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German Pages 452 [456] Year 1992
Jin-Woo Lee Politische Philosophie des Nihilismus
W DE
G
Monographien und Texte 2ur Nietesche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel
Band 26
1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Politische Philosophie des Nihilismus Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Metaphysik
von
Jin-Woo Lee
1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-4400 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion Johannes Neininger, Gilgestraße 15, D-1000 Berlin 37
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Lee, Jin-Woo: Politische Philosophie des Nihilismus : Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Metaphysik / von Jin-Woo Lee. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 26) Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 1988/89 ISBN 3-11-012908-6 NE: GT
© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Meinem Lehrer Arno Baruzzi dankbar zugeeignet
Vorwort Die Ausarbeitung dieser Monographie entsprang einer langen Beschäftigung mit dem Problem des Verhältnisses von Vernunft und Macht, insbesondere mit der Genese der neuzeitlichen Machtvernunft. Sie geht auf eine Anregung von Prof. Dr. Arno Baruzzi zurück. Seine Gedanken, Gespräche und Schriften waren es, die mich vom Beginn meiner philosophischen Bemühungen an prägten. Als Zeichen der Dankbarkeit für die vielfache Förderung, die mir in persönlicher und wissenschaftlicher Hinsicht zuteil wurde, widme ich ihm dieses Buch. Für Anregungen und Auskünfte bin ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Alois Halder, Herrn Prof. Dr. Severin Müller und Herrn Prof. Dr. Henning Ottmann zu Dank verpflichtet. Ebenso möchte ich den Herausgebern der „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung" für die Aufnahme der Studie in diese Reihe danken. Unter den Freunden, denen für Anregung und Kritik zu danken ist, möchte ich besonders Herrn Dr. Elmar Weinmayr erwähnen, mit dem ich die Thematik der Untersuchung von Anfang an in zahlreichen Gesprächen erörtern konnte. Danken möchte ich auch Herrn H.-P. Sturm, der mir bei der Fahnenkorrektur geholfen hat. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Doktorarbeit, welche im Wintersemester 1988/89 von der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg angenommen und 1990 mit dem „Universitätspreis" ausgezeichnet wurde. Sie wäre nicht geschrieben worden ohne die großzügige Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Nicht zuletzt danke ich auch meiner Frau herzlich, die mich in allem mit Geduld und Liebe unterstützt und das Manuskript als erster kritisch gelesen hat. Seoul, im Sommer 1992
Jin-Woo Lee
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
Einleitung
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Erster Abschitt Das Verhältnis von Politik und Philosophie im Nihilismus I. Kapitel: Nietzsche zwischen Politik und Philosophie § 1. Die Politisierung seiner Philosophie unter der Maske des Nationalsozialismus § 2. Die Rehabilitierung der Philosophie Nietzsches durch ihre Entpolitisierung § 3. Nietzsches Stellung in der politischen Philosophie der Gegenwart Kapitel: Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus bei Nietzsche § 4. Die Grundlegung einer politischen Philosophie des Nihilismus § 5. Der Politik-Begriff in den experimentellen Irrgängen zwischen Apolitie und Utopie § 6. Die Themen der politischen Philosophie des Nihilismus und die demokratische Bewegung
7 7 13 24
II.
Kapitel: Der Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik § 7. Der Antagonismus von „wahr", „schön" und „gut" als Gegenwart des Nihilismus § 8. Der Wille zur Wahrheit als Herkunft des passiven Nihilismus . § 9. Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus . .
40 40 57 64
III.
80 80 87 94
Zweiter Abschnitt Die Genealogie des Subjekts am Leitfaden des Leibes IV. Kapitel: Die Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie 105 § 10. Die Dekodierung des cartesianischen fundamentum absolutum inconcussum: „Ich denke" 105
X
Inhaltsverzeichnis
§11. Die Kritik des Kausalitätsprinzips und die Freilegung des Naturgeschehens 119 § 12. Kritik des Anthropomorphismus 131 V. Kapitel: Das Denken des Menschlichen § 13. Das Zwischen als ontologische Struktur des Menschlichen . . . § 14. Die Kritik der neuzeitlichen Bestimmung des Menschen als homme machine § 15. Die Paradoxie des Seins und die Zwiefältigkeit der Vernunft . .
144 144 148 157
Dritter Abschnitt Die Strukturphänomenologie der Macht VI.
Kapitel: Die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte des Politischen § 16. Die mythische Rechtfertigung des Politischen: „Der griechische Staat" § 17. Die Genealogie der neuzeitlichen Staatsräson: Gewalt, Recht, Macht § 18. Die Grundlegung einer nihilistischen Theorie des Politischen: „Der Tod des Staates" VII. Kapitel: Das Wesen und die Wirklichkeit der Macht § 19. Die Bewegungsstruktur der Macht in der Dynamik des Lebens § 20. Die Zwiefältigkeit des Willens zur Macht im Spiegel der Interpretationen § 21. Der innere Zusammenhang von Physiologie der Macht und Physiologie der Kunst: Die strukturelle Modaltheorie der Macht . . § 22. Die drei Erscheinungsformen des Willens zur Macht im Machiavellismus der Macht: Freiheit—Gerechtigkeit—Liebe
173 173 185 199 214 214 223 239 251
Vierter Abschnitt Die Ontologie des Geschehens VIII. Kapitel: Die Nihilierung des gegenständlichen Seienden und das Lebendigwerden der Dinge 271 § 23. Die griechische Philosophie der schönen Mitte im Spiegel der spekulativen Vernunftgenese Hegels 271 § 24. Der innere Zusammenhang von Werden und Wert: Die Legitimation des Seienden durch die Nihilierung des Seins 278
Inhaltsverzeichnis
IX. Kapitel: Ästhetische Rechtfertigung der Philosophie § 25. Die Verortung der tragischen Philosophie in der existenzialen Spannung des Menschen § 26. Die „aktive Sünde" des Nihilismus aufgrund der Zwischenstruktur des Menschseins § 27. Die Rehabilitierung des Scheins im umgedrehten Platonismus . § 28. Philosophie als „Zugleich-Denken" X. Kapitel: Das Wesen der Wahrheit und die Perversion der Logik § 29. Die „Neue Aufklärung" im polytheistischen Antagonismus der Wahrheiten § 30. Die ursprüngliche Struktur des Logos §31. Die Konstanten des philosophischen Problems: Werden — Verstand — Sein § 32. Die tautologische Wahrheit und die Perversion der Logik . . . § 33. Die pragmatische Neubestimmung der Wahrheit und das Problem der Mitteilbarkeit
XI
290 290 297 301 315 325 325 337 344 355 360
Fünfter Abschnitt Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Metaphysik XI. Kapitel: Das Problem der politischen Urteilskraft im Nihilismus 391 § 34. Der dialektische Dezisionismus in der existenzialen Spannung zwischen Schein und Sein 391 § 35. Die politische Urteilskraft und die Dämonologik des Menschlichen 399 Abkürzungsverzeichnis
425
Literaturverzeichnis
426
Sachregister
436
Personenregister
439
Einleitung Die Anarchie setzt die Herrschaft des Prinzips wie das Prinzip der Herrschaft voraus. Diese Definition erlangt eine eigene Bedeutung, vergegenwärtigt man sich, daß der demokratischen Wohlstandsgesellschaft die Tendenz zur Herrschaft der Prinzipienlosigkeit und zum Prinzip der Herrschaftsfreiheit innewohnt. Damit ist nur eine Wahrnehmung des nihilistischen Verhältnisses von Politik und Metaphysik, keine Begriffsbestimmung der Anarchie gegeben. Anarchie meint hier den normalen Zustand einer gesellschaftlich-politischen Ordnung, in der die Politisierung des gesamtgesellschaftlichen Bereichs mit der Entpolitisierung des Menschen einhergeht, und zwar in einer doppelten Zielrichtung: Autonomie des Individuums, das sich selbst als ein totum nimmt und die jeweiligen Voraussetzungen des Lebenszusammenhangs aufhebt, und: Anonymisierung der Herrschaft, die mit der in der Staatsräson verankerten Symbiose von Recht und Macht den gesunden Menschenverstand korrumpiert. Die ideologische Kraft des anarchischen Bewußtseins bewährt sich an der Verschleierung dieser Herrschaft. Die Verabsolutierung der Autonomie nimmt dem Menschen den Grund, „entgründet" ihn. Grundlos auf sich selbst gestellt, ist der moderne Mensch derart politisiert, daß jeder Handlungsakt unmittelbar das politische Interesse berührt und der Zwischen-Raum des Politischen, den die Einzelnen in Sprache und Tat mitteilend teilen können, schließlich verschwindet. Der Mensch verdrängt seine eigene Natur, indem er die Natur ausbeutet. In der Maximierung und Intensivierung der Frei-zeit sieht das moderne Subjekt seine Freiheit und betreibt so die Pervertierung der Zeitlichkeit seines Daseins. Der Verlust des Zwischen zwischen Mensch und Welt — das ist der Nihilismus, mit dem Nietzsche diese durchaus sklavisch sich gebärdende und dabei das Wort „Sklave" ängstlich scheuende Welt charakterisiert. Das Gerede von der Intersubjektivität bezeugt die Ohnmacht des Subjekts zum Inter, zum Zwischen-Sein des Menschen, das ihm wesentlich zu eigen ist und seine Abgründigkeit ausmacht. Aus dem Grund, auf den sich das Subjekt mit dem Versuch seiner Selbstbegründung zu stellen versucht, kommt ihm die Abgründigkeit seines Wesens entgegen. Hier setzt Nietzsche an und greift mit seiner Philosophie des Willens zur Macht das Grundwort des Heraklits, arche, auf, um aus der Zweideutigkeit dieses Wortes als „Prinzip und Herrschaft zugleich" die dämonische Natur des Zwischen-
2
Einleitung
Seins des Menschen zu erschließen. Somit versucht Nietzsche, die Sache des verlorengegangenen Hauptwerkes Heraklits, in dem es um das Wesen des Politischen (peri politeias) gehen soll, zu denken. Diese politische Philosophie des Nihilismus steht vor dem Problem „Mensch". In Absetzung von den politischen Ideologien unserer Zeit unternimmt es die vorliegende Arbeit, den Ansatz einer politischen Philosophie des Nihilismus bei Nietzsche herauszuarbeiten. Ausgangspunkt und Horizont der folgenden Untersuchung ist Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht selbst, nicht seine Kulturkritik, die sich auf Zerfallserscheinungen der idealistischen Vernunftphilosophie und ihrer ideologischen Metamorphosen in vielfältige Ismen bezieht. Bei Nietzsche gibt es eine Politische Philosophie des Nihilismus. „Politische Philosophie" wird im folgenden nicht als eine Fachdisziplin der Philosophie verstanden. Eine These dieser Arbeit ist vielmehr, daß Philosophie als ursprüngliche Antwort des Menschen auf das Wesen seines Daseins immer politisch ist, insofern es in ihr um die Menschen und ihr Zusammenleben in dieser Welt geht. Jede Philosophie ist, insofern sie wirklich eine ist, als Philosophie des Politischen eine Politische Philosophie. Mit den Verteidigern der politischen Philosophie teile ich die Auffassung, daß die Krisis der Moderne einer Verdrängung des Menschlichen und des Politischen entstammt, die dem überschwenglichen und gewaltsamen Vernunfttraum des modernen Subjekts entspringt. Daß man dieser Perversion der Endliches verabsolutierenden humanen Vernunft mit der Grundlegung einer dem Politischen angeblich eigenen Rationalität beikommen kann, erscheint mir allerdings auch zweifelhaft. Ohne die Reflexion auf die dämonische Struktur des Zwischen-Seins verdecken sowohl die bewußte Negation der als nichtig erkannten Werte wie auch die Differenzierung der Rationalitätstypen das Problem, das Nietzsche in seinem konsequenten Nihilismus reflektiert. Der Nihilismus ist das Wesen des Menschen, der „Mensch" ist das Wesen des Nihilismus. Nietzsches Kritik des gegenwärtigen Zustande und des gegenwärtig herrschenden Menschentypus macht deutlich, daß das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen auf dem Spiel steht. Hierin liegt die Notwendigkeit einer Reflexion auf den Zusammenhang von Politik und Metaphysik. Die hier unternommene Gesamtdeutung des Denkens Nietzsches zielt daher darauf, in einer Vergegenwärtigung von Nietzsches Beschreibung und Interpretation der abendländischen Denkgeschichte die Grundstrukturen dieser Interpretation selbst sichtbar werden zu lassen, um so einen Einblick in das zu gewinnen, was im Nihilismus gedacht werden muß und kann. Dieser Versuch stellt darüber hinaus die These auf: So wenig Platon selbst ein Platonist ist, ist Nietzsche ein Antiplatoniker. Nietzsche trifft eher den echten Platon, wenn er den in der Politeia zugrundegelegten Gedanken der Lebensform aufgreift. Wie konstitutiv die Frage nach der Lebensform für die
Einleitung
3
Politische Philosophie des Nihilismus ist, soll sichtbar werden. Denn Nietzsches Philosophie geht auf die „Politik der Tugend". Die Arbeit gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten Gang erörtert sie das Verhältnis von Politik und Philosophie im Nihilismus. Die Analyse der Rezeptionsgeschichte der Philosophie Nietzsches zeigt, daß sowohl die Politisierung der Philosophie wie auch die Rehabilitierung der Philosophie durch deren Entpolitisierung die Herausforderung des Nihilismus nicht in den Blick bekommen können. Das Ziel dieses Teils ist es, jene Fragen freizulegen, von denen aus das Verhältnis von Politik und Philosophie in einer zureichenden Weise erläutert werden kann. Der weitere Gang orientiert sich an den zahlreichen Todeserklärungen, die sich selber auf Nietzsche zurückführen. Der Diskurs von Moderne und Postmoderne läßt Nietzsche den Totengräber spielen. Zuerst wurde erklärt: „Gott ist tot". Dann hieß es: „Der Staat ist tot". Die Verkündung des „Todes des Subjekts" hat nicht auf sich warten lassen. Diese Todesfälle, die Anlaß zum Nachdenken geben, beschreiben die Geistesgeschichte nach Nietzsche von Max Webers Polytheismus der Werte über Carl Schmitts Theorie des Politischen bis zur Genealogie des begehrenden Subjekts bei Michel Foucault. Die Arbeit kreist die Eigenart von Nietzsches Denken und die Bedeutung und Spannweite seiner radikalen Destruktionen ein, indem sie im zweiten Abschnitt die leibhafte Verfassung des humanen Z wischen-Seins an Nietzsches Kritik der Kausalität erschließt und im dritten Abschnitt das Beziehungsfeld des Politischen am Leitfaden seiner Strukturphänomenologie der Macht beschreibt. Der vierte Abschnitt versucht faßbar zu machen, wie auf dem erschlossenen Feld des Menschlichen und des Politischen eine sachgerechte Erörterung des Problems der Metaphysik nach Nietzsche zu denken ist. Abschließend arbeitet die Untersuchung jene Frage heraus, von der aus das Verhältnis von Politik und Metaphysik im Nihilismus zu bestimmen ist. Dabei rückt das Problem der politischen Urteilskraft ins Zentrum des Nachdenkens über das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. Wenn die Krisis der modernen Vernunft auch auf die Möglichkeit eines anderen Anfangs hindeutet, bewirkt sie vielleicht eine Umkehr des Menschen %u sich selbst, die ihm dann vielleicht ermöglicht, über sich hinauszugehen und somit den Umschlag von Idiotie zu Politic zu vollziehen. Der Arbeit im ganzen liegt der Gedanke einer politisch-philosophischen Dämonologik, die den Menschen als ein zwiefältiges Wesen faßt, zugrunde. Dieser Gedanke impliziert zugleich die Möglichkeit einer nihilistischen Lebensform, die gelingt, indem sie scheitert, die ermöglicht, indem sie eingrenzt. Solange der Mensch sich selbst in seiner dämonischen Natur ernst nimmt, bleibt Nietzsche „unser Zeitgenosse". Denn in der Krise der Natur spüren wir am eigenen Leibe, daß der Mensch auf dem Spiel steht. Allein die Bejahung der dämonischen Natur des Menschen führt zum Einverständnis mit der unverfügbaren Natur.
Erster Abschnitt Das Verhältnis von Politik und Philosophie im Nihilismus
I. Kapitel: Nietzsche zwischen Politik und Philosophie § 1. Die Politisierung seiner Philosophie unter der Maske des Nationalsozialismus Mit seinem Wunsch, „ein böses Buch einmal zu machen, schlimmer als Machiavelli",1 hat sich Nietzsche in die Reihe derjenigen modernen Denker eingegliedert, die als Säulen der „Postmodernität" gelten. Neben Marx und der von ihm angestoßenen Bewegung war zweifellos Nietzsche die politisch wirkkräftigste unter den geistigen Potenzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Analog zum Marxismus könnte man in bezug auf die Ideologisierung der Philosophie Nietzsches von einem „Nietzscheanisimus" sprechen2. Dabei handelt es sich aber weniger um die Etablierung eines politischen Systems, als um eine Politisierung seiner Philosophie. Gerade die Tatsache, daß Nietzsche durch recht zweifelhafte Usurpationen seiner Ideen zu seiner stärksten Wirkung gelangte, läßt vermuten, daß zwischen Nietzsche und dem ideologischen Mißbrauch seiner Philosophie ein Zusammenhang besteht. Die von Nietzsche selbst hergestellte Verbindung mit Machiavelli weist auf einen Weg, der zum Grund des Nietzscheanismus führt. Es ist die Vernunft der Macht, welche die beiden Denker miteinander verbindet3. 1 2
3
KSA 11, 26 (349), S. 241. Es gibt bei Nietzsche keine Spuren der Marx-Rezeption. Das Verhältnis von Marx und Nietzsche kann jedoch im Sinne der hermeneutischen Interkontextualität durchleuchtet werden, nämlich im Rahmen ihrer zeitkritischen Wahrnehmung, in der sich die beiden Philosophen treffen. Nachdrücklich sei hier verwiesen auf das Wort Max Webers: „Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt". E. Baumgarten: Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, S. 554f. Es gibt keine umfassende Untersuchung zum Verhältnis von Marx und Nietzsche. Vgl. Ivan Soll: Marx, Nietzsche und die koperkanische Revolution Kants, in: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Acht Beiträge, Königstein/Ts. 1978, S. 63-77; Edward Andrew: A Note on the Unity of Theory and Practice in Marx and Nietzsche, in: Political Theory, 3 (1975); S. 305 — 316; David B. Myers: Marx and Nietzsche. The Record of an Encounter, Lanham, N.Y., London: University Press of America, 1986. Daß Machiavelli im Zusammenhang der neuzeitlichen Setzungsvernunft gesehen werden muß, zeigt überzeugend A. Baruzzi: Machiavellis politische Theorie und ihr eigentümlicher Zusammenhang mit der neuzeitlichen Philosophie, in: Philosophische Perspektiven, 5 (1973); und auch ders.: Einführung in die politische Philosophie derr Neuzeit, Darmstadt 1983,
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
Enttäuscht von der göttlichen Vernunft vollzog Machiavelli die entscheidende Revolution vom Vernunftgrund in den Machtgrund, der die humane Vernunft zeugt. Es handelt sich um die Geburtsstunde der Machtvernunft und damit der Immanentisierung des humanen Weltverständnisses und -Verhältnisses. Nietzsche vollendet diese Idee der modernen Diesseitigkeit, indem er die machtzeugende Setzungsvernunft radikalisiert. Der virtu Machiavellis korrespondiert so Nietzsches Wille zur Macht. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, daß man in Nietzsche einen Begründer des „modernen Machiavellismus" entdeckt 4 . Das Wesentliche des Renaissance-Machiavellismus besteht in der Emanzipation des Machtwissens von jeder Bindung an Normatives und in der Zerstörung des griechischen Glaubens an den weltdurchwaltenden Logos. Der moderne Machiavellismus läßt es aber nicht dabei bewenden; in seiner zugespitzten Form spielt er ein eigentümliches Wechselspiel von Entschleierung für sich selbst und Verschleierung für die anderen. Mit seiner genealogischen Entlarvung des Nihilismus und der Lehre des Willens zur Macht hat Nietzsche insofern die machiavellistischen Konsequenzen voll einbezogen, als er den Glauben an die Vernunft in der Geschichte völlig abgelegt und alles in die Gewalt des Menschen gestellt hat. Nietzsche selber hat die Dialektik von Nihilismus und Willen zur Macht auf eine Formel gebracht: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt"5. Aus dem philosophischen Zusammenhang, ins Politische übertragen, bedeutet dies die Loslösung der Gewalt von der allgemeinen Wahrheit und ihren Einsatz für das jeweils als „wahr" Gesetzte. Durch den Prozeß der Ideologisierung der Philosophie Nietzsches ergibt sich eine für seine politische Wirkung charakteristische Gleichung: Niet^scheanismus = der Massenmachiavellismus der Gegenwart. Durch die Verbindung der Philosophie Nietzsches mit dem Machiavellismus ist ihm die Auszeichnung zugeteilt, ein Philosoph zu sein, der als die Hauptursache des „großen Krieges" zu betrachten ist. Seinem Namen wird das Siegel des „Irrationalismus", des „Präfaschismus" und der Unvernunft schlechthin aufgedrückt, so daß in bezug auf die Schmach auch Machiavelli nicht mehr mithalten kann 6 . Sieht man aber von der ideologischen Verfemung
4
5 6
S. 18ff. Über den Zusammenhang von Machiavelli und Nietzsche im Kontext der Machtvernunft siehe auch vom Verf.: Strukturen der Macht bei Machiavelli und Nietzsche, in: W. Gebhard (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Willen zur Macht und Mythen des Narziss, Frankfurt/M. 1989, S. 11-34. Vgl. Erwin Faul: Der moderne Machiavellismus, Köln/Berlin 1961, S. 210—225, wo gezeigt wird, daß Nietzsche mit seiner Lehre des Willens zur Macht einen „Machiavellismus der Zukunft" erschaut und in Gedanken durchexperimentiert und sich hierin ein Weg über die Transformationen von G. Sorel und W. Pareto zum Faschismus hin anbahnt. KSA 12, 25 (304), S. 88. Vgl. Eric Voegelin: Nietzsche, The Crisis and the War, in: The Journal of Politics, Vol. 6 (1944), S. 177-212, hier S. 177.
