschen Schrifttum“ und als „ein liebenswürdiger Vermittler“ charakterisiert.36 Sobald man das Rokoko überwindet – eine Kategorie, die eine ähnliche Rolle wie bei Klemperer spielt und deren Funktion in der romanistischen Literaturgeschichtsschreibung jener Jahrzehnte näher zu untersuchen wäre –, kann von einem tiefgreifenden Einfluss Rousseaus kaum noch gesprochen werden: „Gerade das, wodurch Rousseau Jean Paul so begeisterte und was Hamanns immer und immer wieder betonte Forderung ist: Die Totalität des Menschen, die Einheit von Herz und Kopf, erkennt Hamann dem französischen Schriftsteller ab“.37 „Herder, der Führer und Erwecker der Stürmer und Dränger und der Hauptanreger Goethes auf deutschen Wegen, ist von Rousseau weit weniger berührt worden als alle, die die von ihm gegebenen Anstöße fortpflanzten.“38 Von irgendeinem Einfluss auf Goethe zu sprechen, wäre fast eine Verleumdung: „Wohl mag ein geringerer Geist auch den größeren beeinflussen, aber die besondere Natur gerade des Rousseauschen Einflusses verbietet, ihn im eigentlichen Sinne bei Goethe anzunehmen.“ Denn die „Dämme“ der deutschen Bildungswelt überstürmte Goethe „nicht aus Rousseauismus“, sondern durch die „titanischen Kräfte seines Inneren“ und „aus der Fülle seines Wesens, die lebendiger als das Umgebende war und in ihm nicht mehr befaßt bleiben konnte“.39 Den Werther mit der Nouvelle Héloïse vergleichen zu wollen, würde verkennen, dass „im ‚Werther‘ […] keine Zeile [ist], die nicht aus innerstem Leben, aus Liebe-erfülltem Herzen geschrieben ist“, während Rousseau das romantisch schildert, „was nie erlebt zu haben, nie erleben zu können, er ewig betrauern musste“.40 Ebenso erweist sich der Einfluss Rousseaus auf Schiller, „näher geprüft“, „als nichtig“, denn – und hier scheint das politisch-ideologische Motiv durch – „schon ehe die Revolution die zerstörerische Tendenz der Rousseauschen Begriffe enthüllt hätte, hatte sich [Schillers] Freiheitsgedanke vergeistigt“41, d. h. er hatte den Sturm und 36  Ebd., 37  Ebd., 38  Ebd., 39  Ebd., 40  Ebd., 41  Ebd.,

S. 38. S. 43. S. 42. S. 57. S. 58. S. 60 und 61.

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Drang und die antityrannische Losung seiner ersten Dramen bereits im Sinne der Klassik überwunden. Nur Jean Paul, dem die Dissertation die folgenden drei Kapitel widmet, scheint allerdings eine wirkliche Ausnahme darzustellen: „Wir sehen Jean Paul während der Jugend vor allem Rous­ seaus Bild fassen als eine Verkörperung und ein Vorbild seines eigenen Schicksals […]. Rousseau ist ihm der große und gute Mensch, ein Genie des Geistes nicht nur sondern auch des Herzens. Ferner war er für ihn der Verfechter der Freiheitsidee in Dingen des Glaubens und der Sitte, der für das kühne Hinwegschreiten über die Schranken des Standes und Herkommens einen Kranz verdiente“.42 Bei genauerem Hinsehen aber – und wiederum kommt das unterschwellige politische Argument zum Zuge – gelte diese Wirkung Rousseaus auf Jean Pauls Geistesrichtung „weniger im staatlichen als im gesellschaftlichen Sinne“.43 Außerdem zeigt sich, wie beim unglücklichen Vergleich mit Goethe, dass Rousseau alles andere war als ein souveränes Genie: „Wenn wir Rousseaus Gedankengehalt durchweg vom Widerstand, oder von der triebhaft nüchternen Gesetzlichkeit der Naturabläufe bestimmt sehen, wenn er sich des menschlichen Vorrechts: Natur zu gestalten, begibt, ja sich fast unter die Menschenstufe herabbeugt, erkennen wir bei Jean Paul eine Ueberlegenheit innerer Bildekraft über jeden Stoff, sodass dieser sich fast auflöst; eine Vergeistigung alles Geschauten, eine Einheit von Ich und All bis zur traumhaften Durchsichtigkeit alles Wirklichen“. Diese Fähigkeit zur Beherrschung und Verschmelzung fehle Rousseau ganz, „und er selbst ist in seiner inneren Zerrissenheit das erste Opfer dieses Missverhältnisses. Denn an das Göttliche glauben die allein, die es selber sind (Hölderlin)“.44 Nur durch diese Zerrissenheit seines Wesens habe Rousseau gewirkt. Die starke Psychologisierung des „Widerspruchs Rousseau“ trägt hier wie in den meisten anderen Studien jener Zeit dazu, seine geistige und vor allem theoretische Botschaft in den Hintergrund zu drängen, den Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl hervorzuheben, die einander fremd bleiben, und zugleich das Fremde, d. h. das Französische der politischen Theorie (auf die man überdies selten detailliert eingeht) zu betonen. Das Fazit von Kommerells Untersuchung bestätigt schlussendlich den Ausgangsgedanken: Rousseau „trägt den Fluch dessen an sich, der eine Wende nicht selbst bringen kann, wohl aber sie heraufführt und vorbereitet“.45 Eduard Wechßlers Rousseau-Rezeption erscheint als ein Sonderfall – als ein Sonderfall angesichts der allgemeinen Aburteilung des „französischen Rationalismus“ und in Wechßlers Frankreichbuch Esprit und Geist selbst, in 42  Ebd.,

S. 177.

44  Ebd.,

S. 102 und 103. S. 101.

43  Ebd.

45  Ebd.,



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dem er Rousseau häufig vertraulich „Jean-Jacques“ nennt46. Er wird bald als Beispiel für französisches, bald für deutsches „Wesen“ angeführt. Französisch sei er z. B., wenn er die Erziehung über die Natürlichkeit stelle und sage: „On façonne les plantes par la culture, et les hommes par l’éducation.“47 Gleichzeitig habe Rousseau z. B. dem deutschen Pietismus nahe gestanden.48 Mit Rousseau, Chateaubriand und Lamartine sei der „große Rückschlag“ gegen den Rationalismus des 17. Jahrhunderts geschehen.49 Allerdings sei Frankreich „die Heimat philosophischer Lehrer und Lehrgebäude, die den Menschen vornehmlich als Leib, und dessen Sinne als dessen wichtigste Werkzeuge auffaßten“.50 Deshalb seien Begriffe wie „sentiment“ und „sensation“, wie Wechßler sogar bei Rousseau festzustellen meint, fast austauschbare Begriffe. Als Kritiker des Rationalismus, der die „überwundene Ratio“51 entlarvt habe, stehe Rousseau in der Tradition von Meister Eckeharts „Minnefünklein in der Seele“, diesem „Licht“, durch das „die Seele mit der Gottheit eines und einig“ werde.52 So habe Rousseau „la lumière intérieure“ und „le sentiment intérieur“ gegen „raison“ und „intelligence“ gesetzt.53 An anderer Stelle, und zwar wenige Seiten weiter, heißt es aber unter Berufung auf Karl Hillebrand hingegen, dass „drüben“ die Entwicklung der Phantasie „im heranwachsenden Kind für noch gefährlicher gehalten werde als die des selbständigen Urteils“. Als Beispiele dienen Montaigne und Rousseau, die solche „imagination“ bei sich selbst „getadelt“ hätten (S. 328). Im Anschluss an Karl Hillebrand stellt Wechßler zwei „Haltungen“ der Franzosen fest, nämlich die „rhetorisch-pathetische“, der er in chronologischer Reihenfolge von dem Römer Seneca ausgehend, Corneille, Bossuet, Rousseau, Chateaubriand und Victor Hugo zuschreibt, und die „witzig-verspottende“, zu der er, ausgehend von den Griechen, u. a. Lukian, Rabelais, Montaigne, Molière, 46  Ich stütze mich im Folgenden auf die Dissertation von Susanne Dalstein-Paff: Eduard Wechßler (1869–1949), Romanist: Im Dienste der deutschen Nation / Eduard Wechssler (1869–1949), Romaniste: Au service de la nation allemande, doctorat en cotutelle sous la direction de Michel Grunewald et Hans-Manfred Bock, Université Paul-Verlaine – Metz, Universität Kassel 2006. 47  Eduard Wechßler, Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen, Bielefeld u. Leipzig, Velhagen & Klasing 1927, S. 61. 48  Ebd., S. 63. 49  Wechßler, „Über die Beziehung zwischen Weltanschauung und Kunstschaffen im Hinblick auf Molière und Victor Hugo“, Vortrag gehalten in der allgemeinen Sitzung der 51. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Posen am 5. Oktober 1911. Marburg 1911, S. 4. 50  Wechßler, Esprit und Geist, a. a. O., S. 274. 51  Ebd., S. 321. 52  Ebd., S.  316 f. 53  Ebd., S. 322.

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La Bruyère, Montesquieu, Voltaire, Béranger und Anatole France zählt.54 Die Franzosen seien die Erben der „Römer und späten Griechen“ bzw. der „hellenistischen Zeit“, der „deutsche Geist“ dagegen sei der Erbe des „echten“, „althellenischen“ Griechentums bzw. dem dionysischen Geist „tief innerlich verwandt“.55 Diese imagologischen Projektionen sind um so erstaunlicher, als nach dem Philosophen Hans Leisegang (1890–1951), der insbesondere für seine Arbeiten zur hellenistischen Philosophie und zur Gnosis bekannt wurde und dessen „Denkformen“ Wechßler stark beeinflussten56, dieser Rousseaus Werke sehr eingehend studiert hatte. In seinem Beitrag zur Wechßler-Festschrift von 1929 erzählt er von „einer Sitzung des von Professor Wechßler geleiteten romanischen Seminars der Universität Berlin“, „in der wir gemeinsam mit seinem Schülerkreise die Denkform Rousseaus aus der Profession de foi du vicaire savoyard herausarbeiteten“57. Die Stereotype sind die Kehrseite der vermeintlichen „verstehenden“ Philologie, zu der sich Wechßler wie die Mehrzahl der führenden Geisteswissenschaftler jener Generation bekannte. Im Vorwort zu den „Denkformen“ von 1928 schreibt Leisegang, das Buch sei „ganz dem Verstehen und dem Problem der Möglichkeit des Verstehens fremden Geistes überhaupt gewidmet“. 1996 spricht Michael Nerlich unter der Überschrift „Wechßler, oder Romanistik mit Pickelhaube“ von Wechßler als dem „eindrucksvollste[n] Beispiel“ für die „schizophrene Situation […], in der sich die Romanisten schon immer als Untertanen eines Frankreich- und republikfeindlichen Imperiums und Vertreter eines Faches befanden, das systematisch das moderne Frankreich negierte, gleichzeitig aber junge Menschen zu Französischlehrern ausbilden sollte“58 – das umreißt genau den Komplex von „Einfühlung“ und Vorurteil, der diese Generation von Romanisten charakterisiert. Insofern ist Wechßlers Urteil keineswegs isoliert. Bernhard Groethuysen, der Verfasser der Origines de l’esprit bourgeois en France (Paris 1927; deutsch: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in 54  Wechßler,

„Französische Geistesart und ihre Formen“, a. a. O., Sp. 1254 f. vgl. auch seine Schrift: „Sind die Franzosen die echten Erben althellenischen Geistes?“ 56  Dies wird von Pierre Bertaux bestätigt: „Je vais aussi parcourir les ‚Denkformen‘ de Leisegang avant d’aller voir Wechssler qui en est begeistert, ja begeistert“ (Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927–1933, Paris, Publications de l’Institut d’allemand d’Asnières 2001, S. 326. 57  Hans Leisegang: „Etat de nature“, in: Festschrift für Eduard Wechßler zum 19. Oktober 1929, Jena und Leipzig 1929, S. 92–110 – hier S. 92, Fußnote 1. 58  Michael Nerlich: „Romanistik: Von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Konsolidierung der Frankreichforschung“, in: Romanistische Zeitschrift für Literatur­geschichte, 20. Jg. 1996, Heft 1 / 2, S. 418. 55  Ebd.;



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Frankreich, Halle 1927), den man kurzerhand als einen linken DiltheySchüler bezeichnen kann, hat den Widerspruch pointiert zusammengefasst: „Wie soll man erreichen, daß das menschliche Zusammenleben erhalten bleibt und die Glieder der Gemeinschaft trotzdem ihre Freiheit bewahren? Das ist nur möglich, wenn der Wille des Menschen durch einen unpersönlichen Willen ersetzt wird: durch das Gesetz.“59 Diese republikanische Grundthese war damals gar nicht so selbstverständlich. Der Diltheyischen einfühlenden Hermeneutik, die sie begründet (und die Groethuysen in seiner Studie durch einen durchgehenden inneren Monolog inszeniert, der Rousseau selbst zur Sprache kommen lässt), ist gutzuschreiben, dass hier mit den kursierenden widersprüchlichen Urteilen sowohl über Rousseaus Lehre als auch über seine Persönlichkeit abzurechnen versucht wird. Der etwas pathetische Titel des fünften Kapitels: „Rousseau. Ein Fremder unter den Menschen“ kennzeichnet genau diesen Versuch, der mit dem keineswegs bloß rhetorischen Satz anhebt: „Der Verstand, der Geist des Jahrhunderts der Aufklärung, wird in der guten Gesellschaft immer höher eingeschätzt, er wird zum Wertmaßstab bei der Beurteilung des Menschen. Rousseau widersetzt sich grundsätzlich dieser Auffassung seiner Zeit, zieht sich in sich selbst zurück und findet so zu einer anderen Auffassung vom Menschen, zu einer anderen Liebe zu den Menschen, die niemand ausschließt.“60 Dieser Satz, der das Kapitel eröffnet, verbindet die individuelle und die kollektive Dimension; er setzt somit entschieden beim Grundwiderspruch der Rousseau-Rezeption an. Groethuysen verspricht eine Entschlüsselung des Rätsels: „So wird auch verständlich, wie Rousseau zugleich die Romantiker inspirieren und vom Volk der Revolution in den Himmel gehoben werden konnte, das ihm Denkmäler errichtete.“61 Der Ertrag ist allerdings enttäuschend: „Einerseits der natürliche Mensch, der Mensch, wie ihn die Natur geschaffen hat, der nur für sich selbst lebt und auf die Stimme seiner Seele hört, andererseits der Mensch als Bürger, dessen Ich im großen Ich der Gemeinschaft aufgeht und dessen Fühlen, Denken und Handeln, dessen ganze Existenz um das Leben des Volkes als Mittelpunkt kreist.“62 Man kann nicht eigentlich sagen, dass Groethuysens „verstehende Methode“ den Widerspruch Rousseau auflöst. Als charakteristisch für diese Art der Ideengeschichtsschreibung ist insbesondere folgende Stelle zu zitieren: „Diese beiden Lebensformen nehmen in Rousseaus Vorstellungsvermögen Gestalt an. Entweder zieht sich die Seele 59  Bernhard Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, Darmstadt und Neuwied, Luchterhand 1971, S. 94. 60  Ebd., S. 82. 61  Ebd., S. 100 (Hervorhebung von mir, G. R.). 62  Ebd., S. 97.

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in sich selbst zurück und lebt ihr eigenes Leben in der Natur, oder sie geht auf im Leben eines Volkes, gibt sich völlig dem geistig-sittlichen Wesen hin, das die Gemeinschaft bildet. Beide Lösungen des inneren Konflikts, der ihn beherrscht, sind aus demselben Geist der Opposition entstanden.“63 Groethuysens „verstehende Psychologie“ knüpft hier an die psychologisierende Darstellung des Rousseau­schen „Dualismus“ von Gefühl und Verstand an. Auch für Groethuysen ist das Individuum Rousseau ein Zerrissener: „angezogen von der geistigen und literarischen Tradition“ des französischen Geisteslebens und zugleich „abgestoßen vom gesellschaftlichen und politischen Leben der Franzosen“.64 Aber es ist trotzdem Groethuysens Verdienst, den Umgang mit Rousseau in eine Auseinandersetzung mit dem Grund­ widerspruch seines Ansatzes konvertiert zu haben und sogar versucht zu haben, diesen in die allgemeine geistige Atmosphäre des 18. Jahrhunderts einzuschreiben. Denn es war, wie er es betont, das Jahrhundert als Ganzes, das Vernunft und Leidenschaft gerade nicht mehr als unversöhnliche Prinzipien betrachtete: Es strebte weniger danach, das „Entweder-oder“ zum Stillstand zu bringen als vielmehr in der Seele selbst die eigentliche Quelle auch der geistigen Kräfte zu entdecken. Politisch angewandt: Der Mensch trägt seinen Wert in sich selbst, die Gesellschaft gibt ihm nur die Werte, die er als Bürger hat. Wie wir noch sehen werden, ist diese Interpretation mit derjenigen von Cassirer eng verwandt. Und wenn dies wenigstens der Ertrag der „Einfühlung“ ist, dann darf man ihn nicht ohne weiteres vernachlässigen. Denn hier war bei Groethuysen, im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Autoren der Zwischenkriegszeit, die sich auf dieselbe Methode beriefen, der Widerspruch Rousseau weitgehend unabhängig von den deutsch-französischen Klischees umrissen. II. Protest gegen die Tyrannei oder Feldzug gegen die Demokratie? Die Rousseau-Rezeption lässt sich freilich nicht auf die deutsch-franzö­ sische Gegensätzlich­keit reduzieren. Sie entspricht auch, wie eingangs betont, inneren politischen Scheidelinien. Auf französischer Seite findet man bei Taine ein ebenso negatives Urteil über die politische Philosophie Rousseaus. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass Taine Positionen vertritt, die mit der deutschen Historischen Schule eng verwandt sind: Er kritisiert die Künstlichkeit der französischen politischen Konstruktionen und die Exzesse eines zum Äußersten getriebenen abstrakten Rationalismus, den er in Robespierre verkörpert sieht und der im krassen Gegensatz steht zum lang63  Ebd., 64  Ebd.,

S. 99. S. 102.



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samen natürlichen Wachstum der Institutionen. In den Origines de la France contemporaine bezeichnet er den Staat Rousseaus als einen Kerker und ein Kloster. Nicht von ungefähr ist Taine eine der wichtigsten Quellen für die Frankreich-Literatur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Otto Grautoff zitiert ihn ausgiebig im einleitenden Essay seines Buchs von 1922 Die Maske und das Gesicht Frankreichs. „Bedeutungsvoll für das Verständnis Frankreichs ist die Beziehung, die Taine zwischen der Allmacht des Rousseauschen Staatsideals und der Staatsauffassung von Ludwig XIV. und Napoleon I. empfindet.“65 Die Kehrseite der Gefühlsergießungen ist die Tyrannei des Verstandes. Insofern werden Rousseaus widersprüchliche Persönlichkeit und die Widersprüchlichkeit seiner Produktion zum Symbol jener französischen Doppelzüngigkeit gemacht, wie sie Otto Grautoff in Die Maske und das Gesicht Frankreichs darstellt. „Jean-Jacques Rousseau hat gar nicht die staats­ umwandelnde Bedeutung, die ihm beigemessen wird. Sein Erfolg ist ein rein rhetorischer. Seine Wirkung ist die eines zündenden Propagandisten für ein Maskengeschäft, eines Budenbesitzers, der Ideale über den Jahrmarkt schreit, die im Innern des Zeltes nicht erfüllt werden. Rousseau hat Frankreich eine neue Maske verliehen, nicht aber ein neues Gesicht gegeben.“66 Immerhin wirke sich Rousseaus Einfluss „von Robespierre bis Poincaré in der offiziellen Phraseologie der republikanischen Rhetorik“ weiter aus. Wiederum findet man hier alle Klischees versammelt, deren Netz das negative Frankreichbild bildet: den bloß rhetorischen Charakter des französischen Denkens, seinen Hang, Gedanken mit Schlag­ worten, zumal mit kriegerischen Schlagworten zu verwechseln. Sie erlangen hier vor dem Hintergrund der Ruhrokkupation eine besonders ausgeprägte Aggressivität.67 Der Protest gegen die Tyrannei zieht sich als roter Faden und vor allem als politisches Motiv durch die ganze Frankreich-Literatur und in gleichem Maße durch die ganze Rousseau-Rezeption der Zwischenkriegszeit hindurch. Er ist zugleich ein Protest gegen die Herabwürdigung, unter der Deutschland infolge des Versailler Vertrags leidet, und der Ausdruck einer grundsätzlichen Unstimmigkeit mit der demokratisch-republikanischen Ideologie, die der französische Sieger für seine allgemeingültige Botschaft ausgibt. Auf deutscher Seite wird daraus ein höchst wirksamer ideologischer Kurzschluss präpariert, der einen großen umfassenden Bogen zieht nicht nur zwischen Ludwig XIV., Napoleon I. und dem Versailler-Vertrag, sondern zugleich auch zwischen Descartes und der französischen Klassik, den Lu65  O.

Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs, a. a. O., S. 4–5, Zitat S. 5. S. 5. 67  Aber sie halten über die Jahrzehnte durch: vgl. den Schluss von Neuberts Beitrag zum Handbuch der Literaturgeschichte, a. a. O., S. 409. 66  Ebd.,

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mières und darüber hinaus dem republikanischen Gedanken. Ein gutes Beispiel von diesem Kurzschluss bietet wiederum der Aufsatz von Klemperer „Gang und Wesen der französischen Kultur“, für den „der Patriotismus und Nationalismus des aufgeklärten Jahrhunderts […] um kein Atom geringer [ist] als der der ludovicischen Epoche“.68 Darüber hinaus soll nach Klemperer „der Stolz und Expansionsdrang der Franzosen“ nie gewaltiger gewesen sein als in der Revolutionszeit. Dieser Ausbruch gegen den französischen „Imperialismus“ war noch verständlich, weniger der Schluss, dass das französische politische Denken alles wohl erwogen insgesamt nichts anderes bewirke als eine Anleitung zum Gehorsam und zur sklavischen Unterordnung: „So kommen sie [die Franzosen] nun im 18. Jahrhundert dazu, das Königsideal durch das republikanische zu ersetzen. Aber sie werden damit nicht etwa im Individualsinn freiheitlicher, sie befreien sich keineswegs von einem despotischen Druck. Nein, sie bleiben gern und fügsam unter der gleichen Despotie, die der französischen Natur entspricht, unter der Tyrannei des Staatlichen, der jeder Einzelne sich beugt.“69 Ein solches Maß an politischer Blindheit kann nicht kommentarlos übergangen werden. Offensichtlich setzt Klemperer der republikanischen Staatsform einen „Individualsinn“ entgegen, den man allenfalls als eine Absage an die Republik und als ein Bekenntnis zum angelsächsischen Liberalismus interpretieren kann. Insofern waren schon in der Zwischen­kriegszeit – unter starkem politischem und ideologischem Druck – die Koordinaten vorhan­ den, die heute noch die politische Debatte beherrschen. Kann Klemperers Feindseligkeit gegenüber Rousseau wirklich dadurch entschuldigt werden, dass er seine Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert zu Beginn der dreißiger Jahre begonnen und als Widerstand gegen das Nazi-Regime verstanden hat, wie man auf einer der deutschen Rousseau-Rezeption gewidmeten Website unter der Feder der französischen Romanistin Béatrice Durand lesen kann?70 Ohne dadurch Klemperers antifa68  Klemperer,

Romanische Sonderart, a. a. O., S. 14. S. 13. 70  Ich zitiere absichtlich in extenso: „Romaniste allemand, issu d’une famille juive assimilée, converti au protestantisme, professeur à l’Université Technique de Dresde de 1920 à 1948 (suspendu de ses fonctions en 1935 par le régime nazi, réintégré dans ses fonctions en 1945), puis aux universités de Greifswald (1948–47), Halle (1948–1960) et Berlin (1951–1960). Outre des travaux sur Montesquieu, Corneille, la poésie française du XXe siècle, Klemperer est l’auteur d’une Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert (Histoire de la littérature française du XVIIIe siècle) en deux tomes. Au premier tome intitulé „Le siècle de Voltaire“ répond un „Siècle de R.“ dont le premier chapitre est consacré à R., (le second étant consacré au „rousseauisme avant R. et [aux] influences étrangères“, le troisième à „la poésie française au temps de R.“ et le quatrième et dernier au théâtre et au récit 69  Ebd.,



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schistisches Engagement zu beeinträchtigen, versuche ich hier zu zeigen, dass diese Feindseligkeit tiefere Wurzeln in den Diskursen der frühen zwanziger Jahre, wenn nicht sogar früher schlägt. Das wirft die Frage auf, inwiefern die Bildungsschicht der Weimarer Republik, deren prominente Repräsentanten die hier behandelten Akademiker sind, überhaupt fähig und willig war, sich der Herausforderung des neuen republikanischen Regimes zu stellen. Sie mögen auf ihrem Gebiet Modernisierer gewesen sein (das gilt insbesondere für die Romanisten71), sie können sich sogar zu entschiedenen Gegnern des nationalsozialistischen Regimes entwickelt haben. Aber ihre intellektuellen Schemata stellten Hindernisse dar, die man an vielen anderen Beispielen, u. a. am Beispiel des Romanisten Karl Vossler exemplifizieren kann. In der Vortragsreihe, die er 1926 unter dem Titel Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist veröffentlichte, betont der Vater der romanischen Neuphilologie Karl Vossler – der Lehrer von Klemperer, der ihm seinen Band Romanische Sonderart gewidmet hat – durchaus im Sinne der Entspannung, die nach Locarno einsetzte, dass „eine Reihe von großen geschichtlichen Aufgaben den Romanen und Germanen in dieser langen Zeitspanne [ihres Zusammenlebens] gemeinsam geworden [sind]“.72 Ja, es mache gar keinen Unterschied, „daß Kopernikus Pole oder Schlesier, Galilei Italiener, Kepler ein Deutscher, Newton ein Engländer war“73 – wenigstens solange es um den reià l’époque de R. / Commencée au début des années 1930, cette Histoire de la littérature française du XVIIIe siècle a été écrite dans des circonstances très particu­ lières: Klemperer l’a commencée au début des années 30 et poursuivie solitairement après son renvoi de l’université par les nazis en 1935, à un moment où il était mis au ban du milieu universitaire. L’ouvrage ne paraîtra qu’après la guerre en RDA, en 1954 pour le premier tome et en 1966, de manière posthume pour le second. / Rédigeant cette Histoire de la littérature française du XVIIIe siècle alors que les nazis ont pris le pouvoir et dominent tous les aspects de la vie quotidienne et intellectuelle, Klemperer conçoit son travail sur les Lumières françaises comme un acte militant, comme une antidote à l’idéologie distillée par le régime. Il ne cache pas son admiration pour Voltaire. Par contre, les pages qu’il consacre à R. frappent par leur hostilité à la personne et à la pensée de R., dont la pensée politique lui rappelle par maints aspects l’idéologie nazie: la fascination pour la figure de la communauté (idéale) des citoyens du Contrat social présente des similitudes avec les appels à l’unité et à la soumission de l’individu à la collectivité que prône le régime nazi.“ (Online-Wörterbuch zur Rousseau-Rezeption: rousseaustudies.free.fr). 71  Vgl. Raulet, „Gescheiterte Modernisierung. Kritische Überlegungen zur deutschen Frankreichkunde der Zwischenkriegszeit“, in: Eijirô Iwasaki (Hg.), Begegnungen mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, Bd. 2: Theorie der Alterität [= Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990], München, iudicium Verlag 1991. 72  Karl Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist: Vorträge gehalten in Bremen 1925, München, Verlag der Bremer Presse 1926, S. 13. 73  Ebd., S. 36.

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nen Erkenntniswert geht. Sobald es sich aber um den „allgemeinen Bildungswert“ – Max Weber hätte von der „Kulturbedeutung“ gesprochen – handelt, verhält es sich freilich ganz anders und die nationale Eigenart kommt wieder stark zur Geltung, so dass Vosslers Vorträge, die beinahe kosmopolitisch anheben, rasch wieder einen ausgeprägten nationalistischen Charakter bekommen. Vossler steht der Auffassung einer „Internationale der Individualitäten“, d. h. eines Europa der Nationalitäten, nahe, die zu derselben Zeit unter anderem von Hermann Keyserling vertreten wurde.74 Es sei ja „keine gewagte Behauptung, sondern eher eine Selbstverständlichkeit, dass alle nationalistische Kunst schlecht und falsch ist und alle echte national“.75 Der letzte von den drei Vorträgen verurteilt nachdrücklich den „starren, leeren, gefühlsdürren, abstrakten Nationalismus“76, er verwirft noch entschiedener jede Art von Rassismus77, denn die nationalen Identitäten sind für ihn keine überzeitlichen Wesenheiten, sondern, durchaus im Sinne des Historismus als Träger der Modernisierungsidee in den bildungsbürgerlichen Kreisen, Produkte der Geschichte, „d. h. sie sind in den Strom der Zeit, in das Schicksal hineingeformt“.78 Aber er drückt zugleich seine Zweifel an der Fähigkeit des Internationalismus aus, den „Nationalismus des Hasses“ zu überwinden, denn sie sind „komplementäre Erscheinungen“ und beide ebenso abstrakt und negativ.79 Auch diese Position ist zwischen den Weltkriegen von Curtius bis hin zu Keyserling die vorherrschende. Ganz wie Vossler äußert Curtius Zweifel über die „Utopie“ von Barbusse und seiner Clarté-Gruppe.80 Was Vossler mit dem Bildungswert meint, wird im zweiten Vortrag klar: Von Descartes bis zu Robespierre sieht er die konsequente Wirkung eines romanischen Geistes, der sich – wie man es damals unter der Feder fast aller Autoren lesen kann – durch seine Eigenschaft charakterisiert, das Geistige in Praxis umzusetzen. Dafür hat Curtius das Bonmot kolportiert, Marschall Foch sei für die Kriegslogistik das, was Descartes für die Logik gewesen ist.81 Die Franzosen sind „im Handeln impulsiv, im Denken starr und doktrinär, […] meist sind Hand und Zunge und Wille geschwinder bei ihnen als der Gedanke.82 „In [dem] Geschäft der Aufklärung“, schreibt Vossler, 74  Vgl. Graf Hermann Keyserling, Das Spektrum Europas, Heidelberg, Kampmann 1928. 75  K. Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist, S. 48. 76  Ebd., S. 46. 77  Ebd., S. 51. 78  Ebd. 79  Ebd., S.  46 f. 80  Vossler, ebd., S. 50; Curtius, „Deutsch-französische Kulturprobleme“, in: Neuer Merkur, 1921, S. 145–155. 81  Curtius, Die französische Kultur, a. a. O., S. 77. 82  Vossler, Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist, S. 54.



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„ist Frankreich die Lehrmeisterin der Menschheit geworden. Seit Descartes’ Versuch, die Vorteile der mathematischen Begriffsbildung auf andere und möglichst viele Gebiete des menschlichen Denkens und Lebens zu verpflanzen, ist die Schar der Freigeister mit jedem Jahre zahlreicher und kühner geworden und hat mit Anmut und Leichtigkeit alles zu rationalisieren unternommen […]. Nun aber, da der französische Geist sich in der Verneinung bestätigen, als glänzender Esprit zutage treten und eine lästig gewordene Vergangenheit zersetzen konnte, machte er ganze Arbeit, ging im Schnellschritt über seine technischen und politischen Erfolge hinaus, überrannte mit Voltaire, La Mettrie, Condillac, Diderot und Helvetius die autoritären Religionen, warf sich mit aufrührerischem Ungestüm zurück in das staatliche Gefüge und stellte durch Robespierre neben die Guillotine die Vernunft, d. h. den französischen ‚bon sens‘ an Gottes Statt. Sogar der Triumphwagen Napoleons I. noch rollt auf den Rädern dieser mathematischen Denkart. […] Im Namen derselben Notwendigkeit […] erhebt die französische Nation ihren Anspruch auf Weltherrschaft.“83 Auch Rousseau hat an dieser Reihe der Konsequenzen seinen Anteil. Zu den geschichtlichen Aufgaben, die Deutsche und Franzosen gemeinsam zu bewältigen haben – „jede[r] wie sich’s gehört von seiner Seite her, […] dem anderen entgegengesetzt und durch den Gegensatz verbunden“84 –, gehört nicht zuletzt die Aufgabe „die Rousseausche Kluft zu überbauen“. Der Deutsche wird an diese Aufgabe mit dem Gedanken, dem Geist, dem Begriff, der Franzose aber „mit dem Ungestüm der Tat“ herangehen. Wiederum wird hier – in einer weiteren von hundert Variationen – versucht, den „Widerspruch Rousseau“ zu deuten und ihn möglichst einer Grundtendenz, gleichsam einer inneren dialektischen (und deshalb besonders heimtückischen und gefährlichen) Beschaffenheit des französischen Wesens – darauf war Grautoffs Rede von der Maske und vom wahren Gesicht gemünzt – zuzuschreiben, soweit es sich als schwer erweist, seine „Kulturbedeutung“ zu unterschlagen, und es nicht mehr genügt, die „Widersprüche“ auf seine psychologische Zerrissenheit zurückzuführen. Vossler räumt also ein, dass wir – d. h., wie er sagt, „die europäische Menschheit“ – Rousseau recht viel zu verdanken haben: Erst seit Rousseau gibt es ein soziales Gewissen, nicht mehr nur „allerlei Unzufriedenheiten, Ansprüche und Umtriebe“.85 Wo man aber einen Bezug auf das Naturrecht und auf die naturrechtliche Konstruktion des Contrat social erwartet hätte, führt Vossler diese Errungenschaft auf „das unerhörte Selbstgefühl Rous­ seaus“ zurück. Das Naturrecht fehlt nicht ganz, aber in der psychologisie83  Ebd.,

S. 36–38. S. 40. 85  Ebd., S. 39. 84  Ebd.,

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renden Übersetzung: „die menschliche Würde und das ewige Recht der Persönlichkeit“. Rousseau wird – wörtlich zitiert – zum „sentimentalen Titan“ stilisiert, der nur eine Kluft aufgerissen hat, ohne sie zu schließen. „Denn nicht nur dem bestehenden Staate, dem geltenden Rechte, den Wissenschaften und Künsten, auch der Natur gegenüber hat dieser sentimentale Titan uns eigenwillig, fremd und heimatlos gemacht.“86 Seine Botschaft wird nicht verneint, aber stark ins Pathologisch-Sentimentale abgedrängt; nicht vom Naturrecht ist die Rede, sondern von der gefühlsmäßigen Art, wie Rousseau das „Naturgesetz“ auffasste. Bestenfalls gehört Rousseau in die Tradition der sozialen Utopisten bzw. der utopischen Sozialisten, Victor Hugo, George Sand, Zola, Fourier, Saint-Simon und Proudhon.87 Von einer antidemokratischen Grundeinstellung zu sprechen, wäre dennoch eine Über­treibung. Vielmehr spiegeln Vosslers Positionen die in der deutschen Bildungsschicht allgemein verbreiteten Zweifel gegenüber der demokratischen Entwicklung wider. Das Ende des dritten Vortrags ist sogar ein Appell an die deutschen Sozialdemokraten, die deutsche Aufgabe von der richtigen Seite anzupacken, und es ist insofern auch ein Bekenntnis zur Sache der Republik: „Der Aufstieg vom Proletarier zum Bürger, d. h. zum Civis, nicht zum Bourgeois, ist lang und schwer. Und wiederum haben die Deutschen auf großen Umwegen, die Franzosen aber mit Ungestüm und Schwung die Sache angefaßt. […] Die deutschen Sozialisten wissen heute noch nicht – und daran erkennt man ihre Deutschheit –, ob sie die Revolution oder die Evolution wollen. Wohl aber wissen sie das Eine, worauf es tatsächlich ankommt und was der französische Sozialismus zu übersehen und zu überspringen liebt: daß das eiserne Gebilde des modernen Nationalstaates entweder sozial durchdrungen und umgebildet oder zerstört werden muß.“88 III. Cassirer: die neukantianische Rettung Man könnte die Dokumente des Rousseaubildes der Zwischenkriegszeit häufen. Weil es mir hier um Strategien geht, will ich mit einer Strategie schließen, die (fast) alle Klischees Lügen straft. Es macht die eigenartige Qualität von Cassirers ideengeschichtlichen Beiträgen aus, dass er oft auf den Punkt bringt, was man sonst unabhängig von ihm mühevoll erarbeiten muss. Cassirers Art der (politischen) Ideengeschichtsschreibung soll deshalb nicht nur gewürdigt werden, sondern ihr gebührt in einer Reflexion der diskursiven Strategien in der politischen Ideengeschichte eine ganz beson86  Ebd. 87  Vgl.

88  Ebd.,

ebd., S. 58. S.  57 f.



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dere Aufmerksamkeit. Schon auf der ersten Seite seines Buchs Das Problem Jean-Jacques Rousseau durchschaut er mezzo voce den strategischen Gebrauch, indem er darauf hinweist, dass „Rousseaus Lehre auch heute für uns keinen festen Bestand von Einzelsätzen [bildet]“, dass sie „keine feste und fertige Doktrin“, sondern „vielmehr eine stetig sich erneuernde Bewegung des Gedankens“ darstellt.89 In demselben Atemzug knüpft freilich Cassirer selbst – aber das gehört ja gerade zur Disziplin der Geistesgeschichte – an den Gegensatz an zwischen „Kraft und Leidenschaft“ und „einem Jahrhundert, das die Kultur der Form auf eine zuvor nie erreichte Höhe emporgehoben“ hat.90 Er setzt also beim Widerspruch Rousseau wieder an. Dabei will er freilich das „Problem Rousseau“, wie er es in seinem Aufsatz im Archiv für Geschichte der Philosophie (1932) nennt, nicht nur als eine „persönliche, sondern eine sachliche Einheit“ verstanden wissen.91 Cassirer greift systematisch alle Facetten des Widerspruchs auf: die „traditionelle Ansicht, die in Rousseau nichts anderes als den Apostel des Individualismus und Irrationalismus sieht“ (ebd.), den Gegensatz des Sentimentalismus und des Rationalismus, die Interpretation, die in ihm „einen echten Sprößling des ‚Cartesischen Geistes‘ “ sieht (ebd.) und nicht zuletzt die Frage, ob er der Begründer einer (wie auch immer republikanischen) demokratischen Tyrannei ist. Den Kern des Missverständnisses bildet auch für ihn der Gegensatz des Sentimentalismus und des Rationalismus. Hierzu drückt er sich ganz eindeutig aus: „Die Alternative, daß wir Rousseau entweder ein ‚sentimentalmystisches‘ oder aber ein Cartesisches Glaubens­ bekenntnis zuschreiben müssen, erscheint mir in keiner Weise als zwingend.“92 Um diese falsche Alternative zu überwinden, geht er auf konstitutive Momente von Rous­ seaus Denken ein, insbesondere auf den Einfluss des Oratorianers Bernard Lamy, der ein Verehrer von Malebranche war. Daraus schließt er: „Hier fällt auch auf die Vorgeschichte der ‚Profession de foi‘ neues Licht. Die ‚rationalen‘ Elemente in Rousseaus Glaubensbekenntnis sind unverkennbar. Aber wir können sie, wie [Emile] Bréhier im einzelnen gezeigt hat93, nur verstehen, und ihnen ihre rechte geistesgeschichtliche Stelle anweisen, wenn wir 89  Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, Reprint Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 1. 90  Ebd. 91  Cassirer, „Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, in: Philosophie. Chronique annuelle publiée par l’Institut international de collaboration philosophique, Paris, Hermann, 1938, p. 77. 92  Ebd., S. 79. 93  Vgl. Emile Bréhier, „Les lectures malebranchistes de Jean-Jacques Rousseau“, in: Revue Internationale de Philosophie, 1 / 1938, pp. 98–120.

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sie, statt sie auf Descartes zurückzuführen, an Malebranches Méditations chrétiennes und an seine Entretiens sur la métaphysique anknüpfen.“94 Man solle sich also von der stereotypischen Entgegensetzung des Gefühls und der Ratio freimachen und einsehen, dass Rousseaus Begründung des „instinct divin“ sich gerade über diese falsche Alternative hinwegsetzt und sowohl den „Sentimentalismus“ wie den „Intellektualismus“ zurückweist. „Sein Weg“, schreibt Cassirer, „weist hier weit eher auf Kant voraus, als daß er auf Descartes zurückwiese. Der ‚göttliche Instinkt‘, als den er das moralische Gewissen beschreibt, ist für ihn von einer anderen Art und einem anderen Ursprung als alle Wahrheiten, die uns das reine Denken ­ vermitteln kann.“95 Diesen Kern des Problems hatte Groethuysen geahnt, als er geltend zu machen versuchte, dass bei Rousseau das „Gefühl“ im Grunde etwas ganz anderes bedeutete als Sentimentalität. Groethuysen drückte diese These durch einen gewagten Kurzschluss zwischen „Gefühl“ und revolutionärem Bewusstsein aus: „Dieses Gefühl, bei Rousseau seinem ursprünglichen Wesen und einer ganz besonderen Empfindsamkeit entsprungen, wird in der Französischen Revolution als das Bewusstsein interpretiert, einer anderen gesellschaftlichen Klasse anzugehören, einem anderen Sittengesetz zu folgen, kurz als die Zugehörigkeit zum Volk.“96 Die Wiederholung von „ander“ weist darauf hin, dass hier ein dritter Weg angedeutet wird. Cassirers Ansatz zielt ebenfalls weniger darauf hin, die psychologische Dimension zu überwinden, als sie vielmehr zu integrieren und dadurch zu entpsychologisieren. In dieser Bemühung stehen der Dilthey-Schüler und der Ex-Marburger einander sehr nahe. Rousseaus Misanthropie wird nicht geleugnet, sondern als die Kehrseite seines „enthusiastischen Freundschafts­ ideals“ interpretiert.97 Zugleich wird auf quasi-husserlianische Weise eine epoche, eine phänomenologische Reduktion, durchgeführt, um den Kern von Rousseaus politischer Philosophie zu treffen. Cassirer zitiert aus dem Discours sur l’origine de l’inégalité den Satz: „Beginnen wir damit, alle Tatsachen auszuschalten …“98 Das kann kein Zufall sein, denn es geht darum, die Rousseausche Botschaft in demselben Maße zu transzendentalisieren, wie man sie entpsychologisiert. In demselben Atemzug wird sie auch enthistorisiert, ohne dass dadurch ihre historische Verankerung geleugnet würde: „Um den ‚homme naturel‘ vom ‚homme artificiel‘ zu unterscheiden, brauchen wir nicht in längst vergangene und verschollene Epochen zurück94  Cassirer,

„Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, a. a. O., S. 80. S. 79. 96  Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, a. a. O., S. 101. 97  Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, a. a. O., S. 8. 98  Ebd., S. 12. 95  Ebd.,



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zugehen – noch brauchen wir hierfür die Reise um die Welt zu machen. Jeder trägt in sich selbst das eigentliche Urbild.“99 Dieser Ansatz entspricht völlig Kants Behandlung des Naturzustands – und des Gesellschaftsvertrags selbstverständlich auch – in seinen geschichtsphilosophischen Abhandlungen wie „Mutmaßlicher Anfang aller Menschengeschichte“. Hier wie überall in seinen Schriften bahnt sich Cassirer seine eigene Denklinie über die etablierten Fronten – den Neukantianismus, den Diltheyismus, den Historismus – hinaus.100 Vor allem aber, und das ist es ja, worum es uns hier zu tun ist, bezieht sich auch Cassirer auf Taine, um die Frage an der Wurzel zu fassen, die offensichtlich diese ganze Epoche der Rousseau-Rezeption beherrscht hat: ob es nämlich „ein zu hartes Urteil [ist], wenn Taine in seinen ‚Origines de la France contemporaine‘ den ‚Contrat social‘ eine Verherrlichung der Tyrannei nennt“?101 Denn in dem Rousseauschen Konzept zerbricht tatsächlich jeder Sonder- und Einzelwille vor der Macht der „volonté générale“. Cassirer versucht zunächst, Rousseau gegen den Vorwurf der blinden Radikalität zu verteidigen: Rousseau habe „immer auf der Erhaltung der bestehenden Einrichtungen bestanden, indem er erklärte, daß ihre Zerstörung die Laster bestehen lassen und die Mittel zu ihrer Linderung und Milderung beseitigen würde; daß sie an Stelle der Korruption nur die zügellose Gewalt setzen würde“.102 Zugleich macht er einen unverkürzten Freiheitsbegriff geltend, und das heißt sowohl als naturrechtlichen Anspruch auf eine „wahrhafte menschliche Gemeinschaft“ und als rechtsstaatliche Forderung: als „Ausschluß aller Willkür“, als „Bindung an ein strenges und unverbrüchliches Gesetz, das das Individuum über sich selbst aufrichtet“.103 Die Nähe zu Hobbes wird nicht verschwiegen – ganz im Gegenteil104, aber gerade in dieser gefährlichen Nähe findet Cassirer sozusagen den archimedischen Punkt seiner Rettung. Da, wo die Naturrechtslehren darüber streiten, ob der Gesellschaftsvertrag auf einen geselligen Naturtrieb, oder bloß auf den Egoismus zurückzuführen sei, soll nach ihm Rousseau einen Ausweg gefunden haben durch die Unterscheidung zwischen einem passiven Egoismus, der innerhalb des Naturzustands vorhanden war, und jenem aktiven Egoismus, den wir nach dem Eintritt in den gesellschaft­ lichen Zustand als dessen Folge beobachten müssen.105 99  Ebd.,

S. 13. Raulet, Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus, Frankfurt / M. u. a., Peter Lang 2005. 101  Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, a. a. O., S. 15. 102  Ebd., S. 16. 103  Ebd. 104  Vgl. ebd., S. 17. 105  Ebd., S. 52. 100  Vgl.

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Für Rousseau stellt sich eigentlich „das Problem“ (und so soll man wahrscheinlich den Titel von Cassirers Essay richtig deuten) erst – ganz wie für Kant – auf der Ebene des gesell­schaftlichen Zustands. Das heißt, dass wir es nicht mit einem Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft zu tun haben, sondern viel eher mit einem Prioritätsstreit zwischen dem reinen geistigen Willen und dem sittlichen Willen – Hegel würde sagen: zwischen Moral und Sittlichkeit, dem subjektiven Naturrecht und seiner Verwirk­ lichung. Diesbezüglich erweist sich Cassirer – bzw. Rousseau selbst, denn hier wird aus dem Discours sur l’économie zitiert, den Rousseau für die Enzyklopädie verfasste – geradezu als geborener Hegelianer: „Das Gesetz allein ist es, dem der Mensch die Gerechtigkeit und die Freiheit verdankt, dieses Organ des Willens aller ist es, das die natürliche Gleichheit unter den Menschen in der Ordnung des Rechts wiederherstellt.“106 Ja, „das Gesetz“ – und zwar nicht jenes göttliche Gesetz, das Antigonä dem Gesetz der Polis entgegensetzte – wird an dieser Stelle als „göttliche Stimme“ bezeichnet. Der Zweck des Staates besteht darin, „an Stelle der physischen Ungleichheit unter den Menschen, die unaufheblich ist, die rechtliche und moralische Gleichheit zu setzen“.107 Insofern bildet der Staat die Grundlage der moralischen Idee selbst. Dies hat nun zur Folge – und hier wird zugleich klar, wie Cassirer selbst den Gegensatz des Historismus und des Normativismus überwinden will –, dass Rousseau sich weder mit einer Vergleichung der Regierungsformen wie bei Montesquieu, noch mit dem Gedanken begnügen kann, dass man es lediglich mit „Fehler[n] der ‚Organisation‘, die es nach und nach zu bessern gilt“, zu tun habe.108 Rousseau sieht hier vielmehr einen Konstruktionsfehler. Das wird laut Cassirer durch seinen Umgang mit dem Theodizeeproblem bestätigt: Wenn wir weder Gott noch die menschliche Natur für das Übel verantwortlich machen können, dann darf dessen Wurzel auch nicht in dem einzelnen Menschen gesucht werden, sondern in der menschlichen Gesellschaft. Daraus folgt nun aber auch, dass der Mensch „zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden“ soll.109 Anklänge an den Dualismus des Rokoko und des Ernstes, wie sie bei Klemperer und seinen Schülern anzutreffen waren, lassen sich bei Cassirer selbst feststellen, wenn er im Hinblick auf diese gleichsam existenzialistische Situation Voltaires „spielerischen Pessimismus“ dem „tragischen Ernst“ von Rousseaus Optimismus entgegensetzt.110 Nicht zu unterschätzen ist aber an dieser Stelle auch der Schluss, dass auf diesem Weg 106  Ebd.,

S. 19. social, I, 9; von Cassirer zitiert, ebd. S. 20. 108  Cassirer, ebd., S. 29. 109  Ebd., 31 ff. 110  Ebd., S. 36. 107  Contrat



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„dieser angebliche ‚Irrationalist‘ in dem entschiedensten Vernunftglauben“ endet, also dass der Vernunftglaube durchaus heiße leidenschaftliche Formen annehmen kann – was Cassirer freilich nicht sagt, wohl aber als Anklang an die Diskurse seiner Zeitgenossen gelten lässt. Was die Zeitgenossen bei der Lektüre der Nouvelle Héloïse so stark ergriff, war die „elementare Sprache des Gefühls und der Leidenschaft“111, die sowohl die Dichtung als die Philosophie verlernt hatten. Aus dem Zeitabstand, mit dem wir auf Julie und St. Preux zurückblicken, erscheint uns aber immer mehr die Kehrseite der Rousseauschen Empfind­samkeit: „Immer wieder wird in ihr die reine Darstellung und der unmittelbare Gefühls­ ausdruck hintangehalten durch die lehrhafte Tendenz, unter der das Werk von Anfang an steht. Diese Tendenz wird zuletzt so stark, daß sie das Kunstwerk völlig erdrückt.“112 War für Curtius die französische Literatur selbst in ihren extremsten Gefühlsregungen doch immer eine „Psychologenliteratur“, so ist sie für Cassirer alles in allem durch eine didaktische Veranlagung beherrscht. Wie sehr er auch, trotz dieser lehrhaften Tendenz, „die elementare Gewalt des neuen Gefühls, das sich hier Bahn bricht“113, anerkennt, verfolgt aber Cassirer eine andere Absicht als die Mehrzahl der damaligen Interpreten: Er will geltend machen, dass das Rousseausche Gefühl, in seiner Reinheit erfasst, der Maßstab „der ‚Natürlichkeit‘, d. h. der intellektuellen Klarheit und Deutlichkeit“114 ist und dass es als solches eine ethische Grundlage bildet: „Rousseaus Ethik ist keine Gefühls-Ethik, sondern sie ist die entschiedenste Form der reinen Gesetzes-Ethik, die vor Kant ausgebildet worden ist.“115 Auf der Basis dieser Grundthese entwickelt Cassirer seine neukantianische Rousseau-Interpretation, die das Paradoxon vertritt, dass Rousseau der „begrenzten und einseitigen Verstandeskultur“ seines Zeitalters zwar „den Kult des Gefühls entgegengesetzt hat“, aber dass seine eigentliche ethische Leistung darin besteht, wie paradox dies auch klingen mag, „entgegen der herrschenden Meinung des Jahrhunderts, das Gefühl aus der Grundlegung der Ethik“ verwiesen zu haben. Rousseaus gefühlsmäßige Erfassung des ethischen Gesetzes habe nichts zu tun mit den „eudämonistischen“ Lehren des 18. Jahrhunderts: weder mit der Lehre von den Sympathiegefühlen, noch mit der Lehre vom ‚moral sentiment‘ bei Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Adam Smith, noch mit den sensualistischen Auffassungen, die im Kreis der Enzyklopädisten vorherrschten.116 Die zu111  Ebd.,

112  Ebd., 113  Ebd.

114  Ebd.,

S. 38. S. 42.

S. 39. S. 48. 116  Ebd., S.  50 f. 115  Ebd.,

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gleich ethische und politische Pointe seiner „Rettung Rousseaus“, wie ich sie nennen möchte, fasst Cassirer in dem Satz zusammen: „Die Grundsätze des ethischen Verhaltens und die Prinzipien der echten Politik lassen sich nicht erklügeln und errechnen; noch lassen sie sich rein logisch demonstrieren. Sie besitzen ihre eigene Art der ‚Unmittelbarkeit‘ – aber diese Unmittelbarkeit ist nicht mehr die des Gefühls, sondern die der Vernunft. […] Sie sind Wahrheiten, die sich nicht anders denn intuitiv erfassen lassen; aber eben diese Intuition ist es, die Niemandem versagt ist, weil sie die Grundkraft und das Wesen des Menschen selbst ausmacht.“117 Man ist berechtigt, diese neukantianische Lektüre, die selbstverständlich auch eine strate­gische Lektüre ist, dennoch als einen Versuch zu interpretieren, aus den festgefahrenen Stereotypen auszubrechen. Sie ist insofern integraler Teil von Cassirers Engagement im Medium der politischen Ideengeschichte118 und musste aus diesem Grund hier den Kontrapunkt bilden zu anderen Diskursstrategien, deren Auswirkungen und deren Ertrag im besten Fall als dubios zu bezeichnen sind.

117  Ebd.,

S. 57. Raulet, Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus, Frankfurt / M. et al., Peter Lang 2005. 118  Vgl.

Vordenker der souveränen Diktatur? Das antiliberale Rousseau-Bild und Carl Schmitt Von Reinhard Mehring Rousseau war ein Multitalent mit vielen Gesichtern und sehr unterschiedlichen Werken und Rezeptionsschicksalen. Der stolze Bürger von Genf und arme Emigrant, der am Ende seines Lebens von Verfolgungsängsten geplagt herumirrte, fand auch im Tode kein sicheres Grab. Zwar wurde er im Schlosspark von Ermenonville idyllisch beigesetzt. Doch die Revolution bemächtigte sich seines Leichnams und brachte ihn 1794 unter großem Aplomb ins Pariser Panthèon. Dort liegt er nun im Prunksarg ausgerechnet neben Voltaire und ist dem touristischen Blick ausgesetzt, statt in einem schlichten Grab im englischen Garten zu Staub zu zerfallen und so zur Natur zurückzukehren. Um es mit Hölderlin zu sagen: „Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht / Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht.“ Rousseau suchte das „natürliche“ Leben jenseits von Religion und Politik im philosophischen Glück der „Seelenruhe“. Die Bürgerrolle schätzte er bestenfalls als zweitbeste Lösung des Freiheitsproblems. Nach seiner Erfahrung politischer Verfolgung wurde er, wie Hennig Ritter schreibt,1 dann zum Prototypen des modernen Dissidenten, der in einen „tödlichen Zweikampf“ mit der Gesellschaft geriet. Rousseau zielte auf die Reservation des philosophischen Lebens von allen religiösen und bürgerlichen Anfeindungen.2 Lion Feuchtwanger publizierte 1952 schon einen historischen Roman über die letzten Wochen des armen Jean-Jacques, seinen umstrittenen Tod und seine fragwürdige „Verklärung“ durch die französische Revolution.3 1  Henning

819.

Ritter, Der andere Rousseau, in: Merkur 65 (2011), 808–819, hier:

2  Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, München 2011; vgl. schon Robert Spaemann, Rousseau. Bürger ohne Vaterland. Von der Polis zur Natur, München 1980; als prägnante Überblicksdarstellung vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Band 3 / 1: Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart 2006, 462–510. 3  Lion Feuchtwanger, Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau. Roman, Frankfurt 1952.

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Der geläufige Kurzschluss von Rousseau auf Robespierre knüpfte an Robes­ pierres Rousseau-Verehrung und dessen handgreifliche Rezeption des Contrat social an. Rousseau repräsentiert uns als Klassiker zwar eine zerrissene Einheit von Leben und Werk, universitärer Autorschaft und individuellem Natur- und Freiheitscredo. Die akademischen Disziplinen brachen sich aber perspektivisch heraus, was sie brauchen konnten. So lebt Rousseau heute fragmentiert als ein Vater des modernen Briefromans und autobiographischer Egomanie, antiakademischer Ressentiments, entwicklungspsychologischer Pädagogik „vom Kinde her“, nationalpädagogischer Mobilisierung, antiliberaler Massendemokratie und manches mehr. Er gilt als ein Markstein in der Entwicklung des „kontraktualistischen Arguments“ von Hobbes zu Kant und Rawls.4 Meine rezeptionsgeschichtliche Impression beginnt mit einer Blütenlese von Zitaten zur Rousseau-Rezeption vor 1945, konzentriert sich dann auf Carl Schmitts Analyse von Rousseau als Vater der souveränen Diktatur und schließt mit dessen späterer Revision seines Rousseau-Bildes nach 1945. Die Weimarer Staatstheorie rezipierte Rousseau zwar eher beiläufig und kritisch; Carl Schmitt aber übertrug Rousseaus souveräne Diktatur in seine Apologie des Führerstaates. Nach 1945 anerkannte er dies in einem weithin unbekannten Zeitungsartikel, einem Jubiläumsartikel von 1962 zum 250. Geburtstag, selbst, indem er zwischen der Theorie des Totalitarismus und seinen initialen Motiven trennte. I. Kleine Blütenlese der Rousseau-Rezeption Rousseaus Credo von der „Natur“ und „Freiheit“ wurde im deutschen Idealismus zwar stark vernommen. Nach Kant und Hegel herrschte dann aber eine starke Umdeutung von Rousseaus Lösung des Vergesellschaftungsproblems vor. Rousseau stand deshalb eher für das Problem der Sozialkontraktierung als für gültige Antworten. Im Wilhelminismus scheint ein negatives Rousseau-Bild vorherrschend gewesen zu sein. Eduard Zeller reduzierte Rousseau 1873 noch auf „die Forderung der Rückkehr zur Natur“.5 Für Nietzsche war Rousseau der „erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person“, dessen revolutionäre Lehre von der Gleichheit „das Ende der Gerechtigkeit“ bedeutete.6 Wilhelm Dilthey erwähnte Rousseau 4  Dazu etwa Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, 140 ff. („Demokratischer Kontraktualismus“). 5  Eduard Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 1873, 400. 6  Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: ders., Werke, hrsg. Karl Schlechta, München 1966, Bd. II, 1023.



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nur gelegentlich als einen „gewaltigen“, „elementaren“, „mächtigen“ oder „dämonischen“ Protoromantiker, Pädagogen und Dichter und zog einen historischen Bogen von Rousseau zu Byron.7 Goethe spiegelte Byrons Schicksal auch in der Gestalt des Euphorion, dem Sohn von Faust und Helena. Rousseau wird mit Byron dann zur Ikone des modernen Menschen und ikarischen Selbstverbrennung. Dilthey meinte, dass Rousseau die „wohlgezirkelte Welt“8 der Aufklärung in Trümmer schlug. Diltheys Berliner Kollege Friedrich Paulsen führte aus, wie Rousseau das „neue Lebens­ ideal“ der naturgemäßen „Entwickelung der natürlichen Anlage“ in die Pädagogik einführte.9 Viele weitere Zitate ließen sich diesen allgemeinen Einschätzungen hinzufügen. Rousseaus politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags wurde damals überwiegend negativ gesehen. So meinte Wilhelm Windelband pointiert: „Rousseau ist der Philosoph der Revolution. Sie war nichts als die Ausführung seiner Lehren.“10 Er schrieb weiter: „Man proklamierte die Menschenrechte, deren ewige und unantastbare Geltung er verkündet hatte. Der Naturzustand war da. Aber es war nicht das Idyll Rousseaus, sondern die Tragödie des Terrorismus: es war das ‚bellum omnium contra omnes.‘ Hobbes hatte recht behalten gegen Rousseau.“11 Für die juristische Rezeption wurden die Darstellungen von Otto von Gierke und Georg Jellinek wegweisend. Gierke sah Rousseau auf den „Schultern der von Hobbes inaugurierten absolutistischen Doktrin“.12 Jellinek nannte Rousseaus „Vertragstheorie, logisch zu Ende gedacht, nicht staatsbegründend, sondern staatsauflösend.“13 Rousseau wurde deshalb in der juristischen Literatur vor 1900 keine systematische Größe und Referenz. 7  Dazu vgl. Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. VI, 2. Aufl. Leipzig 1938, 166, 212; vgl. auch Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. VIII, Leipzig 1931, 166: „Die Bewegung, welche in Rousseau begann und in der Romantik ihren Abschluß erreichte, enthält einen inneren Zusammenhang neuer Ideen“. 8  Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: Gesammelte Schriften Bd. III, Leipzig 1927, 99, vgl. 159 f. 9  Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts Bd. II, 2. Aufl., Leipzig 1897, 192 f., vgl. 46 ff. 10  Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, 1878, 3. Aufl. Leipzig 1904, Bd. I, 427. 11  Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften, 1878, 3. Aufl. Leipzig 1904, Bd. I, 437. 12  Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880, 6. Aufl. Aalen 1968, 201, vgl. 115 ff. 13  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, 4. Aufl. Berlin 1922, 217.

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In der Weimarer Universitätsphilosophie dominierten dann Neukantianismus und Neuhegelianismus. Rousseau wurde primär als ein Anreger und Vorläufer von Kant und Hegel betrachtet: so noch von Ernst Cassirer, der die Einheit und philosophische Individualität Rousseaus eingehender rekonstruierte.14 Paul Natorp pries Rousseau in der Linie Platos als Erzieher der Nation.15 Eduard Spranger16 dagegen betrachtete den Philosophen der „Sehnsucht“ als einen pathologisch schwachen Charakter. Friedrich Meinecke erwähnte Rousseau in seiner Idee der Staatsräson von 1924 nur knapp als Vertreter eines „ethischen und naturrechtlichen Radikalismus“.17 Die deutsche Geistesgeschichte wurde gerne von Kant zu Hegel ohne nähere Berücksichtigung Rousseaus abgeschritten.18 Eingehende Abhandlungen oder gar Rousseau-Monographien haben prominente Staatsrechtslehrer damals nicht geschrieben.19 Rousseau war demnach keine zentrale Referenz. Er war in der Weimarer Staatsdiskussion aber für ein zentrales Problem des modernen Verfassungsstaates einschlägig. Gustav Radbruch bezeichnete den „Gegensatz zwischen Montesquieu und Rousseau“ als Gegensatz der Organisationsprinzipien „Liberalismus und Demokratie“.20 Hans Kelsen21 machte Rousseau dann in seiner demokratietheoretisch grundlegenden Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie für die Trennung von Liberalismus und Demokratie verantwortlich. Kelsen meinte, Rousseau habe als „Freiheitsapostel“ die „Unmittelbarkeit der Demokratie“ propagiert und dabei das Prinzip der Einstim14  Ernst Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, 1932, in: ders., Auf­ sätze und kleine Schriften (1932–1935), Gesammelte Werke Bd. 18, Hamburg 2004, 3–82. 15  Paul Natorp, Rousseaus Sozialphilosophie, 1917, in: ders., Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik. Erstes Heft: Plato, Rousseau, Condorcet, Pesta­ lozzi, Stuttgart 1922, 43–70. 16  Eduard Spranger, Jean-Jacques Rousseau, in: ders., Kultur und Erziehung, Leipzig 3. Aufl. 1925, 34–68. 17  Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 1924, in: ders., Werke Bd. I, 341. 18  Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2 Bde., Berlin 1923 / 1929; anders aber Karl Vorländer, Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien, Leipzig 1926, 120 ff.; vgl. auch Ernst Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, London 1945. 19  Aus juristischer Feder aber Franz Haymann, Weltbürgertum und Vaterlands­ liebe in der Staatslehre Rousseaus und Fichtes, Berlin 1924. 20  Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, 139; ebenso noch ders., Rechtsphilosophie, 1928, 6. Aufl. Stuttgart 1963, 161. 21  Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929, 6 ff.; erstmals erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920), 50–85.



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migkeit „auf den hypothetischen Akt der Staatsbegründung“ beschränkt. Damit sei er für die „Loslösung des Demokratismus vom Liberalismus“22 verantwortlich. Nach Kelsen ist Rousseau damit für die liberale Demokratie nicht anschlussfähig. Richard Thoma konzedierte Rousseau aber einen „unübertrefflich scharfsinnigen“ Blick auf die Antinomien von politischer Freiheit und Herrschaft und eine Utopie des egalitären und „radikalen Demokratismus“.23 Rudolf Smend nannte die volonté générale dagegen einen soziologischen Ausdruck des „Lebenswillens“ und „dauernden Consensus der Staatsgenossen“.24 Erich Kaufmann schrieb in seiner wichtigen Studie Zur Problematik des Volkswillens lapidar: „Der größte und folgenschwerste staatstheoretische Irrtum, der je ausgesprochen wurde, ist der Satz Rousseaus: ‚La volonté ne se représent pas.‘ “25 Hermann Heller kritisierte die Substanzialisierung der „Volkspersönlichkeit“ und Fiktion einer homogenen und „apriorischen Willensgemeinschaft“ bei mangelnder Unterscheidung von Volk und Staat.26 Günther Holstein sprach von einem „Sophisma“ formalistischer Vernichtung des individualistischen Ausgangspunkts27 und von „Staatsabsolutismus“. Karl Larenz betonte,28 dass Kant die systematische Konsequenz zog, die Lehre vom Staatsvertrag von ihrem „individualistischen“ oder „atomistischen Ausgangspunkt“ abzulösen und als regulative Idee zu deuten. Beachtlich scheint mir, dass eine Tübinger Dissertation 1934 Rousseaus „Staatsomnipotenz“ kritisierte.29 Verstärkt wurde Rousseau 22  Kelsen,

Vom Wesen und Wert der Demokratie, 10. vgl. Richard Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, 1923, in: ders., Rechtsstaat-Demokratie-Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, hrsg. Horst Dreier, Tübingen 2008, 91–129, hier: 92, 112 f., vgl. 411. 24  Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, in: ders., Staatsrecht­ liche Abhandlungen, Berlin 1955, 182. 25  Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, 1931, in: ders., Rechtsidee und Recht. Gesammelte Schriften Bd. III, Göttingen 1960, 272–284, hier: 275; nach 1945 lehnt Kaufmann auch Rousseaus anthropologische Voraussetzung von der natürlichen Güte des Menschen scharf ab (Die anthropologischen Grundlagen der Staatstheorien, 1952, ebd. 365–374, hier: 366 ff.). 26  Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, 162 ff. 27  Günther Holstein, Geschichte der Staatsphilosophie, München 1933, 80–88, hier: 83. 28  Karl Larenz, Die Rechts- und Staatsphilosophie des deutschen Idealismus und ihre Gegenwartsbedeutung, München 1933, 103 f.; Rousseau ist dann völlig ignoriert in der späteren Darstellung von Karl Larenz, Sittlichkeit und Recht. Untersuchungen zur Geschichte des deutschen Rechtsdenkens und zur Sittenlehre, in: ders. (Hg.), Reich und Recht in der deutschen Philosophie, Stuttgart 1943, 169–412; vgl. auch Klaus Reich, Rousseau und Kant, Tübingen 1936. 29  Dazu vgl. Erich Schwarz, Freiheit und Staatsomnipotenz in Rousseaus ‚Contrat Social‘, Schramberg 1936. 23  Dazu

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nun religionsgeschichtlich gelesen.30 Nach 1945 knüpfte die juristische Kritik dann fast nahtlos an die alten Verwerfungen an.31 Rousseaus Volkssouveränität wurde von Hobbes her gelesen, der Demokratismus als Absolutismus verworfen. Diese deutliche Distanz zu Rousseau überrascht. Man mag bürgerliche Aversionen gegen den Jakobinismus heraushören. Rousseau gehörte zwar in die Geschichte des Volks- bzw. „Nationalgedankens“.32 Die deutsche Staatsrechtslehre der Zwischenkriegszeit fand bei ihm aber keine klare Verhältnisbestimmung von Liberalismus und Demokratie und keine tragende Konzeption einer liberalen Demokratie; sie brauchte Rousseau als Theoretiker auch nicht, weil sie ihn entweder mit Kant oder Hegel kritisieren oder mit Max Webers Konzeption der plebiszitärdemokratischen Führerdemokratie adaptieren konnte. Wurde Rousseau in der juristischen Rezeption schon vor 1933 häufig von Hobbes her gelesen und abgelehnt, lag der Totalitarismusvorwurf nach 1945 nicht fern. Wenn diese kleine Blütenlese einiger wichtiger Stimmen signifikant ist, so wurde Rousseaus Volkswille eher beiläufig gelesen und es herrschte ein negatives Rousseau-Bild vor. Es bestätigt sich Raulets Befund (hier im Jahrbuch), dass Rousseau im Fokus des zeitgenössischen Rationalismus- /  Irrationalismusproblems gesehen wurde und prominente Weimarer Staatsrechtslehrer seine Demokratietheorie antiliberal auffassten. Das starke normative „kontraktualistische Argument“ (Kersting) rezipierten sie lieber mit Kant. Die Weimarer Diskussion hatte für Rousseau als Theoretiker keinen besonderen Bedarf. Denn die philosophische Diskussion betrachtete Rousseau eher als Vorläufer von Kant und Hegel und die juristische Diskussion ging mehr von der Herrschaftssoziologie Max Webers aus. Von einem starken Rousseauismus und Demokratismus der Weimarer Staatsrechtslehre kann demnach kaum die Rede sein. Die Weimarer Staatstheorie entwickelte ihre Begriffe von Demokratie und Nation nicht im systematischen Rückgang auf Rousseau. Die Kritik von Kant und Hegel hatte durchschlagend gewirkt. Auch nach 1945 setzte sich das zunächst fort. Nach 1945 wurde der Konnex von Rousseau, Frankreich und der Französischen Revolution weiter gepflegt, um die Bundesrepublik von der kontinentalen Souveränität auf die angelsächsische Repräsentation zu verweisen. Gerhard 30  Dazu vgl. Karl Dietrich Erdmann, Das Verhältnis von Staat und Religion nach der Sozialphilosophie Rousseaus (Der Begriff der ‚religion civile‘), Berlin 1935; Peter Meinold, Rousseaus Geschichtsphilosophie, Tübingen 1936. 31  Dazu vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951, 121–126. 32  Dazu vgl. Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, München 1937; ders. dann: Rousseaus Freiheitslehre, Göttingen 1963.



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Ritter,33 einer der wichtigsten Historiker seiner Zeit, erklärte Rousseau 1948 in Europa und die deutsche Frage zum Autor des kontinentalen „Prinzips des totalen Volksstaates“. Ernst Fraenkel34 unterschied 1964 in Deutschland und die westlichen Demokratien dann zwischen der angelsächsischen repräsentativen Demokratie und dem identitären „Jakobinismus“ der kontinentalen Tradition. Der Kelsen-Schüler Alfred Verdross schrieb nun, dass „die totale Freiheit, von der Rousseau ausgeht, zum totalen Staat“ führte.35 Frühe staatstheoretische Kritiker nach 1945 waren noch stark von den Weimarer Debatten, dem Nationalsozialismus und der Emigration geprägt. Der bundesrepublikanische Neuansatz einer umfassenden und philologisch einlässigen Rousseau-Forschung verbindet sich dann mit dem Namen Iring Fetscher. Insgesamt scheint aber lange die beiläufige und polemische Abgrenzung überwogen zu haben. Kommen wir damit zu Carl Schmitt. Ihm sagt man eine besondere Nähe zur „identitären Demokratie“ und zu Rousseau nach. Helmut Kuhn schrieb 1933 in seiner philosophischen Kritik des Begriffs des Politischen: „Der Naturzustand ist für den Romantiker Sch.[mitt] ein Ideal, das durch Politik wiederhergestellt werden muss. Eine ‚Rückkehr zur unversehrten, nicht korrupten Natur‘ bereitet sich – diese Hoffnung lässt er durchblicken – ‚schweigend und im Dunkel‘ vor. Das ist freilich ein umgekehrter Rousseau: Aus dem Schäferidyll ist – mit einiger Übertreibung gesagt – ein Raubtieridyll geworden.“36 Für die Verbindung von Rousseau mit einer antiliberalen Lehre von der Demokratie wurde Schmitt besonders prominent. Bei keinem anderen prominenten Weimarer Staatsrechtslehrer habe ich auch eine derart scharfe und eingehende Rousseau-Analyse gefunden. Sein Rousseau-Bild ist aber komplexer als die bekannten Formeln.37 Weil Rousseaus volonté générale in den „Führerstaat“ einging, spielte Schmitt nach 1945 die Intentionen des Autors gegen seine Theorie aus und verwahrte sich nach 1945 mit dem „wahren“ Johann Jakob gegen den Vorwurf, ein „Vater des Totalitarismus“ gewesen zu sein. 33  Gerhard

Ritter, Europa und die deutsche Frage, München 1948. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964. 35  Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Aufl. Wien 1963, 128. 36  Helmut Kuhn, Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Rezension in: KantStudien 38 (1933), 190–196; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders., Der Staat. Eine philosophische Darstellung, München 1967, 447–460, hier: 456 f. 37  So findet Schmitts wichtigste Rousseau-Analyse, innerhalb der Diktatur, keinerlei Berücksichtigung in der Schmitt-Kritik von Karl-Siegbert Rehberg, Natur und Sachhingabe. Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und ‚das Politische‘ im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Herbert Jaumann (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung der Rezeption, Berlin 1995, 221–265, hier: 252–254. 34  Ernst

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II. Rousseau als Vater der souveränen Diktatur Im „Richtungsstreit“ der Weimarer Staatsrechtsdiskussion gehörte Schmitt zu den Kritikern des juristischen „Positivismus“.38 In seinem Seminar behandelte er die „Klassiker“ der neuzeitlichen Staatstheorie. Nach seinen frühen Monographien über die Politische Romantik und Die Diktatur äußerte er sich aber nur noch selten ideengeschichtlich. Soweit er die neuzeitlichen Klassiker rezipierte, diskutierte er sie nicht als Philosophen. Selbst bei Hobbes ignorierte er den philosophischen, individualistischen und naturrechtlichen Ansatz und konzentrierte sich gegen die „liberale“ und auch die „absolutistische“ Lesart auf die Mythopolitik des Leviathan-Symbols. Schmitt lehnte das philosophische Projekt der Aufklärung ab: Kants Philosophie der Freiheit, Selbstgesetzgebung, Autonomie. Zwar betrachtete er die Aufklärung als eine geistige Bewegung. Als scharfer Gegner des Liberalismus vertrat er aber einen strikten Anti-Individualismus. Den methodischen Individualismus des kontraktualistischen Arguments rezipierte er nicht. Er schwieg auch von der religiösen und metaphysischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der individualistischen Psychologie und Pädagogik (introspektive „Erfahrungsseelenkunde“) des Protestantismus und Pietismus. Schmitt rezipierte die Aufklärung also, näher betrachtet, nur im politischen Projekt der Trennung von Staat und Kirche und des säkularen, souveränen Staats der Neuzeit. Durchgängig unterschied er dabei zwischen dem säkularabsolutistischen Staat der Neuzeit und der liberalen Verfassung der Moderne. Beides verwarf er. Näher betrachtet ist gar nicht klar, ob er wirklich als „Etatist“ auf der Seite des säkularen Staates stand. Jedenfalls ergriff er nicht die liberale und individualistische Bürgerpartei. Politisch war er eher ein Totalitarist als ein Absolutist. Sein „Staat des 20. Jahrhunderts“ war irrationalistisch, plebiszitär und charismatisch integriert. Schmitt war ein Kritiker der „Legitimität“ der Neuzeit. In diesem Rahmen spielt Rousseau eine signifikante Rolle. Schmitt begann seine Liberalismuskritik im Frühwerk mit einer geistesgeschichtlichen Individualismuskritik. Dabei knüpfte er einen satirischen Konnex zwischen dem modernen Subjektivismus und der literarischen Gattung der Autobiographie, die Rousseau prägte. In der Politischen Romantik tritt Rousseau als ein früher Kritiker des französischen Klassizismus und Vater des neueren „Mystizismus“ und der „Romantik“39 auf. Schmitt führt aus, dass Rousseau im Contrat social den alten Gott des Christentums 38  Dazu zuletzt Verf., „Die Austreibung des Heidelberger Geistes“. Carl Schmitt und der Heidelberger Rechtspositivismus, in: Manfred Gangl (Hg.), Die Weimarer Staatsdebatte: Diskurs- und Rezeptionsstrategien, Baden-Baden 2011, 127–157. 39  Dazu Carl Schmitt, Politische Romantik, 2. Aufl. München 1925, 36 ff. (hier: PR).



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durch den „neuen Demiurgen“ des Volkes entthront habe (PR 87) und das Volk „sentimentalisierte“ (PR 100); die Gegenrevolution habe sich deshalb zutreffend auch gegen Rousseau gerichtet (PR 154). Zusammenfassend schreibt Schmitt in der Politischen Romantik: „Rousseaus geschichtliche Bedeutung liegt darin, dass er Begriffe und Argumente des 18. Jahrhunderts romantisierte und sein Lyrismus kam der Revolution zugute, der siegreichen Strömung seiner Zeit.“ (PR 227) Weit ausführlicher analysiert Schmitt Rousseau dann 1921 in seiner Studie zur Diktatur. Auf zwölf Seiten seziert er hier die Konzeption des volonté générale messerscharf. Er betrachtet Rousseau als Vordenker der Jakobinerdiktatur und schreibt: „Aus dem widerspruchsvollen Buch läßt sich am besten zeigen, wie kritisch die Situation des kontinentalen Individualismus war und wo der Punkt ist, an dem er in den Staatsabsolutismus und seine Forderung der Freiheit in die des Terrors umschlägt.“40 Zunächst referiert Schmitt den liberalen Ansatz; er unterscheidet Rous­ seaus „Einigungsvertrag“ deutlich vom Unterwerfungsvertrag und meint, dass die „individualistische Ableitung“ zu einer „Umwandlung Frankreichs in den liberalen Bürgerstaat entscheidend“ (D 118) beitrug. Gegen diese liberale Wirkung stellt Schmitt dann aber die Jakobinische Lesart und erklärt Rousseau in der Engführung des kommissarischen Diktators mit dem Legislateur zu einem Vorläufer der Verklärung der souveränen Diktatur zur wahren Demokratie. In der Tradition des puritanisch-christlichen „Gerechtigkeitsnaturrechts“ habe Rousseau die volonté générale „an die Stelle des Souverains, des Leviathan“ (D 119) gesetzt und eine „unmittelbare Demokratie“ „unabhängig von der Regierungsform“ (D 122) begründet. Dabei formulierte er „zwei Arten von Diktatur, eine eigentliche, bei der die Gesetze schweigen und eine andere“ (D 124), „uneigentliche“: die souveräne Diktatur des Legislateurs und die kommissarische Diktatur. Schmitt schreibt: „Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassung­ gebenden Diktator zu konstituieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden.“ (D 129). Rousseau ist für Schmitt also der Vordenker der souveränen Diktatur. Wilfried Nippel widerlegte diese Auslegung jüngst historisch und führte sie auf eine Abhängigkeit von Theodor Mommsen zurück. In der ganzen Fran40  Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 1921, 2. Aufl. München 1928, 117 (hier: D).

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zösischen Revolution sei eine überwiegend pejorative Auffassung der Diktatur als polemischer Begriff „für eine illegitime Alleinherrschaft“41 vorherrschend geblieben. Wie so häufig zeige Schmitts Rousseau-Lektüre eine „Gemengelage aus Begriffsgeschichte und apodiktischer Setzung“.42 Das kennzeichnet Schmitts prinzipiell zuspitzende, normative und juristische Lesart treffend. Immerhin hatte Schmitt aber ein differenziertes RousseauBild. Er unterschied zwischen Rousseau und der Französischen Revolution sowie liberalen und demokratischen Elementen im Sozialkontrakt. Er hatte ein feines Gespür für die Verschiebungen im Gewaltengefüge, die Spannung zwischen der normativen Konstruktion eines demokratischen Legislativstaates und dem politischen Trend zum Exekutivstaat und der Suspension des demokratischen Ansatzes durch die exekutive Praxis. Aus der Gegenwart der Erfahrungen von Revolution und Bolschewismus witterte Schmitt 1921 den Jakobinismus in Rousseau. Dabei trat er mehr als Begriffsgeschichtler in systematischer Absicht denn als Rousseau-Forscher oder Historiker der Französischen Revolution auf. So berechtigt deshalb auch Nippels historische Bedenken sind, war Schmitts Analyse der exekutiven Lesart Rousseaus doch prägnant. Sein Rousseau war 1921 differenzierter und vielschichtiger als manche andere juristische Lesarten sonst. Seine Analyse des Contrat social ist hier nicht weiter zu prüfen. Es sollte aber klar geworden sein, dass die Ausführungen in der Diktatur eine Weichenstellung seiner Staatstheorie betreffen. Unverkennbar formuliert Schmitt dabei noch in den grundlegenden terminologischen Unterscheidungen seines Frühwerks über den Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen: den Unterscheidungen zwischen Recht und Staat, Macht und Recht, mittelbarer und „unmittelbarer“ Demokratie und Gerechtigkeit. Schmitt bestreitet die Möglichkeit einer liberalen Rezeption Rousseaus nicht, aber er betont die metajuristischen religiösen Motive. Sehr deutlich erklärt er Robespierre zu einem authentischen Ausleger Rousseaus. Seine späteren Unterscheidungen zwischen Normalund Ausnahmezustand, Legalität und unmittelbarer Gerechtigkeit und Legitimität klingen bereits an. Deutlich ist auch, dass Schmitt trotz seiner kritischen Akzente nicht die „liberale“ Alternative wählt oder eine Unterscheidung von Staat und Kirche revoziert. Wichtig ist, dass er Rousseau nicht auf eine Lesart verkürzt, sondern nur dessen Wirkung in die Französische Revolution gegen allzu billige Unterscheidungen verständlich machen und die säkularisierten religiösen Motive der volonté générale herausbringen will. 41  Wilfried Nippel, Carl Schmitts ‚kommissarische‘ und ‚souveräne Diktatur‘. Französische Revolution und römische Vorbilder, in: Harald Bluhm, Karsten Fischer u. Marcus Llanque (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, 105–139, hier: 128. 42  Ebd., 130.



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Seine späteren Bemerkungen zu Rousseau rekapitulieren im Wesentlichen die Analyse von 1921. So schreibt Schmitt 1926 in der Geistesgeschicht­ lichen Lage des heutigen Parlamentarismus: „Trotz aller Beschäftigung mit Rousseau und trotz der richtigen Erkenntnis, daß Rousseau am Anfang der modernen Demokratie steht, scheint man noch nicht bemerkt zu haben, daß schon die Staatskonstruktion des Contrat social diese beiden verschiedenen Elemente inkohärent nebeneinander enthält. Die Fassade ist liberal: Begründung der Rechtmäßigkeit des Staates auf freien Vertrag. Aber im weitern Verlauf der Darstellung und bei der Entwicklung des wesentlichen Begriffes, der volonté générale, zeigt sich, daß der wahre Staat nach Rousseau nur existiert, wo das Volk so homogen ist, daß im wesentlichen Einstimmigkeit herrscht.[…] Die volonté générale wie Rousseau sie konstruiert ist in Wahrheit Homogenität. Das ist wirklich konsequente Demokratie. Nach dem Contrat social beruht also der Staat, trotz des Titels und trotz der einleitenden Vertragskonstruktion, nicht auf Kontrakt[,] sondern wesentlich auf Homogenität. Aus ihr ergibt sich die demokratische Identität von Regierenden und Regierten.“43 In der Verfassungslehre heißt es 1928: „Durchführung des Prinzips der Identität bedeutet Tendenz zu einem Minimum von Regierung und persönlicher Führung. Je mehr dieses Prinzip sich durchsetzt, um so mehr vollzieht sich die Erledigung der politischen Angelegenheiten ‚von selbst‘, dank einem Maximum natürlich gegebener oder geschichtlich gewordener Homogenität. Das ist der Idealzustand einer Demokratie, wie ihn Rousseau im ‚Contrat social‘ voraussetzt. Man spricht hier von unmittel­ barer oder reiner Demokratie“ (VL 214 f.) Und Schmitt fügt hinzu: „Die Gefahr einer radikalen Durchführung des Prinzips der Identität liegt darin, daß die wesentliche Voraussetzung – substanzielle Gleichartigkeit des Volkes – fingiert wird.“ (VL 215) Diese und andere deutliche Worte dürfen nicht überlesen werden, wenn man über Schmitts Apologie des Führerstaates spricht. Schmitt glaubte nicht an Rousseaus „völlige Gleichartigkeit“, „Homogenität und Identität des Volkes“ (VL 229, vgl. 274). Er lehnte bekanntlich auch die „ ‚rousseauistische‘ These vom guten Menschen“44 als „anthropologisches Glaubensbekenntnis“ entschieden ab. Die knappe Analyse der wichtigsten Belegstellen ergibt den überraschenden Befund, dass Schmitt Rousseaus „Staatsabsolutismus“ kritisch sah und die vorpolitischen Homogenitätsvoraussetzungen nicht teilte. Nach der Verfassungslehre von 1928 zitierte er Rousseau deshalb auch kaum noch. Er konzentrierte seine Rousseau-Kritik auf den Kernbegriff der volonté générale. Eine eingehende Auseinandersetzung mit anderen Schriften findet sich nicht. Eine umfassen43  Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, 2. Aufl. München 1926, 19. 44  Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, Berlin 3. Aufl. 1979, 73.

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dere Rousseau-Interpretation interessierte ihn nicht, zumal er Rousseau als „romantischen Deisten“45 auch religiös ablehnte. Schmitt berief sich für seine Begriffe vom Führerstaat und Führer nicht offensiv und buchstäblich auf Rousseau als Vordenker der souveränen Diktatur. Er berief sich auch nicht auf Max Webers charismatischen Führerstaat. Strukturell aber gaben Rousseau und Weber ihm die Begriffe vor. Will man die Anteile weiter sortieren, ist die herrschaftssoziologische Beobachterperspektive Webers von Rousseaus „naturrechtlicher“ und philosophischer Teilnehmerperspektive zu unterscheiden. Soweit Schmitt als Jurist nur die herrschende Legitimität untersuchte, sprach er letztlich herrschaftssoziologisch. Soweit er aber apologetisch sprach, stellte er sich in naturrechtliche Traditionen. Die Referenz an Rousseau repräsentiert also den Mehrwert des Naturrechts gegenüber der Herrschaftssoziologie. Schmitt brauchte Rousseau. Er konnte ihn nicht gänzlich durch Webers charismatischen Führerstaat ersetzen, weil nur Rousseau als Naturrechtler für die juristische Apologie und Teilnehmerperspektive stand. 1934 rückte Schmitt den „Führer“ in die extrakontitutionelle Rolle des Législateurs und erklärte ihn ausdrücklich zum obersten „Gerichtsherrn“:46 „Der Führer schützt das Recht kraft seines Führertums vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft […] In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. Es war nicht die Aktion eines republikanischen Diktators, der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollendete Tatsachen schafft […] Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes.“47 Wenn Schmitt den Führer hier vom kommissarischen Diktator ausdrücklich unterscheidet, zitiert er die souveräne Diktatur herbei, die Rousseau als Fusion des Legislators mit dem exekutiven Diktator visioniert hatte. Mit dem „Lebensrecht des Volkes“ klingt auch ein naturrechtlicher Anspruch an. Schmitts Formulierung ist deshalb eher mit Rousseau als mit Weber zu haben. Schmitt denkt damals weiter in der doppelten Optik des Normal- und des Ausnahmezustandes, der „Zeiten der Mittelbarkeit“ und apokalyptischer „Unmittelbarkeit“. Im Frühjahr 1934 sprach er noch von der Mittelbarkeit des Rechts und glaubte an die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus; nach dem 30. Juni 1934 sah er sich dann in apokalyptischen Zeiten 45  Carl

Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, 214 f. (hier: VL). statt weiterer Belege nur Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, 1934 (PB 199–203). 47  Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht, 1934, in: ders., Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, 200. 46  Dazu



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und überantwortete das „unmittelbare“ Recht an den souveränen Diktator. Schmitts Führerstaat entspricht der souveränen Diktatur der Einheit von Exekutive und Legislative. Seine frühe Rousseau-Analyse ist deshalb ein Schlüssel zur späteren Konstruktion des „totalen“ Staates und eine zentrale Quelle für ein differenziertes Verständnis der rousseauistischen Lesart des Modells vom charismatischen Führerstaat. Max Weber beschrieb als Soziologe nur, was Rousseau naturrechtlich legitimierte. Über Webers Deskription hinausgehend blieb Rousseau deshalb für Schmitt als Referenz wichtig. Zwar kann ausgeschlossen werden, dass Schmitt 1933 seine nüchternen Warnungen vor der politischen Manipulierung und Fiktion des Volkswillens vergaß. Er konnte im Rahmen seiner Verfassungslehre nicht über die diskriminierenden Kosten des Nationalsozialismus hinwegsehen. Dennoch überhöhte er den Führerwillen apologetisch zum Volkswillen. Schmitt glaubte nicht ernstlich an die religiöse Legitimierung des Führerstaats, an Hitlers legitime Vereinigung des Legislators mit dem Diktator. Rousseau und Weber gaben ihm zwar die Begriffe für seine Apologie des Nationalsozialismus vor. Formelhaft vereinfacht gesprochen, betrachtete Schmitt den Nationalsozialismus aber mit Weber nur herrschaftssoziologisch und konstatierte aus der Beobachterperspektive eine Massenloyalität im Volk, obgleich er darüber hinaus mit Rousseau auch in legitimatorischer Absicht von einer „unmittelbaren Gerechtigkeit“ sprach. In der Sprache der Aufklärung stellte er sich damit auf den Standpunkt eines bewussten „Priesterbetrugs“; er fingierte die religiöse Weihe des Führerstaats, an die er nicht glaubte, weil die Massen daran glaubten. Was den Massen eine Religion war, betrachtete er zivilreligiös als eine Religion des Als-Ob: als den totalitären Führerstaat. III. Vom Dementi der Theorie durch das Leben: Jean-Jacques gegen Rousseau, Carl gegen Schmitt Schmitt zitierte Rousseau nach 1928 kaum noch. Er erörterte ihn auch in seinen beiden größeren Aufsätzen Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes und Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten nicht. Rousseau fällt aus Schmitts Verfassungsgeschichte heraus. Schmitt erzählt die Geschichte der Demokratisierung der deutschen Staatsrechtslehre ohne Rousseau. Ins Glossarium notiert er am 11. November 1948: „Rousseau macht den Leviathan zum Kaninchen mit Gift im Schwanz“.48 Schmitt meint hier vielleicht das Gift der souveränen Diktatur. Später nennt er ihn einen „Mystiker des Mitleids“.49 Im Nomos der Erde finden sich wenige eigenwillige Bemerkungen. Schmitt zitiert aus dem Con48  Carl

Schmitt, Glossarium, hrsg. Eberhard von Medem, Berlin 1991, 207. 284.

49  Ebd.,

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trat social den Satz: „La guerre est une relation d’État à État“.50 Durch ein Wortspiel der Groß- und Kleinschreibung schließe Rousseau vom Krieg als Zustand auf den Staatenkrieg und fingiere so am Beginn des nationalistischen Zeitalters noch einmal den Krieg als Staatenkrieg. „Eine tragische Ironie liegt darin, daß gerade dieser Contrat social Rousseaus mit seinem rein staatlichen Kriegsbegriff zur Bibel der Jacobiner wurde“, schreibt Schmitt. Anders als früher unterscheidet er nun zwischen Rousseau und den Jakobinern. Seine eher beiläufige Thematisierung ist im Rahmen seiner Geschichte der Entstaatlichung des Krieges aber eher illustrativ gemeint. Auch in Schmitts Briefwechseln begegnet Rousseau nur marginal. Umso mehr überrascht es, dass Schmitt am 29. Juni 1962 in einer Schweizer Wochenzeitung, der Zürcher Woche, einen – heute fast unbekannten – Jubiläumsartikel zum 250. Geburtstag veröffentlichte.51 Ähnliches tat er nur bei Machiavelli und Hobbes. Der sperrige Artikel verknüpft aktuelle Neuerscheinungen zur „Gestalt“ des Partisanen mit Ausführungen zur neueren Rousseau-Literatur. Schmitt entnimmt hier dem Buch eines befreundeten Publizisten (Rolf Schroers) zwei Aspekte, die er auf Rousseau anwendet: die Rede vom Partisanen als „letzten Menschen“ und die Frage nach dem „interessierten Dritten“. Schmitt schreibt: „Mit seinem verzweifelten Widerstand gegen die künstliche Zivilisation seiner Zeit gerät Rousseau in die Rolle des letzten Menschen. Aber zugleich gerät er[,] wie jeder Partisan, in die ganz anders gearteten, ideologischen Systeme interessierter Dritter, die ihn für sich vereinnahmen und, bald taktisch, bald strategisch, für sich einsetzen. So entsteht das Labyrinth phantastischer Widersprüche, in dem das echte Bild Rousseaus verschwindet.“ Der „wahre Rousseau“ sei dagegen nur im frischen Rückgang auf die Texte zu finden. Schmitt rekapituliert als Fazit neuester Forschung: „Rousseau war nicht nur kein Revolutionär, er hielt vielmehr die Revolution für sinnlos und für ein großes Unheil. Er sah den Fortschritt von Handel und Industrie, aber er hielt auch diesen Fortschritt für ein grosses Unglück. Freiheit und Gleichheit gibt es für ihn nur in kleinen, bescheidenen, homogenen Gebilden; alles andere ist Illusion und Betrug.“ „Das ist der wahre Rousseau“, merkt Schmitt an und prognostiziert neue ideologische Verbiegungen durch interessierte Dritte. Sein Artikel schließt mit einem persönlichen Anruf: „Viel Glück, Johann Jakob, zu deinem 250. Geburtstag und deinen vielen neuen interessierten Dritten“. Ein Jahr vor Erscheinen der Theorie des Partisanen identifiziert Schmitt sich also mit Rousseau als Partisan und „letztem Menschen“. Überraschend spielt er den „wahren Johann Jakob Rousseau“ nun gegen das „Labyrinth“ 50  Carl

Schmitt, Der Nomos der Erde, Köln 1950, 122. Schmitt, Dem wahren Johann Jakob Rousseau. Zum 28. Juni 1962, in: Zürcher Woche Jg. 14 Nr. 26 vom 29. Juni 1962. 51  Carl



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der Rezeptionen aus und verteidigt sich so gegen den Vorwurf, ein „Vater des Totalitarismus“ gewesen zu sein. Sein Artikel ist schon deshalb enttäuschend, weil er die Intentionen des Autors gegen den Text ausspielt, an dem Schmitt früher allein interessiert war: gegen die volonté générale als Theorie der souveränen Diktatur. Diese Theorie wird durch gegenläufige Inten­ tionen des Autors nicht gerettet. Schmitt fordert 1962 aber nun dazu auf, den Autor jenseits des Labyrinths der Rezeptionen zu sehen. Wenn er Rousseau dabei intimisierend als „Johann Jakob“ anspricht, zitiert er eine autobiographische Spätschrift herbei: Rousseau juge de JeanJacques (1780). Auch Schmitts Werk lässt sich als ein Prozess betrachten, den der Autor sich und seiner Zeit machte. Der Prozess Carl gegen Schmitt ist der älteste Topos der Schmitt-Kritik. Stets wurde Schmitts Romantikkritik gegen ihn gewendet: so schon von Johannes Kirschweng und Carl Löwith.52 Wenn der alte Carl Schmitt den „armen“ Johann Jakob nun als Partisanen und letzten Menschen beschreibt, legt er einen identifikatorischen Vergleich nahe. In seiner Spätschrift verteidigte Rousseau sich gegen die öffentliche Denunziation seines „Charakters“53 und bestand auf seiner rechtstaatlichen Anhörung und gerichtlichen „Formalitäten“.54 Ähnlich sah Schmitt sich nach 1945 als „outlaw“ und „Sündenbock“ diffamiert und diskriminiert. Rousseau sprach als Apologet seiner selbst.55 Seine Apologetik zielte auf die Korrektur öffentlicher Verdammung und Anerkennung seiner personalen Integrität und Individualität. Schmitt zielte ebenfalls auf die Korrektur öffentlicher Ausgrenzung und Diffamierung als „Unmensch“ und „Sündenbock“. Ähnlich wie Rousseau unterließ er eine detaillierte Erklärung seiner historischen Motive und Rolle. Er legte aber nahe, dass sein nationalsozialistischer „Fall“ ähnlich wie Rousseau betrachtet werden muss und von plattem Totalitarismus nicht zu sprechen ist. Wenn Schmitt seine Apologie des nationalsozialistischen Führerstaates buchstäblich auch nicht offensiv mit der Referenz an Rousseau verband, akzeptierte er 1962 mit diesem Artikel doch die – etwa durch Ernst Fraenkel geläufige – Verbindung von Schmitt mit Rousseau. Seine autobiographische Identifikation trägt apologe52  Wiederabdruck von Kirschwengs Artikel in: Verf. (zusammen mit Ellen Thümmler) (Hg.), „Machen Sie mir die Freude und erwähnen Sie die Negerplastik“. Waldemar Gurian – Carl Schmitt. Briefwechsel 1924–1932, in: Schmittiana. Neue Folge 1 (2011), 59–111, hier: 108–110; Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, 1935, erweitert in: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, 93–126. 53  Jean-Jacques Rousseau, Rousseau richtet über Jean-Jacques, in: ders., Schriften, hrsg. Henning Ritter, München 1978, Bd. II, 346. 54  Rousseau, Rousseau richtet über Jean-Jacques, 335. 55  Dazu vgl. Heinrich Meier, Rousseau über das philosophische Leben, München 2005 (Themenheft 82 der Siemens-Stiftung), 55 ff.; eingehender jetzt ders., Über das Glück des philosophischen Lebens, München 2011, 45 ff.

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tische Züge. Wenn Plettenberg dabei entfernt mit Ermenonville vergleichbar ist, so unterschied sich Schmitts politische Biographie in Berlin doch von derjenigen Rousseaus sehr. Robespierre kam zu Rousseau, Schmitt aber suchte und fand den Zugang zum Machthaber. Ein reiner Theoretiker war er nicht. Eine strikte Trennung seiner „Lehre“ von den politischen Motiven ist nicht möglich. Immerhin liegt in der Unterscheidung zwischen der ­Theorie und ihren Motiven auch eine faktische Anerkennung der Theorie als solcher. Schmitt bestreitet 1962 nicht, was nicht zu bestreiten war: seine Apologie der souveränen Diktatur. Die Wendung von der Theorie zum Autor gehört zum üblichen historisierenden Umgang mit einem „Klassiker“. Rousseau interessiert uns heute als Autor nicht nur wegen des Contrat social oder etwa der frühen Wissenschafts- und Eigentumskritik. Das Erbe der Aufklärung ist der individuelle Autonomieanspruch.56 Auch in den Widersprüchen und Problemen des Werkes repräsentiert uns der Autor die Schwellenzeit des späten 18. Jahrhunderts: den Umbruch von der höfischen Adelsgesellschaft in die bürgerliche Gesellschaft. Gerade der Individualismus des armen Jean-Jacques erscheint uns heute aktuell. Der „wahre“ Johann Jakob beweist den Grundfehler einer antiliberalen Demokratie. Ähnlich dementierte Schmitt mit seinem kapriziösen Leben den Grundfehler seiner Trennung von Liberalismus und Demokratie eigentlich. Der Terror schlug als biographische Erfahrung auf den Staatsrat zurück. Schmitt musste erleben, dass der Führerstaat auch vor seinen kooperierenden Eliten nicht Halt machte und er die Grenzen des Über- und Untermenschentums nicht nach dem souveränen Dünkel des „Staatsrats“ zog. Jean-Jacques und Rousseau, Carl und Schmitt ergeben beide zusammengenommen erst den Ausgangspunkt für ein menschenrechtlich vertretbares, liberaldemokratisches Denken.

56  Dazu etwa die Arbeiten von Hasso Hofmann in ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, Tübingen 1995, 3–72.

Rousseauinterpretationen in der Nachkriegspolitikwissenschaft Von Frank Schale I. Antinomien der politischen Philosophie Rousseaus Wenn im Folgenden die Rousseaulektüre der politikwissenschaftlichen Gründungsväter nach dem Zweiten Weltkrieg erörtert werden soll, so steht hier nicht die peinliche Befragung der jungen Disziplin, ob sie dem Enfant terrible aus Genf gerecht geworden ist, sondern ihr zentrales Anliegen im Mittelpunkt, eine demokratietheoretische Tradition zu begründen, die zugleich das Ideal der Selbstgesetzgebung nicht überstrapaziert. Den zurückgekehrten Emigranten musste jede demokratische Utopie angesichts der Präsenz des totalen Staates, der wahrgenommenen politischen Indifferenz im „motorisierten Biedermeier“1 der Nachkriegsgesellschaft sowie des Verlustes staatlicher Souveränität suspekt erscheinen. Die Rousseaurezeption konnte keine wertneutral distanzierte Analyse bleiben. Sie war vielmehr ein Projektionsfeld akademischer und politischer Sozialisations­erfahrungen sowie theoriestrategischer Überzeichnungen, die einer ausgewogenen Deutung entgegenstanden. Es überrascht daher kaum, dass erst Ende der fünfziger Jahre mit Iring Fetscher als Vertreter der zweiten Generation der bundesdeutschen Politikwissenschaft ein nüchterneres Rousseaubild formuliert werden konnte. Indes setzt jede ideengeschichtliche Darstellung von Rezeptionslinien klassischer Autoren immer ein eigenes Verständnis des Gegenstandes voraus. Den folgenden Ausführungen liegen drei Prämissen zugrunde. Es ist erstens eine gerade in der Politikwissenschaft nicht wenig verbreitete Fehleinschätzung, Rousseau habe eine explizit politische Philosophie entwickelt. Doch selbst sein für zahllose politische Revolutionäre fulminanter Satz – „L’homme est né libre et partout il est dans les fers“ – ist bei genauer Betrachtung weniger eine Anklage an das Ancien Régime denn eine Kulturkritik gegen den Prozess der Zivilisation. Insgesamt enthält der Gesellschaftsvertrag – wegen seiner religiösen Thesen verboten – nur wenige 1  Kästner, Erich: Heinrich Heine und wir, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt am Main 1958, S. 530.

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fassbare politische Forderungen und dort, wo er konkret wird, folgt Rousseau entweder ähnlichen Vorschlägen seiner Zeitgenossen oder bekennt sich zur Rückkehr zu den Traditionen des jeweiligen Landes. Rousseau hat zweitens auch keine in sich geschlossene Philosophie vorgelegt. Zwar legen dies wichtige Rousseauinterpretationen (Ernst Cassirer und Jean Starobinkski) nahe, jedoch war ihnen dies nur durch die Konzession möglich, dass sie das Zentrum seiner Philosophie selbst nicht im Politischen fanden.2 Wenn jedoch Starobinski ausführt, dass der „rational verbrämte Diskurs [der Rousseauschen Schriften] seinen Ursprung in einem Zustand irrationaler Angst [hat], welche das Bewusstsein zu überwinden trachtet,“3 dann kann man nicht mehr von einer geschlossenen Philosophie sprechen – jedenfalls wenn Philosophie als rationales Argumentieren verstanden wird. „Für jede rousseauistische Verirrung gibt es auch eine rousseauistische Kritik.“ 4 Aufgrund der – nicht zuletzt von Rousseau selbst stilisierten – Parado­xien wird drittens auch das Bahnbrechende in Rousseaus Denken nicht leicht deutlich. Schließlich argumentiert er nicht von einem zentralen Axiom ausgehend, sondern vermischt bestimmte Traditionen und Erkenntnisse, ohne viel Wert auf Konsistenz und Systematik zu legen. Wo solche Diskrepanzen allzu deutlich werden, erklärt sie das Enfant terrible entweder zu den Widersprüchen seiner Zeit oder als Ausdruck menschlicher Zerrissenheit von Leidenschaft (passion) und Vernunft (raison). Manche Interpretationen deuten daher die Paradoxien Rousseaus auch weniger als Inkonsequenz denn als bewusste Methode.5 Es überrascht nicht, dass sich in Rousseaus politischen Texten Elemente finden lassen, die kaum vereinbar sind: Sein Plädoyer für eine auf Autonomie basierende Ordnung, die allein die Volkssouveränität als Legitimationsgrund anerkennt, ist radikaldemokratisch. Die Verteidigung des staatsbürgerschaftlichen Bewusstseins und die Hochachtung des Patriotismus basiert auf einem Republikanismus. Damit verbunden, jedoch getrennt, findet sich eine traditionalistische Apologie der Sitten und Bräuche eines jeden Volkes, denen im Vergleich zu abstrakten Rechtskonstruktionen stets die volle 2  Cassirer, Ernst: Das Problem Jean-Jacques Rousseau, in: ders.  /  Starobinski, Jean  /  Darnton, Robert: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt am Main 1989; Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt am Main 2003. 3  Starobinski, Jean: Rousseaus Anklage der Gesellschaft, Konstanz 1977, S. 29. 4  Spaemann, Robert: Rousseau – Mensch oder Bürger, Stuttgart 2008, S. 17. 5  Vgl. Jaumann, Herbert: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven, in: ders.: (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin / New York 1995, S. 1–22, insb. S. 15–22.



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­ utorität zukommt. Die angewandten Herrschaftsmethoden für diese sittliA che Gemeinschaft der Freien sind jedoch durchaus diktatorisch, ja erinnern manchen an totalitäre Maßnahmen. Und schließlich findet sich in seinen Schriften ein utopisch-unpolitisches Ideal, das den Rückzug von der Gesellschaft und ihren Kontroversen empfiehlt. In Rousseaus idealer Stadt gibt es keine politischen Konflikte mehr. Innovativ in diesem Sammelsurium an Begründungsstrategien und Kritik politischer Herrschaft ist die Legitimation aus der Autonomie des Einzelnen.6 Der fundamentale Wert der rousseauischen Staatsbegründung beruht auf seiner These, dass sich der Staat weder aus empirischen oder naturrechtlichen Annahmen noch aus Nützlichkeitserwägungen legitimieren lässt, sondern seine Normativität allein aus der Freiheit des Einzelnen gewinnt. Dies hat bekanntlich Kant „zurecht gebracht“. Jedoch sah er sehr deutlich – und verschweigt es geflissentlich –, dass Rousseau selbst gegen seine normative Begründung des Staates aus der Autonomie verstößt und sich in metaphysischen Spekulationen, Traditionalismen, Nützlichkeitserwägungen oder Geschichtsanalogien verliert, weshalb er ihn auch an einer eher unauffälligen Stelle trotz aller Sympathie als einen gutmütigen Moralisten kennzeichnet.7 Aufgrund der Antinomien in Rousseaus Schriften kann es daher kein Vorwurf sein, dass ihm die bundesdeutschen Nachkriegspolitologen nicht gerecht geworden sind. Vielmehr ist bedeutsam, wieso sie bestimmte Aspekte seines politischen Denkens nicht und andere Stellen überdeutlich wahrgenommen haben. II. Zur politischen Rousseaurezeption in Deutschland Selbstverständlich ist es unmöglich, hier auch nur einen Überblick über die Rezeption Rousseaus in Deutschland zu geben. Dies liegt nicht nur am schier endlosen Material, sondern auch an der weitgehend verdeckten Aufnahme seiner politischen Ideen in Literatur, Philosophie und Pädagogik, die jedoch zunächst eine direkte politische Stoßrichtung eher vermied.8 Nach6  Cassirer, Ernst: Kant und Rousseau, in: ders.: Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg 1991, S. 3–61. 7  Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. 8, S. 666. 8  Wuthenow, Ralph-Rainer: Rousseau im „Sturm und Drang“, in: Hinck, Walter (Hg.): Sturm und Drang, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 14–54, Zur frühen Rezeption gibt es einige ältere Überblicksdarstellungen: Fester, Richard: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Idealismus, Stuttgart, 1890; Weißel, Bernhard: Von wem die Gewalt in den Staaten herrührt. Beiträge zu den Auswirkungen der Staats- und Gesellschaftsauffassungen Rousseaus auf Deutschland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963;

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dem sich Robespierre und die Jakobiner zu Rousseau als Säulenheiligen der Revolution bekannten,9 verlief die politische Rezeption in vorgezeichneten Bahnen: Rousseau war der Wegbereiter von Umsturz und Terror. Während ihn die in Deutschland weitgehend marginalisierte freiheitlich-radikaldemokratische Bewegung kurzfristig als Revolutionär feierte, war es das rebellische Pathos, das eine positive Aufnahme verhinderte. Dies lässt sich gerade an Fichte, Hegel und den Romantikern zeigen, deren anfängliche Begeisterung für die Französische Revolution zunächst den politischen Rousseau einschloss, um bald nur noch den empfindsamen Schriftsteller, den Moralisten, den Nationalisten und einsamen Spaziergänger gelten zu lassen. Es finden sich nur wenige positive Stimmen zu Rousseaus politischem Denken. Natürlich bekannten sich die linken Revolutionäre, allen voran Karl Marx, zum Genfer Philosophen, der sich für ihn von „jedem Scheinkompromiss mit den bestehenden Gewalten stets fernhielt“10. Rousseau erscheint als der jede Gesellschaftsordnung radikal in Frage stellende Revolutionär, der erkannt habe, dass die wesentliche Frage der Gesellschaft, nämlich nach den Eigentumsverhältnissen, zwangsläufig in Konflikt zur Demokratie gerät. Letztlich ist es der im Zweiten Diskurs konstruierte Gegensatz von Bourgeois und Citoyen, der diese Begeisterung begründet und all seine anderen Äußerungen überstrahlt. Es ist bemerkenswert, dass Rousseaus Betonung der Autonomie in marxistischen Interpretation ebenso wenig positive Würdigung findet wie bei dessen schärfsten Gegnern. Diese erkennen in ihm den Vorboten einer Diktatur des Pöbels, wobei dieser Vorwurf nicht allein auf konservative Autoren beschränkt bleibt, sondern auch bei Liberalen und Demokraten zu finden ist. Es ist jedenfalls bezeichnend, dass die Vertreter der 1848er Revolution ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihm haben. So bekennt sich etwa Friedrich Christoph Dahlmann zwar zum Prinzip der Volkssouveränität, nur wird dieser gleich wieder die politische Spitze abgebrochen, indem er Rousseau vorwirft, dieser habe durch die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Regierung und Regierten das einigende Band des Volkes zerstört, dem Staat letztlich den Kopf abgeschlagen und die Herrschaft der „Rotte“ Süßenberger, Claus: Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution, Bern / Frankfurt 1974. 9  Zum häufig missverstandenen Verhältnis von Rousseau zur Französischen Revolution: Furet, François: Jean-Jacques Rousseau und die Französische Revolution, Wien 1994; Manin, Bernard: Rousseau, in: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Band II, Frankfurt am Main 1996, S. 1308–1331. 10  Karl Marx: Über P. J. Proudhon, in: Marx, Karl  / Engels, Friedrich: Werke, Band 16, 6. Aufl. Berlin 1975, S. 25–32, S. 32; Marx hatte den Gesellschaftsvertrag ausführlich exzerpiert: Vgl. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Gesamtausgabe, Bd. IV, 2, Berlin 1981, S. 91–101.



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begründet.11 So tritt an die Stelle demokratischer Partizipation im Sinne menschenrechtlich garantierter politischer Autonomie der Fortschritt der wohlgeordneten, fürsorglichen und genossenschaftlichen Autorität des Staates. Diese Argumentation findet sich auch bei Karl von Rotteck wieder, der den Gedanken der direkten Demokratie zugunsten der Repräsentation aufgibt, um schließlich – den aufgeklärten Fürsten ebenso vor Augen wie die drohenden revolutionäre Anarchie – für die konstitutionelle Monarchie zu votieren.12 Von hier aus ist es kein großer Schritt zu den legitimistischen Gegnern der Demokratisierung und Parlamentarisierung: So spricht etwa auch Friedrich Julius Stahl vom Volkswohl als sittlichem Prinzip eines jeden Staates, wodurch das Volk zum „Mitträger und Mitbürge des sittlichen Reiches“13 aufsteige. Und wie Naumann – zweifellos dezidierter – fügt er umgehend hinzu, dass diese Wertschätzung nur die Anerkennung des Volkes als politischen Faktor meine. Volkssouveränität als Legitimation wird entschieden abgelehnt: Ein Gesetz erhält nur durch höhere Weihen als der Autonomie des Einzelnen seinen sittlichen und verbindlichen Charakter, während die Lehre von der Volkssouveränität auf „ein Recht beliebiger Empörung“14 hinausläuft. Souveränität und freiheitliche Demokratie passen nicht zusammen; Rousseaus Staatstheorie sei nicht nur anarchistisch und staatsgefährdend, sondern, da dem Staat ein höherer Wert zugesprochen wird, auch amoralisch. Rousseaus Legitimation des Staates aus der Autonomie des Einzelnen ist es, wogegen sich auch die herrschende Lehre der Staatswissenschaft wendet. So insistiert etwa Johann Caspar Bluntschli: „Eine Summe von Individuen ist niemals und kann gar nicht eine Einheit sein, so wenig als aus dem Haufen Sandkörner eine Statue wird.“15 Und fast in gleicher Wortwahl bei Laband: „Rousseau geht von einem falschen Begriffe des Volkes aus; für ihn ist das Volk nur ein Aggregat von Individuen, nur eine Vielheit von einzelnen Menschen, während das Volk eine Persönlichkeit für sich hat, eine Einheit für sich ist. Ein Haufen Sandkörner ist kein Fels, eine Menge 11  Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, Frankfurt am Main / Leipzig 1997, S.  158 f. 12  Rotteck, Karl von: Monarchie, in: ders.  / Welcker, Carl: Das Staats-Lexikon, Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 9, Altona 1847, S. 161–174, S. 167 f. 13  Stahl, Friedrich Julius: Die Staatslehre und die Principien des Staatsrechts. Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 3. Aufl., Heidelberg 1856, S. 538. 14  Ebenda, S.  551 f. 15  Bluntschli, Johann Caspar: Geschichte der neueren Staatswissenschaft, 2. Neudruck der 3. Aufl., Aalen 1990, S. 348; vgl. auch S. 355.

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von Atomen kein Kristall. Das Volk ist die durch die Natur, durch die Weltordnung gegebene Einheit, der die Einzelnen ohne ihren Willen und ohne ihr Zuthun angehören.“16 Im Zentrum steht der immer gleiche Vorwurf: Jede individualistische Begründung unterminiere die Souveränität des Staates. Selbst Autoren wie Gierke, die Volksouveränität prinzipiell akzeptieren, stellen der freiheitlichen Legitimation die Notwendigkeit einer Herrschersouveränität entgegen, ohne die die permanente Revolution drohe.17 Sofern sich positiv auf Rousseau bezogen wird, so ist es vor allem die Betonung der Nation und des Völkischen gegenüber einer als technisch empfundenen Staatslehre. Die von Herder und Fichte stammende Interpretation des Gemeinwillens als Nation18 findet durchaus Zustimmung. So sehen etwa Stahl, Treitschke und Gierke durchaus, dass der Begriff der volonté générale etwas Überindividuelles meint und nicht mit der volonté de tous verwechselt werden dürfe.19 Da die Nation vorpolitisch-kulturell oder biologisch, nicht aber politisch gedeutet wurde, war damit der polemischen Pointe die Brisanz genommen. Von hier ist es nicht weit zur entpolitisierten Lesart Rousseaus durch Rudolf Stammler. Die volonté générale ist für ihn allein die „das Wohl aller denkbaren Menschen“20 anvisierende Rechtsidee, die zwar die Gemeinschaft von frei wollenden Menschen zum sozialen Ideal erhebt, aber jede konkrete politische Forderung nach ihrer objektiven Richtigkeit befragt und damit letztlich das Gemeinwohl des Ganzen gegen jede politische Partizipation ausspielt. Die Verbindung von Individualismus und Nationalismus als Charakteristikum der politischen Theorie Rousseaus hebt auch Hermann Heller hervor. In ihm glaubt er, das „positive Ideal des Machtstaates“21 zu erkennen, um jedoch mit Bedauern hinzuzufügen, dass die individualistische Begründung jenes Machtstaates die volle Entfaltung des sittlichen Nationalstaates auf16  Laband,

Paul: Staatsrechtliche Vorlesungen, Berlin 2004, S. 88. Gierke, Otto Friedrich von: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 2. Ausg., Breslau 1902, S. 201–210. 18  Nübel, Birgit: Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ bei Rousseau und Herder, in: Otto, Regine (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996, S. 97–111; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Die Freiheit, der Wille, das Absolute. Fichte als Aus-denker Rousseaus, in: Jaumann, Herbert (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin / New York 1995, S. 197–219. 19  Vgl. Treitschke, Heinrich von: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin Bd. 1, Leipzig 1897, S. 27. 20  Stammler, Rudolf: Begriff und Bedeutung der volonté générale bei Rousseau (1912), in: ders.: Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd. 1, Charlottenburg 1923, S. 379. 21  Heller, Hermann: Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leiden 1971, S. 21–240, S. 31. 17  Vgl.



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grund seiner rationalen Atomisierung und ethischen Machtfeindlichkeit behindere. Obwohl Heller die Gefahr der Überbewertung der volonté générale als vorpolitische Einheit durchaus bemerkt, indem er den völkischen Antisemitismus als nationalen Rousseauismus und als „Feudalisierung des liberal-demokratisch saturierten Bürgers“22 erkennt, sind es gerade dessen Betonung von Nation und souveräner Willenseinheit, die Heller an Rousseau befürwortet!23 Es sind die gleichen Argumente, die Carl Schmitt zu seiner einzigartigen Lobpreisung bringen: Wahre Demokratie ist für ihn Volksherrschaft, das Volk jedoch gekennzeichnet durch seine „völlige Gleichartigkeit“.24 Er interpretiert den Gemeinwillen als vorpolitische homogene Sphäre, um mit dem Schlagwort von der Identität der Herrschenden und Beherrschten (die bei Schmitt nur durch Akklamation herbeigeführt werden kann) den Parlamentarismus als zersetzende Erosion des Volkswillens zu verabschieden. So überraschend das strategische Bekenntnis eines Konservativen zu Rousseau sein mag, indem Schmitt die freiheitliche Pointe des Gesellschaftsvertrages übergeht, folgt er letztlich der üblichen Interpretation des 19. Jahrhunderts, nur dass er im Kampf gegen den Parlamentarismus Nation und Demokratie rhetorisch miteinander verschmilzt. Auch er jagt das Schreckgespenst des Atomismus. Dieser Deutung haben sich nur wenige entgegengestemmt: Während Rousseau bisher für seinen Individualismus getadelt und in der nationalistischen Interpretation des Gemeinwillens respektiert wurde, dreht Hugo Preuß das Argument um, indem er in dessen radikaldemokratischer Lehre etwas Unpolitisches erkennt. Die einseitige Betonung des Volkes als jeder Politik vorgeordnete volonté générale ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf politische Teilhabe. Diese sei realistisch nur im parlamentarischen Verfassungsstaat gegeben, während die Zentrierung politischen Denkens um die Einheit des Volkes zwangsläufig in den verkehrten Obrigkeitsstaat führt.25 Der von Preuß formulierte Konflikt zwischen pluralistischer und identitärer Demokratie findet sich auch in der Demokratietheorie von Hans Kelsen wieder, der seine anfängliche Rousseaubegeisterung in der zweiten Auflage in Vom Wesen und Wert der Demokratie unauffällig aufgibt.26 Bemerkenswert ist, dass auch Hel22  Heller, Hermann: Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leiden 1971, S. 267–412, S. 372. 23  Vgl. Heller, Hermann: Die Souveränität, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 31–202, S. 129. 24  Schmitt, Carl: Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 229. 25  Vgl. Preuß, Hugo: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1928, S. 246. 26  Vgl. Groh, Kathrin: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, Tübingen 2010, S. 132 f.

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ler diese gegen Schmitt gerichteten Argumente später aufgreift und von seiner frühen Rousseauinterpretation abweicht. Jedenfalls insistiert er in der Staatslehre deutlich gegen Rousseau, dass dessen Identifizierung von Nation und Volk einen apriorischen Gemeinschaftsbegriff impliziere, der zur kollektivistischen Metaphysik führt.27 Was Heller an Rousseau noch 1921 schätzte, wird nun zum Hauptvorwurf: Die volonté générale impliziert eine apolitische Homogenität, die weniger begründbar denn spekulativ erkauft wird. So bedenkenswert diese Ansätze gerade im Licht der Nachkriegslektüre Rousseaus auch erscheinen, auch sie zeigen weniger Interesse an dessen eigentlicher Frage, eine politische Form zu finden, die Sicherheit und Autonomie gewährleistet. Stattdessen übernehmen sie unter umgedrehten Vorzeichen das Rousseaubild des 19. Jahrhunderts. III. Rousseau in der deutschen Nachkriegspolitikwissenschaft 1. Jacob Leib Talmon Dass die Entstehung und der zeitweilige Erfolg terroristischer Systeme im 20. Jahrhundert nach ideengeschichtlicher Sinngebung verlangt, mag aufgrund des immensen ideologisch-deklamatorischen Charakters totalitärer Regime naheliegend sein. Jedenfalls kommt kaum eine der Totalitarismus­ theorien ohne ideengeschichtliche Verweise aus. Man denke an Hellers ­Faschismusbuch, Voegelins Politische Religionen, Fraenkels Doppelstaat, Neumanns Behemoth, Cassirers Mythus des Staates, Ritters Die Dämonie der Macht, Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Meinecks Die deutsche Katastrophe, Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Strauss’ Über die Tyrannis oder auch an die Studien von Horkheimer, Marcuse und anderen Kritischen Theoretikern. Aufschlussreich ist, dass mit der ideengeschichtlichen Deutung auch wechselseitige individuelle Verantwortung für jene totalitären Systeme zugewiesen wurde: Platon, Machiavelli, Luther, Hobbes, Kant, Hegel, Marx, Kelsen und natürlich Rousseau.28 Blickt man auf die herrschende deutsche Rousseaurezeption bis ins 20. Jahrhundert hinein zurück, so mag dessen Aufnahme in die Liste der Bösewichte der Demokratiegeschichte vielleicht seltsam erscheinen: Immerhin steht der immergleiche Vorwurf der atomistischen Staatszersetzung 27  Vgl. Heller, Hermann: Staatslehre, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Leiden 1971, S. 79–395, S. 263 f. 28  Dass solche Schuldzuweisungen fast schon etwas Zufälliges haben, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass alle hier aufgeführten Philosophen aus guten Gründen sowohl in die freiheitliche als auch unfreiheitliche Tradition eingereiht werden können.