Politisierung der Philosophie Nietzsches im Nationalsozialismus
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ab, weist die Identifikation seiner Philosophie mit Machiavelli auf das Wesentliche dieser ideologischen Begriffsbildung hin. Denn bei der Reflexion über die Politik Nietzsches dreht es sich um das Problem der Macht, das sich im Nihilismus manifestiert. Nietzsche radikalisiert und vollendet die von Machiavelli inaugurierte Philosophie der Macht. Allein von ihr aus läßt sich sein ganzes Denken verstehen und erschließen. Nietzsches Philosophie der Macht gründet aber in einer anderen Bestimmung der Vernunft. Dies verdeckt der Nietzscheanismus, indem er Nietzsches Willen zur Macht mit der traditionellen instrumentalen Vernunft okkupiert. D. h. ohne das Verständnis der von Nietzsche zugrundegelegten Vernunft des Leibes ist seine Philosophie des Willens zur Macht nicht erschließbar und umgekehrt. Die Verschleierung seiner Philosophie setzte bekanntlich mit der Nazifizierung des Namens Nietzsche ein7. Bei der kritischen Prüfung erweist sich aber der Vorwurf des Präfaschismus als ein Werk der Herrschaft der Vorurteile. Daß im Dritten Reich die unmittelbare Auseinandersetzung mit Nietzsche nie stattgefunden hat, und daß Nietzsche sogar durch die Schriften von Nationalsozialisten abgelehnt wurde, läßt sich schon durch einen Blick auf die nationalsozialistische Nietzscherezeption konstatieren8. Wie in einem Buchtitel „Nietzsche und der Nationalsozialismus" durch das magische „Und" verbunden, diente die Usurpation des Namens Nietzsche hauptsächlich dazu, dem Nationalsozialismus a posteriori einen achtbaren geistigen Ahnen zu verschaffen. Die kulturpolitische Vereinnahmung des Nietzscheprestiges mag als Paradefall einer politisierten Wirkungsgeschichte von Interesse sein. Aber die meisten Schriften nationalsozialistischer Nietzscheaner stehen unter dem Niveau der kritischen Auseinandersetzung. Betrachtet man sie unter der Leitfrage, wie und wo Nietzsche herangezogen wurde, um seine Gedanken in die nationalsozialistische Ideologie einzuflechten, läßt sich jedoch eine Linie feststellen: Umwertung aller Werte im Zeitalter des Nihilismus. Es handelt sich um eine Generalformel, auf die, losgelöst von ihrem philosophischen Hintergrund, der Mythos des „ewigen Reiches" aufgepfropft wur7
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Zum politischen Mißbrauch der Philosophie Nietzsches durch den Nationalsozialismus, Vgl. R. E. Kuenzel: The Nazi Appropriation of Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 428—435; W. H. Sokel: Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S. 436-442; K. R. Fischer: Nazism as a Nietzschean ,Experiment', in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 116 — 122; und M. Warren: The Use and Abuse of Nietzsche, in: Canadian Journal of Political and Social Theory, 4 : 1 (Winter 1980), S. 147-167. Die erste nüchterne und aufschlußreiche Bestandsaufnahme der nationalsozialistischen Nietzscherezeption liefert H. Langreder: Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches, Diss., Kiel 1971. Er glaubt im wesentlichen drei unterschiedliche Positionen innerhalb des Dritten Reichs finden zu können: eine positiv eingestellte, der u.a. Bäumler und Beck angehören, eine negative um Krieck und Steding, und eine vermittelnde, deren Exponent Heinrich Härtle war.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
de9. Nietzsches Ruf „Gott ist tot" wurde als das Signal zum Aufbruch für die Suche nach der neuen Zeit verstanden, als der Beginn der Umwertung der überlieferten Werte. Unter der Hand des Nationalsozialismus hat sich der Umschlag von der Philosophie zum Mythos vollzogen, dessen Begleiterscheinung der Durchbruch des Irrationalismus war10. Charakteristisch für die politische Transformation der Philosophie Nietzsches ist auch der Beitrag Alfred Baeumlers, der mit höchster Entschiedenheit ausspricht, daß das zwanzigste Jahrhundert mit Nietzsche beginnt11. Auf die zeitkritische Diagnose des Nihilismus folgt die philosophische Therapie des Willens zur Macht. Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund erscheint der Nationalsozialismus als ein Nietzscheanisches „Experiment"12. Der Nationalsozialismus war als ein Phänomen der post-nietzscheanischen Kultur der politische Versuch, die längst zerrissene Einheit des Menschen und der Welt wieder zu einem zusammenzusetzen, wobei dieses Eine die nicht ankommende, immer fortschreitende nihilistische Bewegung war. Das Wesen des nationalsozialistischen Herrschaftsunternehmens ist Nihilismus. Die Dynamik und die Struktur dieser nihilistischen Politik bringt H. Rauschning prägnant auf die Formel: „Die Revolution des Nihilismus"13. Im Hinblick auf die politische Auflösung des Nihilismus ist nicht nur seine These von großer Bedeutung, daß der Nationalsozialismus eine von Grund auf revolutionäre Bewegung mit dem Zweck, Macht zu begründen, sei; sondern auch seine scharfsinnige Analyse des politischen Nihilismus. Am Ende der von Machiavelli inaugurierten und von Nietzsche vollendeten Entwicklung stellt sich heraus, daß die Macht ihre eigene Dynamik und Rationalität hat. Denn die konstitutiven Merkmale der nihilistischen Politik sind die Absolutsetzung der Bewegung und die Rationalität der Macht. An die Stelle des neuzeitlichen Prinzips des „mantenere lo stato" Machiavellis tritt die Prinziplosigkeit der amorphen Macht. Um wurzellose Macht zu sichern, muß durch die Zerstörung und Aushöhlung aller Werte und Ordnungen die tabula rasa der völligen Befreiung von Bindungen hergestellt 9
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Vgl. Möller van den Brück: Das ewige Reich, betont im Nietzsche-Kapitel das gemeinsame Grundmotiv: den „Mythos des großen kulturellen Risorgimentos". Über den Zusammenhang von Philosophie des Mythos und Irrationalismus, vgl. George H. Sabine: A History of Political Theory, London u.a. 1948, XXXIV Fascism. A. Bäumler: Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, S. 244: „Eben beginnt das 20. Jahrhundert — das 19. begann vor drei Generationen mit Goethes Tod — das Jahrhundert, das sich im Angesicht Zarathustras entscheiden muß". K. R. Fischer, a. a. O., S. 116. Im gleichen Sinne schreibt der amerikanische Nietzsche Kenner R. J. Hollingdale in seiner Einleitung zur ersten Auflage seiner Übersetzung von Nietzsches „Thus Spoke Zarathustra" (Baltimore, Maryland, 1961, S. 18), daß das zwanzigste Jahrhundert in den 1880er Jahren zum Durchbruch kam. Hermann Rauschning: Die Revolution des Nihilismus (1938), neu hrsg. v. Golo Mann, Zürich 1964.
Politisierung der Philosophie Nietzsches im Nationalsozialismus
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werden. Diese leergemachte Stelle wird aber mit Ideologien besetzt, welche aus der revolutionären Taktik der Bewegung entspringen. Es gibt eigentlich kein Ziel, sondern die Macht setzt sich jeweils das Ziel, das seinerseits die Macht steigert. Aus der Vorausetzungslosigkeit des Nihilismus entspringt die revolutionäre Setzungskraft, darin zeigt sich eben „die Dämonie der Bewegung"14. Sie durchdringt jede Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, so daß kein Ort der Selbständigkeit mehr besteht. Der Staat verwandelt sich durch die nihilistische Revolution zum totalen Machtapparat, das Individuum wird in der atomisierten, strukturlosen Masse aufgelöst. Es handelt sich um einen paradoxen Prozeß einer allgemeinen Politisierung, die durch die Verallgemeinerung der Politik zugleich auch wieder zu einer Entpolitisierung der Masse führt. Diese permanente Revolution des Nihilismus läuft schließlich auf die Proklamation der Gewalt als prima ratio und die Legitimierung der Vernunft hinaus. Es ist, so resümiert Rauschnings Analyse, eben die Bejahung des Nihilismus, die Rechtfertigung des Lebens durch das Leben selbst, die der politischen Entartung des geistigen Nihilismus Nietzsches zugrunde liegt. Der tiefste Grund der Beziehung zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus mag in dieser geistesgeschichtlichen Interkontextualität liegen. Denn das 20. Jahrhundert ist ganz und gar im Geist Nietzsches geboren, nämlich im Geist des Nihilismus. Mit dem Begriff des Nihilismus hat Nietzsche nicht nur seine Zeit in Gedanken erfaßt, sondern auch die darauf folgende Zeit bestimmt: Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke15.
Nietzsches Unzeitgemäßheit zeigt sich in dieser zeitkritischen Diagnose des Nihilismus. Die Notwendigkeit der Heraufkunft des Nihilismus wird durch eine philosophische Methode der Genealogie erschlossen, die durch die kritische Entschleierung der Voraussetzungen des Nihilismus zugleich die Bedingungen zu seiner Überwindung zu setzen hat. In seiner Philosophie des Willens zur Macht bestimmt Nietzsche das Politische als Setzung der Voraussetzungen, innerhalb derer das menschliche Sein zu seinem Vollzug zu kommen vermag. Nicht das Nichts im Sinne der Voraussetzungslosigkeit, sondern die Setzung der Voraussetzungen visiert Nietzsche mit seiner Philosophie der Macht an. Wie wahr es auch sein mag, daß der Nationalsozia14 15
Ebda., S. 57. Vgl. A. Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbeck bei Hamburg 1969, S. 55-67. KSA 13, 11 (411), S. 189.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
lismus eine politische Transformation des Nihilismus ist, es ist auf jeden Fall nur eine verkehrte Halbierung der Philosophie Nietzsches. So wie der nationalsozialistische Mißbrauch des Namens Nietzsche in der Perversion seiner Philosophie der Macht besteht, rühren die ideologischen Vorwürfe gegen Nietzsche auch von einer Verschleierung des Problems her, das Nietzsche mit seiner kritischen Sensibilität aufdeckt und thematisiert. Nietzsche will der Herausforderung seiner Zeit philosophisch entsprechen, indem er, den Nihilismus bejahend, eben diesen zu überwinden versucht. Zum Nihilismus gehören beide Tendenzen: Destruktion der nihilistischen Bedingungen, welche die Krise konstituieren und Konstruktion der neuen Voraussetzungen. Wenn diese Herausforderung der Zeit nicht wahr- und angenommen wird, kann sie nur durch die Verneinung ihrer Gültigkeit ignoriert werden. Von Nietzsche aus gesehen, zeichnet sich die Anti-Nietzsche-Ideologie aus durch ihr Verharren auf dem zu überwindenden Nihilistischen, wie es in der plakativen These „Von Nietzsche zu Hitler" zum Ausdruck kommt. Ihre bekanntesten Exponenten sind u. a. Georg Lukacs von der linken Seite und William McGovern aus dem liberalen Lager16. Lukacs' Vorwurf des Irrationalismus schlägt aber auf ihn selbst zurück, insofern er blind für die Irrationalität der auf die instrumentale ratio fixierten Vernunft ist. Die dualistische Unterscheidung von Rationalität und Irrationalität ist selbst das Werk einer die Welt richtenden Vernunft, die es in Nietzsches Sicht gerade zu überwinden gilt. Eine Vernunft, die alles richtet und herrichtet, wird irrational und richtet sich selbst hin. Den Weg aus dieser „Dialektik der Aufklärung", den Nietzsches Philosophie mit der Bestimmung der großen Vernunft des Leibes weist, verschüttet Lukacs, indem er die Herausforderung des Nihilismus nicht ernst nimmt17. McGovern erkennt hingegen die Krise 16
17
Siehe Georg Lukacs: Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik (1934), in: Werke, Bd. 10, Neuwied/Berlin 1969, und ders.: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Werke, Bd. 9, Neuwied/Berlin 1962; William M. McGovern: From Luther to Hitler. The History of Fascist-Nazi Political Philosophy, Cambridge, Mass., 1941. Zum Dogma ideologischer Geschichtsschreibung „Von X zu Hitler", vgl. H. Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler, Hamburg 1975 und P.Viereck: Metapolitics. From the Romantics to Hitler, New York 1941. Zur Kritik an Lukacs' Nietzschedeutung, vgl. M. Montinari: Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukacs, in: ders.: Nietzsche lesen, Berlin 1982; Henning Ottmann: Anti-Lukacs. Eine Kritik der Nietzsche-Kritik von Georg Lukacs, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 570 — 586. Sein Urteil ist nicht weniger vernichtend als Lukacs' Nietzschekritik: „Lukacs hat ein Lehrstück geschrieben, wie Nietzsche nicht zu lesen ist". Zur verborgenen Nietzsche-Rezeption bei Lukacs, vgl. Werner Jung, Das Nietzsche-Bild von Georg Lukacs. Zur Metakritik einer marxistischen Nietzsche-Deutung, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 419—430. Zur ideologisch halbierten Nietzscherezeption in der DDR, die weiterhin die Lukacs'sche Interpretation des Nietzscheschen Präfaschismus verfolgt und daher sich eher auf die Wirkungsgeschichte als auf die Philosophie Nietzsches selbst konzentriert, vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Ständige Herausforderung, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 32-82, besonders S. 50ff.
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zwar an, aber sein unerschrockener Glaube an den Wert der liberalen Tradition hindert ihn daran, einzusehen, daß der absolut gesetzte Anspruch der Menschenrechte umschlägt in die Herrschaft der Rechte über die Menschen. In seiner Radikalisierung der Aufklärung versucht Nietzsche den Standort des Menschlichen zurückzugewinnen, der paradoxerweise durch den Prozeß der Anthropologisierung des Mensch-Welt-Verhältnisses zerstört worden ist. Die Vermeidung der Herausforderung des Nihilismus hat so zur Verschleierung der Philosophie Nietzsches und seiner Nazifizierung beigetragen, wobei der Nationalsozialismus als Maske dieser Vermeidungsstrategien fungiert. Nietzsche muß dann unter zwei Masken auftreten: zum einen als „Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode", und zum anderen als Repräsentant des deutschen Sonderweges18. Die Politisierung der Philosophie Nietzsches führt dazu, daß der über den Rahmen der Aufklärung hinausgehende tiefe Sinn seiner Beschreibung des Nihilismus unter der Maske des Nationalsozialismus verdeckt bleibt, sowohl in der nationalsozialistischen Transformation des Nihilismus in eine Revolution der progressiven Zerstörung als auch in der ideologischen Abstumpfung gegen die Herausforderung der Zeit. Auf jeden Fall steht das Problem des Nihilismus im Zentrum der politischen Reflexion um Nietzsche. Nietzsches Nennung des Nihilismus ist, wie Eric Voegelin mit Recht sagt, eine fundamental magische Operation, durch die „Dinge" ins Leben gerufen oder zerstört werden19.
§ 2. Die Rehabilitierung der Philosophie Nietzsches durch ihre Entpolitisierung
Nietzsches Philosophie faßt ihre Zeit in Gedanken; sie ist die Philosophie des Willens zur Macht als unzeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Nihilismus. Seine Einsicht in das Wesen des Nihilismus ist so überwältigend, daß man, vor deren Konsequenzen erschrocken, bei den ideologischen Abwehrmaßnahmen Zuflucht nehmen müßte. Im philosophischen Denken herrscht aber die höchstmögliche Bindung; das jeweils andere Denken ist im Grunde das Denken des Selben, das es immer neu zu durchdenken gilt. So ist es zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Sache Nietzsches gekommen. Parallel mit der Politisierung der Philosophie Nietzsches setzte sich im 18
19
So der Titel des Nietzsche-Kapitels von G. Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft, a. a. O., S. 270. Die Projektion des Bösen in den spezifisch deutschen Charakter ignoriert auch Nietzsches Kritik der westlichen Zivilisation. Auf diese Weise wird behauptet, daß der Nationalsozialismus nichts anderes als die politische Umsetzung der „Umwertung aller Werte" Nietzsches ist. Vgl. Rohan DO Butler: The Roots of National Socialism, 1783 — 1933, London 1941, S. 154-167. E.Voegelin, a.a.O., S. 178.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
Verlauf der dreißiger Jahre die These durch, daß Nietzsche vor allem in die Geschichte der Philosophie gehöre. Die großen Interpretationen von Löwith (1935), Jaspers (1936) und Heidegger stellen mit Entschiedenheit Nietzsche als Philosoph sui generis heraus 20 . Nach der politisch verursachten Unterbrechung der Vorherrschaft dieser Interpretationen setzte wieder die Rehabilitierung der Philosophie Nietzsches durch ihre Entnazifizierung ein. In diesem Zusammenhang ist besonders Walter Kaufmann zu nennen, der die „Nietzsche-Legende" zu zerstören trachtet21. Wie diese großen Deutungen der dreißiger und fünfziger Jahre dokumentieren, läßt sich eine Nähe zwischen dem Philosophen und seinen Interpreten konstatieren. Nietzsche wirkt wie ein Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts, wenn seine Beschreibung der nihilistischen Herausforderung ernst genommen wird. Nihilismus ist das philosophische Problem der Moderne. Es ist auch der Gedanke des Willens zur Macht, mit dem Nietzsche, der Herausforderung seiner Zeit entsprechend, auf eine einzige und höchste Entscheidung hinausdenkt. Da sich diese Entscheidung in der Revolution der permanenten Zerstörung politisch aufgelöst hat, hat die philosophische Auseinandersetzung mit dem Nihilismus das Selbe des abendländischen Denkens, das sich nun im Denken Nietzsches manifestiert, aufzuzeigen, um die Denk- und Fragwürdigkeit des Nihilismus zu ergründen. Im Blick auf das Verhältnis von Politik und Philosophie bei Nietzsche tut man gut daran, zu fragen, worin sich die philosophische Deutung des Nihilismus von dessen Politisierung unterscheidet. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob Politik und Philosophie in ihrem Verhältnis zueinander als notwendig zusammengehörig zu begreifen sind. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich unter anderem Heidegger und Kaufmann ab, die die Nietzschesche Philosophie entpolitisieren und so rehabilitieren. Die philosophische Rezeption geschieht aber im Schatten des Nationalsozialismus. Heidegger will seine ab 1936 gehaltenen NietzscheVorlesungen als „Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus" verstanden wissen22. Die Tatsache, daß die Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Totalitarismus nur in der Form philosophischer Auseinandersetzung entfaltet wurde, läßt erkennen, welche Gewaltsamkeit diese aus-einandersetzende Nietzschedeutung mit sich bringt. Nietzsches Philosophie wird derart 20
21
22
Einen Überblick über die Geschichte der philosophischen Auseinandersetzung mit Nietzsche liefert Jörg Salaquarda in seiner Einleitung zum Sammelband: Nietzsche, hrsg. v. J. Salaquarda, Darmstadt 1980, S. 1-20. W. Kaufmann: Nietzsche. Philosoph-Psychologe-Antichrist, Darmstadt 1982, besonders den Prolog: Die Nietzsche-Legende, S.l —19. Nur noch ein Gott kann uns retten. Spiegelgespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966, Der Spiegel, 23 (1976), 204. In diesem Zusammenhang nennt er auch die „Logik"Vorlesung (1934), und die erste Hölderin-Vorlesung (1934/35), in dem er sagt: „Alle, die hören konnten, hörten, daß dies eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war".
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erkauft, daß sie unter der Dominanz des Namens Nietzsche ihre eigensten denkerischen Kräfte nicht entfalten kann. Paradigmatisch für diese Richtung ist der Passus aus dem Vorwort, das Heidegger seinen 1961 veröffentlichen Nietzsche-Vorlesungen vorausschickt: „ ,Nietzsche' — der Name des Denkers steht als Titel für die Sache seines Denkens"23. Die Sache ist in Heideggers Sicht in sich selbst „Aus-einander-setzung". Nietzsche wird zum philosophischen Streitfall erklärt, damit der Name Nietzsche endgültig fällt. Das Entscheidende ist aber bei dieser „Aus-einandersetzung mit der Sache Nietzsches", daß seine Philosophie, in der und durch die Interpretationssprache verwandelt, doch in ihrer Eigenart erfahren wird, obwohl die dabei erörterte „Sache Nietzsches" von anderer Art ist, als Nietzsche selbst „seine Sache" verstand24. Wenn Heidegger durch das Durchdenken des anderen auf das Selbe der abendländischen Metaphysik hinausdenkt, um das andere Denken herbeizuführen, so kann man umgekehrt die Andersheit des Denkens Nietzsches noch deutlicher aufzeigen, indem man sich auf diese Aus-einander-setzung einläßt. Denn Heidegger geht es darum, die Voraussetzungen für das denkende Gespräch mit und durch Nietzsche zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit Nietzsche vorbereiten heißt: Nietzsches Beschreibung des Nihilismus und seine Aufforderung zur Entscheidung werden auf die dem Denken Nietzsches fremde Seinsthematik zurückverlegt, damit sich die Andersheit und Spannweite seines Denkens vor dem Hintergrund der abendländischen Metaphysikgeschichte deutlicher konturiert. Heidegger stellt seine Besinnung auf Nietzsche unter die alles bestimmende Fragestellung, „wie Nietzsche sich in der Überlieferung des abendländischen Denkens hält, wie sein Denken von dieser Überlieferung bestimmt wird und seinerseits sie bestimmt"25. So gefaßt, wird die Auseinandersetzung mit Nietzsche zur Entscheidung über die Seinsfrage. Denn die Seinsfrage ist, wie anders sie auch gedacht werden mag, das Selbe des Denkens, „die eine einzige und gemeinsame innerste Sache der abendländischen Philosophie"26. Heideggers Hermeneutik der philosophischen Aus-einander-setzung zielt zum 23 24
25 26
M. Heidegger: Nietzsche I, Pfullingen 1961, S. 9. Vgl. W. Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 132-177, hier S. 134. O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1983, S. 109. M.Heidegger: Nietzsche I, a.a.O., S. 33. Um die Bedeutung von Heideggers NietzscheInterpretation angemessen zu würdigen, muß zuerst die „Hermeneutik der philosophischen Auseinandersetzung" in ihrer Grundstruktur und Spannweite herausgearbeitet werden, worauf hier nicht einzugehen ist. Es ist jedoch daran festzuhalten, daß Heidegger seinen Rückgang in die geschichtlichen Grundlagen des Denkens als „Sache der Philosophie" versteht. Hierzu vgl. W. Müller-Lauter: Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart, in: ZThK 59, 1962, 226-255, wo Heideggers Weg von der Ausarbeitung der Geschichtlichkeit des „Daseins" zu den seinsgeschichtlich orientierten Zwiegesprächen mit großen Denkern der Tradition in seiner sachgegründeten Notwendigkeit dargestellt wird.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
einen darauf, zu zeigen, daß das andere Denken, sofern es wirklich denkt, das Denken des Selben ist; zum anderen beabsichtigt sie, das jeweils Gedachte „so zu verwinden, daß das Ungedachte in seinem Gedachten auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt wird"27. Dieses Ungedachte aber ist das, was Heidegger als das von ihm selbst zu Denkende erfährt. Dahingestellt bleibt hier die Frage, ob dieses Ungedachte bereits von Nietzsche selbst entdeckt und ursprünglicher erfahren wurde 28 . Wir dürfen uns aber nicht davon beirren lassen, daß Nietzsche mit seiner Unzeitgemäßheit gleichsam das Zeitgemäße auf den Begriff bringt. Im klaren Bewußtsein der Zweideutigkeit der zeitgemäßen Unzeitgemäßheit und der unzeitgemäßen Zeitgemäßheit müssen wir vielmehr das Gesagte zurückdenken in das Ganze der abendländischen Überlieferung. Die Sache Nietzsches ist dann die Auseinandersetzung mit dem bisherigen abendländischen Denken überhaupt in der Form ihrer äußersten Sammlung und Vollendung. So wird Nietzsches Denken gleichsam in die Ausspannung zwischen Herkunft und Zukunft eingespannt, welche aus dem Wesen der abendländischen Metaphysik stammt. Denn „Vollendung" bedeutet demgemäß „die uneingeschränkte Entfaltung aller seit langem aufbehaltenen Wesensmächte des Seienden zu dem, was sie im Ganzen fordern"29. Das aus der Metaphysik Herkommende ist im Rückgang auf seine ursprüngliche Frage das in die Zukunft Weisende. In der Tat geht es Heidegger darum, diese Zwiespältigkeit des Wesens der abendländischen Metaphysik durch Nietzsche hindurch zu denken. Die denkerische Macht, aus dem Werk Nietzsches sein Größtes herauszuhören und dieses ursprünglich zu verwandeln, koppelt sich aber mit jener interpretatorischen Gewalt, durch welche das Denken Nietzsches in das Gedachte und das Ungedachte, das Herkömmliche und das Zukünftige aus-einander-ge-setzt wird. Von dieser Spannung getragen, vollzieht sich Heideggers Auseinandersetzung mit der Sache Nietzsches auf drei Ebenen: (1) Die Übersetzung der Formel „Wille zur Macht" in die vom Willen zum Willen. Die Entscheidung, in die Heidegger das Ganze der abendländischen Überlieferung stellt, ist diejenige zwischen der Vormacht des Seienden und der Herrschaft des Seins. Diese Entscheidung leitet sich ursprünglich von der innigsten Scheidung und der äußersten Unterscheidung zwischen dem Seienden im Ganzen und dem Sein ab. Die abendländische Metaphysik gründet aber auf dem Vorrang der Vernunft, bei der die äußerste Vor-entscheidung darüber steht, was Sein besagt. Die Metaphysik ist dann als die Wahrheit über das Seiende von einer 27 28
29
M. Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 1954, S. 23f. Vgl. B. Taureck: Macht, nicht Gewalt. Ein anderer Weg zum Verständnis Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 29-54, insbesondere S. 30. M. Heidegger: Nietzsche I, a. a. O., S. 479.