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und individualistischen Untergrabung politischer Autorität im Raum. Die einflussreichste Interpretation, die Rousseau zum Gegner der Demokratie erklärte, legte 1952 Jacob Talmon mit Die Ursprünge der totalitären Demokratie vor, in der die liberale Demokratie des trial-and-error einer totalitären Demokratie gegenübergestellt wird, die für sich die Erkenntnis allseitiger Wahrheit beanspruche.29 Als Kriterien zur Unterscheidung beider Demokratietraditionen führte Talmon die Einstellung zur Religion und zum Eigentum an. Während die liberale Demokratie die Säkularisierung als Individualisierung religiöser Weltbilder interpretiert, füllt die totalitäre Demokratie den Verlust sittlicher Ordnungsvorstellungen durch einen innerweltlichen, am Ideal der Gemeinschaft orientierten totalitären Messianismus. Damit verbunden ist auch die kollektivistische Eigentumsauffassung, dem der Liberalismus den Individualismus entgegensetzt. Talmons dualistischer Konstruktion werden zwei politische Demokratietraditionen zugeordnet: die angelsächsische und die französische, um schließlich aus der totalitären Demokratie die totalitäre Diktatur entstehen zu lassen. Ohne viel Wert auf eine genaue Textanalyse zu legen, dafür mit viel psychologisierendem Interesse, erklärt Talmon Rousseau zum Vertreter der totalitären Demokratie par excellence, dessen schlechter Charakter (Paranoiker) ihn zur Erziehungsdiktatur treibe, die den Gemeinwillen anbete, hinter dem nur schlecht der diktatorische Legislateur versteckt werden könne. Da Rousseau soziale Harmonie anstrebe, treten alle individuellen Interessen zurück, „es gibt kein Entrinnen vor der Diktatur“30, die schließlich den neuen Menschen schaffen muss, wie er in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts propagiert wurde. Es verwundert nicht, dass Talmons totalitarismustheoretische Verurteilung Rousseaus, die zweifellos mehr von einer suggestiven Lesart denn von einer 29  Talmons Kritik gleicht der in Deutschland wohl aufgrund der Sprachbarriere wenig beachteten Studie von Isaiah Berlin, den Talmon aus seiner Londoner Zeit kannte. In „Freedom and its Betrayal“ aus dem gleichen Jahr, wie in seinem später auch in deutscher Sprache veröffentlichten Essay von 1958 „Two Concepts of Liberty“, interpretiert Berlin Rousseau als Rationalisten, der Freiheit mit Wahrheit verwechsle und daher Pluralität ab einem bestimmten Punkt ablehnen müsse. Diese liberalkonservative Kritik, die in Rousseau „one of the most sinister and most formidable enemies of liberty in the whole history of modern thought“ (Berlin, Isaiah: Freedom and its betrayal. Six enemies of human liberty, Princeton 2003, S. 49) zu erkennen glaubt, folgt letztlich dem bereits von Benjamin Constant vorgebrachten Urteil (vgl. Constant, Benjamin: Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen, in: ders. Werke, Band 4, Berlin 1972, S. 363–396). Eine andere Quelle von Talmons scharfer Rousseaukritik ist Popper, dessen Kritik an Platon auch auf Rousseau „zurückfällt“, so wie Talmon in Rousseau einen Platoniker zu erkennen glaubt. 30  Talmon, Jabob Leib: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln / Opladen 1961, S. 42.

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gewissenhaften Analyse getragen wird,31 im Nachkriegsdeutschland breite Zustimmung fand. Ihre dualistische Konzeption von Freiheit und Gleichheit entsprach nicht nur einer liberalkonservativen Kalten-Kriegs-Logik, sondern rekurrierte auch auf einen Demokratiebegriff, der jeder Institutionenkritik und revolutionären Begründung von Demokratie die Spitze abbrach. Hier zeigt sich eine argumentative Nähe zu Schumpeters Demokratietheorie, deren Ausgangspunkt ebenfalls in der Kritik des Gemeinwohls liegt und deshalb statt auf maximale Teilhabe der Bevölkerung auf institutionalisierten Konkurrenzkampf um politische Führungspositionen und Entscheidungskompetenz setzt.32 2. Ernst Fraenkel Obwohl sich Fraenkel bereits vor 1933 beiläufig mit Rousseau beschäftigte – auch wenn er als Soziologe der Klassenjustiz glaubte, dass abstrakt-normative Debatten stets unter Ideologieverdacht stehen –, sind es vor allem seine Nachkriegsschriften, in denen er im Anschluss an Talmon Rousseau als totalitären Denker bewertet. Als politischer Pädagoge, der für einen richtigen Begriff der Demokratie bei der Neuordnung Europas und Asiens wirbt, legt er eine normative Theorie des Politischen vor, die eine klare Absage an Rousseau enthält: „Von der Rousseauischen volonté générale [führt] ein gerader Weg in die auf der Akklamation begründete totalitäre Diktatur.“33 Diese Verurteilung findet ihre Ursache in Fraenkels positivem Ame­rika­ bild,34 welches den Hintergrund für seine einprägsame, aber fragwürdige Kontrastierung von angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Demo­ kratie darstellt. Die angelsächsische Demokratiekonzeption kann auf eine ideen­geschichtliche Tradition zurückschauen, die von Burke, den amerikanischen Gründungsvätern und Locke bis zu den Wiedertäufern ins Mittelalter zurückreicht.35 Hingegen wird die kontinentaleuropäische Demokratietheorie für Fraenkel von dem Spartaner Rousseau begründet, dessen Nach31  Kritisch zu Talmons Rousseaulektüre die klassischen Studien: Cobban, Alfred: Rousseau and the Modern State, 2. Aufl., London 1964, S. 29–31; Chapman, John W.: Rousseau. Totalitarian or Liberal?, New York 1968, S. S. 78–80. 32  Vgl. Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl., Tübingen 2005, S. 397–450. 33  Fraenkel, Ernst: Korea – ein Wendepunkt, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Baden-Baden 1999, S. 491–533, S. 497. 34  Vgl. Söllner, Alfons: Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in Deutschland, in: Leviathan 30 (2002) 1, S. 132–154. 35  Es wäre ein lohnende Untersuchung, ob diese These nicht gewisse Anleihen an Gierkes Ideengeschichte des Gemeinschaftsgedankens in der Gegenüberstellung der römischen und germanischen Rechtstradition nimmt. Über seinen Doktorvater Sinz-



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folger die Jakobiner, Marx und Lenin sind, aber auch der nationalistische Totalitarismus von Carl Schmitt.36 In Fraenkels Argumentation ist die kontinentaleuropäische Demokratietheorie eine Reaktion auf den Absolutismus, dem lediglich die rationalistisch begründete Idee des Gemeinwohls entgegengehalten werden konnte. Wer jedoch nur das Gemeinwohl im Blick habe, müsse letztlich institutionenfeindlich alle gewachsenen Traditionen verneinen. Die Zentrierung des politischen Denkens auf den Begriff des Gemeinwohls führt schließlich zum Verrat an der Demokratie: Rousseaus Begriff der volonté générale, die bei ihm sowohl die Bedeutung von Gemeinwille als auch Gemeinwohl habe, zeuge von dieser Verknüpfung demokratischer Verfahren mit sittlichen Maximen.37 Sie ist für Fraenkel verantwortlich für Rousseaus heikle These, dass sich der Gemeinwille niemals irren kann. Da Rousseau aber umgehend einräumen muss, dass diese ideale Konstruktion von der permanenten Richtigkeit des Gemeinwillens offenkundig falsch ist, liegt der Schluss nahe, dass das Volk nicht immer in der Lage sei, das Rechte zu erkennen. Hier eröffne sich die Möglichkeit einer Erziehungsdiktatur, wie sie die Jakobiner und nach ihnen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts errichteten. Rousseau wird wie in der Interpretation von Preuss und Kelsen als Antipluralist bzw. wie bei Talmon zum messianischen Denker und Begründer der totalitären Demokratie. Es ist evident, dass diese Argumentation Schwächen aufweist: Rousseau lässt sich kaum als fortschrittsgläubiger Rationalist interpretieren. Auch ist Fraenkels  /  Talmons Verständnis von Ideengeschichte derart schematisch, dass die Frage nach wechselseitiger Beeinflussung der diametral gesetzten Demokratietraditionen völlig ausbleibt, etwa die Frage nach der Aufnahme von Rousseaus Ideen durch die amerikanischen Gründungsväter.38 heimer bestand zumindest eine indirekte Aufnahme der Ideen Gierkes, den Fraenkel in seiner Pluralismustheorie als einen Vorläufer benennt. 36  Vgl. Fraenkel, Ernst: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Demokratie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Baden-Baden 2007, S. 256–280, S. 274–276. 37  Vgl. Fraenkel, Ernst: Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung, in: ebenda, S. 91–113, S. 103–105. An dieser Stelle wird auch eine gewisse Nähe zu Ritters Anklage an Rousseau deutlich, der ihn nationalsozialistische Terminologie unterstellend aburteilt: „Der demokratisch-kollektivistische Staat, aus der streng-logischen Konsequenz der Rousseauschen Gedankengänge entwickelt, erscheint als der unbeschränkteste aller Despoten.“ (Ritter, Gerhard: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948, S. 47) Für Ritter gibt es eine geistesgeschichtliche Linie, die von Hitler, Mussolini, Napoleon, Robespierre zu Rousseau führe, der damit der geistige Urheber totalitärer Herrschaft wird, während das deutsche Volk seltsam vom Nationalsozialismus befreit zu sein scheint. 38  Vgl. Spurlin, Paul Merrill: Rousseau in America 1760–1809, Alabama 1969; Dame, Frederick William: Jean-Jacques Rousseau in American literature. Traces,

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Grundsätzlich ließe sich festhalten, dass Fraenkels zentraler Vorwurf, die Verbindung von Gemeinwohl und Gemeinwille führe zur totalitären Demokratie, letztlich auf ihn selbst zurückfällt, denn auch Fraenkels Neopluralismus kennt einen nicht zu verhandelnden, nichtkontroversen Sektor, der jeglicher Mitbestimmung entzogen ist. Denn wenn er dem älteren Pluralismus der Weimarer Republik vorwirft, aufgrund mangelnder freiheitlicher Gemeinwohlorientierung staatliche Souveränität untergraben zu haben, so folgt er stillschweigend Rousseaus These vom Zwang zur Freiheit als Fundament jeder freiheitlichen Ordnung. Wieso kommt Fraenkel dann zu einem so polemischen Urteil? An nahezu allen Stellen, wo er ihn kritisiert, wird direkt oder indirekt auf Carl Schmitt angespielt, insbesondere durch sein zentrales Argument, dass Rousseau die politische Homogenität als Voraussetzung für Demokratie und Staatlichkeit postulieren würde und deshalb den Parlamentarismus ablehne. Diese These entspricht aber mehr Schmitt als Rousseau, denn während der Genfer Philosoph in seiner berühmten Formulierung über den englischen Parlamentarismus die mangelnde Freiheit zwischen den einzelnen Wahlperioden kritisiert, von der späten Einführung des allgemeinen Wahlrechts ganz zu schweigen, kritisiert Fraenkel an Rousseau das, was ihm von Schmitt unterstellt wurde. Denn die These, dass wahre Demokratie politische Homogenität voraussetzt, ist bei Rousseau ebenso wenig zu finden wie Schmitts behauptete Unvereinbarkeit von Demokratie und Parlamentarismus. Interessanterweise greift Fraenkel von hier aus jedoch nicht etwa auf Preuss’ oder Kelsens Kritik des Homogenitätsdenkens zurück, sondern folgt überraschend Carl Schmitts Argumentation von 1932 zur Legitimation der Präsidialherrschaft, nach der Demokratie nur dann funktionieren könne, wenn ein bestimmter Bereich der politischen Auseinandersetzung der demokratischen Debatte entzogen sei. Erstaunlich offen führt Fraenkel aus, dass sowohl der Neopluralismus als auch der Antipluralismus skeptisch sind, ob sich eine grundlegende Übereinstimmung in einer Demokratie ohne einen nichtkontroversen Sektor einstellen werde. Auf der Suche nach einem optimalen Verhältnis von Gemeinwohl und Pluralität setzen Anti- und Neopluralismus nur unterschiedliche Gewichtungen. Dieser Schluss mag frustrierend sein: Wo Fraenkel ein antithetisches Verhältnis von Totalitarismus und Neopluralismus postuliert, kann er letztlich nur ein graduelles begründen. An dieser Stelle werden nicht nur die Widersprüche von Fraenkels Rousseaurezeption offenkundig: Einerseits wird jede materiale (am Gemeinwohl orientierte) Füllung des Gemeinwillens als Einfallstor einer tota­ influence, transformation 1760–1860. A paradigm of French-German culture emanation in America, Frankfurt am Main u. a. 1996.



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litären Demokratie scharf zurückgewiesen, andererseits umreißt Fraenkel aus Gründen des Demokratieschutzes einen nichtkontroversen Sektor, der durchaus material bestimmt ist. Dass er mit diesem Argument jedoch in die Nähe zu Rousseau rückt, konnte ihm nicht verborgen geblieben sein. So räumt er denn auch trotz seiner heftigen Vorwürfe diskret ein, dass nicht nur Rousseaus Absage an den britischen Parlamentarismus weniger als eine Absage an die Demokratie denn an die „ideologische Verbrämung einer volksfremden und volksfeindlichen Oligarchie“39 zu verstehen sei, sondern auch seine Forderung nach sozialer Homogenität wohl eher „primär eine ethische Kategorie“40 meine. Noch deutlicher wird die Nähe beider Autoren, wenn Fraenkel auf die Notwendigkeit einer Gemeinwohlorientierung überhaupt zu sprechen kommt und nun Rousseau explizit lobt, dass er den Gemeinwille „sehr viel mehr eine regulative Idee als eine sozial-empirische Realität“41 begreife. Dies ist in der Tat Fraenkels Posi­ tion, derweil er Rousseau kritisieren muss, weil dessen vermeintliche Jünger – allen voran Carl Schmitt – dem parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat eine wahre Demokratie gegenüberstellen, was die Gefährdung des bundesdeutschen Institutionengefüges bedeutet hätte, die es nach dem Ende Weimars zu verhindern galt. 3. Carl Joachim Friedrich Auch wenn sich Friedrichs Begründung von Fraenkel unterscheidet, es überrascht nicht, dass auch der Totalitarismusforscher Rousseau ablehnend gegenübersteht. Sein zentraler noch von Gierke über seinen Doktorvater Alfred Weber aufgenommener Vorwurf lautet, Rousseau unterhöhle durch sein voluntaristisches Politikverständnis jede Form von Gemeinschaftsleben.42 Diese eher altbackene Kritik wird von Friedrich jedoch insofern modern weitergeführt, als für ihn Rousseaus apolitische Theorie des Politischen eine für jede soziale Ordnung funktional notwendige innere Differenzierung untergrabe und daher entweder in einen apolitischen Relativismus oder in einen Staatsvoluntarismus umzuschlagen drohe. Friedrich erkennt sehr deutlich, dass Rousseaus Denken gleichermaßen anarchistisch und ab39  Fraenkel, Ernst: Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Baden-Baden 2007, S. 165–207, S. 169. 40  Fraenkel: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Demokratie, S. 269. 41  Fraenkel, Ernst: Parlament und Öffentliche Meinung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Baden-Baden 2007, S. 208–230, S. 213. 42  Vgl. Weber, Alfred: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 33–36.

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solutistisch ist. Aus diesem Grund verweigert Friedrich Rousseau auch einen Platz in der Geschichte der politischen Wissenschaft: er ist für ihn weder Wissenschaftler noch Politiker, sondern ein – politisch einflussreicher – Träumer.43 Von dieser grundlegenden Kritik ausgehend muss sich Friedrichs Rousseauinterpretation stets gegen zwei Seiten wenden: die anarchistischen und die absolutistischen Folgen seines Denkens. Die radikale Utopie Rousseaus ist für Friedrich aufgrund ihrer Institutionenfeindlichkeit in hohem Maße gefährlich unpolitisch, denn sie biete sich nicht nur zur Zerstörung gewachsener politischer Ordnungen an, sondern könne auch aufgrund ihrer individualistischrationalistischen Gemeinschaftsfeindlichkeit den Despotismus nicht verhindern. Wer an dieser Stelle also eine totalitarismustheoretische Argumentation im Sinne Talmons und Fraenkels erwartet, sieht sich getäuscht. Für Friedrich ist der Begriff der Volkssouveränität „bestenfalls eine unklare Bezeichnung“44. Rousseaus Idealismus biete sich für eine missbräuchliche Interpretation zwar an, aber mit seiner starken Betonung des Gleichheitssatzes gehöre er in die freiheitlich-demokratische Ahnengalerie. Gegen Talmon wendet Friedrich ein, dass vor allem Rousseaus Betonung des föderalen Prinzips jeglichem totalitären Zentralismus widerspreche.45 Relativ knapp heißt es, dass die totalitäre Interpretation Rousseaus auf einer Fehldeutung beruht.46 Wieso kommt Friedrich zu diesem gelassenen Urteil? Die Ursache liegt in Friedrichs demokratietheoretischem Desinteresse, denn der Diagnose, dass sich moderne Autokratien rhetorisch zur Demokratie bekennen, folgt nicht die Suche nach einer richtigen Demokratie, sondern der ernüchternde Schluss, es ließe sich nur die Pluralität des Demokratiebegriffs feststellen. Es müsse auf einen anderen Primärwert des Politischen gesetzt werden: den Konstitutionalismus. Zwar sei Demokratisierung das Schicksal des 20. Jahrhunderts, heißt es melancholisch, jedoch setze jede Demokratie eine Verfassung voraus, und diese verlange nach einer mit militärischen und administrativen Mitteln hergestellten Ordnung. Daher ist es auch das Ziel seines ersten Hauptwerkes Constitutional Government and Politics zu verhindern, dass Demokratie gegen die staatlich notwendigen Eliten und Institutionen ausgespielt wird. Eine radikale Demokratietheorie, die etwa die Unvereinbarkeit von Leistungseliten und Demokratie problematisiert, ist für Friedrich ein Angriff auf den die Demo43  Vgl. Friedrich, Carl J.: Die politische Wissenschaft, Freiburg und München 1961, S. 217. 44  Friedrich, Carl J.: Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin u. a. 1953, S. 18. 45  Vgl. Friedrich, Carl J.: Politik als Prozess der Gemeinschaftsbildung. Eine empirische Theorie, Köln und Opladen, 1970, S. 439. 46  Vgl. Friedrich, Carl J.: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 34, S. 125.



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kratie überhaupt erst gewährleistenden Rechtsstaat. Da dessen Funktionalität im Vergleich zur verbreiterten Mitbestimmung ein höherer Wert zugestanden bekommt,47 muss auch Rousseaus demokratische Utopie inakzeptabel bleiben. Indes steht Friedrichs funktionalistische Deutung des Rechtsstaatsmodells mit seinem starken bürokratischen Mehrwert vor der Frage, wie er die Normativität des Rechtsstaats sowie dessen Höherwertigkeit gegenüber demokratischer Teilhabe begründen kann. Dieses beachtliche Problem versucht er in seinem zweiten Hauptwerk Man and his Government zu lösen, wo er politische Institutionen nicht mehr nur nach ihrer Funktionalität, sondern auch nach ihrer Normativität bewertet: „Der Begriff der Ordnung kann nur in Beziehung zum Zweck […] erläutert werden, und der Zweck wiederum erlangt Bedeutung nur durch seinen Bezug zu Werten.“48 Friedrichs Ausgangspunkt scheint Rousseau zu widersprechen. Wenn er Normativität mit Gemeinwohl gleichsetzt, begründet er dieses nicht aus der Autonomie des Einzelnen, sondern hebt die Einheit von Vernunft und Tradition als Garanten richtiger Gemeinschaftsbildung hervor. Dieser historische Prozess würde durch die einseitige Betonung von Rationalität und Autonomie zum gemeinschaftsgefährdenden Relativismus führen. Überraschend ist nun, dass Friedrich als seinen intellektuellen Gewährsmann für dieses historisch-konservative Argument zwar zunächst Burke benennt, sich dann aber explizit auf Rousseau beruft. Wie Rousseau in seinen kleineren Studien zu Korsika und Polen erklärte, sollte die gemeinschaftsbildende Tradition nicht durch rationale Konstrukte zerstört werden. Doch wie lässt sich erkennen, ob eine Tradition richtig und gerecht ist? Während eine Rousseausche Argumentation spätestens hier auf die Autonomie des Individuums zurückgreift, postuliert Friedrich, dass jede Suche nach Gerechtigkeit stets unter Rückgriff auf transzendente Begriffe erfolgt, wie sie sich seit dem Mittelalter historisch erschließen lassen.49 So antiquiert und im Detail fragwürdig Friedrichs Beweisführung auch sein mag, als inhaltliches Kriterium, weshalb er auf die christliche Tradition setzt, kann auch Friedrich nur „die Sicherung eines jeden einzelnen“ und die „Sphäre echter Autonomie“50 anführen. Obwohl Rousseau von Friedrich explizit von dieser christlichen Tradition ausgenommen wird, kann als normative Begründung von Rechtstaatlichkeit nur auf die Autonomie zurück47  Vgl.

Friedrich: Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 64. Carl J.: Prolegomena der Politik. Politische Erfahrung und ihre ­Theorie, Berlin 1967, S. 55. 49  Friedrich, Carl J.: Christliche Gerechtigkeit und Verfassungsstaat, Köln und Opladen 1967. 50  Ebenda, S. 19. 48  Friedrich,

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gegriffen werden, wie er an anderer Stelle einräumt.51 Letztlich ist es der gleiche Schluss, den auch Rousseau anbietet: Die volonté générale kann, als Verfassungsordnung gedeutet, jeden beliebigen Inhalt aufnehmen.52 Bereits Rousseaus institutionenfeindliches freiheitliches Pathos muss Friedrich irritieren, und es verwundert daher auch nicht, dass er am Ende seines Lebens, in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung bereit ist, die Autonomie erneut zugunsten der Funktionalität und Autorität bestehender Institutionen zu opfern.53 4. Franz Leopold Neumann Diesen vordergründig ablehnenden Interpretationen Rousseaus ließe sich Neumann entgegenstellen, der ihn gleichermaßen als Demokratietheoretiker und Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft feiert. Bereits 1936 verkündet Neumann, der Genfer Philosoph habe als Einziger das ewige „Problem der Synthese […] von Freiheit und Herrschaft“54 gelöst. Neumann kann so euphorisch sein, weil er seine Rousseaulektüre von zwei Prämissen abhängig macht: Rousseau sei idealistischer Demokrat und Freiheit sei nur durch ökonomische Gleichheit zu erreichen. Rousseau wird also als Gesellschaftskritiker gelesen. Dass diese Deutung etwas arglos ist, sieht Neumann selbst. Denn dass eine radikale Demokratietheorie mit ihrem Vorrang der Volkssouveränität vor Freiheitsrechten jede vorstaatliche Freiheit verneinen muss, gesteht Neumann ein. So gesehen sei Rousseau mit seiner starken Betonung der unteilbaren Volkssouveränität ein Absolutist. Diese antiliberale Position ist aber für Neumann kein Problem, weil Freiheit durch die Allgemeinheit des Gesetzes und die demokratische Teilhabe wieder zurückgewonnen wird.55 Von dieser nur theoretischen Lösung ist Neumann kaum überzeugt, denn letztlich muss auch er die Unvereinbarkeit von individuellem und 51  Friedrich, Carl J.: Die Philosophie des Rechts in historischer Perspektive, Berlin u. a. 1955, S. 122. 52  „Tradition als solche […] [ist] ein formales Konzept, das jeden Inhalt, sei er wahr oder falsch, gut oder schädlich, beigegeben werden kann.“ (Friedrich, Carl J.: Tradition und Autorität, München 1974, S. 20). 53  „Die gegenwärtige Konstellation bringt zutage, dass Freiheit nicht für solche Personen aufrechterhalten werden kann, die sie missbrauchen, um das System, das sie erhält, zu zerstören. Dies zu tun wäre ein Widerspruch in sich. In unserem Zusammenhang heißt das: Autorität ist unbrauchbar als Mittel, Autorität und Freiheit, die auf ihrem Vorhandensein beruht, wiederherzustellen. Gewalt wird notwendig.“ (ebenda, S. 98) 54  Neumann, Franz L.: Die Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, Frankfurt am Main 1980, S. 149. 55  Ebenda, S. 154–156.



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kollektivem Willen bei Rousseau eingestehen. Hier hilft ihm seine Prämisse, Rousseau sei Soziologe, der erkannt habe, dass das zentrale politische Problem ohnehin nicht die Formulierung von Menschenrechten, sondern die „homogene Gesellschaftsstruktur als Bedingung der Demokratie“56 sei. Daher braucht Neumann die zentrale Streitfrage der Rousseauinterpretation, die Deutung der volonté générale, nicht zu diskutieren. Neumanns Rousseaubegeisterung, die für seine Forderung nach weitgehender demokratischer Teilhabe der deutschen Bevölkerung beim Wiederaufbau grundlegend war, erleidet nach dem Zweiten Weltkrieg einen nicht unbeachtlichen Vorbehalt. So muss Neumann entgegen der eigenen Prämisse einer prinzipiellen demokratischen Teilhabebereitschaft einräumen, dass die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland von autoritären Einstellungen und politischem Desinteresse gekennzeichnet ist. Wie lässt sich ein Volk politisch integrieren, das an der Rückgewinnung seiner politischen Freiheit desinteressiert ist? Die bange Frage lautet, was passiert, wenn die Mehrheit „beschließt, ihre Macht zur Abschaffung der Bürgerrechte und ihre Souveränität zur Zerstörung des Rechts, zur Einführung der Rechtlosigkeit zu gebrauchen, – kann man einen solchen Staat demokratisch nennen?“57 Auch Neumann greift aus Furcht vor dem latenten Unrechtsstaat und den „regressiven Massenbewegungen“58 auf eine spezifische Form des liberalen Rechtsstaats zurück, den er neben seine radikale Demokratietheorie setzt. So schätzt er einerseits angesichts wohlfahrtsstaatlicher politischer Apathie und der Allgegenwart des Totalitarismus die Notwendigkeit von vorstaatlichen Freiheitsrechten, um andererseits Rousseauist zu bleiben und Freiheitsgarantien nur aus gesellschaftlicher Teilhabe begründen zu können. Dieser tragisch-heroische Widerspruch ist das argumentative Zentrum seiner Nachkriegsschriften.59 Demokratie müsse maximale politische Beteiligung anstreben und lasse sich nicht als grundrechtlich gehegte Repräsentation einzelner Interessen herabsetzen. Diesem radikaldemokratischen Bekenntnis zu Rousseau wird der zweite, realistisch-liberale Demokratiebegriff entgegengehalten, der die Notwendigkeit vom Gesetzgeber vorgelagerter Grundrechte nicht mehr (nur) als Verewigung der ökonomischen Bedingungen begreift, sondern als einzi56  Ebenda,

S. 161. Franz L.: Militärregierung und Wiederbelebung der Demokratie in Deutschland, in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie, S. 309–326, S. 312. 58  Neumann, Franz L.: Angst und Politik, in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie, S. 424–459, S. 452. 59  Vgl. Buchstein, Hubertus: Die heroische Versöhnung von Freiheit und Macht. Die Spannung zwischen Demokratie- und Gesellschaftstheorie im Spätwerk von Franz L. Neumann, in: Matthias Iser / David Strecker (Hg.): Kritische Theorie der Politik. Franz L. Neumann – eine Bilanz, Baden-Baden 2002, S. 179–199. 57  Neumann,

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ges Mittel gegen Machtmissbrauch schätzt.60 So gesehen ist auch Neumann nicht viel weiter als Rousseau gekommen: Freiheitsrechte lassen sich nicht allein durch ihre verfassungsmäßige Verankerung verwirklichen, sondern verlangen nach aktiver Partizipation. Jedoch ist mit sinkendem politischen Interesse die notwendige Teilhabebereitschaft selbst geschwunden. Rousseau hatte hier die Pflicht zur Partizipation als einziges freiheitsgarantierendes Mittel erzwingen wollen, und obwohl Neumann vor dieser illiberalen Konsequenz selbst zurückschreckt, sucht auch er angesichts der Uneinholbarkeit der radikalen Demokratietheorie nach einem substituierenden Element zur Freiheitssicherung. Er findet es paradoxerweise im Rechtsstaat, dessen Institutionen vielleicht der vollen Autonomie eher im Wege stehen, aber hoffentlich den Rücksturz in die Barbarei des Unrechtsstaates verhindern. 5. Leo Strauss In der Nachkriegspolitikwissenschaft der Bundesrepublik hat eine intensive und textgenaue Auseinandersetzung mit Rousseau kaum stattgefunden. So wie sich die Lektüre im Wesentlichen auf den Gesellschaftsvertrag beschränkt, so wird auch die Debatte von Schlagwörtern dominiert, über deren Plausibilität mitunter deren Hersteller selbst wissen, wie überzeichnet sie sind: Fraenkel, Friedrich und Neumann erkennen, dass ihre Interpreta­tionen anders aussehen müssten, wenn sie sich auf andere Texte Rousseaus stützen würden.61 Hier hebt sich die prägnante Interpretation von Leo Strauss ab: Er liest Rousseau nicht als bloßen politischen Stichwortgeber, sondern als Philosophen und Kritiker der Aufklärung, weshalb seine Interpretation vollkommen quer zur gängigen politologisch-totalitarismustheoretischen Rousseaudeutung liegt.62 Rousseaus Philosophie müsse von der im Ersten Diskurs gestellten Frage interpretiert werden, ob die Wissenschaften und Künste den Menschen sitt60  Hier findet sich dann auch eine sehr scharfe Wendung gegen Rousseau: „Wer die moralischen Prinzipien der Gemeinschaft verletzt und dabei vorgibt, nach ihnen zu leben, soll mit dem Tode bestraft werden. In der Tat hat Robespierre während der Terrorherrschaft das letzte Kapitel des Contrat Social praktiziert.“ (Neumann, Franz L.: Intellektuelle Emigration und Sozialwissenschaft, in: ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie, S. 402–423, S. 405). 61  Dieses Defizit wird umso deutlicher, wenn man sich die wiedereinsetzende Rousseaudiskussion der späten fünfziger Jahre (Hermann Röhrs, Wolfgang Ritzel, Kurt Weigand, Friedirch Glum) bedenkt. Vgl. die äußerst informative Darstellung und Diskussion des Forschungsstands der fünfziger Jahre aus pädagogischer Perspektive bei: Dahmer, Ilse: Das Phänomen Rousseau, in: Zeitschrift für Pädagogik 6 (1960) 4, S. 362–381; 7 (1961) 1, S. 31–41; 7 (1961) 2, S. 152–171; 7 (1961) 4, S. 366–389. 62  Vgl. Strauss, Leo: The Intention of Rousseau, in: Social Research (1947) 14, S. 455–487, ders.: Naturrecht und Geschichte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989.



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lich verbessert haben. Damit kehrt Strauss zur zeitgenössischen Kritik zurück, wie der Wissenschaftler und Künstler Rousseau die ungeheuerliche These ernsthaft vertreten könne, dass Wissenschaft und Künste nicht nützlich, sondern gar schädlich für die öffentliche Moral sein könnten. Strauss interpretiert diese Paradoxie mit seiner in Persecution and the Art of Writing entwickelten Argumentationslogik,63 dass sich Rousseau öffentlich hinter der Maske des Bürgers tarnt und vor der Aufklärung aufgrund ihrer intellektuellen Asozialität warnt. Als guter Bürger von Genf spricht Rousseau eine altbekannte Wahrheit aus: Gesellschaft als Reich der Bedürfnisse verlangt nach Organisation, Stratifikation und Unterordnung. Wer die Vorteile der Gesellschaft genießen will, muss auch deren Bürde ertragen.64 Das Funktionieren der Gesellschaft müsse durch Tugend und geheiligte Tradi­ tionen gesichert werden, denn die philosophische Freiheit bedrohe mit ihrem Skeptizismus die soziale Stabilität, sind doch sozial funktionale Dogmen „Objekte des Glaubens und nicht des Wissens.“65 In einer Gesellschaft der Tugend muss die gemeinschaftsgefährdende Philosophie überwacht werden. Als common man ist Rousseau alles andere als ein politischer Freiheitskämpfer. Wer nun erwartet, dass sich hinter der Maske des Bürgers ein freiheit­ licher Philosoph verbirgt, irrt. Zwar ist die Verachtung der Philosophie nur für den Bürger geschrieben, aber die in der Philosophie gefundene Freiheit ist keine universalistische, sondern eben nur die des solitären Philosophen.66 Die in Wissenschaft und Künsten gefundene Freiheit ist nicht für den gemeinen Mann gedacht, sondern ausschließlich für die kleine Gruppe privilegierter Geister. Sie allein können die innere Leere ihrer eigenen gemeinschafts- und staatszersetzenden intellektuellen Kritik ertragen. Das ist der eigentliche Angriff Rousseaus auf die Aufklärung: Indem er der Gesellschaft, dem Reich der Bedürfnisse, die Philosophie als Reich der Freiheit gegenüberstellt, ist jeder Versuch, Gesellschaft rational zu ordnen, um ihre Mitglieder durch Erziehung zur Mündigkeit zu befreien, pure Illusion. Wo die Philosophie die Traditionen ersetzen soll, wird sie als Populärphilosophie zur Ideologie degradiert: Sie unterwirft sich sophistisch den Launen des Marktes und korrumpiert sich selbst. Wenn überhaupt, so erscheint der Philosoph politisch in der Figur des Fürstenberaters. Rousseau habe erkannt, dass er zu wählen habe zwischen der bedingungslosen Unterordnung unter die Gesellschaft, wie es dem common man zuste63  Strauss,

Leo: Persecution and the Art of Writing, Chicago 1995, S. 22–37. Strauss: The Intention of Rousseau, S. 480. 65  Ebenda, S. 472, siehe auch: ders.: Naturrecht und Geschichte, S. 269. 66  „Philosophieren heißt demnach, vom öffentlichen Dogma zum wesentlich privaten Erkennen aufsteigen.“ (Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 13) 64  Vgl.

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he, oder dem Rückzug in das einsame Glück des philosophischen Lebens. Gerade der scheinbare Theoretiker der Demokratie erweist sich so als deren schärfster Kritiker.67 Rousseau bestätigt dies indirekt, wenn er die bedingungslose Subordination unter einen nur fadenscheinig rational begründeten Gemeinwillen fordert. Seine politische Theorie endet für Strauss in zwei altbekannten Lösungen: Die nützliche Lüge der (Zivil)Religion und das Vertrauen auf den weisen Gesetzgeber. Dass sich Rousseau zu dieser klassischen Wahrheit dann doch nicht völlig durchringen kann, ist in seiner Naturphilosophie begründet, insbesondere in seiner Lehre von der natür­ lichen Freiheit des Menschen.68 Zweifellos habe er im Zweiten Diskurs einräumen müssen, dass der Homme Naturel eine bloße Fiktion ist, mit der kein Staat zu machen sei, was für Strauss auch dem Eingeständnis der Abwegigkeit jeder Vertragstheorie gleichkommt. Dennoch gibt Rousseau seine Verehrung des natürlichen Menschen – die Strauss als Chiffre für den modernen Individualismus zu lesen scheint – nicht auf. Diese Inkonsequenz macht Rousseau bei aller Kritik an der Moderne zu einem modernen Denker, was bei Strauss bekanntlich kein Lob sein kann. Wider besseren Wissens verweigere sich Rousseau der von ihm selbst ausgesprochenen Wahrheit: „Jede Freiheit, die Freiheit für etwas ist, jede Freiheit, die durch den Bezug auf etwas Höheres als das Individuum oder den Menschen als bloßen Menschen gerechtfertigt ist, schränkt die Freiheit notwendigerweise ein.“69 Faktisch müsse Rousseau diese Position akzeptieren, wie seine ständigen Appelle an das tugendhafte Leben aus Furcht vor jedem amoralischen Positivismus zeigen. Zweifellos lässt sich bei dieser Interpretation die Frage stellen, ob nicht Strauss – sprachgewandt wie Schmitt – hier eine Deutung vorlegt, die mehr über ihren Interpreten denn über ihren Gegenstand verrät. So wird von Strauss die marginale Rolle des Legislateurs, der bei Rousseau lediglich die ersten Gesetze gibt und sich dann zurückzieht, also weder herrscht noch regiert, um ein Vielfaches überschätzt. Dass Strauss’ tiefsinnige Interpretation das zentrale Anliegen des Gesellschaftsvertrages, eine politische Form zu finden, die Freiheit gewährt, ignoriert, ist mehr als ein Zufall, denn sie verweist auf seine eigene Philosophie, die weder an dieser Frage interessiert ist noch sich überhaupt bemüht, einen normativen Maßstab zur Begründung von Herrschaft zu geben – ein beachtliches Defizit für einen Autor, der die moderne politische Theorie für diese Unzulänglichkeit selbst schmähte. 67  Vor allem in „The Intention of Rousseau“ hebt Strauss diese Pointe hervor, indem er behauptet, dass die „ ‚method of democracy‘ and the ‚method of intelligence‘ identical“ sind. 68  Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 277 f. 69  Ebenda, S. 307.



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So problematisch die Interpretation von Strauss im Detail auch sein mag, sie ist in der politikwissenschaftlichen Debatte innovativ, weil sie sich weder auf die Lektüre des Gesellschaftsvertrages beschränkt noch Rousseau mit dem Terror der Jakobiner gleichsetzt, sondern in ihm einen ernstzunehmenden Kulturkritiker sieht.70 Diese Deutung ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Strauss noch weniger als Friedrich ein Demokratietheoretiker war. Während Fraenkel ein pädagogisches Demokratiekonzept vorlegte, das die radikale Demokratietheorie als totalitär diskreditierte und Neumann trotz seines fortgesetzten Lippenbekenntnisses nach 1945 glaubte, Rousseau nicht mehr folgen zu können, hatten es konservative Theoretiker einfacher, dem Genfer Philosophen gerecht zu werden, eben weil sie kein besonderes demokratietheoretisches Interesse hegten.71 Sofern sich die bundesdeutsche Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft verstand, war für Rousseau kein Platz, weil nicht nur dessen radikaldemokratische Vorstellungen im Land der Mitläufer problematisch erscheinen mussten, sondern weil auch die von ihm vorgeschlagene politische Ordnung sowohl als Einfallstor illiberaler Politik als auch als zu institutionenfeindlich empfunden wurde. Insofern musste denn auch die positive Würdigung durch Strauss als vergiftetes Lob erscheinen. 6. Iring Fetscher Dass jedoch Rousseaus Denken dem Zeitgeist der fünfziger Jahre vielleicht nicht so fern stand, kann abschließend anhand der Habilitationsschrift von Iring Fetscher, der bis heute wohl wichtigsten deutschsprachigen politologischen Rousseauinterpretation,72 gezeigt werden. Wie fern sie der demokratietheoretischen Kritik Fraenkels steht, macht bereits seine Forderung nach einer „distanzierten und nüchterneren Einschätzung“ des Genfer Philosophen deutlich, die ihn nicht zum „ ‚Vorläufer‘ und ‚Mitschuldigen‘ für den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts“73 machen dürfe. Rousseau wird von ihm als Autor des 18. Jahrhunderts gelesen, der weder über den Leisten 70  Dass Strauss Rousseau für die modernen totalitären Regime nicht verantwortlich macht, heißt nicht, dass er ein solch projektives Unternehmen ablehnt, denn gerade seine Machiavelli- und Hobbesinterpretation folgen einer solchen Logik. 71  Dies wird etwa auch in der Behauptung von Fraenkel, Neumann und Friedrich deutlich, Rousseau sei ein Utopist gewesen, dem nicht nur Strauss und die Mehrheit der Forschungsliteratur widersprechen, sondern auch seine Kritik an den illusionären Friedensplänen seiner Zeit (Abbé de Saint Pierre) zeigt. 72  Zur Entstehung der Habilitation: Vgl. Fetscher, Iring: Versuch, mein Leben zu verstehen, Hamburg 1995, S. 456–464. 73  Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 7. Auflage, Frankfurt 1993, S. 14.

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der aktuellen politischen Theorien geschlagen noch als Stichwortgeber für revolutionären Terror, als esoterischer Kritiker des modernen Naturrechts oder bloß als apolitisch-romantischer Träumer missverstanden werden darf. Wie weit Fetscher mit seiner Historisierung geht, macht die von ihm rückblickend etwas stilisierte Einschätzung deutlich, dass ihm zum Zeitpunkt der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift Rousseaus politische Theorie „sowohl obsolet als auch hoffnungslos“74 erschien. Obwohl Fetscher an die konservative Rousseaurezeption von Strauss und Bertrand de Jouvenel anknüpft,75 Rousseau als Kulturkritiker zu lesen, widerspricht er deren Interpretation, die in ihm einen Gewährsmann für eine konservative Kritik der Moderne zu finden glaubte. So sehr Rousseau dem egoistischen Konkurrenzkampf der modernen Gesellschaft ein vergangenes goldenes Zeitalter der Sittlichkeit entgegenstellte, nie wende er sich gegen Freiheit und Vernunft, wie insbesondere Strauss’ Interpretation nahe legt. Während für Strauss die politiktheoretische Unzugänglichkeit des freien Homme Naturel und die Intriganz des rationalen Homme Civilisé zur Rechtfertigung von Tradition und Autorität genügen, kritisiert Fetscher diese Unterstellung und führt sie auf Strauss’ eigenes ahistorisches Denken zurück. Hingegen sei Rousseaus Anthropologie historisch-dynamisch, so dass er kein Traditionalist im strengen Sinne sein könne. Die auf den ersten Blick für Politologen spitzfindig erscheinende kulturgeschichtliche Differenz ist deshalb für Fetscher so wichtig, weil die Grundlage von Rousseaus politischem Denken in dessen komplexer Anthropologie liegt:76 Der Mensch ist ein leidenschaftliches, aber instinktreduziertes 74  Fetscher, Iring: Einleitung. Reflexionen über meine geistige Entwicklung, in: ders.: Arbeit und Spiel. Essays zur Kulturkritik und Sozialphilosophie, Stuttgart 1983, S. 3–24, S. 15. 75  Fetschers Beschreibung der ersten beiden Diskurse erfolgt in Auseinandersetzung mit Strauss; vgl. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S: 20–61, zu Jouvenel: vgl. ebenda, S. 118–121. Fetscher bezieht sich auf: Jouvenel, Bertrand de: Essai sur la politique de Rousseau, in: Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social, Genf 1947, S. 17–147. Andere Interpretationen, die Rousseau als Konservativen zeichnen und von Fetscher verwendet werden, sind: Masson, Pierre Maurice: La religion de J. J. Rousseau, 3. Bd., Paris 1916, Burgelin, Pierre: La philosophie de l’existence de J. J. Rousseau, Paris 1950, Glum, Friedrich: Jean-Jacques Rousseau. Religion und Staat. Grundlegung einer demokratischen Staatslehre, Stuttgart 1956. 76  Vgl. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 62–100. Mit seiner Schwerpunktsetzung auf die Anthropologie und den zweiten Diskurs als zentrale Fragestellung ähnelt Fetscher der parallel erscheinenden wichtigen pädagogischen Darstellung: Rang, Martin: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959; Auf diese anthropologische Lesart, wie sie nach dem Weltkrieg vor allem in der französischsprachigen Rousseauforschung vollzogen wurde (Groethuysen, Burgelin) und die sich von der ethischen Lesart der zwanziger, dreißiger Jahre abhebt, hat Ilse Dahmer hingewiesen (vgl. Dahmer: Das Phänomen Rousseau).



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­ esen, das sich selbst und seine Unabhängigkeit erhalten will. Aus diesem W Grund strebt er nach Vervollkommnung seiner Fähigkeiten, was aber aufgrund wachsender Bedürfnisse, die bald seine Fähigkeiten übersteigen, Selbstsucht hervorbringt, die letztlich seine eigene Autonomie bedrohe. In dieser vermaledeiten Menschheitsgeschichte plädiere Rousseau nicht für ein „Retournez à la nature“. Vielmehr konstruiert er zwischen Naturzustand und moderner Gesellschaft ein hypothetisches, aber normativ eminent wichtiges goldenes Hirtenzeitalter, in der sich die Menschen bereits über die Notwendigkeit des Zusammenlebens bewusst sind, ohne jedoch derart in Abhängigkeit zu geraten, dass Freiheit zur Farce wird. In Fetschers geschichtsphilosophisch orientierter Ausarbeitung der gradualistisch-historischen Kulturanthropologie soll Rousseau als früher Kritiker des bürgerlichen Systems der Bedürfnisse gedeutet werden. Zugleich wird ihm jede Radikalität genommen und er erscheint als gemäßigter Konservativer, der Traditionen und Gebräuche bewahren will, aber auch auf dem normativ notwendigen Wert der Autonomie insistiert, um diese zugleich sittlich zu binden.77 Nach Fetscher liegt Rousseaus zentrales Anliegen in der Wiedergewinnung der durch Arbeitsteilung, Eigentum, soziale Differenzierung und politische Unterwerfung sukzessive zerstörten Schäferidylle – ein Unternehmen, was angesichts seiner Unmöglichkeit zwangsläufig in Resignation enden müsse. Aber dieses wahrhaft konservative Ziel erfolgt nicht aus der bloß äußerlichen Verklärung vergangener Zeiten, sondern ist mit der freiheitlichen Hoffnung begründet, dass die im Homme Naturel angelegten Eigenschaften – seine Selbstliebe und sein Mitleid – nicht völlig verloren gehen können. Zugleich ist diese Wiedergewinnung alles andere als radikal, denn so wie Rousseau Realist genug ist, um zu erkennen, dass der zivilisatorische Fortschritt unumkehrbar ist, so lässt sich die verlorene Freiheit auch nicht schlagartig durch einen revolutionären Akt oder sozialtechnologische Maßnahmen wiedergewinnen. Er ist für Fetscher eben kein Rationalist, wie es die negative Rousseaurezeption ihm immer unterstellte, sondern unterscheidet klar zwischen einer theoretischen Vernunft der Wissenschaften und einer praktischen Vernunft des tugendhaften Zusammenlebens.78 Die praktische Vernunft, die nichts mit der kalten und zerstörerischen Vernunft der Wissenschaften gemein hat, hilft dem Bürger, sich im Klaren zu werden über die ihn korrumpierenden egoistischen und seine Freiheit bedrohenden Leidenschaften. Er versteht, dass seine Freiheit, will er sie 77  Die nicht nur sprachliche Nähe von Rousseau zu Hegel ist in Fetschers Interpretation nicht zufällig, wenn man seine 1950 bei Spranger eingereichte Dissertation bedenkt: Fetscher, Iring: Hegels Lehre vom Menschen. Kommentar zu den §§ 387 bis 482 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Stuttgart 1970. 78  Vgl. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 83–91.

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bewahren, begrenzt werden muss und dass diese Grenze allein im Staat gefunden werden kann. Aus diesem Grund muss dann auch der von Rousseau erdachte ideale Staat die Liebe der Bürger zur Ordnung und zu den seine Freiheit schützenden Institutionen fördern: Er muss den Patriotismus fördern, die soziale Ungleichheit homogenisieren, staatspädagogisch tätig werden, die Mitspracherechte stärken und vor allem ein Rechtsstaat sein.79 Vergleicht man diese Stelle mit der politologischen Rousseaudiskussion der fünfziger Jahre, so kann der Widerspruch kaum größer sein: Rousseau erscheint nicht mehr als revolutionärer Zerstörer notwendiger Institutionen, sondern als Theoretiker „einer politischen Struktur, die die im Gesellschaftszustand unentbehrliche ‚Herrschaft‘ zugleich gerecht und zweckmäßig gestaltet.“80 Rousseaus politisches Denken spielt nicht Freiheit und Herrschaft gegeneinander aus, sondern sucht nach der Legitimität rechtmäßiger Herrschaft, wie die genaue Lektüre der berühmten Eingangspassage des Gesellschaftsvertrages bestätigt.81 Rousseau ist für Fetscher kein Demokratietheoretiker, sondern ein Republikaner, der seine Verehrung für das gemeinschaftliche Leben in Stadtstaaten nicht politisch, sondern moralisch begründet. Die Republik ist dabei nicht zwingend ein revolutionäres Gegenmodell zur Monarchie, vielmehr hat sie „lediglich“ die Aufgabe, den Zivilisationsprozess zu verlangsamen und an die Stelle von Selbstliebe und Mitleid die politische Freiheit und den Gemeinwillen zu setzen. Dass dieses Unternehmen nicht von sich aus gelingt, sei dem Realisten Rousseau durchaus bewusst gewesen; ausführlich diskutiert Fetscher die Voraussetzungen zur Errichtung und die Mittel zur Erhaltung der Republik, die sich bei aller Antiquiertheit im Detail fast wie die Grundelemente der bundesrepublikanischen Ordnung lesen. Der gute Staat ist vor allem eine Republik, letzte Legitimationsquelle kann nur das Volk sein, so wie das Volk die Solidargemeinschaft mündiger und zur Tugend befähigter Bürger ist. Rousseaus Ideal ist nicht der lediglich Privatinteressen verfolgende Bourgeois des Liberalismus, sondern der das gemeinsame Interesse der Gemeinschaft verteidigende Citoyen – man kann hier Fetschers Kritik an der Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit herauslesen. Der Repräsentationsmodus dieses guten Staates ist idealerweise de79  Vgl.

ebenda, S. 91–96. S. 103. 81  Gegen diese wörtliche Interpretation hat John Herz eingewandt, dass sich zwar genügend Textstellen finden lassen, die Rousseau zu einem Konservativen machen, jedoch fraglich sei, ob dies nicht zu Lasten anderer Stellen gehe. Insgesamt überwiege das „self-determining, free, moral individual“ die „close, organic community“ (Herz, John H.: Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, in: Social Research (1965) 32, S. 207–209, S. 209). 80  Ebenda,



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mokratisch, nur hat die Demokratie Rousseaus in Fetschers Interpretation ihre Radikalität verloren. Rousseau wisse nur zu genau, dass es nicht gut sei, dass Legislative und Exekutive zusammenfallen, weshalb auch er letztlich das Pathos der Begründung des Staates aus der Volkssouveränität in ein institutionelles Arrangement überführe, was durchaus Nähe zu Montesquieu aufweise.82 Wichtiger für den Erhalt der Republik sind nicht Wahlrechtsfragen, sondern vor allem die Betonung der „Föderation kleiner Republiken“83 und die Notwendigkeit wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen zur annähernden Gleichstellung aller Bürger. Rousseau ist für Fetscher kein Sozialist, kein Radikaler, sondern ein republikanisch gesinnter Kleinbürger, der die Heiligkeit des Privateigentums verteidigt.84 Rousseaus Idealstaat ist daher gleichermaßen Bundesstaat und Sozialstaat. Schließlich ist Rousseaus Staat ein Rechtsstaat, auch wenn Fetscher keinen Zweifel daran lässt, dass er kein Liberaler sein könne, wie die fragwürdige Stellung von vorstaatlichen Menschenrechten85, fehlender Verfassungsgerichtsbarkeit und mangelnder Unabhängigkeit der Justiz insgesamt zeigen.86 Jenseits der strukturellen Parallelen zur zeitgenössischen politischen Ordnung ist es aber insbesondere der Erziehungsgedanke, der von Fetscher herausgearbeitet wird: Eine funktionierende politisch-freiheitliche Ordnung ist nicht nur das Ergebnis eines institutionellen Arrangements, sondern vor allem die lebendige, patriotische Unterstützung der Republik als Rechtsgemeinschaft der Gleichen.87 Solche pädagogisch-normative Stellen – die Fetscher später bei der Funktionsbestimmung einer kritischen Politikwissenschaft als „praktische Teilhabe an der künftigen Wirklichkeitsgestaltung“88 82  Vgl.

Fetscher: Rousseaus politische Philosophie, S. 169 f. ebenda, S. 179–184. 84  Vgl. ebenda, S. 223. 85  Vgl. ebenda, S. 144. 86  Vgl. ebenda, S. 106 f. Aufschlussreich ist an dieser Stelle die Deutung der berüchtigten Formulierung Rousseaus, dass derjenige, der sich zum Gesellschaftsvertrag bekannt habe, ihn aber dennoch bricht, mit dem Tode bestraft wird. Fetscher interpretiert diese heikle Stelle völlig nüchtern als typische Begründung der Strafverfolgung bei Landes- und Hochverrat. (Vgl. ebenda, S. 191 f.) 87  Für Reinhart Koselleck liegt im Anschluss an Carl Schmitt gerade in der Kombination von Aufrechterhaltung voller Souveränitätsrechte des Staates und normativ sich rechtfertigenden Rechtsgemeinschaft der Gleichen, durch welche die Gesellschaft gezwungen wird, „gegen sich selbst zu prozessieren auf der Jagd nach einem unerfüllbaren Soll“ (Koselleck, Reinhart: Krise und Kritik. Eine Studie zur Patho­ genes der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973, S. 135), Rousseaus Verantwortung für die Französische Revolution bzw. für die permanente Revolution der Moderne insgesamt, die zwangsläufig in den totalen Staat umschlagen müsse. Dieses Argument ist zuerst von Stahl gegen die 1848er Revolution vorgetragen worden. 88  Fetscher, Iring: Politikwissenschaft, Frankfurt am Main 1968, S. 18. 83  Vgl.

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schärfer akzentuieren wird – können auch als kritischer Kommentar zur Adenauer-Ära verstanden werden. Zugleich vermeidet er zu diesem Zeitpunkt jegliche direkte Missbilligung, sondern wendet das Argument eher beschwichtigend und versöhnlich – was ebenfalls als ein Kommentar zur bundesdeutschen Außenpolitik interpretiert werden könnte: „Der Patriot der autarken Republik aber kennt keinen Grund, der ihn veranlassen könnte, einen Nachbarstaat anzugreifen. Die Forderung nach staatlicher Autarkie ist daher bei Rousseau gerade das Gegenteil von dem, was sie bei Hitler war. Sie ist nicht die ermöglichende Voraussetzung des Krieges, sondern vielmehr die notwendige Bedingung friedlicher Koexistenz.“89 Insgesamt wird Fetscher nicht müde zu zeigen, wie rückwärtsgewandt Rousseau mit seinen politischen Vorschlägen gewesen ist. Wenn er ihn daher als „traditionalistischen Moralisten“ und „Anwalt einer kleinbürgerlichegalitären republikanischen Ordnung“90 interpretiert, so zielt er damit gegen die Vereinnahmung und Verurteilung des Genfer Philosophen als Vorläufer von Revolution,91 Terror und totalitärer Herrschaft. Auch wenn er so missverstanden wurde, Rousseau selbst war weder Revolutionär noch moderner Demokratietheoretiker, er war ein Traditionalist, der an der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft litt, sich ihrer Konsequenzen jedoch verweigerte. Mit dieser Deutung vollzieht Fetscher einen entscheidenden Umschwung in der Rousseauinterpretation der frühen Politikwissenschaft, die ihn bis dato nur als Kontrastpunkt zur bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie setzte. Zugleich muss seine Interpretation keineswegs nur als akademische Versachlichung der Debatte begriffen werden. Denn Fetscher gelingt es aus seinem hegelianisch geprägten Standpunkt, Rousseau an die grundgesetz­ liche Ordnung und den kulturpessimistischen Zeitgeist der fünfziger Jahre anzupassen. „Der verbreitete Wunsch nach dem Bequemen enthüllt, dass wir unserem ‚sinnlichen‘ Ich einen Vorrang gegenüber dem sittlichen einräumen. Während die Menschen sich einst fragten, ob etwas schicklich oder angemessen sei, und sich damit an einer überindividuellen Norm orientierten, geht es ihnen jetzt nur noch um ihr egoistisches individuelles 89  Fetscher:

Rousseaus politische Philosophie, S. 207. S. 255. 91  Die scharfe Abgrenzung von Rousseau gegenüber der Französischen Revo­ lution wird in den späteren Ausgaben von Fetscher unter dem Einfluss von Werner Bahner (War J. J. Rousseau ein konservativer Denker? Zu einigen Tendenzen in der gegenwärtigen Rousseau-Deutung, in: ders.: Beiträge zur Französischen Aufklärung und zur spanischen Literatur. Festgabe für Werner Krauss zum 70. Geburtstag, Berlin 1971, S. 27–43), Albert Soboul und Walter Markov (Die Sans­ culotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793–1794, Berlin 1957 und 1789, die große Revolution der Franzosen, Berlin 1973) etwas zurückgenommen. 90  Ebenda,



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Wohlergehen.“92 Dass Fetscher Rousseaus politische Philosophie zunächst entdramatisiert und an den Zeitgeist der fünfziger Jahre anpasst, um sie dann aber als traditionalistisch und wenig zeitgemäß zu verwerfen, kann als seine Kritik an der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik verstanden werden. Wenn Fetscher indes in den fünfziger Jahren eine Kontrastierung von demokratischem Ideal und parlamentarischem Alltag demonstrativ vermeidet, zu der er sich dann in den siebziger Jahren angesichts erreichter stabiler demokratischer Verhältnisse und Wohlstands doch durchringt und mit Rousseau die Stärkung partizipativer Elemente fordert,93 bestätigt nur die These, dass auch bei ihm die Rousseauinterpretation durchaus politischen Implikationen folgte.

92  Fetscher, Iring: Komfort und Wohlergehen, zitiert nach: ders.: Neugier und Furcht, S. 444. 93  Vgl. Fetscher, Iring: Konkrete Demokratie – heute, in: ders.: Herrschaft und Emanzipation, München 1976; ders.: Die Demokratie. Grundfragen und Erscheinungsformen, Stuttgart u. a. 1970, S. 71–81; ders.: Rousseau, Voltaire und wir, in: ders.: Arbeit und Spiel, Stuttgart, 1983, S. 125–145, bes.: S. 137–140. Von dieser ­enthusiastischen, sich auf Rousseau berufenden Position scheint der späte Fetscher wieder abgewichen zu sein, wenn er konstatiert, dass „eine Republik nach Rousseauschem Muster zu verwirklichen, notwendig zum Scheitern verurteilt“ (Fetscher: Neugier und Furcht, S. 460) ist. Zu den Grenzen der konservativen oder demokratischen Lesart Rousseaus vgl.: Brandt, Reinhard: Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart 1973.

III. Zur aktuellen Diskussion über Ideengeschichtsschreibung

Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft Von Oliver Hidalgo, Frauke Höntzsch und Samuel Salzborn Der Politischen Ideengeschichte haftet der Ruf an, realitäts- und praxisfern, also nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Rolle der Geschichte des politischen Denkens im Rahmen der Politikwissenschaft undurchsichtig geworden, ihr Status angesichts des zunehmend sozialwissenschaftlichen Selbstverständnisses des Faches ins Wanken geraten ist. Damit verbunden ist die Infragestellung der Daseinsberechtigung der Politischen Theorie als eigenständiger Teilbereich der Politikwissenschaft, als dessen integraler Bestandteil die Ideengeschichte traditionell firmiert. Die Ursache hiervon ist nicht etwa in einem abnehmenden Interesse an der Politischen Theorie als solcher zu sehen, sondern in dem zunehmenden Selbstbewusstsein (und dem in der Sache durchaus zu begrüßenden Anspruch) aller Teildisziplinen der Politikwissenschaft, Politische Theorie zu betreiben. Was heute noch unter „Politischer Theorie“ verstanden wird, ist deswegen heftig umstritten und entwickelt sich immer mehr zum Deutungskampf. Dabei ist gegenwärtig festzustellen, dass der klassische politikwissenschaftliche Teilbereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte in einer Art vorauseilendem Gehorsam sowie in Reaktion auf den gängigen Vorwurf der Praxisferne und Abgehobenheit seine ideengeschichtliche Tradition mehr und mehr verleugnet bzw. in die Lehre verbannt. Nicht nur außerhalb der Subdisziplin, sondern oft genug auch in den eigenen Reihen wird die Ideen­ geschichte im Zuge dessen auf ihre historische Dimension verkürzt, wodurch ihre Kraft und Aktualität unnötig und zum Schaden des gesamten Fachs beschnitten wird. Denn eine derart defensive Handhabung der Problematik übersieht, dass der unter Legitimationsdruck stehende Bereich die Eigenständigkeit der Teildisziplin wesentlich mitbegründet und rechtfertigt. Eingedenk dessen, dass die Politische Theorie ausschließlich in Kombina­ tion mit der Ideengeschichte ein eigenständiger Teilbereich der Politikwissenschaft bleiben kann und eben dadurch einem rein szientistischen Verständnis des Faches vorbeugt, wie es die theoretischen Ansätze der anderen Teilbereiche nahe legen, will der vorliegende Beitrag zeigen, warum es weder erforderlich noch ratsam wäre, die Ideengeschichte zum historischen Fach zu mar-

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ginalisieren. Vielmehr ist darzulegen, wie sich der normative Anspruch der Politischen Theorie aufrecht erhalten lässt, ohne dass eine Vermengung mit dem Gebiet der Politischen Philosophie stattfinden müsste. Die dazugehörige Argumentationslinie präzisiert zunächst den bereits angeklungenen Bedeutungsverlust der zeitgenössischen Ideengeschichte (I), bevor in drei unterschiedlichen, sich jedoch ergänzenden Anläufen Rolle und Status der Teildisziplin als theoretische Basis der Politikwissenschaft neuerlich herausgestellt werden. Im Anschluss an eine Diskussion und Weiterentwicklung der derzeit verstärkt aufgegriffenen Arsenalfunktion der Ideengeschichte durch Samuel Salzborn (II) entwickelt Oliver Hidalgo einen innovativen Ansatz zur Klärung der normativen Chancen des hier vertretenen Verständnisses der Teildisziplin als Ideen- und Begriffspolitik (III). Abschließend formuliert Frauke Höntzsch einen programmatischen Entwurf zu einer genuin politikwissenschaftlichen Ideengeschichte, die zeigt was sein kann, indem sie die Appelle ideengeschichtlicher Quellen rekontextualisiert (IV). I. Das Dilemma der Ideengeschichte Einführungen beginnen in allen Teilbereichen der Politikwissenschaft oftmals mit Verweisen auf Autoren der Ideengeschichte. Solche Rückbezüge sind jedoch meist nicht mehr als historisches Vorgeplänkel und gehen über namedropping selten hinaus. Sie sind eher rhetorischer, denn systematischer Natur. Die jeweiligen Autoren werden als historische Gewährsmänner benannt, ohne dass die durch sie formulierten Prinzipien wert scheinen, im Einzelnen ausgeführt oder gar näher studiert zu werden. Das bedeutet nicht nur eine unzulässige Verkürzung, sondern führt auch zu einem standardisierten und statischen Gebrauch der Klassiker. Diese verkommen zu Platzhaltern eines theoretischen Konzepts, als tatsächliche Inspirationsquelle fallen sie hingegen aus. Mit dieser (Aus- und Ab-)Nutzung der politischen Denker vergangener Epochen geht das Verständnis der Ideengeschichte als einer nur oder vornehmlich historischen Disziplin einher, zu diesem Zwecke verknüpft mit dem Hinweis, dass es sich bei ihrer Ansiedlung im Fach Politikwissenschaft um eine deutsche Eigenheit handle, will sagen, um eine nur zufällige Zuordnung. Besser aufgehoben sei die Ideengeschichte bei den Historikern. Problematisch scheint dabei insbesondere, dass diese Sichtweise immer häufiger auch in den eigenen Reihen übernommen und die tiefergehende Beschäftigung mit der Ideengeschichte vom Mainstream der Politischen Theorie nicht ernst genommen wird – sei es als Reaktion auf die Angriffe der anderen Teilbereiche, sei es aus einem an Effizienz und Verwertbarkeit ausgerichteten Theorieverständnis, dem jeder theoretische Diskurs, der keinen unmittelbaren praktischen Wert aufweist, verdächtig erscheint.



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Die historische, bisweilen stilistische Verkürzung der Ideengeschichte erfolgt völlig zu Unrecht, denn die Ideengeschichte ist nicht nur Geschichte, sondern besitzt auch immenses theoretisches Potenzial, das für das Nachdenken über Politik im Hier und Jetzt nicht zu unterschätzen ist. Dem würden vermutlich die meisten Vertreter des Teilbereichs Politische Theorie ohne Umschweife zustimmen. Trotzdem ist der offensive Einsatz für eine systematische Nutzung klassischer Texte eher verhalten. Das scheint vor allem daran zu liegen, dass ein solcher Zugriff auf ideengeschichtliche Texte methodische Probleme mit sich bringt.1 Im Streit um den richtigen Umgang mit den Quellen lassen sich im Rahmen der Ideengeschichte im Wesentlichen zwei gegenüberstehende Zugänge unterscheiden.2 Auf der einen Seite ein philosophischer, textimmanenter Zugang, der überzeitliche Wahrheiten proklamiert und der Ideengeschichte betreibt, indem er die „Klassiker“ des politischen Denkens wie einen Dialog großer Männer liest. Auf der anderen Seite ein historischer, kontextueller Zugang, der Ideengeschichte betreibt, indem er den Text vor dem Hintergrund seines historischen Entstehungszusammenhangs zu verstehen versucht, indem entweder dem sozio-ökonomischen Kontext oder aber dem diskursiven Kontext mehr Gewicht zugedacht wird. Der philosophische Zugang findet zwar in der Politischen Ideengeschichte nach wie vor Verwendung, wird aber im Rahmen der Politikwissenschaft kaum nachdrücklich vertreten. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass der philosophische Zugang quer zum (sozial)wissenschaftlichen Zeitgeist und zur Annahme historisch und kulturell kontingenter Wertvorstellungen steht. Darin ist zugleich der Grund für die Popularität der Cambridge School of Intellectual History zu sehen, deren sprachanalytischer Zugang der Ideengeschichte jene Wissenschaftlichkeit verheißt, die sie in der Auseinandersetzung mit den Fachkollegen so schmerzlich vermisst. Doch wenngleich die Cambridge School auch nachvollziehbar den Anspruch des philosophischen Ansatzes kritisiert, aus ideengeschichtlichen Texten „ ‚zeitlose Elemente‘ in Form ‚universaler Ideen‘ oder sogar ‚überzeitlicher Weisheiten‘ von ‚universaler Anwendungsmöglichkeit‘ “ (Skinner 2010: 22 / 23) zu extrahieren, so ist ihr Verständnis der Ideengeschichte als historische Disziplin3 1  Vgl.

hierzu Salzborn 2012. die verschiedenen Richtungen und Schulen der deutschen Ideengeschichte siehe Udo Bermbach (1984), der selbst für eine „Theoriegeschichte“ plädiert „der es vornehmlich um die Rekonstruktion historischer Politik-Konzepte geht, und die solche Konzepte aus deren sozial-historischen Kontext- und Konstitutionsbedingungen zu erschließen versucht“ (ebd.: 25; siehe auch Bermbach 1981). 3  Skinner (1978) konstatiert: „One merit should thus like to claim for the approach I have described is that […] it might begin to give us a history of political theory with a genuinely historical character“ (Bd. 1: xi). 2  Für

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aus politikwissenschaftlicher Sicht ebenso unbefriedigend. Wenn Skinner (2010: 81) die „grundlegende Aufgabenstellung, mit der wir uns bei der Textanalyse daher konfrontiert sehen“, darin sieht, „herauszufinden, was ein Autor zu der Zeit, in der er schrieb, dem Publikum das er ansprechen wollte, durch das Machen der Äußerung tatsächlich mitzuteilen beabsichtigte“, so ist – abgesehen davon, dass die Möglichkeit einer solchen Rekonstruk­ tion mit guten Gründen infrage gestellt werden kann (vgl. Nitschke 2011) – hier kein politikwissenschaftliches Interesse forschungsleitend. Die Relevanz ideengeschichtlicher Texte für die Gegenwart wird stattdessen weitestgehend verneint. Das Dilemma der politikwissenschaftlichen Ideengeschichte ist es damit, dass sowohl der historische wie der philosophische Zugang aus politikwissenschaftlicher Sicht Defizite aufweisen, weil der Erklärungsanspruch hinter dem politikwissenschaftlichen zurückbleibt bzw. über ihn hinausgeht, ohne dass dies von einem eigenen Verständnis der Ideengeschichte oder einem eigenständigen, fachspezifischen Zugang flankiert wird. II. Ideengeschichte als Arsenal Die skizzierten Probleme der Ideengeschichte aufgreifend, bestimmt Marcus Llanque ihre Charakteristik funktional als „Archiv und Arsenal“ (Llanque 2010: 100). Damit befindet er sich in intellektueller Nähe zu Foucaults Archäologie des Wissens (welche die Arbeit am Archivbestand der Diskursformationen als Alternative zur klassischen, autorenzentrierten Ideengeschichte entfaltete) und knüpft zugleich an das Begriffsverständnis von Herfried Münkler an (2006: 103), der zuvor die Metapher von Archiv und Laboratorium geprägt hatte.4 Nach Llanque rekonstruiert die Ideengeschichte Theorien unter einem politischen Primat, die als Ordnungsparadigmen im Spannungsfeld von Institution und Legitimation sowohl streitbar wie umstritten und damit stets konflikthaft sind. Als „Archiv“ tradiere die Ideengeschichte „die Bestände politischen Denkens der letzten 2400 Jahre“, als „Arsenal“ stelle sie „einen Fundus an Argumenten, Ideen und Modellen der Politik zur Verfügung.“ Aufgrund der Unüberschaubarkeit des Archivs mit seinen „unzähligen Rollen, Bänden, Pamphleten, Aufsätzen und Manuskripten“ präge der „Zuschnitt des Archivs“ bereits „seine Funktion als Arsenal“, insofern „die gesamte Fülle des Textmaterials“ von niemandem zur Kenntnis zu nehmen und eine Beschäftigung damit stets auf die selektive „Vorarbeit der politischen Ideengeschichte angewiesen“ ist (Llanque 2008: 2, Herv. d. Verf.). 4  Klaus von Beyme (1969) sprach analog von der politischen Ideengeschichte als einem „Lagerhaus politischer Probleme“.



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Die von Llanque und anderen vorgenommene Modifizierung des Laboratoriums zum Arsenal (vgl. Bluhm / Fischer / Llanque 2011: IX f.) erschließt einen neuen metaphorischen Interpretationsraum, da im Laboratorium der Ideen nicht nur mehr experimentiert und kombiniert wird als im Arsenal, sondern das Arsenal der Ideen auch in seiner militaristischen Metaphorik eine methodologische Grundfunktion der Ideengeschichte einfängt, die im Begriff des Laboratoriums fehlt: nämlich die Funktion, Theorien (historisch) als Ergebnis von politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu verorten und damit in ihren Entstehungskontext aus Systemkonflikten zu stellen wie zugleich ihre instrumentelle Verwendung in (zeitgenössischen und aktuellen) politischen Debatten als scheinbar integre, weil mit den Weihen geistesgeschichtlicher Größe gesegnete Argumente herauszuarbeiten und kritisch zu kommentieren. Die Ideengeschichte ist somit im doppelten Sinn eine Waffe: erstens, da die Analyse von zeitgenössischen Konflikten selbst Bestandteil politischer Auseinandersetzung war und politische Theorien intervenierend mit Blick auf die jeweilige historisch-politische Ordnung formuliert wurden, also in ihrem Entstehungskontext eigentlich Systemanalysen waren; und zweitens, da die Bezugnahme auf die Ideengeschichte in ihrer Rezeption diese selbst wieder zum Instrument werden lässt. Denn während ihr systemischer Zeitkern längst historisiert ist, bleibt ihr intervenierendes Potenzial evident und kann insofern in veränderten politischen Kontexten neu platziert werden. Unter diesem paradigmatischen Gesichtspunkt ist jene „Arsenalfunktion“ der Ideengeschichte weiterzuentwickeln sowie der „analytisch-interventionistische Akzent“ (Bluhm / Fischer / Llanque 2011: X) noch stärker zu betonen – sowohl konzeptionell hinsichtlich seiner historischen Kontextualisierung als auch mit Blick auf seine politische Instrumentalisierung. 1. Politische Theoriebildung als Reaktion auf Systemkonflikte Politische Ideen und Theorien entstehen in der Absicht, politische Ordnungen zu verändern – oder sie vor Veränderungen zu bewahren. Ganz gleich, ob die Änderungsabsicht genereller oder punktueller Natur ist oder ob Veränderungen abgewehrt oder rückgängig gemacht werden sollen, bildet stets ein Konflikt um konkurrierende Wahrnehmungen von politischer Legitimität das zentrale Motiv für die Formulierung von politischen Theorien. Denn nur gesellschaftliche Systeme und politische Ordnungen, in denen Legitimitätskonflikte und Interessengegensätze auftreten, generieren die Notwendigkeit zur Einsicht in die Ursachen für Defizitwahrnehmungen durch einzelne gesellschaftliche Gruppen, die über Ein- und Ausschluss in Macht- und Herrschaftsstrukturen entscheiden.

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Am deutlichsten zeigt dies die Geschichte der klassischen politischen Theorien des Liberalismus, des Sozialismus und des Konservatismus. Deren Konflikte im 18. und 19. Jahrhundert versuchten, die rechtlichen, sozialen und ökonomischen Streitfragen der europäischen Gesellschaften des Zeit­ alters der Aufklärung theoretisch zu erfassen und dabei auch jeweils das eigene Handeln zu legitimieren (vgl. Göhler / Klein 1991; Lenk / Franke 1987; Llanque 2008). Aber auch beispielsweise die Entstehung der Systemtheorie im Zusammenhang mit der fortschreitenden Formalisierung und Bürokratisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts verrät deren Merkmal als Herrschaftsstabilisierungsideologie, die Konflikte zu neutralisieren trachtet. Insofern sind in politische Theorien immer politische und soziale Kämpfe von Gesellschaften eingeschrieben, die den soziokulturellen und historischen Kontext ihrer Formulierung geprägt haben. Liegen die Entstehungsbedingungen für politische Theorien in politischen und sozialen Interessenkonflikten begründet, so sind sie auch die Ursache für die Wirkmächtigkeit von politischen Theorien über den engen, historischen Bezug hinaus. Denn allein der Umstand, dass eine Idee politischtheoretisch konzipiert und von einer Gruppe von Intellektuellen und politisch Aktiven angenommen und vorangetrieben wird, klärt nicht ihre legitimatorische Durchsetzungsstärke. In dem Maße, wie ein Ordnungskonzept in der politischen Theorie – zumindest in seinen wesentlichen Grundzügen – vorformuliert werden muss, bevor es realisiert werden kann, ist diese theoretische Konzeptionalisierung auch Folge von gesellschaftlichen und politischen Krisenerscheinungen und kann dabei in legitimierender wie in delegitimierender Absicht der jeweiligen Ordnung geschehen.5 Zur praktischen Verwirklichung einer theoretischen Ordnungsvorstellung reicht freilich der Gedanke nicht aus. Zu einer zur politischen Programmatik verdichteten Idee muss vielmehr immer eine gesellschaftliche Elektrisierung kommen: Das Bündnis aus Elite und Masse ist unausweichlich, soll eine neue Ordnungskonzeption verwirklicht oder, anders herum, eine bestehende gegen sie revolutionierende Vorstellungen geschützt werden. Der letztlich kausale Kern für die Frage nach Stabilität und Instabilität, nach Legitimierung und Delegitimierung liegt hier im diffizilen Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Dimensionen. Gemeint sind bewusste (vor allem politische und rechtliche), vor- und teilbewusste (vor allem soziale) und unbewusste (vor allem psychische) Strukturen im Interaktionsverhältnis von Individuum, Gruppe und Masse, die auf multidimensionale Weise Stabilität oder Labilität bestehender politischer Ordnungen und Attraktivität bzw. 5  Zum

Ordnungsdenken siehe Anter 2004.



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Unattraktivität gedachter Alternativen beeinflussen. In den Worten von John DeLamater u. a. (1969) koppeln sich funktionale und normative Motive für eine Bindung an eine politische Ordnung mit symbolischen Elementen.6 Je nachdem, welche Faktoren im Konzert mit anderen wirkungsmächtig werden, fällt die weitere historische Entwicklung aus. Dass theoretische Konzepte, Entwürfe und Kritiken nicht nur im historischen Kontext diskutiert und damit zeitgenössisch zu relevanten Theorien werden, sondern auch in der Gegenwart fortwährend präsent bleiben und so in das Arsenal der Ideen eingehen, hat seine Ursache in der Wirkmächtigkeit von politischen Theorien. Diese ergibt sich aus einer individuell-biografischen und einer sozialhistorischen Dimension: Politische Konzepte, die ohne Bindung an soziale Bewegungen als ihre Trägerinnen formuliert werden, verlieren im Zeitenlauf ihre Intensität und verblassen zunehmend. Sie sind dann zwar noch historisch von Interesse, aber eben nicht mehr sozialwissenschaftlich. Die Besonderheit von politischen Theorien in ihrer Fortwirkung über den sozialhistorischen Kontext hinaus liegt genau darin, erfolgreich wesentliche Struktur- und / oder Funktionselemente ihrer jeweiligen Gesellschaft erkannt und erfasst zu haben und damit (kleinere oder größere) Teile der politischen Kultur(en) eines politischen Ordnungskontextes zu politischem Handeln motiviert oder dieses umgekehrt (de-)legitimiert zu haben. Im Zusammenhang von zeitgenössischer Diskurs- und Wirkmächtigkeit politischer Theorien und ihrer fortwährenden Nutzung auch nach Überschreiten ihres unmittelbaren gesellschaftlichen Zenits liegt die verdoppelte Herausforderung der Auseinandersetzung mit historisch-politischen Theorien. Die Relevanz der ideengeschichtlichen Analyse stellt sich deshalb in zweifacher Hinsicht. Es geht zugleich darum, einen Zugang mit Blick auf den historischen Standort von Theorien als abstrakte Versuche, Politik und Gesellschaft zu analysieren bzw. zu interpretieren, zu entwickeln, wie die (instrumentelle) Nutzung von historischen Theorien für gegenwärtige Politik methodisch greifbar zu machen. Udo Bermbach (1981, 1984) hat für diesen Ansatz einer gesellschaftstheoretisch und sozialhistorisch aufmerksamen Theorieanalyse den Begriff der Theoriengeschichte vorgeschlagen. Anstatt der vermeint­lichen Genialität einzelner Personen („großer Männer“) und ihrer scheinbar kontextlosen „Ideen“ rückt dadurch die historische Kontextgebundenheit der Theorieentwicklung in den Mittelpunkt. Des Weiteren plädiert dieser Terminus dafür, die Auseinandersetzung mit historisch-politischen Theorien – wie Gesine Schwan (2010) argumentiert hat – auch im Sinne der politischen Kulturforschung nach ihren sozialen Kontextbedingungen zu befragen. Insofern gehen 6  Siehe

hierzu auch Vorländer 2004.

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in das Arsenal der Ideen immer auch die politischen und sozialen Entste­ hungsbedingungen ein, die ihre instrumentelle Nutzung in der Nachgeschichte lediglich ein Stück weit präfigurieren. 2. Ideenrezeption und ihre Instrumentalisierungen Die als Arsenal für Politik wie Politikwissenschaft verstandene Ideengeschichte ist doppelt militant: einerseits, weil sich durch die Analyse historisch-politischer Theorien politische und soziale Konflikte rekonstruieren und die jeweilige Wirkmächtigkeit von Theorien im handgreiflichen Sinne zeigen lässt; andererseits weil sich politische und wissenschaftliche Akteure aus diesem Arsenal der Ideen für gegenwärtige Auseinandersetzungen fortlaufend bedienen, sie instrumentell einsetzen, simplifizieren und damit Theorien in einen neuen sozialen Kontext einbinden, der abermals die Frage nach dem impliziten und expliziten Interesse aufwirft, das mit der Neujustierung einer Theorie verbunden ist. Am Beispiel der Vertragstheorien zeigt sich dieser Prozess anschaulich. Diese avancierten nicht nur zur zentralen Argumentationsfigur hinsichtlich der Neubegründung der modernen Herrschaftsverhältnisse und damit zur Konstitutionsbedingung bürgerlich-liberaler Gesellschaften in Europa und Amerika seit dem 17. Jahrhundert (vgl. Kersting 1994; Ottmann 2006), sondern wurden zugleich aufgrund ihrer strukturellen Exklusionsmechanismen ausgiebig in der feministischen Theorie im 20. Jahrhundert diskutiert (vgl. Kreisky / Sauer 1997; Ludwig / Sauer / Wöhl 2009; Pateman 1988). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts traten sie sodann in völlig modifizierter Form auf die politische Agenda. Dies reicht von grünen Parteien in Europa, die einen „neuen“ Gesellschaftsvertrag fordern, bis hin zu den afrikanischen Protest- und Revolutionsbewegungen, für die die Legitimationsfrage auch die nach vertraglichen Sicherungen wird. Die Reinterpretations-, Instrumentalisierungs- und Kritikpotenziale sind bzw. waren jeweils immens, ebenso wie die Differenzen zwischen ihnen. Der Übergang von Realanalogien zu Instrumentalisierungen ist notwendig fließend. Denn die Idee – in einem Hegelschen Sinne – gibt es im Arsenal der Ideen nicht, weil die Pluralität von Interpretation und Rezeption einen Konsens strukturell unmöglich macht. Sie ist vielmehr eine retrospektive Kon­ struktion, selbst umkämpft und umstritten, die aus dem Blickwinkel der Gegenwart verstanden, dabei akzentuiert und somit nutzbar gemacht wird. In­ strumentalisierung meint dabei nicht, dass sie vorsätzlich oder fahrlässig missbraucht würde, sondern lediglich, dass sie für eigene wissenschaftliche und / oder politische Zwecke in Dienst genommen wird, also die Instrumentalisierung in einem empirischen, nicht einem normativen Sinn zu verstehen ist.



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Aufgrund des sozialen Charakters jeder Idee, die bewusst oder unbewusst bestehende normative, symbolische und systemische Ordnungen in der Absicht reflektiert, verändernd oder stabilisierend auf sie einzuwirken, stehen Ideen in ihren historischen Konstellationen im Widerstreit miteinander – um den Wahrheitsanspruch, aber mehr noch im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie: Die (dialektischen) Diskurse, die in der Ideengeschichte zum Vorschein kommen, bekämpfen sich z. T. regelrecht, d. h., es geht hierbei nicht nur um Rationalität, sondern auch um Polemik. Es wird gekämpft um der je spezifischen Wahrheit willen. (Nitschke 2011: 292)

Gerinnt wiederum eine Idee zur Leitidee einer politischen Bewegung, einer Partei, einer Nation oder gar einer Epoche, dann konfiguriert sie ein hierarchisches Setting mit anderen Leitidee-Entwürfen, die sowohl in einem kompromissorientierten (z. B. ist die Leitidee sozialer Gerechtigkeit kompatibel mit der Leitidee globalen Friedens) wie in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander stehen können (z. B. ist die Leitidee des ökonomischen Liberalismus mit der des Kommunismus inkompatibel). Mit Blick auf die Makroepoche der Moderne sind beispielsweise die Menschen- und Bürgerrechte im Verbund mit der Demokratie als dominante Leitideen identifiziert worden (vgl. Bluhm 2006), der Antisemitismus hingegen als negative Leitidee und damit dominante Gegenerzählung (vgl. Salzborn 2010). In Anlehnung an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947) liegt in diesem ideengeschichtlichen Konkurrenzverhältnis eine Dialektik, die gerade auch die Ambivalenzen und Widersprüche von Ideen inkorporiert. In ihrer historischen Militanz wetteifern Ideen um das Potenzial, Denkund Weltordnungen entlang ihrer Prämissen strukturieren zu können. Sie sind also im ideologiekritischen Sinne funktional mit sozialen und politischen Bewegungen verbunden, die sich für oder gegen sie einsetzen. Einmal eingegangen ins Arsenal der Ideen, in die überindividuelle Erinnerung geistesgeschichtlicher Reflexivität, lassen sie sich aber in der Folgezeit in geänderter Sortierung reformulieren und in Stellung bringen für den Kampf für (oder gegen) alte, neue oder revidierte Leitideen. Anschaulich wird der Kampf um ideengeschichtliche Hegemonie an der Geschichte sozialistischer Ideen: von der „Waffe der Kritik“ (Marx 1844: 385) bei Marx und Engels (die sich freilich selbst schon bei Hegel, Feuerbach, Smith, Ricardo, Fourier und anderen bedient hatten) ausgehend, wurden aus dem Arsenal der Ideen so unterschiedliche Aspekte reaktiviert und mit anderen Ideen neu kombiniert, dass sich sowohl Stalin wie Luxemburg, Lenin wie Renner, Gramsci wie Radbruch, Neumann wie Guevara in die Tradition von Marx und Engels stellen konnten. Die Frage, die sich in ideen­geschichtlichen Nachgeschichten insofern immer stellt, ist die nach der

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Legitimität: so gibt es wohl kaum eine marxistische (politische wie wissenschaftliche) Strömung, die nicht die jeweils anderen bezichtigen würde, illegitimer-, weil fehlinterpretierenderweise auf Marx und Engels Bezug zu nehmen. Von objektiv bestimmbaren Fehlern (der Lektüre, der Übersetzung usw.) einmal abgesehen, liegt in der Legitimitätsfrage aber ein Konfliktfeld des Arsenals selbst: denn da dem Arsenal der Ideen keine höhere normative oder moralische Instanz innewohnt, bleibt seit Machiavelli und Hobbes unentschieden, wer Recht hat. Entschieden werden kann offenbar nur, wer Unrecht hat und, was zentral ist, wer sich faktisch durchsetzt. So kann z. B. ideengeschichtlich wie ideologiekritisch eingewandt werden, dass Habermas aufgrund seiner positivistischen Wendung den intellektuellen Stachel der Kritischen Theorie gezogen und sich damit objektiv von ihr verabschiedet hat; das Etikett „Kritische Theorie“ hat er trotzdem für sich behauptet, auch oder gerade wenn sein Sinn damit verkehrt wurde. Insofern sind die Kämpfe um das Arsenal der Ideen immer auch empirische Kämpfe: wer sich in Sachen Deutungsmacht durchsetzt und wem es gelingt, soziale, politische und wissenschaftliche Bewegungen zu beeinflussen, erlangt die Hoheit über das Arsenal – freilich nur bis zur nächsten Schlacht. III. Die normativen Chancen der Politischen Ideengeschichte 1. Begriffsgeschichte / Begriffspolitik als empirisches Paradigma? In unserer vorangegangenen Argumentation wurde Ideengeschichte in doppelter Hinsicht als „Waffe“ bestimmt: Erstens, indem die Analyse von zeitgenössischen Konflikten, die sich in den politischen Ideen widerspiegelt, nicht neutral verläuft, sondern ihre Konzepte im Rahmen der dahinter stehenden Auseinandersetzung (sowie in Absicht auf Bewahrung oder Veränderung der bestehenden historisch-politischen Ordnung) formuliert; und zweitens, indem die spätere Bezugnahme auf den ideengeschichtlichen Fundus der politischen Theorien ihrerseits in politischer Hinsicht (im Sinne einer einschlägigen Instrumentalisierung bzw. Stellungnahme) unternommen wird. Umso einsichtiger ist, dass mit Skinner das Verständnis politischer Ideen nicht zuletzt im Kontext der politischen Debatten, denen sie entspringen, zu erfolgen hat.7 Wie oben erwähnt, kann dem Arsenal des politischen Denkens deshalb keine höhere normative oder moralische Instanz innewohnen. Wie im Folgenden gezeigt wird, resultiert aus dem unvermeidlich be7  Zur

kritischen Diskussion von Skinners Ansatz siehe den Band von Tully 1988.



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griffspolitischen Zuschnitt der Beschäftigung mit der Ideengeschichte dennoch keine Verabschiedung, sondern lediglich eine Neufassung des normativen Gehalts politischer Ideen, so dass sich der normative Anspruch politischer Semantiken explizit darstellen lässt. Dabei bleibt unbestritten, dass sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte des Politischen zunächst darauf beschränkt, die wandelbaren soziomoralischen Bedeutungszuschreibungen sowie die dahinter stehenden gesellschaftlichen Wirklichkeitserfahrungen der politischen Sprache transparent zu machen. Die deskriptive Analyse relevanter Grundbegriffe und ihrer etymologischen Quellen sowie die Rekonstruktion ihrer Deriva­ tionen und Alteritäten sind unweigerlich mit der Einsicht in die grundsätzliche Kontingenz politischer Konzepte verbunden,8 was der klassischen Symbiose zwischen Ideengeschichte und normativ-ontologischem Wissens­ paradigma zweifellos zuwiderläuft. Mithilfe von ideengeschichtlichen Kontextualisierungen und Genealogisierungen lässt sich umgekehrt freilich ebenso das Bewusstsein schärfen, dass sogar die „Analysen“ der zeitgenössischen, sich immer stärker empirisch fundierenden Politikwissenschaft Teil des besagten politischen Kampfes sind. Auch sie repräsentieren keine (sozial-)wissenschaftliche „Objektivität“, sondern bezeichnen lediglich das aktuelle Stadium (und wenn man so will: die Machtverhältnisse) der Auseinandersetzung. Ihre Ergebnisse sind folglich nach Maßgabe der Politischen Ideengeschichte interpretierbar, bedient sich die Politikwissenschaft doch bestimmter Semantiken und Begrifflichkeiten, deren historische Umstrittenheit infolge kritischer Reflexion erhellt wird. Was beispielsweise Demokratie ist und was Autoritarismus oder Totalitarismus, was Macht und Gewalt, Krieg und Frieden, Staat und Kultur, eine Institution oder ein politisches System9 lässt sich nie wertfrei definieren, sondern beinhaltet normative Vorentscheidungen, die von den jeweiligen Erfahrungs-, Sozialisations- und Bedeutungshintergründen geprägt sind. Die Unmöglichkeit einer „schlechthin ‚objektiven‘ wissenschaftlichen Analyse“ des sozialen, kulturellen und politischen Lebens wurde bezeichnenderweise bereits von Max Weber betont. Dieser beharrte darauf, dass „keine Erkenntnis von Kulturvorgängen“ denkbar sei, als diejenige 8  Kari Palonen bezeichnete analog das Unterfangen einer Theoretisierung politischer Konzepte auf Basis der Begriffsgeschichte als „Subversion“ der klassischnormativen politischen Ordnungstheorie, womit er insbesondere die Ansätze von Skinner oder Reinhart Koselleck zur Conceptual History meinte (Palonen 2002). Beide stünden für einen nachhaltigen Vorgang der „Entzauberung“ der Politischen Theorie im Sinne Max Webers (Palonen 2004). Zur konzisen Darstellung von ­Kosellecks Beitrag zur Begriffsgeschichte siehe v. a. die Einleitung zum Lexikon der Geschichtlichen Grundbegriffe (Koselleck 2004). 9  Zu diesen evidenten Beispielen siehe den Band von Göhler / Iser / Kerner 2006.

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„auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, […] entscheidet sich nach den Wertideen, unter denen wir die ‚Kultur‘ jeweils im einzelnen Falle betrachten“ (Weber 1991: 49, 61).

Das heißt, so wie die Ideengeschichte auf der einen Seite vom Bild der überhistorischen Autorität zu befreien und eine Restauration der Politikwissenschaft auf Basis überzeitlicher Wahrheiten obsolet geworden ist, ist auf der anderen Seite der Vorstellung einer wertfreien, ausschließlich empirische ‚Fakten‘ beschreibenden Politikwissenschaft mit gebotener Skepsis zu begegnen. In dieser Hinsicht bestätigt die Konjunktur konstruktivistischer Analysen in den Internationalen Beziehungen, aber auch in den Systemvergleichen sowie in den Studien zur politischen Kultur die enorme Wirkungsmacht politischer Ideen und Begriffe hinsichtlich der Entscheidungen der politisch relevanten Akteure, die in ihren Haltungen und Handlungen ganz wesentlich von ihren jeweiligen normativen Überzeugungen abhängen und in ihren einflussnehmenden Rollen die Struktur politischer Systeme national wie international prägen. In diesem Zusammenhang wäre es ein Trugschluss, die Politikwissenschaft (auf Basis von Webers Werterelativismus) ihrerseits auf eine lediglich beobachtende Funktion zu reduzieren und die zentrale Frage nach der begründeten Legitimität politischer Ideen – gerade auch im transkulturellen Vergleich – als „unwissenschaftlich“ abzutun. Mithilfe der Ideengeschichte, insbesondere in Abwägung der kontroversen Interpretationen und Bandbreiten, die politische Konzepte im Laufe ihrer wechselvollen Historie erfahren haben, lässt sich vielmehr eine wissenschaftliche Position zwischen Kritik und Affirmation, normativer Geltung und Entlastung gewinnen. Die Rekonstruktion und Genealogisierung politischer Diskurse in Geschichte und Gegenwart verurteilt den Politikwissenschaftler keineswegs zu einer deskriptivanalytischen Perspektive, sondern ermöglicht (und verlangt!) seine eigene normative Positionierung im Kanon der politisch-intellektuellen Auseinandersetzung. Dabei ist weder entscheidend, wer „Recht“ hat, noch dass der „Wert“ einer politischen Idee lediglich anhand ihrer empirischen Durchsetzungsmacht taxiert wird. Diese beiden Extreme vermeidend, vertieft die Beschäftigung mit der Politischen Ideengeschichte stattdessen das Verständnis für die komplexen Hintergründe, die die Kämpfe um die beste Ordnung erst hervorbringen, um anschließend in die (Selbst-)Widersprüche von bzw. zwischen politischen Begriffen einzufließen. Besonders auffallend ist hier die Überlagerung von empirischer und normativer Ebene, die sich als Teilaspekt in den inhaltlichen Streitpositionen präsentiert. So steckt im Vertreten eines rein „empirischen“ politikwissenschaftlichen Ansatzes nahezu unweigerlich eine Herrschaft stabilisierende



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Maßnahme – sei es durch Reduktion des wissenschaftlichen Feldes auf den historischen Status quo (der damit eine unwillkürliche Aufwertung erfährt) oder auch durch Extension10 eines politischen Begriffs auf eine gewachsene historische Realität zu Legitimationszwecken. Dass sich hinter der zur Schau gestellten Neutralität des empirisch-analytischen Ansatzes in der Politikwissenschaft nicht selten eine bestimmte politische Strategie ver­ birgt, hat Skinner anhand der empirischen Demokratietheorie von Robert A. Dahl und anderen veranschaulicht. Deren Kritik an einer gleichsam unwissenschaftlichen normativen Aufladung des Demokratiebegriffs war dazu angetan, qua Diskreditierung der idealistisch-partizipatorischen Komponente der Volksherrschaft (rule by the people) den Anwendungsbereich des Konzepts auf die vorgefundene Realität der Repräsentativverfassungen in apologetischer Absicht zu begrenzen (Skinner 1973). Das gegenwärtig geäußerte Unbehagen an der Demokratietheorie (Buchstein / Jörke 2003), die sich in ihrer Output-Zentriertheit zunehmend auf politische Systeme beschränkt, die in anderen Epochen eher als elitistisch oder oligarchisch beschrieben worden wären, hat demnach wesentlich damit zu tun, dass jene normative Komponente des empirischen Paradigmas nicht selten unreflektiert bleibt.11

10  Zur davon berührten These, dass – gegen die Ansicht des logischen Empirismus vom Schlage Rudolf Carnaps – die historische Intension eines Begriffs keineswegs dessen (politisch motivierte) Extension bestimmt, siehe Putnam 1975. 11  Skinner selbst ist in dem skizzierten Streit seinerseits nicht neutral. Hinter dem Vorwurf der Manipulation eines bestimmten normativen Vokabulars durch Dahl und Konsorten (Skinner 1973: 295 ff.) steckt vielmehr das Missfallen eines Anhängers des republikanischen Erbes der Demokratie, das später in den Foundations of Modern Political Thought (1978) mehr als deutlich zum Vorschein kam. Skinners rhetorische Perspektive zur Erklärung von Begriffspolitiken, die er in seinen späteren Werken ausführte und vertiefte, komplettiert sich mit anderen einschlägigen Ansätzen, bei denen ebenfalls zwischen Begriffsgeschichte, Ideen- und Begriffspolitik kaum zu unterscheiden ist, so etwa bei Koselleck, der die Entwicklung der politischen Begriffe nicht nur als Faktor, sondern auch als Indikator des sozialen Wandels veranschlagte (vgl. Koselleck 1989: 107–129). In der Sichtweise von Kari Palonen mutiert selbst ein Autor wie Max Weber zum „Begriffspolitiker“ (vgl. Palonen 2005), und zwar in dem von Carl Schmitt formulierten Sinne als einem Wissenschaftler, dem an der Durchsetzung des eigenen Vokabulars gelegen war. Zu Schmitts eigener Einschätzung, dass Weber auf „typische und besonders intensive Art und Weise Politik“ getrieben habe, indem er „den Gegner als politisch, sich selbst als unpolitisch (d. h. hier: wissenschaftlich, gerecht, objektiv, unparteiisch usw.) hin­ stellt[e]“, siehe Schmitt 2002: 21, Anm. 4. Zur Überlappung von Begriffsgeschichte und Begriffspolitik, in der die politische Wirkungsmacht der „Geschichte“ des politischen Denkens als „Ideenpolitik“ insgesamt zum Tragen kommt, siehe auch die Einlassungen von Lübbe 2003, Mehring 2006 und Llanque 2006.

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2. Normative Idiosynkrasien des ideengeschichtlichen Diskurses Der Blick auf die Vergangenheit der politikwissenschaftlichen Disziplinen sowie auf die wiederkehrenden Fragen, die das Politische Denken seit seinen Anfängen ausmachen, fördert nicht nur die Selbstreflexion des Faches, sondern trägt überdies viel zur Orientierung, Mäßigung und damit zur Legitimation der politischen Auseinandersetzungen als solchen bei. Die Kenntnisnahme und Akzeptanz der Umstrittenheit, ja der Unentscheidbarkeit des politischen Streits, die sich aus der Geschichte der politischen Ideen ergibt, stellt an jede aktuelle ideengeschichtlich fundierte bzw. kontextualisierte Positionierung eine zentrale Grundbedingung: die implizite oder auch symbolische Anwesenheit der explizit abwesenden (bzw. attackierten) politischen Position infolge der Bezugnahme auf die wechselvolle Historie der politischen Ideen. In der Rekonstruktion und Adaption der ideengeschichtlichen Kontroversen (unter Verzicht auf die Hochstilisierung einzelner Autoren) liegt ein zentrales theoretisches Potenzial der Teildisziplin begründet. Indem es in erster Linie die Art des Diskurses ist (und weniger die isolierte Argumentationskraft ausgewählter Klassiker), die den Kern des politischen Gesprächs über die Zeiten hinweg ausmacht, fordert die Beschäftigung mit der Ideengeschichte dazu auf, die eigene Position stets als Teil des heterogenen Ganzen zu entwickeln, das heißt die begrenzte Reichweite des vertretenen Arguments sowie die relative Legitimität bestimmter Gegenpositionen anzuerkennen. Das aktuelle Plädoyer für einen „starken“ Staat im Sinne von Hobbes kann zum Beispiel die historischen Zähmungsversuche des Leviathan durch Denker wie Spinoza, Locke, Montesquieu oder Kant schlichtweg nicht ignorieren und darf deshalb nicht hinter deren Argumentationsgehalt zurückfallen. Wenn entsprechend Carl Schmitt die autoritäre Logik von Hobbes Staatsentwurf zu rehabilitieren trachtete, dann erfolgte dies notgedrungen in radikaler Ablehnung der liberalen Grundmomente, die den ­Leviathan bereits durchzogen und den nachfolgenden Relativierungen des Hobbesschen Begriffsschemas ein plausibles Einfallstor geboten hatten.12 In Kenntnis der staatsrechtlichen Kontroverse, die vom ambivalenten Ausgangspunkt Hobbes einerseits zum liberal-demokratischen Rechtsstaat à la Locke und Kant und andererseits zur Radikalisierung des Leviathan durch Schmitt führte,13 ist es somit überhaupt nicht mehr möglich, in der Nachzeichnung der skizzierten Debatte eine normativ neutrale Position einzunehmen. Die widersprüchlichen Entwicklungslogiken eines ideengeschichtlichen 12  Siehe dazu Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938). 13  Für eine noch striktere Lesart, die Schmitts Einlassung nicht als Kennzeichnung einer folgenschweren Dichotomie innerhalb des Leviathan, sondern als „Zerstörung“ des Hobbesschen Ansatzes versteht, siehe Salzborn 2009.



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Datums wie des Leviathan, die dem Politikwissenschaftler bewusst sind, prägen seine eigene Sichtweise und machen ihn bei bestimmten Appellen, die nach einem „starken Staat“ rufen, auf die intellektuelle Dynamik von Hobbes zu Schmitt aufmerksam. Umgekehrt kann er oder sie ebenso wenig leugnen, wie viel Hobbesianisches Risiko in jeder für demokratische Rechtsstaaten obligatorischen Sicherheitspolitik verbleibt, die dem Staat schlicht die geeigneten Mittel zukommen lassen will, um seine eigene Existenz sowie das Leben seiner Bürger zu schützen. Angesichts jenes mäßigenden, die vorhandenen Gegensätze ausbalancierenden und daher implizit normativen Grundcharakters der politischen Stellungnahmen, zu denen derartige ideen- und begriffspolitisch aufmerksame Ansätze herausfordern, richten sich die betroffenen Positionierungen des Politikwissenschaftlers dezidiert gegen vereinfachende Lösungen und einseitige Argumentationsstränge (selbst wenn die Rekonstruktion einzelner Ansätze / Argumente aus dem ideengeschichtlichen Arsenal auf Pointierungen und Simplifizierungen häufig angewiesen bleibt). Die Berücksichtigung der Komplexität politischer Begriffe, die anhand ihrer Umstrittenheit ablesbar wird, fordert in konkreten Diskursen und Streitfragen eine (zusätzliche) Fokussierung auf gerade diejenigen Positionen aus dem Fundus der Ideengeschichte, die in aktuellen Debatten unter den Tisch zu fallen drohen. Zur Veranschaulichung des Bedarfs an Differenzierung, welcher die ideengeschichtliche Perspektive auf politikwissenschaftliche Themenbereiche anleitet, mag erneut das Beispiel Hobbes dienen. In dessen Problematisierung der Grundspannung zwischen Freiheit und Sicherheit enthüllen sich sowohl ihr wechselseitiger Bezug wie auch ihr grundlegender Widerspruch (vgl. Lev. XIII; XXI). Unter Hinzuziehung anderer relevanter Ansätze, die das Hobbessche Problem trotz der parallel geübten Kritik nicht eliminieren konnten,14 ist dadurch eine Argumentationslinie zu zeichnen, die sich gegen einen simplen Automatismus in der fraglichen Beziehungsstruktur wendet: maximale Freiheit ist weder durch ein Minimum an Sicherheit zu erreichen, noch geht eine Erhöhung der Sicherheit unausweichlich mit Freiheitsverlusten einher. Die dadurch nötige Balance zwischen beiden Prinzipien lässt sich andererseits nur herstellen, wenn zugleich ihr Gegensatz nicht beschönigt wird und das (Hobbessche) Risiko, dass Sicherheit mit zu großen Freiheitsverlusten erkauft wird, nicht aus dem Visier gerät (Hidalgo 2012a). Ein anderes Beispiel wäre das schwierige Verhältnis zwischen Demokratie und Religion. Die Geschichte der politischen Ideen zeigt diesbezüglich sowohl konstruktive Verbindungslinien (Sozialkapital, Zivilgesellschaft, Grenzen demokratischer Verfügungsgewalt, atheistische Ideologien) wie 14  Hierzu wären erneut die Beiträge von Spinoza, Locke, Montesquieu, Kant oder den Federalists zu nennen.

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destruktive Potenziale (Religionskriege, Intoleranz, mögliche Korruption und / oder Radikalisierung des Politischen) und taxiert so im Umkehrschluss Bedarf wie Grenzen an Säkularisierung – eine Frage, die vor allem für die angemessene Beurteilung und Unterstützung demokratischer Transforma­ tionsprozesse in traditionell religiös geprägten Gesellschaften von entscheidender Bedeutung ist (vgl. Hidalgo 2012b). Indem der Blick auf die Ganzheit der Ideengeschichte und die sie ausmachenden Kontroversen von der Formulierung eigener politischer Posi­ tionen die implizite Berücksichtigung von Gegenargumenten und ein Austarieren der betroffenen Spannungen verlangt, ist eine (ganzheitlich) ideengeschichtlich begründete Stellungnahme stets mehr als bloße Rhetorik oder Polemik.15 Als Quintessenz der Verquickung zwischen Begriffsgeschichte und Begriffspolitik, die in diesem Unterkapitel entfaltet wurde, lässt sich insofern festhalten: Die (unvermeidliche) politische Positionierung des Ideen­geschichtlers, sein kontextualisierender Umgang mit dem heterogenen ideenhistorischen Material sowie die an ihn gestellte Aufforderung zu differenzierten Sicht- und Argumentationsweisen modifizieren zwar den normativen Gehalt politischer Ideen, der ihnen klassischerweise zugeschrieben wurde; die danach ausgerichteten Konzeptionalisierungen der politische Semantiken behalten jedoch einen spezifisch normativen Anspruch. Von diesem können sich auch die anderen Teildisziplinen der Politikwissenschaft nicht befreien, indem sie ja unverändert mit den gleichen, in der historisch-politischen Auseinandersetzung gewachsenen (und nicht objektiv definierbaren) Begriffen operieren. Eine Klärung der wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Politikwissenschaft jenseits von ideengeschichtlichen Rekursen scheint demnach kaum möglich. Nur in der – hier lediglich in einigen Ansätzen angedeuteten – Kenntnisnahme der Fülle der Geschichte des politischen Denkens sind die normativen Ansprüche, Implikationen und Konflikte politikwissenschaftlicher Semantiken zu eruieren, abzuwägen, kritisch zu hinterfragen und dadurch als im Ganzen legitimer Streit um und zwischen politischen Ideen zu verstehen, der auf ihre wissenschaftliche wie politische Umkämpftheit verweist. Dabei stehen nicht zuletzt die Widersprüche und Inkonsistenzen von politischen Semantiken, in deren geschichtliche Gegenwart die dahinter stehenden Auseinandersetzungen einfließen, im Zentrum der Betrachtung. Wer darin einen Abgesang auf die traditionelle normative Begründungsleistung der Politischen Ideen15  Dies heißt selbstverständlich nicht, dass sich im Archiv der Ideengeschichte keine polemischen Ansätze befänden und eine ideengeschichtlich fundierte Argumentation automatisch frei von Polemik wäre. Jedoch bringt der permanente ideengeschichtliche Diskurs bzw. die freie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den entsprechenden Texten solche Polemiken ans Licht und trägt so zur Selbstkorrektur des politischen Denkens bei.



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geschichte vermutet und mit Raymond Geuss zwischen der angeblich altbackenen, wirklichkeitsfernen normativ-idealistischen Politischen Philosophie à la Kant, Rawls und Habermas und der zeitgemäßen, norm- und ideologiekritischen ideengeschichtlichen Traditionslinie von Nietzsche bis Foucault unterscheiden will (vgl. Geuss 2011), der verkennt, wie gerade ein begriffspolitischer Zugang zwischen den Anliegen beider Seiten vermitteln kann.16 Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass auf dem Feld der Politischen Ideengeschichte die (antipolemische) Art der Auseinandersetzung das Alleinstellungsmerkmal bildet. Die verschiedenen Ansätze der Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion müssen sich deshalb nicht notwendigerweise auseinanderdividieren lassen, sondern können sich zu einem geteilten kritisch-reflexiven und normativen Grundanliegen ergänzen. Diesbezüglich sollte bis dato zumindest ein Eindruck davon vermittelt worden sein, wie die genannten Aspekte ineinandergreifen. Auf dem langen Weg zur Rehabilitation der Politischen Ideengeschichte als unerlässliche Komponente einer Theorie der Politikwissenschaft bedeutet dies immerhin eine opportune Zwischenetappe. IV. Politikwissenschaftliche Ideengeschichte Auf das eingangs skizzierte Dilemma der Ideengeschichte hat die Politikwissenschaft überwiegend mit der Formulierung integrativer Ansätze reagiert. So unterscheidet etwa Klaus von Beyme fünf Zugänge des ideengeschichtlichen Studiums, wobei die Politische Ideengeschichte seines Erachtens keine einheitliche Methode kennt, sondern nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit erforscht werden kann (vgl. von Beyme 1969). Auch Henning Ottmann betont den Beitrag verschiedener Disziplinen zur Erforschung des Gegenstands und wählt die Bezeichnung „Geschichte des politischen Denkens“ unter anderem, um weder die historische, noch die philosophische Dimension der Ideengeschichte einseitig zu betonen (vgl. Ottmann 2001; zuvor 1995 / 1996). Herfried Münkler schließlich formuliert zwar einen genuin politikwissenschaftlichen Anspruch der Ideengeschichte, doch bleiben Leistung und Arbeit des Laboratoriums als „Ort des Ausprobierens und Experimentierens“ mit den Substanzen des Archivs als „Ort eines nach systematischen und chronologischen Aspekten geordneten Aufbewahrens der Ideen und Theorien“ relativ vage (vgl. Münkler 2006: 103 ff.). Ein integratives Verständnis erscheint auf den ersten Blick sinnvoll, doch kann es 16  Zu dieser hier nicht weiter ausführbaren These siehe das Conference Paper von Oliver Hidalgo „Derrida, Kant oder die Politische Theorie auf der Suche nach den normativen Quellen ihrer Identität“, gehalten auf der Tagung „Gegenstand und Methoden der politischen Theorie“ der DVPW-Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte am 29. September 2011 an der Universität Bremen.

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keine genuin politikwissenschaftliche Ideengeschichte konstituieren: Wird die Ideengeschichte als Zusammenführung verschiedener fachspezifischer Ansätze verstanden und ihre spezifische (Mehr-)Leistung darin gesehen, die so gewonnenen Erkenntnisse „auf die Herausforderungen und Problemkonstellationen der Gegenwart zu beziehen“ (Münkler 2006: 105), bleibt das (politik-)theoretische Potenzial der Ideengeschichte unter- und der genuin politikwissenschaftliche Zugang zu sowie der Umgang mit ideengeschichtlichen Quellen unbestimmt. 1. Das theoretische Potenzial der Ideengeschichte Theoretiker der Politikwissenschaft lassen sich unterscheiden in solche, die über das, was ist – mit Blick auf die historisch betriebene Ideengeschichte ließe sich ergänzen: was war – und solche, die über das, was sein soll, verhandeln (auch wenn beides, wie gesehen, nie völlig voneinander zu trennen ist). Die normative Theoriebildung wird dabei meist dem Teil­bereich Politische Theorie (und Philosophie),17 die analytisch-empirische Theorie den anderen bzw. allen Bereichen zugeordnet. Der Teilbereich Politische Theorie beherbergt aber noch einen weiteren Modus der theoretischen Reflexion, den er angesichts der Bedrängung durch die empirisch-analytische Theoriebildung in weiten Teilen der Politikwissenschaft, die vermeintlich nützlicher ist, zum eigenen Schaden aufgibt, wenn er sich von der Ideengeschichte distanziert. Letztere verkörpert und eröffnet eine dritte Dimension politischer Theorie: Die Beschäftigung mit der Ideengeschichte zeigt, was sein kann. Hierin liegt im wahrsten Sinne des Wortes ein sehr zentrales theoretisches Potenzial der Ideengeschichte – sie zeigt Denkmöglichkeiten auf, die über die bloße Analyse des politischen Seins hinausgehen, ohne zugleich formulieren zu müssen, was sein soll. Positivistische und behavioristische Ansätze werfen normativen Theoretikern fehlende Neutralität vor, empirische Theoriebildung setzt sich dagegen dem Verdacht eines relativ unkritischen Umgangs mit der vorgefundenen Ordnung aus. Die Ideengeschichte bildet im vorliegenden Verständnis eine Korrektur zur empirischen und liefert zugleich ein Fundament, auf dem normative Theoriebildung erst entstehen und funktionieren kann. Die theoretische Dimension der Ideengeschichte bildet so verstanden ein Mittleres zwischen Sein und Sollen und vermeidet damit die Gefahr der 17  Vgl. dafür exemplarisch Göhler (2007: 80): „Diese normative Dimension kennzeichnet in besonderem Maße die politische Philosophie, wenn sie Ordnungsmuster bewertet und Handlungsorientierung vermittelt. Sie argumentiert daher ganz abgehoben von der Empirie – ebenso wie die politische Ideengeschichte, die diese Fragen für die Vergangenheit stellt“.



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Akzeptanz des Status Quo einer bloßen Deskription ebenso wie die Verabsolutierung vermeintlich zeitlos gültiger Wahrheiten. Die Ideengeschichte in theoretischer Perspektive bildet ein Mittleres zwischen Sein und Sollen einerseits, indem sie alternative Denkmöglichkeiten politischer Konzepte aufzeigen kann (wobei zunächst irrelevant ist, ob es sich um eine wünschenswerte Alternative handelt; sie aufzuzeigen, ist sinnvoll bereits als Infragestellung des Status quo); anderseits, indem sie die Implikationen und damit die potenziellen Chancen und Risiken politischer Konzepte benennen kann. Damit sei nicht gesagt, dass die Ideengeschichte konkrete Antworten für aktuelle Probleme liefern könnte, wohl aber, dass sie eine theoretische Reflexion der politischen Praxis ermöglicht. Wo eine solche Prüfung und Provokation bestehender Ordnungsvorstellungen den Anspruch der Optimierung erhebt, geht das Kann in ein Sollen über, die Beschäftigung mit der Ideengeschichte lässt sich dann in eine normative Theoriebildung überführen. 2. Rekontextualisierung als politikwissenschaftlicher Zugang Die hier entwickelte theoretische Mittel- und Mittlerposition der Ideengeschichte hat Folgen auch für den methodologischen Zugang zu und Umgang mit ideengeschichtlichen Quellen. Die Ideengeschichte in theoretischer Ausrichtung, eine politikwissenschaftlich betriebene Ideengeschichte, kann die grundlegende Aufgabe der Textanalyse weder darin sehen, die ursprüngliche Bedeutung des Textes zu erhellen, noch überzeitliche Wahrheiten zu extrahieren, sondern muss die grundlegende Aufgabe der Textanalyse darin sehen, die vorgefundenen Konzepte und Argumente zu rekontextualisieren. Das heißt in einem ersten Schritt die von der konkreten historischen Praxis abstrahierenden Konzepte herauszuarbeiten, um diese in einem zweiten Schritt in den konkreten aktuellen Kontext zu übersetzen. Damit ist nicht gesagt, dass die Texte zeitlose, unveränderliche Konzepte und Argumente enthielten, sprich Konzepte und Argumente, die damals wie heute gleichermaßen Anwendung finden konnten und können; vielmehr steht die jeweilige Rekontextualisierung in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext, wodurch die Konzepte und Argumente eine neue, durch die jeweiligen historischen Gegebenheiten geprägte Gestalt erhalten. Beispielhaft lässt sich hier auf Kants Friedensschrift verweisen, da Kant explizit zwischen praktischer und theoretischer Ebene trennt und so bereits die Grundlage für die Rekontextualisierung legt, die sich der Ideengeschichtler anderenfalls gänzlich selbst erarbeiten muss. Kants Friedensschrift enthält keine zeitlose Wahrheit, doch die auf theoretischer Ebene formulierten, von der konkreten Praxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts abstrahierenden Rechtsprinzipien können für die politische Praxis des 21. Jahrhun-

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derts rekontextualisiert werden, um daran beispielsweise bestehende Institutionen, wie die Europäische Union, zu messen (vgl. Höntzsch 2007).18 Für den skizzierten Umgang mit ideengeschichtlichen Quellen bietet die Rezeptionsästhetik (vgl. Warning 1975) interessante Anknüpfungspunkte: Zentral mit Blick auf die geforderte Rekontextualisierung ist, dass die Rezeptionsästhetik – durchaus auch im Sinne der hermeneutischen Diskussionen – den Blick weg von der Intention des Autors hin auf die Rolle des Lesers richtet und den Text als ein Netzwerk von an den Rezipienten gerichteten Appellstrukturen versteht. Jauß bestimmt Rezeptionsgeschichte als in der „sukzessiven Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotenzials“ (Jauß 1970: 186). Das heißt, der Text hat keine statische, endgültige Bedeutung, seine Bedeutung ist vielmehr abhängig von der Sinnzuschreibung durch den Leser. Der Leser tut dies immer, wie Iser betont, aus seiner historischen Verortung, er aktua­ lisiert den Text aus seiner historischen Position heraus: Wir aktualisieren den Text durch die Lektüre. Offensichtlich aber muss der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden, wenngleich in der Aktualisierung des Textes der gemeinsam Eindruck vorherrscht, dass die von ihm eröffnete Welt, so historisch sie auch sein mag, ständig zur Gegenwart werden kann. (Iser 1975: 230)

Dem vorliegenden Verständnis der Ideengeschichte als Politische Theorie geht es in diesem Sinne weder um die im Rahmen des historisch-kontextuellen Zugangs vollzogene Simulation synchroner Rezeption (was wollte der Text dem zeitgenössischen Publikum mitteilen) noch um die im Rahmen des philosophisch-textimmanenten Zugangs vollzogene pseudo-synchrone Rezeption (welche bleibenden Wahrheiten enthält der Text) – beides scheint gleichermaßen unmöglich. Worum es geht, ist eine systematische, aus dem jeweiligen Kontext heraus vollzogene Rezeption und damit auch um den Nachvollzug der diachronen Rezeption, verstanden als Folge von zu verschiedenen Zeiten aktualisierten Appellen eines Textes. Die Rezeptionsästhetik bezieht sich auf literarische Texte, weshalb die Übertragbarkeit ihrer Überlegungen auf die Ideengeschichte Grenzen hat. Iser definiert den literarischen Text als unbestimmt und fiktional: Er unterscheidet sich einerseits von anderen Textarten dadurch, dass er weder bestimmte reale Gegenstände expliziert noch solche hervorbringt, und er unterscheidet sich andererseits von den realen Erfahrungen des Lesers dadurch, dass er Einstellungen anbietet und Perspektiven eröffnet, in denen eine durch Erfahrung gekannte Welt anders erscheint. (Iser 1975: 233) 18  Mit einem rekontextualisierten Ewigen Frieden wäre selbstverständlich auch ein innovativer Beitrag für die Theoriedebatte in den Internationalen Beziehungen zu leisten. Siehe Hidalgo 2012c.



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Die Aktualisierungsmöglichkeit liegt mit Blick auf ideengeschichtliche Quellen nun nicht in ihrer Unbestimmtheit aufgrund des fiktionalen Charakters des Textes, sondern vielmehr in der Unbestimmtheit, die sich durch den von der konkreten historischen Praxis abstrahierenden Charakter der Überlegungen ergibt. Insoweit sich ideengeschichtliche Texte auf eine historische, rekonstruierbare Realität beziehen, ist ihr Gegenstand real und bestimmt, die Berücksichtigung des Entstehungskontexts ist und bleibt insofern unverzichtbar; politikwissenschaftlich interessanter jedoch sind die durch theoretische Abstraktion entstehenden Unbestimmtheitsstellen. Die Ideengeschichte kann auf die historische Verortung eines Textes als Grundlage für die Herausarbeitung abstrakter Prinzipien nicht verzichten, doch liegt das theoretische Potenzial ideengeschichtlicher Texte in der Bergung und Rekontextualisierung ihrer Unbestimmtheitsstellen. Die Unbestimmtheitsstellen evozieren im Zuge ihrer Bergung unterschiedliche Interpreta­ tionen, die wie auch die Rekontextualisierung stets vom konkreten Kontext abhängig sind. Wenn der vorliegende Ansatz die in einem Text zum Ausdruck kommenden Gedanken auch nicht enthistorisieren will, interessiert ihn doch nicht nur in deskriptiver Weise dessen Entstehungskontext. Vielmehr dient der Zugriff aus einem konkreten Rezeptionskontext als strukturierendes Moment, sprich: es wird nach anschlussfähigen Antworten gesucht, aber eben ohne Anspruch auf überzeitliche Geltung. Der Unterschied zum philosophischen Zugriff liegt folglich im Status der gewonnenen Erkenntnisse. Die „Klassiker“ beinhalten keine zeitlosen Wahrheiten, aber zeitlose Appelle (gleichwohl nicht jeder Appell zu jeder Zeit gleichermaßen wirksam ist), die der Rekontextualisierung bzw. der Konkretisierung in einem historischen Kontext bedürfen. Hier soll also nicht behauptet werden, dass man Texte wie Kants Zum ewigen Frieden oder Machiavellis Principe als zeitgenössische Texte lesen soll und kann. Es ist aber legitim (wenn nicht sogar letztlich die einzige Möglichkeit), ideengeschichtliche Texte nicht nur (im Anschluss an die Rezeptionsästhetik) aus dem je eigenen Kontext heraus, sondern vor allem (aufgrund der auf Abstraktion, nicht auf Fik­ tionalität beruhenden Unbestimmtheit ideengeschichtlicher Quellen) für den je eigenen Kontext zu lesen. Die Kanonbildung ist in diesem Verständnis eine Frage wirksamer Appellstrukturen, weil kein Text ‚überlebt‘, der keine Appelle an seine Leser sendet. Der Kanon der Ideengeschichte besteht folglich aus einem Kanon von Texten, die aufgrund ihrer auf Abstraktion beruhenden Unbestimmtheitsstellen zeitlose Appelle enthalten. Im Rahmen politikwissenschaftlicher Analyse ideengeschichtlicher Texte sind eben jene theoretischen Abstraktionen zu bergen, um diese dann in einem weiteren Schritt für den jeweiligen zeitgenössischen Kontext zu rekontextualisieren.

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V. Schluss Die politikwissenschaftliche Ideengeschichte hat ihre originäre Stärke darin, im Unterschied zur geschichtswissenschaftlichen Ideenforschung die Befassung mit historisch-politischen Theorien nicht lediglich auf eine möglichst vollständige Rekonstruktion zu beschränken, sondern politische Implikationen in gleicher Weise mit in die Reflexion einzubeziehen wie die Frage nach der konflikt- und hegemonieorientierten Relevanz von Ideen. Umgekehrt ist eine ideengeschichtlich kompetente Politikwissenschaft im Unterschied zu einer lediglich gegenwartsorientierten empirischen Theoriebildung dazu in der Lage, historische und sozialhistorische Kontextualisierungen analytisch zu integrieren und damit nicht einer tagesaktuellen Verkürzung anheimzufallen. Wie in unserer Argumentation deutlich wurde, ­erfüllt die Ideengeschichte in diesem Zusammenhang den Anspruch einer theoretischen Reflexion politikwissenschaftlicher Gegenstände aufgrund mehrerer miteinander verwobener Aspekte: –– der (ideologiekritischen) Klärung der semantischen und konzeptionellen Voraussetzungen der Politikwissenschaft im Ganzen –– des Verständnisses für die spezifische, implizite Normativität politischer Begriffe bzw. des politikwissenschaftlichen Diskurses in Geschichte und Gegenwart –– der Erweiterung des Gegenstands der Politikwissenschaft über die bloße Analyse des Ist-Zustandes hinaus zur Einsicht in die alternativen Gestaltungspotenziale des Politischen inklusive deren Chancen und Risiken. Ideengeschichtlich fundierte Einlassungen, die ihre eigene Verortung im kontroversen Diskurs nicht nur reflektieren, sondern nach Maßgabe dieser Reflexion ihre politischen Positionen in ebenso kritischer wie konstruktiver Distanz zu den historisch gewachsenen Strukturen und intellektuellen Denkformationen entwickeln, sind dadurch unverzichtbar, den eigentlichen legitimatorischen Anspruch und Stellenwert der Politikwissenschaft zu gewährleisten. Die Rolle des politischen Ideengeschichtlers umfasst hier sowohl die synchrone und diachrone Analyse der Kontroversen und Systemkonflikte, die das Arsenal des Politischen Denkens mit legitimatorischer Munition gefüllt haben (II), als auch die Einsicht in die eigenständige Legitimität des ideengeschichtlichen Diskurses, die sich aus dessen Gegensätzen, Widersprüchen und Ambivalenzen ergibt, indem sie faktisch abwesenden politischen Positionierungen zur symbolischen Anwesenheit verhilft und so die politische Kontroverse kritisch, mäßigend und gestalterisch beeinflusst (III). Aktive Aufgabe und dauerhafter Auftrag des Ideen­ geschichtlers stellen es schließlich dar, das Archiv mit denjenigen Texten (weiter) anzufüllen, aus denen sich zeitlose Appelle herausdestil-



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lieren lassen, und diese für den politikwissenschaftlichen Gebrauch zu rekontextualisieren (IV). Der Neuaufstellung der Politischen Ideengeschichte, die aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung und wachsenden Professionalisierung der politikwissenschaftlichen Tätigkeit unausweichlich ist, kann das Fach insofern weitaus selbstbewusster entgegen sehen, als der aktuelle Trend vermuten lässt: Indem die Ideengeschichte die Defizite der empirischen Theoriebildung auffangen und die normative Theoriebildung fundieren kann, sollte sie sich weit weniger Schwächen einreden lassen, als sich auf ihre Stärken als Theorie der Politikwissenschaft besinnen. Literatur Anter, Andreas (2004): Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen. Bermbach, Udo (1981): Bemerkungen zur politischen Theoriengeschichte, in: Politische Vierteljahresschrift, 22 / 2, S.  181–194. – (1984): Über die Vernachlässigung der Theoriengeschichte als Teil der Politischen Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.): Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft, Opladen (= PVS-Sonderheft Nr. 15). S. 9–31. Beyme, Klaus von (1969): Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereichs, Tübingen. Bluhm, Harald (2006): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Einleitung, in: ders. / Jürgen Gebhardt (Hrsg.): Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden, S. 9–30. Bluhm, Harald / Fischer, Karsten / Llanque, Marcus (2011): Ideenpolitik in Geschichte und Gegenwart, in: dies. (Hrsg.): Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin, S. IX–XIII. Buchstein, Hubertus / Jörke, Dirk (2003): Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 31, S. 470–495. DeLamater, John / Katz, Daniel / Kelman, Herbert C. (1969): On the Nature of National Involvement, in: The Journal of Conflict Resolution, Vol. XIII, S. 320–357. Geuss, Raymond (2011): Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, Hamburg. Göhler, Gerhard (2007): Theorie als Erfahrung. Über den Stellenwert von politischer Philosophie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft, in: Hubertus Buchstein / Gerhard Göhler (Hrsg.): Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden, S. 80–104. Göhler, Gerhard / Klein, Ansgar (1991): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn, S. 259–656.