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Frage geleitet, nämlich von der Leitfrage: Was ist das Seiende? Die Vorentscheidung über die Wahrheit des Seienden durch den Primat der Vernunft ist in der zwiefältigen Struktur dieser anfanglichen Frage angelegt. Gefragt ist nämlich nach der arche, verstanden als Grund und Herrschaft. Vernunft beherrscht, was ist, indem sie bestimmt, was sein soll. Nietzsches Gedanken vom Willen zur Macht wird auf die Leitfrage der Metaphysik hin erblickt, seine Stellung in der Geschichte der abendländischen Überlieferung ausgelotet. Von den beiden konstitutiven Grundbegriffen angegangen, deckt Heideggers Übersetzung des Willens zur Macht in den „Willen zum Willen" die innere Bewegungsstruktur der anfänglichen Frage nach der arche als Grund und Herrschaft auf30. (2) Die Transformation des Nihilismus in die Seinsgeschichte. Nietzsche begreift den Nihilismus als die Logik der europäischen Dekadenzgeschichte. Dekadenz ist in Heideggers Sicht die Nichtentfaltung der metaphysischen Leitfrage durch ihre Fixierung auf die Antwortfindung. Mit einer jeweils anderen Beantwortung der Frage: was ist das Seiende, wird eine bestimmte Stellung zum Seienden als solchem bezogen, von der aus die Beherrschung der Welt gesichert wird. Die Dominanz der Frage nach der arche läßt daher nur eine Richtung zu, in der gedacht und gewollt werden kann. Da die jeweils andere Entscheidung über das Verhältnis von Mensch und Welt nur aufgrund der innigsten Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem möglich ist, bedeutet die Herrschaft der metaphysischen Leitfrage die Verdrängung dieser Differenz. Dieses, was den Unterschied aus sich entläßt, ist das Sein. Vor diesem Hintergrund ist Seinsvergessenheit ein Zug jener Geschichte, in der Sein sich entzieht und Seiendes als das einzige sich vordrängt. So kommt es, daß Heidegger den Nihilismus als Seinsgeschichte begreift. Heideggers seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus ist aber in sich selbst zwiespältig: Zum einen bringt sie den Grundvorgang der abendländischen Denkgeschichte in Anschlag, indem sie Nietzsche, der selber die Metaphysik als den eigentlichen Nihilismus auffaßt, dessen Vollendung unterstellt; damit stellt sie gleichsam das andere Denken insofern in Aussicht, als der Seinsentzug wesentlich der Bezug zum Seienden, als welches das Sein erscheint, bleibt. Das andere Denken, das Heidegger in Absetzung von Nietzsche für sich beansprucht, besteht dann darin, das Ausbleiben des Seins als ein solches zu erfahren und so das Wesen des Nihilismus zu bedenken. Denn für Heidegger versperrt sich Nietzsche als der letzte Metaphysiker den Weg zur Erfahrung des Wesens des Nihilismus. Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht stellt, so 30
Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, a. a. O., S. 40.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
behauptet Heidegger mit aller Vehemenz, letztendlich „die äußerste Verstrickung der Metaphysik in das Uneigentliche des Nihilismus" dar 31 . (3) Das Prinzip der metaphysischen Grundstellung. In Heideggers Auseinandersetzung mit der Sache Nietzsches kristallisiert sich als das Ungedachte „das Wesen einer metaphysischen Grundstellung" heraus 32 . Paradoxerweise kann aber behauptet werden, daß hier ein genuin Nietzschescher Gedanke zum Ausdruck kommt. In seiner aufschlußreichen Strukturanalyse der Frage nimmt Heidegger die Unterscheidung zwischen der Leitfrage der Metaphysik und der Grundfrage des ursprünglichen Denkens vor. Der Leitfrage „Was ist das Seiende?" wird die Grundfrage „Was ist?" entgegengestellt. Heideggers Intention ist aber mehr als eine bloße Entgegenstellung. Sie zielt darauf ab, die unkritisch übernommene Frage der Metaphysik selbst in Frage zu stellen. Das Ziel der metaphysischen Leitfrage ist dann die Stellung eines Grundes, von dem aus das Seiende als solches bestimmt und beherrscht wird. Die metaphysische Grundstellung besagt, daß der Mensch durch die Setzung eines Grundes zum Stehen kommt und so seinen Standort im Ganzen des Seienden mitbestimmt. Dieses Prinzip der metaphysischen Grundstellung in seiner Struktur und Spannweite zu begreifen, ist in Heideggers Augen nur dann möglich, wenn man die Leitfrage als abkünftig von der Grundfrage begreift. Die Maßgabe des Denkens ist zugleich die Vorgabe des ausgezeichneten Bezirks innerhalb des Seienden im Ganzen. Das ist aber Nietzsches Einsicht in das Wesen des Nihilismus, die den Willen zur Wahrheit als Willen zur Gleichheit und Sicherheit bloßlegt. Die Auslegung des Sinns vollzieht sich nur auf Grund der Hineinlegung desselben. So übereinstimmend die Erkenntnis der beiden Denker ist, so wesentlich unterscheidet sich Heideggers Seinsdenken vom genealogischen Fragen Nietzsches. Während Nietzsche durch seine Genealogie die Radikalisierung der Setzung anvisiert, um schließlich die Voraussetzungen des Lebens als solche zu bejahen, will Heidegger die Setzung in die Voraussetzung auflösen, indem er durch seine Phänomenologie die Leitfrage in ihrem Gefüge entfaltet und die Seinsfrage als solche zu stellen versucht. Das Fatale dabei ist, daß Heidegger Nietzsches Erkenntnis der metaphysischen Grundstellung, die dieser durch den genealogischen Rückgang gewonnen hat, seinerseits wiederum in die Geschichte, die Seinsgeschichte auflöst. Heidegger ist insofern selbst noch in einer vornietzscheschen Position stecken geblieben, als er „nach" Nietzsche Geschichtsphilo31
M. Heidegger: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944/46), in: Nietzsche
II, S. 375. 32
M. Heidegger: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, Gesamtausgabe Bd. 44, Frankfurt/M. 1986, insbesondere das Kapitel: „Das Wesen einer metaphysischen Grundstellung und ihre bisherige Möglichkeit in der Geschichte der abendländischen Philosophie".
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sophie betreibt. So sieht Heidegger in Nietzsches Philosophie „die größte und tiefste Sammlung aller wesentlichen Grundstellungen der abendländischen Philosophie seit Plato", welche gleichwohl als die von ihr bestimmte Hauptstellung „eine Gegenstellung nach vorne" ermöglicht33. Heideggers Geschichtsphilosophie „nach" Nietzsche ist zweideutig im Sinne der Auflösung des Nihilismus in die Seinsgeschichte und der Anknüpfung an der ideologischen Auffassung der Geschichte. Insofern ist er mehr Hegelianer, als er Nietzscheaner ist. Angesichts der von Heidegger vollzogenen Ausweitung der Philosophie des Willens zur Macht ins Metaphysische drängt sich die Frage auf, in welchem Zusammenhang das Streitgespräch mit Nietzsche als eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu verstehen ist. Es muß auch zugleich gefragt werden, wie sich das Verhältnis von Politik und Philosophie auszugestalten vermag. Richtungsweisend ist dabei ein Satz, den Heidegger in der 1935 gehaltenen und erst 1953 veröffentlichten Vorlesung „Einführung in die Metaphysik" formuliert: „Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringst zu tun hat"34. Die Worte in Klammern bestimmen Heideggers Auseinandersetzung mit der Sache Nietzsches. Die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik ist eine Macht, deren Geschichte bestimmende Größe kaum schätzbar ist. So wie der Nationalsozialismus den Nihilismus in die Dynamik der Gewaltpolitik auflöst, steht die Macht der Technik in einem offenkundigen Zusammenhang mit der Bewegung. Diese Macht schlägt aber in die Gewalt um, insofern der Mensch die Technik von sich aus nicht bewältigt. Hier kommt der Gedanke von der Grundmacht des Seins zum Zuge, welche trotz einer bestimmten Vorherrschaft des Seienden als „Geschichte" heraufkommt: Darin ist der geschichtsphilosophische und philosophiegeschichtliche Rückgang auf die metaphysische Herkunft der Technik begründet, mit der Überzeugung, „daß nur von demselben Weltort 33
34
Ebda., S. 231. Durch seine Transformation des Nihilismus Nietzsches in die Geschichtsphilosophie versucht Heidegger die „Phänomenologie der Metaphysik" zu entwickeln, indem er an die Stelle des Geistes in der „Phänomenologie des Geistes" Hegels die Metaphysik transponiert. Da die Metaphysik, die das Seiende als solches denkt, doch vom Sein angegangen bleibt, ist die Phänomenologie der Metaphysik zugleich die Phänomenologie des Seins. M. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 40, Frankfurt/M. 1983, S. 208. Dieser Satz wurde auch im „Spiegel-Gespräch" am 23. September 1966 angesprochen, wo Heidegger darauf Bezug nimmt, daß diese Aussage genau seiner damaligen Auffassung der Technik entsprochen hat, aber noch nicht der späteren Auslegung des Wesens der Technik als Ge-stell.
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aus, an dem die moderne technische Welt entstanden ist, auch eine Umkehr sich vorbereiten kann"35. So kommt es, daß die im und durch den Nationalsozialismus erfahrene Gewalt der Technik auf die Geschichte der Metaphysik übertragen wird. Die Aussage: Der Name „die Technik" bedeutet die vollendete Metaphysik, deckt sich ganz und gar mit dem Diktum von der Vollendung der abendländichen Metaphysik in Nietzsches Willen zur Macht36. Da die Technik und der Wille zur Macht metaphysisch wesensmäßig einander zugehören, scheint es legitim zu sein, daß Heidegger die Bewegungsstruktur der Technik durch die Analyse des Willens zur Macht erschließt. Heideggers Auslegung konzentriert sich dementsprechend auf die Präposition „zu" im Willen zur Macht. Das Wesen der beiden konstitutiven Begriffe, des Willens und der Macht, läßt sich einzig und allein aus der Bewegungsstruktur des „Zu" begreifen. Denn der Ausdruck „zur" verdeutlicht das Wesen des Willens zur Macht, das im Titel „Wille zum Willen" zum Vorschein kommt: „Was der Wille will, erstrebt er nicht erst als etwas, was er noch nicht hat. Was der Wille will, hat er schon. Denn der Wille will seinen Willen. Sein Wille ist sein Gewölkes"37. Mit dieser immanenten Selbstbezüglichkeit des Willens verschränkt sich aber die reflexive Form der Steigerung, die in dem Begriff der Macht zum Ausdruck kommt: „Macht machtet nur, indem sie Herr wird über die je erreichte Machtstufe. Macht ist nur dann und nur so lange Macht, als sie Machtsteigerung bleibt und sich das Mehr in der Macht befiehlt"38. So gefaßt nennt das Wort Macht im Titel „Wille zur Macht" nur noch „die Weise, wie der Wille sich selbst will"39. Das Wesen der Macht besteht dann in der Übermächtigung der Macht in die ihr verfügbare Steigerung ihrer selbst. Die prozessuale Selbstbezüglichkeit der Macht besagt: Durch die Bemächtigung ihres reinen Wesens ermächtigt sie sich zur Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe. Damit begründet Heidegger die Übersetzung der Formel „Wille zur Macht" in die von der „Macht zur Macht". Wir erinnern uns hier an das innere Gefüge der metaphysischen Leitfrage, d. h. der Frage nach der arche als Grund und Herrschaft. Ermächtigung als das Wesen des Willens gibt der Herrschaft der Machtsteigerung die Legitima35
36 37
38 39
Spiegelgespräch, a. a. O., S. 214. Die sein Denken durchziehende Erfahrung mit der technischen Welt hat Heidegger selber umgeschrieben mit dem „Einsturz der Welt", der „Verwüstung der Erde" und der „Fest-stellung des Menschen zum arbeitenden Tier", vgl. M. Heidegger: Überwindung der Metaphysik, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1978, S. 68. M. Heidegger: Überwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 76. M. Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot" (1943), in: Holzwege, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt/M. 1977, S. 234. M. Heidegger: Nietzsche II, a.a.O., S. 266. M. Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot", a. a. O., S. 234.
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tion. In der Formel „Wille zur Macht" sind Wille als recht gebender Grund und Macht als die Herrschaft der aus jenem Grund entspringenden Bewegung in eins verschmolzen. Aufgrund der Bewegungsstruktur des „Zur" ist der Wille zum Willen mit der Macht zur Macht deckungsgleich. Wesentlich ist aber, daß diese Tautologie im Grunde die Logik der abendländischen Metaphysik ist. Darin liegt auch der tiefe Grund für die Auflösung des Nihilismus in die Seinsgeschichte. In bezug auf die politische Philosophie sind drei Gesichtspunkte von Bedeutung. Erstens die metaphysische Auslegung des Willens zur Macht nimmt der Formel als ganzer den Aspekt der Gewalt und unterbindet damit die analytische Kraft der genealogischen Methode, welche die gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Willens zur Macht als Gewalt, Herrschaft und Autorität in ihrer Grundstruktur zu erschließen vermag. Heideggers Behauptung einer Verstrickung Nietzsches in die Metaphysik liegt die Maxime zugrunde: „Macht, und nicht Gewalt"40. Diese interpretatorische Maxime dient ohne Zweifel dazu, Nietzsche von der nationalsozialistisch zurechtgemachten Ideologie zu befreien, d. h. „Nietzsche nicht als den Antreiber zum Willen zur Macht, zur Gewaltpolitik und Krieg, zur Raserei der ,blonden Bestie'" gelten zu lassen. Der Raum des Denkens Nietzsches ist „außerhalb von Pazifizismus und Gewaltpolitik" anzusiedeln41. Macht bedeutet, von jeder alltäglichen Erfahrung des Phänomens Macht abstrahiert, weder Trieb der Machtergreifung noch Gier nach Gewalttätigkeit. Die Ontologisierung der Macht geschieht, indem sie dichotomisch von Gewalt und Herrschaft getrennt wird. Als Begriff ist Macht aber bei Nietzsche anthropologisch fundiert. Der Gedanke des Willens zur Macht ist, sowohl entwicklungs- als auch begriffsgeschichtlich, durch das Menschliche hindurch gewonnen, wenn er auch über das Menschliche hinaus zum Übermenschlichen vordringt und von diesem her auf jenes zurückkommt. Diese anthropologische Fundierung des Willens zur Macht verleiht der Philosophie Nietzsches zugleich die gesellschaftstheoretische Dimension. Heideggers Metaphysizierung der Philosophie Nietzsches führt so zur Ausklammerung des Menschlichen und 40
41
M. Heidegger: Nietzsche I, a.a.O., S. 161: „Eigentliches Wollen ist nicht ein Von-sich-weg, wohl aber ein Über-sich-hinweg, wobei in diesem sich-Überholen der Wille den Wollenden gerade auffängt und in sich mit hineinnimmt und verwandelt. Von-sich-weg-wollen ist daher im Grunde ein Nichtwollen. Wo dagegen der Überfluß und die Fülle, d. h. das sich entfaltende Offenbaren des Wesens sich selbst unter das Gesetz des Einfachen bringt, will das Wollen sich selbst in seinem Wesen, ist Wille. Dieser Wille ist Wille zur Macht; denn Macht ist nicht Zwang und nicht Gewalt". Im Ausgang von diesem der Nietzscheschen Philosophie in der „Widerlegung und Auflösung einer durch Gewalt begründeten Macht", vgl. B. Taureck: Macht, und nicht Gewalt. Ein anderer Weg zum Verständnis Nietzsches, a. a. O., S. 41. M. Heidegger: Wer ist Nietzsches Zarathustra? in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 110. Vgl. M. Heidegger: Was heißt Denken? a.a.O., S. 33.
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somit des Politischen, so daß der Ansatzpunkt für eine Politische Philosophie im Nihilismus verdeckt wird 42 . Zweitens. Die metaphysische Abkopplung der Macht von der Gewalt mündet letztendlich in die Bestimmung der abendländischen Metaphysikgeschichte als Gewalt-Geschichte, wobei die Gewalt, wiederum dem Alltagsverständnis enthoben, als Fixierung einer bestimmten Denkweise verstanden wird. Die Gewalt der Einförmigkeit des Verhältnisses von Mensch und Welt zeigt sich auch im Willen zum Willen, der nur eine Richtung zuläßt, in der gewollt werden kann. Diese metaphysische Gewalt findet ihren gemäßen Vollzug darin, daß der Mensch als „animal rationale" definiert und damit zum arbeitenden Tier festgestellt wird. Das arbeitende Tier geht auf die Berechnung und die Einrichtung von allem zur unbedingt fortsetzbaren Sicherung seiner selbst. Die Entwurzelung des Menschen besteht aber gerade in der Autonomisierung der rechnenden Selbstsicherung, durch die er sich selbst in die Welt hineinobjektiviert hat. Die vollständige Immanentisierung und Automatisierung der aus dem Wesen des Willens entspringenden Bewegung, für welche der Name „die Technik" steht, kommt in der Definition des animal rationale zum Ausdruck, nicht nur deswegen, weil darin das Unten der Tierheit und das Über der ratio in ihrer Entsprechung unlöslich gekoppelt sind, sondern deswegen, weil aus dieser bedingungslosen Entsprechung eine unaufhaltsame Bewegung entsteht, die auf die Vernichtung der Welt hinausläuft. Von der Vorherrschaft der metaphysischen Leitfrage Platons in Gang gesetzt, reicht diese Gewaltgeschichte über die neuzeitliche Definition des animal rationale bis zu deren Vollendung im Willen zur Macht Nietzsches: „Der Übermensch ist die äußerste rationalitas in der Ermächtigung der animalitas, ist das animal rationale, das sich in der brutalitas vollendet"43. 42
43
Zur Kritik an Heideggers Nietzsche-Interpretation unter dem Standpunkt der gesellschaftlichen Implikation des Willens zur Macht, vgl. W. Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 1971; ders.: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60; ders.: Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, a. a. O., S. 132—177. W. Müller-Lauter, der als erster sich gegen Heideggers metaphysische Deutung absetzt, stellt den Bezug der Nietzscheschen Philosophie auf eine Gesellschaftstheorie her, indem er die konstitutive Bedeutung des Gegensatz- und Quantitätscharakters in den Blick bekommt. An dieser Deutungslinie anlehnend, weist Volker Gerhardt: Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation, in: Nietzsche-Studien 10/11 (198l/ 82), S. 193—209, auf die anthropologische Verfassung des Willens zur Macht hin. Vgl. auch Hermann Mörchen: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno, Stuttgart 1980, S. 54: „Daß Macht so hoch über den Niederungen des politischen Alltags und in extremster Ausweitung ihres Begriffs reflektiert wird, enthält unleugbare Gefahren". M. Heidegger: Nietzsche II, a.a.O., S. 23. Vgl. auch ders.: Überwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 90: „Der bedingungslosen Ermächtigung des Übermenschentums entspricht die völlige Befreiung des Untermenschentums. Der Trieb der Tierheit und die ratio der Menschheit werden identisch".
Rehabilitierung der Philosophie Nietzsches
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Durch die Transponierung der Gewalt vom Gesellschaftlichen auf das Geschichtliche erschließt Heidegger zwar die metaphysische Bewegungsstruktur der Technik, jedoch, indem er den Zugang zum Verständnis der beiden konstitutiven Begriffe des Willens zur Macht verschließt. Das Phänomen der Bewegung der Technik ist für Heidegger so überwältigend, daß er selber in eine denkerische Gegenbewegung gerät. So wie er den Nihilismus Nietzsches in einer Spannung zwischen Herkunft und Zukunft sieht, so ist auch sein Denken auf eine Bewegung ausgerichtet. Es geht ihm um die Verwandlung der Bewegung der Gewalt in die der Macht. Wenn die Entwurzelung des Menschen paradoxerweise durch die Beständigung der Ständigkeit des Funktionierens zustande kommt, gilt es die Technik in ihrer Bewegungsstruktur (Ge-wirk) zu erblicken und durch die Rückführung auf ihre metaphysische Grundlage das Wesen der Technik (Ge-stell) zu durchschauen, um schließlich die Zukunft des anderen Verhältnisses von Mensch und Welt ohne Gewalt und Herrschaft (Ge-viert) vorzubereiten. Diese Bewegungsstruktur: GewirkGestell-Geviert, läuft aber, auch wenn sie nur denkerisch auszulegen ist, um so mehr auf die Gefahr einer letzten Gewalt zwecks ihrer Beseitigung hinaus, je mehr sie Methode in Methodizität liquidiert. Das Fatale ist, daß angesichts der planetarischen Übermacht der Technik der Gedanke des „Weltgeschicks" zum Tragen kommt. Der seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus korrespondiert so die Verwandlung der Geschichte ins Geschick, das keinen Raum für das Politische enthält. Drittens. Die Konzeption von der Gewalt des Seienden und der Macht des Seins verhindert es, die Struktur der „Herrschaft" als solche zu problematisieren, und führt zur Auffassung der Politik als „Ausgestaltung der Wahrheit des Seins", welche dem menschlichen Geschehen enthoben und so absolut geworden ist44. Das Wesen der Politik ist in Heideggers Sicht das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit, das Zum-Stehen-Bringen des jeweils anderen epochalen Geschicks. Das Politische bestimmt sich primär und grundsätzlich aus dem Geschehen der Wahrheit, von dem der Mensch nur gestellt, beansprucht und herausgefordert ist. Die epochale Wahrheit unserer Weltzivilisation offenbart sich im Wesen der Technik, die der Mensch von sich aus nicht bewältigt. Politik ist dann im Horizont dieser Weltzivilisation das Hervorbringen dessen, was in der Technik am Werke ist, die Erlangung eines 44
Vgl. M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: Holzwege; Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt/M. 1977, S. 49. Im Rückgang auf die ursprünglich griechische Erfahrung, dergemäß zwischen poiemata (Werke) und pragmata (Taten) kein Unterschied besteht, erschließt Heidegger das Werk-sein, das die Wirklichkeit der Welt ausmacht, um schließlich seine Wesensherkunft zu erkunden. Die Wirklichkeit des Werkes bestimmt sich aber aus dem Geschehen der Wahrheit, denn „im Werk ist das Geschehen der Wahrheit am Werk", was nunmehr Philosophie (Denk-werk) und Politik (Staats-Werk) in ihrem Wesen verbindet.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
zureichenden Verhältnisses zum Wesen der Technik45. Die Politik im Zeitalter des Nihilismus besteht für Heidegger wesentlich in der Vorbereitung der Bereitschaft für das Wahrheitsgeschehen. Zugrunde liegt hier die nihilistische Hoffnung: „Nur noch ein Gott kann uns retten"46. Es ist offenkundig, daß das Politische, seinsgeschichtlich bestimmt, das Menschliche übersteigt. Erinnern wir uns aber Aristoteles' Bestimmung des Politischen als des Menschlichen, stellt dies eine Verstellung der Politischen Philosophie dar. Der Grund dafür liegt — zusammenfassend — in der Auflösung des Nihilismus in die Seinsgeschichte, der Liquidierung der genealogischen Methode in die Methodizität des Denkens und der Ausklammerung des Problems der Herrschaft. Welche politische Implikationen Heideggers Konzeption von der Wahrheit und der Seinsmacht auch haben mag, sie verfehlt das Politische und den Kern der Philosophie Nietzsches. An dieser Stelle muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß Nietzsche sowohl den Nihilismus als auch die Wahrheit vom Standpunkt der Herrschaft angeht und den Ursprung der Machterfahrung im menschlichen Subjekt sucht. Daher liegt es nahe, statt der metaphysischen Übersetzung der Formel des Willens zur Macht in die vom Willen zum Willen ihre konstitutiven Begriffe in ihrer Eigenart und Struktur zu erschließen.