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Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? Niklas Luhmanns Staatskonzept im Spiegel parastaatlicher Gewalt und informeller Staatlichkeit Von Markus Holzinger I. Einleitung Wer einen kurzen Blick über die Theorielandschaft der politischen Weltgesellschaftstheorien der letzten Jahre schweifen lässt, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass dieses zentrale Feld der soziologischen Theoriebildung wieder fest in der Hand der „grand narratives“ ist (Brunkhorst 2011: 45 f.). Die Makroperspektive hat scheinbar die Mikrosoziologie der vielen heterogenen Geschichten und Kulturen beiseite geschoben. Alle historischen Narrative tendieren wieder ins Große: Die konstitutionalisierte Staatsverfassung wird zur konstitutionalisierten Weltverfassung (Habermas 2004). Das europäische internationale Völkerrecht wird zum globalen Weltrecht (Fischer-Lescano 2005). Die isomorphe Organisationskultur wird zur isomorphen „Weltkultur“ (Meyer 2005). Wenn man diese Metageschichten zusammendenkt, fällt überdies auf, dass nach wie vor viele Darstellungen doch sehr einem nahezu klischeehaften Ideal vom Aufstieg Europas verhaftet sind. Es hat beinahe den Anschein, als ob die eben benannten Theorien im Subtext die große europäische Metaerzählung fortschreiben. Geht es doch im Wesentlichen um die Errichtung einer (neuen) Weltraumordnung unter dem Banner des Okzidents. Als Hans Freyer (1954) im Jahre 1948 seine Synthese weltgesellschaftlicher Konstellationen vorlegte, nannte er sie „Weltgeschichte Europas“. Und auch Joachim Ritter (2003: 321) hatte bereits 1956 unter dem Stichwort „Weltzivilisation“ notiert: Wir seien heute Zeuge einer Umwälzung, der „Überführung der geschichtlich gewordenen bodenständigen Ordnungen in diejenige Gesellschaftsordnung und Zivilisation, die Europa selbst seit dem Beginn der Neuzeit (…) hervorgebracht hat“ (ebd., 323). Alles stehe im Bannkreis von Europa: „dies Europa hat seine Zivilisation überallhin auf die Erde getragen“ (ebd., 324). Die Teleologie der Gegenwart, so prognostizierte Ritter (2003: 337) unter Rekurs auf Hegels Geschichtsphilosophie, „ist die Europäisierung und mit ihr die Ausbreitung der ursprünglich europäischen Zivi-

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lisation“. Knapp sechzig Jahre später legt Christopher Bayly in seiner vielgelobten Globalgeschichte den Schluss nahe, die europäische Moderne habe aufgrund ihres Expansionsdrangs zum „Entstehen globaler Uniformität“ (Bayly 2006: 13) beigetragen und schuf allmählich ein Weltsystem, das „mittelfristig vom Westen dominiert wurde“ (ebd., 59). Die europäische Verfassung und Demokratie, so beobachtet Hauke Brunkhorst (2011: 46), seien „universelle evolutionäre Errungenschaften, die, einmal erfunden, sich auf ganz verschiedene Weisen überall zur Geltung bringen und sich längst von ihrem vermeintlichen Ursprung im Abendland emanzipiert haben“. Bei dieser großen Transformation, die von einem ungetrübten Fortschrittsglauben durchwebt ist, beschleicht den Leser also nach wie vor rasch das Gefühl, dass „Weltgeschichte“ die Vollendung europäischer Vorherrschaft ist. Insbesondere die systemtheoretische Spielart der Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann, mit ihrem Schwerpunkt auf dem Prinzip funktionaler Differenzierung, wird von Vielen als das elaborierteste Konzept im Kontext der Theorien der Weltgesellschaft interpretiert. Schon in seinem Weltgesellschaftsaufsatz von 1971 macht Luhmann auch für diese Ebene geltend, dass hier der Primat funktionaler Differenzierung Anwendung fände. Raumgrenzen stellten keine grundsätzlichen Hindernisse für Anschlüsse von Kommunikation an Kommunikation mehr dar. „Damit ist die Einheit einer alle Funktionen umfassenden Gesellschaft nur noch in der Form der Weltgesellschaft möglich.“ (Luhmann 1975: 60) Auch in seinen späteren Werken knüpft Luhmann an den gesellschaftstheoretischen Weltgesellschaftsbegriff an. Er spitzt hier seine Grundannahme nochmals zu und behauptet, „daß die auf der Ebene der Weltgesellschaft durchgesetzte funktionale Differenzierung die Strukturen vorzeichnet, welche die Bedingungen für regionale Konditionierungen vorgeben“ (Luhmann 1997: 811). Und auch ihre regionalen Adaptionen sind nur vor dem Hintergrund ihres Wirkungsradius verstehbar (Luhmann 1997: 808). Zunächst ereignete sich die Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung „nur in Europa“ (Luhmann 1997: 683). Die gesellschaftlichen Teilsysteme in ihrer gegenwärtig ausdifferenzierten Gestalt kennen jedoch, gemäß Luhmann, keine räum­ lichen Grenzen mehr oder Begrenzungen durch Sachverhalte wie Stände und Schichten. „Gesellschaft oder Weltgesellschaft kommt nur noch einmal vor.“ (Stichweh 2000: 241) Zwar werden die Entwicklungsunterschiede und Fragmentierungen verschiedener Regionen von Luhmann nicht vollständig negiert (Luhmann 1997: 806). Ihm entgehen auch nicht die Verwerfungen und Probleme in bestimmten postkolonialen peripheren Ländern (vgl. Luhmann 1995: 572). Aber die verschiedenen Formen von Divergenz der regionalen Entwicklungen sind seiner Meinung nach selbst Konsequenzen der Weltgesellschaft, ja sind „selbst ein durch die Gesellschaft geformtes Interesse“ (Luhmann



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1997: 162). Die Leistungsfähigkeit der Theorie der Weltgesellschaft erweise sich gerade darin, „daß es ihr gelingt, Unterschiede im System der Weltgesellschaft als interne Differenzierungen dieses Systems zu erweisen“ (Stichweh 2000: 13). Die Ausgangsperspektive der Weltgesellschaft ist nicht Divergenz, sondern „die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1997: 162). Luhmann muss diesen Pfad eines numerischen Monismus auch einschlagen, da er ja die (eine) Weltgesellschaft als einen Integrationseffekt von funktionaler Differenzierung begreift. Und aus dieser Einheitsperspektive, so die Vermutung, werde kulturelle Vielheit im Zuge der Expansion des Weltsystems – sprich: im Prozess der „Vollrealisierung funktionaler Differenzierung“ (Luhmann 1997: 163) – in „eine interne Differenzierung des Systems umgeformt“ (Stichweh 2000: 32). Die kontextspezifischen Widerstände und Idiosynkrasien der Region führen zu erneuten Ausdifferenzierungen der Weltgesellschaft, obgleich man eben damit nicht mehr von verschiedenen Regionalgesellschaften sprechen kann. Unklar bleibt hier freilich – und darauf werde ich zurückkommen – wie weit der Befund, dass die Auswirkungen verschiedener Funktionssysteme regional unterschiedliche Muster erzeugen, an die dennoch aufgestellte Behauptung einer Einheit eines Primats der an Funktionen orientierten Form der Differenzierung der Weltgesellschaft angeschlossen werden kann. Denn die Frage ist doch, ob Raumschranken, regional divergente Strukturen oder die „Periodenverschiedenheit der Kulturgebiete“ (Osterhammel 2009: 95), das Prinzip funktionaler Differenzierung selbst in Frage stellen. Es fehlt in der Soziologie freilich nicht an Stimmen, die sich nachdrücklich kritisch mit der Theorie funktionaler Differenzierung (auch auf der Ebene der Weltgesellschaft) befasst haben (z. B. Knöbl 2007: 45 ff., Schwinn 2001: 58 ff., Wagner 1996). Und selbst innerhalb der Systemtheorie – darauf werde ich zurückkommen – sind in den letzten Jahren Argumentationen vorgelegt worden, die deutlich machen, dass sie sich auf der Ebene der Weltgesellschaft mit dem Erklärungsmodell der funktionalen Differenzierung schwer tut. Luhmann selbst sah sich – wie wir weiter unten noch sehen werden – angesichts der empirischen Beweislage gezwungen, seine Prämissen neu zu justieren und zu relativieren. Nicht aber wurde, meines Wissens, das Theoriedesign in seinem elementaren Kern selbst modifiziert. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag zum Problem funktionsspezifischer Ausdifferenzierungsprozesse bei Luhmann. Ich gehe allerdings davon aus, dass bei näherer Betrachtung deutlich wird, dass sich bei der Theorie funktionaler Differenzierung – gerade auch in der Luhmannschen Spielart – nach wie vor beträchtliche Unschärfen und Erklärungslücken identifizieren lassen. Die Konzeption, an der ich diese These erläutern möchte, ist Luhmanns Begriff des europäischen Rechtsstaates als Prototyp des Subsystems der Weltgesellschaft. Bekanntlich ist es die These

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Luhmanns, dass das globale Funktionssystem der Politik vor allem über die segmentäre Binnendifferenzierung des Staates, genauer: des Rechtsstaates beschrieben werden muss. Der Staat fungiert bei Luhmann als eines der wesentlichen Strukturprinzipien, das die interne Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft bestimmt. Wer in die Weltpolitik inkludiert werden will, muss sich an das vorgegebene Muster und Regelset von „Staatlichkeit“ anpassen. Insofern ist internationale Anerkennung an die Durchsetzung der Staatsgewalt in einer bestimmten Region gebunden. Und internationale Akzeptanz ist wiederum eine der Quellen der Legitimation des Staates (Luhmann 2000: 225). Eine Soziologie des Staates der modernen Gesellschaft muss also für Luhmann letztendlich gleichbedeutend sein mit einer Skizze desjenigen Strukturprinzips, das sich für die Politik in der Weltgesellschaft durchsetzt.1 Meine These lautet nun, dass die Vermutung Luhmanns voreilig gewesen ist, dass sich das (west-)europäische Modell des Staates in seiner formal ausdifferenzierten Gesamtkonstellation, wie etwa die politische Gewaltenteilung und das Ethos subjektiver Rechte, weltweit ausbreiten würde. Stattdessen leben wir in immer höherem Maße in einer Welt der „multiplen Modernitäten“ (siehe z. B. Eisenstadt 2000; Knöbl 2007). Der Beitrag behandelt somit an dieser Stelle – um einen Ausdruck Thomas Risses (2009) zu benutzen – die von der Systemtheorie behauptete „Reisefähigkeit“ des Differenzierungs-Konzeptes in andere Weltregionen und kulturelle Kontexte. Inwieweit sind die westlich geprägten politischen Begrifflichkeiten Luhmanns auf diese übertragbar, und welche Probleme stellen sich dabei? Dabei wird wie folgt vorgegangen. Im zweiten Absatz werden einige grundlegende Postulate von Luhmanns Staatstheorie in aller Kürze und daher nicht ohne Vereinfachung dargestellt. Nach der Rekonstruktion von paradigmatischen Aspekten dient der dritte Abschnitt dazu, eine Problematisierung von Luhmanns Vorstellung der Ausdifferenzierung von Staatlichkeit vorzunehmen. Man kann sich relativ leicht vorstellen, dass sogenannte Teilsysteme und deren Kommunikationen (wie z. B. Geld oder Macht) auf einen Universalismus hin angelegt sind, deren Eigenlogik nicht an nationalen Grenzen Halt macht. Ein weitaus komplexeres Unterfangen ist es allerdings konsistent darzulegen, dass man diese expansive Tendenz auch auf das Ordnungsprinzip funktionaler Differenzierung übertragen kann. Die 1  Rudolph Stichweh (2002: 292) hat das griffig zusammenfasst: „Das System der Weltpolitik ist also ein System von Staaten. Zunächst etabliert es sich in der Form eines europäischen Staatensystems in der Zeit vom 11. bis 18. Jahrhundert, aus dem in der Moderne das Weltstaatensystem des 19. bis 21. Jahrhunderts hervorgeht. Aus diesem Argument ergibt sich ein Formzwang hinsichtlich der Bedingungen der Zugehörigkeit zur Weltpolitik: ein Gebiet, das an Weltpolitik teilnehmen will, muß die Form des souveränen Staates annehmen.“



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Diskussion soll an dieser Stelle jedoch nicht ausschließlich über eine weitgehend Luhmann-immanente Lektüre seiner politischen Soziologie fortgeführt werden. Dieses Thema wird stattdessen noch einmal zugespitzt durch einen Anwendungsfall, der heute unter den Termini „fragile“ oder „prekäre Staatlichkeit“ kursiert. Anhand dieses Diskurses soll überprüft werden, inwieweit von einem Transfer der funktionalen Differenzierung in einem globalen Zusammenhang gesprochen werden kann und wieweit sich dieses europäische Strukturmodell weltweit konsolidiert hat. Im Rahmen dieser Diskussion soll insbesondere die Prämisse Luhmanns diskutiert werden, dass globale Formen der Differenzierung regionale Kontexte konditionieren. An dieser Stelle soll die Auseinandersetzung mit Luhmann an das Thema „informeller Staat“ rückgebunden werden. Denn verschiedenste Autoren, die sich mit dem Thema „Staatsversagen“ oder „Parastaatlichkeit“ befassen, machen explizit deutlich, dass der Prozess der Zersetzung grundlegender staatlicher Verwaltungsaufgaben gleichsam als „Enteignungsvorgang staat­ licher Souveränität und Verwaltung durch Vorgänge ‚informeller Dezentralisierung‘ und ‚Privatisierung‘“ (von Trotha / Klute 2001: 2) aufzufassen ist. Der informelle Staat, der sich insbesondere in vielen afrikanischen Regionen seit langer Zeit ausbreitet, muss geradezu als „Antithese zur Institutionalisierung und Verrechtlichung von politischer Herrschaft in den westlichen Verfassungsstaaten“ (Tezlaff / Jakobeit 2005: 124) aufgefasst werden. Staatsversagen ist ein prototypischer Fall informeller Handlungslogik, da sozial verbindliche Normen – aus welchen Gründen auch immer – durch Normen der Informalität und informelle Institutionen ersetzt werden.2 Dieser Prozess der Informalisierung des Staates soll an dieser Stelle durchaus als Kontrastfolie zu Luhmanns Bauplan des politischen Systems der Weltgesellschaft verstanden werden. Der Aufsatz setzt dann viertens die Auseinandersetzung mit Luhmann in Form eines Ausblicks auf die daraus folgenden Implika­ tionen und Herausforderungen für Luhmanns Weltgesellschaftstheorie fort. Gleichzeitig sollen einige Einwände der Systemtheorie und alternative Interpretationsfolien diskutiert werden, um schließlich fünftens mit einem Fazit zu enden. 2  Der Begriff „informal“ bezieht sich im Gegensatz zu formalen Handlungen, die durch rechtliche Regelungen erfasst werden, so Eberhard Bohne (1981: 46), auf „rechtlich nicht geregelte Verhaltensweisen, die vom Handelnden anstelle rechtlich geregelter Verhaltensweisen gewählt werden und somit in faktischer Hinsicht eine Alternative zu formalen Handlungen bilden“. Anders als viele Interpretationsfolien vorschlagen, wird Formalisierung vs. Informalisierung weder als ein hierarchisches, binär codiertes oder als ein asymmetrisches Begriffspaar betrachtet. Ich folge vielmehr den instruktiven Erörterungen von Gunnar Folke Schuppert (2011) und verstehe Formalität und Informalität als ein graduelles Verhältnis. Es geht also nicht „um ein Verhältnis dichotomischer Entgegensetzung (…), sondern um eines der graduellen Abstufungen und Übergänge“ (Folke Schuppert 2011: 20).

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II. Luhmanns Staatskonzeption 1.  Kollektiv bindende Entscheidungen: Seit einigen Jahren erscheint die Rolle des Staates als funktionaler Garant für Ordnung in vielerlei Hinsicht in Frage gestellt. Während Thomas Hobbes die Staatsgründung der Menschen noch mit der göttlichen Kreation des Menschen in Analogie setzt, scheint seine Zukunft heute eher ungewiss. Auch bei Luhmann kommt dem Staat sicherlich keine Universalvollmacht mehr zu. Schon früh hat Luhmann gegen die sich noch den etablierten Staats- und Steuertheorien verpflichtende Politikwissenschaft angeführt, dass Politik heute ohne den klassischen Staatsbegriff auskommen müsse. Dies sei der Lauf der Dinge, in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der Teilsysteme der Gesellschaft zunehmend einen autonomen Rand entwickelten und sich gegen eine Umwelt abschließen würden. Politik erschöpfe sich heute „im Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ (Luhmann 2000: 84). Dennoch besteht für Luhmann kein Zweifel, dass dem Staat letztendlich die politische Souveränität zugeschrieben werden muss. Der Begriff des Staates bezeichnet nach wie vor „die politische Gesamtverantwortung für eine genau abgegrenzte Region“ (Luhmann 2000: 244). Mit ihm verbindet das Volk und das politische System die „Selbstbezeichnung einer politischen Ordnung“ (ebd. 190). Nach der Anarchie der religiösen Bürgerkriege im 16. und 17. Jahrhundert wird die Einheit des Politischen im Zuge der Genese des Territorialstaates als „Einheit der Staatsgewalt auf einem eindeutig begrenzten Territorium“ (ebd.: 206) bezeichnet. Staatliche Herrschaft ist zentralisierte Gebietsherrschaft. Bindende Entscheidungen werden innerhalb des Staates mit Hilfe institutioneller Ämter gefällt. 2.  Binnendifferenzierung: In seiner Binnendifferenzierung stellt sich das politische System als dreistellige Relation von Politik, (Staats-) Verwaltung und Publikum dar (Luhmann 2000: 253 ff.). Verwaltung und Publikum bestimmt Luhmann als Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Das Zentrum ist hierarchisch organisiert, die Peripherie segmentär. Der Staat als Organisation ist das Orientierungszentrum, um das sich Parteien und Interessenverbände, schließlich auch Protestbewegungen gruppieren und für diesen „Zulieferungsdienste“ (Luhmann 2000: 245) erbringen. Das politische Zentrum muss, wenn es Themen platzieren will, kollektiv entscheiden, während z. B. das politische Publikum sich lokal an Einzelthemen orientiert. Parteien übernehmen die Aufgabe, kollektiv bindende Entscheidungen vorzubereiten (Luhmann 2000: 266 f.). 3.  Machtkreislauf: Politische Macht kann in modernen Gesellschaften nicht simpel hierarchisch, sondern nur noch dreidimensional und durch Recht zweitcodiert erscheinen. Für Luhmann ist die Demokratie mit ihren



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ineinander verzahnten Teilsektoren (Wahlregime, politische Teilhaberechte, bürgerliche Freiheitsrechte, Gewaltenkontrolle, effektive Regierungsgewalt) diejenige politische Regierungsform, in der sich die „Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ (Luhmann 2000: 105) manifestiert. Allerdings ist Luhmanns Demokratiekonzept von allen normativen Vorgaben gereinigt. Gemäß der „offiziellen“ Interpretation muss alle Gewalt vom Volke ausgehen. Das Volk kann aber nicht gleichzeitig Regierender und Regierter sein. Dies liefe auf eine „Annullierung von Macht durch Macht“ (Luhmann 1987: 126) hinaus. Diese Paradoxie wird dadurch aufgelöst, dass sich die Demokratie in ein reziprokes Kreislaufmodell ausdifferenziert. Der dreidimensionale Machtkreislauf entfaltet sich, indem das Volk politische Repräsentanten wählt. Damit gibt es freilich die politische Macht an andere Instanzen ab, da die Wahlentscheidung des Volkes zwar die Personal- und Rahmenbedingungen der Politik und der Parteien vorbereitet, aber keine konkreten Entscheidungen programmiert. Das Volk bleibt ein „Konstrukt“, mit dem „die politische Theorie Geschlossenheit erreicht“ (Luhmann 2000: 366). Die Politiker verdichten sodann politische Entscheidungsprämissen, die die Verwaltung umsetzen und damit auf das Volk Macht ausüben, das seinerseits erneut das politische Zentrum durch Wahlen und Meinungsäußerungen stimuliert. Damit ist der Einflusskreislauf – „Volk, Politik, Verwaltung und Publikum“ (Luhmann 2000: 257) – geschlossen. 4.  Gewalt und Verfassung: In der differenzierungstheoretischen Perspektive wird zudem deutlich, dass Politik als Gewaltmonopol dafür zuständig ist, Gewalt zu unterbinden (Luhmann 2000: 193 f.). Und physische Gewalt ist ein Drohmittel, das sich ganz besonders zur Erzeugung von Macht eignet. In modernen Gesellschaften müssen die Herrschaftsunterworfenen den Einsatz von Gewalt freilich als „legitim“ ansehen. Der Staat besitzt das „Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung von Ordnung“ (Weber 1972: 29). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet in der westlichen Hemisphäre eine Verrechtlichung politischer Herrschaft statt. Wo auch immer das staatliche Gewaltmonopol operiert, es agiert im Schatten des Rechts. Erst der Rechtsstaat ermöglicht den Bürgern eine Garantie für die Inanspruchnahme ihrer demokratischen Rechte. Politik ist daher zweitcodiert, nämlich durch die „rechtliche Codierung der Macht“ (Luhmann 1997: 357). Man muss sehen, dass auch in Luhmanns Konzept der Ausdifferenzierung des politischen Systems, der Staat seine Freiheitsgewinne als Rechtsstaat durch hohe formale Disziplinierung und durch die Bindung der staatlichen Gewalt an bestimmte Rechtsgrundsätze stabilisiert. Die Flexibilität von politischem Handeln, die in der Monarchie noch unbegrenzt war, wird nun formal insbesondere durch die Gerichte gehegt.

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Bekanntermaßen bedienen sich Politik und Recht, um das Selbstreferenzproblem zu umgehen, eines „kunstvollen Arrangements“ (Luhmann 2000: 391), nämlich der Verfassung des modernen Staates. Die Lösung sieht so aus: Politik und Recht ziehen quasi in ihre interne Systematik eine höhere Instanz hinein, ohne auf das Naturrechtsdenken oder eine andere externe transzendente Instanz zurückgreifen zu müssen. Die Paradoxie, die sich notwendigerweise ergibt, wenn man die Frage nach dem zureichenden Grund immer wieder auf die nächste Ebene bezieht, wird zwar nicht abgebrochen, aber es wird an eine andere, weniger störende Stelle verlagert. Der Platzhalter einer rechtsexternen Referenz wird nun mit der Verfassung als „autologischer Text“ (Luhmann 1995: 526) besetzt. Das Recht besitzt jetzt also einen Mechanismus, „sich selbst für rechtswidrig zu erklären“ (Luhmann 1995: 473), indem es zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht unterscheidet. 5.  Der Staat auf der Ebene der Weltgesellschaft: Was bedeutet dies alles für die Weltgesellschaft? Vor dem Hintergrund seiner Staatstheorie entwickelt nun Luhmann in einer Art hierarchischer Aufschichtung eine globale Weltordnung, die folgende Ebenen besitzt. Das Gesellschaftssystem, in Form der Weltgesellschaft, „ist, soweit es um Systemdifferenzierung geht, durch einen Primat funktionaler Differenzierung gekennzeichnet“ (Luhmann 1995: 572). Das weltpolitische System wiederum ist ausdifferenziert als ein Funktionssystem der Weltgesellschaft auf der Basis funktionaler Differenzierung. Allerdings zeigen sich am weltpolitischen System gerade auch seine Expansionsgrenzen. Denn nach innen ist es in Territorialstaaten differenziert (Luhmann 2000: 222 f.) und orientiert sich am systemtheoretischen Gesetz, dass Ausdifferenzierung durch interne Differenzierung zu Stande kommt. Die Optimierung der Politikfunktion in der Weltgesellschaft kann, „wenn ‚Demokratie‘ denn ein Indikator dafür ist, nur über segmentäre Zweitdifferenzierung erreicht werden“ (Luhmann 2000: 223). Der Territorialstaat diene dazu, in einem Weltzusammenhang regional unterschiedlicher Kontexte eine Einheitlichkeit herzustellen. Das geschehe durch „Reduktion der Gleichheit auf ‚Staatlichkeit‘“ (Luhmann 2000: 227). Auch auf dem Plateau der Weltgesellschaft gewährleistet der Staat „kollektive Kommunikationsfähigkeit“ und scheint für das internationale System unentbehrlich zu sein. Wer meint, dass Luhmann besonders viel Mühe darauf legt, den Prozess des Transfers des europäischen Staates in verschiedene Regionen der Welt zu rekonstruieren, sieht sich getäuscht. Er scheint schlicht davon auszugehen, dass sich Staatlichkeit als Organisationsform bei allen graduellen Unterschieden im Prinzip überall auf der Welt durchsetzt. Ausnahmen gäbe es zwar. „Dessen ungeachtet zwingt sich die segmentäre Differenzierung des weltpoli­ tischen Systems allen Territorien auf. Es gibt keine Gebiete, die an Politik teil­



Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert?209 nehmen (…) ohne die Form von ‚souveränen‘ Staaten anzunehmen.“ (Luhmann 2000: 225)

Für Luhmann ist also klar, dass staatliche Politik heute konstitutiv für die Teilnahme an Weltpolitik ist.3 Staaten müssen international anerkannt werden. Es reicht ihm aber nicht – wie immer wieder behauptet wird –, dass diese Hypothese gleichsam nur „fiktiv“ von den Staaten hypostasiert wird (Kastner 2007: 75). Sondern er sagt ganz klar: „Ein Staat muß jedoch mehr sein als eine bloße Adresse in internationaler Kommunikation. Politische Effektivität und interne Durchsetzungsfähigkeit sind unerläßliche Bedingungen.“ (Luhmann 2000: 225) Die Frage, die sich stellt, lautet freilich, inwiefern sich der Staat im globalen Rahmen als historisches normatives Leitbild in den eben skizzierten Strukturmomenten wirklich hat durchsetzen können?4 III. Wie reisefähig ist die Theorie funktionaler Differenzierung? Die Debatte über Parastaatlichkeit in Afrika Geht man der historischen Genesis von funktionaler Differenzierung, sowie des Transfers von den (nordwest-) europäischen Regionen in die Peripherie und die Dritte Welt nach, so lässt sich schnell Einigkeit darüber herstellen, dass Luhmanns Theoriekonstrukt, das den europäischen Staat als weltgesellschaftliches Paradigma propagiert, allemal harmonisierende Tendenzen vorzuwerfen sind. Seine Modellabstraktionen überblenden die Dynamik und Konflikthaftigkeit der Genese der Übersetzung institutioneller moderner Rahmenbedingungen in die Weltgesellschaft. Denn diese bestätigen die These Osterhammels (2009: 821), dass für viele Regionen der Welt das Wort vom staatlichen Gewaltmonopol keine sinnvolle Kategorie gewesen ist. Dass es sich im Falle der Transition des europäischen Staates in andere Weltregionen um ein durch viele Brechungen und Kreuzungen gekennzeichnetes Programm handelt, lässt sich kaum besser aufzeigen als anhand der 3  Etwas anders gelagert sieht die Situation beim Thema Weltrecht aus. Das Recht sei heute insofern Weltrecht als man „in allen Regionen Rechtsfragen von anderen Fragen unterscheiden kann“ (Luhmann 1995: 573). Jedoch müsse weder die Verfassung, noch funktionale Differenzierung notwendigerweise als in einem „global system“ integriert gedacht werden. Dies habe zur Folge, „daß die strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems über Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung hat“ (Luhmann 1995: 582). 4  Hier setzen auch Marcelo Neves’ (2007: 182) kritische Überlegungen zu Luhmann an. Er drückt dies so aus: „Zu hinterfragen ist jedoch, ob das systemtheoretische Paradigma von dessen Entstehungszusammenhang, das heißt von den Erfahrungen der Staaten in der zentrischen Moderne her nicht schon so stark geprägt wurde, als dass es noch in der Lage wäre, den Unterschieden der Staatskonstruktion und -entwicklung zwischen Zentrum (Zentren) und Peripherie(n) der Weltgesellschaft Rechnung zu tragen …“.

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schwierigen Anfänge des Staatsbildungsprozesses in Afrika. Im Folgenden seien einige provisorische Betrachtungen zusammengetragen, die sich insbesondere auf die Staatsentwicklung in Afrika beziehen. Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle nur äußerst skizzenhaft einige Thesen der jüngeren Afrika- und Kriegsforschung erläutert werden können. Ohne nun eine vollständige Zustandsbeschreibung von failed states in Afrika geben zu wollen, wird unser Augenmerk erstens darauf liegen, inwiefern die Grenzen der Staatsbildung und Staatsrealisierung in vielen Regionen Afrikas das Bild Luhmanns relativieren. Es soll innerhalb dieser provisorischen Erörterung zweitens gezeigt werden, dass insbesondere Prozesse der Informalisierung bei schwach institutionalisierten Staaten eine essentielle Rolle spielen. 1. Strukturelle Instabilität kolonialer Herrschaft Viele Staaten in den heutigen Entwicklungsländern, die vom Kosovo nach Kolumbien, von Somalia nach Süd-Thailand bis hin nach Zentralasien reichen, sind solche, die dem Typ der „Parastaatlichkeit“ zuzuordnen sind (von Trotha 2000: 255). Diese Strukturform tritt in verschiedenen Staaten in jeweils heterogenen Formen auf. Die Gründe für diese Tendenz sind vielfältig und können hier nicht umfassend behandelt werden. Zudem sind die wirtschaftlichen und sozialen Umfelder und die historischen Voraussetzungen des Staatszerfalls für jeden Staat isoliert zu betrachten (vgl. z. B. für verschiedene Weltregionen Schneckener 2004). Doch liegt die Vermutung nahe, dass das zentrale Probleme bei diesen politischen Konstellationen die staatliche Legitimität ist. Eine der wesentlichen Gründe des Scheiterns dieser Staaten besteht darin, dass sich in den Entwicklungsländern im Prozess des „nation building“ häufig nur eine Hülse des Staates, nicht aber seine Legitimität durchgesetzt hat. Will man die Frage nach den Ursachen und den historischen Wurzeln dieses Typus von Staat vorantreiben, ist man gezwungen, sich mit der afrikanischen Kolonialgeschichte zu befassen. Zurückführen lässt sich dieser Typus von Staat partiell nämlich in zahlreichen Fällen auf die europäische Kolonialherrschaft und die kolonialistische Expansion Europas. Die Geschichte der Kolonialisierung lässt sich ja einerseits in der Tat, wie Luhmanns Theorie vorschlägt, als Fortsetzung der Einbindung in die Wirkzusammenhänge des sich aus Europa entfaltenden Staats begreifen. Im Prozess des europäischen Imperialismus wurde versucht, das Modell des bürokratischen Verwaltungsstaates in die kolonisierten Areale zu implementieren. Mit dem von Europa ausgehenden kapitalistischen Expansionsprozess wurde auch das territorialstaatliche Strukturmoment weltweit ausgedehnt. Überall sollte die Vision realisiert werden, eine staatliche Verwaltung gemäß der Struktur des Mutterlandes zu verwirklichen.



Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert?211

Dennoch muss für unsere Zwecke auffallen, dass die systemtheoretische Interpretation der Expansion des Staates bei anderen Autoren, die sich mit der Kolonialgeschichte Afrikas beschäftigt haben, in eine Beschreibung mit deutlich anderer Stoßrichtung mündet. In der Systemtheorie herrscht ja, wie oben gezeigt, die Meinung vor, dass die globalen Systeme die „Autonomie der Regionalkulturen der Welt“ (Stichweh 2006: 242) unterminieren würden. Postkoloniale Zustände sind aber andererseits nicht „nur“ – wie die Systemtheorie argumentiert – Folgen funktionaler Differenzierung, sondern Folgen mangelnder (politischer) Modernisierung. Sie demonstrieren vielmehr, wie die vorgefundenen traditionalen und regionalen Konstellationen auf die Durchsetzungsformen von Modernisierung ihrerseits einwirken, ja diese determinieren und wie die „Konditionierung“ (Luhmann 1997: 810) globaler Vergesellschaftungsprozesse zum Scheitern verurteilt ist. Afrika bietet sich mit anderen Worten nahezu als kongeniale Illustration dafür an, dass Luhmanns und Stichwehs These, dass die Richtung von Konditionierungsprozessen stets durch Strukturen der Weltgesellschaft vorgegeben sei, zu bezweifeln ist. Trutz von Trotha spricht vom „Aufstieg des Lokalen“ und davon, dass der okzidentale Staat, wie ihn Luhmann skizziert, „als Herrschaftsform seinen Zenit überschritten hat“ (von Trotha 2000: 262): „Mit dem Zerfall des postkolonialen Staates (…) ist wieder die Stunde der lokalen Machtzentren gekommen“ (ebd.: 270). Trotz aller Rhetorik war ja der Kolonialismus vor allem mit der Absicht ökonomischer Expansion angetreten (von Albertini 1976: 385 f.). Die Kolonisierung fremder Territorien erfolgte im Wettlauf der europäischen Mächte um den Zugang zu entfernten Märkten. Dementsprechend war das Interesse der Kolonialherren an einer politischen Umgestaltung des Kolonialgebietes nur begrenzt. Es gab in der Regel, wie etwa in Afrika, nur eine rudimentäre Verwaltung, die kaum den Namen Bürokratie verdiente (vgl. Reinhard 1999: 505, Speitkamp 2007: 228 ff.). Eine verschwindend geringe Zahl der Kolonialherren stand einer Masse der Beherrschten gegenüber. Im deutschen Kamerun wurden im Jahre 1914 3,85 Millionen Menschen von dreizehn Bezirksbeamten verwaltet (vgl. Speitkamp 2007: 234). In Togo standen im Jahresdurchschnitt zwischen 1899 und 1912 „67 Regierungsbeamten 948 400 Afrikaner gegenüber“ (von Trotha 1994: 87). Der eigentliche bürokratische Verwaltungsapparat, der für Weber (1972: 562) für die zunehmende Präzision, Stetigkeit und Geschwindigkeit des modernen Verwaltungshandelns verantwortlich ist, blieb für die afrikanischen Kolonien eine Herrschaftsutopie, insbesondere aufgrund der großen Diversität politischer Formen (Eckert  /  Pesek 2004: 88). Die Ära des europäischen Kolonialismus lebte zwar durchaus in Amtssprachen und Verfassungsformen fort. Sie schufen hin und wieder „Inseln der Kontrolle und Machtausübung“ (Eckert /  Pesek 2004: 96). Aber die kolonialen Herren waren nicht in der Lage, ko-

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loniale Politiken im Sinne von europäischer Staatlichkeit voll und ganz durchzusetzen. Ihre Gesetze und Normen waren nur Pläne auf dem Papier. Trotz der Kriege und genozidären Gewalt konnte von einem linearen Transfer von der Metropole zur Kolonie oder gar einer Missionierung jedoch nicht gesprochen werden. „Koloniale Herrschaft war eine Herrschaft des Mangels seitens der Herrschenden.“ (Pesek 2005: 244) Es gab auch keinen (kolonialen) Rechtsstaat europäischer Provenienz oder eine funktionierende Rechtsstruktur mit ausgeprägter Rechtsdurchsetzungsfähigkeit. Auch hier kam es vielmehr zu einem hybriden Komplex aus traditionellen und modernen Rechtsverhältnissen. Denn die Kolonialherren konnten das eigene Recht der Kolonie nicht einfach überstülpen. Sie übernahmen stattdessen häufig den Verhaltenskodex des vorkolonialen Rechts, ja waren sogar an der Kodifizierung vorkolonialen Rechts beteiligt, indem sie dieses systematisierten. Von dem formal gesatzten Recht europäischer Gesellschaften unterscheidet sich dieses informelle Recht erheblich, weil Grundsätze des europäischen Rechts wie etwa die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Richter, hier unterlaufen werden (vgl. Speitkamp 2007: 260 ff.). 2. Kontrolle und indirekte Herrschaft durch Intermediäre Die eben aufgezeigten Schwierigkeiten, die sich der staatlichen Herrschaft stellte, sind nun für eine Gesamtinterpretation der afrikanischen Staatsentwicklung von höchster Bedeutung. Um eine Entlastung von Entscheidungsdruck und wenigstens auf niedrigem Niveau eine Herstellung von Erwartungssicherheit zu gewährleisten, reagierten die Institutionen und Funktionen des modernen Staates auf diese Misere mit zwei Strategien: Die Bürokratie zeigte sich erstens weniger als Institution, die effektive Sachgüter- und Aktenapparate zu realisieren im Stande war, sondern vor allem als Kontrollinstanz. Die koloniale Verwaltung manifestierte sich vor allem in Gestalt permanenter Gewaltbereitschaft. Über Tanzania berichtet Andreas Eckert (2007: 263): „Männer mit Peitsche und Gewalt hatten über Jahre hinweg mehr Gewicht als die Männer des Buchs …“ Und nicht selten erwies sich das Massaker als wirksame Waffe kolonialer Pazifizierung. Gerd Spittler (1981: 24) kommt zu dem Schluss, dass die Anwendung von Gewalt eher als „Zeichen von Ohnmacht“, als ein Zeichen herrschaftlicher Souveränität gedeutet werden müsse: „Gewalt wird in Bauernstaaten von der staatlichen Verwaltung auch häufig demonstrativ eingesetzt, weil nur diese ständige Sichtbarkeit den Staat überhaupt ins Blickfeld der Bauern rückt, die sich sonst an den intermediären Lokalgewalten orientierten.“ Die Gewalt des kolonialen Machterhalts setzte sich – trotz der sich parallel entwickelnden Menschenrechtsdebatten – bis in die Dekolonialisierungspha-



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se fort, weil der antikoloniale Konsens sich in der Bevölkerung immer mehr verbreitete, die Kolonialherren aber noch längst nicht ihre Machtposition aufgeben wollten. Nicht von ungefähr hat man die französische Kolonial­ politik in Algerien zwischen den Jahren 1944 bis 1952 als „gewaltsame Variante der Rekolonisation“ (Klose 2009: 73) bezeichnet. Der erste große Dekolonisierungskrieg Großbritanniens in Malaya (1948 bis 1960) endete in Massakern, Folter und der Auslöschung ganzer Dörfer. Die Gewaltexzesse ähnelten hier dem französischen Vorbild in Madagaskar und Indochina (vgl. Klose 2009: 77). Weil die Kolonialmächte den Gegner als „unzivilisierten Barbaren“ interpretierten, wurden in diesen äußerst brutalen „Rassenkriegen“ jegliche völkerrechtliche Vereinbarungen (wie z. B. die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konventionen) umgangen (vgl. Klose 2009: 149–170). Aufgrund der fragmentarischen Verfasstheit des kolonialen Staates setzte sich zweitens eine Art „indirekte Herrschaft“ durch (Eckert 2007: 41). Der Ausbau der Staatsgewalt konnte nur über intermediäre Akteure vor allem Chiefs bzw. Big Men, aber ebenso Übersetzer erfolgen. Um den Kontakt zu lokalen Akteurskonfigurationen aufrechtzuerhalten, mussten die kolonialen Verwaltungszentren Amts-Chiefs einsetzen, so dass der Kolonialstaat von Beginn an eine hybride traditional-koloniale „Mischautorität“ (Speitkamp 2007: 237; Reinhard 2008: 385) gewesen ist. Diese sogenannten „kulturellen Makler“ stellten eine Scharnierfunktion dar, die es schaffte, zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem Lokalen und dem Globalen zu vermitteln (vgl. Eckert 2007: 263, so schon Spittler 1981). Gerade weil es sowohl für die Eroberer als auch die Eroberten keine fertige Strategie gab, musste ein neuer Weg gewählt werden. Die „traditionellen Oberen“ sollten als zentrale Intermediäre zwischen Kolonialmacht und der heimischen Bevölkerung vermitteln. So entstand ein heterogenes Feld von Machtpraktiken. Trutz von Trotha (1994) skizziert in seiner Studie über die deutsche Kolonie Togo eindrucksvoll, wie es durch den Einsatz von Häuptlingen zu einer Machtverschiebung in dem Machtverhältnis von Eroberer und Eroberten kommt. Der Einsatz von administrativen Mitteln konnte in den Kolonien nicht wie von einem Punkt aus durch die zentralisierte Praxis eines politischen Herrschaftsapparates geführt werden. Koloniale Herrschaft ist durch das Fehlen des, wie man mit Gilles Deleuze (1992: 42) sagen könnte, „seriellen Raumes“ gekennzeichnet. Die Entstehung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen konnte nur durch die partielle Entmächtigung der Herrschenden erfolgen. Die Verknüpfung der zentralherrschaftlichen Verwaltung mit den lokalen politischen Arenen gab dieser zumindest ein unverwechselbares Gesicht. Hier zeigte sich die „Doppelgerichtetheit der intermediären Herrschaft, in der sich die zentrale Herrschaft mit der Ordnung der unterworfenen Gesell-

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schaft“ verschränkte (von Trotha 1994: 264). Die Häuptlinge und Dolmetscher waren „die ‚wahren Herrscher‘ über die Menschen in den Städten und Stadtvierteln, in den Dörfern und unzugänglichen oder abgelegenen Räumen“ (von Trotha 1994: 445). Bereits während und insbesondere nach der Kolonialzeit gaben somit gerade die regionalen sozialen Kontexte den Plänen der Kolonialherrschaft ihre je spezifische Kontur. 3. Nachkoloniale Phase als Etablierung des informellen Staates Die funktionale Schwäche der formalen bot den informalen Institutionen der nachkolonialen Gesellschaften somit einen erheblichen Entfaltungsraum und brachte sie letztendlich erst wieder richtig ins Spiel (siehe ebenso Merkel / Croissant 2000: 17). Zwar war die Erlangung der Eigenstaatlichkeit für die postkolonialen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Voraussetzung, in das westfälische Paradigma internationaler Beziehungen integriert zu werden. Und immer wieder wurde versucht, in Afrika europäi­ sche Wohlfahrts- und Sozialstaatlichkeit zu exportieren. Aber die neuen Staaten sahen sich mit dem Erbe eines schwachen und autoritären Staates konfrontiert: „Die afrikanischen Politiker erbten gleichsam ein Haus ohne Fundament.“ (Eckert 2007: 265) Nach Beendigung der Dekolonialisierung setzte sich häufig die zu Beginn der Kolonialisierung in Gang gesetzte hybride Konstellation in Form von konkurrierenden Herrschaftsansprüchen fort und manifestierte sich in der Aktivierung des neopatrimonialen Staates. Nicht nur besetzten Afrikaner in der nachkolonialen Verwaltung die Posten der Europäer, sondern es griffen erneut die informellen, klientelen, personalisierten Beziehungs- und Handlungsschemata der patrimonialen Herrschaftsweise in den bürokratischen Verwaltungsablauf ein. Bildlich gesprochen: „das ‚traditionale‘ Afrika erobert langsam die verbliebene europäische Herrschaftsdomäne zurück“ (Erdmann 2003: 280). In vielen Regionen schwenkte der Staat auf einen durch eine Partei dominierten autokratischen Entwicklungspfad ein. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang die Existenz eines Präsidenten als dominanter Herrscher, der im Zentrum formeller und informeller Entscheidungsprozesse steht. Während im modernen Anstaltsstaat die „Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit“ (Weber 1972: 129) gilt, sind im nachkolonialen Staat in vielen Regionen alle politischen und administrativen Beziehungen vorrangig nach wie vor persönliche Beziehungen. Über dieses Bindemittel erlangt der Patron die Kontrolle der Mitgliederaktivitäten. Mit dem Ende des Postkolonialismus etablierte sich nun erst recht eine politische Klasse, die sich durch Aneignung der Rente eine eigene Legitimationsbasis verschaffte – zumindest dann, wenn ihr die Transformation vom bürokratischen



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zum parastaatlichen Herrschaftssystem gelang. Mit der Übergabe des Staates an die jeweiligen patriomonialen Führer wird dieser in ein Werkzeug von Patronage umgeformt. Diese benutzen dann das öffentliche Gewaltmonopol, um an öffentliche Güter und Gelder zu gelangen. Big Men betrachten den Staat als ihre Pfründe. Die Vermehrung der Staatseinnahmen, die dann in die Klientelnetzwerke fließen, wird im radikalen Sinne zu einer Kleptokratie (vgl. Tetzlaff 2004a: 42 ff.). „Der Staat ist Beute.“ (von Trotha / Hanser 2002: 323) In einem solchen Milieu blüht staatliche Korruption, weil es zu einer staatlichen Gewaltenteilung gar nicht gekommen ist. 4. Privatisierung der Gewalt Der folgenreichste Niedergang des postkolonialen Staates zeigt sich freilich in der Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols. Die Konsequenzen des schleichenden Zerfalls der Ordnung in den entsprechenden Ländern lassen sich mit dem Begriff der „Privatisierung von Gewalt“ umschreiben (Eppler 2002). Bis in die Gegenwart hinein war die Rolle des Staates in europäischen Kriegskonstellationen unbestritten. Max Weber hat den langwierigen Prozess der Entwicklung des modernen europäischen Staates auch als einen solchen der „Enteignung der neben ihm stehenden selbständigen, ‚privaten‘ Träger von Verwaltungsmacht“ (Weber 1972: 824) bezeichnet. Für Westeuropa wird daher ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen Staatsbildung und Kriegsorganisation angenommen. Der für die Kriegsführung notwendige Finanzbedarf führte zu einem erhöhten Steuerdruck. Dieser wiederum führte zum Ausbau wirksamer Administrationen und Bürokratien für die Ressourcenextrak­ tion und zur Konsolidierung der Zentralgewalt (Tilly 1990).5 In failed states hingegen werden die Steuerungsleistungen des Staates (Gewaltmonopol / Wohlfahrtsstaat / Rechtsstaatsfunktion) nicht erfüllt, da es gar nicht zu einem funktionsfähigen Staat kommt. Historische Untersuchungen scheinen zu zeigen, dass am Anfang der bewaffneten Gewaltausbrüche fast immer ein Verstoß gegen das legitime Gewaltmonopol durch die politischen Amtsträger stand (Elwert 2003: 268 f.). In diesen „Staaten“ wird gegen die Regeln verantwortlicher Regierungsführung verstoßen. In vielen betroffenen Ländern (z. B. afrikanische Staaten) ist der Staat so heruntergewirtschaftet, dass er nicht mehr seine Bürger versorgt, sondern ausschließlich sich selbst. 5  „Soldat und Steuereinnehmer gemeinsam gründeten den Staat, denn Machtpolitik und Machtmittel bedingten sich gegenseitig“, kommentiert Wolfgang Reinhard (1999: 305). So auch Michael Mann (1986: 486): „State finances are dominated by foreign wars.“

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Die Privatisierung „von oben“ hat eine Privatisierung „von unten“ zur Folge (Eppler 2002: 30 ff.). Gerade weil der Staat bereits als Organisator öffentlicher Güter abgedankt hat oder zu schwach ist, differenzieren sich heterogene Gruppierungen aus, die sich ihr eigenes Gewaltmonopol als funktionales Ordnungsäquivalent in Form von „gewalttätiger Selbsthilfe“ (von Trotha / Hanser 2002: 316) oder „mob justice“ schaffen und partiell sogar Kohäsionssubstitute konstituieren, wie etwa die Maï Maï in der DR Kongo oder die Kamajors in Sierra Leone. Wo der Staat nicht mehr für Ordnung sorgen kann und wo Staaten schwach sind, diffundiert das Politische vom Staat zu anderen substaatlichen Gruppierungen. In den Mittelpunkt rücken nun Militärs oder Warlords, die die Sicherung einer lokal begrenzten Kriegsökonomie unter ökonomischen Handlungsimperativen als ihre Chance betrachten: „government soldiers by day became rebels by night“ (Reno 2001: 151, ebenso Reno 1998). In anderen Fällen – wie etwa in Uganda unter dem Regime Amin (1971–1979) – widersetzen sich militärische Putschisten den Monopolisierungsversuchen staatlicher Akteure. In vielen Staaten in den heutigen Entwicklungsländern – das haben Autoren wie insbesondere Holsti (1996), Münkler (2004), Rotberg (2002), Schlichte (2005) und van Creveld (1998) herausgearbeitet – verliert folglich auch der bewaffnete Konflikt seine Fokussierung auf den Staat. Er dreht sich häufig gar nicht mehr um die Eroberung der Staatsmacht bzw. Regierungsgewalt oder um die Etablierung neuer sezessionistischer staatlicher Strukturen. Denn nun geht es um primär ökonomisch motivierte Akteure innerhalb eines schwach regierten Territoriums, das den Namen „Staat“ nur noch nominell trägt. In diesen Staatszerfallskriegen ist Gewalt durch Unternehmer privatisiert. Folgt man einem Vorschlag von Georg Elwert (1997) kristallisieren sich hier Kriegsökonomien und Gewaltmärkte heraus. Unter Kriegsökonomie wird ein sozialer Raum verstanden, in dem die Distribution von Waren und Kapital über Gewaltanwendung verläuft (vgl. dazu Jean / Rufin 1999). Es kann nicht im Interesse der Warlords sein, den Krieg definitiv zu beenden, da er ihre Lebensgrundlage bildet. Folglich ist es berechtigt anzunehmen, dass die dortigen Kriege selbst ein Bestandteil, ja sogar der eigentliche Motor des Staatsverfalls sind. Die beteiligten Gewaltentrepreneure sind zumindest an der Aufrechterhaltung von Unsicherheit interessiert (Chojnacki 2007: 247). Es besteht eine, wie Elwert (1997: 88) herausgearbeitet hat, zirkuläre Beziehung zwischen Gewalt und Ökonomie: „Die marktökonomischen Interessen vergrößern die gewaltoffenen Räume, und in gewaltoffenen Räumen werden Marktinteressen in wachsendem Maßstab realisiert.“ Staaten haben an diesen Orten als die Monopolisten des Krieges abgedankt. Konflikte der Weltgesellschaft in solchen Staaten entstehen demnach aufgrund mangelnder weltgesellschaftlicher Ausprägung im Sinne Luhmanns.



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5. Informalisierung und Codeabsorption Beziehen wir nun die vorgelegten Überlegungen auf die Differenzierungstheorie Luhmanns. Das zentrale Problem in zersplitterten staatlichen Gewaltmonopolen besteht darin, dass die Transformation und die dauerhafte Bestandssicherung des Funktionierens jener institutionellen Minimalbedingungen, die in der Gesamtheit das Luhmannsche Modell des demokratischen Machtkreislaufs (liberale Demokratie) ausmachen, in diesen Staaten nur begrenzt oder gar nicht realisiert werden kann. Rechtsstaatliche Prinzipien zur Ausschaltung der Gewalthemmung, geschweige denn die Menschenrechte (Luhmann 1995: 574), verlieren ihre Geltungskraft. Man könnte in diesem Kontext von einer Informalisierung politischer Institutionen statt von einer Übernahme formaler westlicher Prinzipien sprechen. Denn in diesen Ländern unterhöhlen und diskreditieren die informalen Regeln die Funktionsweise der formalen, demokratisch legitimierten Institutionen. Die auch in formalen liberalen, rechtsstaatlichen Demokratien vorzufindenden informalen Prozesse werden im Normalfall von dem komplementären ­Geflecht formaler Institutionen abgefedert, weil – zumindest: in der Regel (!) – „nur die verfassungsrechtlich kompetenten und legitimierten Organe letztverbindlich entscheiden“ (Schulze-Fielitz 1998: 34). Im Falle versagender oder schwacher Staaten überwiegen informale über formale Beziehungen. Damit wird der Kern formaler Verfassungsinstitutionen ausgehöhlt. Der formaljuristische Staats-Status als souverän korreliert nicht mit einer empirischen Realität (empirical state-hood). Luhmann ist sich durchaus bewusst, dass es viele Staaten gibt, die sich nicht wirklich dem Idealbild des europäischen Staates fügen (Luhmann 2000: 225 f.). Unklar bleibt, wie weit der Befund solcher Eingeständnisse reicht. Denn für Luhmanns Differenzierungskonzept ist ausschlaggebend, dass die Autopoiesis des Systems nicht durch externe Faktoren bestimmt wird. Ein System kann nur dann als autopoietisch geschlossen gelten, wenn externe Umweltfaktoren in die je eigene Codierung (Beobachtungsweise) transformiert werden. So könne etwa nur das Rechtssystem „seine Grenzen definieren“. Und das bedeutet, „daß es keine andere Instanz in der Gesellschaft gibt, die sagen könnte: Dies ist Recht und dies ist Unrecht“ (Luhmann 1995: 69). Marcelo Neves (2008) stellt demgegenüber fest, dass sich in Afrika, Lateinamerika, aber auch in großen Teilen Asiens und Osteuropas gerade im Rechtssystem eine zerstörerische Codeabsorption des Machtcodes über den Code Recht / Unrecht vollziehe. Es kommt infolgedessen zu einer Subsum­ tion des Machtcodes über den Code Recht / Unrecht. Diffuse Formen privater Macht und nepotistische Netzwerke absorbieren das Recht, so dass dessen operative Autopoiesis heteronom bestimmt wird. Bei den für die Staaten der

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peripheren Moderne kennzeichnenden instrumentalistischen Verfassungen (autokratische Staaten) oder rein symbolischen Verfassungen („Scheindemokratien“) „entsteht eine Expansion der politischen Sphäre auf Kosten der autonomen Entwicklung eines spezifischen Differenzcodes ‚Recht / Unrecht‘ “ (Neves 2008: 324). Dort erfolge nämlich die Unterordnung des Rechtssystems „unter den primären Code der Macht (Überlegenheit / Unterlegenheit) direkt durch den Erlass von Verfassungstexten bzw. ‚suprakonstitutionellen‘ Ausnahmegesetzen“ (ebd.). Neves (2008: 322) kommt zu dem Schluss: „Die Übertragung des Luhmannschen Modells der Autopoiesis des Rechts auf die verschiedenen Regionen des Erdballs ist unhaltbar.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich für die Entwicklungspfade des nachkolonialen Staates konstatieren lässt, dass ihnen essentielle Merkmale und Differenzierungen fehlen, die die Luhmannsche Skizze des Staates bestimmen: Staat und Gesellschaft, Privat und Öffentlich, politische und ökonomische Herrschaft sind nicht wirklich trennscharfe Gebiete mit verschiedenen Geltungsdimensionen (vgl. Schlichte 2005: 123). Bis in die Gegenwart hinein, so Rainer Tetzlaff (2004b: 159 ff.), entspricht die These, dass alle 48 Staaten Afrikas südlich der Sahara von der „dritten Welle der Demokratisierung“ erfasst worden wären, nicht den wahren Verhältnissen. Lediglich eine kleine Gruppe von sieben bis acht Ländern besitzen ein relativ gesichertes Gewaltmonopol (z. B. Mali, Benin, Senegal, Botswana etc.).6 Ihnen gegenüber steht die zweite Gruppe der „failed states“, die unfähig sind, Staatsapparate aufzubauen und politische Güter (Sicherheit, Bildung etc.) bereitzustellen. Schließlich gibt es noch die dritte Gruppe der Hybrid-Regime bzw. „Fassadendemokratien“, die sich zwischen Bürgerkrieg und Staatskollaps befinden. Gerade auf letzteren Typus hat sich die Forschung in jüngster Zeit konzentriert und in diesem Kontext den Begriff „defekte Demokratie“ oder „illiberal democracy“ geprägt (vgl. z. B. Merkel / Croissant 2000).7 Während viele Vertreter der Modernisierungstheorie somit nach wie vor das hohe Lied von der weltweiten Diffusion des demokratischen (National-)Staates singen, verdichten sich knapp zwei Dekaden nach Fukuyamas Spekulationen vom „Ende der Geschichte“ die empirischen Zeichen, dass die dritte Welle weniger ein Triumphzug des politischen Li6  Ghana beispielsweise hat am 7. Dezember 2004 ein neues Parlament und seinen Präsidenten gewählt. Es ist die vierte Wahl seit Einführung der Demokratie 1992. Im Jahr 2008 fanden erneut freie demokratische Wahlen statt. Damit gilt Ghana in Afrika bereits als politisch stabil. 7  Die Studien, die sich auch auf andere Länder beziehen (wie z. B. Lateinamerika, Südostasien oder Osteuropa) und versuchen eine systematisch-vergleichende Bestandsaufnahme zu geben, konstatieren die Fragilität und Defizite der jungen Demokratien, die sich in der dritten Welle der Demokratisierung herauskristallisiert haben (vgl. Merkel / Puhle / Croissant 2006).



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beralismus, als vielmehr die beunruhigende Erfolgsgeschichte einer ‚defekten‘ Mutation der Demokratie, nämlich der illiberalen Demokratie, werden könnte. Mehr als die Hälfte der seit den 1970er Jahren entstandenen Demokratien sind als „defekt“ einzustufen (vgl.Croissant 2002: 17). IV. Einwände der Differenzierungstheorie und Strategien der Systemtheorie zur Öffnung der Theorie funktionaler Differenzierung Die weitreichenden Differenzen zwischen der institutionellen Verkörperung des Staates in dem vermeintlich funktional differenziertem Zentrum und den informell organisierten Peripherien (wie z. B. Afrika) zeugt von der Schwierigkeit der Systemtheorie, das Modell des europäischen Staates als ein Beispiel weltgesellschaftlicher Expansion zu charakterisieren. Man muss vielmehr die Einsicht Georg Klutes (2004: 311) akzeptieren: „Der Prozess der Verstaatlichung der Welt ist nicht irreversibel, sondern durchaus umkehrbar.“8 Dieser höchst unklare, ja widersprüchlich bestimmte Status des modernen Staates scheint auch an Luhmanns Theorieentwicklung und weiteren Anhängern der Systemtheorie nicht spurlos vorbeigegangen zu sein. Setzte Luhmann in vielen Textpassagen voraus, dass die Theorie funktionaler Differenzierung auch in andere Regionen des Erdballs reisefähig wäre, deutete es sich in verschiedenen Texten bei Luhmann immer wieder an, dass es falsch wäre, immer und überall nur funktionale Differenzierung zu sehen. So gesteht Luhmann (1997: 810) selbst zu, dass regionale Unterschiede, „die autopoietische Autonomie von Funktionssystemen, besonders typisch: des Rechtssystems, verhindern.“ Und weiter: „Je mehr man auf Details zugeht, desto auffälliger werden die Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt.“ (Luhmann 1997: 806 f.) Es war angesichts von Erklärungslücken auf weltgesellschaftlicher Ebene, die sich mit Hilfe der herrschenden Theorie funktionaler Differenzierung nicht schließen ließen, naheliegend, auf Zusatzargumente zurückzugreifen. Dass die angedeutete Relativierung die Theorie funktionaler Differenzierung depotenziert, wird freilich eher unwillig und am Rande zugegeben. Die Zumutungen, die diese „Einschränkungen“ für die Theorie funk­ tionaler Differenzierung darstellen, sind bisher kaum ausführlich und sorgfältig ausgearbeitet. Meines Erachtens gibt es in der Systemtheorie zwei Öffnungsstrategien, die die kaum noch zu kaschierenden Widersprüche in das etablierte Formdesign funktionaler Differenzierung zu integrieren versu8  Das zeigt sich gerade auch am Beispiel der Staatlichkeit und Demokratie in Südostasien. Entgegen dem Demokratieoptimismus der 90er Jahre ist Croissant (2011) zufolge die Demokratie Südostasiens akut gefährdet.

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chen (ohne freilich dabei den Gestus der Großtheorie preisgeben zu müssen), die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. 1. Plurale Differenzierung Die erste Strategie, die den empirischen Einwänden gegen die Systemtheorie entgegengehalten werden, findet man in der These, dass Luhmann in seiner Differenzierungstheorie nicht nur von einer, sondern verschiedenen Differenzierungsformen ausgeht (z. B. Schroer 2001: 242). Fokussiert man sich auf die verschiedenen Formen von Differenzierung, so müsse man feststellen, dass Luhmann das Kernstück seiner Modernisierungstheorie ambivalenter angelegt hat, als sie häufig rezipiert wird. Luhmann begreift zwar in mannigfaltigen Passagen die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft, muss aber an vielen Stellen seine These wieder abschwächen. Er konstatiert, dass die eine Differenzierungsform eine andere nicht in Gänze ablöse. Bei Licht besehen nimmt Luhmann an, dass es in modernen Gesellschaften zu einem Zusammenspiel verschiedener Differenzierungsformen kommt, in dem sich dann freilich (von Fall zu Fall?) der „Primat funktionaler Differenzierung als „wichtigste Gesellschaftsstruktur“ (Luhmann 1997: 611) zeigt.9 Luhmann (1997: 612) geht implizit davon aus, dass „Gemengelagen mehrerer Differenzierungsformen“ geradezu typisch (!) sind. Gerade in den Regionen der Peripherie muss man mit einer unabweisbaren „Koexistenz verschiedener Differenzierungsformen“ (Holzer 2007: 361) rechnen. Mit anderen Worten: Die moderne Gesellschaft ist nicht nur die funktional differenzierte Gesellschaft. Die funktionale Differenzierungstheorie könne daher durchaus Ausnahmezustände, sekundäre Differenzierungen, Zweitcodierungen, die Präponderanzen einzelner Funk­ tionssysteme, Exklusionseffekte oder Stratifizierung erklären. Historisch gesehen konkurrierte z. B. das zweiwertige Recht mit „dritten Werten“ wie etwa Recht, Unrecht und Erhaltung der politischen Herrschaft (vgl. Luhmann 1995: 180). Die Kardinalfrage lautet freilich: Wie soll man auf diese Explikationsvorgänge reagieren? Wenn man Luhmanns These einer quasi pluralistischen Differenzierung folgen will, nimmt sich die Konzeption auf den ersten Blick fast wie eine Patentlösung aus. Eröffnet sie doch die Möglichkeit Ausnahmen einzuräumen, indem auf sekundäre Differenzierungsmechanismen verwiesen wird. Der Preis indes für diese Patentlösung ist hoch. Gehen wir davon aus, dass Luhmanns eben benannte Einschränkungen der Theorie 9  Vom Primat einer Differenzierung spricht Luhmann (1997: 612) – und selbst das soll „keine Systemnotwendigkeit“ sein – wenn konstatiert wird, „daß eine Form die Einsatzmöglichkeit anderer reguliert“.



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funktionaler Differenzierung richtig sind, dann zeitigt dies auch Folgen für Luhmanns Theorie. Denn wenn die weltweite Expansion funktionaler Differenzierung nicht mehr generell gelten soll und darauf hingewiesen wird, dass viele globale Sachverhalte am Ende doch alles andere als global sind, dann kann offensichtlich der Terminus „Welt“ einfach weggelassen werden. Zumindest muss die Frage gestellt werden, was denn die Theorie der Weltgesellschaft eigentlich feststellt und wie sie gegebenenfalls zu falsifizieren ist (vgl. Knöbl 2007: 30 ff.). Außerdem ist zu beachten: Wenn die Diagnose einer pluralistischen Differenzierung den Kardinaleinwand einer eindimensionalen Sichtweise Luhmanns aus dem Weg räumt, so folgt daraus aber auch eine Forschungsanweisung. Man kann sich dann nicht mehr nur auf funktionale Differenzierung beschränken. Die analytische Vereinfachung funktionaler Differenzierung lenkt gerade von der Arbeit ab, zeitlich und räumlich präzise zu beschreiben, in welchem Kontext und wann genau (und wie lange) welche Differenzierungsform vorherrschend ist, wie sich die Übergänge vollziehen, was die Ausnahme und was die Regel ist. Nun begönne überhaupt erst eine Deskription der historischen Variabilitäten und transnationalen Divergenzen unterschiedlicher Arten von Differenzierung in der globalen Gesellschaft. Die Arbeit der Systemtheorie – und hierin läge die spannende Aufgabe – steht also noch ganz am Anfang. Damit ist, wie sich von selbst versteht, sehr wenig über die weitergehenden Erfolgsaussichten des Luhmannschen Entwurfs gesagt. Denn bisher wird der von der Systemtheorie ins Spiel gebrachte Forschungsstrang über die so offensichtlich bestehende pluralistische Differenzierung erst einmal unter einer dicken Schicht von Sekundärliteratur über funktionale Differenzierung begraben. Die weitere Zukunft der Differenzierungstheorie von Luhmann ist somit ungewiss. Und ich vermute, dass sich neue innovative Erklärungsmodelle nur über den Dialog zwischen soziologischer und historischer Globalisierungsforschung erschließen lassen. 2. Die Rolle der Regionen und Netzwerke: Informalisierung als Parasit funktionaler Differenzierung Ein zweiter Aspekt, der in neueren Texten der Systemtheorie nun gezielt ins Zentrum rückt, ist das Phänomen der Informalität, das ja auch in unserem Fall auf die zentrale Bedeutung von Regionen verweist. Mit der Entdeckung regionaler Unterschiede ändert sich die Sicht auf die moderne Gesellschaft insofern, als nun klar wird, dass diese die Logik funktionaler Differenzierung außer Kraft setzen können (siehe dazu Hayoz 2007, Holzer 2006, 2007, Japp 2007). Nun müssen wir uns zunächst darüber klar werden: Was genau versteht die Systemtheorie unter Informalisierung?

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Das Argument lautet folgendermaßen: In quasi-autoritären Regimes, die sich in peripheren Regionen befinden, werden elementare politische Prozesse der Machtsicherung nicht über die formale Disziplinierung funktionaler Differenzierung, sondern über Netzwerke und Freundschaftsbeziehungen gesteuert. In der Grauzone der Informalität konstituieren sich klientistische und nach den Regeln der vertikalen Patronage funktionierende soziale Netzwerke. Analog zur kriminellen Organisation der Mafia müssen sich solche Netzwerke nach außen abschließen. Sie operieren über Loyalitäts-und Reziprozitätsbeziehungen und sind somit an Bedingungen der sozialen Zugehörigkeit (etwa der Verwandtschaft oder Abstammung) geknüpft.10 Solche Netzwerke, so das Argument, unterlaufen funktionale Differenzierung, nutzen sie aber gleichzeitig „parasitär“ aus. Deswegen begreift Veronika Tacke (2000) Netzwerke als „parasitäre Formen der Strukturbildung“. „Netzwerke sind Parasiten, die sich an funktionaler Differenzierung anlagern.“ (Tacke 2000: 299) Ohne auf weitere Einzelheiten und Subtilitäten des Netzwerkbegriffs bei Luhmann einzugehen (die in unserer Problemstellung nicht weiter führen), scheinen freilich mit dem Begriff Phänomene bezeichnet zu werden, die mit der These der Weltgesellschaft nicht ohne weiteres korrelieren. Denn solche Netzwerke sind mit der funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft nicht kompatibel. Die Netzwerke „hängen“ sich gleichsam in den Code des Rechts ein (Japp 2007: 187). Sie müssen diesen dann freilich auch dadurch korrumpieren und zugleich „den politischen Code (Regierung / Opposition oder Regierung  /  Regierte) beschädigen, insofern kollektiv bindendes Entscheiden die Entscheider gerade nicht mehr einschließt“ (Japp 2007: 187). Informale Regeln können in solchem Fall in hohem Maße regeln, inwiefern die Ausprägung formaler Strukturen überhaupt zu Tage tritt. Instruktiv an diesen Überlegungen ist, dass hier zunächst einmal darauf aufmerksam gemacht wird, dass in vielen Entwicklungsländern die Richtung und Logik der Konditionierung, die üblicherweise von globalen Differenzierungsmustern bestimmt wird, auf den Kopf gestellt wird. Es ist nun die situationale Gebundenheit der globalen Codes und deren regionale Konkretisierung, die in diesem Fall die Richtung angeben. Aber anstatt auf die mangelnde Institutionalisierung moderner Formen zu verweisen (Rottenburg 2011: 167), schließt die Systemtheorie erneut einen entscheidenden 10  Inspirierend sind hierbei die Erörterungen von Paul  / Schwalb (2011) über die „Mitgliedschaft“ in Clans und Mafia-Familien. „Strukturell besteht eine Familie aus ineinander verschachtelten, baumartig verästelten asymmetrischen persönlichen Beziehungen.“ (Paul / Schwalb 2011: 134) Was allerdings irritiert ist, dass die beiden Autoren solche Netzwerke in Verbindung bringen mit der Mitgliedschaft in „formalen Organisationen“. Geht es doch in diesen – anders als in einem Verwandtschaftsverband – gerade nicht um persönliche Beziehungen.



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Dreh an: Bei aller Betonung der Wichtigkeit von Informalität geht insbesondere die systemtheoretische Organisationssoziologie von einem kausalen zeitlichen Vorrang formaler Organisation als Fixpunkt funktionalistischer Differenzierung aus. Sie akzentuiert am Ende bezeichnenderweise deutlich anders als Ansätze, die sich mit prekärer Staatlichkeit befassen. So betont Boris Holzer (2006: 261), dass es „ein wichtiger Ertrag der Diskussion um informale Organisationsstrukturen ist, dass diese nicht unabhängig von den formalen Strukturen existieren“. Dies entspricht der modernisierungstheoretischen Erklärung, dass Informalität erst mit der Formalisierung emergiere. Informalisierung erlaubt es unter dieser Perspektive, „spezifische Folgeprobleme der formalen Ordnung zu lösen“ (ebd.: 269). Das Schema formal / informal, das die Vermittlung zwischen Netzwerken und den Strukturen funktionaler Differenzierung reguliert, sei zwar die Form, in der unterschiedliche Differenzierungsformen koexistieren. Es ermöglicht sogar, „dass eine funktional differenzierte und in dieser Hinsicht ‚moderne‘ Gesellschaft in der Tat ohne die ‚Vollrealisierung‘ funktionaler Differenzierung auskommt.“ (Holzer 2007: 365). Aber sämtliche informelle Konfigurationen ruhen gewissermaßen auf ihren zeitlich vorhergehenden formalen Fundamenten auf. Sie sind bereits die Konsequenz der Diffusion weltgesellschaftlicher institutioneller Muster. Holzer (2007: 366) behauptet: „In vielen Weltregionen sind wir mit Abweichungen vom Schema funktionaler Differenzierung konfrontiert, die das Primat dieser Differenzierungsform in Frage stellen. Diese sind aber nicht auf die Widerständigkeit von Traditionen zurückzuführen, sondern auf Folgeprobleme der globalen Diffusion moderner Inklusions­ erwartungen angesichts regional beschränkter Teilnahmechancen.“

Eben hier liegt denn auch meines Erachtens erneut eines der grundlegenden Missverständnisse der Systemtheorie: Denn es werden in diesem Kontext ­Ursache und Folge verwechselt. Deren Interpretation von Informalisierung verdeutlicht noch einmal mehr, wie stark die Weltgesellschaftstheorie Luhmanns den Prämissen politischer bzw. staatszentrierter Modernisierung folgt. In vielen Weltregionen sind wir jedoch mit Abweichungen vom Schema funktionaler Differenzierung konfrontiert, weil es überhaupt nicht zu einer Ordnungskonfiguration kommt und gekommen ist, wie sie die Systemtheorie proklamiert. Informalität ist vielmehr die Folge davon, dass es dort in vielen Fällen nur Formen von Ordnung jenseits des Staates gegeben hat.11 Schon die 11  Ulrich Menzel (2004: 228) weist darauf hin, dass man in etlichen postkolonialen Staaten gar nicht vom Verfall staatlicher Organisationen sprechen könne. „Dieses setzt nämlich voraus, daß es zuvor funktionierende Staaten gegeben hat, die in der Lage waren, Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums etc. bereitzustellen. In Wirklichkeit war es vielleicht so, daß in etlichen Fällen nur die Symbole des Staates gegeben waren, von der Bereitstellung öffentlicher Güter nie wirklich die Rede sein konnte.“

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formalen Erwartungsstrukturen und Mitgliedschaftsbedingungen unterscheiden sich stark von der europäischen Handlungspraxis. Eine ganze Reihe autokratischer Regime operiert nicht über formale Mitgliedschaftsrollen, sondern auf der Basis dichter Geflechte personalistischer Netzwerke.12 Es kommt nicht zu einer „Deperipherisierung“ der Peripherie durch die Dynamik globaler Funktionssysteme (Holzer 2007: 361), sondern gerade umgekehrt zu einer Peripherisierung der Referenzebenen und formalen Satzungen der globalen Funktionssysteme. Man wird – spiegelbildlich zu Luhmanns Bild des politischen Systems – von einer Verselbständigung des informellen Kreislaufs sprechen können. Zurück bleibt, wenn überhaupt, lediglich eine formaldemokratische Hülle des Rechtsstaates. „Es geht also auch ohne Demokratie. Aber es geht nicht ohne Korruption, die in solchen institutionell wenig differenzierten Systemen viele Einfallstore findet und eigentlich Entdifferenzierung bedeutet.“ (Hayoz 2007: 169) Die wahre Demokratie erscheint nur noch als nach außen, in die Öffentlichkeit projiziertes Duplikat einer platonischen Idee von Demokratie. V. Fazit Ziehen wir ein Fazit: Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? Und wenn ja, in welcher Form? In den voranstehenden Abschnitten habe ich darzulegen versucht, dass das systemtheoretische Verständnis einer funktional differenzierten Weltgesellschaft meines Erachtens in mehrfacher Hinsicht revisionsbedürftig ist. Erstens: Luhmanns Konzept der autopoietischen Geschlossenheit von Recht und Politik überzeugt nicht, wie wir anhand der Diskussion um das Thema Staatsversagen beobachten konnten. So wie die Sache sich jetzt darstellt, können der Staat und auch das Weltrecht sich nicht wirklich gegen den Imperialismus anderer Systeme autopoietisch abschließen. Im Gegensatz zur systemtheoretischen Lesart der Theorie der Weltgesellschaft, die von global funktional differenzierten Systemen ausgeht, muss man für den nachkolonialen Staat vieler Entwicklungsländer feststellen, dass es ihnen an den entscheidenden Differenzierungsmerkmalen fehlt, die Luhmanns Staatsbild umreißt. Es erhöht dabei die Ironie der Lage, dass die fehlgehende Staatsbildung zu großen Teilen auf eine fehlgeleitete koloniale Expansion 12  Aufgrund dieser informellen Machtkonfigurationen geht Barbara Christophe (2005) in ihrer Studie über informelle Netzwerke im post-sowjetischen Raum kritisch mit der These vom „Staatsverfall“ ins Gericht. Der Begriff „Staatsversagen“ verdunkle in gewisser Weise die strategische Nutzenperspektive der politischen Elite. „Die Rede vom Scheitern führt in die Irre, unterstellt sie doch Unfähigkeit wo das Versagen generalstabsmäßig organisiert ist.“ (Christophe 2005: 64).



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zurückzuführen war, die ihrerseits keineswegs unter dem Signum funktionaler Differenzierung bzw. einer ausgeprägten Orientierung an europäischer Rechtsstaatlichkeit stattfand: Nichts manifestiert die Wirklichkeit einer Entgrenzung der Gewalt im Rahmen der Kolonialherrschaft deutlicher, als deren „Schreckensherrschaft gegenüber der beherrschten Bevölkerung“ (Mann 2004: 118). Carl Schmitt gab dieser hegemonialen Geste der Kolonialherren bereits deutlich in seiner Studie „Der Nomos der Erde“ Kontur: Aus der Perspektive des Jus publicum Europaeum, so vermerkt Schmitt (1997: 143), war „alles Land der Erde entweder Staatsgebiet europäischer oder ihnen gleichgestellter Staaten“, oder am Ende „frei okkupierbares Land“. Es war also gerade die Exklusion der Neuen Welt aus dem Rechtsraum Europas, die deren rücksichtslose Kolonialisierung möglich machte. Kolonialkriege waren daher außersystemische Kriege. Zweitens: Auch die erwähnten Zusatzargumente, die die Systemtheorie vorlegt, die den Theoriekern von Luhmann gegen Widerlegungen abschirmen sollen, scheinen die These der Entdifferenzierung in peripheren Re­ gionen eher zu bestätigen, als zu widerlegen. Die parastaatliche Ordnung nimmt Abschied von den Grundsätzen der staatlichen Ordnung, die bereits mit der Postkolonie gründlich gescheitert ist. An die Stelle einer Postkolonie mit ihrer kaum realisierten Idealvorstellung von Staatlichkeit tritt ein Geflecht parastaatlicher Akteure. In Wirklichkeit gab es in Afrika häufig nur die Symbole des westlichen Staates in der Hülle dessen, was die Kolonialverwaltung zurückgelassen hatte. Und obwohl die Formation der postkolonialen Staatenwelt vor dem Hintergrund der normativen und machtpolitischen Bedingungen eines bereits entwickelten internationalen Staatensystems agiert, kommt es in Afrika nicht durchgängig zu adäquaten Transitionen. Die gewaltoffenen Räume werden zunehmend als das erfahren, was sie sind: „definitive Grenzen einer Globalisierung nach den managerialen, emanzipativen oder humanitären Blaupausen des Entwicklungsdiskurses“ (von Trotha 2002: 161). Es kann daher nicht überraschen, dass Luhmanns vorgelegtes Set von Subsumtionsschemata mit all den Modifikationen, die auch von anderen Autoren vorgenommen wurden, nicht logisch konsistent einsichtig zu machen vermag, dass die Weltgesellschaft funktional differenziert ist. Drittens: Auch im Kontext der Theorie der Weltgesellschaft kommt schließlich eines der großen methodischen Mankos der Systemtheorie Luhmanns klar zum Vorschein. Sie liefert keine begrifflichen Explikationen dessen, wie ihre theoretischen Ableitungen in Beziehung zur Empirie zu setzen sind. Es ist schwer auszumachen, ob Luhmanns Urteile sich in der Illusion der Neutralität eines allwissenden Erzählers wiegen oder ganz einfach nur analytische Konzeptionen einer rein fiktionalen (europäischen) „Reflexionsgeschichte des politischen Systems“ (Luhmann 2000: 323)

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sind. Im Prinzip fehlt bei Luhmann auf weltgesellschaftlicher Ebene, wie dies etwa in Osterhammels (2009: 19) Buch über das 19. Jahrhundert versucht wird, „ein bewusstes Spiel mit der Relativität von Sichtweisen“. Osterhammels (2009: 16) „Epochenportrait“ zeigt – wenn gleich auch nicht ohne Probleme – wie sich heterogene Hauptlinien an regionalen Nebenlinien brechen und sich teils unterschiedliche „Zeitschichten“ (R. Koselleck) überlagern.13 Man geht nicht fehl, wenn man Luhmanns Interpretations­ folie eurozentrisch nennt. Denn er unterstellt einen Transfer nationalstaat­ licher Modelle in periphere Regionen, hinter dem unausgesprochen die Prämisse von einer Vorbildhaftigkeit (Kondition) des atlantisch-westeuro­ päischen Evolutionspfades steht („Container-Denken“) (vgl. Osterhammel / Conrad 2004: 12). Neuere Überlegungen, die gerade „die Fragwürdig­ keit der geläufigen Ordnungskategorien“ (Osterhammel 2001: 15) und die Problematik ihrer Übertragbarkeit in andere Kontexte offensichtlich machen – beim Thema Nationalstaat im Kontext der Globalgeschichte lässt sich dies mit Händen greifen – finden bei Luhmann, aber auch in der neueren Systemtheorie wenig Resonanz.14 Mehr denn je muss man sich heute vor einer Globalisierungsrhetorik in Acht nehmen, die ein Verschwinden des Raumes propagiert. Auch die Globalisierung des europäischen Staates findet – wie das Beispiel des Staatsversagens in verschiedenen Regionen zeigt – im Raum statt (siehe z. B. Schlögel 2007). Und das bedeutet nichts anderes, als dass Makrotheorien nicht auf einem phantomhaften einförmigen Plateau des Großen und Allgemeinen verharren dürfen, sondern an das Mikroereignis und kleinkörnige Detail rückgebunden werden müssen (vgl. Osterhammel 2001: 342). Es bleibt also dabei: Wenn funktionale Differenzierung ein Prinzip mit begrenzter Reichweite, jedenfalls kein universales ist, dann ist dieses Erklärungsmodell auf keinen Fall dazu geeignet, den Begriff der „Weltgesellschaft“ näher zu charakterisieren. Es sind u. a. die Informalisierungsprozesse in den Krisenregionen, die die formalen Kriterien von funktionaler Differenzierung davon abhalten, weltweit zu expandieren.

13  Die methodologischen Konsequenzen von Jürgen Osterhammels „global history“ und sein nur am Rande problematisierter Zugriff auf eine globale / makrohistorische Perspektive, scheinen mir insbesondere im Hinblick auf die Kontingenz-Thematik (z. B. Knöbl 2007) noch wenig diskutiert zu sein und müssen daher selbst zu einem geschichtswissenschaftlichen Problem werden. 14  Darauf verweisen auch Tetzlaff / Jakobeit (2005: 120) generell hin: Begriffe wie z. B. „der Staat“ oder „die Gesellschaft“ seien häufig „fiktive begriffliche Abstrak­ tionen, die eine vielfach fragmentierte Realität eine Zeit lang zudecken, aber letztlich nicht wirklich erfassen und verstehen“ können.



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Links oder rechts? Die italienische politische Debatte um die soziale Marktwirtschaft Von Alessandro Somma I. Soziale Marktwirtschaft, politischer Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus Soziale Marktwirtschaft ist ein Begriff, der zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik gehört und dessen Popularität Ergebnis eines der ersten politischen Marketing-Experimente ist.1 Nicht nur umfangreiche Werbekampagnen, einschließlich des Einsatzes von Meinungsbildern, bestimmten dieses Ergebnis: Die ganze Debatte um die deutsche Wirtschaftsverfassung der Nachkriegszeit drehte sich um die soziale Marktwirtschaft, die das Modell einer Neoliberalen Demokratie im Gegensatz zum Modell einer Wirtschaftsdemokratie verkörperte. In Italien findet man nichts Vergleichbares, und doch waren die Werke einiger Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft nicht unbekannt. Gleich nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde zum Beispiel die berühmte Trilogie von Wilhelm Röpke ins Italienische übersetzt.2 Dadurch fanden vor allem seine Angriffe gegen den Kollektivismus ein gewisses Echo; genau zu diesem Thema hielt Röpke 1947 einen Vortrag in Rom, im Palazzo Venezia, dem ehemaligen Hauptquartier Mussolinis.3 Um Theorien, die in Röpkes Denken besonders entwickelt wurden, drehte sich auch eine berühmte Auseinandersetzung zwischen zwei der wichtigsten Vertreter des italienischen Liberalismus und Gründer des Partito liberale italiano – Luigi Einaudi und Benedetto Croce – die die Möglichkeiten eines ­politischen Liberalismus ohne Wirtschaftsliberalismus heftig diskutierten. 1  F. Greiss, Erhards Soziale Marktwirtschaft und Die Waage, in: Festschrift Ludwig Erhard, Frankfurt M. etc., 1971, S. 89 ff. 2  W. Röpke, La crisi sociale del nostro tempo (1942), Turin, 1947; Id., Civitas humana. I problemi fondamentali di una riforma sociale ed economica (1944), Mailand, 1947; Id., L’ordine internazionale (1945), Mailand, 1946. 3  W. Röpke, Bilancio europeo del collettivismo. Discorso pronunciato in Roma a Palazzo Venezia il 21 settembre 1947, Rom, 1947.

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Einaudi war seit 1945 Gouverneur der italienischen Zentralbank und wurde 1948 zum Präsidenten der Republik gewählt. Ursprünglich vertrat er sozialistische Ideen, entwickelte aber schon Anfang des 20. Jahrhunderts eine liberale Einstellung und musste deswegen während des Faschismus in die Schweiz fliehen, wie auch Röpke zur Zeit des Nationalsozialismus. Wie mehrere Beiträge in der von Einaudi gegründeten Rivista di storia economica bezeugen, standen die zwei Ökonomen allerdings schon seit der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre in Verbindung. In seiner Tätigkeit als Wissenschaftler wandte sich Einaudi besonders gegen die Konzentration wirtschaftlicher Macht, sei es in staatlicher oder privater Form. Ihre Bekämpfung sollte den Kern eines dritten Weges zwischen klassischem Liberalismus und Sozialismus darstellen. In diesem Sinne, so Einaudi unter Berufung auf Röpke, sei eine liberale Ordnung mit Planung unvereinbar, da Planung zwangsläufig im Kollektivismus münde, also zu einer „wirtschaftlichen Tyrannei“ und zu einem „allmählichen Verschwinden des schöpferischen Geistes“ führe.4 Liberal sei also nur eine politische Ordnung, die die Wirtschaft durch indirekte „als ob-Maßnahmen“ leitet, d. h. den Preismechanismus unangetastet lässt und dadurch dem Verbraucher eine Lenkungsrolle auf dem Markt zumisst.5 Wie gesagt gehörte auch Croce zum liberalen Lager, doch glaubte er an die Möglichkeit eines politischen Liberalismus ohne Wirtschaftsliberalismus. Der politische Liberalismus oder Liberalismus tout court gehöre zur „Sphäre der Moral“ und könne als solcher dem Wirtschaftsliberalismus als konkrete historische Erscheinung nicht gleichgesetzt werden: Er könne also nicht als Absolutum gelten. Diese Aussage hält man für einen Beleg dafür, dass die Theorien des berühmten Philosophen mit denen des Gründungsvaters der sozialen Marktwirtschaft nicht vergleichbar sind.6 Eine genauere Untersuchung beider Theorien scheint allerdings zu etwas differenzierteren Ergebnissen führen zu müssen. Der dritte Weg Röpkes wird von Croce explizit erwähnt und begrüßt, indem er sowohl die Planung als auch den mit dem klassischen Wirtschaftsliberalismus verbundenen Darwinismus verurteilt.7 Gewiss schließt Croce nicht aus, dass eine Planung historisch bedingt vorübergehend nötig sein kann. Doch scheint diese Aussage einem anderen Gründungsvater der sozialen Marktwirtschaft nicht zu 4  L. Einaudi, La terza via sta nei piani? (1948), in: B. Croce / L. Einaudi, Liberismo e liberalismo, Mailand, 2011, S. 139 ff. 5  L. Einaudi, Economia di concorrenza e capitalismo storico. La terza via fra i secoli XVIII e XIX, in: Rivista di storia economica, 1942, S. 58. 6  Siehe F. Felice, L’economia sociale di mercato, Soveria Mannelli, 2008, S. 11 ff. 7  B. Croce, Ancora di liberalismo, liberismo e statalismo (1947), in: B. Croce  /  L. Einaudi, Liberismo e liberalismo, zit., S. 82 ff.



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widersprechen, der meint, die Entscheidung, „ob die einzelnen Märkte der Lenkung entweder durch die mittelbare oder aber durch die unmittelbare Methode zu unterstellen sind“, müsse eine politische sein.8 Das, was bei Croce mit neoliberalen Grundsätzen weniger vereinbar erscheint, ist die Verherrlichung des Konfliktes als Mittel zur „Erhebung der Menschheit“.9 Diese Verherrlichung impliziert nämlich eine Akzeptanz des gesellschaftlichen Pluralismus in einer Form, die eher mit dem traditionellen politischen Liberalismus als mit der neoliberalen Vision der Gesellschaft als kooperierende Gesamtheit kompatibel erscheint. II. Die italienische Wirtschaftsverfassung Die Auseinandersetzung zwischen Croce und Einaudi mag aus vielen Gründen von Interesse sein; den Wiederaufbau der italienischen Demokratie hat sie allerdings kaum beeinflusst. In der Tat ist die italienische Verfassung ein Dokument, das man in erster Linie als Kompromiss zwischen zwei Hauptrichtungen bezeichnen kann: Der demokratisch-sozialistischen und der katholischen, die eine durch den Partito comunista, die andere durch die Democrazia cristiana vertreten. Entsprechend wird die Wirtschaftsverfassung konzipiert, die insgesamt auf das Modell der Wirtschaftsdemokratie zurückgeführt werden kann. Zum Einen heißt es in der Costituione, die „Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei“ (Art. 41) und das „Privateigentum wird durch Gesetz anerkannt und gewährleistet“ (Art. 42). Zum Anderen darf aber die Privatinitiative „nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft“ stehen oder „die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigen“ (Art. 41), während das Gesetz sicherstellen muss, dass das Privateigentum eine „soziale Funktion“ erfüllt und „allen zugänglich“ ist (Art. 42). Weiterhin ist die Rede von Planung und Sozialisierung in Form von Verstaatlichung oder auch Vergesellschaftung. „Wirtschaftsprogramme“ müssen dazu beitragen, dass „die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet und abgestimmt werden kann“ (Art. 41). Unternehmen, die wesentliche öffent­liche Dienste oder Energiequellen oder Monopolstellungen betreffen und ihrem Wesen nach ein überwiegendes Allgemeininteresse haben“, können schließlich „dem Staat, den öffentlichen Körperschaften oder Vereinigungen von Arbeitern oder Verbrauchern“ vorbehalten oder übertragen werden (Art. 43). 8  F. Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart etc., 1937, S. 104. 9  B. Croce, Ancora di liberalismo, zit., S. 87.

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Luigi Einaudi, Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung, schlug vergeblich vor, die Klarstellung zu streichen, nach der sich die Privatinitiative „nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft“ entfalten darf. Er plädierte zudem für die Einfügung eines Satzes, nach dem „das Gesetz kein Mittel zur Schaffung von Monopolen ist“, was aber von der Mehrheit nicht gebilligt wurde. Damit hätte er aber keine klassisch neoliberale Position vertreten, da der Satz mit folgenden Worten ergänzt werden sollte: „Dort, wo Monopole vorhanden sind, werden sie einer öffentlichen Kontrolle unterzogen“.10 Wenn also die italienische Verfassung die freie Marktwirtschaft prinzipiell anerkennt oder ihr zumindest nicht entgegensteht, so steht sie für ein System individueller Freiheiten, das nicht unbedingt im Einklang mit den Prinzipien einer Privatrechtsgesellschaft steht.11 In der sozialen Marktwirtschaft werden solche Freiheiten im Hinblick auf das Gleichgewicht einer auf Wettbewerb basierenden Ordnung funktionalisiert. Wirtschaftsdemokratie zielt dagegen auf eine Funktionalisierung, die unmittelbar mit der Emanzipierung des Individuums in Verbindung steht, die durch, aber auch gegen den Markt erfolgen kann. Das ist zumindest der Sinn des Gleichheitsgrundsatzes, so wie er in der Verfassung definiert wird:12 „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch eine tatsächliche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und der wirksamen Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen“ (Art. 3). Von Anfang an sah aber die materielle Wirtschaftsverfassung anders aus als die formelle. Ihre wirtschaftsdemokratische Komponente, in erster Linie Sozialisierung und Planung einschließlich Preiskontrolle, konnte sich nur beschränkt entfalten. Das gleiche galt – mit einigen Ausnahmen etwa im Arbeits- und Mietrecht – für die Funktionalisierung der wirtschaftlichen Freiheiten, also für die Konformation des Marktes zu emanzipatorischen Zwecken. Umverteilungsmaßnahmen wurden hauptsächlich durch die Strukturen des Sozialstaates verwirklicht, das heißt außerhalb des Marktes mittels Steuereinnahmen. Die Teilnahme des Staates am Wirtschaftsleben konnte sich im Laufe der Zeit entfalten, und zwar koordiniert durch das Ministero 10  La Costituzione della Repubblica nei lavori preparatori della Assemblea Costituente, Bd. 2, Rom, 1970, S. 1665 ff. 11  Siehe nur U. Romagnoli, Il sistema economico nella Costituzione, in: F. Galgano et al., La costituzione economica, Padua, 1977, S. 139 ff. 12  Zuletzt A. Somma, At the Roots of European Private Law: Social Justice, Solidarity and Conflict in the Proprietary Order, in: H.-W. Micklitz (Ed.), The Many Concepts of Social Justice in European Private Law, Cheltenham etc., 2011, S. 205 f.



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delle partecipazioni statali,13 ein Ministerium, das die Beteiligung des Staates an Aktiengesellschaften organisierte. Doch war das keine direkte Beteiligung im engeren Sinne und vor allem änderte das nichts am privaten Charakter der beteiligten Gesellschaften, so dass hier nicht von einer radikalen Abweichung von neoliberalen Prinzipien die Rede sein kann.14 Höhepunkt dieser Entwicklung waren die siebziger Jahre. Später änderte sich das politische Klima allerdings rasch, bedingt unter anderem durch die Impulse aus der jetzigen Europäischen Union. Autoren mit neoliberaler Einstellung halten eine solche Entwicklung für unvermeidbar, da die Union auf einem „offenen Markt“ und „freien Wettbewerb“ basiert, wohingegen die italienische Verfassung „totalitaristischer Prägung“ ist, weil sie dem Gesetzgeber die Entscheidung über „das Gesamtbild der Wirtschaft“ überlässt.15 III. Der Neoliberalismus und die Besonderheiten Italiens Das vereinigte Europa stellt von Anfang an eine neoliberale Konstruktion dar, doch auf die Mitgliedsstaaten wirkt sich dies erst ab den Achtziger Jahren aus. Das hängt nicht nur von einer Entwicklung auf institutioneller und normativer Ebene ab, wie etwa von den Entwicklungen, die durch die einheit­ liche Europäische Akte und durch den Vertrag über die Europäische Union angetrieben wurden. Ausgewirkt haben sich vor allem die finanziellen Schwierigkeiten, die mit der Ausweitung des Sozialstaates verbunden waren und mit der gleichzeitigen Öffnung der internationalen Märkte, die zu sinkenden Steuereinnahmen führten. Das alles hatte ein günstiges politisches Klima für die Verbreitung neoliberaler Ideen zur Folge, und zwar in einer Form, die heute als Mitursache für die Krise der Finanzmärkte anerkannt ist und im Ergebnis auch für das Risiko des Zusammenbrechens Europas. Die Frage danach, wie sich diese Ereignisse auf Italien ausgewirkt haben, steht in engem Zusammenhang mit den Besonderheiten seiner politischen Geschichte. Eine Besonderheit ist der hohe Grad an Korruption, deren Ausmaß sich gerade zur Zeit der Etablierung neoliberaler Ideen dramatisch gezeigt hat. Diese Besonderheit hatte eine weitere zur Folge: Der sogenannte Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik, also das Machtsystem Berlusconis basiert, zumindest was die Kontrolle über die Massenmedien angeht, unter anderem auf einem makroskopischen Interessenkonflikt. 13  Gesetz

vom 22. Dezember 1956, Nr. 1589. aller S. Cassese, La vecchia costituzione economica: i rapporti tra Stato ed economia dall’Unità ad oggi, in: Id. (Hrsg.), La nuova costituzione economica, 4. Aufl., Rom u. Bari, 2007, S. 19 ff. 15  N. Irti, L’ordine giuridico del mercato, Rom u. Bari, 1998, S. 18 ff. 14  Statt

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Über allem aber schwebt die zentrale Rolle der politischen Kräfte, die sich auf den Katholizismus berufen und daneben eine Auffassung zum Thema Trennung von Staat und Kirche vertreten, die für eine moderne Demokratie nicht gerade gewöhnlich ist. Besonders ist dabei der Bezug auf vormoderne Motive, das heißt auf ganzheitliche Konstruktionen, die mit dem angeblichen Individualismus Europas ganz eindeutig für unversöhnlich gehalten werden. Besonders ist auch, dass dieser Bezug sich nicht nur im konservativen Spektrum findet, also auch ein Merkmal der post-kommunistischen Kräfte ist, und nicht zuletzt einen Grund für deren Scheitern bei der Suche nach einer neuen Identität darstellt. In diesem Zusammenhang, angetrieben durch die Debatte um die Grundprinzipien einer Europäischen Verfassung, wird der Begriff der sozialen Marktwirtschaft neuerdings diskutiert, und zwar so, dass die klassischen Nuancen erkennbar sind. Für die einen geht es um die Sicherung der Gestaltungselemente einer freien Marktwirtschaft, also um den Aufbau dessen, was im Lissaboner Vertrag als „eine in höchstem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet wird: Dieser Ansatz identifiziert vor allem den Beitrag des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti, des jetzigen italienischen Ministerpräsidenten. Andere betonen Aspekte wie die ethisch-moralische Fundierung einer Marktwirtschaft und nehmen dabei Bezug auf die katholische Soziallehre: So zum Beispiel Giulio Tremonti, Wirtschaftsminister der letzten konservativen Regierungen Italiens. Vertreten wird auch eine Richtung, bei der ähnliche Themen wie die der Globalsteuerung eine Rolle spielen, so unter anderem bei Tiziano Treu, Arbeitsminister der Ersten ProdiRegierung. Wir werden sogleich noch sehen, dass überwiegendes Kennzeichen der italienischen Debatte um die soziale Marktwirtschaft die Betonung ganzheitlicher Motive konservativer Prägung ist, was unter anderem als italienischer Beitrag zum Aufbau einer Europäischen Identität präsentiert werden kann. Allerdings ist diese Debatte von einer gewissen Unschärfe geprägt, die in erster Linie auf eine Unkenntnis der geschichtlichen Entwicklung und theoretischen Fundierung der sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen ist. Ich nenne hier nur einige Beispiele, und nur soweit es nötig ist, um das Ausmaß dieser Unschärfe zu belegen,16 und zugleich den Sinn des provokativen Titel meines Vortrages zu rechtfertigen. Die Unschärfe, die ich meine, impliziert nämlich, dass die soziale Marktwirtschaft als ein Modell verstanden wird, das eher Merkmale einer Wirtschaftsdemokratie aufweist als die einer neoliberalen Demokratie. 16  Vgl. A. Somma, L’economia sociale di mercato (1). Il fascino della terza via: torna di moda un passato che non passa, in Biblioteca della libertà, 2009, 195 o ­ nline, S.  1 ff., www.centroeinaudi.it / images / stories / bdl_online / 195online_somma.pdf.



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Ganz offensichtlich spielt hier ein Missverständnis darüber, was mit dem Ausdruck „sozial“ gemeint ist, eine große Rolle. Es wird nämlich teilweise angenommen, dass damit eine unmittelbare Steuerung der Wirtschaft durch den Staat erwünscht wird,17 oder sogar eine Form von Planung, deren Inhalt durch neokorporative Methoden definiert werden soll.18 Ihre neoliberale Seele verliert die soziale Marktwirtschaft auch dann, wenn behauptet wird, sie ziele auf eine verfassungsrechtliche Fundierung sozialer Grundrechte ab, was angeblich sogar ein gemeinsames Anliegen von Röpke und Erhard gewesen sei.19 Möglicherweise wird aus dieser Aussage die These abgeleitet, die italienische Wirtschaftsverfassung stehe in Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.20 IV. Soziale Marktwirtschaft als ganzheitliche Konstruktion Die italienische Debatte um die soziale Marktwirtschaft befindet sich also in einer Art Zwischenstadium und wird wenig professionell geführt. Und doch gehört diese Debatte zur jetzigen politischen Agenda, was unter anderem auf eine Hauptfigur der Berlusconi-Ära zurückzuführen ist: Giulio Tremonti, der ewige Wirtschaftsminister seiner Regierungen, der in den häufigen Auseinandersetzungen mit seinem Ministerpräsidenten stets von der Lega nord von Umberto Bossi unterstützt wurde. Tremonti sieht in der sozialen Marktwirtschaft die „moralische Essenz der Beziehung zwischen Ethik und Wirtschaft,“ und in einer Wirtschaftsverfassung, die Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft ist, „ein Mittel, um durch das Recht ethische Werte in die Wirtschaft einzuführen“. Den Ursprung dieser Einstellung sieht er im ordoliberalen Denken, in der Idee – so fasst Tremonti dieses Denken zusammen –, dass „Arbeit und Kapital nicht entgegengesetzt sind“, dass „der Markt und das Soziale keine getrennten Begriffe, sondern Aspekte eines gleichen Begriffes sind“. Die Trennung dieser Begriffe sei auf den Sieg des Positivismus zurückzuführen, ihre Überwindung auf die Wiederentdeckung des Naturrechts, so wie dieses im Katholizismus verstanden wird.21 17  A.

Panebianco, Il mercato nell’angolo, in: Il Corriere della sera, 16. März 2009. Galli / G. Tria, Economia sociale di mercato: un ricetta che non serve alla crescita, in: Il Foglio, 18. Juli 2008. 19  A. Magliulo, L’economia sociale di mercato e la Costituzione italiana, in: Centro Studi Tocqueville Acton (Hrsg.), Le regole della libertà. Studi sull’economia sociale di mercato nelle democrazie contemporanee, Soveria Mannelli, 2010, S. 118. 20  R. Brunetta  /  F. Cicchitto  /  M. Sacconi, L’economia sociale di mercato, in: L’ircocervo, 2005, 2, S. 33. 21  G. Tremonti, Economia sociale di mercato? (Rede zur Eröffnung des Akademischen Jahres der Università cattolica am 19. November 2008), . 18  E.

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Der ehemalige italienische Wirtschaftsminister ist also auf der Suche eines dritten Weges zwischen klassischem Liberalismus, Ausdruck von absoluter Freiheit auf dem Markt, und Kommunismus, mit seinen evolutorischen Vorstellungen über die Entwicklung der Gesellschaft. Die Ideologie der Globalisierung sieht er als eine Synthese von klassischem Liberalismus und Kommunismus: Er nennt diese Synthese „Marktismus“ (mercatismo), weil sie auf dem Verständnis des Marktes durch evolutorische Entwicklungsgesetze aufbaue. Die soziale Marktwirtschaft dagegen sei ein Verständnis von Markt und Gesellschaft durch eine „romantische“ Wiederentdeckung von Werten, die sozusagen die Essenz der Europäischen Identität darstellen bzw. darstellen sollten: Eine genaue Vorstellung über „Gott, Gut, Böse, Ehre, Hierarchie, Sinn des Lebens, Stolz“, also über ein „wir“ und das, was uns von den „Anderen“ trennt.22 Wie man sieht, ist der dritte Weg Tremontis durchaus ganzheitlich konzipiert. Seine soziale Marktwirtschaft ist eine Theorie über den Aufbau eines Umfelds, wo „Freiheit und Eigentum“ einerseits und „Autorität und Verantwortung“ andererseits nebeneinander bestehen. Es ist eine „organische und historisch fundierte Gemeinschaft“, in der das Individuum durch die Bestimmung von Pflichten der Gesellschaft und der Familie gegenüber eingebunden wird, deren Einhaltung durch eine „starke Regierung“ sichergestellt werden soll.23 Katholizismus und Ganzheitslehre begrenzen das Umfeld der meisten italienischen Beiträge zur sozialen Marktwirtschaft, vor allem derjenigen, die sich mit dem Bedarf einer Remoralisierung der Wirtschaft als Ge­ genmittel gegen die derzeitige internationale Krise beschäftigen.24 In diesem Zusammenhang sind Bezugnahmen auf die Sozialenzykliken häufig, von der berühmten Rerum novarum bis zur Caritas veritate von Benedikt XVI.25 Diese Bezugnahmen erlauben es unter anderem, eine Tradition für die italienische soziale Marktwirtschaft zu beschreiben, oder sogar zu erfinden. Don Luigi Sturzo, Gründer des Partito popolare italiano im Jahre 1919, hat Röpkes Themen Ende der Zwanziger Jahre angeblich im Voraus behandelt. Und auch der Vater der 1942 gegründeten Democrazia cristiana Alcide De Gasperi, der erste Ministerpräsident der Italienischen Republik, sei von Anfang an ein Anhänger der sozialen Marktwirtschaft gewesen. Er konnte 22  G.

Tremonti, La paura e la speranza, Mailand, 2008, SS. 33, 74 u. 77 f. SS. 82 u. 90. 24  Siehe nur P. Saleri, L’economia sociale di mercato. Una risposta alla crisi globale, in: Traguardi sociali, 2008, 6, S. 12. 25  Siehe E. Berselli, L’economia giusta, Turin, 2010, S. 65 ff. 23  Ivi,



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sich allerdings deshalb nicht durchsetzen, weil die Befürworter der Wirtschaftsdemokratie, in erster Linie Giuseppe Dossetti, die Mehrheit der Partei überzeugen konnten.26 Aus der katholischen Soziallehre wird vor allem das Subsidiaritätsprinzip hervorgehoben, insbesondere die horizontale Subsidiarität.27 Seine Akzeptanz ist so verbreitet, dass es Anfang des Jahrtausends in die Verfassung eingebracht wurde, und zwar durch eine umfangreiche Reform, die von einer Mitte-Links-Mehrheit durchgesetzt wurde und in erste Linie die vertikale Subsidiarität fördern wollte.28 Der neue Art. 118 der italienischen Verfassung lautet: „Staat, Regionen, Großstädte mit besonderem Status, Provinzen und Gemeinden fördern aufgrund des Subsidiaritätsprinzips die autonome Initiative sowohl einzelner Bürger als auch von Vereinigungen bei der Wahrnehmung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse“. In der katholischen Soziallehre findet auch der Versuch seine Grundlage, das System der Arbeitervertretung, das in Italien traditionell konfliktbezogen ist, kooperativ umzugestalten. Dieser Versuch geht vor allem auf das Engagement des Arbeitsministers der letzten Berlusconi-Regierung, Maurizio Sacconi zurück. Nicht die Mitbestimmung stand im Mittelpunkt dieses Engagements, sondern Maßnahmen wie die Verstärkung der Tarifverhandlung auf Unternehmensebene zulasten derjenigen auf nationaler Ebene und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmensgewinn, was im Übrigen auf einen Vorschlag von Luigi Einaudi zurückgeführt wird.29 V. Soziale Marktwirtschaft als Sicherung des Wettbewerbs In der Berlusconi-Regierung hatte Giulio Tremonti nicht nur Freunde. Seine Vorstellungen von der sozialen Marktwirtschaft sind für geschlossene Gesellschaften gedacht. Dass es dabei um kulturelle Geschlossenheit geht, hatte niemanden gestört: Es war eher die wirtschaftliche Geschlossenheit, die sich auf der Anklagebank befand; kritisiert wurde sie vor allem von Renato Brunetta, dem Minister für die Öffentliche Verwaltung, der gerne Wirtschaftsminister geworden wäre und der von sich selbst zu sagen pflegt, 26  So z.  B. F. Felice, L’economia sociale di mercato, Soveria Mannelli, 2008, S.  75 ff. 27  F. Felice, Prefazione, in: F. Forte / F. Felice (Hrsg.), Il liberalismo delle regole. Genesi ed eredità dell’economia sociale di mercato, Soveria Mannelli, 2010, S. 7 ff. 28  Verfassungsgesetz vom 18. Oktober 2001, Nr. 3. 29  F. Forte, Il buon governo di Luigi Einaudi come modello di economia sociale di mercato, in: Centro studi Tocqueville-Acton (Hrsg.), Le regole della libertà, zit., S. 75.

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er hätte irgendwann den Nobelpreis gewonnen, hätte er nur die wissenschaftliche statt die politische Karriere eingeschlagen.30 Brunettas Urteil über die soziale Marktwirtschaft à la Tremonti ist kategorisch: sie führt zum Sozialismus.31 Andere werfen Tremonti Merkantilismus vor, oder besser Colbertismus: Er sei die italienische anachronistische Version des französischen Staatsmannes Jean-Baptiste Colbert.32 Die soziale Marktwirtschaft solle für den Aufbau eines ganzheitlichen Umfelds sorgen, wenn es darum geht, Kooperation im Gewerkschaftsleben einzuführen. Im Übrigen geht es in erster Linie darum, den Wettbewerb zu sichern. Freilich trifft diese Position die Anliegen der Europäischen Zentralbank, so wie sie in dem Brief an die italienische Regierung geschildert werden: Der berühmte Brief, der den Sturz der Berlusconi-Regierung beschleunigt hat, und die Anliegen, die als Fundament des Regierungsprogrammes Montis gelten. Dort werden die Reformen aufgelistet, die als Voraussetzung für den Kauf italienischer Staatsanleihen seitens der Bank gelten. Genannt wird in erster Linie eine Stärkung des Wettbewerbs durch Liberalisierung im Dienstleistungsbereich, was für Italien eine Reform oder sogar Stilllegung des beruflichen Kammersystems bedeutet, sowie eine Privatisierung der vielen Dienstleistungen, die auf lokaler Ebene durch die Öffentliche Verwaltung abgesichert werden. Eine Liberalisierung wird auch auf dem Arbeitsmarkt erwünscht, und zwar durch Verstärkung der Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene und durch Auflockerung des Kündigungsschutzes, der im italienischen Arbeitsrecht eine Wiedereinsetzung des Arbeitnehmers vorsieht, falls er „ohne wichtigen Grund“ gekündigt wurde.33 Weiterhin soll Italien sein Defizit bekämpfen, und zwar unter anderem durch eine Rentenreform, und dabei bis 2013 einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen können, was als Verfassungspflicht eingeführt werden sollte.34 Freilich hatte die Berlusconi-Regierung Maßnahmen eingeleitet oder unterstützt, die in diese Richtung gehen sollten. Was die Reform des Arbeitsmarktes angeht, sei nur ein Abkommen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände erwähnt, das unter anderem die Tarifverhandlungen auf Un30  Vgl. M. Lillo, Brunetta, L’uomo della finzione tecnologica, in: Il fatto quoti­ diano, 11. Juni 2011. 31  R. Brunetta, Dazi e dogane, una risposta da economia socialista, in: Il Riformista, 8. März 2003. 32  Siehe nur F. D’Esposito, La nuova destra c’è e si chiama Tremonti, in: Il Riformista, 7. März 2008. 33  So der berühmte Art. 18 Statuto dei lavoratori (Gesetz 20. Mai 1970, Nr. 300). 34  Der Brief ist in englischer Sprache auf der Internet-Seite von Il Corriere della sera zu finden: .



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ternehmensebene dadurch verstärkt, dass sie auch von den Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene abweichen können.35 Zur Einführung eines Haushaltsausgleichsgebots nach deutschem Muster wurde die Verfassung vor kurzem geändert (Art. 81).36 Zu nennen ist auch eine Reform der Wirtschaftsverfassung, die „den Staatsinterventionismus mindern soll, um die Voraussetzungen eines modernen und effizienten Marktes zu schaffen“.37 Andere Forderungen sind sozusagen noch ein Tabu in der italienischen Debatte, so zum Beispiel die Rentenreform38, die Auflockerung des Kündigungsschutzes oder die Reform der beruflichen Kammern, die aber tradi­ tionellen Forderungen des Arbeitsgeberverbandes entsprechen39. Nunmehr sollen auch diese und andere Tabus gebrochen werden, und zwar durch das Handeln der neuen Regierung, die den Forderungen Europas jetzt entschieden nachkommen soll. Monti erwähnt und verteidigt die soziale Marktwirtschaft schon seit den Achtziger Jahren, und zwar in einer Version, die weder kulturelle noch wirtschaftliche Geschlossenheit vorsieht. Seine Visionen hat er in seiner Tätigkeit als EU-Kommissar für Binnenmarkt und Wettbewerb von 1995 bis 2004 unter Romano Prodi und Silvio Berlusconi durchgesetzt. Vor kurzem konnte er sie in einem Bericht über Initiativen und Empfehlungen zur Neubelebung des Binnenmarktes bestätigen, die vom Präsident der Europäischen Kommission angeregt wurde.40 In der kommenden Zeit wird sich zeigen, was die neue italienische Regierung unter dem Motto „Strenge, Wachstum und Gerechtigkeit“, das Monti in seiner ersten Rede als Ministerpräsident vor dem Parlament formuliert hat, in dieser Richtung noch erreichen wird. VI. Die Soziale Marktwirtschaft und die Suche nach einer postkommunistischen Identität Ein Hindernis auf diesem Weg wird der Partito democratico, Erbe der Kommunistischen Partei Italiens und des linken Flügels der Democrazia 35  Accordo interconfederale tra Confindustria e Cgil, Cisl e Uil vom 28. Juni 2011, . 36  Verfassungsgesetz vom 20. April 2012, Nr. 1. 37  Gesetzesentwurf C-4144 Modifiche agli articoli 41, 97 e 118 comma quarto della Costituzione vom 7. März 2011. 38  s. aber Gesetz vom 22. Dezember 2011, Nr. 214. 39  Siehe zuletzt Centro studi Confindustria (Hrsg.), Ripresa globale: dallo slancio al consolidamento, Rom, 2011. 40  Eine neue Strategie für den Binnenmarkt im Dienste der Wirtschaft und ­Gesellschaft Europa, Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission vom 9. Mai 2010.

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cristiana, nicht unbedingt darstellen. Ganz im Gegenteil spielt der mehr oder weniger unmittelbare Bezug auf die soziale Marktwirtschaft eine wichtige Rolle beim Aufbau einer postkommunistischen Identität und beim Versuch, diese Identität mit den Erwartungen des katholischen Flügels der Partei in Einklang zu bringen. Das Ergebnis ist eine wechselnde Mischung von ganzheitlichen und wettbewerbsfordernden Elementen, die als Ausdruck des Sozialen in der Marktwirtschaft dargestellt werden. Wettbewerbsfordernde Elemente überwiegen bei den Erben der Kommunistischen Partei. Man könnte provokativ sagen, sie scheinen von dem Motto inspiriert zu sein, das man dem Titel eines heftig diskutierten Buches entnehmen kann: „Der Wirtschaftsliberalismus ist links“.41 Die Sicherung des Wettbewerbs ist seit Jahren eine Hauptsorge führender Persönlichkeiten des Partito democratico, wie zum Beispiel des jetzigen Vorsitzenden, Pier Luigi Bersani. Als Minister für die wirtschaftliche Entwicklung der Zweiten Prodi-Regierung sah er in der Liberalisierung des Wirtschaftslebens ein wichtiges Mittel zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit, und sorgte für den Erlass entsprechender Gesetze.42 Vor kurzem hat er einen umfangreichen Liberalisierungsplan des Partito democratico angeregt, der unter anderem Maßnahmen für den Dienstleistungssektor und für den Bereich der sogenannten geschützten Berufe beinhaltet.43 Einen ähnlichen Weg scheint das letzte Wahlprogramm des Partito democratico zu gehen. Dort wird die Rolle des Marktes zur Lösung sozialer Probleme besonders hervorgehoben, der Bedarf nach mehr wirtschaftlichen Freiheiten explizit erwähnt, und überhaupt nach einer „starken Wettbewerbsspritze“ oder nach einem „Wirtschaftsrecht“ verlangt, „das in der Lage ist, die Vitalkräfte des Landes zu befreien“.44 Zu nennen ist an dieser Stelle auch das Werk von Pietro Ichino, Arbeitsrechtler und Abgeordneter des Partito democratico, der stets für Kontroversen sorgt. Dies deshalb, weil Ichino ein Förderer der sogenannten flex­ security ist, und dadurch für die Auflockerung des Kündigungsschutzes und überhaupt der Liberalisierung des Arbeitsmarktes plädiert, die er mit Begeisterung als Teil des Regierungsprogramms Mario Montis ansieht.45 41  A.

Alesina / F. Giavazzi, Il liberismo è di sinistra, Mailand, 2007. Gesetz vom 4. August 2006, Nr. 248. 43  Liberalizzazioni: idee e proposte per la crescita (9. Februar 2011), . 44  Programma di governo del Partito democratico – Elezioni 2008, . 45  P. Ichino, Lettera sul lavoro, in: Il Corriere della sera, 19. November 2011. 42  Vgl.



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Mehr Raum für öffentliche Intervention sichern die Parteidokumente, die sich spezifisch mit der Frage danach auseinandersetzen, wie die soziale Marktwirtschaft auf europäischer Ebene aussehen soll. Es heißt dort, dass eine wachstumsfordernde Verteilungspolitik nicht nur durch den Markt realisierbar ist, dass dafür also Investitionen nötig sind, die man in erster Linie durch sogenannte Eurobonds und einen europäischen Fiskus finanzieren sollte.46 In Richtung mehr Intervention zur Sicherung des Wettbewerbs, aber auch zur Schaffung eines ganzheitlichen Ambientes zur Förderung dieses Zieles geht der Versuch von Tiziano Treu, Arbeitsminister in der Ersten ProdiRegierung. Er kritisiert ein Verständnis des dritten Weges als Mittel, um die staatliche Steuerung der Wirtschaft auf Regulierung zu beschränken, und damit auf die Definition des regulativen Rahmens für Privatisierungen und Liberalisierungen, und plädiert für eine neue Synthese von Staat, Markt und Gesellschaft. Das Ergebnis ist eine revidierte Globalsteuerung über Subsi­ diarität, bei dem der Staat für „die Miteinbeziehung und Kooperation der verschiedenen öffentlichen und privaten Akteure“ bei der Erreichung des „Gemeinwohles“ sorgen soll: über „Anhörungen und Sozialdialog“, aber auch durch „Sozialpartnerschaften und soziale Abkommen“.47 Freilich kann man dem Partito democratico zumuten, den Schutz des Wettbewerbs auch mit einer konservativen Version der Ganzheitslehre kombinieren zu wollen. Im katholischen Flügel werden nämlich Positionen vertreten, etwa zum Thema homosexueller Ehe oder Euthanasie, die eine vormoderne Haltung in Sache Trennung von Staat und Kirche implizieren. Sollten sich diese Positionen weiterhin erfolgreich durchsetzen, dann könnten sie im Ergebnis für eine soziale Marktwirtschaft à la Tremonti stehen. VII. Ein kritisches Schlusswort Gewiss ist die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft in Italien eine andere als in Deutschland: die Wirtschaftsdemokratie gehörte eher als der Neoliberalismus zu den Gründungsmythen der Halbinsel. Allerdings war es nur eine Frage der Zeit. Die Erben der alten italienischen Massenparteien, des Partito comunista und der Democrazia cristiana, sind jetzt überzeugte Sponsoren der Sozialen Marktwirtschaft, und das gleiche gilt für die Partei46  Europa. Italia. Un progetto alternativo per la crescita. Contributo del Partito democratico al programma nazionale di riforme (21. März 2011), . 47  M. Ceruti / T. Treu, Organizzare l’altruismo. Globalizzazione e welfare, Rom u. Bari, 2010, S. 67 ff.

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en, die dem rechten Spektrum des italienischen politischen Lebens angehören. Wir sind also mit einem Modell konfrontiert, das mehr oder weniger explizit einen gemeinsamen Bestandteil der italienischen politischen Identität darstellt oder darstellen wird, und zwar mit einer Besonderheit: Im italienischen Neoliberalismus spielen durch den Einfluss des konservativen Katholizismus ganzheitliche Elemente eine nicht unbedeutende Rolle. Selbstverständlich gibt es Widerstand gegen eine solche Entwicklung. Die Richtung ist aber vorgegeben, und zwar endgültig durch die Reaktion auf die aktuelle Weltwirtschaftskrise, und das auf eine Art und Weise, die nicht gerade mit der Tradition des politischen Liberalismus im Einklang steht. Wir alle wissen doch, dass die jetzige italienische Wirtschaftspolitik Ergebnis einer eigenartigen vertraglichen Bindung ist, wonach internationale Gelder gegen nationale Reformen getauscht werden. Man mag Anhänger der sozialen Marktwirtschaft sein und doch die Gefahren einer Komprimierung der politischen Freiheiten sehen, die mit der Notwendigkeit einer Reform der wirtschaftlichen Freiheiten motiviert wird: Die Gefahren – so würde man sagen, wenn man den Vorwurf der Übertreibung nicht vermeiden möchte – einer neuen antidemokratischen Wende, ähnlich wie nach der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929.48 Außerdem scheint die Option für eine neoliberale Politik nicht unbedingt dem Anliegen der Bevölkerung zu entsprechen. Im Juni 2011 hat sich die absolute Mehrheit der Wähler über eine Volksabstimmung gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, oder besser gesagt gegen die Übergabe des Wasserdienstes an den freien Markt entschieden. Nach italienischem Recht können mit Volksabstimmungen Gesetzestexte zwar außer Kraft gesetzt, nicht aber neue Gesetzestexte vorgeschlagen werden.49 Rein formell gesehen darf man also nicht von einer allgemeinen Vorliebe der Mehrheit der Bevölkerung für das Modell der Wirtschaftsdemokratie sprechen. Doch ist die ganze Kampagne im Sinne einer Sozialisierung in Form einer Vergesellschaftung der Gemeingüter geführt worden, unabhängig d ­avon, ob diese Güter sich im privaten oder im öffentlichen Besitz befinden. Man kann also, und das wird von vielen Seiten anerkannt, von einer allgemeinen Anweisung sprechen, nach der das Subsidiaritätsprinzip nicht als Überwindung des Gegensatzes zwischen Staat und Markt betrachtet wird, zumindest nicht insoweit es mit neoliberalen Grundsätzen kombiniert wird. 48  Vgl. A. Somma, I giuristi e l’Asse culurale Roma-Berlino. Economia e politica nel diritto fascista e nazionalsocialista, Frankfurt M., 2005, S. 81 ff. 49  Siehe Art. 75 it. Verfassung. Die Volksabstimmung, von der die Rede ist, betraf Art. 23 bis Gesetz vom 6. August 2008, Nr. 133 und Art. 154 Legislativdekret vom 3. April 2006, Nr. 152.