§ 3. Nietzsches Stellung in der politischen Philosophie der Gegenwart
Die philosophisch-politische Wirkungsgeschichte Nietzsches im zwanzigsten Jahrhundert erscheint als Geschichte einer vermeintlichen „Überwindung" des verhängten Nihilismus. Sie geschah zum einen in der Politisierung des Nihilismus, die das Dritte Reich in der Nietzsche-Karikatur erprobte. Zum anderen vollzog sie sich mit der endgeschichtlichen These, daß sich in Nietzsche die gesamte Metaphysik des Abendlandes folgerichtig vollende. Diese sich einander entgegengesetzten Versuche scheinen nur darin eine Gemeinsamkeit zu besitzen, daß Nietzsches genuine Methode in die Methodizität — sei es in die permanente Revolution oder in die Weghaftigkeit des Denkens — aufgelöst wird. Als Wesentlicheres kommt dabei jedoch heraus, daß die mit Nietzsche als Ära des vollendeten Nihilismus diagnostizierte 45
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Daß der Ansatzpunkt für eine Politische Philosophie bei Heidegger in der Frage nach der Technik liegt, zeigt O. Pöggeler: Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg/München 1972, S. 45. Zu den politischen Implikationen von Heideggers Denken, vgl. A. Schwan: Politische Philosophie im Denken Heideggers, ders.: Martin Heidegger und Praktische Philosophie, Philos. Jahrbuch 81 (1974), und M. Blitz: Heidegger's Being and Time and the Possibility of Political Philosophy, Ithaca: Cornell University Press, 1981. Spiegel-Gespräch, a. a. O., S. 209.
Nietzsche in der politischen Philosophie der Gegenwart
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Moderne als solche nicht mehr hintergehbar ist und als Problem offen gehalten werden muß. Darüber hinaus ist auch die wesentliche Veschränkung von Nihilismus und Macht festzustellen. Darum verfehlt sowohl die Ausklammerung der Macht wie ihre Verabsolutierung das Wesen des Nihilismus. Der Ansatzpunkt für eine Politische Philosophie des Nihilismus liegt im Denken Nietzsches also in der Wesenszusammengehörigkeit von Nihilismus und Macht. Es handelt sich um die Grundfrage Nietzsches, welche in die Wesensmöglichkeit der Koinzidenz von Politik und Philosophie vordringt. Folglich muß gezeigt werden, daß der Fragenkomplex, den Nietzsche mit der Frage nach dem Wesen des Nihilismus angeht, nicht als irgendeine akzidentelle Problematik in sein Denken hereingebrochen ist, sondern eine kontinuierliche und systematische Dimension in seiner philosophischen Entwicklung darstellt. Nur aufgrund dieser Fragedimension sind Nietzsches dubiose Äußerungen zu politischen Themen in das Feld seiner philosophischen Positionen einzuordnen. Aber es ist eben die Radikalität, Ambiguität und Dubiosität der politischen Aussagen Nietzsches, die seinen genuinen Ansatz Politischer Philosophie verdeckt. So ist es kaum verwunderlich, wenn M. Warren bemerkt, „Nietzsche nimmt heute in der Geschichte des politischen Denkens einen unsicheren Platz ein"47. Trotz der akribischen Parteinahme für das politische Denken Nietzsches sind die meisten Versuche, es auf die Sphäre des Praktischen und des Politischen zu beziehen, nicht zufriedenstellend und gar unter dem Niveau der Kritik. Das Politische, dem Nietzsche auf den Grund zu gehen trachtet, wird zum einen durch erklärt „philosophische" Interpretationen unterlaufen, welche um so stärker den Zugang zur politischen Dimension seiner Philosophie beschneiden, je mehr sie sich auf ihre „Desinfizierung" ausrichten48. Nietzsches politische Äußerungen erscheinen darin nur als metaphorische Ausschmückung der wesentlich philosophischen Argumente. Im Kontrast zu dieser spiritualisierenden Deutung läßt aber auch die Akzentuierung der Politik Nietzsches, abgeschnitten von ihrem philosophischen Hintergrund, seine revolutionäre Einsicht der Wesenseinheit von Politik und Philosophie in das bloß historische Interesse versickern49. Diese zwiespältige forschungs47
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M. Warren: The Politics of Nietzsche's Philosophy: Nihilism, Culture and Power, in: Political Studies 33 (1985), S. 418-438, hier S. 418. Paradigmatisch für die entpolitisierende philosophische Nietzsche-Interpretation, Vgl. W. Kaufmann: Nietzsche, a. a. O. Dementsprechend beschränkt sich die jüngste Kritik gegen Kaufmanns Nietzschedeutung auf die fragwürdige Distinktion der „wahren" von der „bloßen" Macht; vgl. Walter H. Sokel: Political Uses and Abuses of Nietzsche in Walter Kaufmann's Image of Nietzsche, a. a. O., S. 436—441. Vgl. George H. Sabine: A History of Political Theory, London u.a. 1948, S. 632-635; Werner Dannhauser: Friedrich Nietzsche, in: L. Strauss u. J. Cropsey (Hrsg.): History of Political Philosophy, Rand McNally: Chicago 1963, S. 782-803; William Bluhm, Theories
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
geschichtliche Situation wird auch durch die jüngste thematische Herausarbeitung der politischen Problematik bei Nietzsche nicht verändert. Im Hinblick auf unsere Überlegung über die Möglichkeit der „Politischen Philosophie nach Nietzsche" tut man gut daran, zuerst das Augenmerk auf die vorgebrachten Einwände gegen das politische Denken Nietzsches zu richten, um sie dann unter dem Gesichtpunkt des Nihilismus zu betrachten. Im großen und ganzen sind zwei gemeinsame Einsprüche zu konstatieren, die sich durch die für die Thematik einschlägigen Literaturen hindurchziehen50: 1) Nietzsches Politik ist anti-demokratisch und deswegen für unsere Epoche abwegig; 2) Nietzsches Antidemokratie gründet sich auf einer „herrschafts"orientierten Legitimität, die die ideologische Verabsolutierung der Macht zur Folge hat. Es fallt ins Auge, daß das Problem der „Herrschaft" durch die ideologiekritischen Interpretationen in den Vordergrund rückt. Antidemokratie und Herrschaft sind ihrem Wesen nach deckungsgleich. Was nicht demokratisch ist, ist herrschaftsorientiert; was auf Herrschaft geht, ist anti-demokratisch. Unter diesem Standpunkt versuchen unter anderem G. G. Grau und O. Schutte unabhängig voneinander Nietzsche als Ideologen des Willens zur Herrschaft zu entlarven. Nietzsche ohne Masken sei „ein stark antidemokratischer Denker" und selber „der gefährlichste Parteimann", „der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt"51. Es wird nach der verkappten Ideologie gesucht, die sich in Nietzsches Ideologiekritik versteckt. Der Wille zur Macht sei Nietzsches absolut gesetzte Ideologie, die aus seiner Ideologiekritik folge; vom Kritiker der Moral und Religion, deren Willen zur Macht er desavouiert, sei er seinerseits zum Theoretiker und Dogmatiker der Herrschaft geworden. Mit seiner eigenen Theorie, welche den Willen zur Macht hinter dem ideologischen Anspruch aufdeckt, vollziehe Nietzsche den Umschlag vorn sublimiertcn in den realisierten Willen zur Macht, wobei sich der sublimierte Wille zur Macht auf „Selbstüberwindung" ausrichtet, während der realisierte Wille zur Macht auf „Überwindung anderer durch Macht" geht. Nietzsches Umschlag liegt nicht
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of the Political System, Englewood Cliffs, N.J., Prentice Hal, 1978, S. 473-96; Hasso Hofmann: Nietzsche, in: H. Maier, H. Rausch u. H. Denzer (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. II: Von Locke bis Max Weber, München 1979, S. 320-343. Vgl. Ofelia Schutte: Nietzsches Politik, in: ders.: Beyond Nihilism. Nietzsche Without Masks, The University of Chicago Press: Chicago and London 1984, 161 — 188, ursprünglich erschienen in: Journal of the Britisch Society for Phenomenology 14 (1983), S. 139—157; Gerd-Günther Grau: Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/N. Y. 1984; und Bryan S.Turner: Nietzsche, Weber and The devaluation of politics: the problem of state legitimacy, in: The Sociological Review 30 (1982), S. 367 — 91. O. Schutte, a. a. O., S. 166 und G. G. Grau, a. a. O., S. 329, wo Nietzsche mit seinem eigenen Spruch aus 298 als Demagoge seiner Ideologie entpuppt wird.
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in der Relativierung der Macht der Wahrheit, welche er bei seiner genealogischen Kritik des Christentums unternimmt, sondern erst in der Absolutsetzung der Wahrheit der Macht. So stellt sich heraus, daß Nietzsches Interpretation des Willens zur Macht als Herrschaft die Grundprämisse der Idee von der Überwindung der Moralität darstellt. Diese Vision des Willens zur Macht läßt sich auf der politischen Ebene in eine Legitimation des autoritären Herrschaftssystems übersetzen; die konsequente Diskreditierung der egalitären und universalen Ethik führt zur Rechtfertigung der Sklaverei und Ausbeutung und schließlich zur Auflösung der Ethik schlechthin: „The tendency to explain all human interaction in terms of the drive for domination leaves no room within the human sphere"52. Dies zeigt sich in der Bipolarisierung vom Starken und dem Schwachen, von männlich und weiblich. Mit seiner Philosophie des Willens zur Macht legt Nietzsche — das ist wohl der Kern der ideologiekritischen Nietzschekritik — nichts anderes als die Logik der patriarchalischen Herrschaft in ihrer Essenz dar. Bei dieser deutlichen Herausstellung der Selbstperversion des Willens zur Macht springen überraschenderweise zwei sehr wichtige Momente heraus, über die man bei der zukünftigen Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht wird hinweggehen können: Zum einen wird die konstitutive Gegensätzlichkeit von Geist und Macht als die Tiefenstruktur des Willens zur Macht herausgearbeitet, und zum anderen bildet das Problem der Macht die Kohärenz der Philosophie Nietzsches, der gegenüber der Stellenwert des Nachlasses von sekundärer Bedeutung ist. Diese Erkenntnis wird aber in dem Maße wieder verdeckt, in dem die beiden konstitutiven Momente des Willens zur Macht „absolut" auseinandergehalten bleiben. Hier ist das tief verwurzelte philosophische Vorurteil der „Dämonie der Macht" am Werk. Nietzsche will hingegen die Macht entmoralisieren, indem er den Menschen als Herrschaftswesen herausstellt. Herrschaft ist in Nietzsches Sicht das Band zwischen dem sublimierten und dem realisierten Willen zur Macht. Deswegen liegt es nahe, beim Problem der Herrschaft anzusetzen, um die doppeldeutige Struktur des Willens zur Macht in seiner Einheit herauszuarbeiten53. Extrapoliert man solche Feststellungen, so tut sich eine politische Dimension des Nihilismus auf, die Nietzsche im anthropologischen Gesamtentwurf seiner Konzeption des Menschen als Herrschaftswesens vorlegt. Der Mensch ist nämlich in doppelter Hinsicht ein Herrschaftswesen: Er ist von Natur auf Herrschaft ausgerichtet und weist auch nach innen ein Herrschaftsverhältnis auf. In der anthropologisch fundierten Herrschaftsstruktur stehen sich die nach innen 52 53
O.Schutte, a.a.O., S. 179. Vgl. Jin-Woo Lee: Nietzsche und die Postmetaphysik, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 422-431.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
gekehrte Macht und die äußere Macht über die anderen nicht als Alternativen gegenüber, sondern konstituieren sich wechselseitig. Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht dringt in das Wesen der Herrschaft vor, welche die konstitutive Bipolarität von Innen und Außen aufweist. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Auseinander-setzung von politischem Denken und Philosophie Nietzsches als ein Rückfall hinter seine Position, sofern sie im dualistischen Alternativdenken verfangen bleibt. Die Trennung von Politik und Philosophie rührt aus einer mangelhaften Einsicht in das Wesen des Nihilismus. Da „politische Philosophie nach Nietzsche" sowohl die philosophische Reflexion über das Politische im Zeitalter des Nihilismus zeitlich nach Nietzsches Diagnose des 20. Jahrhunderts als auch die Möglichkeit einer politischen Philosophie via Nietzsche bedeutet, muß jeder Versuch, Nietzsches Denken unter der Perspektive der politischen Philosophie zu betrachten, über das Problem des Nihilismus Rechenschaft ablegen. Die Politische Philosophie nach Nietzsche hat die Aufgabe, sich der epochalen Bedeutung seines Denkens für die Erörterung der nihilistischen Grundprobleme bewußt zu werden, um dann mit und durch Nietzsche über das Verhältnis von Politik und Philosophie kritisch nachzudenken. Je mehr unsere Zeit von den „Vernichtungen" wie Sinnlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung usw. geplagt wird, desto schwerer fällt die Aufgabe ins Gewicht, eine politische Philosophie des Nihilismus zu gründen. Trotz der einschneidenden Bedeutung des Denkens Nietzsches für die Grundlegung der politischen Philosophie ist jedoch das Fehlen einer eigenen Untersuchung darüber zu konstatieren54. Während Politische Philosophie im deutschsprachigen Raum auf die Historisierung ihrer selbst hinausläuft und die philosophische Reflexion über das Politische nur am Rande erfolgt, hat sich im angelsächsischen Raum die Tendenz, das Verhältnis von Politik und Philosophie unter der Perspektive des Nihilismus neu zu bestimmen, durchgesetzt55. Vielleicht wird man ein54
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Kenn2eichnend für die mangelnde Auseinandersetzung mit Nietzsche unter dem Standpunkt der Politischen Philosophie steht im deutschsprachigen Raum Klaus Hartmann: Politische Philosophie, Freiburg 1981, wo Nietzsche nur im Zusammenhang seines politischen Ästhetizismus erwähnt wird. Vgl. Mark Warren: The Politics of Nietzsche's Philosophy: Nihilism, Culture and Power, in: Political Studies (1985), XXXIII, S. 418-438; ders.: Nietzsche and Political Philosophy, in: Political Theory, Vol. 13, No. 2, May 1985, S. 183-212; Warren arbeitet den Ansatz der Politik der Philosophie Nietzsches heraus, im Gegensatz zur philosophischen Würdigung des Denkens Nietzsches, die jedoch auf die Entpolitisierung seiner genuin politischen Philosophie hinausläuft. Zur Untersuchung einer solchen Thematik, vgl. H. Kariel: Nietzsches Preface to Constitutionalism, in: Journal of Politics 25 (May 1963), S. 211—225, in verbesserter Fassung wieder abgedruckt in: ders.: In Search of Authority, Free Press: . . 1964, 7.24; Tracy Strong: Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, Berkeley: University of California Press, 1975; Robert Eden: Bad Conscience for a Nietzschean Age;
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wenden, daß durch die historische Erfahrung der merkwürdigen Symbiose von Politik und Philosophie im Nationalsozialismus hierzulande die Diskussion über das Politische etwas gehemmt sei. So sehr dies zutreffend sein mag, liegt jedoch das Grundproblem der Politischen Philosophie tiefer: Einerseits nämlich ist heute unklar, welcher Fragen und Problemstellungen sie sich überhaupt annehmen soll; im Gefolge des Aufkommens der positivistischen Politikwissenschaft hat die zeitgenössische Philosophie das Nachdenken über das Politische den Politologen und Soziologen überlassen. Andererseits beharrt die politische Theorie der Gegenwart auf der Selbstverständlichkeit und Gegebenheit menschlicher Handlungen, die Nietzsche gerade in Frage stellt. In seiner Sicht ist z. B. die Rationalität als Vermögen zu handeln nicht universal gegeben; angesichts einer mangelnden Instanz der allgemeinen Verbindlichkeit gilt es, gerade die Bedingungen für humane Praxis zu setzen. Es handelt sich um die Gründung eines Grundes, von dem aus humane Praxis ihre Entfaltungsmöglichkeit und Legitimation erhält. Die Divergenz über den Gegenstand politischer Philosophie hängt wesensmäßig mit dem Verlust des überlieferten Orientierungsgrundes, d. h. mit der Erfahrung des „Nichts" eng zusammen. Mit anderen Worten: Die philosophische Bestimmung des Politischen kann man erst und ausschließlich durch die Frage nach dem Wesen des Nihilismus erreichen. Darin ist auch Nietzsches Größe und Aktualität für die Grundlegung einer politischen Philosophie begründet. Schließlich ist noch darauf zu verweisen, daß der geistlose Positivismusstreit, der den wissenschaftlichen Diskurs bis in die Gegenwart hinein prägt, Nietzsches bahnbrechende Einsicht in das Wesen des Nihilismus in Vergessenheit geraten läßt oder sie zumindest durch die Fortsetzung einer Unterscheidung zwischen Werten und Tatsachen auf die erkenntnistheoretische Ebene beschränkt56. So kommt es, daß die Würdigung des Denkens Nietzsches innerhalb der politischen Theorie mit der aufkommenden Selbstkritik des Positivismus im allgemeinen und des Behaviorismus im besonderen einsetzt. Schon Anfang der 50er Jahre zeichnete sich in den positivistischen Politikwissenschaften eine Krise ab, die sich im Diktum von Peter Leslett widerspiegelt: „The tradition has been broken and our assumption is misplaced, unless it's looked on as a belief in the possibility that the tradition is about to be resumed. For the moment, anyway, political philosophy is dead"57. Die zeitdiagnostische
56
57
Weber's Calling for Science, Review of Politics 45 (1983), S. 366-392; ders.: Political Leadership & Nihilism. A Study of Weber & Nietzsche, Gainesville: University of Florida Press, 1984. Vgl. J. Habermas: Nachwort, in: Friedrich Nietzsche: Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/M. 1968, S. 237-261. Peter Laslett: Introduction, in: Ders. (Hrsg.): Philosophy, Politics and Society, New York 1956. Vgl. auch Alfred Cobbane: The Decline of Political Theory, in: Political Science Quarterly, LXVIII (September, 1953), S. 321-337; David Easton: The Decline of Modern Political Theory, in: Journal of Politics, 13 (February, 1951), S. 36-58; und Robert Dahl: Political Theory, in: World Politics XI (October, 1958), S. 89-102.
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Nietzsche zwischen Politik und Philosophie
These vom Tod der Politischen Philosophie gründet sich aber in der Destruktion der positivistischen Grundannahme, daß objektives Wissen über die politischen Dinge durch die Methodologie der modernen Wissenschaft erlangbar sei. Was sich im Untergang befindet, ist in Wirklichkeit die behavioristische Politische Wissenschaft, nicht die Politische Philosophie. Wie D. Easton, ein entschiedener Vertreter der Verwissenschaftlichung, sagt, ist es der „Historismus", der den Tod der Political Theory herbeigeführt haben soll. Dem behavioristischen Positivismus ist der Historismus mit seiner Hypothese frontal entgegengetreten, daß die Natur bzw. Realität vom menschlichen Geist nicht faßbar sei. Solange die Kontroverse „Positivismus versus Historismus", bezogen auf die Grundannahme über die Natur humanen Wissens, nur erkenntnistheoretisch ausgetragen wird, kann sie bloß eine Kultur der Alternative erzeugen, so wie der antibehavioristische Protest eine neue Revolution der politischen Wissenschaft hervorgebracht hat58. Diese Wende hängt auch mit einem Paradigmenwechsel in der Politischen Theorie zusammen, der von der Revolution der Wissenschaftstheorie durch Thomas S. Kühn und Paul Feyerabend in Gang gesetzt wurde59. Das vorher erwähnte Diktum Peter Lasletts vom Tod der Political Philosophy besagt vor diesem Hintergrund, daß das lange herrschende Science Model der Politikwissenschaft sich mit seinem Programm rigoroser Verwissenschaftlichung in Analogie zu den naturwissenschaftlichen Methoden zu Tode gesiegt hat. Am Ende dieses Szientifizierungsprozesses scheint Politikwissenschaft ihre Existenzberechtigung nur in der „Policy Analysis" zu haben, in der das Menschliche, das der ursprüngliche Gegenstand der „episteme politike" war, in Zahlen untergeht. Es ist wirklich paradox, daß derjenige Prozeß der Objektivation des menschlichen Subjekts, der im Zusammenhang mit der Setzung des Menschlichen an die Stelle des Göttlichen beginnt und vom Glauben an die totale Befreiung der Menschheit durch die Anthropologisierung des Weltverständnisses begleitet und forciert ist, gerade das Menschliche aufzuheben droht. Nietzsche war es, der diesem Prozeß der Dehumanisierung des Menschen durch die Humanisierung der Welt und Natur — diesbezüglich spricht man seit Adorno und Horkheimer von der „Dialektik der Aufklärung" — radikal auf den Grund gegangen ist. Nietzsche hat den erkenntnistheoretischen 58
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David Easton: The New Revolution in Political Science, in: American Political Science Review, 63 (December, 1969), S. 1051-1061, wieder abgedruckt in: ders.: The Political System, N.Y. 1971, S. 323—348. In der Ankündigung der „post-behavioral revolution" bekundet sich, daß das Science Model nicht mehr ausschließliche Ansprüche gegenüber einer „philosophisch" orientierten politischen Theorie erheben kann. Vgl. Thomas S. Kühn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolution, Frankfurt/M. 1981; die englische Originalausgabe „The Structure of Scientific Revolutions" ist im Jahr 1962 erschienen.
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Relativismus nicht nur nicht herbeigeführt, er hat ihn vielmehr derart konsequent radikalisiert, daß es zum Durchbruch durch die anthropozentrische Stellung des Menschen und zum Aufbruch eines neuen Verstehenshorizontes kommt. Nietzsche geht es weniger um die Substitution des subjektivistischen Monismus durch einen Relativismus, der durch die scheinbare Anerkennung des je einzelnen in seiner Individualität doch nur dessen Destruktion zur Folge hat, sondern ihm geht es einzig und allein um die Grundlegung eines „anderen" Grundes, von dem aus das Selbst- und Weltverständnis des Menschen möglich ist. In diesem Kontext soll die innere Koinzidenz und Kohärenz des Nihilismus und der Philosophie des Willens zur Macht gedacht werden. Das Denken der Alternative, das sich im Streit „Positivismus contra Historismus" niederschlägt, ist dann nur ein „erkenntnistheoretisch halbierter Nihilismus". Nietzsches Denken „des Anderen" hingegen geht auf die Schaffung einer neuen Kultur, in der die Einheit von Fühlen, Denken und Handeln „anders" gewährleistet wird. Diese Tiefe und Größe der Philosophie Nietzsches ist der Grund für die Renaissance der Politischen Philosophie im angloamerikanischen Kulturkreis60. Der Name Nietzsches steht für das gesamte Unternehmen einer Rehabilitierung einer Politischen Philosophie, die als ein substantieller, nicht auf formal-sprachkritische Exerzitien sich beschränkender Theorietyp darauf ausgerichtet ist, das Menschliche bzw. das Politische in der strukturell völlig veränderten Industriegesellschaft neu zu durchdenken. Wenn der Historismus eine potente, alle Lebensbereiche durchherrschende Kraft ist, können wir nicht umhin, die historisch gewordene Vernunft herauszuarbeiten, zu analysieren und neu zu begründen, statt sie oppositionell in Frage zu stellen. Auf das Politische übertragen heißt dies, durch den Nihilismus hindurch das Verhältnis von Politik und Philosophie neu zu bestimmen, wobei dieses Verhältnis sich nicht von „der" einen allgemeinen Vernunft festlegen läßt, sondern sich erst durch eine andere Umgrenzung der Vernunft konstituiert. Im ganzen ist es darum richtig, mit Richard Ashcraft von den „Changing Foundations of Contemporary Political Theory" zu sprechen61. In diesem Zusammenhang sind insbesondere drei Ansätze zu erwähnen, in denen versucht wird, im Sinne Nietzsches eine Grundlage für die Politische Philosophie des Nihilismus zu schaffen. 60
61
Einen aufschlußreichen Überblick über Nietzsches Stellung in der Postbehaviorismus-Debatte im Bereich der politischen Theorie bietet Eugene F. Miller: Positivism. Historism, and Political Inquiry, in: The American Political Science Review, LXVI (September, 1972), S. 796—817; vgl. ferner Dante Germino: The Revival of Political Theory, in: The Journal of Politics, 25 (August, 1963), S. 437-460. Richard Ashcraft: The Changing Foundations of Contemporary Political Philosophy, in: Maurice Zeitlin (Hrsg.): Political Power and Social Theory, Vol. 6.
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Die erste Position läßt sich mit Henry Kariel wie folgt umschreiben: Nietzsche begründet und vollendet einen postmodernen Konstitutionalismus, indem er aufzeigt, daß es im Prinzip unmöglich ist, mit Gewißheit festzustellen, was gut und gerecht für den Menschen im allgemeinen ist62. Nietzsches Konstitutionalismus gründet sich darauf, daß nach dem Zusammenbruch der ideologischen Weltordnung nunmehr den Individuen inkommensurable Dignität und Authentizität zugeschrieben wird und daher nur die Autorität derjenigen politischen Ordnung gerechtfertigt wird, welche einen freien Raum für die individuelle Entfaltungsmöglichkeit ihrer Mitglieder gewährt. Die Postmodernität des Konstitutionalismus Nietzsches zeigt sich daran, daß die Spannung des „doppelten Staates" zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, welche Kontraktualisten wie Hobbes, Locke und Rousseau mit der Konstruktion des Staates durch den Sozialvertrag zu lösen trachteten, deutlicher elaboriert und intensiviert wird. Die Unlösbarkeit jener Spannung zwischen der privaten Ordnung und der öffentlichen Interessensicherung ist eng mit der Unmöglichkeit des finalen Wissens über das Gute und Gerechte gekoppelt. Darin gründet sich, dies betont H. Kariel mit größter Entschiedenheit, die Legitimationsmöglichkeit eines Regimes ohne Ideologie. Denn die Anerkennung der Individuen in ihrer Eigenart und Einmaligkeit steht im fundamentalen Widerspruch zur Absolutsetzung irgendeiner Wahrheit, nämlich zur Ideologie, die das öffentliche Mitsein eher gefährdet als fördert. Der Moderne, die auf dem Prinzip der Selbsterhaltung durch das künstliche Regime der Wahrheit basiert, stellt H. Kariel Nietzsches Postmodernismus entgegen, dem das Prinzip der Selbstverwirklichung zugrundeliegt. Die Bedingung der Möglichkeit des Selbstvollzuges ist aber die Einsicht in die paradoxe Struktur humanen Daseins, welche darin besteht, daß man die jeweils zum Zweck der Lebenserhaltung absolut gesetzte Wahrheit je nach dem Lebenszusammenhang relativieren muß. Die Autorität des jeweiligen politischen Regimes leitet sich einzig und allein von der tragischen Erkenntnis der Absurdität und Sinnlosigkeit humaner Existenz ab. Angesichts dieser nihilistischen Voraussetzung, daß Nichts ist, kommt das Bild vom Übermenschen als eine neue Form der Führerschaft, die in der Lage ist, das öffentliche Leben als einen ziellosen Prozeß aufrechtzuerhalten, zum Tragen. Das Private und das Öffentliche kommen so in einem zwecklosen Prozeß zusammen, der sich ewig schafft und zerstört. Während traditionelle Moralität den Verstehenshorizont verschließt, indem sie dem öffentlichen Leben ein Ziel setzt, 62
Henry Kariel: In Search of Authority, a.a.O., S. 5; vgl. insbesondere ders.: Nietzsches Preface to Constitutionalism, in: Journal of Politics, 25 (May, 1963), S. 211—225; ders.: Open Systems, Itasca, III.: Peacock, 1969; ders.: Expanding the Political Present, in: American Political Science Review, 63 (September, 1969), S. 768 — 776; und ders.: Creation Political Reality, in: American Political Science Review, 64 (December, 1970), S. 1088-1098.
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verlangt die neue Moralität, den Horizont derart zu erschließen und offenzuhalten, daß sich das Ziel humanen Handelns erst durch den Prozeß der Sinnerschließung konstituiert. In ihrer Intention, die Kreativität zu demokratisieren, verkörpert H. Kariels politische Theorie einen bewußt durchgeführten Relativismus63. So schön und überzeugend die Konzeption des postmodernen Konstitutionalismus a la Kariel ist, so groß ist auch die Tendenz zu einer bloß utopischen Vision, wenn sie nicht aufzeigt, „wie" die Sinngebung des Sinnlosen geschieht. Der zweite Ansatz konzentriert sich darum auf das Problem, „wie die humane Tat in einer historischen Welt möglich ist"64. Im Ausgang von dieser Frage versucht M. Warren eine „kritische Ontologie der Praxis" aus Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht herauszuarbeiten. Damit bringt M. Warren zum einen die methodische Kohärenz der Nietzscheschen Analyse des Nihilismus in Anschlag; zum anderen stellt er Nietzsches philosophische Radikalität, die in einem Perspektivenwandel des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen besteht, in Rechnung. Der Grundgedanke ist, daß der Nihilismus die Unfähigkeit des Individuums, als Macht zu handeln, anzeigt. Da sich der Nihilismus in einer Divergenz zwischen der erfahrenen und der interpretierten Welt manifestiert, geht es in der Philosophie des Willens zur Macht darum, die Einheit von Erfahrung und Reflexion auf einem anderen „Grund" zu schaffen. Insofern dieser andere Grund offenbar Nietzsches „Ontologie der Praxis" konstituiert, stellt sich die Frage, ob er von der abendländischen Tradition des Grunddenkens gelöst oder noch mit ihr verbunden ist. Um das Problem zu pointieren, können wir diese Frage wie folgt umformulieren: Was ist der von Nietzsche gestellte Grund, von dem aus er den metaphysischen Rationalismus desavouiert und zugleich die Legitimation humaner Praxis ableitet? Allein von der möglichen Antwort dieser Frage hängt es ab, ob wir von der Metaphysik Nietzsches oder seiner „nicht-metaphysischen" Ontologie sprechen können. Ein Indiz dafür, daß M. Warren sich der Gegensätzlichkeit der Philosophie Nietzsches, die in der Intensivierung des metaphysischen Grunddenkens um dessen Überwindung willen besteht, nicht bewußt ist, liefert sein Vorwurf gegen Nietzsches Fehleinschätzung der modernen Gesellschaft. M. Warren argumentiert, daß Nietzsches Ignoranz gegenüber den modernen Mechanismen sozialer und politischer Macht zu einer verhängnisvollen Transformierung des Willens zur 63
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Vgl. H. Kariel: Open Systems, a. a. O., S. 73, wo Demokratie als eine Gesellschaft verstanden wird, deren Mitglieder alle aktive Teilnehmer an einem zwecklosen Prozeß sind. M. Warren: The Politics of Nietzsches Philosophy: Nihilism, Culture and Power, a.a.O., S. 418.
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Macht in bloße Herrschaft geführt hat65. Hier könnte man kritisch fragen, ob M. Warren mit seiner Frage nach den spezifisch modernen Ursachen des Nihilismus nicht selbst der Nabelschau der Moderne verfallen ist. Denn das Kausaldenken ist nach Nietzsche gerade die „Ursache" des europäischen Nihilismus. Wesentlich ist daher die Frage, woher Nietzsche den Maßstab für seine Metaphysikkritik nimmt. Obwohl Nietzsches kritisches Unternehmen der Umwertung aller Werte die Maske der Antimetaphysik trägt, ist es unumgänglich, seine Antimetaphysik „metaphysisch" zu durchleuchten, d. h. seinen Antiplatonismus in Berührung mit dem Ursprungsgeschehen der abendländischen Metaphysik zu bringen, damit das Woher seiner Metaphysikkritik sichtbar wird. Damit kommen wir zum dritten Strang der Versuche, den Nihilismus auf die politische Philosophie zu beziehen. Gemeint ist hier das politische Denken der beiden deutschen Emigranten, Leo Strauss und Eric Voegelin, um die sich in den USA eigene Schulen gebildet haben66. Ausgehend von der Überzeugung, daß es keine Politische Philosophie ohne Metaphysik gibt, streben sie an, die klassische politische Philosophie auf dem Boden des Nihilismus zu rehabilitieren. Dies geschieht durch Nietzsche hindurch, aber schließlich gegen ihn. E. Voegelin mißt Nietzsche zwar revolutionäre Erkenntnis und Diagnose des Nihilismus bei und behauptet gar mit großer Entschiedenheit, daß jedwede Reflexion über das Politische nicht an Nietzsche vorbeigehen kann, aber er wirft Nietzsche eine „Entartung des Platonismus" vor67. Daß Voegelins Philosophie des Bewußtseins, die nunmehr an die Stelle der Geschichte der politischen Ideen tritt, noch vom Geist Nietzsches zehrt, zeigt der Titel seines Hauptwerkes „Order and History". Ordnung ist der Grundbegriff der klassischen politischen Philosophie; Geschichte ist die universale Signatur der Moderne. Das synthetische „Und" von „Order and History" ist ein Weg durch Nietzsches Nihilismus hindurch zum Ursprung 65
66
67
Zwei fundamentale Organisationen sozialen und politischen Lebens in der modernen Gesellschaft, welche Nietzsche verkannt haben soll, sind Markt und Bürokratie; siehe M. Warren, ebda., S. 208. Zum Einfluß von L. Strauss und E. Voegelin auf die politische Theorie im angloamerikanischen Sprachraum, siehe Eugene F. Miller: Positivism, Historicism, and Political Inquiry, a.a.O., S. 811 f. Vgl. Ellis Sandoz: The Philosophical Science of Politics Beyond Behavioralism, in: George J. Graham u. George W. Carey (Hrsg.): The Post-Behavioral Era, N. .: David Mckay, 1072, S. 285-305. Vgl. E.Voegelin: Nietzsche, The Crisis and the War, in: The Journal of Politics, Vol.6 (1944), S. 177 — 212, hier S. 201f. Zu Voegelins Auseinandersetzung mit Nietzsche, vgl. insbesondere E. Voegelin: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München: Kösel, 1959; ders.: Die neue Wissenschaft der Politik, München 1966; und ferner ders.: Order and History, Bd. 1: Israel and Revelation; Bd. 2: The World of the Polis; Bd. 3: Plato and Aristotle, Baton Rouge and London: Lousiana State University Press, 1956 — 1957; Bd. 4: The Ecumenic Age, 1974; Bd. 5: In Search of Order, 1987.
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der episteme politike, wobei sich diese selbst verwandelt. Daher ist Voegelins „neue Wissenschaft der Politik" mehr als eine bloße Restauration der platonisch-aristotelischen Politik, sie ist eine Philosophie des Bewußtsein, welche, aus der Konsequenz des Nihilismus entsprungen, die Aufgabe hat, sich selbst zu ordnen und sich der Ordnung bewußt zu werden. Politische Philosophie des Nihilismus ist nach Voegelin eine Philosophie des Bewußtseins von Ordnung in der Geschichte, somit also eine Geschichtsphilosophie: „Die Existenz des Menschen in politischer Gesellschaft ist geschichtliche Existenz. Eine Theorie der Politik, wenn sie zu den Prinzipien vorstößt, muß zu einer Theorie der Geschichte werden"68. Der sich gegenseitig konstituierende Zusammenhang von Politik und Philosophie liegt darin, daß die Ordnung des Bewußtseins zugleich das Bewußtsein der Ordnung ist, die sich in der Geschichte repräsentiert. Der Grundsatz seiner Geschichtsphilosophie lautet: „Ewiges Sein verwirklicht sich in der Zeit"69. Dieser Grundsatz der Geschichte scheint auf dem ersten Blick in unmittelbarer Konfrontation zu Nietzsches Philosophie des „Werdens" zu stehen. Bei näherer Betrachtung — ohne die Projektion des dualistischen Modells von Sein und Werden — erweist sich jedoch Voegelins Geschichtsphilosophie als eine platonisch-metaphysische Transformation des Nihilismus. Denn er stellt die Endlichkeit und Verfaßtheit menschlichen Daseins in der Welt in Rechnung, indem er zeigt, daß die Repräsentation des Ganzen in der Zeit jeweils nur als eine Präsentation des Menschen und der Gesellschaft erfahren wird. Geschichte bezieht sich wesentlich auf das Grundgeschehen zwischen Mensch und Gott, ist ein der Repräsentation des Ewigen und der Präsentation des Endlichen. Durch Nietzsche hindurch ist E. Voegelin entschlossen, dem Sein den Charakter des Werdens aufzuprägen. Dabei geht er aus von einer ursprünglichen Existenzerfahrung, die er 1950 im Vorwort zu „Order and History" wie folgt formuliert: „the movement towards truth starts from man's awareness of his existence in untruth"70. Voegelins Argument gegen Nietzsche ist aber, daß er mangels einer transzendentalen Idee und ohne Vertrauen in die soziale Substanz der desperaten Revolte gegen Gott verfallen ist. Der entscheidende Gesichtspunkt für Voegelins Beurteilung der politischen Dimension Nietzsches ist seine radikalere Diagnose der Moderne als „Gnostizismus". Das Wesen der Modernität ist in Voegelins Sicht „Gnosis", in der es darum geht, „die als unvollkommen und ungerecht erfahrene Seinsordnung zu zerstören und durch eine vollkommene und gerechte Ordnung aus menschlicher Schöpferkraft zu ersetzen"71. Es 68 69 70 71
E.Voegelin: E.Voegelin: E. Voegelin: E. Voegelin:
Die neue Wissenschaft der Politik, a.a.O., S. 17. Anamnesis, a.a.O., S. 254. Order and History, I, a. a. O., S. xiv. Wissenschaft, Politik und Gnosis, a.a.O., S. 65.
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handelt sich um die Übernahme des Seins in die Verfügungsgewalt des Menschen, welche den Gottesmord erfordert. So liegt es auf der Hand, daß E. Voegelin zum Urteil kommt, Nietzsche sei ein spekulativer Gnostiker, dessen Übermensch der Mensch ist, der sich selbst zum Gott macht. Da nach seiner Ansicht auf das deiddium schließlich das komicidium folgt, versucht Voegelin durch Nietzsche hindurch, das Menschliche wie das Göttliche im Zeitalter der totalen Machbarkeit zu retten. Die Frage, ob Voegelins Urteil der Philosophie Nietzsches gerecht geworden ist, bleibt dahingestellt; wir wollen nur abschließend festhalten, daß wir uns dem „Problem der Seinsordnung und der Ewigkeit" stellen müssen, wenn wir über das Politische im Nihilismus reflektieren. Während E. Voegelin das Denken Nietzsches als konsequenten Gnostizismus brandmarkt, konzentriert sich L. Strauss auf das Problem des Relativismus, indem er Nietzsches These von der Insuffizienz eines Denkens, das nach überindividuellen und überzeitlichen Konstanten fragt, teilt72. Die mit dem Relativismus gemeinte Sache hat nach Strauss eine lange Geschichte, die für ihn mit dem Zusammenbruch der Naturrechtsidee zusammenhängt: „Die gegenwärtige Ablehnung des Naturrechts führt nicht nur zum Nihilismus, nein, sie ist identisch mit Nihilismus"73. Vor diesem Hintergrund läßt sich das Denken von Strauss auf eine Formel bringen: „Naturrecht und Geschichte". Zuerst geht es darum, das Wesen des modernen Relativismus durch die Kontrastierung von Natur und Geschichte aufzudecken. Die klassische politische Philosophie geht darauf, daß in der Polis die Natur des Menschen zu ihrer Verwirklichung kommt. Die Entdeckung der Natur ist identisch mit der Aktualisierung einer menschlichen Möglichkeit, welche durch ihre Korrespondenz mit der das Hier und Jetzt transzendierenden Seinsordnung „transhistorisch, transsozial, transmoralisch und transreligiös" ist74. Hingegen bedeutet die Entdeckung der Geschichte die Befreiung des Menschlichen von der über es hinausgehenden Seinsordnung. Das von Natur Rechte steht so in Gegensatz zu dem, was bloß menschlich und allzumenschlich ist. Die 72
73 74
Vgl. L. Strauss: Note on the Plan of Nietzsche's Beyond Good and Evil, in: Interpretation, Vol. 3, 1973, S. 97-113 (wieder abgedruckt in: ders.: Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago/London 1983, S. 174-191); ders.: What is Political Philosophy? (1959), N.Y.: The Free Press, 1973; ders.: Relativism, in: H. Shoeck u. J.W. Wiggins (Hrsg.): Relativism and the Study of Man, Princeton: Van Nostrand, 1961, S, 135 — 157; ders.: Naturrecht und Geschichte, Frankfurt/M. 1977. Auf die Affinität des politischen Denkens von Strauss mit der Philosophie Nietzsches verweisen insbesondere S. E. Drury: The Esoteric Philosophy of Leo Strauss, in: Political Theory, Vol. 13, 1985, S. 315 — 337, wo sogar behauptet wird, daß Strauss' politische Philosophie Nietzsche näher steht als Platon; und auch Thomas Pangle: Introduction, in: L. Strauss: Studies in Platonic Political Philosophy, a.a.O., S. 1—26. L. Strauss: Naturrecht und Geschichte, a.a.O., S. 5. Ebda., S. 91.
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Emanzipation des Menschen vom Natürlichen hat sich nach Strauss wesentlich in den „Drei Wellen der Modernität" vollzogen: Machiavellis Destruktion der Teleologie zum Zweck der Realisierung des Rechten, die Bipolarisierung vom allgemeinen Willen (Geschichte) und dem Existenzgefühl (Natur) bei Rousseau, und die Radikalisierung des Historismus bei Nietzsche75. Wesentlich ist dabei, daß der von Machiavelli inaugurierten Moderne der Gedanke der Verformbarkeit und Perfektibilität des Menschen zugrunde liegt. Mit der Absicht, den Menschen in „dieser Welt" vollkommen heimisch zu machen, entwertet der Historismus allgemeine Prinzipien zugunsten der historischen; aber da er gleichzeitig die Grundlage für die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Entscheidung zerstört, kulminiert der Historismus im Nihilismus: „Der Versuch, den Menschen in dieser Welt vollkommen heimisch zu machen, endete damit, daß der Mensch gänzlich heimatlos wurde"76. Den Ausweg aus diesem Dilemma der Moderne glaubt L. Strauss im „radikalen Historismus" Nietzsches finden zu können. Denn Nietzsches Einsicht ist, „daß das Denken, das sich einsetzt oder .historisch' ist, sich nur einem anderen Denken enthüllt, das sich selbst auch einsetze oder ,historisch' ist, und daß sich vor allem nur dem sich einsetzenden oder ,historischen' Denken der wahre Sinn der .Geschichtlichkeit' alles echten Denkens erschließt"77. Die unwiderrufliche Einsicht in den geschichtlichen Charakter transzendiert die Geschichte, oder anders gesagt, das Transhistorische der Geschichte ist ihre Geschichtlichkeit selbst. Nietzsches Entdeckung der Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens ist im wesentlichen identisch mit der Legitimation des sokratischen Sinnes im Nihilismus; d. h. Philosophie als das Wissen, daß man nicht weiß, ist die tragische Einsicht, daß die jeweils historische Grundlegung, innerhalb deren sich das Verstehen und Erkennen abspielt, doch vom transhistorischen Ganzen abhängig ist. Es handelt sich um das Problem der unlösbaren Spannung zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Athen und Jerusalem, zwischen Mensch und Gott. In der Erkenntnis dieser Probleme als Probleme befreit sich der menschliche Geist selbst aus seinen historischen Beschränkungen; es ist Nietzsches Denken des „Jenseits von Gut und Böse", wobei das Jenseits im Sinne des platonischen epekeina über die Geschichte hinausgeht. Dies bedeute, auf das Politische bezogen, jeweils einen Maßstab für die Praxis aufzustellen, ohne aber in den bodenlosen Relativismus abzugleiten. Dies ist nach Strauss nur durch die Anerkennung der Natur möglich, die bestimmt, was zu tun und was zu lassen ist. Daß 75
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Vgl. L. Strauss: The Three Waves of Modernity, in: ders.: Political Philosophy. Six Essays, hrsg. v. Hilail Gilrin, Indianapolis/N. Y. 1975, S. 81-98. L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, a.a.O., S. 19. Ebda., S. 29.