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Die italienische Wirtschaftsverfassung befindet sich in einer Phase des tiefgreifenden Wandels. Das Endergebnis wird sich aber nur insoweit erfolgreich durchsetzen, als es das Resultat eines demokratischen Prozesses sein wird. Wenn es darum geht, den gesetzlichen Rahmen für das Funktionieren des Wirtschaftslebens festzulegen, so müssen die Grundprinzipien des politischen Liberalismus dazu gehören.

IV. Rezensionsabhandlungen und Rezensionen

Ein Feldzug mit weltpolitischen Folgen. Napoleons Scheitern an Russland im Jahre 1812 Von Herfried Münkler Adam Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting, München: C. H. Beck 2012, geb., 720 Seiten mit zahlreichen Karten und Abbildungen. 29,95 €.  Rezensionen Rezensionen Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist in Deutschland Napoleons Vorstoß nach Moskau und der anschließende Untergang der Grande Armée als Menetekel für Hitlers militärisches Scheitern an der Sowjetunion im Winter 1941  /  42 begriffen worden: Beide Male wurde dem Wetter, dem unwegsamen Gelände und der von den Russen praktizierten „Strategie der verbrannten Erde“ die entscheidende Rolle für den Ausgang des Feldzugs und damit des gesamten Krieges zugeschrieben. So verschwand im Geschichtsbild der Deutschen der Feldzug Napoleons in der dominierenden Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bzw. stellte dessen politisch-militärische Ouvertüre dar. Es gehört zu den Vorzügen von Zamoyskis Darstellung, dass er auf solche Parallelen gänzlich verzichtet, ja, dass der Zweite Weltkrieg bei ihm nicht einmal erwähnt wird. Für Zamoyski ist der Ausgang des Feldzugs von 1812 die Entscheidung über die politischen Konturen Europas im 19. Jahrhundert. Erst mit dem Ersten Weltkrieg wurden die politischen Karten für die Geschicke Europas neu gemischt, und deswegen sollte man 1812 und 1941 nicht miteinander vermengen. Napoleons Scheitern in Russland und an Russland war der Anfang vom Ende seiner Herrschaft, zunächst in Mittel- und danach in Westeuropa. Und dieses Scheitern hatte zur Folge, dass die expansive Dynamik, die von den politischen Ideen der Französischen Revolution ausgegangen war, endete bzw. von nun an durch einen mächtigen Konservatismus in Ost- und Mitteleuropa konterkariert wurde. Dessen Machtzentrum war bis zum Ende der Zarenherrschaft im Jahre 1917 Russland, und russisches Militär intervenierte bis dahin regelmäßig, wenn sich in Mitteleuropa nationale oder liberale Bestrebungen zeigten, die den Status quo in Frage stellten. Das jedenfalls war die gesellschaftspolitische Rolle, die das Zarenreich im 19. Jahrhundert spielte, und sie war eine unmittelbare Folge des russischen Sieges über Napoleon und die Grande Armée. Zamoyski hat den Feldzug von 1812 vor allem als das Ringen zweier Männer um die europäische Vorherrschaft dargestellt: Beide, Kaiser Napoleon und Zar Alexander, sind eigenwillige Personen mit einem ausgeprägten politischen Sendungsbewusstsein. Napoleon glaubt an sein Genie und sein Glück; er wähnt sich berufen, eine neue Weltordnung herzustellen, die durch Recht und Frieden gekennzeichnet ist und in der Frankreich die Hauptrolle spielt. Der Gegner dieser napoleonischen Weltordnung ist eigentlich gar nicht Russland, sondern England, das Napoleon ein ums

252 Rezensionen  andere Mal bei der Verwirklichung seiner Pläne entgegengetreten ist. Im überwiegenden Teil der einschlägigen Forschungsliteratur wird Napoleons Entschluss zum Angriff auf Russland damit begründet, er habe Russland als den letzten verbliebenen „Festlandsdegen“ der Briten zerbrechen und gleichzeitig die Kontinentalsperre gegen britische Waren auch in der östlichen Ostsee durchsetzen wollen. Zamoyski stellt die Entschlussfassung Napoleons als weit weniger eindeutig dar, wie überhaupt England bei ihm eine insgesamt nachgeordnete Rolle spielt; Napoleons Auffassung nach war England durch den ebenfalls 1812 stattfindenden Krieg mit den USA gebunden, und er setzte darauf, dass die USA die Briten auf Dauer in Schach halten würden. Das wiederum hatte zur Folge, dass Napoleon Russland gegenüber eher zögerlich agierte und bis zuletzt unklar blieb, welchen politischen Zweck er mit diesem Krieg ­eigentlich verfolgte. So kursierten noch im Sommer 1812, als der Vorstoß der Grande Armée über den Grenzfluss Njemen begann, unter den Soldaten Gerüchte, dass es gar nicht gegen Russland gehe, sondern man sich mit Zar Alexander verbünden werde, um gegen Konstantinopel und von dort aus entweder nach Ägypten oder womöglich bis nach Indien vorzustoßen. Damit kam der alte Gegner England wieder ins Spiel, den die Erfahreneren unter den Soldaten, die schon an vielen Feldzügen des Kaisers teilgenommen hatten, nicht aus dem Auge verloren. Und auch Napoleon scheint bis zum Schluss geschwankt zu haben, ob wirklich der Zar und die Russen sein Hauptgegner waren. Dieses Schwanken hatte Folgen für die politisch-militärische Koalitionsbildung im Vorfeld des Feldzugs, bei der Napoleon sowohl Schweden als auch dem Osmanischen Reich die kalte Schulter zeigte. Beide wären als Bündnispartner gegen Russland leicht zu gewinnen gewesen: Alexander hatte den Schweden, der ehemaligen Hegemonialmacht des Nordens, ein Jahr zuvor Finnland entrissen, und die Schweden wären wohl für eine Revanche zu gewinnen gewesen; mit den Türken wiederum verband die Russen eine jahrhundertealte Feindschaft, die sich leicht zu einem großen Krieg steigern ließ. Kleine Kriege zwischen beiden Mächten fanden permanent statt. So aber gelang es den Russen, an ihrer südlichen Grenze einen Friedensvertrag abzuschließen, durch den die dort stationierten Truppen frei wurden und gegen Napoleon eingesetzt werden konnten. Das waren politische Fehler, wie sie für Napoleon untypisch waren. Zamoyski erklärt sie damit, dass die Entschlusskraft des Kaisers, der inzwischen ins 5. Lebensjahrzehnt eingetreten war, nachgelassen hatte. Er scheute das Risiko und wollte nicht mehr, wie früher, alles auf eine Karte setzen. Gerade war ihm ein Thronfolger geboren worden; er wollte sein Reich dauerhaft sichern. Dementsprechend beginnt Zamoyski seine Darstellung des Russlandfeldzugs mit der Geburt von Napoleons Thronerben. Von nun an hatte Napoleon mehr zu verlieren als zu gewinnen. Zamoyski stellt ihn als einen Zauderer dar, der auch nach Kriegsbeginn noch darüber nachdenkt, ob es nicht besser wäre, sich mit Alexander zu arrangieren und zu den Regelungen des Friedensvertrags von Tilsit aus dem Jahre 1807 zurückzukehren. Der Feldzug von 1812, so die These Zamoyskis, ist nicht erst im Verlauf seiner militärischen Durchführung, sondern schon im politischen Ansatz gescheitert. Das zeigte sich nicht nur an Napoleons nachlässigem Umgang mit Schweden und Türken als potentiellen Verbündeten, sondern auch an seiner Unentschlossenheit in der Polenfrage und bei der Auslösung eines Aufstandes der russischen Leibeigenen. Beides, die Wiederherstellung Polens als eigenständiger Staat und die Befreiung der russischen Bauern aus der Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer, wären die konse-

Rezensionen253 quente Fortsetzung einer Politik der gezähmten Revolution gewesen, als deren politischer Erbe Napoleon sich nach wie vor begriff und auf die sich ein Großteil seiner politischen Legitimität gründete. Die Wiederherstellung Polens über das Großherzogtum Warschau hinaus hätte ihm einen verlässlichen Verbündeten in Mitteleuropa zugeführt, auf den er sich bedingungslos hätte verlassen können, und womöglich hätte ihn die dann mögliche Rekrutierung von Soldaten, die mit den dortigen Witterungsverhältnissen vertraut waren, und die Bereitstellung von zusätzlichen Ressourcen in die Lage versetzt, nach dem Rückzug aus Moskau Städte wie Witebsk oder Wilna zu halten und dadurch das große Desaster des Zerfalls der Armee zu vermeiden. Aber Napoleon zögerte, die polnische Karte zu spielen, denn damit wäre ein Abkommen mit Russland, das sich am Vertrag von Tilsit orientierte, unmöglich geworden, und auch das Verhältnis zum Wiener Kaiserhaus, das seit Napoleons Heirat mit Marie Louise, der Schwester Franz II., gefestigt war, wäre dadurch schwer belastet worden. Den einstigen Revolutionsgeneral, der das alte Deutsche Reich von der politischen Landkarte gefegt und die Verhältnisse in Deutschland von Grund auf neu geordnet hatte, hätte das kaum gestört. Aber Napoleon war nicht mehr dieser Revolutionsgeneral: Er hatte viel zu verlieren, und dementsprechend zögerlich war er bei seinen Entscheidungen. Zamoyski hat das Charakterbild Zar Alexanders genau umgekehrt angelegt: vom ursprünglichen Zauderer, der nicht einmal in der Lage war, die Frage nach dem Oberbefehl über die russischen Truppen klar zu beantworten, entwickelte er sich im Gefolge des Feldzugs von 1812 zu einer der beherrschenden Gestalten Europas, und an der politischen Neugestaltung des Kontinents hatte er maßgeblichen Anteil: War die „Ostverschiebung“ des Wiener Kaiserhauses, seine Herausdrängung aus Deutschland und die Orientierung der österreichischen Politik in Richtung Balkan, das Werk der napoleonischen Expansionspolitik, so war die „Westverschiebung“ Preußens, der Verzicht auf die Rückgabe der Gebiete, die Preußen bei der letzten polnischen Teilung zugefallen waren und die Kompensation dessen durch Gebiete am Rhein und in Westfalen, also die „Eindeutschung“ Preußens, wesentlich das Werk Alexanders. Der Feldzug von 1812 war somit auch eine Entscheidung über die politische Landkarte Deutschlands, und darum ist Thomas Nipperdeys vielzitierte Formel, mit der er seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts begonnen hat – „Am Anfang war Napoleon“1 – durch den Nachsatz zu ergänzen: „und dann kam Alexander“. Es ist bezeichnend für die Westorientierung der Bundesrepublik, dass sie den gestaltenden Einfluss Russlands auf die politischen Verhältnisse Europas im 19. Jahrhundert weitgehend außer acht gelassen und sich wesentlich auf die Auswirkungen der Französischen Revolution und deren expansive Ausbreitung durch Napoleon konzentriert hat. Dagegen hat sich die DDR in die Tradition der Befreiungskriege von 1813 gestellt – doch die hätten nicht stattgefunden, wenn Napoleon nicht an Russland gescheitert wäre. Man hat gesagt, 1989 / 90 erst hätten die Folgen von 1945 ihre prägende Kraft für Deutschland verloren; mit Blick auf die Darstellung des Russlandfeldzugs von 1812 bei Zamoyski könnte man auch sagen, erst 1989 / 90 seien die letzten Folgen des Feldzugs von 1812 aus der deutschen Geschichte verschwunden. 1  Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983 (C. H. Beck), S. 11.

254 Rezensionen  Das Problem der in der DDR gefeierten „deutsch-russischen Waffenbrüderschaft“ war, dass es sich – erstens – im wesentlichen um eine russisch-preußische Waffenbrüderschaft handelte, wozu auch gehört, dass die Sachsen erst während der Völkerschlacht von Leipzig die Seiten wechselten, und dass es sich – zweitens – bei dem russischen Bündnispartner nicht um einen revolutionären, sondern um einen reaktio­ nären Akteur handelte. Dafür zeichnete im wesentlichen Zar Alexander verantwortlich. Der Umstand, dass sein Vater, Zar Paul, bei einer Verschwörung hoher Offiziere und Staatsbeamten ermordet worden war, lag wie ein Alp auf seiner Herrschaft. Die verdankte er nämlich den Verschwörern, und so bekleideten die Mörder seines Vaters weiterhin einflussreiche Ämter in Verwaltung und Militär. Eine Zeitlang hatte Alexander versucht, dem durch den Aufbau eines eigenen militärischen Charismas entgegenzuwirken, aber die katastrophale Niederlage, die er bei Austerlitz gegen Napoleon erlitten hatte, hatte diesem Projekt ein schnelles Ende bereitet. Die Schlachten von Friedland und Preußisch-Eylau hatten dann seine Generäle geschlagen und verloren – und dementsprechend unsicher war Alexander, als er sich im Sommer 1812 zu seinen östlich des Njemen zusammengezogenen Truppen begab. Die Konfusion, die sich aus der Unklarheit über den Oberbefehl ergab und zu der auch noch die Fülle der ausländischen Berater beitrug, die sich den Russen angeschlossen hatten, wurde durch die Anwesenheit des Zaren weiter gesteigert. Eigentlich wollte man der Grande Armée Napoleons grenznah entgegentreten und eine Entscheidungsschlacht wagen. Retrospektiv war es das Glück der Russen, dass es dazu nicht gekommen ist, denn alle Schlachten, nicht bloß Smolensk und Borodino während des napoleonischen Vormarschs, sondern auch die zahlreichen Gefechte während des Rückzugs der Grande Armée lassen nur den Schluss zu, dass die Russen diese Schlacht entscheidend verloren hätten und ihre gesamte Armee vernichtet worden wäre. Demgegenüber hatte Napoleon auf diese grenznahe Entscheidungsschlacht gesetzt: In ihr hätte er seine strategische wie taktische Überlegenheit ausspielen und seine vorherige politische Entschlussschwäche mit einem glänzenden Sieg kompensieren können. Die Unklarheiten bezüglich des russischen Oberbefehls und die widersprüchlichen Einflüsse der ausländischen Berater führten jedoch dazu, dass sich die Russen nicht zur Schlacht stellten, sondern immer weiter zurückzogen. Es war also die Schwäche der politischen und militärischen Führung Russlands, die Napoleon zum Verhängnis wurde. In der Beurteilung der russischen Militärführung folgt Zamoyski weitgehend der Darstellung, die Carl von Clausewitz in seinem kleinen Buch Der russische Feldzug von 1812 gegeben hat.2 Clausewitz hatte im Frühjahr 1812 den preußischen Militärdienst quittiert und war aus einer Mischung von Patriotismus und Napoleonfeindschaft heraus in russische Dienste getreten. Er konnte die Verhältnisse im russischen Lager also aus unmittelbarer Nähe beobachten, und weil er mit keinem Kommando betraut war, besaß er auch die erforderliche Reflexionsdistanz, um das Hin und Her 2  Clausewitz’ kleine Schrift ist in einer handlichen Ausgabe im Magnus Verlag (o. J.) greifbar; wissenschaftlichen Ansprüchen genügt freilich nur die Wiedergabe der Clausewitzschen Aufzeichnungen unter dem Titel „Der Feldzug von 1812 in Russland“; in: Carl von Clausewitz, Schriften-Aufsätze-Studien-Briefe, hrsg. von Werner Hahlweg, 2. Bd., 2. Teilband, Göttingen 1990 (Vandenhoeck und Ruprecht), S. 717–924.

Rezensionen255 in der russischen Führung beschreiben zu können. Indem er Clausewitz folgt, hat sich Zamoyski gegen die Darstellung Tolstois in seinem großen Roman Krieg und Frieden entschieden, wo es das russische Volk in Verbindung mit volksnahen und gottesfürchtigen Generälen ist, die dem sengend und mordend vordringenden Usurpator Napoleon entgegentreten und ihn schließlich aus ihrem Heiligen Russland wieder hinauswerfen. Tolstoi hat den politischen Mythos vom Vaterländischen Krieg in literarische Form gebracht und verewigt. Für Zamoyski ist das keine adäquate Beschreibung der Vorgänge, sondern ein paternalistisch-obrigkeitlicher Gegenentwurf zum Freiheits- und Gleichheitspathos der Französischen Revolution. Dass Napoleon den Feldzug von 1812 verlor, wurde zum Gütesiegel auf diesem politischen Mythos. Die Plausibilität dieses Mythos stand lange auf Messers Schneide, und zu dessen Erfolg hat letzten Endes beigetragen, dass Napoleon nicht nur auf die polnische, sondern auch auf die sozialrevolutionäre Karte verzichtete. Auch hier, so Zamoyski, schwankte er lange, weil er sich alle politischen Optionen offenhalten wollte. Für den einstigen Revolutionsgeneral hätte es nahegelegen, einen Aufstand der russischen Leibeigenen gegen die adligen Großgrundbesitzer zu entfachen, der sich am Vorbild der „Revolution des Landes“ im Frankreich der Jahre 1789 / 90 orientiert hätte. Tatsächlich ist es im Verlauf des napoleonischen Vormarschs vereinzelt zu solchen Aufständen gekommen, aber sie wurden ohne die politische Unterstützung Napoleons nicht zum Flächenbrand. Der russische Adel wiederum hatte einen solchen Aufstand gefürchtet, denn der hätte die gesellschaftliche Ordnung des Landes innerhalb kürzester Zeit zertrümmert. Der Verlauf der russischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ist nicht zuletzt durch Napoleons Zaudern im Spiel mit der sozialrevolutionären Karte bestimmt worden, denn unbeschadet dessen, ob Napoleon bei einer Revolte der Bauern auf Dauer politischen Einfluss auf Russland gewonnen hätte, wäre das Land durch sie ein anderes geworden und hätte kaum jenes „Sonderwegbewusstsein“ ausgebildet, das in der Vorstellung vom Vaterländischen Krieg ebenso seinen Niederschlag gefunden hat wie in den panslawischen Ideen oder tatarischen bzw. skythischen Geschichtsvorstellungen, mit denen sich Russland gegen den „Westen“ in Stellung gebracht hat. Als die große Revolte ausblieb und die Bauern statt dessen weiterhin die Soldaten stellten, deren der Zar bedurfte, um die Lücken, die jede verlorene Schlacht gegen Napoleon riss, wieder schließen zu können, erwuchs daraus die Vorstellung von einer besonderen weltgeschichtlichen Rolle Russlands als Hort christlich-orthodoxer Frömmigkeit. Das politische Sendungsbewusstsein des Zaren, das schließlich in die Idee der „Heiligen Allianz“ mündete, hatte hierin seinen Wurzelgrund. Der anfänglich zögerliche und unsichere Alexander hatte damit ein politisches Projekt gefunden, das ihn selbstbewusst machte und ihm politische Sicherheit verlieh. Zamoyski hat den Feldzug von 1812 nicht nur als das militärische Ringen zweier Männer um die politische Gestaltungsmacht in Europa beschrieben, sondern darin zugleich die Kreuzung von einander entgegengesetzten Verlaufskurven politischen Selbstbewusstseins gesehen: Bei Napoleon verlief sie von der Kühnheit und Entschlossenheit, mit der er im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die politischen Verhältnisse in Frankreich und Europa neu geordnet hatte, zum zögerlichen Abwägen der verschiedenen Optionen, die sich ihm boten, während Alexander vom unsicheren Zauderer zu einem Herrscher mit beinharten politischen Grundsätzen

256 Rezensionen  wurde, die er mit äußerster Entschlossenheit durchzusetzen bereit war. Die Ironie dieser Entwicklungslinien liegt darin, dass Napoleon den Feldzug, den Krieg und letztlich seine Herrschaft verlor, weil er zögerte und zauderte, während Alexander den Feldzug und damit seine Machtstellung in Mitteleuropa gewann, weil er zunächst noch entschlussschwach und unsicher war. Insofern ist Zamoyskis Darstellung des Feldzugs von 1812 auch eine Studie über unterschiedliche politische Charaktere und die Abhängigkeit ihres Erfolgs von spezifischen Konstellationen, die Erschöpfung von Energie und Kraft durch permanente Erfolge und den Aufstieg eines politischen Sterns durch die Gunst von Umständen, mit deren Einfluss keiner gerechnet hatte. Napoleon scheint gespürt zu haben, dass in diesem Feldzug nicht das strategischtaktische Genie auf dem Schlachtfeld, sondern die Sorgfalt der logistischen Vorbereitung den Ausschlag geben würden. Dementsprechend hatte er einen überaus sorgfältigen Plan zur Versorgung der Truppen entworfen, und als der Feldzug vorwiegend an Versorgungsproblemen scheiterte, überzog er seine Untergebenen mit Vorwürfen, sie hätten seine Befehle nicht oder nur unzureichend durchgeführt. Zamoyski zeigt, dass er damit zumindest teilweise recht hatte. Aber er zeigt auch, dass Napoleon die Widrigkeiten des Geländes und des Wetters dramatisch unterschätzt hatte, und die Folgen dessen waren nicht erst auf dem Rückzug zu verspüren. Die großen, von Ochsen gezogenen Karren, mit denen schwere Versorgungsgüter transportiert werden sollten, waren auf den Sandwegen Litauens und Weißrusslands nicht zu gebrauchen, und infolgedessen wuchsen den Pferden weitere Aufgaben als Zugtiere zu. Doch im Vergleich mit den Ochsen verbrauchten die Pferde pro bewegte Tonne deutlich mehr und obendrein hochwertigeres Futter. Als das nicht zur Verfügung stand und man die Tiere „aus dem Land“ mit unreifem Hafer und frischem Gras fütterte, ging ein erheblicher Teil des Pferdebestandes der Grande Armée daran zugrunde. Infolge der so entstandenen Versorgungsdefizite ging ein Großteil der Armee nach dem Überschreiten des Njemen, also in „Feindesland“, zu Plünderungen über, was zu einer merklichen Lockerung der Disziplin und einem zunehmend ablehnenden Verhältnis der Bevölkerung gegenüber den Soldaten führte. Die polnische Bevölkerung sah in Napoleon schon bald nicht mehr den Befreier vom Joch des Zaren, sondern einen bloßen Eroberer. Obendrein führte die Maraude-Praxis zu schnell abschmelzenden Truppenstärken bei den vordersten Einheiten: Die Kombination von hoher Marschleistung und schlechter Ernährung hatte eine rasant ansteigende Zahl von Krankheiten und Todesfällen zur Folge, und Zamoyski berichtet auch davon, es habe bereits während des Vormarschs Selbsttötungen unter den Soldaten gegeben, weil diese sich den Strapazen nicht länger gewachsen sahen. In der Regel wird derlei erst mit dem Rückzug aus Moskau verbunden. Zamoyski zeigt, dass die schlechte Versorgung der Soldaten, die grassierenden Magen- und Darmerkrankungen, das Zurückbleiben Einzelner und bald ganzer Gruppen, die das Marschtempo ihrer Einheiten nicht mehr mithalten konnten, ein Problem war, das die Grande Armée von Anfang an begleitete und mit jedem Kilometer größer wurde. Clausewitz hat daraus die Formel von der abnehmenden Kraft der Offensive und dem Kulminationspunkt des Angriffs entwickelt. Aber die für die Russen militärisch sinnvolle Strategie des Rückzugs ins Landesinnere und die Vermeidung einer Entscheidungsschlacht war für den Zaren politisch ein Problem: Sie sah nach Unterlegenheit, Unfähigkeit und Feigheit aus, zumal

Rezensionen257 man zunächst ja die Idee der grenznahen Abwehrschlacht verfolgt hatte, sie hatte die Ausplünderung des Landes und die Zerstörung der Städte zur Folge, und immer mehr Adlige, die ihre Besitzungen verloren hatten, fragten sich, ob hier womöglich Unfähigkeit vorherrschte oder gar Verräter ihre Hand im Spiel hatten. Zar Alexan­der musste fürchten, dass ihn das Schicksal seines Vaters ereilen würde, wenn seine Truppen der immer tiefer nach Russland vorstoßenden Grande Armée nicht bald entschlossen entgegentreten würden. Wider alle militärische Ratio stellten sich die Russen darum bei Borodino zur Schlacht, und die sollte bis zum Sommer 1916, bis zur Schlacht an der Somme, das größte militärische Massaker der Geschichte bleiben. Napoleon gewann diese Schlacht, doch sie war für ihn kein entscheidender Sieg, keine Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte, wie ihm das früher so oft gelungen war. Napoleon agierte am Tag von Borodino eigentümlich ent­ schluss­ schwach:3 Stundenlang ließ er seine Kavallerie untätig im russischen Artilleriefeuer verharren, während er zögerte, die Alte Garde zum entscheidenden Stoß auf die bereits erschütterten russischen Stellungen anzusetzen. Ebenso wenig nutzte er die günstige Position des 5. Korps unter Marschall Poniatowski für einen Stoß in die Flanke der russischen Stellungen. Auch die Russen machten Fehler, insbesondere was den Einsatz der Artillerie und den Gebrauch ihrer Kavallerie anbetrifft. Aber früher hatte Napoleon seine Schlachten gewonnen, weil er weniger Fehler als sein Gegenspieler machte und die sich bietenden Gelegenheiten entschlossen ergriff. – Warum war das bei Borodino nicht der Fall? Warum vermochte der Kaiser hier so ganz und gar nicht sein Feldherrngenie in die Waagschale zu werfen, obwohl ihm mit dem russischen Oberkommandierenden Kutusow ein Kontrahent gegenüberstand, der ihm taktisch in jeder Hinsicht unterlegen war? Die Antwort auf diese Frage ist auch darum bedeutsam, weil Napoleon durch einen entscheidenden Sieg alle Fehler, die er bis dahin gemacht hatte, wettgemacht hätte. Ohne eine aktionsfähige Armee hätte sich Zar Alexander, der sich inzwischen nach St. Petersburg zurück gezogen hatte, wohl auf Verhandlungen mit Napoleon einlassen müssen, wie sie eine wachsende Gruppe des hofnahen Adels unter dem Eindruck der Vernichtung ihrer Besitzungen verlangte. Das waren die politischen Konstella­tionen, auf die Napoleon gesetzt hatte. Napoleons Entschlussschwäche und die Lügen Kutusows nach der Niederlage von Borodino, die er als Sieg feiern ließ, haben Alexander gerettet bzw. dazu geführt, dass er seine intransigente Politik gegenüber Napoleon durchhalten konnte. Eine Erklärung für Napoleons unentschlossenes Agieren ist, dass er am Tag von Borodino krank gewesen ist. Die vielen Feldzüge waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Er verfügte jedenfalls nicht über die Frische, die ihn sonst während der Schlachten auszeichnete. Die zweite Erklärung hebt weniger auf physiologische Probleme des Kaisers ab, sondern auf sein Kalkül: Er wollte in Moskau den Frieden diktieren, aber um in Moskau entsprechend auftreten zu können, durften seine Verluste nicht zu hoch sein. Also zögerte der Mann, der doch gesagt haben soll, Soldaten seien dazu da, getötet zu werden. Aber gerade durch Napoleons Zögern (und infolge der legendären Tapfer3  Vgl. dazu Herfried Münkler, „Clausewitz’ Beschreibung und Analyse einer Schlacht. Borodino als Beispiel“; in: Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, hrsg. von Steffen Martus, Marina Münkler und Werner Röcke, Berlin 2003 (Akademie Verlag), S. 67–91.

258 Rezensionen  keit der russischen Infanterie) waren die Verluste der Grande Armée bei Borodino ungeheuer hoch, ohne dass dem die Zerschlagung der russischen Armee und der Verlust ihrer Artillerie gegenüberstanden. Doch die russischen Verbände waren schwer angeschlagen, und die meisten Offiziere waren gefallen. Nur Kutusows Lügen bezüglich des Ausgangs der Schlacht haben verhindert, dass sich die Soldaten selbständig machten und die Armee sich auflöste. Napoleons Verzicht auf die schnelle überholende Verfolgung der sich zurückziehenden Russen durch Murats Kavallerie war ein weiterer Grund dafür, dass Borodino nicht zu einem großen Sieg Napoleons, sondern zu einem bloßen Massaker wurde. Ausführlich beschreibt Zamoyski, wie sich die russische Nachhut durch das bereits aufgegebene Moskau zurückzog, während bereits französische Truppen in der Stadt standen, sie aber nicht attackierten, sondern ungestört abziehen ließen. Ganz offenkundig waren Napoleon und seine Marschälle der Überzeugung, die Besetzung Moskaus sei gleichbedeutend mit dem Sieg im Feldzug gegen Russland. Damit aber hatten sie sich gründlich getäuscht. Wie sie sich mit den Folgen unbegrenzter Räume für ihre Art der Kriegführung verschätzt hatten, so unterschätzten sie nun die russische Entschlossenheit zu bedingungslosem Widerstand. Bereits auf dem Rückzug nach den Gefechten um die Stadt Smolensk, wo das Land wieder fruchtbarer wurde und die Grande Armée sich einigermaßen „aus dem Lande“ hätte versorgen können, hatten die Russen eine „Strategie der verbrannten Erde“ praktiziert und auf ihrem Rückzug alles zerstört, was für die Grande Armée hätte nützlich sein können. Im russischen Hauptquartier hatte man nach der Schlacht von Borodino diskutiert, ob man sich vielleicht in südliche Richtung zurückziehen sollte, um Napoleon und seine Armee von Moskau abzulenken. Aber das hätte bedeutet, dass Napoleon den abziehenden russischen Regimentern auf den Fersen geblieben wäre und sie womöglich zu einer zweiten, dann wohl tatsächlich vernichtenden Schlacht gestellt hätte. Das wollte Kutusow unter allen Umständen vermeiden, und so lenkte er seinen Rückzug über Moskau, wohl wissend, dass die Besetzung der Hauptstadt die Grande Armée davon abhalten würde, den russischen Truppen weiter zu folgen. Moskau war der Köder, um Napoleon von einer weiteren Verfolgung der Russen abzuhalten, und tatsächlich hat der Kaiser diesen Köder geschluckt. Entgegen den europäischen Kriegsgepflogenheiten wurde Moskau der anrückenden Grande Armée nicht ordnungsgemäß übergeben, wobei eine formelle Übergabe bedeutete, dass die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung kriegsrechtlich auf die Franzosen und ihre Verbündeten übergegangen wäre. Aber Moskau wurde auch nicht erobert, was eine kriegsrechtlich andere Situation dargestellt hätte, sondern die Russen zogen ab, und die Grande Armée marschierte ein. Diese unklare Situation trug zu dem für Napoleon verhängnisvollen Zusammenbruch der Ordnung in Moskau entscheidend bei. Zunächst jedoch, daran lässt Zamoyski keinen Zweifel, war der Brand Moskaus eine Fortsetzung der von den Russen seit Smolensk praktizierten „Strategie der verbrannten Erde“, und der Gouverneur von Moskau, Graf Rostoptschin, war ein Anhänger des bedingungslosen Kampfes gegen die immer weiter vordringenden Feinde. Zum Teil wurde Moskau von Agenten Rostoptschins in Brand gesetzt, zum Teil von freigelassenen Kriminellen, zum Teil von marodierenden Soldaten der Grande Armée, die bei ihrer Suche nach Wertgegenständen mit äußerster Brutalität vorgingen. Offenbar wurden von ihnen Gebäude in Brand gesetzt, um die Bewohner zu zwingen, die Verstecke ihrer Wertgegenstän-

Rezensionen259 de zu verraten. So kamen systematische Brandstiftung und achtlose Plünderung zusammen. Auch scheint es massenhaft zu Vergewaltigungen gekommen zu sein. Gleichwohl wurde Moskau keineswegs in Gänze ein Raub der Flammen, und die in der Stadt gelagerten Vorräte wurden nicht allesamt vernichtet. Nachdem die Feuer erloschen waren, kehrte auch Napoleon in die Stadt zurück, wo er sich dann mehrere Wochen aufhielt – mindestens zwei Wochen zu viel, wie sich beim Wetterumschlag während des Rückzugs zeigte. Napoleons Problem war, dass er die Hauptstadt des Gegners erobert hatte – und nichts passierte. Realistisch betrachtet, blieb ihm unter diesen Bedingungen nur der Rückzug: Eine Überwinterung der Armee in und um Moskau war aus logistischen Gründen nicht möglich, ebenso wenig eine Fortsetzung des Feldzugs gegen die bei Tarutino südlich Moskau stehende russische Armee oder gegen das nordwestlich gelegene St. Petersburg, das politische Zentrum des Zarenreichs. Beide Möglichkeiten wurden eine Zeitlang erörtert und dann verworfen. Napoleon wollte jedoch unter allen Umständen den Eindruck eines Rückzugs vermeiden, weil er dessen politische Folgen fürchtete, und deswegen tat er so, als ob es bloß um taktische Umgruppierungen gehe. Um diesen Eindruck zu unterstützen, griff er die russischen Truppen bei Malojaroslawez an, und in dieser kleineren Schlacht zeigte sich, dass die operativen Fähigkeiten der Grande Armée immer noch deutlich höher waren als die der Russen. Aber dieser Angriff nach Süden kostete weitere Zeit, die besser auf den direkten Rückzug in Richtung Smolensk verwendet worden wäre. Im Oktober war das Wetter jedoch noch gut, so dass Napoleon die Folgen des Wetterumschwungs, der dann am 6. November eintrat, unterschätzte: Es stand weder Winterbekleidung zur Verfügung noch wurde angeordnet, die Pferde mit scharfen Hufeisen zu beschlagen. Auch hatte man zugelassen, dass die Truppen, vom General bis zum Grenadier, die in Moskau geplünderten Wertgegenstände mitnahmen, was das Marschtempo der Truppen verlangsamte und wertvolle Transportkapazität blockierte. Schließlich schlossen sich den abziehenden Truppen noch mehrere Tausend Nonkombattanten an, Personen, die mit den Franzosen „kollaboriert“ hatten, sowie die seit langem bestehende französische Gemeinschaft Moskaus, die nach der Rückkehr der Russen mit Racheakten zu rechnen hatte. Es war also nur noch in Teilen ein militärischer Verband, der Moskau verließ und in die Katastrophe des hereinbrechenden Winters hineinmarschierte. Aber diese Katastrophe kam nicht plötzlich und mit einem Schlag, sondern entwickelte sich in Etappen, und dabei spielte eine entscheidende Rolle, dass die jeweils ins Auge gefassten Haltepunkte des Rückzugs, an denen man nicht bloß die Nachzügler einsammeln und die militärische Disziplin wiederherstellen, sondern wo man auch überwintert wollte, sich sehr schnell als ungeeignet erwiesen, so dass sich das unter äußersten Anstrengungen erreichte Ziel bloß als Durchgangsstation erwies und der Rückzug nach kurzem Halt weiterging. Das untergrub die Moral der Truppe, und zur physischen Erschöpfung kam bei vielen Resignation hinzu. Immer mehr blieben zurück und ergaben sich ihrem Schicksal. Das konnte in Erfrieren bestehen, im Niedergemachtwerden durch Kosaken, die den Bandwurm der zurückflutenden Armee umkreisten, oder auch in Gefangennahme und Ausplünderung, bei der auch Uniform und Bekleidung weggenommen wurde, so dass die Unglücklichen binnen kürzester Zeit erfroren. Die Katastrophe des Rückzugs und das elende Sterben der Menschen, zu denen viele Soldaten der Rheinbundstaaten gehörten, ist oft beschrie-

260 Rezensionen  ben worden.4 Auch bei Zamoyski finden sich erschütternde Darstellungen und Berichte, aber er belässt es nicht dabei. Bis nach Wilna war der Rückzug der Armee nicht bloß ein Rückzug mit Auflösungserscheinungen, sondern gleichzeitig eine Abfolge von Gefechten und Schlachten, in denen die Überreste der Grande Armée sich immer wieder den Weg freikämpfen mussten. Es gibt in der einschlägigen Literatur eine lange Debatte darüber, warum es den russischen Truppen nicht gelungen ist, die Reste der Grande Armée abzuschneiden, einzukesseln und zu vernichten und dabei nicht nur Napoleon, sondern auch seine Marschälle gefangen zu nehmen oder zu töten. Aus St. Petersburg jedenfalls kamen immer wieder solche Anweisungen. Der Oberbefehlshaber Kutusow kam ihnen jedoch nur zögerlich nach, und wo einzelne seiner Generäle den Versuch unternahmen, der Grande Armée den Rückzugsweg zu verstellen, wurden sie geschlagen oder umgangen: Platow und Miloradowitsch zwischen Gschazk und Wjasma, Moloradowitsch noch einmal bei Krasnyi, Tschitschagow bei Borisow, wo Napoleon den Übergang über die Beresina erzwang. Der ohnehin eher zögerliche Kutusow wollte das Risiko einer großen Schlacht nicht eingehen: Nicht ohne Grund war er der Auffassung, dass er in einer solchen Schlacht mehr verlieren als gewinnen könne. Außerdem wusste er, dass es auch um seine Truppen nicht zum Besten bestellt war, und nach wie vor fürchtete er Napoleons taktisches Genie und die Kampfkraft seiner Truppen. Diese Kampfkraft war auch darum nicht zu unterschätzen, weil im Verlauf des Rückzugs zurückgelassene Truppenteile wieder zur Armee stießen, die den Strapazen des Rückzugs bislang nicht ausgesetzt gewesen waren, ihre Artillerie noch besaßen und militärische Disziplin aufwiesen. Das zeigte sich an der Beresina, wo es Napoleon mit einem Täuschungsmanöver gelang, zwei Brücken über den Fluss zu schlagen und das Gros der Armee mitsamt Tross und Artillerie überzusetzen. Zu spät bemerkte der westlich der Beresina stehende Tschitschagow die Täuschung, während die östlich der Beresina stehende russische Armee des Generals Wittgenstein weitgehend untätig zusah. Als Tschitschagow die Truppen Napoleons in der Flanke zu fassen versuchte, wurde er zurückgeschlagen, und die Angriffe Wittgensteins auf die französische Nachhut führten bloß dazu, dass die Nonkombatanten, die sich der Armee angeschlossen hatten, und eine große Zahl Nachzügler in russische Hände fielen oder im eiskalten Wasser der Beresina ertranken. Die in Deutschland vorherrschende Vorstellung, wonach der Untergang der Grande Armée an der Beresina stattgefunden habe, ist Zamoyski zufolge also falsch. „Der Übergang der Beresina war, welchen Maßstab man auch anlegt, eine brillante und heroische militärische Leistung. Napoleon hatte sich der Lage gewachsen und seines Rufs würdig gezeigt; er zog sich, laut Clausewitz, ‚aus einer der schlimmsten Lagen, in welcher sich je ein Feldherr befunden hat‘.“ (S. 538). Kutusows Zurückhaltung gegenüber Napoleon war also durchaus angebracht. Er setzte darauf, dass sich die Grande Armée im Verlaufe ihres Rückzugs von selbst zugrunde richten werde, und dazu bedurfte es nur des steten Verfolgungsdrucks, den er aufrechterhielt. Hinzu kamen die irregulären Kosakeneinheiten, die Versprengte und Erschöpfte angriffen und töteten. Tolstoi hat Kutusow für sein Agieren während des Feldzugs ein literarisches Denkmal gesetzt; Clausewitz hat das Zögern und 4  Dazu jetzt Eckart Kleßmann, Die Verlorenen. Die Soldaten Napoleons im Rußlandfeldzug, Berlin 2012 (Aufbau Verlag).

Rezensionen261 Zaudern Kutusows für der Situation angemessen gehalten. Aber Kutusow hat „den glänzenden Sieg“ verpasst, der ihn in die erste Reihe der großen Feldherrn gebracht hätte. Statt dessen hat sich die Vorstellung von einem Partisanenkrieg breitgemacht, der während deren Rückzug gegen die Grande Armée geführt worden sei und sie zerrieben habe. Zamoyski widerspricht dem: Eine Guerilla nach spanischem Vorbild habe es in Russland nicht gegeben. Zwar hätten sich die Bauern hier und da gegen französische Marodeure zur Wehr gesetzt, aber von einem systematischen Partisanenkrieg des Volkes gegen die fremden Eindringlinge könne keine Rede sei. Wo es partisanische Aktionen gegeben hat, orientierten sich diese eher an der Operationsform leichter Truppen, wie dies bereits in den friederizianischen Kriegen des 18. Jahrhunderts der Fall gewesen ist, und nicht am spanischen Modell einer Verbindung von Kleinkriegführung und Volksaufstand. Zamoyskis Fazit lautet also: Es waren weder Kutusow noch die Partisanen, die Napoleons Armee zugrunde richteten, sondern eine Verbindung von Wetter, Fehlentscheidungen des Kaisers und nachlässiger Befehlsausführung durch die Generäle. Wirklich zerfallen ist die Armee jedoch erst auf dem Rückzug von Wilna, wo Napoleon die Armee verlassen hatte, um in Paris für die Aufrechterhaltung seiner Herrschaft zu sorgen. Der mit dem Oberkommando betraute Marschall Murat war ein Haudegen, aber kein Oberkommandierender, einer, der wild Befehle gab, aber nicht dafür Sorge trug, dass sie von Generalstabschef Berthier in eine systematische Abfolge gebracht werden konnten. Aus dem Rückzug wurde nun eine heillose Flucht, zumal nun auch noch der Flankenschutz fehlte, da sich die verbündeten Österreicher unter Schwarzenberg zurückgezogen und die Preußen unter Yorck sich in der Konvention von Tauroggen für neutral erklärt hatten. Die militärische Kata­ strophe begann damit zum politischen Zerfall der napoleonischen Herrschaft über Mitteleuropa zu werden. In einem kurzen Kapitel umreißt Zamoyski die Fortsetzung des Feldzugs in den Kriegen des Jahre 1813, die nun im Wesentlichen auf deutschem Boden stattfanden und schließlich in der Völkerschlacht von Leipzig endeten. Er zeigt, dass Napoleon auch in diesem Krieg noch Schlachten gewinnen und seinen Gegnern hart zusetzen konnte. Aber der Nimbus der Unbesiegbarkeit war dahin, und wenn Napoleon siegte, konnte er diesen Sieg nicht mehr ausnutzen, denn ihm fehlte die Kavallerie, um den geschlagenen Gegner zu verfolgen und zu vernichten. Napoleon hatte zwar, so zynisch dies klingen mag, die in Russland verlorenen Soldaten ersetzen können, aber nicht die zugrunde gegangenen Pferde. Zamoyskis Resümee lautet darum: Es war die Logistik, an der zunächst Napoleons Strategie und dann seine Politik scheiterte.

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„Die Gesellschaft unter dem Staat“ oder „Der Staat aus der Gesellschaft“? – Florian Meinel über Ernst Forsthoff Von Bernd Rüthers Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft – Ernst Forsthoff und seine Zeit, Akademie Verlag, Berlin 2011, XI und 557 Seiten, ISBN 9783-05-005101-7.  Die Biographie Florian Meinels über „Ernst Forsthoff und seine Zeit“ schildert das Leben und Werk eines der namhaftesten deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist bedeutsam, weil Forsthoff einer der vielen deutschen Hochschullehrer war, der als „Jurist in drei Reichen“ unter drei gegensätzlichen Verfassungen tätig war und jeweils auf die Wissenschaft vom öffentlichen Recht und der Rechtstheorie national und international beträchtlichen Einfluß ausgeübt hat. Die umfassend, sorgfältig, geradezu akribisch recherchierte Dissertation stellt eine herausragende wissenschaftliche Leistung dar. Der Autor hat nicht nur den Nachlass von Forsthoff, andere Nachlässe, alle einschlägigen Universitätsarchive, das Bundesarchiv und zahlreiche weitere Materialien (Familienpapiere, Privatsammlungen, Briefeditionen etc.) durchforstet; er hat zusätzlich Gespräche mit Schülern, Weggefährten und Zeitgenossen von Forsthoff geführt. Sein Bericht geht daher über eine Biographie von Forsthoff hinaus. Er entwirft ein Bild dieser dramatischen Epoche einschneidender Veränderungen in Deutschland, in Europa und in der Geopolitik. Für die Lebensgeschichte des nicht zuletzt über seine einflußreichen Schüler wirkungsmächtigen Staatsrechtlers ist das Buch eine Fundgrube. Ob es sinnvoll ist, die Last dieser mehrjährigen Arbeit einem Doktoranden zuzumuten, erscheint des Nachdenkens wert. Es hätte gut eine Habilitationsschrift sein können. I. Werdegang Forsthoff, 1902 in Duisburg geboren, studierte ab 1921 Rechtswissenschaft in Freiburg, Marburg, wieder in Freiburg und ab 1923 in Bonn, wo er auf den dort lehrenden Carl Schmitt traf. Eingehend schildert Meinel die Faszination des 22-jährigen Studenten durch den begeisternden Lehrer. Noch Jahrzehnte später berichtet er, zum ersten Mal habe ihm in Schmitt der „Geist des Rechts und der Rechtswissenschaft gegenübergestanden“ (S. 38). 1925 folgte – bald nach dem 1. Examen – die Promotion bei Schmitt zu dem typisch Schmitt’schen Thema „Der Ausnahmezustand der Länder“. Die geplante Habilitation bei ihm war nicht möglich, weil Schmitt 1928 einen Ruf an die Handelshochschule Berlin annahm, die kein Habilitationsrecht besaß. Forsthoff hatte in der Folge in Marburg und Bonn Schwierigkeiten, einen Betreuer zu finden. Über die Vermittlung Schmitts kam er auf eine Empfehlung R. Smends an den Staats- und Kirchenrechtler Marschall von Bieberstein in Freiburg, wo er sich im Frühjahr 1930 mit einer Arbeit über „Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat“ habilitierte und eine venia legendi für die Fächer Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verwaltungsrecht erhielt.

Rezensionen263 1933 folgte er einem Ruf nach Frankfurt und wurde Nachfolger des nach dem verlogen betitelten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (7.4.1933) vertriebenen Juden Hermann Heller, der einer der wenigen Sozialdemokraten unter den juristischen Professoren war. Es folgt die erste Werkperiode, in der Forsthoff zusammen mit seinem Lehrer Schmitt und im Gleichklang mit Larenz, Maunz, Köttgen, Scheuner, Krüger, Huber, Lange, Dahm, Siebert u.v. a. zu den namhaften Juristen gehörte, die sich bemühten, dem Nationalsozialismus und der aufziehenden rassistisch-totalitären Diktatur die staatsrechtliche Legitimation zu verschaffen. Forsthoff selbst sagte später als einer der wenigen, die sich dazu offen äußerten, er sei 1933, wie viele andere, dem Zauber Hitlers erlegen. II. Sozialisationsfaktoren Meinel nennt auf der Suche nach den Einflußfaktoren, die das Weltbild, das Denken und Handeln von Forsthoff maßgeblich geprägt haben, besonders das väterliche Pfarrhaus, die Zugehörigkeit zur Generation der „Kriegsjugend“ und danach die Begegnung mit Person und Werk seines akademischen Lehrers Schmitt (S. 16 ff.). Die beiden ersten Faktoren haben nicht nur für Forsthoff, sondern für eine ganze Generation damals junger Juristen einen prägenden Einfluß auf ihr „Weltbild“, ihre Handlungsmuster und ihre Aktionsgemeinschaften gehabt. Sie sind daher über die Person Forsthoffs hinaus ein Schlüssel für das Verständnis des Verhaltens vieler Altersgenossen, vor allem der akademischen Jugend, anfangs der 30er Jahre. 1. Das Pfarrhaus der „Deutschen Christen“ Forsthoff war Sohn des Pfarrers Heinrich Forsthoff, der 1932 Mitglied der gegründeten „Deutschen Christen“ wurde, einer rassistischen, antisemitischen und am Führerprinzip orientierten Strömung im deutschen Protestantismus. Ihre Vertreter wollten die evangelische Kirche in Deutschland an die Ideologie des Nationalsozialismus angleichen. Sie beschlossen, durch die Übernahme des Arierparagraphen in die Kirchenverfassung Christen jüdischer Herkunft aus ihrer Kirche auszuschließen. H. Forsthoff wurde 1934 Propst des evangelischen Bistums Köln-Aachen. Als Präses der Provinzialsynode entwarf er eine neue Kirchenordnung. Er stellte die gesamte Kirchenorganisation unter das Führerprinzip des Nationalsozialismus. Sein Entwurf nannte als Vorbild dafür ausdrücklich Adolf Hitler. 2. Die Alterskohorte Neben der familiären Sozialisation ist die Generations- und Alterskohorte für Forsthoff ein wichtiger Prägefaktor. Er gehört zur Gruppe jener juristischen Hochschullehrer, die sich nach 1933 willig, ja überwiegend begeistert in den Dienst des „neuen Staates“ stellten. Die Gruppenzugehörigkeit ist ein Schlüssel zum Verständnis der kollektiven Verhaltensmuster ihrer Mitglieder. Meinel hat diesen Prägefaktor der „Sozialisationskohorte“, der bisher vor allem in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

264 Rezensionen  untersucht worden ist, übernommen und unter dem Stichwort „Jahrgang 1902“ an den Anfang seiner Forsthoff-Biographie gestellt. Er folgt damit früheren Untersuchungen zu diesem Thema.1 Die von ihm als Beispiel genannte Personengruppe (S. 25) ist zwischen 1901 und 1908 geboren. Er nennt neben maßgeblichen juristischen Autoren der „völkischen Rechtserneuerung“, gleichsam in einer Reihe, auch solche, die, mindestens teilweise, als entschiedene Regimegegner einzustufen sind wie etwa Wolfgang Abendroth, Otto Kirchheimer und Hans Morgenthau, ferner Ernst Friesenhahn (ebenfalls ein Schüler von Schmitt) und Wolfgang Kunkel. Als Nichtjuristen der Kohorte werden aus dem Forsthoff / Schmitt-Kreis Arnold Gehlen, Hans Barion und Hans Schomerus erwähnt, sämtlich 1933 engagiert dem Hitler-Regime zugewandt. 3. Ernst Jünger Einen weiteren Hauptfaktor der Sozialisation Forsthoffs sieht Meinel in der „Metaphysik der Mobilmachung“ durch die Person und das Werk von Ernst Jünger. Dessen Ideal eines „autoritär gegliederten, militärisch hochgerüsteten Staates, der alle politischen Energien bei sich zu konzentrieren weiß und sich zum Träger großer sozialer Planungen und Gestaltungen aufschwingen kann“, habe ihn fasziniert. In ihm werden alle liberalen Institutionen des Staates und der Gesellschaft (Parlamente, Rundfunk, Presse, Eigentum und Finanzwesen) einer rigorosen Aufsicht unterworfen (S. 28–31). 4. Die Krisen der Weimarer Krisenzeit Meinels zweiter Aspekt ist das „Politische Denken als Abbruchunternehmen“ (S. 31–36). Forsthoff sieht die Weimarer Republik in der „Krise des Staatsdenkens in einer Krise des Rechtstaates“, in einer „Zeit völliger Verwirrung“, einer „trost­ losen wirtschaftlichen Desorganisation“ und im „Zerfall der bürgerlichen Welt“. Er spricht von der „Liquidierung“ des Rechtsstaates und des 19. Jahrhunderts. Die Weimarer Verfassung schmäht er als die Restauration einer verstaubten Vorkriegsordnung. Diese Anklagen publiziert er mit Rücksicht auf seine geplante akademische Karriere 1931 und 1932 (vorsichtshalber?) überwiegend unter verschiedenen Pseudonymen. Nach der „Machtübernahme“ von solchen Rücksichten befreit, schreibt er in seiner Schrift „Der totale Staat“: „Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert und es ist die Verheißung einer besseren Zukunft, daß es mit rücksichtsloser Entschlossenheit und dem Mut zu äußerster Konsequenz geschieht.“2 Meinel bietet zwar, wie bereits gesagt, eine umfangreiche, quellengestützte Recherche zum Leben von Forsthoff. Für ein realistisches Bild der Gedankenwelt und der Motive dieser Juristengeneration, die nach 1933 in kürzester Zeit ihre Zuneigung 1  Vgl. B. Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Sozialisa­ tionskohorten in Wendeliteraturen, Tübingen 2001, S. 33–71 zu den Sozialisationsprozessen der Aufsteigergeneration im NS-Staat und im SED-Staat; ders., Hatte die Rechtsperversion in den beiden deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 2007, S. 556– 564. 2  E. Forsthoff, 1. Auflage, Hamburg 1933, S. 17.

Rezensionen265 zum Hitlerregime und seiner Ideologie entdeckte, sind m. E. zusätzliche Aspekte zu bedenken, die bei Meinel zwar angedeutet sind, aber – nicht nur für Forsthoff – lebensprägend waren. Ich stütze diese ergänzenden Hinweise auf persönliche Gespräche, die ich 1968 und später mit Forsthoff gehabt habe, dem ich zunächst im privaten Kreis, später mehrfach bei fachlichen Anlässen begegnet bin. III. Das Wendeerlebnis 1933 Zunächst ist das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs­beamtentums“ zu nennen. Es vertrieb binnen kurzer Zeit alle jüdischen Professoren und Dozenten aus ihren Stellungen. Die Mehrzahl der jungen „Wende-Autoren“, die sich an der Legitimation und dem Aufbau des „Nationalsozialistischen Rechtsstaates“ beteiligten, erhielt Rufe auf die freigewordenen Lehrstühle der Vertriebenen. So wurde Forsthoff Nachfolger von Hermann Heller in Frankfurt, Larenz Nachfolger von Gerhart Husserl in Kiel. Berufen wurde nur, wer als zuverlässiger Mitkämpfer für den neuen Staat und seine Ideologie galt. Die Reihe der Einsatzwilligen und so Begünstigten ist lang. Der „Nationalsozialistische Rechtswahrerbund“, der 1930 etwa 100 Mitglieder zählte, im Januar 1933 waren es 1374, hatte im Oktober 1933 fast 30.000 Mitglieder. An der „4. Reichstagung“ dieses Bundes im November 1933 in Leipzig nahmen 30.000 (!) Juristen teil. Im Senatssaal der Universität veranstalteten die Dekane aller deutschen juristischen Fakultäten (!) aus diesem Anlaß einen feierlichen Empfang für den „Reichsrechtsführer“ Hans Frank, der später für seine Kriegsverbrechen in Polen hingerichtet wurde. Die Juristen generell, speziell die Nachwuchsgeneration der Dozenten und Professoren wandten sich dem neuen autoritären Führerstaat zu. Fragt man nach den Gemeinsamkeiten, welche die wissenschaftlichen Autoren der Rechtserneuerung nach 1933 verbanden oder mindestens verbinden konnten, so sind als mögliche Verbindungselemente zu nennen:3 • Fast alle kamen aus sog. „guten, bürgerlichen Familien“ mindestens der gehobenen Mittelschicht, die Mehrzahl von ihnen aus Juristenfamilien. Söhne aus sozia­ len Unterschichten studierten schon aus finanziellen Gründen selten Rechtswissenschaft (keine Unterhaltszuschüsse für Referendare). Juristische Studentinnen gab es nur vereinzelt. • Die Familien waren überwiegend „deutsch-national“ und monarchistisch, zudem oft „völkisch“ gesonnen. Viele der Genannten gehörten der völkisch gesinnten Jugendbewegung an. • Die meisten verfügten über eine überdurchschnittliche fachliche Begabung und literarische Ausdrucksfähigkeit. • Mit dieser Ausgangslage hatten sie außer den von Meinel dargelegten Umständen erlebt: – die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Revolution von 1918, den Zusammenbruch des Kaiserreiches, die Kapitulation und den Versailler „Schandvertrag“, die Faszination und Verbreitung der „Dolchstoßlegende“, 3  Näher B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den beiden deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 2007, S. 556–564.

266 Rezensionen  – die großen Vermögensverluste der bürgerlichen Familien in der Inflation 1923, – die Besetzung des Ruhrgebietes durch die französische Armee 1923, – ihr Jurastudium während der Weimarer Republik bei Professoren, die der Republik überwiegend fernstanden, – die ständigen Neuwahlen und Regierungswechsel der Weimarer Zeit, – die politischen Wirrungen, Handlungsunfähigkeit der parlamentarischen Demokratie und den Übergang zur „Präsidialdemokratie“ am Parlament vorbei unter Brüning und von Schleicher, – die schwindende innere Sicherheit in der Endphase von Weimar, die wöchentlichen Straßenkämpfe zwischen SA. SS und Rotfrontkämpferbund mit zahlreichen Toten auf den Straßen. Das alles hatte die überwiegend schon im Elternhaus ungeliebte Republik zusätzlich fragwürdig gemacht. Sie erschien als ein sterbendes Staatswesen, ein Monstrum ohne Zukunft, aufgerieben zwischen zwei feindlichen Parteien, KPD und NSDAP, die beide für eine Einparteiendiktatur kämpften. Bei der Wahl zwischen der braunen und der roten Diktatur erschien ihnen, wie vielen in Deutschland, etwa auch den beiden christlichen Kirchen, angesichts der Vorgänge in der Sowjetunion, Hitler als das kleinere, sicher bald beherrschbare Übel. Forsthoff und viele andere glaubten offenbar fest an die von ihm beschworene „Verheißung einer besseren Zukunft“. Erst die Zusammenschau dieser Prägungen der jungen Nachkriegsgeneration in den Umfeldern der Familien, der bürgerlichen Weimarer Gesellschafts- und Medienkultur sowie der dramatischen politischen Ereignisse nach 1919 vermittelt den Zugang zu ihrem Weltbild, zu ihren Zukunftsperspektiven und Handlungsmustern im „Dritten Reich“ und ihrer Erschütterung nach dessen Zusammenbruch. IV. Das Staats- und Gesellschaftsbild Forsthoffs Meinel hebt im Titel seiner Forsthoff-Biographie die Bedeutung der „industriellen Gesellschaft“ für die Weltsicht Forsthoffs und seine Staatsauffassung heraus. Er stellt dessen späte Schrift „Der Staat der Industriegesellschaft“4 in das Zentrum seiner Lebens- und Werkbeschreibung. Die Schrift spiegelt in plastischer Weise Forsthoffs Bild von Staat und Gesellschaft, nicht nur in seiner späten Lebensphase.5 Das Staats- und Gesellschaftsbild Forsthoffs ist in der Tat der Schlüssel für den Zugang zu seinem Denken. In ihm laufen die angedeuteten Prägungen in den verschiedenen Lebensphasen zusammen. Diese Zusammenschau wird von Meinel etwas unterkühlt und zurückgenommen dargestellt. Es darf bezweifelt werden, ob seine Darstellung insoweit ein realistisches Bild von Forsthoffs Staatsdenken „in der industriellen Gesellschaft“ gibt, wie es der Buchtitel verspricht. Es sei versucht, einige Aspekte deutlicher hervorzuheben. 4  München

1971. bestätigt darin zugleich einen Kernsatz seines Lehrers C. Schmitt, der 1941 schrieb, der „Staat“ sei ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff: C. Schmitt, „Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff“, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Auflage, Berlin 1985, S. 375–385. 5  Forsthoff

Rezensionen267 1. Der Staat eine „überirdische“ Institution? Da ist zunächst das religiös geprägte Staatsverständnis des Vaterhauses. Es wurde offenkundig vom lutherischen Bild einer „Ehe von Thron und Altar“ bestimmt, das sich aus der Zwei-Reiche Lehre entwickelt hatte. Daraus folgte, daß der Christ in politischen Fragen der von Gott eingesetzten staatlichen Obrigkeit untertan sein sollte. In der Monarchie war diese enge Verbindung von Kirche und Staat fester Bestandteil des Bewußtseins einer „göttlichen Ordnung“. Der Monarch war gleichzeitig Oberhaupt (summus episcopus) der evangelischen Landeskirche. Er bestimmte nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 lange Zeit die Konfession seiner Untertanen (cuius regio, eius religio). Diese Vorstellung wirkte im Denken Forsthoffs fort. In seinen unter Pseudonym publizierten Beiträgen gegen die Weimarer Republik macht er die Entwertung bindender politischer Begriffe verantwortlich. Die Autorität des Staates erschien ihm noch 1931 in der Monarchie in einzigartiger Weise weltanschaulich und verfassungsmäßig gesichert zu sein. Die aktuelle Krise von Staat und Gesellschaft sei durch die Prozesse der Säkularisation und der Aufklärung verursacht worden.6 Sie hätten die mittelalterlichen und reformatorischen Ordnungen zerstört und die ratio zum Maß aller Dinge erhoben.7 Die Monarchie, die sich ‚von Gottes Gnaden‘ definiert, wird als Fundament der Stabilität, Säkularisierung, Aufklärung und ratio werden als Krisenursachen und Faktoren der Zerstörung bewährter Ordnungen qualifiziert. Die Wurzeln dieses überirdischen, quasi-religiösen Staatsverständnisses finden sich ähnlich bei Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1818 / 1821.8 Das innerste Wesen jedes Staates, der diesen Namen verdient, sieht Forsthoff auch noch nach 1945 darin, daß er unausweichlich Obrigkeitsstaat zu sein hat. Das folgt für ihn einerseits aus der Entfremdung der Menschen durch die „Dämonie der Technik“ (Meinel S. 159) und andererseits aus der Gefährdung der staatlichen Einheit durch die zerstörerische Kraft der Gesellschaft und ihrer partikularen Interessen. Dem steht die „Grundbestimmung des Staates“ gegenüber. Das ist „die substantielle Einheit als Idealität seiner Momente“ (§ 275) mit der Konsequenz (§ 257): „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist …“ Nach den Erfahrungen mit den verbrecherischen Staatssystemen des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Deutschland sondern weltweit, stößt allerdings die Annahme, der Staat sei die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, auf einige Bedenken. 6  E. Forsthoff (unter Friedrich Grüter), Der Rechtsstaat in der Krise, in: Deutsches Volkstum, 1932, S. 260 ff., 265: Hier folgt er seinem Vater, vgl. Heinrich Forsthoff, Das Ende der humanistischen Illusion, Berlin 1933, S. 149. 7  E. Forsthoff (unter G. Holthusen), Die Geistigen Grundlagen der politischen Parteien, in: Der Ring, 1931, 4, S. 78 f.; E. Forsthoff (F. Grüter), Die Krisis des Staatsdenkens, in: Deutsches Volkstum, 1931, S. 260 ff., 265. Vgl. dazu R. Schuckart, Kontinuitäten einer konservativen Staatsrechtslehre – Forsthoffs Positionen in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Glienke /  Paulmann  /  Perels (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?, Göttingen 2008, S. 85–114. 8  Zitiert nach der Hoffmeister-Ausgabe von G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Band XII, Vierte Auflage, Hamburg 1955, S. 207.