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Nietzsche durch seine Radikalisierung des Historismus das Denken der Natur rehabilitiert hat, zeigt L. Strauss mit einer Formel: „Die vornehme Natur ersetzt die göttliche Natur"78. Bei seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche zeigt sich klar, daß die Grundlegung einer Politischen Philosophie des Nihilismus von der Möglichkeit einer theoretischen Metaphysik und der philosophischen Ethik abhängt. Erstaunlich bleibt, daß der konsequente Weg durch den Nihilismus hindurch in den Grund der „platonischen" Philosophie hineinführt. Daß Nietzsche trotz seines erklärten Antiplatonismus ein Platoniker par excellence ist, zeigt sich daran, daß die Einheit und Kohärenz der postum veröffentlichten Aufsatzsammlung mit dem Titel „Studies in Platonic Political Philosophy" durch den Bogen Platon-Nietzsche gewährleistet wird. Platon und sein moderner Widersacher Nietzsche: Diese dürfen keinesfalls als Alternativ-Lösung verstanden werden, deren Vorherrschaft gerade die Konsequenz der Moderne ist79. Sie lassen sich eher als konstitutive Bipolarität verstehen, die der „Philosophie" selbst eigen ist. Das heißt: Um die Wahrheit des Historismus zu begreifen, müssen wir das Problem des Historismus für jeden praktischen Zweck zunächst vom Standpunkt der klassischen Philosophie aus erwägen, welche nicht-historisches Denken in seiner reinen Form ist. Auf Grund der Not-Wendigkeit eines geordneten, Interessen ausgleichenden Zusammenlebens tut es not, das Problem des Nihilismus als solches zu erkennen — dies kann nur „durch Nietzsche hindurch" geschehen. Bevor wir uns dieser Aufgabe stellen, erinnern wir uns noch an die eingangs erwähnte Feststellung, daß Nietzsche ein moderner Machiavellist ist. Wenn der von Nietzsche zum ersten Mal philosophisch problematisierte Nihilismus mit dem Zusammenbruch der ideologischen Sicht von Natur und Ordnung identisch ist, sehen wir schon bei Machiavelli diesen nihilistischen Vorgang, der sich in der Revolution von der Partizipationsvernunft zur Setzungsvernunft niederschlägt. Nietzsche vertritt insofern den konsequenten Machiavellismus, als er die Konstruktion jener Setzungsvernunft als Fiktion demaskiert. Gilt Machiavelli als Begründer der modernen politischen Philosophie, stellt sich die Frage, ob der radikale Machiavellismus Nietzsches auch sie in Frage stellt, und in welcher Hinsicht und Spannweite Nietzsche einen neuen Grund für die politische Philosophie des Nihilismus legt. Diese Frage 78 79
L. Strauss: Note on the Plan of Nietzsche's Beyond Good and Evil, a. a. O., S. 191. Vgl. L. Strauss: Naturrecht und Geschichte, a.a.O., S. 8, weist auf „einen grundsätzlichen, typisch modernen Dualismus einer nicht-teleologischen Naturwissenschaft und einer teleologischen Wissenschaft vom Menschen" hin, der mit dem Denken der Alternative einhergeht. Erinnert man sich an den Zusammenbruch der ideologischen Schau des Ganzen, mit der das Naturrecht in seiner klassischen Gestalt verbunden war, bedeutet die Erhaltung der ideologischen Sicht des Menschen, daß die naturalistische Lösung unmöglich ist, eine hinreichende Erklärung menschlicher Ziele zu geben.
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ist um so prekärer und dringender, je deutlicher das Symptom ist, daß der postmoderne Nihilismus vom Tod des Subjekts herkommt. „Der Streit zwischen dem Alten und dem Modernen Geist dreht sich", wie L. Strauss am Ende seines Buches „Natural Right and History" feststellt, „schließlich und sogar von Anfang an um den Status der ^Individualität'"80. Wie der Nihilismus mit der Verneinung der Möglichkeit der theoretischen Metaphysik steht und fällt, so entsteht und vergeht die Moderne mit der Bejahung der Möglichkeit von der Entschlüsselung des „Subjekts". Das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, konzentriert sich daher auf die Frage nach der Möglichkeit humaner Praxis in einer historischen Welt. Die Sache Nietzsches — man mag darüber erstaunen — ist die Möglichkeit der Metaphysik nach der Zerstörung der klassischen Metaphysik; einfacher und grundsätzlicher gefaßt, „die Metaphysik nach Nietzsche".
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L. Strauss: Naturrecht und Geschichte, a. a. O., S. 336.
II. Kapitel: Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus bei Nietzsche § 4. Die Grundlegung einer politischen Philosophie des Nihilismus
Gewiß ist Nietzsche weder der „urgermanische Politiker", als der er einst galt, noch der nur philosophische Erzieher, der sich, vor der ekelhaften Realität fliehend und in die Einsamkeit des Hochgebirges einkapselnd, bloß der Sache des Denkens annimmt und zur unzeitgemäßen Immoralität mahnt. Der kritische Durchgang durch die Rezeptionsgeschichte der Philosophie Nietzsches hat deutlich gezeigt, daß in seinem bis zur letzten Konsequenz redlichen Denken Politik und Philosophie wesentlich zusammengehören. Nur durch eine „Nietzschehalbierung" kann der Name „Nietzsche" zur Aufrechterhaltung des Bestehenden, sei es als Kritiker des Sozialismus, sei es als Verteidiger des Kapitalismus „zeitgemäß" gemacht werden; ebensowenig trifft der Versuch, die Sache Nietzsches durch die Hervorhebung ihrer „Unzeitgemäßheit" zu retten, das Wesen der politischen Philosophie Nietzsches, das in einer Transformation der zeitkritischen Diagnose in die das politische Handeln leitende Theorie besteht. Viele Irrwege der Nietzschewirkung entspringen der Tatsache, daß Nietzsche einäugig gesehen, d. h. entweder in das Prokrustesbett der politischen Ideologie gepreßt wurde, oder seine Sache nur in die Geschichte der philosophia perennis eingereiht wurde. So wenig Nietzsche sich als Machiavellist der Moderne für „reine Politik" interessierte, so wenig hatte er die Absicht, als Herakliteer eine „reine Philosophie" zu entwerfen. Nietzsche steht offenbar zwischen seinem Namen und seiner Sache. Wer nach Nietzsches politischer Philosophie sucht, muß durch die noch immer von Legenden überwucherten Irrwege hindurch zu ihm selbst durchdringen, d. h. zu einem Denker, der im Angesicht des Zusammenbruchs der metaphysischen, naturrechtlich vorgefundenen Ordnung das Verhältnis von Politik und Metaphysik neu zu bestimmen versucht. Wenn Machiavellis Principe mit seiner Botschaft vom emanzipierten und selbstmächtigen Menschen eine delegitimierte, innovatorische Politik inauguriert und damit auf der Schwelle zum Zeitalter menschlicher Hybris steht, statuiert Nietzsches
Die Grundlegung einer politischen Philosophie des Nihilismus
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Übermensch durch die Einsicht in die nihilistische Struktur des Menschlichen im Verbund mit der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen und des Willens zur Macht eine politische Philosophie des Nihilismus, welche durch die in einer Radikalisierung der Moderne aufgeworfene Selbstenttäuschung des Menschen die Frage nach der Legitimation der Welt wieder stellt. Für Nietzsche gibt es keine Politik ohne Philosophie. Insofern ist er auch der aristotelischen Tradition verpflichtet, die auf der Konvergenz von Theorie und Praxis, von Metaphysik und Politik beharrt 1 . Die Zusammengehörigkeit der „theoretischen Wissenschaft" und der „praktischen Wissenschaft" ist nach Aristoteles im Wesen des Menschen und seiner Vernunft angelegt, so daß erst dort, wo es die durch das Anschauen des Jeweiligen gewonnene Theorie des jeweiligen Ganzen gibt, auch die Praxis im Übergang von dem „für uns Ersten" zu dem „der Natur nach Ersten" die Wahrheit jeweils ins Werk zu setzen vermag. Politische Theorie ist in diesem Sinne die „Philosophie über das zum Menschen Gehörige"2. Ohne auf den Themenkomplex der von Aristoteles sich herleitenden scientia practica universalis sive politica näher einzugehen, ist festzuhalten, daß es keine politische Philosophie gibt, die von der Welt des Menschen und seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Dasein absehen kann. Der Grund dafür liegt gemäß der Aristotelischen Daseinsauslegung darin, daß der Mensch als %pon logon echon das der göttlichen Ordnung entsprechende Prinzip ist. Im „Prinzip Mensch"3 gründet für Aristoteles das Wesen der Politik. Dabei wird der Mensch von vornherein in der zweifachen Bestimmung von %oon politikon und %pon logon echon genommen. Dieser kurze Rückblick auf die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles hat in erster Linie den Zweck, darauf aufmerksam zu machen, daß Politik in ihrem ideologischen Bezug auf die Polis als Gesellschaft der Freunde der Vernunft das mit dem jeweiligen Aufenthaltsort gegebene sittliche Handeln meint und keineswegs das staatliche und gesellschaftliche Handeln. Die praktische Philosophie in der Einheit von Ethik und Politik ist so eine Philosophie, der es um die Stellung des Menschen in der Welt geht. Das politische und sittliche Handeln ist fundiert im Menschsein des 1
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Hierzu vgl. Joachim Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles (1953), in: ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt/M. 1977, S. 9 — 33, wo in beeindruckender Weise gezeigt wird, daß Metaphysik als Philosophie des Ursprungs und Anfangs mit der Politik als Philosophie des Endes wesentlich zusammenhängt. Daß sich Nietzsches genealogische Untersuchung mehr auf die Frage konzentriert, warum es nicht mehr möglich ist, eine philosophisch-politische Lebensform zu leben, als auf die spezifischen politischen Ereignisse seiner Zeit, betont Tracy B. Strong: Friedrich Nietzsche and the Politics of Transfiguration, Berkeley, Los Angeles/London: University of California Press, 1975, S. 189. Aristoteles, NE, X 10, 1181 bl 5. NE, VI 2, 1139 b4f.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
Menschen, das sich in der Polis aktualisiert. Der menschliche Mensch: Das ist der Maßstab für die Bestimmung des Ethischen und des Politischen, den Aristoteles in seiner praktischen Philosophie zugrundegelegt hat. Jede philosophische Grundlegung des Politischen muß über das, was Aristoteles als den „Menschen" in der Polis begrifflich gefaßt hat, Rechenschaft ablegen. Aristoteles' politische Anthropologie, wenn man sie überhaupt so nennen darf, ruht jedoch auf dem Boden der Metaphysik, d. h. in der vernünftigen Einsicht in die Gründe und Ursachen von dem, was ist. Denn „der Mensch ist nicht das Beste, was es im Kosmos gibt"4. Die Politik im Verbund mit der Metaphysik als Einsicht in das Göttliche bezieht sich dann primär und grundsätzlich auf die Praxis, durch die der Mensch die in der Theorie vermittelte Wahrheit ins Werk setzen soll, um das „menschliche Gut" zu verwirklichen. Vor diesem Hintergrund muß der rätselhafte Satz des Aristoteles: „Das entsprechende Prinzip ist der Mensch", gelesen werden. Arche ist zugleich Grund und Herrschaft, wie schon Anaxagoras in seiner ursprünglichen Frage nach der Legitimation der Welt andeutet. Der von Aristoteles herausgestellte politische Grundsatz lautet dann: Der Mensch ist Grund und Herrschaft zugleich. Im Hinblick auf Nietzsches Grundbegriff des Willens zur Macht ist es aufschlußreich, daß jener politische Grundsatz im Zusammenhang mit der die Praxis leitenden Willensentscheidung ausgesprochen wird. Der Wille der Seele ist die Arche der Prohairesis, die das Um-willen des politischen Handelns bestimmt und dadurch das in der Theorie angeschaute Göttliche in menschliches Tun umsetzt. Die die Handlung hervorbringende Willensentscheidung hat aber einen zweifachen Ursprung: aus dem Trieb (prexis) und aus der Vernunft (logos). Der Mensch als Grund erweist sich als die Pufferzone zwischen dem uns verborgenen dunklen Trieb und der auf Entbergung drängenden Vernunft. „So ist die Willensentscheidung (prohairesis) entweder strebende Vernunft oder vernünftiges Streben"5. Hinzu kommt noch der andere Aspekt, daß der Mensch selbst als Herrschaft zu betrachten ist. Um den wesentlichen Zusammenhang von Grund und Herrschaft deutlich zu machen, tut man gut daran, sich die mit „alle" beginnenden, auf das Ganze gehenden Anfangssätze der „Metaphysik", der „Nikomachischen Ethik" und der „Politik" in ihrer Einheit zu vergegenwärtigen6. Zusammengenommen 4 5 6
NE, VI 7, 1141 al8-22. NE, VI 2, 1139 a21-b5. Der in den genannten Sätzen erhobene Allgemeinheitsanspruch gründet darin, daß sie die Grundstrukturen des Menschen in seinem geschichtlichen und gesellschaftlichen Dasein und somit die konstitutive Form darstellen, in der sich jeweils das auf seine geselllschaftlichen Bedingungen reflektierende Selbstbewußtsein ausspricht. Vgl. Metaphysik, 11, 980 a21: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrneh-
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besagen jene Anfangssätze: In der Konkretisierung der Bewegung der Vernunftnatur des Menschen zur koinonia politike wird die Theorie, die auf das Sein geht, mit dem allem Seienden innewohnenden Streben nach dem Guten zur Deckung gebracht. Auf dieser Konvergenz von Metaphysik, Ethik und Politik beruht die „praktische Wahrheit", die jeden Einzelnen trotz seiner Gebundenheit an die Natur und die Geschichte doch zum Subjekt des Handelns werden läßt. Prohairesis, welche die doppelte Ausrichtung der menschlichen Natur einmal auf die zu erkennende Wahrheit und dann auf das zu verwirklichende Gute zur Übereinstimmung bringt, ist die politische Urteilskraft in der dreifachen Struktur von „Wahrnehmung, Vernunft, Streben"7. So wie Kant Urteilskraft allgemein zwischen Vernunft und Verstand setzt, hat die politische Urteilskraft gemäß dieser dreifachen Struktur die Aufgabe: die jeweilige Stellung des Menschen in der Welt aufgrund der kritischen Wahrnehmung im Blick auf das Ganze zu bestimmen und dementsprechend den Zweck für das menschliche Dasein zu setzen. Die politische Philosophie konzentriert sich nach dem bisher Gesagten auf das Problem „Mensch und Welt". Denn die Welt, die die Vernunft erschließt, ist die Welt, die das Ganze aller Dinge umgreift und die Existenz durchgreift. Diese kurze Betrachtung des ursprünglichen Zusammenhangs gibt uns vier Strukturmomente, durch die sich jeweils das Problem von Mensch und Welt denken läßt, und auf welche hin die Frage nach der politischen Philosophie bei Nietzsche geprüft werden soll. 1. Das jeweilige Verständnis der Vernunft, durch das sich der Mensch als Grund versteht; 2. Die Herrschaftsform, in der sich die Konvergenz von Grund und Ziel der politischen Gemeinschaft vollzieht; 3. Die Weise, in der das Ethische und das Politische im Hinblick auf das Ganze zum Austrag kommen; 4. Die Methode der politischen Urteilskraft, durch die sich das Jeweilige in seiner besonderen Jeweiligkeit und seiner jeweiligen Besonderheit bestimmen und rechtfertigen läßt. Keines der angeführten vier Strukturmomente der politischen Philosophie läßt sich abgesondert von den anderen begreifen, und jedes kennzeichnet je
7
mungen"; NE, I l, 1094 alf.: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt"; und Politik, I l, 1252 alf.: „Da wir sehen, daß jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede Gemeinschaft um eines Gutes willen besteht (denn alle Wesen tun alles um dessentwillen, was sie für gut halten)". Vgl. H. Kühn: Der Mensch in der Entscheidung: Prohairesis in der Nikomachischen Ethik, in: ders.: Das Sein und das Gute, München 1962, S. 275-295. Vgl. NE, VI 2, 1139 a!7f.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
schon in seiner Hinsicht die ursprüngliche Einheit von Metaphysik, Ethik und Politik. Im Hinblick auf die im Anschluß an Aristoteles gewonnenen Strukturmomente der „Politik" können wir eine den geläufigen Meinungen diametral entgegengesetzte provokative Hypothese wagen, welche lautet: Es gibt bei Nietzsche eine politische Philosophie. Dabei erinnern wir uns nochmal an Heideggers Diktum, daß der Name Nietzsche als Titel für die Sache seines Denkens stehe. Trotz der widersprüchlichen Interpretationen steht es heute zweifellos fest, daß die Sache Nietzsches der Nihilismus ist. Seine Einsicht in das Wesen des Nihilismus ist es, die Nietzsche über all seine radikalen, rhetorisch verschlungenen Kulturkritiken hinaus als Philosoph ausweist, der, seine Zeit in Gedanken fassend, einen neuen Horizont für die Zukunft eröffnet. Nietzsches Philosophie ist die politische Philosophie des Nihilismus. Mit dieser Hyphothese stellen wir uns einer doppelten Aufgabe: zum einen Nietzsche unter der Perspektive der ursprünglichen Einheit von Metaphysik und Politik auszulegen, und zum anderen eine politische Philosophie des Nihilismus nach Nietzsche im Sinne der Erkundung der Möglichkeit einer Sinngebung in der sinnlosen Welt grundzulegen. Politische Philosophie ist not-wendig, wenn die Kulturdiagnose stimmt, daß überlieferte, letztlich platonisch-paulinisch fundierte Werte, die Institutionen des Staates, der Gesellschaft und der Kultur nicht mehr tragen. Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus wird akut, wenn Daniel Bell im Anschluß an Nietzsche ein allgemeines „Auseinanderfallen der Bereiche" und das Fehlen einer politischen Philosophie konstatiert8. Die soziologische Zeitdiagnose der „The Cultural Contradictions of Capitalism" bezeugt ein Jahrhundert nach Nietzsche, daß die von Nietzsche aufgeworfenen Probleme noch nicht gelöst sind. Wäre dies der Fall, so gehörte Nietzsche der Vergangenheit an, er hätte, wie es J. Habermas noch 1968 behauptete, „nichts Ansteckendes mehr"9. Da wir aber offensichtlich noch auf einem Scheideweg der Moderne im unübersichtlichen Diskurs des modernen Zeitbewußtseins verweilen, bleibt Nietzsche „unser Zeitgenosse". 8
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Daniel Bell: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit, Frankfurt/M. 1979, insbesondere die Einleitung „Das Auseinanderfallen der Bereiche: die Thematik". In der Konfrontation mit dem Nihilismus als Logik, die der technologischen Rationalität innewohnt, wendet D. Bell Nietzsches zeitkritische Formel des „Antagonismus von .wahr' und .schön' soziologisch, um das geeignete Instrument zur Analyse der modernen Gesellschaft zu gewinnen. Er begreift dementsprechend die zeitgenössische Gesellschaft als ein Phänomen, das aus drei einander widersprechenden Bereichen — Wirtschaft, politischer Ordnung und Kultur — besteht, deren jeder einem anderen axialen Prinzip gehorcht. Vgl. KSA 12,2(127), S. 126. J. Habermas: Zu Nietzsches Erkenntnistheorie (ein Nachwort) 1968, in: ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt/M. 1973, S. 239.
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Darüber hinaus müssen wir uns im klaren sein, daß Nietzsche nur dann aus der antiquarischen Anonymität eines unzeitgemäßen Unternehmens heraustritt und zum Zeitgenossen wird, wenn wir im Vorblick auf ein Ende aus der nihilistischen Herrschaft der subjektzentrierten Vernunft an der Zuspitzung jenes Problems arbeiten, das mit Nietzsches Ausspruch „Gott ist tot" Einzug in die Philosophie gehalten hat. Der Ansatz der politischen Philosophie des Nihilismus ist also sowohl zeitkritisch als auch sachlich begründet. Im Blick auf die nun zu erarbeitende Grundlegung einer politischen Philosophie des Nihilismus können wir sagen, daß Nietzsches Philosophie in ihrer Entwicklung einen in sich konsequenten und kohärenten Weg von der unzeitgemäßen Apperzeption seiner Zeit, über die im freien Geist geschärfte Methode „von den ersten und letzten Dingen" bis hin zur Konstituierung einer nihilistischen, postmodernen Politik durchläuft. Die Konsistenz und Intensität des Problembewußtseins in allen Schriften Nietzsches, das er auf den Begriff des „Nihilismus" bringt, ist auch der Grund dafür, daß jeder Versuch, „die politischen Ideen Nietzsches von seiner unpolitischen Philosophie zu unterscheiden"10, sowohl an Nietzsches politischen Ideen als auch seiner Philosophie vorbeigeht. Nietzsche hat zwar kein Hauptwerk verfaßt, geschweige denn ein politisches Hauptwerk, das etwa ein Pendant zur Politeia Platons, zu Hobbes' Leviathan oder zur Rechtsphilosophie Hegels darstellt. Jede Systematisierung ist Nietzsche zuwider, denn der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit11. Nietzsche drängt auf die „entgegengesetzte Denkweise, welche imstande ist, „in zehn Seiten zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, — was jeder Andre in einem Buche nicht sagt"12. Am Ende seiner „Streifzüge eines Unzeitgemäßen" ist Nietzsche zu einer diskursiven Art des Aphorismus vorgedrungen, in der er das Zeitgemäße im Hinblick auf das Unzeitgemäße des Selben zur Sprache bringt, nämlich: in den Formeln vom „Übermenschen", vom „Willen zur Macht" und von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen". Nietzsches Werdegang erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Methodos, auf dem die formale wie methodische Denkweise und die zu denkende Sache nicht voneinander zu trennen sind. Die Intensität der „Perspektiven-Optik"13 Nietzsches legt die Vermutung nahe, daß trotz seines 10
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T. Kunnas: Politik als Prostitution des Geistes. Eine Studie über das Politische in Nietzsches Werken, München 1982, S. 153. GD, Sprüche und Pfeile 26, KSA 6, S. 63. Vgl. auch KSA 12, 2(155), S. 142: „Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen; Zauber der entgegengesetzten Denkweise; sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen". GD, Streifzüge eines Unzeitgemässen 51, KSA 6, S. 153. JGB, I 11, KSA 5, S. 26.
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Mißtrauens gegenüber aller Systematisierung sich unter der Oberfläche der verstreuten, prima facie zusammenhangslosen Gedankenskizzen eine übergreifende, unterschwellige Systematik verbirgt 14 . Erst im Blick vom Gipfel des Gedankens Nietzsches zurück auf seine geistige Biographie wird sichtbar und verständlich, worin er das Zeitgemäße im Sinne des in der Zeit Not-wendigen in Gedanken zu fassen sucht, und warum die zeitkritische Wahrnehmung der Moderne ständig vom genealogischen Rückblick auf das Unzeitgemäße des Selben begleitet wird. Nietzsches Untersuchung des Nihilismus läuft in doppelter Richtung: den Nihilismus als Logik der abendländischen Geschichte diachronisch zu entlarven und ihn zugleich auf die immer gleichbleibenden Wesensstrukturen des Menschlichen hin zu analysieren. Die Geschichtsphilosophie des Nihilismus geht bei Nietzsche mit der genealogischen Strukturanalyse des Menschseins des Menschen einher. Der Nihilismus ist so der Knotenpunkt des Denkens Nietzsches, um den sich seine verstreuten Bemerkungen über Recht, Staat und Politik zentrieren lassen. Nietzsches politische Philosophie des Nihilismus stellt einen epochemachenden Versuch dar, auf dem äußersten Punkt des modernen Selbstbewußtseins die wesentliche Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Politik, von Mensch und Welt neu zu denken15. Im Hinblick auf die obengenannten vier Strukturmerkmale politischer Philosophie läßt sich so Nietzsches Grundlegung der großen Vernunft des 14
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Vgl. Konrad Hilpert: Die Überwindung der objektiven Gültigkeit. Ein Versuch zur Rekonstruktion des Denkansatzes Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 9(1980), S. 91 —121, hier S. 92f., weist zu Recht darauf hin, daß es bei Nietzsche einen umgreifenden Zusammenhang, nämlich den der „Perspektiven Optik" gibt; Damit tritt er K. Schlechte entgegen, der sich energisch gegen alle Versuche wehrt, „Nietzsches eigentliche Lehre" oder das System seiner Philosophie aus den über tausend Aphorismen des Nachlasses rekonstruieren zu wollen; siehe K. Schlechta: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge, München 1958, S. 17f. und 72f. In bezug auf die späte Philosophie von Macht und Wiederkehr weist K. Löwith darauf hin, daß das Scheitern des Nietzscheschen Denkens in dem unmöglichen Versuch, von der Spitze der Modernität zur Antike zurückkehren zu wollen, angelegt ist. Vgl. K. Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 1978, S. 113ff. Löwiths Einwand beruht offenbar auf einem Mißverständnis der Zweideutigkeit der Nietzscheschen Unzeitgemäßheit. Diese liegt nämlich in der genealogischen Rekonstruktion der abendländischen Geschichte als Ausdruck einer Pervertierung des Willens zur Macht wie in der durch den Rückschritt auf den geschichtlichen Anfang gewonnenen therapeutischen Grenzziehung für das Menschliche. Der Fortschritt der abendländischen Geschichte besteht nach Nietzsche in einer Intensivierung und Zuspitzung des sich auf sich selbst stellenden Subjekts, das nun sich selbst zu sprengen droht; einen Standpunkt zur demaskierenden Vernunftskritik außerhalb der subjektzentrierten Vernunft bietet erst der Rückschritt auf den Anfang der Geschichte. Durch ihn werden die Horizontlinien derselben Vernunft innerhalb der vielfältigen Metamorphosen sichtbar. Ohne diese zweideutige Geschichtsphilosophie läßt sich jede Selbstkritik der Vernunft innerhalb der von ihr gesetzten Bedingungen ad absurdum führen, weil sie sich niemals in ihren eigenen Schwanz beißen kann.
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Leibes dem neuen Selbstverständnis des leibhaft verfaßten Daseins zuordnen, die Epistemologie des Willens zur Macht dem Begriff des Seins hinsichtlich der Herrschaftsordnung, und die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen dem Richtmaß für die Konvergenz des Ethischen und des Politischen. In einer radikalen Anwendung der genealogischen Methode treibt Nietzsche die Legitimationskrise des Menschen und der Welt auf die Spitze und vollzieht eine Wende. Nietzsches Hypothese des Nihilismus ist im Sinne der Thesis des Hypokeimenon die Setzung eines Grundes, von dem aus sich das Verhältnis des Menschen 2um Seienden im Ganzen neu bestimmen läßt. Einige Äußerungen Nietzsches deuten unübersehbar auf diese Grundlegung einer Philosophie, in der Politik und Metaphysik wesentlich zusammengehörig gedacht werden. Seitdem der philosophische Lehrsatz des „Willens zur Macht" im Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung" des „Zarathustra" seinen Niederschlag gefunden hatte, kristallisierte sich langsam der thematische Zusammenhang des Hauptwerkes heraus, das Nietzsche nicht nur brieflich in Aussicht gestellt, sondern in „Jenseits von Gut und Böse" und in der „Genealogie der Moral" auch öffentlich angekündigt hatte. Aus der von Montinari mit großer Akribie sorgfältig durchgeführten philologischen Erschließung des Nachlasses von 1885 bis 1888 geht hervor, daß Nietzsche in seiner letzten Schaffensperiode mit zunehmender Intensität und Eindeutigkeit danach strebte, das „metaphysische Prinzip" allen Geschehens aufzuspüren und herauszustellen, und zwar unter gleichbleibenden Hauptgesichtspunkten16. Hervorzuheben ist neben der thematischen Konstanz insbesondere die Bedeutung der Philosophie der ewigen Wiederkunft, die sich trotz experimenteller Akzentverschiebung durchhält. Aufschlußreich für den Zusammenhang von Politik und Philosophie ist der Entwurf von 1885, der „einen systematischen, sehr allgemeinen Charakter"17 hat:
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M. Montinari: Nietzsches Nachlaß von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: ders.: Nietzsche lesen, Berlin 1982, „Dieser Nachlaß" ist, so stellt er am Ende dieser philologischen Erschließung fest, „ein verpflichtendes Erbe, da Nietzsches Fragestellungen, sei es in seinen Werken, sei es in seinen fragmentarischen Aufzeichnungen — beides als Ganzes betrachtet —, auch heute noch bestehen bleiben" (118). G. G. Grau hingegen will darin die Strategie des Willens zur Macht durchschaut haben, „mit dem Hinweis auf die philologische Problematik der späten Entwürfe auch das Problem der Macht jedenfalls philosophisch loszuwerden". Er meint, daß Probleme und Problematik der Macht von der Auseinandersetzung über Bedeutung von Nietzsches spätem Nachlaß unberührt bleiben. Siehe G. G. Grau: Ideologie und Wille zur Macht, a. a. O., S. 158ff. Der Streitpunkt ist, wie er selber anmerkt, wohl die Frage, ob und inwieweit man Nietzsches Ansatz des Willens zur Macht als „Prinzip" verstehen kann und darf. M. Montinari, ebda.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus Der Wille %ur Macht Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. (Vorrede über die drohende „Sinnlosigkeit". Problem des Pessimismus) Logik Physik Moral Kunst Politik18.
Auf den ersten Blick scheint die Reihenfolge willkürlich gesetzt zu sein. Die darauf folgenden Entwürfe und Umformulierungen sprechen aber eher für den Versuch, das Verhältnis des Menschen zur Welt von einem einheitlichen, von der „neuen Aufklärung" erschlossenen Grundsatz her auf seine Wesensmomente hin zu analysieren und neu zu bestimmen. Darin erblickt Heidegger „die üblichen Disziplinen der Philosophie; es fehlt nur, und das nicht zufällig, die spekulative Theologie"19. Daß Nietzsche die beabsichtigte neue Auslegung allen Geschehens im vorhinein in den Blickbahnen der Tradition vornimmt, zeigt die Aufzählung der einzelnen Daseinsbereiche des Menschen, welche sich der aristotelischen Einteilung gemäß in die theoretischen einerseits und in die praktischen und poietischen Wissenschaften anderseits zusammenfassen lassen. Der theoretischen Wissenschaft gehören die Logik als Organon des diskursiven Denkens und die Physik als Betrachtung der veränderlichen Dinge in ihrem Selbstsein an, während sich die Kunst als poietische Wissenschaft und Politik als praktische Wissenschaft mit Dingen, die sich in ihrer Abhängigkeit vom Handelnden so und anders verhalten können, beschäftigen20. Dabei fallen insbesondere zwei Aspekte ins Auge, die trotz Nietzsches Abhängigkeit von der metaphysischen Tradition auf einen „wesentlichen Ausbruch ins Freie eines neuen Weltaufgangs"21 verweisen: die Ausklammerung der Metaphysik als Theorie von den ersten Gründen und Ursachen, welche in der Theologie ihre höchste Form findet, und die Mittelstellung der Moral zwischen Physik und Kunst. Für die Griechen Hegt eine wesentliche Differenz zwischen den Natur-Dingen, die von sich her aufgehen, und den Kultur-Dingen, die nicht aus sich selbst sind, sondern von den Menschen hergestellt werden. Dafür, daß diese Differenz von Physis und Poiesis nicht in eine unüberbrückbare Diskrepanz zerrissen 18
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KSA II, 40 (2), S. 629. M. Heidegger: Nietzsche I, a.a.O., S. 42. Zur Aristotelischen Einteilung der Wissenschaften in die theoretischen und die praktischen, vgl. Aristoteles, Metaphysik, VI l, wo sich das „Seiende", das Politik zum Gegenstand hat, durch den Mangel jener zwei Prädikate kennzeichnet, die Aristoteles zur Bestimmung der Gegenstände der theoretischen Philosophie verwendet, nämlich „unveränderlich und selbständig". Hierzu siehe auch NE, VI 4, 1140 al-14. Eugen Fink: Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1979, S. 186.
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wird, sorgt die Theorie des Göttlichen, die der Mensch zur Grundlage einer im Göttlichen wurzelnden Lebensführung hat. In weiterer Hinsicht übernimmt die Ethik die Vermittlung von der Einsicht ins Göttliche (sophia) und der praktischen Vernunft (phronesis), Ethik ist die Überbrückung von Physis und Thesis, indem sie durch die mit der Polis gegebene Tugend des Menschen das Wissen zum Können bringt22. Der Ausspruch „Gott ist tot" markiert aber gerade den Riß im Bezug des Menschen auf das Göttliche, der im metaphysischen Sinne die Welt konstituiert. Da für die Griechen das Ziel des Handelns durch die ethische Tugend, die sich ihrerseits von der Einsicht in das Göttliche herleitet, bestimmt wird, liegt es auf der Hand, daß mit jenem Spruch „die Voraussetzungen für alle frühren Ziele vernichtet sind"23. Angesichts des Antagonismus des Guten, Schönen und Wahren versteht es sich von selbst, daß Nietzsche mit aller Kraft darum ringt, das Verhältnis des Menschen zum Seienden im Ganzen neu zu bestimmen. Diese neue metaphysische Grundstellung begreift Nietzsche als das Phänomen der Moral, der eine doppelte Aufgabe zufällt: der Menschheit unter den Bedingungen des Nihilismus das Ziel zu setzen, von dem aus sich das Dasein der Welt rechtfertigen läßt; und die „Voraussetzungen, denen das neue Ziel entsprechen muß"24, methodologisch freizulegen. Daher rückt das Problem der Wahrheit in den Vordergrund; die Logik soll ohne metaphysischen Rückhalt auf ihre ursprüngliche Funktion des Organons zurückgehen und die Bedingungen, unter denen sich der Wille zur Macht als „Wahrheit" entfaltet, aufspüren. Die Philosophie nach Nietzsche konzentriert sich so auf die Frage, wie den entnaturalisierten Dingen wieder ihre Göttlichkeit zurückgegeben und der durchweg kultivierte Mensch auf seine ursprüngliche Physis gebracht werden kann, mit anderen Worten, wie man in einer entgöttlichten Welt noch das Göttliche denken und beschreiben kann. Vielleicht setzt sich Nietzsche damit ein Ziel, das von vornherein unerreichbar ist, wenn er um der neuen Zielsetzung willen „die Ziellosigkeit an sich" zu seinem „Glaubensgrundsatz" erklärt25. Für die Radikalität und Entschlossenheit seines Unternehmens sprechen zwei Aspekte des Nihilismus, die er wie folgt dokumentiert: (1) Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen, „hatten die Wahrheit": selbst die Skeptiker26; (2) Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel27. 22 23 24 25 26
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Vgl. Aristoteles, NE, I l, 1094 all, NE VI 5-8. KSA 10,4(137), S. 154. Ebda. KSA 12, 9 (123), S. 408. KSA 9, 3 (19), S. 52. Za I, Von tausend und Einem Ziele, KSA 4, S. 76.
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Angesichts dieses doppelten Nihilismus ist Nietzsche in erster Linie bestrebt, zu erklären, wie es dazu gekommen ist, daß wir weder Wahrheit noch Ziel haben. Da er die Geschichte der Metaphysik als eine Verfallsgeschichte deutet, setzt er bei den ersten Philosophen ein, die Aristoteles die „Physiologen"28 nennt, die im Blick Nietzsches das Ganze ohne die metaphysische Setzung zu denken wagten. Seine Methodologie hat die Form einer Erkundung des Weges, auf dem sich der Wille zur Macht als Wille zur Wahrheit entfaltet und jeweils einen metaphysischen Grund setzt. So stehen Nietzsches Physiologie als die neue Auslegung des Geschehens und seine Methode der Umwertung aller Werte im engen Zusammenhang, wie es schon der Wechsel dieser beiden Formeln im Projekt des Willens zur Macht zeigt. Nietzsches neue Auslegung des Geschehens geht auf das „Jenseits von Gut und Böse", als welches er in einer nachmetaphysischen Welt das Göttliche zu denken versucht; die „Genealogie der Moral" erschließt die Wesensstrukturen der metaphysischen Grundsetzung, in der das jeweils neu angeschaute Göttliche zur Sprache kommt. Aus alldem ergibt sich, daß Nietzsche aufgrund der durch die Analyse des Nihilismus aufgedeckten Voraussetzungen der Moral, Physis und Poiesis wieder miteinander zu verbinden sucht. Das heißt nun auf philologisch gesichertem Boden: Nietzsches prima philosophia ist die politische Philosophie des Nihilismus. Nietzsche stellt sich deshalb erneut und eigentlich erstmals ausdrücklich „die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll ,der Mensch' als Ganzes — und nicht mehr ein Volk, eine Rasse — gezogen und gezüchtet werden"29. Es handelt sich um eine Frage der Moral, die im eigentlichen Sinne der jeweiligen geschichtlichen Notwendigkeit entspricht und so das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen bestimmt. Die Moral hat die Wahrhaftigkeit großgezogen, welche nun die Haltlosigkeit der Moral erkennt und zur Einsicht in die Sinnlosigkeit des Geschehens gelangt. Die Moral der Schlechtweggekommenen, die unter dem Willen zur Macht leiden und deshalb diesen Grundcharakterzug des Geschehens hassen, können und wollen nicht sehen, daß sich in ihrem „Willen zur Moral" doch ein Machtwille versteckt. Die Unmöglichkeit der Moral erweist sich nunmehr als „Konsequenz von langen moralischen Gewöhnungen: die Selbstkritik der Moral ist, zugleich ein moralisches Phänomen ein Ereignis der Moralität"30. Das „Vorspiel der Philosophie der Zukunft", das Nietzsche seinem „Jenseits" als Untertitel gibt, wird so auf das Problem des europäischen Nihilismus abgestimmt. Denn im „Jenseits von Gut und Böse" wird die viel 28 29 30
Aristoteles Metaphysik, I 5, 986 b!4. KSA 11, 37(8), S. 580. KSA 11, 25(447), S. 132.
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zu extreme Hypothese von Gott ersetzt, und zwar wiederum durch eine Hypothese, die die Sinnlosigkeit allen Geschehens als Grundvoraussetzung der zukünftigen Moral in Anschlag bringt. Wenn wir den Zusammenhang von Moral und Politik in seiner ganzen Spannweite begreifen wollen, müssen wir uns der Zweideutigkeit des Moralbegriffs Nietzsches bewußt sein. Er sagt unmißverständlich: „Wir müssen uns von der Moral befreien, um moralisch leben zu können"31. Aber Nietzsche begreift die Moral primär und grundsätzlich als Phänomen der Herrschaft, als das dialektische Verhältnis von Macht und Ohnmacht im Menschen; Nietzsche versteht die Moral vor allem „physiologisch: nicht mehr politisch"32. Wir müssen hier im Blick behalten, daß Nietzsche im Rahmen seiner Analyse des „europäischen Nihilismus", wie er das entscheidende Fragment vom 10. Juni 1887 tituliert, die Frage nach der Herrschaft aufwirft und somit auf den von Aristoteles herausgestellten methodischen Ansatz der Politik zurückkommt 33 . Diese kleine Abhandlung beginnt mit der kritischen Analyse der „Moral-Hypothese" und endet mit dem Satz: „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?". Die Verklammerung von Moral und ewiger Wiederkehr bildet das Prinzip des „Willens zur Macht", mit dem Nietzsche den Grundbegriff des Anaximander „arche" in die gesellschaftlichen Bedingungen des Nihilismus über-setzt. Der Wille zur Macht ist der doppelten Bedeutung der Arche entsprechend das Prinzip der Herrschaft. Nietzsches neue Hypothese der Moral führt so auf dem Boden des Nihilismus die klassische Metrologie ein, die den Menschen mit entgegengesetzten Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist, natürlich im vollen Bewußtsein der sich hieraus ergebenden strukturellen Veränderung des Herrschaftsverhältnisses. Von der moralischen Frage leitet sich dementsprechend die Aufgabe der „großen Politik" ab, die sich sowohl auf die „Erde als Ganzes" als auch auf den „Menschen als Ganzes" ausrichtet. Gegen die idealisierende Deutung der reinen Moralphilosophie ist mit allem Nachdruck zu betonen, daß Nietzsches „große Politik" Herrschaft meint, und zwar die Herrschaft der Tugend des Menschen. In diesem Zusammenhang findet sich ein Fragment aus dem Herbst 1887, das in der bisherigen Nietzsche-Forschung kaum beachtet worden ist: 31 32
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KSA 10, l (32), S. 17. KSA 12, 5 (71), S. 216. KSA 12, 5(71), S. 211-217. Dieses von Nietzsche „Lenzer Heide, den 10. Juni 1887" datierte Fragment stellt in gewisser Hinsicht den Kulminationspunkt seiner Überlegungen zum Problem des Nihilismus dar, von dem aus der Zusammenhang seiner philosophischen Wege recht überschaubar wird. Vgl. M. Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 105.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus Wie man der Tugend %ur Herrschaß verhilft. Ein tractatus politicus. von Friedrich Nietzsche34.
Daraus ersehen wir deutlich, daß Nietzsches Entwurf zum „Willen zur Macht" als eine Abhandlung der politischen Philosophie konzipiert wurde. Die parallellaufende Entwicklung der Philosophie vom Willen zur Macht und des politischen Denkens Nietzsches sowie ihre thematische Kohärenz lassen sich weiter zurückverfolgen. Die begriffliche Bestimmung des „Willens zur Macht" war, darin besteht Einigkeit in den sonst auseinandergehenden Nietzscheinterpretationen, seit 1880 durch die Reflexionen über das „Gefühl der Macht" vorbereitet, die ihren Niederschlag in der „Morgenröte" fanden35. In dem Aphorismus, in dem von der „grossen Politik" die Rede ist, wird das Überwältigen-Wollen als eine anthropologische Konstante behandelt: „Wenn der Mensch im Gefühl der Macht ist, so fühlt und nennt er sich gut: und gerade dann fühlen und nennen ihn die Anderen, an denen er seine Macht auslassen muss, böse"36. Das Problem von Macht und Politik schneidet Nietzsche bereits am Anfang seines Philosophierens in einer der „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern", die er Weihnachten 1872 für Cosima Wagner verfaßte, an. In diesem Text mit dem Titel „Der griechische Staat" rekonstruiert Nietzsche das „Urbild des Staates", bei dessen Entstehen „eine gewaltige Noth, als ein Sichdrängen zu Dasein"37 wie bei allem Werden in der Natur am Werk ist. Hier liegt der Ansatz zur Philosophie des Willens zur Macht, der als das Prinzip des Lebens Natur und Kultur zusammenbindet. Bemerkenswert ist dabei, daß Nietzsche in der Gesamtkonzeption des platonischen Staates „die wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius"38 erkannt zu haben glaubt. Im Gegensatz zu Platon, der nur den Genius der Weisheit und des Wissens anerkannt und somit den des Künstlers und des Schaffens ausgeschlossen hat, will Nietzsche „den Genius der Weisheit in seinem allgemeinen Begriff an die Spitze stellen"39. Nietzsche wirft nämlich gleich zu Beginn seines Nachdenkens über die Moderne einen Blick auf den ursprünglichen Zusammenhang von Politik und Philosophie. Ja, man kann sogar behaupten, daß sich das hier entwickelte Konzept vom „Sichdrängen zum Sein" und dem der Menschenwürde ihre Legitimation verleihenden 34 35 36
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KSA 12, 10(14), S. 461. Vgl. den Aphorismus mit dem Titel „Gefühl der Macht", M, IV 348, KSA 3, S. 238. M, III 189, KSA 3, S. 162. Der griechische Staat, KSA l, S. 774. Ebda., S. 777. Ebda., S. 776.
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„Genius" allmählich in die Formel vom Willen zur Macht und Nietzsches Bedenken des Menschlichen kristallisiert hat. Es läßt sich eine kontinuierliche Entwicklungslinie von der ästhetischen Philosophie des Genius zur „Genealogie der Moral" rekonstruieren. Der rote Faden dieses Entwicklungsganges ist aber der Mensch als Macht und Herrschaft. Die Rätselfrage der Sphinx, welche die Menschheit mit der Antwort des Ödipus gelöst zu haben glaubt, taucht am Ende des Nihilismus, der sich in Nietzsches radikaler Analyse als Verdrängung des ursprünglichen Problems entpuppt, unumgänglich wieder auf. Denn die Antwort des Ödipus zeigt uns, daß der Mensch selbst die zu lösende Aufgabe ist. So kreist die Philosophie des „Willens zur Macht" um „das Problem jMensch'"40, wie Nietzsche einen Entwurf von 1885 nennt. Warum und wie seine Philosophie vom Willen zur Macht das Problem des Menschen zu erfassen sucht, verdeutlicht der Aphorismus mit dem Titel „Der Dämon der Macht" in der „Morgenröthe": Der Dämon der Macht — nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, — nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen41. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Grundsätze Nietzsches. Man mag gar meinen, es handele sich um eine Rekapitulation der von Machiavelli inaugurierten „Dämonologik der Macht"42. Durch Nietzsches tiefgehende Analyse wird das Dämonische jedoch als ein reales Phänomen ins Zentrum des Politischen gerückt, und zwar aus der Überzeugung, daß die politische Philosophie des Nihilismus nur dann Sinn hat, wenn sie mit der dämonologischen Möglichkeit des Menschen rechnet. Der Dämon der Macht ist zugleich der Dämon des Menschen. Daraus geht hervor, daß Nietzsches politische Philosophie des Nihilismus den Menschen als Macht und Herrschaft in seiner dämonischen Struktur zu erschließen hat. In der Genealogie der Moral spürt Nietzsche auf, daß das aristotelische Prinzip „Mensch" sich durch die Geschichte der abendländischen Metaphysik zum „Problem" Mensch verwandelt hat. Der Vernunftpolitik der Griechen wird nunmehr die Machtpolitik der Moderne entgegengehalten, wobei diese Gegenüberstellung insofern trägt, als sie die Geschichte der Vernunft vom %pom logon echon über das animal rationale bis zum homme machine in Rechnung stellt. In der Polis wird von Natur aus vorausgesetzt, „daß das Vernünftige herrschen soll"43. Die von Platon zugrundegelegte Hypothese der Moral besagt, daß Polis als die Gesellschaft der Freunde der Vernunft die Herrschaft der 40 41
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KSA II, 34 (240), S. 500/1. M, IV 262, KSA 3, S. 209. Vgl. Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1978, wo die Politologik des Aristoteles, die Dämonologik des Machiavelli und die Eschatologik des Augustinus als die drei Ursprünge der Politik begrifflich differenziert und analysiert werden. Platon, Politeia IV, 442 d.