268 Rezensionen  In § 258 heißt es: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens … das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter, unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchstem Recht kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.“ 2. Die ‚Gesellschaft‘ ein Feind des Staates? Es folgt dann die Abgrenzung von der Gesellschaft als dem potentiell zerstörerischen Gegenstück des Staates: „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu dem sie vereinigt sind und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein.“ Meinel weist an zahlreichen Stellen auf Forsthoffs Bezüge zur Hegel’schen Dialektik von Staat und Gesellschaft sowie von Legalität und Legitimität hin. Er meint, Forsthoff habe dem zu Beginn der NS-Zeit unter den Rechtserneuerern verbreiteten Neuhegelianismus (Binder, Larenz, Siebert, Huber u. a.) ferngestanden. Forsthoffs kämpferische, teilweise verletzend formulierten Beiträge zum Methodenstreit in der NS-Zeit und zur vernichtenden Kritik an der Methodenlehre von Ph. Heck9 im Verein mit den „Hegelianern“ legen eher das Gegenteil nahe. 3. Forsthoffs Kritik an „Weimar“ Eine „entwicklungsgeschichtliche Deutung der Ideenwelt Ernst Forsthoffs“, wie Meinel sie sich vorgenommen hat (S. 5), muß von den angedeuteten Sozialisationsfaktoren ausgehen, also von der protestantischen, national-konservativen Familie, den Vorstellungen der Nachkriegsjugend, von den Wirren der Weimarer Zeit, spe­ ziell in ihrer Endphase, von der Ablehnung der liberalen Demokratie, die er heftig ausgedrückt hat. Meinel zählt insoweit die polemischen Beiträge Forsthoffs gegen den Staat und die Gesellschaft der Weimarer Epoche lückenlos auf (S. 499 f.). Dieser hat zwischen 1930 und 1932) neunzehn anonyme Aufsätze unter den Pseudonymen Rudolf Langenbach, Friedrich Grüter und Georg Holthusen publiziert. Sie waren von der Überzeugung durchdrungen, daß die Republik, zumal in der Krise der Jahre nach 1928, am Ende sei. Ihre Texte lesen sich wie Grabreden auf die Weimarer Verfassung und Republik. Mit der Machtübernahme 1933 verzichtete Forsthoff auf Pseudonyme. Die Aussagen unter eigenem Namen wurden deutlicher: In seiner ersten Schrift zum neuen Reich „Der totale Staat“10 (1933) konstatiert er, die Weimarer Verfassung habe einen 9  Forsthoff, Zur Rechtsfindungslehre im 19. Jahrhundert, ZgStW 96 (1936), 49– 70; ders., ZgStW 97 (1937), 371. 10  Der totale Staat, 1. Aufl. Hamburg 1933, 2. Aufl. 1934.

Rezensionen269 Staat „ohne Substanz“ gebildet; eine solche Substanz, aus der der Staat seine Kraft beziehe, könne eine Monarchie von Gottes Gnaden oder nunmehr das Volk, der Führer und sein Mythos sein. Die Weimarer Republik habe den Staat an den Pluralismus von Interessen ausgeliefert; Politik setze aber Macht und Autorität, eine Rangordnung von Verhältnissen der Über- und Unterordnung voraus. Der liberale Rechtsstaat der WRV sei „der Prototyp einer Gemeinschaft ohne Ehre und Würde“. Die nationalsozialistische Revolution habe den „liberalen Rechtsstaat hinweggefegt“. Sie habe das formale Verfassungsrecht abgelöst und durch „echte, sachliche Unterscheidungen“, nämlich auf der Basis „von Freund und Feind, von volksgemäß und volksfremd, von deutsch und undeutsch“ ersetzt. 4. Forsthoffs Antisemitismus im Wandel Es folgt dann eine bemerkenswert aggressive antisemitische Passage mit der Folgerung: „Darum wurde der Jude … zum Feind und mußte (!) als solcher unschädlich gemacht werden“.11 Der antisemitische Ton hat sich in der 2. Auflage der Schrift (1934) noch verschärft. Meinel dokumentiert diesen Antisemitismus Forsthoffs (S. 83 f., 93–97, 228 f.), ohne auf dessen Ursachen einzugehen. Er entsprach bei Forsthoff vermutlich auch dem familiären Klima seines Elternhauses. Die aus der NS-Ideologie übernommene, ausgeprägt antisemitische Ausrichtung der „Deutschen Christen“ und seines Vaters dürfte eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Sein Antisemitismus ebenso wie die Ablehnung der liberalen „Massendemokratie“12 waren Grundhaltungen, die Forsthoff in seine akademische Karriere als Fixpunkt eingebracht hatte. Sie wurden durch die ähnlichen Überzeugungen seines katholischen Lehrers Schmitt bestärkt, der – wie viele staatsrechtliche Kollegen seiner Zeit – überzeugt antidemokratisch und antiliberal dachte13 und, wie zahlreiche Belege seiner Tagebücher beweisen, zeitlebens ein überzeugter Antisemit war, obwohl er – meistens zu seinem Vorteil – zahlreiche Freundschaften und Beziehungen zu jüdischen Gönnern und Förderern pflegte.14 11  Der

totale Staat, 1933, S. 37 f. Staatsrechtswissenschaft und Weltkrieg, in: Blätter für Deutsche Philosophie, 5. Bd., 1931,292, 293. 13  Der verbale Höhepunkt von Schmitts radikaler Polemik gegen die Weimarer Verfassung war ein Beitrag, der 1932 geschrieben, Anfang Februar 1933 erschien: Schmitt, Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland, in: Europäische Revue, 9. Jg., 1933, S. 65–70; Nachdruck in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1945, Berlin 1958, S. 359 ff. Der Aufsatz sollte beweisen, daß eine rational sinnvolle demokratisch-parlamentarische Willensbildung und Staatsbegründung definitiv unmöglich sei. Er enthält in einer für Schmitt typischen, eindrucksstarken und rabulistischen Verdichtung die antidemokratischen und anti­ liberalen Grundpositionen des Autors. 14  Zahlreiche Selbstzeugnisse und Belege in: Schmitt, Ex Captivitate Salus, Köln 1950; ders., Glossarium, Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991; vgl. auch die Nachweise bei Rüthers, Rezension zu Carl Schmitt Tagebücher 1930 bis 1934, hrsg. v. Schuller, in Zusammenarbeit mit Giesler, Berlin 2010, in: RGZ GA 129 (2012), S. 825–823. 12  Forsthoff,

270 Rezensionen  Seinen Antisemitismus hat Forsthoff im Laufe der NS-Zeit deutlich modifiziert. 1933 hatte er als Vertreter die Nachfolge des als Juden vertriebenen Herman Heller in Frankfurt a. M. angetreten. 1935 wurde er auf den Lehrstuhl des durch Suizid ausgeschiedenen jüdischen Kollegen Kurt Perels in Hamburg berufen. 1936 folgte er einem Ruf nach Königsberg. Die dortige Universität war neben Kiel als „Stoßtrupp-Universität“ zur Beschleunigung der „völkischen Rechtserneuerung“ vorgesehen. Bis dahin lagen seine Publikationen und sonstigen Aktivitäten ganz auf der Linie der NS-Weltanschauung. 5. Forsthoffs Irritationen am NS-Regime Sein traditioneller, eher konservativer Staats- und Rechtsbegriff sowie seine Verwurzelung in konfessionellen Bindungen, die er auch nach 1933 nicht aufgab, machten ihn zunehmend skeptisch gegenüber der vom Nationalsozialismus verkündeten und praktizierten Demontage des Staates und des Rechts. Das hatte Folgen. Im Oktober 1936 organisierte sein Carl Schmitt als „Reichsgruppenwalter“ der „Reichsgruppe Hochschullehrer“ in Berlin eine Tagung zum Thema „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdische Geist“ mit Vorträgen u. a. von den Kollegen ­Tatarin-Tarnheyden, Maunz, Bartholomeyczyk, Würdinger und Siegert. Schmitt hielt dort das Einleitungs- und Schlußreferat mit unsäglichen Auslassungen.15 Forsthoff hat an dieser Tagung nicht teilgenommen. Die Einladung dazu lehnte er gegenüber Schmitt förmlich ab (Meinel S. 229). Den kruden Antisemitismus, den sein Lehrer dort propagierte, fand er abstoßend. Das veranlaßte ihn, die schon vorher abgekühlten Beziehungen zu Schmitt abzubrechen. Erst kurz vor dessen 60. Geburtstag im Juli 1948 nahm er sie, aus Solidarität mit dem damals allseits geächteten ‚Kronjuristen des Dritten Reiches‘, wieder auf. Forsthoff hat das in einem persön­ lichen Gespräch im November 1968 ausführlich berichtet. Seine literarischen Interessen wendeten sich danach von der „Rechtserneuerung“ ab. Er schreibt sein bedeutendes Buch „Die Verwaltung als Leistungsträger“ (Stuttgart 1938), in dem er im Anschluß an Karl Jaspers die Entwicklung der Kernaufgaben des Staates zur Leistungsverwaltung nachwies und damit die Modernisierung des Verwaltungs- und des Staatsbegriffs einleitete. Sein großer wissenschaftlicher Erfolg und sein entschiedenes Engagement im evangelischen Kirchenrecht trugen ihm mächtige Neider und Gegner ein. Dazu gehörte auch die SS und ihr Reichsführer Himmler, als Forsthoff als einziger von mehreren Gutachtern 1936 vergeblich gegen die Pläne Himmlers votierte, die Stiftskirche in Quedlinburg zu einer „Weihestätte“ und zum „Ahnenerbe“ der SS zu machen. Das hatte Folgen. 1941 erhielt er einen Ruf an die Universität Wien (Nachfolge Adolf Merkl), den er annahm. Dort mit der Familie angekommen, erließ die Gestapo 1942 auf Betreiben des Wiener Dekans ein Rede- und Berufsver15  Näheres bei Rüthers, Entartetes Recht, 3. Aufl., München 1994, S. 125  ff., 135 ff. mit Nachw.; anwesend waren über hundert Hochschullehrer, darunter berühmte Namen wie v. Mangoldt, Hallstein, Heymann, Gerber, Hedemann, Giese, Jahrreiß, W. Weber, Bilfinger, Manigk, Stoll, Schwinge und Larenz (Meinel S. 229 Fn. 26 mit. Nachw.).

Rezensionen271 bot gegen ihn, hinter dem auch der „Reichsstatthalter“ Baldur von Schirach stand. Er galt als politisch unzuverlässig16 und durfte die Stelle nicht antreten. Er meldete sich zum Wehrdienst. Ab 1. Februar 1942 leistete er als Unteroffizier Bürodienst beim Ersatzverpflegungsbataillon Wien. Sein mit mir befreundeter Assistent Dr. Edgar Kull, der ihn in Zypern begleitet hatte, berichtete, daß Forsthoff während seiner Zeit in Wien eine dort untergetauchte Jüdin mit Lebensmittelmarken unterstützt habe. Durch viele Zeugen und Kollegen (u. a. Gerhard Anschütz und Walter Jellinek) ist belegt, daß Forsthoff sich aufgrund seiner Erfahrungen und Konflikte mit den Funktionsträgern des Regimes in Frankfurt, Hamburg und Königsberg, in Wien dann auch mit der Partei und der Gestapo, überzeugt vom Nationalsozialismus abgewendet hatte. Im März 1943 erhielt er nach dem für ihn schwierigen Jahr in Wien einen Ruf auf den Lehrstuhl von Herbert Krüger in Heidelberg, den er jedoch nicht mehr wahrnehmen konnte. 6. Das zweite Wendeerlebnis 1945 Nach 1945 geriet Forsthoff, der in einem Heidelberger Entnazifizierungsverfahren 1946 in die Kategorie II („Belastete“) eingestuft worden war und damit einen Lehrstuhl verloren hatte, in die für viele führende NS-Juristen übliche „Warteschleife“, die für ihn bis 1952 dauerte. In diese Zeit fällt auch die Wiederannäherung an seinen Lehrer Schmitt (1948). Beide, Forsthoff und Schmitt, hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie teilten die entschiedene Ablehnung und Verachtung der Weimarer Republik, die sie in zahlreichen aggressiven Presseartikeln auch außerhalb der Fachpresse artikuliert hatten. Beide hatten nach 1933 die ideologischen Zentralbegriffe der NS-Weltanschauung zur Grundlage ihres Staatsverständnisses erhoben, etwa Führertum, Rasse, Blut und Boden, totaler Staat.17 Beide hatten ihre Lehrstühle verloren. 7. Die zwiespältige Altersfreundschaft zu Schmitt Das gemeinsame Schicksal sowie die gemeinsame, stetig wachsende Aversion gegenüber dem Grundgesetz und der pluralen Demokratie, ferner der erkennbare Untergang ihres autoritären Staatsideals ließ sie nach der Trennung von 1936–1948 wieder näher zueinander rücken. Das zeigen viele briefliche Bemerkungen beider, 16  Vgl. Ernst Forsthoff – Carl Schmitt, Briefwechsel, hrsg. von Mußgnug  /  Mußgnug / Reintal, Berlin 2007, S. 16. 17  Forsthoff, Der totale Staat, 1933, 2. Aufl. 1934; ders., Liberaler und totaler Staat, in: Deutsche Volkswirtschaft 1933, S. 423–427: ders., Recht, Richter und nationalsozialistische Revolution, in: Deutsches Adelsblatt 1933, S. 714–715; Schmitt, Staat–Bewegung–Volk, Hamburg 1933; ders., Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, Berlin 1933; ders., Das gute Recht der deutschen Revolution, Westdeutscher Beobachter vom 12.5.1933; ders., Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter vom 31.5.1933; ders., Führertum als Grundbegriff des nationalsozialistischen Rechts, in: Schildgenossen 1933, S. 676–679.

272 Rezensionen  vor allem aber das gemeinsam gefeierte Erscheinen von Forsthoffs Bekenntnisschrift „Der Staat der Industriegesellschaft“ (1971).18 Beide waren sich nach 1948 stillschweigend einig, zu ihren unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen im NS-Regime ab 1934 konsequent zu schweigen. Das stand der Entwicklung einer engen, zunehmend freundschaftlichen Beziehung, die vor allem für Schmitt in der Einsamkeit von Plettenberg zeitweilig eine Art „Tor zur Welt“ bedeutete, nicht entgegen. Forsthoff muß dieses Schweigen, das auch eine Form des Verdrängens war, bei bestimmten Themen der Korrespondenz immer wieder beschäftigt haben. Schmitt äußerte seinen unverminderten Antisemitismus auch nach seiner Einsicht in den Völkermord an den europäischen Juden und seine Aversionen gegen zurückkehrende jüdische Emigranten unverhohlen in vielen Briefen. Die Häufung solcher Aggressionen Schmitts muß bei Forsthoff die Erinnerung an Schmitts Lobeshymne auf die Mordbefehle Hitlers vom 30. Juni 1933 („Der Führer schützt das Recht“), an dessen Entgleisungen auf dem Kongress zum „Kampf gegen das Judentum“ im Oktober 1936, an das Niederbrennen der Synagogen im November 1938 und an die anschließend sich verschärfenden antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen des Regimes wachgerufen haben. Das alles hatte damals das enge Lehrer-Schüler-Verhältnis zum Abbruch gebracht. Gleichwohl läßt Forsthoff in der zunehmenden „Altersfreundschaft“, zu solchen wiederholten rassistischen Schmähungen kein Zeichen von Irritation, Unmut oder gar Widerspruch erkennen. Das gemeinsame Gefühl eines ungerechten „Verfolgtseins“ nach 1945, die beiderseitige Einbindung in die alten Gesinnungskohorten (Barion, Jordan, Gehlen, Freyer, Huber, Koellreutter, Maunz, Scheuner u. a.) und die fortdauernden Verbindungen zu den „Deutschen Christen“ (Oberheid, H. Forsthoff u. a.) mögen dazu beigetragen haben, die unterschiedlichen Sichtweisen, Meinungsund Verhaltensunterschiede zu verdrängen und zu überdecken. Beide wollten eine andere Gesellschaft und einen anderen Staat, eine „andere Republik“, wie sie wenig später von anderen Kritikern der Bundesrepublik gefordert wurde. Die wechselseitige Bestärkung in ihrer kritischen Haltung zur Gegenwart, auch der Informationsaustausch über Literatur, über „Freunde und Feinde“, die Planung und Organisation von Festschriften für sich und ihre Gesinnungsgenossen, die Beratung beim taktischen Vorgehen sowie die abgestimmten Bemühungen um den Aufbau eines Netzwerkes nehmen einen breiten Raum ein. Forsthoff sieht zu einem frühen Zeitpunkt (18.9.1949) ein „menschliches Gefälle, wie es sich 1918, 1933, 1945 stufenförmig abzeichnet.“ Schmitt meint später (22.11.1952), Leute wie Smend, Kaufmann und Jellinek hätten „den 1945 immer noch vorhandenen Stand verwüstet“. 8. Die Ablehnung des Grundgesetzes Für das „Staatsbild“ Forsthoffs nach 1945 sind seine Äußerungen zum Grundgesetz der Bundesrepublik kennzeichnend. Forsthoff durfte ab 1950 in Frankfurt 18  Ernst Forsthoff – Carl Schmitt, Briefwechsel, hrsg. von Mußgnug  /  Muß­ gnug / Reintal, Berlin 2007, Nrn. 316 ff. und passim.

Rezensionen273 wieder lehren und erhielt 1952 seinen Lehrstuhl in Heidelberg zurück. Schmitt bekam keine universitäre Chance mehr. Am Zustandekommen des Grundgesetzes waren beide wegen ihrer NS-Verstrickung nicht beteiligt gewesen, für sie (wie für viele andere Kollegen des Staatsrechts in der „Warteschleife“) eine schwere, dauerhaft nachwirkende Kränkung. In dieser Zeit schrieb Forsthoff zwischen 1946 und 1949 vierundvierzig (!) anonyme, teils mit Pseudonymen unterzeichnete Presseartikel.19 Aus dem Briefwechsel Forsthoff – Schmitt ist auch insoweit die Übereinstimmung mit seinem Lehrer ersichtlich. Den Verfassungsentwurf des Parlamentarischen Rates nennt Forsthoff 1948 einen „Verfassungskadaver“. Wenn dieser Gesetz geworden sei, werde der Wissenschaftler „die Wahrheit unter die Treue zur Verfassung zu beugen haben“. Das Volk werde dann „in schweigender Treue“ darum herum stehen und „einem Verwesungsprozeß beiwohnen, der nach ausdrücklicher Anordnung der Verfassung kein Ende haben darf.“ … „Das so stark lädierte Verfassungsbewußtsein wird dadurch erneut schweren Schaden nehmen.“20 Die aggressive Fundamentalkritik am Grundgesetz setzt er in mehreren Beiträgen der Jahre nach 1949 fort. 9. Rechtsstaat contra Sozialstaat Nach der Rückkehr auf seinen Heidelberger Lehrstuhl machte er aus seiner Skepsis, ja Ablehnung gegenüber zentralen Regelungen des Grundgesetzes, speziell auch der umfassenden Kompetenz und vielen Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kein Hehl. Seine Kritik setzte an den Art. 20 und 28 des Grundgesetzes an, die den „sozialen“ Rechtsstaat zum einem Staatsziel der Bundesrepublik erklärten. Forsthoff, argumentierte dagegen, daß „Sozialstaat“ kein Rechtsbegriff sei, also keinen Rechtsgrundsatz des Grundgesetzes darstelle.21 Sein Ziel war es, den im Grundgesetz verankerten „sozialen Rechtsstaat“ von „pathetischen sittlichen Postulaten“ abzulösen und auf den „liberalen Rechtstaat“ zu reduzieren. Forsthoff verband diese Position mit einer scharfen Kritik an der Einrichtung und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Gerade dieses von der Schmitt-Schule anfangs geschmähte Staatsorgan erwarb sich in der Folge das weitaus höchste Ansehen und Rechtsvertrauen der Bevölkerung. Der anschließende Diskurs über die von Forsthoff initiierte Fundamentalkritik am Sozialstaatsprinzip, seine juristische Relevanz und Tragweite, wirkt aus heutiger Sicht realitätsfern, eine historische Fehleinschätzung. Die Kombination der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit zusammen mit der Institutionalisierung einer sozial ausbalancierten Marktwirtschaft hat den Wiederaufstieg des Landes aus dem Elend der Nachkriegszeit so entscheidend gefördert, daß dieser Erfolg national wie international zeitweilig als „deutsches Wunder“ gefeiert wurde. Seine Leistungen bei 19  Vgl.

die Übersicht bei Meinel S. 503 ff. Die Angst vor der Demokratie, in: Pressedienst für undoktrinäre Politik, Nr. 50 / 51 (1948), S. 1 f. 21  Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954); ders., Verfassungsprobleme des Sozialstaates, Münster 1954; vgl. dazu Hol­ lerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff. 20  Forsthoff,

274 Rezensionen  der Stabilisierung des aus dem Nachkriegselend entstandenen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland (Integration von 11 Mio Vertriebenen, Lastenausgleich, Rentenreform, Wiederaufbau der zerbomben Städte und Produktionsanlagen etc.) sprechen für sich. Ungeachtet der permanenten Risiken eines ausufernden „Wohltätigkeitsstaates“ gilt der „soziale“ Staat, von dem das Grundgesetz zweimal redet (Art. 20 und 28 GG), nicht zuletzt wegen seiner integrativen und stabilisierenden Funktion in den sechs Jahrzehnten des Grundgesetzes, inzwischen als einer der Motoren dieses Erfolges. Auch ursprüngliche Skeptiker gegenüber dieser freiheitlich-demokratischen Ordnung von Staat und Gesellschaft bekennen sich inzwischen zum bundesrepublikanischen „Verfassungspatriotismus“.22 Die 1949 geäußerten Befürchtungen des Schmitt-Schülers Werner Weber23, das Grundgesetz könne der vitalen Kraft des Politischen nicht standhalten, haben sich als irrig erwiesen. 10. Die Ebracher Seminare Im Oktober 1959 lud Forsthoff seinen Lehrer, der seit 1957 an seinen „Ferien­ seminaren“ im Kloster Ebrach teilnahm, zu einem Vortrag dort ein. Schmitt sprach über „Die Tyrannei der Werte“.24 Es war der Beginn einer heftigen Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte schon in frühen Entscheidungen festgestellt, das Grundgesetz enthalte mit dem Vorrang der Menschenwürde (Art. 1 GG) und seinem Grundrechtskatalog eine materiale Wertordnung, an die alle Staatsgewalten gebunden seien.25 Die älteren geladenen Gäste und Referenten der Ebracher Ferienseminare (etwa Schmitt, Conze, Barion, Wieacker, Gehlen und Jordan) hatten gemeinsam, daß sie, wie der Gastgeber, während der NS-Zeit nicht durch erkennbaren Widerstand gegen das Unrechtsregime und seine Verbrechen aufgefallen waren. Die „Tyrannei der Werte“ wurde in diesem Kreis ausgerechnet von denen als rechts- und verfassungstheoretisches Unheil definiert und gebrandmarkt, die während der Tyrannei diesem Regime engagiert gedient und die Grundwerte des Tyrannen legitimiert hatten. War die „Tyrannei der Werte“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts („Verfassung als Wertordnung“) anstößiger als die eifrige interpretative Umsetzung der Wertvorstellungen des Tyrannen im totalen Staat? Ein Spiegelbild der Staatsvorstellungen, die in Ebrach gepflegt wurden, bietet der publizierte Briefwechsel zwi22  Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992. 23  W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, Fleischer-Verlag, Göttingen 1949, S. 5, 15 f., 29 ff.; ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951. 24  Schmitt, Die Tyrannei der Werte, Kohlhammer, Stuttgart 1960 (Privatdruck); ders., Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie, Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65 Geburtstag, Stuttgart u. a. 1967, S. 37–62; Schelz (Hrsg.), Schmitt / Jüngel / Schelz, Die Tyrannei der Werte, Lutherisches Verlagshaus, Hamburg 1979. 25  BVerfGE 2, 1, 9 ff.; 4, 7, 15; 6, 32, 40 ff., std. Rspr.

Rezensionen275 schen Forsthoff und Schmitt in den Jahren 1926–1974.26 Forsthoff empfand es als Auszeichnung, daß die gleichnamige Schrift verbunden mit seinem Namen in die deutsche Literatur eingeht. Die damit eröffnete, scharfe Kritik an diesem Verständnis der Verfassung hat, schaut man auf die methodischen Ansichten beider, vor allem aber Schmitts in der NS-Zeit, etwas Widersprüchliches. Dabei wurde verdrängt und verschwiegen, daß dieselbe Gruppe die „Werte der Tyrannei“ zwischen 1933 und 1945 bis hin zum Angriffskrieg und zur Ausmerzung der Feinde gefeiert und legitimiert hatte. Davon durfte in Ebrach nicht geredet werden. Damals war man sich einig gewesen, daß die nationale Revolution mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus eine neue Wertordnung mit einer neuen Rechtsidee, neuen Rechtsquellen und neuen Rechtsgrundbegriffen zur Geltung gebracht hatte. Forsthoffs überirdisch konstruiertem, aus der Monarchie entlehnten und in der Diktatur praktizierten Staatsbild stand ein prinzipiell eher negatives Gesellschaftsbild gegenüber. Die „Gesellschaft“ ist im Anschluß an Hegel (§§ 182–188 seiner ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘) eine die Einheit und Wirkungsmacht des Staates bedrohende, zerstörerische Kraft. Von dieser Vorstellung ist auch seine letzte Schrift „Der Staat der Industriegesellschaft“ geprägt. Sie besticht einerseits durch die an Arnold Gehlen erinnernde, klare soziologische Analyse der gegenwärtigen Strukturen des Parteien- und Sozialstaates mit ihrer wachsenden Komplexität und der entsprechend schwierigen Steuerbarkeit. Auf der anderen Seite fällt auf, mit welcher emotional motivierten Starrheit die Wahrnehmung und die Akzeptanz der Realitäten des völlig gewandelten Staates verweigert werden. Die aus der Monarchie und der Diktatur überkommene Vorstellung, der Staat gestalte als vor- und übergeordnete Instanz monokratisch die „Gesellschaft“ nach seinem (wessen?) Bild, war und ist unrealistisch und undemokratisch. Der Staat ist kein unabhängiger Herrschaftsapparat. Im Gegenteil: Die Gesellschaft freier und gleicher Bürgerinnen und Bürger gestaltet sich „ihren“ Staat. Im demokratischen Rechtsstaat sind Staat und Recht Produkte (Gestaltungsmittel und Funktionen) der Gesellschaft, mit denen sie das Gemeinwesen ordnet. Das wird von Forsthoff wie von der ganzen SchmittSchule übersehen oder geleugnet. Besonders auffällig ist die fehlende Fähigkeit und / oder Bereitschaft, die entwickelte, technisierte Industriegesellschaft als die unverrückbare ökonomische Basis der Staatsordnung zu erkennen und in die Lehre vom Staat einzubeziehen. Der Staat der Industriegesellschaft wurde von Schmitt und seinen Schülern als eine feindliche, illegitime Realität und Bedrohung aufgefaßt. Seine Schrift darf als Kampfschrift gegen die Grundstruktur der Bundesrepublik verstanden werden. Mit dem Zusammenbruch des autoritären Staates halten beide den Staat für tot. Forsthoff am 22.12.1964: Der Staat sei „zu Ende“. Alles werde dem berühmten „freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte … überlassen – ebenso wie die fort26  Mußgnug  /  Mußgnug  /  Reintal (Hrsg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926–1974), Berlin 2007. Vgl. dazu Rüthers, Trauernde am Grab ihres autoritären Staatsideals – Der Briefwechsel Forsthoff – Schmitt 1926–1974, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) 126 (2009), S. 269–280.

276 Rezensionen  schreitende Verrohung und Verpöbelung (!) unseres öffentlichen Lebens.“27 Für beide ist die Bundesrepublik kein Staat im hergebrachten Sinne. Beide halten eine letztlich metaphysische Begründung staatlicher Ordnung für schlechthin unverzichtbar. Erst dadurch gewinnt der Staat für sie die gewünschte eigenständige Autorität und Souveränität.28 Beide sind im Grunde „Reichstheologen“. Weil das metaphysisch konstruierte Staatsideal der „Schmitt-Schule“29 zerbrochen ist, meinen sie, es gebe keinen Staat mehr. Das Selbstverständnis eines liberalen Verfassungsstaates im Sinne einer Selbstorganisation von Freien und Gleichen ist ihnen zutiefst fremd, unheimlich und verachtenswert. Der gemeinsame Unmut, ja Zorn über die neue Ordnung äußert sich in ihren Briefen mit ungehemmter Schärfe. Besonders scharf fällt die Ablehnung des „Sozialstaates“ als eines verbindlichen Rechtsbegriffs und Gestaltungsgebotes für die Staatsgewalt aus. Er spricht vom „Sozialwahn“ und vom „Sozialbazillus“, von dem auch „die katholische Kirche in ihrer Kernsubstanz … zersetzt ist“. Die Heftigkeit der Angriffe wird vielleicht verständlich vor dem Hintergrund der Diskussion, die schon in der Weimarer Zeit begonnen hatte. Hermann Heller, Jude und einer der wenigen sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer jener Zeit, dessen Lehrstuhl in Frankfurt Forsthoff nach dessen Vertreibung im Oktober 1933 übernahm, hatte den Begriff des Sozialstaats zur Zeit der Weltwirtschafts­krise entwickelt.30 Die 1954 neu aufbrechende Diskussion darüber zog sich über Jahre hin.31 Angesichts der heutigen Realitäten und Dimensionen des Sozialstaates und seiner umstrittenen Wucherungen, Gefahren und Grenzen läßt – zumal unter dem Einfluß der Globalisierung – seine schlichte Negation als überholt und naiv erscheinen. Die unausweichliche Verantwortung des Staates als letzte Instanz für die Gestaltung der Gesellschaft ist heute kaum noch zu bestreiten oder aus der Verfassungswirklichkeit wegzudenken. Vor diesem Hintergrund gewinnen die kritischen, oft polemischen Beiträge der „Schmitt-Schule“ gegenüber dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht in der Frühzeit der Bundesrepublik ihren zeitgeschichtlichen Bedeutungsgehalt. Sie erinnern an die ähnlichen kämpferischen Attacken der Autoren Schmitt und Forsthoff gegen die Weimarer Republik in deren Endphase. In der Festschrift für seinen 27  Die empfindsame Formulierung erhält ihre besonders pikante Bedeutung erst vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte. 28  Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, AöR 113 (2008), S. 261 (266). 29  Programmschriften sind: Schmitt, Die Diktatur, München  / Leipzig 1921; Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München / Leipzig 1923; Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923; Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933; Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. 30  Nachweise zur Begriffsgeschichte bei Joachim Rückert, „Sozialstaatsprinzip“ – Konzepte und Rezepte, Typoskript eines Vortages in Graz am 21.5.2003. 31  Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats (Erstveröffentlichung 1954), in: ders. (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Darmstadt 1968, S. 145–164 ; Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates (Erstveröffentlichung 1954), in: ders. (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Darmstadt 1968, S. 165–200; W. Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Forsthoff (Hrsg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Darmstadt 1954, S. 114–144.

Rezensionen277 Lehrer Schmitt zu dessen 70. Geburtstag32 behandelte Forsthoff dasselbe Thema unter dem Titel „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes“.33 11. Fortwirkungen der Forsthoff-Schmitt-Schule? Schmitt hatte neben Forsthoff zahlreiche weitere Schüler, die als Universitätsprofessoren das juristische Denken der frühen Bundesrepublik mitprägten. Dazu gehören außer Forsthoff u. a. Ernst Rudolf Huber, Werner Weber, Hans Schneider, Ernst Friesenhahn und Hans Barion. Andere bekannte Schüler von Schmitt waren etwa der als Berater des Kanzlers Erhard bekannt gewordene politische Publizist Rüdiger Altmann („Die formierte Gesellschaft“) oder der Publizist Johannes Gross. Verfassungsjuristen einer Nachfolgegeneration wie Josef H. Kaiser, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Helmut Quaritsch oder Josef Isensee und deren Schülerschaft wurden ebenfalls nachhaltig von Schmitt beeinflusst und werden der von ihm begründeten Denktradition zugeordnet, die auch als „Schmitt-Schule“ bezeichnet wird.34 Forsthoff hatte acht Habilitanden betreut: Karl Doehring, Georg-Christoph von Unruh, Roman Schnur, Wilhelm Grewe, Hans Hugo Klein, Michael Ronellenfitsch, Willi Blümel und Karl Zeidler. Damit ist der ‚Wirkungsgrad‘ der juristischen Schmitt-Forsthoff-Schule in Wissenschaft und Praxis angedeutet. Forsthoff und Schmitt wirkten auch über die von Forsthoff von 1957–1971 jährlich veranstalteten Ebracher Ferienseminare, an denen neben zahlreichen älteren Schmitt-Schülern und jungen Juristen auch Vertreter anderer Disziplinen teilnahmen. Schmitt war von 1957 bis 1967 regelmäßiger Gast. Der ergebene, auf kritische Nachfragen verzichtende Teilnehmerkreis35 bot Schmitt einen Ersatz für die fehlende universitäre Wirkungsstätte. Sein Beziehungsnetz erfaßte so etwa Reinhart Koselleck und Christian Meier (Geschichtswissenschaft), Hanno Kesting (Soziologie), Odo Marquard, Hermann Lübbe, Hans Blumenberg und Alexandre Kojève (Philosophie), Jacob Taubes36 (Religionswissenschaft). Auch Jürgen Habermas verwendete in seiner Parlamentarismuskritik Schmitt’sche Argumentationsfiguren. Stark beeindruckt von Schmitt war auch der Judaist Jacob Taubes.37

32  Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, hrsg. von Barion, Forsthoff, Weber, Berlin 1959, S. 35–62. 33  Forsthoff, die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Barion / Forsthoff / Weber (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, 1958, 3. Aufl., Berlin 1994. 34  Vgl. näher Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993; Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004; Chr. Möllers, Der Staat als Argument, München 2000. 35  Vgl. B. Schlink, Vergangenheitsschuld, 3. Aufl., Zürich 2007, S. 149 und 132. 36  J. Taubes, Ad Carl Schmitt, Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987. 37  Vgl. J. Taubes, Ad Carl Schmitt – Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987.

278 Rezensionen  V. Fazit Der Titel von Meinels eindrucksvollem Buch lautet „Der Jurist in der industriellen Gesellschaft – Ernst Forsthoff und seine Zeit“. Er regt zum Nachdenken an. Die ‚industrielle Gesellschaft‘ hat sehr unterschiedliche Profile von Juristen hervorgebracht. Typisch war Forsthoff als Jurist für jene deutsche Juristengeneration, die zwei gegensätzliche Verfassungen erlebt und auf diese jeweils den Treueid geschworen hat. Ausgebildet und habilitiert und schon wissenschaftlich profiliert in der Weimarer Zeit, hat er sich zunächst als Vertreter des „totalen Staates“ und dessen Ideologie in der NS-Zeit einen bekannten Namen erworben, bekam dann später Konflikte mit dem Regime (Universität, Partei und Gestapo), die er überstand. Sein wissenschaftliches Werk ist von diesen Erfahrungen bestimmt. Aus der Sozialisation brachte er seine religiös-weltanschaulich vorgeprägten Leitbilder von Staat und Gesellschaft mit, an denen er über alle Verfassungswechsel hin unbeirrt festzuhalten suchte. Geschult durch eine im Kern moderne, soziologische Betrachtungsweise erlebte er mit wachen Augen den grundlegenden Wandel der Staatsfunktionen und analysiert als zentrale Aufgabe des Staates in der rasant sich entwickelnden Industriegesellschaft die Daseinsvorsorge. Der Zwiespalt zwischen seinen weltanschaulich geprägten Vorverständnissen von Staat und Gesellschaft einerseits und den grundlegend veränderten Staatsfunktionen im Verwaltungsstaat andererseits läßt ihn nicht mehr los. Hier sieht er nach der inneren Distanzierung vom NS-Regime (etwa nach 1936) seinen Interessenschwerpunkt. Nach 1945 – beeinflußt von den bitteren Erfahrungen in der „Warteschleife“ und seiner inneren Ablehnung der neuen Ordnung der Bundesrepublik – versucht er, die Unvereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozialstaat auf der Verfassungsebene nachzuweisen. Die Realitäten und die Erfolge, die das Grundgesetz als das Fundament einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung feiert, sind für ihn und seine überholten Vorstellungen von Staat und Gesellschaft nicht faßbar. Er läßt seine Überzeugungen über die gegenläufigen Erfahrungen siegen. Für ihn ist, wie für seinen Lehrer und neuen Freund Schmitt, die Bundesrepublik kein Staat, ihre Gesellschaft „verpöbelt“. Ernst Forsthoff war und bleibt bei allem einer der scharfsinnigsten Verfassungsund Verwaltungsjuristen seiner Epoche, ein international anerkannter und gesuchter Lehrer, Ratgeber, Gutachter und Gerichtspräsident mit einer bemerkenswerten Schülerschar. In der ehrlichen Rückschau auf seine Rolle in der NS-Zeit kannte er keine Scheu. Mit zahlreichen bekannten Kollegen seiner Generation habe ich zu diesem Thema Gespräche geführt: Dietz, Nipperdey, Krüger, Larenz, Friesenhahn, Klein, Flume, E. Wolf und anderen. Wenige sprachen darüber so offen und frei wie er, ohne den Hauch eines Versuches, sich im Nachhinein als heimlichen Widerstandskämpfer darzustellen, fachlich wie menschlich eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Florian Meinel hat die Fakten von Leben und Werk Forsthoffs umfassend aufgearbeitet. Forsthoff ist für das Verständnis der politischen und Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland wichtig. Es gewinnt seine reale Bedeutung neben den genau erfaßten Fakten aber erst aus den vielfältigen Mentalitätsgeschichten und

Rezensionen279 Kontexten der Intellektuellen dieser Epoche. Die nachhaltige Wirkung der damals Handelnden auf das Geschichtsbewußtsein mehrerer Juristengenerationen und auf die Gegenwartslage der Rechtswissenschaft bleibt im Hintergrund. Die zwischen 1950 und 1980 Ausgebildeten haben durch Forsthoff und seine Bücher öffentliches Recht und Staatslehre, vor allem auch Verfassungsrecht gelernt. Sie erfuhren wenig davon, daß und in welchem Maße Forsthoff das Grundgesetz abgelehnt hat. Auf seine Rolle unter den verschiedenen Regimen und sein Rechtsverständnis hat bis dahin kaum einer der Rechtslehrer zum öffentlichen Recht so hingewiesen, daß die Studenten das hätten verstehen können. Eine Auseinandersetzung, die zu mehr Offenheit und Transparenz geführt hätte, hat gefehlt. Der Hinweis auf diese gezielt verursachte Lücke des juristischen Geschichtsbewußtseins gehört zu einem vollständigen Bild von Person und Werk über seine Epoche hinaus.

Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 628 Seiten  Ideen wirken nur in der Realität – Axel Honneths neue Konzeption kritischer Sozialphilosophie Selten zuvor habe ich ein Buch gelesen, das ich mit Nachdruck empfehlen kann, ohne den Ansatz im Mindesten zu teilen. Das sachliche Ergebnis ist eindrucksvoll; nur hat es mit der Prämisse nichts zu tun, die ihm der Autor unterschiebt. Bewahren wir uns den Ärger bis zum Ende auf, um zunächst die kenntnisreichen soziologischen Analysen in einem mit Urteilskraft bewerteten historischen Rahmen zu loben. Ein großes Spektrum theoriegeschichtlicher Einsichten, bereichert um alltagsweltliche Erfahrungen und sinnfällige Beispiele aus der sinnkritischen Gegenwartsliteratur, machen die Lektüre zu einem Gewinn für jeden, der wissen will, wie sich die Lebenswelt in den letzten zweihundert Jahren verändert hat. Auch die leitende Absicht, den gesellschaftlichen Unterbau in seinem theoretischen Eigengewicht gegenüber den von ihm getragenen rechtlichen Überbau angemessen zur Geltung zu bringen, kann nur mit Zustimmung aufgenommen werden. Noch immer beherrscht der auf Vertragsmodellen und begrifflichen Deduktionen beruhende Prinzipialismus die Agenda der philosophischen Grundsatzdebatten. Es wäre ja auch zu schön, wenn man nur ein Ideengerüst und die Logik brauchte, um der Welt Gerechtigkeit zu bringen. Doch die dazu benötigten Bedingungen, dass der Wohlstand kontinuierlich wächst und das Band einvernehmlicher gesellschaftlicher Kooperation erhalten bleibt, sind selbst nicht mit logischer Notwendigkeit gegeben. Hier setzt die verdienstvolle Untersuchung ein. Sie lehrt, dass man nicht erst die allen Bedingungen der Globalität gehorchende Finanzkrise braucht, um der sozialen Realität zur Anerkennung zu verhelfen.

280 Rezensionen  Axel Honneth, der Autor des Buches, das den schönen Titel Das Recht der Freiheit trägt, ist Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und in diesem Amt das derzeitige Haupt der Frankfurter Schule. Das ist erwähnenswert, weil hier noch Schulpolitik nach den Regeln des Machterhalts betrieben wird. Mit Blick auf die Gründer, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ist es daher auch nicht unerheblich, dass Honneth dem späten, weniger auf revolutionären Bruch als auf demokratischen Ausgleich setzenden Horkheimer am nächsten steht. Der hatte auch beim Auf- und Ausbau des Instituts die Fäden in der Hand. Gleichwohl wird der auf die Generation der Gründer folgende und alles aufmerksam verfolgende Großverweser des Erbes der „Kritischen Theorie“, Jürgen Habermas, gebührend erwähnt. Die 1992 von Habermas in Faktizität und Geltung dokumentierte rechtstheoretische Wende dürfte für Honneth wegweisend gewesen sein. Dennoch meldet er kritische Vorbehalte an. Wenn man deren Tendenz zusammenfasst, kann man sagen, er möchte die „Faktizität“ zu stärkerer Geltung bringen, und wagt es daher, den theoretischen Status der „Geltung“ bis an den Rand ihrer Preisgabe abzuschwächen. Hier ist dann der Punkt, an dem man ihm, unabhängig davon, wie Habermas dazu stehen mag, entschieden widersprechen muss. Jürgen Habermas hat für den Klappentext eine Empfehlung geschrieben, die den historischen Ansatzpunkt des Buches bündig umschreibt: „Honneth tut den historischen Schritt von Marx zu Hegel zurück, um das Programm ‚von Hegel zu Marx‘ neu einzustellen.“ Daraus darf freilich nicht geschlossen werden, dass der Autor bei seiner Neujustierung des von Hegel her beschrittenen Wegs bei Marx stehen bleibt. Im Gegenteil: Marx werden einige bleibende sozialkritische Einsichten abgewonnen; die politischen Defizite des Marxismus werden gar nicht erst erwähnt. Honneth kommt es vielmehr darauf an, mit Hilfe der klassischen Theorieansätze der historischen Soziologie einen Ausgangspunkt für die Analyse der Gegenwart zu gewinnen. Ihn interessiert die Wirklichkeit der „sozialen Freiheit“, die er an drei Großbeispielen untersucht. Sie sollen ihm die Bestätigung für seine philosophische These vom Vorrang der geschichtlichen Realität vor den Ideen liefern. Wer noch in der Vorstellung lebt, Hegel habe auf dem Kopf gestanden, von wo aus ihn Marx auf die Füße stellen wollte, muss umlernen: Wohin Marx seinen Hegel auch immer gedreht haben mag, für Honneth sind Hegels Füße eben dort, wo er mit seinem System auf dem Boden der geschichtlichen Wirklichkeit gestanden hat. Von den mehr als sechshundert Seiten des Buches sind Zweidrittel der Analyse des „Wir“ der persönlichen Beziehungen, des „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns und des „Wir“ der demokratischen Willensbildung gewidmet. Die dreimal im Dreischritt vorgeführten Betrachtungen sind der Stufenfolge des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes in Hegels Rechtsphilosophie nachempfunden. Sie sollen zu dem im Untertitel angekündigten „Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit“ führen. Egal, wie wir die gesuchte literarische Parallele zu Hegels System bewerten: Was Axel Honneth in das formal-dialektische Schema an konkretem Material einbringt, um die realgeschichtliche Dynamik einer zukunftsoffenen, auf mehr Freiheit und stärkere Rechte setzenden gesellschaftlichen Entwicklung freizulegen, macht das Buch zu einem Ereignis in der Theoriegeschichte der Bundesrepublik. Hier kommt keine Kritik aus dem intellektuellen Off, hier wird nicht versucht, den Verhältnissen

Rezensionen281 die Leviten zu lesen, sondern hier wird beschrieben, welche Entwicklung die Dinge im Gang der letzten beiden Jahrhunderte, vornehmlich im Erfahrungsbereich des Autors genommen haben. In diesem Verfahren werden die Vorgänge weder beschönigt noch als unumgänglich verteidigt. Sie werden lediglich in ihrem Entwicklungsgang dargestellt und in Verbindung mit der nach 1789 allgegenwärtigen Freiheitserwartung bewertet. Und siehe da – was insbesondere die kritischen Kritiker der kritischen Theorie niemals zugestanden hätten: Es zeigt sich nicht nur ein Mehr an Freiheitsverlangen, sondern ein Realzuwachs in den Freiheitsgraden des alltäglichen Handelns. Der Nachweis gelingt vor allem in der Analyse der persönlichen Beziehungen, wenn der Reihe nach die Freundschaft, die Intimität der Liebe und die Familie behandelt werden. In der Nähe zu den Phänomenen, in der Einbeziehung literarischer Zeugnisse und in der gleichwohl gewahrten kritischen Reserve gegenüber dem noch bevorstehenden geschichtlichen Ertrag ist das Buch ein historischer Gewinn. Es wird gewiss nicht lange dauern, bis der Vorwurf zu hören ist, hier werde Affirmation betrieben und die Anpassung ans Bestehende eingeübt. Aber dem unverkennbar kritischen Anspruch des Autors wird das nicht gerecht. Im Unterschied zu seinen Schulvorgängern weiß er, dass er in seiner Lebenswirklichkeit und mit seinen eigenen emanzipatorischen Potenzialen selbst zu der Realität gehört, auf die er seine Hoffnung setzt. Das gilt auch für die Betrachtung des marktwirtschaftlichen Handelns. Man bedenke nur, aus welcher Tradition der Autor stammt und wie er noch im Klappentext auf eine Systemdistanz festgelegt werden soll. In dieser Lage kann es schon verwegen gelten, dass er noch in der kapitalistischen Entwicklung der Ökonomie einen Rationalitäts- und Freiheitsgewinn auszumachen versteht. Gewiss, der Ertrag fällt hier nicht ermutigend aus; aber Honneth sieht selbst hier noch Chancen zu positiven Impulsen. Und darin hat er Recht. Wie wohltuend ist es, kein Wort von der unsinnigen Opposition zwischen System und Lebenswelt lesen zu müssen. Stattdessen der konkrete Blick auf ein gesellschaftliches Geschehen, das die Feststellung erlaubt, in ihm seien mehr Freiheitspotenziale enthalten als die allgemeinen moralischen und rechtpolitischen Forderungen freisetzen konnten. Ich zögere nicht, den geschichtlichen Ertrag der realgeschichtlichen Analysen dieses Buch als sehr erhellend zu bezeichnen. Mit Blick auf die vom Autor gewählte Methode kann sogar von einem theoriegeschichtlichen Epochenschnitt gesprochen werden. Denn hier wird die Gesellschaft von innen her beleuchtet, und es zeigt sich, dass sie dem Kritiker weniger fremd ist, als es ihm in seinen strengen moralistischen Ansprüchen lieb ist. Axel Honneth ist der Sonderfall eines Kritikers, der sich durch die Objekte seiner Kritik selbst belehren lässt. Und was soll an diesem im Ergebnis derart lobenswerten im Ansatz verkehrt sein? Es sind nicht die Kleinigkeiten, die darin bestehen, dass der Autor vieles als modern und neuartig vorstellt, was älteren Ursprungs ist und daher mehr Vernunft in sich trägt, als der seinen historischen Wahrnehmungsraum bevorzugende Soziologe zugesteht. So hat es sowohl die Freundschaft wie auch die Liebe, sowohl das kalkulierende ökonomische Handeln wie auch die Öffentlichkeit schon lange vor der hier gezogenen Modernitätsgrenze gegeben. Doch wenn wir in Rechnung stellen, dass der Rede von Epochenschwellen vornehmlich didaktische und rhetorische Auf-

282 Rezensionen  gaben zukommen, wird man daraus keinen grundsätzlichen Einwand machen wollen. Ihre Berechtigung hat die Konzentration auf 1789 zweifellos darin, dass hier das Zeit­ alter beginnt, das die „demokratische Sittlichkeit“ zu einer Existenzfrage der realexistierenden Demokratien macht. Der entschiedene Einspruch ist nötig, weil Axel Honneth nicht nur einfach glaubt, sondern im ersten Drittel seines Buches sogar meint belegen zu können, dass die Rede von den Ideen und Normen ein geschichtlicher Irrtum ist, der von der Realität der Freiheit abführt und die Realisierung der Freiheit in weite Ferne rückt. Deshalb geht er auf ostentative Distanz zu Kant und schließt sich bis in den Aufbau seines Buches Hegel an. Aber er verkennt, dass eine bewusst gefasste Einsicht, sie mag von noch so vielen historischen und sozialen Faktoren durchsetzt sein, immer nur als die Einsicht eines Individuums angestoßen, erzeugt und wirksam werden kann. Als einzelnes Wesen zu denken und handeln, heißt nicht, sich in seiner Individualität zu isolieren. Sondern es gewinnt darin überhaupt erst die Chance, sich für den Individualismus oder den Kommunitarismus zu entscheiden. Das lobenswerte Buch wurde schließlich, trotz der Widmung an die Ehefrau, nicht von der Familie Honneth geschrieben, sondern von dieser einen Person des Autors, dessen Argumente nur Beachtung verdienen, weil wir davon ausgehen, dass er sie geprüft und vor seiner Vernunft für richtig gefunden hat. Und selbst wenn der Autor verfügt hätte, dass sein Buch nur in Lesezirkeln laut gelesen werden dürfte, könnte es nur solange überzeugend sein, als es jeden einzelnen Teilnehmer überzeugt. Es ist also nicht nötig, nur deshalb Hegelianer zu werden, weil man erkannt hat, dass Ideen sozialen Handelns nur in sozialen Zusammenhängen wirksam werden. Volker Gerhardt

Döpfner, Mathias: Die Freiheitsfalle. Ein Bericht, Propyläen Verlag, Berlin 2011, 256 Seiten  Eine Demonstration der Freiheit. Über Mathias Döpfners „Freiheitsfalle“ Von vielen kleinen und kleinlichen Vorwürfen abgesehen, liegt das Unglück des Anfang 2012 zurückgetretenen Bundespräsidenten darin, dass er die Pressefreiheit weder zu schätzen noch zu achten vermochte. Ganz gleich, was die Gerichte nun feststellen werden. Christian Wulf hat vor der zentralen Aufgabe des politischen Lebens versagt: Die großen Theoretiker des Politischen von Platon über Kant bis hin zu Hannah Arendt sind sich darin einig, dass diese zentrale Aufgabe in der Sicherung und im Schutz der Freiheit besteht. Da ist es ein unerwartetes Glück, dass Joachim Gauck seinen Anfang 2011 in Tutzing gehaltenen Vortrag über die Freiheit gerade noch rechtzeitig in Druck ge­ geben hat, um jeden Zweifler davon zu überzeugen, dass er ein nicht nur durch sein Leben, sondern auch durch sein Denken ausgezeichneter Kandidat für das Amt des

Rezensionen283 Bundespräsidenten ist.1 Gauck macht deutlich, dass es die Freiheit ist, die allen anderen politischen Zielen überhaupt erst ihren Sinn verleiht. Er ist weit davon entfernt, den Frieden, die Gerechtigkeit oder die soziale Sicherheit gering zu schätzen. Aber wenn die Freiheit fehlt, verlieren alle anderen politischen Werte ihren Sinn. Das zeigt Gauck, indem er die Freiheit mit der Verantwortung verknüpft und ihr in der aktiv betriebenen, nicht mit Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit zu verwechselnden Toleranz eine eminente Aufgabe stellt. Wenn so grundlegend von der Freiheit die Rede ist, sollte man ein anderes Buch des letzten Winters nicht übersehen, dessen Bedeutung darin liegt, dass sich hier einmal kein Philosoph und auch kein Politiker, sondern einer der führenden Wirtschaftsmanager der Bundesrepublik äußert. Es ist der sich im Text wiederholt als „Journalist“ bezeichnende Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG Mathias Döpfner. Der Autor ist in einer Position, in der man üblicherweise gar nicht mehr zum Lesen, geschweige denn zum Schreiben kommt, und folglich schreiben lassen muss. Aber Döpfner, der als studierter Germanist und Musikwissenschaftler zunächst im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann in verschiedenen Funktionen als Redakteur gearbeitet hat, ehe er ins Management des Medienkonzerns aufstieg, schreibt tatsächlich immer noch selbst. Wie gut er sich darauf versteht, hat er kürzlich in seinem bewegenden, wenige Stunden nach dem Tod von Whitney Houston verfassten Nachruf auf die große Sängerin unter Beweis gestellt. Natürlich war ich nicht dabei, als Döpfner sein Buch verfasste. Die präzise Recherche der zahlreichen historischen und zeitgeschichtlichen Fakten lässt vermuten, dass er sich der Archive seines Verlages zu bedienen weiß. Aber die offenkundige Lust zu formulieren, der persönliche Ton, in dem die Gespräche mit Zeitzeugen geschildert sind, und vor allem die drei kunstgeschichtlichen Zwischenspiele, in denen an Gustave Courbets L’origin du monde, Richard Wagners Meistersingern und Thomas Manns Felix Krull die produktive Potenz auch der destruktiven Kraft der Freiheit illustriert, weist den immer noch eng mit der Kunst und ihrer Kritik verbundenen Döpfner zweifelsfrei als den Autor dieses eindrucksvollen B ­ uches aus. Wenn Gaucks Rede mit Recht ein „Plädoyer“ für die Freiheit genannt werden kann, dann muss man Döpfners Buch als „Demonstration“ für die Freiheit bezeichnen – eine sehr persönliche, gleichwohl historisch fundierte, literarisch illustrierte und aktuell reflektierte Demonstration ihrer Unverzichtbarkeit. Die Aktualität tritt dabei nicht nur im politischen Zeitbezug auf die chinesische Obstruktion oder den islamistischen Terror, sondern überhaupt durch die vom Autor professionell betriebenen globalen Aufgaben und vor allem durch die Analyse des medialen Wandels hervor. Was Döpfner über die Freiheitschancen der elektronischen Medien und zugleich über deren Gefahren sagen kann, kommt aus erster Hand. Er zieht die Analysen von Alvin Toffler, Manuel Castells, David Gelernter, Eli Pariser und Ray Kurzweil he­ ran, kann die Vorzüge von Facebook nicht nur aus der Sicht seiner Kinder loben, sondern dessen Gefahren auch mit Blick auf Begegnungen mit Mark Zuckerberg 1  Joachim

Gauck, Freiheit. Ein Plädoyer, München 2011.

284 Rezensionen  und zahlreichen anderen Akteuren illustrieren. Seine Urteile zeigen, dass er nicht nur ökonomisch an der Entwicklung Anteil nimmt. Deshalb hat es Gewicht, wenn er im Umgang mit den Informationen aus dem Netz die Urteilskraft der Nutzer fordert, und in seiner Prognose über die Zukunft der elektronischen Kommunikation sicher ist, dass sie den kompetenten Journalisten nicht überflüssig macht. Als Demonstration kann man das Buch auch deshalb bezeichnen, weil es durch persönliche Erfahrungen grundiert ist, die Döpfner anschaulich zu schildern weiß. Ob es um die kompromisslose Durchsetzung seines ersten Feuilletonbeitrags oder um seine explorativen Erlebnisse im Berliner Kulturleben, um sein Gespräch mit George W. Bush im Oval Office oder mit Putin im Kreml, um den 9. November 1989 oder um seine erste Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September 2001 geht: Stets hat seine Darstellung eine Pointe, die den Wert der Freiheit einschlägig macht. Es wird deutlich, dass man sie als Verfassungsprinzip und als kultivierte Lebensform nur solange wirklich schätzen kann, als sie zur gelebten Praxis von Individuen gehört. Die das Buch einrahmende Erzählung der Begegnung mit Nathan Scharansky macht das in leichtem Tonfall und dennoch mit größtem Ernst bewusst: Scharansky hatte sich auch in den neun Jahren, die er im sibirischen Arbeitslager verbringen musste, keine Lüge über seine Freunde und kein Lob des Sowjetkommunismus abpressen lassen. Nach seiner Befreiung stellt er sich mit bezwingender Heiterkeit in den Dienst der in Israel so offenkundig bedrohten Freiheit. Schon durch den Mut, den das Buch durch seine exemplarische Nähe zur individuellen Freiheit macht, bietet es mehr als bloß einen „Bericht“, wie ihn der Untertitel verspricht. Döpfner zitiert Kant, um den Vorrang der Freiheit vor allen anderen großen Zielen der Politik zu exponieren. Doch ohne die philosophische Tradition in Einzelheiten zu bemühen, trifft er deren Einsichten genau, wenn er gleich zu Beginn den Ursprung der Freiheit im „Nein“ des Einzelnen offenlegt und, vornehmlich in seinen drei exemplarischen Analysen zur Freiheit der Kunst, darlegen kann, dass Freiheit darin besteht, sich selbst Regeln zu geben. Ganz beiläufig ist damit die unsinnige Unterscheidung zwischen „negativer“ und „positiver Freiheit“ überwunden. Es ist kenntlich gemacht, dass Freiheit in nichts anderem als in der Selbstbestimmung besteht. Leider steht der Titel des Buches nicht für das, wofür der Autor argumentiert. „Freiheitsfalle“ suggeriert eine Notwendigkeit, die hier offenbar gar nicht gemeint ist. Döpfner will nicht etwa sagen: Wer in die Freiheit tappt, kommt nicht mehr heraus. Denn damit wäre jede Freiheit – jederzeit und unter allen Bedingungen – unmöglich gemacht. Den Autor treibt vielmehr die Sorge um, die Freiheit könne für selbstverständlich gehalten werden. So warnt er in Wahrheit vor der Trägheitsfalle, in der nicht nur die Aufklärung, sondern auch die Freiheit verloren gehen kann. Aber es ist nicht die Freiheit, die den Automatismus der Trägheit in Gang setzt, sondern, wie Döpfner selber sagt, die „Selbstzufriedenheit“. Auch wenn die Freiheit der Inbegriff individueller Lebendigkeit ist, kann sie, wie alles, das sich wie von selbst anbietet, bequem und behäbig machen. So kann sie vergessen lassen, dass sie immer wieder neu errungen und gefestigt werden muss. Am Ende des Buches wird die Skulptur von Stephan Balkenhol beschrieben, die mit ihren anderthalb Tonnen Bronze auf einem Mauerstück vor dem Springer-

Rezensionen285 Hochhaus in Berlin balanciert. Indem der Autor den Titel des Kunstwerks aufnimmt und den letzten Teil des Buches mit „Balanceakt“ überschreibt, hat er, so meine ich, den treffenden Titel für das zivilisatorische Kunststück der Freiheit gefunden: Sie ist ein Balanceakt, den wir einzuüben und politisch wie kulturell nach Kräften zu sichern haben, weil er stets gefährdet bleibt. Die Herausforderung, die darin für jeden liegt, hat jeder, der sie erkennt, exemplarisch zu machen. Das ist Mathias Döpfner mit seinem Buch gelungen, und es ist ein Gewinn, obgleich es die „Freiheitsfalle“ zum Glück nicht gibt. Volker Gerhardt

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Alexander Demandt, em. Prof. für Alte Geschichte, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Gerhardt, Prof. für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Oliver Hidalgo, Akad. Rat Institut für Politikwissenschaft, Universität ­Regensburg Dr. Frauke Höntzsch, Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politische Theorie, Universität Augsburg PD Dr. Markus Holzinger, Institut für Soziologie, Universität Göttingen Dr. Skadi Krause, Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politische Theorie und ­Ideengeschichte, Universität Halle Prof. Dr. Reinhard Mehring, Prof. für Politikwissenschaft und ihre Didaktik, PH Heidelberg Prof. Dr. Herfried Münkler, Prof. für Theorie der Politik, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Volker Neumann, Prof. für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Staatstheorie, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Gerard Raulet, Professeur d’histoire des idées allemandes, Universität Paris-Sorbonne Prof. Dr. Dr. h. c. Bernd Rüthers, em. Prof. für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Rechtstheorie, Universität Konstanz Prof. Dr. Samuel Salzborn, Prof. für Grundlagen der Sozialwissenschaften, Universität Gießen Dr. Frank Schale, Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Chemnitz Prof. Dr. Alfons Söllner, em. Prof. für Politische Theorie und Ideengeschichte, TU Chemnitz Prof. Dr. Alessandro Somma, Dipartimento di Scienze Giuridiche, L’Universitá di Torino