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Tugend ist, in der die seelische Verfassung mit der politischen Verfassung übereinstimmt. Diese metaphysische Moral hält sich noch bis in die Hegeische Geschichtsphilosophie durch, die von der Voraussetzung ausgeht, „daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei"44. Hierauf bezieht sich die berühmt-berüchtigte Formel in der Philosophie der Geschichte, daß zuerst einer, dann einige, dann alle frei werden. Hegel, der Verzögerer des Atheismus par excellence45, entdeckt, „daß der Mensch, der sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut"46, in die Spannung zwischen der konkreten Freiheit und der „Despotie der Freiheit" gerät. Wie die Herrschaft der Majorität über die Minorität eine große Inkonsequenz der entfremdeten Subjektivität ist, so ist die Herrschaft der Tugend nicht minder anachronistisch. Das monarchische Prinzip und das Prinzip der Subjektivität heben sich gegenseitig auf, da die einzelnen Individuen auf dem Weg vom abstrakten Selbstbewußtsein zur konkreten Freiheit auf der Strecke bleiben. Lapidar hält Hegel dieses Wesen der Moderne fest: „Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich"47. Die Lösung der allgemeinen Freiheit mündet so in den Nihilismus, der die klassische Konzeption von der Herrschaft der Tugend ad absurdum führt. Die Konsequenz und zugleich die Inkonsequenz des Prinzips der Subjektivität ist auf der gesellschaftlichen Ebene die Herde ohne Hirt. Wenn das Individuum, um mit Hegel zu sprechen, nur „den unerfüllten Punkt des absolut freien Selbsts" darstellt, besteht das Wesen des Nihilismus darin, daß aus der bloßen Aneinanderreihung von vielen solchen Punkten offenbar keine gemeinsame Linie entsteht. Nietzsche formuliert radikaler: Unsere ganze Sociologie kennt gar keinen anderen Instinkt als den der Heerde, d.h. der summierten Nullen ... wo jede Null „gleiche Rechte" hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein48. 44
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G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Franfurt/M. 1970, S. 20. FW, V 357, KSA 3, S. 599. G.W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 529. Ebda., S. 533. Vgl. auch G.W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, Frankfurt/ M. 1970, S. 436: wo es heißt: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; dann was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts, er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers". Hierzu siehe H. Arendt: Über die Revolution, München 1974, S. 75; und A. Baruzai: Hegel, in: Klassiker des politischen Denkens, hrsg. v. H. Maier, H. Rausch, H. Denzer, Bd. 2: Von Locke bis Max Weber, 5., völlig überarb. u. um e. Beitr. erw. Aufl., München 1987, S. 166: „Nach Hegel hat die Französische Revolution die Welt auf den Kopf gestellt. Sie köpfte aber, um ihr Prinzip durchzuführen". KSA 13, 14 (40), S. 238.
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Durch die Französische Revolution wurden ungeheure Gewalten entfesselt, die sich widersprechen und gegenseitig vernichten. Nietzsches Metaphysik legt in die sinnlos gewordene Welt einen neuen Sinn hinein. Dieser soll die große Politik zur Herrschaft bringen. Wenn das abstrakte Bewußtsein „allen Unterschied und alles Bestehen des Unterschiedes in sich vertilgt"49, entsteht daraus eine Krise, die den Menschen den Anstoß zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt des Willens zur Macht her, gibt. Da am Ende der abendländischen Metaphysik der Mensch selbst auf dem Spiel steht, drängt Nietzsches Genealogie auf die Erzeugung des Genius, der durch die Bejahung des nihilistischen Wesens des Menschen den Nihilismus zu überwinden vermag50. Die stärksten werden demnach „die Mäßigsten" sein, d. h. „die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben". Es handelt sich um die „Menschen, die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren"51. In diesem Zusammenhang ist der „Sils-Maria, Sommer 1886" datierte Entwurf zum „Willen zur Macht" von großer Bedeutung. Die Motive der vorgesehenen 4 Bücher sind: die Gefahr der Gefahren: „Alles hat keinen Sinn, d. h. der europhäische Nihilismus"; Kritik der Werte als Kritik der Logik; das Problem des Gesetzgebers, und schließlich die ewige Wiederkehr des Gleichen als „der Hammer: eine Lehre, welche durch Entfesselung des todsüchtigsten Pessimismus eine Auslese der Lebensfähigsten bewirkt"52. Angesichts der tausendfältigen Verkümmerung aller einzelnen geht es darum, „die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten und Augen aufmachen für die wirkliche Vermehrung an Kraft"53. Mensch und Welt: darauf geht die Philosophie Nietzsches, wie die prote philosophia des Aristoteles auf das Sein geht. Es ist klar, daß Nietzsches 49 50
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G.W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 437. Die Sache des Denkens im Nihilismus ist, daß der Mensch selbst auf dem Spiel steht. Dies signalisiert Nietzsches poetisch-philosophische Vision des „letzten Menschen", die den Brennpunkt auch von Max Webers Perspektive auf die Geschichte des okzidentalen Rationalismus darstellt. Vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1986, S. 204: „Dann allerdings könnte für die .letzten Menschen' dieser Kulturentwickelung das Wort zur Wahrheit werden: , F a c h m e n s c h e n ohne G e i s t , G e n u ß m e n s c h e n ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben" (Hervorhebung, Lee). Vgl. Detlev J. K. Peukert: Die „letzten Menschen". Beobachtungen zur Kulturkritik im Geschichtsbild Max Webers, in: Geschichte und Gesellschaft, 12 (1986), S. 425-442; Wilhelm Hennis: Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers, in: ders.: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 167 — 191; Harry Neumann: Supermann or Last man? Nietzsches Interpretation of Athens and Jerusalem, in: Nietzsche-Studien, 5 (1976), S. 1—28. KSA 12, 5 (71), S. 217. KSA 12, 2(100), S. 109/110. Ebda.
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Rede von den „Herren der Erde" keinen politischen Sinn hat; sie sind weder Machtträger noch Imperialisten. Abseits der wirklichen Herrschaftsbedingungen, stellen sie jene Menschen-Typen dar, die durch die Bejahung des Willens zur Macht die Einsicht in das Wesen des Nihilismus, der sich in der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen offenbart, zur Herrschaft bringen können. Nietzsches politische Philosophie des Nihilismus ist als die Herrschaft der neuen Moral Metapolitik. Denn „die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschen gestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: Vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler — Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten."54 Moral ist also das Band von Physis und Thesis, die Klammer von Prinzip und Herrschaft: Herrschen und Beherrschtwerden um des gelungenen Lebens willen. Wenn in der Moral das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen gesetzt wird, muß man jeweils andere Moral je nach der Zeit des Jeweiligen setzen können. Diese Zweideutigkeit der Moral expliziert Nietzsche in seinem 1887 konzipierten „tractatus politicus", der den für seine politische Philosophie kennzeichnenden Titel trägt: „Von der Herrschaft der Tugend. Wie man der Tugend ^ur Herrschaft verhilft". Der Kerngedanke der politischen Philosophie des Nihilismus ist, „daß man die Herrschaft der Tugend schlechterdings nur durch dieselben Mittel erreichen kann, mit denen man überhaupt irgend eine Herrschaft erreicht, jedenfalls nicht durch die Tugend55. Bemerkenswert ist dabei, daß Nietzsche in bezug auf die moralische Grundlegung sowohl auf Platon wie auf Machiavelli rekurriert. Platons Herrschaft der Tugend und Machiavellis Politik zur Herrschaft: das ist in der Tat die merkwürdigste und umstrittenste Synthese im politischen Denken Nietzsches. Sie beruht auf der nihilistischen Einsicht, daß man angesichts der Anarchie des Nihilismus über die neue Bestimmung der Moral hinaus doch als Immoralist der Tat leben wollen kann und muß, um sich „an Arche" als Herrschaft des Prinzips zu halten. Nietzsches Politische Philosophie des Nihilismus handelt „von der Politik der Tugend, von ihren Mitteln und Wegen zur Macht"56, und ihr Kanon lautet: „Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: Herrschaft der Moral"57.
M
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KSA 11,37(8), S. 581. KSA 13, 11 (54), S. 25. Ebda., S. 26. Ebda., S. 27.
Der experimentelle Politik-Begriff zwischen Apolitie und Utopie
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§ 5. Der Politik-Begriff in den experimentellen Irrgängen ^wischen Apolitie und Utopie Nietzsches politische Philosophie des Nihilismus zielt auf die „Politik der Tugend", jenseits der moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Nietzsches Genealogie entlarvt das Auseinanderfallen von Metaphysik und Politik als das konsequente Resultat eines verkrampften Willens zur Macht, der sich in der unvermeidlichen demokratischen Bewegung vom Christentum über den Liberalismus bis hin zum Anarchismus manifestiert. Was an der Zeit ist und not tut, ist die „große Politik", die der im Nihilismus festgemachten, geschichtlichen Notwendigkeit entsprechend die neue Wahrheit ins Werk zu setzen hat. Nietzsches radikale Unterscheidung zwischen der „kleinen", d. h. sich auf der strategischen Ebene vollziehenden Politik und der diese erst begründenden „großen" Politik macht deutlich, daß Nietzsche mit seinem „tractatus politicus" nicht so sehr die Metareflexion über die methodisch erschließbare Sprache der Politik anstellt, sondern über die geschichtliche Bestimmung des Durchdringungsfeldes von Politik und Metaphysik nachdenkt. Dabei konzentriert sich Nietzsches Philosophie auf die Frage, wie im Kontext des Nihilismus ein Weg zur Begründung einer Ethik zu finden ist, und ob in dieser Richtung eine Synthese von Politik und Metaphysik möglich ist. Darin unterscheidet sich seine politische Philosophie radikal von der „Politischen Wissenschaft", die sich, vom metaphysischen Begründungszwang befreit, in der naturwissenschaftlich orientierten Logik eingerichtet hat, und sich aufgrund des selbstbezüglichen Methodenzwangs der logischen Stringenz der Begriffe und der die Wirklichkeit modellierende Projektion der Empirie durch die Logik zur Todeserklärung der politischen Philosophie genötigt sieht. In den Augen Nietzsches entpuppt sich „Politische Wissenschaft" als die Perversion der politischen Theorie durch die Logik. Als paradigmatisches Beispiel ist Hobbes zu nennen, der durch die im Anschluß an die resolutivkompositive Methode Galileis entwickelte geometrische Methode den Leviathan als die geometrisch figurierte Symbiose der großen Menschen und der großen Maschine konstruiert58. Der Leviathan ist die höchste Selbstproduktion des Menschen, in der sich der Mensch als neuer bürgerlicher Mensch hervorbringt. Die Paradoxie der Politik als Wissenschaft basiert selbst auf der generativen Methode, die im dialektischen Spiel von imitatio und generatio alles auf den Menschen stellt und um der Methode willen diesen ausschaltet. 58
Hierzu Vgl. Wolfgang Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1979, wo Hobbes als der Begründer der geometrischen Staatsphilosophie herausgestellt wird.
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In der Einleitung zum „Leviathan" spricht Hobbes den Grundsatz der wissenschaftlichen Politik aus: „Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen"59. Hier liegt ein entscheidender Hinweis auf die konsequente Entwurzelung des Menschen durch seine Selbstproduktion. Der Mensch entartet in dem Augenblick zu einer geometrischen Figur, in dem sich das Prinzip der Machbarkeit von der faktischen Welt der einzelnen und einzigartigen Individuen loslöst. Im gleichen Zug verwandelt sich der „contractus", in dem die atomisierten Individuen zu einer Einheit des Status zusammengezogen sind, zu einem allgemeinen „conceptus", der nur in Gedanken existiert. Damit haben wir einen sehr wichtigen Zusammenhang von Leviathan und Utopia, d. h. von Machbarkeit und Ortslosigkeit angeschnitten, der für die wissenschaftliche Politik konstitutiv ist. Bereits in der 1516 von Thomas Morus verfaßten „Utopia"60 wurde dieser Gedanke der experimentellen Machbarkeit zugrundegelegt; Faktizität und Fiktivität der politischen Ordnung der Utopie gehen derart ineinander über, daß der Nicht-Ort (Ou-topia) der einzig mögliche wohlgeordnete Ort (Eu-topia) bleibt. Wie der Hobbessche Leviathan die entindividualisierte Maschine ist, so ist der Fürst der Utopie Ademos, nämlich „ohne Volk". Daß Politik auf einer künstlich vom Menschen geschaffenen Ordnung beruht, ist die zentrale Voraussetzung für das neuzeitliche Gedankenexperiment, das im Endeffekt auf die Tilgung des Menschen hinausläuft. Der Mensch, der sich total auf sich selbst stellt, ist im Grunde ein „Nicht-Ort ohne Volk". „Der Mensch ist Mitte der Welt, doch ortlos"61. Wenn Nietzsches Politische Philosophie des Nihilismus mit dem Anspruch der „Erd-Herrschaft" auftritt, dann will er die Ortlosigkeit und Geschichtslosigkeit des sich auf sich selbst stellenden Subjekts an ihren Wurzeln erfassen. Denn aufgrund der leibhaften Verfassung des Menschen können alle politischen Probleme nur im geschichtlichen Kontext als solche erkannt werden. Die geschichtliche Horizontbestimmung und die philosophische Erörterung des Menschlichen sind Aufgabe der politischen Philosophie, die dem geschichtslosen und ortslosen Menschen die Authentizität und Dignität seines einmaligen Lebens zu verleihen hat62. 59
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Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. u. eingel. v. I. Fetscher, Darmstadt/Neuwied 1966, S. 5. Thomas Morus: Utopia, übers, v. G. Ritter, Darmstadt 1979. A. Baruzzi: Einführung in die politische Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1983, S. 113. Seit der maliziösen Todeserklärung der „Politischen Philosophie" von Peter Lasiert, die sich ausschließlich vom Theorieverständnis der über Methode sich definierenden Politikwissenschaft herleitet, hat sich eine Tendenz bemerkbar gemacht, mit dem Hinweis auf die geschichtliche Horizontstruktur der politischen Phänomene den Ausschließlichkeitsanspruch des szientistischen Methodenmodells zu relativieren. Diese Position ist in einer kurzen, treffenden Formel von J. R. Seeley sehr schön dokumentiert: „Political science without
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Dem Maschinen-Menschen, der durch die geometrische Methode in objektive Materialquanten zerteilt wird, wieder den Geschehenscharakter zu geben, und den ewigen Flüchtling, der, seinem Aufenthalts-Ort entzogen, mit dem Anspruch der Ubiquität nirgendwo ankommt, an seine leibhafte und ethische Wurzel zu erinnern: das ist die Aufgabe der „großen Politik", die der auf die Machbarkeit bauenden Politik der Neuzeit eine klare Absage erteilt. Was Nietzsche in seiner vierten „Unzeitgemässen Betrachtung" über Wagner sagt, gilt auch für ihn selbst: „er ist kein Utopist"63. Nietzsche ist schon sehr früh dem in der kleinen Politik der Neuzeit innewohnenden metaphysischen Glauben auf die Spur gekommen. Daß die Utopie eine Fluchtbewegung vor dem dämonischen Ethos und keine Konfrontation mit dem Problem des Menschen ist, zeigt Nietzsche deutlich, indem er sagt: Die gute Vernunft bewahre uns vor dem Glauben, dass die Menschheit irgend wann einmal endgültige ideale Ordnungen finden werde und dass dann das Glück mit immer gleichem Strahle, gleich der Sonne der Tropenländer, auf die solchermassen Geordneten niederbrennen müsse64.
Im utopischen Denken, das den Glauben an die Zukunft nicht aufgeben kann, erblickt Nietzsche aber zugleich ein zeitkritisches Nachdenken über politische Ordnung in Konfrontation der politischen Gegebenheit mit einem fiktiven utopischen Zustand. Damit die Utopie wirklich ein Eu-topia wird, setzt Nietzsche bei der geschichtlichen Horizontstruktur im Menschlichen an und versucht jene „Eigenschaften" wahrzunehmen, „welche nicht zum unveränderlichen Charakter und Knochenbau des menschlichen Wesens gehören, sondern wandelbar, ja vergänglich sind"65. Es handelt sich um die Zwischen-Struktur des Menschlichen, aufgrund deren die Zukunft doch in der Gegenwart präsent ist. Wird „die übermenschliche Güte und Gerechtigkeit" als Eskapismus desillusioniert, so kommt es bei der Reflexion über politische Ordnung darauf an, sich der dämonischen Natur des Menschen bewußt zu werden, d. h. „im Schlimmen wie im Guten, offener (zu) sein"66. Mit dieser neuen Aufklärung, „dass der freie Mensch sowohl gut, als böse sein kann", wendet sich Nietzsche mit großer Entschlossenheit gegen
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history has no root; history without political science bears no fruit"; siehe J. R. Seeley: Introduction to Political Science, zitiert nach: E. Faul: Politikwissenschaft im wesentlichen Deutschland. Bemerkungen zu Entwicklungstendenzen und Entwicklungsanalysen, in: Politische Vierteljahrschrift, 20. Jg. (1979), S. 90. Zu der Kontroverse zwischen der Politikwissenschaft und der Politischen Theorie bezüglich des Methodenarguments, vgl. Ernst Vollrath: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, S. 196 — 217: „Politische Wissenschaft, Politische Theorie und die Philosophie des Politischen". WB 11, KSA l, S. 506. Ebda. Ebda. Ebda.
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das Prinzip der Machbarkeit, um im Menschlichen die Natur wiederherzustellen. Damit berühren wir sogleich das „apolitische" Moment der Philosophie Nietzsches, das man gewöhnlich aus seiner „Artisten-Metaphysik" heraus begreift. Nietzsches philosophischer Auftritt beginnt in der Tat mit der Proklamation einer „Metaphysik der Kunst"67, deren Leistung angesichts der nihilistischen Welt ewiger und wesenhafter Vielheiten darin besteht, das Dasein und die Welt als ein ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen. „Ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt" ist aber zugleich der Grundsatz seiner politischen Philosophie. Denn das Ästhetische meint hier nicht den Gegenstand der „scientia cognitionis sensitivae"68, welche in Analogie zum cartesianischen Grundsatz „Ich denke" das ästhetische „Ich fühle" zum Ausgang nimmt, um die Gesamtheit der Vorstellungen unterhalb der Schwelle streng logischer Unterscheidung zu fassen; sondern es verweist primär auf die Kunst der Poiesis, die für alles Erkennen erst den Maßstab setzt, und zwar im Rekurs auf die Aisthesis, in der jedes Dasein in seiner Einmaligkeit aufgeht. Daß ästhetische Rechtfertigung in erster Linie das Ins-Werk-setzen der Wahrheit ist, zeigt deutlich, daß Nietzsche den Wert der Philosophie nicht in der Erkenntnissphäre, sondern in der Lebenssphäre sieht. Zur Grundlegung des Maßes, von dem her sich das Dasein rechtfertigen läßt, ist aber die Erkenntnis der die Welt durchwaltenden Natur notwendig: „der Philosoph erkennt die Sprache der Natur und sagt: ,Wir brauchen die Kunst' "69. Hier kündigt sich schon der Gedanke der moralischen Gesetzgebung jenseits von Gut und Böse an, der dann in einer Physiologie der Kunst zum Ausdruck kommt. Als Naturbeschreibung ist Nietzsches Philosophie insofern „apolitisch", als sie aus ihrer Zweckdienlichkeit herausgelöst wird und „nicht um eines anderen willen", sondern „allein um ihrer selbst willen" da ist70. Es ist hier daran zu erinnern, daß nach Aristoteles Metaphysik als die Theorie der Dinge nach den ersten Prinzipien und Ursachen eine „freie Wissenschaft" ist, entsprechend dem freien Philosophen, der in gewisser Weise auch ein Mythenfreund ist71. Die theoretische Wissenschaft ist also apolitisch, weil sie frei ist. Als Ideal in der entgöttlichten und von Machbarkeit durchdrungenen Welt schwebt Nietzsche offenbar der Weise des Aristoteles vor, der sich in der Theorie an das Göttliche hält und durch seinen göttlichen 67
GT 24, KSA l, S. 152.
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Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die Grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica" (1750/58), lat.-dt., übers, u. hrsg. v. H. R. Schweizer, Hamburg 1983, § 1. Hier kennzeichnet Baumgarten die Ästhetik als „untere Erkenntnislehre" (gnoseologia inferior).
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KSA 7, 19 (49), S. 435. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, I 2, 982 b27. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, I 2, 982 b!8f.
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Grund das diesem gemäße Leben führt. Der göttliche Grund, auf den sich „das theoretische Leben" in seiner Betrachtung der Dinge stellt, und in dem es sein Sein und sein Maß findet, ist zugleich das unterscheidende Prinzip, das zur Absonderung der Philosophen vom gewöhnlichen Leben führt. Das philosophische Leben stellt eine beinahe übermenschliche göttliche Tätigkeit dar, so daß Aristoteles den Philosophen denjenigen nennt, der Gott am nächsten ist72. Angesichts der praxisunfähigen Wissenschaft und der theoriefernen Arbeit ist Nietzsche entschlossen, an die Stelle des Leviathan den Übermenschen zu stellen, und statt der Utopie die Erd-Herrschaft zu erproben. Dabei geht es um die Herrschaft der philosophischen Lebensform, von der Nietzsches „tractatus politicus" handelt. Nietzsche konstatiert nämlich den Verlust der göttlichen Lebensweise „bios theoretikos"y der mit dem Tod Gottes wesentlich zusammenhängt: Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des philosophischen Lebens13.
Die Metaphysik Nietzsches ist — auch darin kommt er mit Aristoteles völlig überein — die theoretische Wissenschaft der Freiheit und Einsamkeit. Im Mögen des an den jeweiligen Dingen weilenden Göttlichen wendet sich der Philosoph vom menschlichen Leben ab, das durch Bedürftigkeit und Zwecke des Menschen bestimmt ist, um das Vermögen zum menschlichen Menschsein zu gewinnen. Daher versteht es sich von selbst, daß Nietzsche bei der Frage nach der philosophischen Lebensform das Problem der Einsamkeit aufwirft. Der kranken Kultur verschreibt er das Gift der Einsamkeit, die „tödtet, wenn sie nicht heilt".74 Die Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die Nietzsche in seinem „Buch für Alle und Keinen" erzählend verkündet, ist vielleicht die Toxikologie des Nihilismus, die uns zum einsamen Weg zu sich selbst auffordert. Da der schöpferische Geist nur in der Einsamkeit die Stätte seiner Schöpfung, seiner Selbstüberwindung und seiner Vollendung findet, gilt der Imperativ des Nihilismus: „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!"75. Das höchste Werk des Menschen vollzieht sich weder in der Gesellschaft noch in der Politik. Überhaupt gilt der Satz: „Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich"76. Der Grundgedanke ist, „daß Jeder, 72 73 74 75 76
NE, X 9, 1179 a30. MA I 5, KSA 2, S. 217. KSA 11,40(59), S. 658. Za I, Von den Fliegen des Marktes, KSA 4, S. 65. M, V 491, KSA 3, S. 290. Vgl. auch Ernst Bloch: Spuren, Gesamtausgabe Bd. I, Frankfurt/ M. 1969, S. 11: „Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beiden muß man heraus". Hier stoßen wir an einen Knotenpunkt des
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der frei werden will, es durch sich selber werden muss"77. Nietzsches Metaphysik der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist also insofern Apolitie, als sie sich jenseits aller Gesellschaft ansiedelt. Freiheit und Einsamkeit sind als Grundvoraussetzungen des bios theoretikos die Wesensstrukturen der Apolitie im Sinne des Weges von der Politik in die „Heimat Einsamkeit". Die wahre Heimat des Denkens, in die jeder Philosoph zurückkehren muß, ist Einsamkeit: „Aufrecht und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden: und wahrlich, wie Lob klingt es ihren Ohren, dass Einer mit allen Dingen — gerade redet!"78 So ist für Nietzsche die beinahe theologische Deutung der Apolitie auch das tragende Prinzip ihrer sittlichen Bedeutung; indem sie die Natur zum Gegenstand hat, wird ihre Freiheit zur Grundlage einer der physis entsprechenden Lebensführung. Der Erfassung des Ganzen der Dinge aus Gründen und Ursachen folgt demnach das Schaffen des neuen Horizontes, an dem sich das „Daß" der Dinge rechtfertigt. Daraus aber folgt, daß sich die Politische Philosophie wesentlich auf das Verhältnis von physis und poiesis, von Natur und Kunst bezieht. Hier liegt der entscheidende Hinweis auf den Zusammenhang von Utopie und Apolitie. Im genealogischen Blick wird die Utopie als das Wesen der in der Technik innewohnenden Machbarkeit entdeckt, so daß sich die „Utopie der Machbarkeit"79 als Perversion der Poiesis durch die Verdrängung der Physis erweist. Ohne die utopische Antizipation des Göttlichen am jeweiligen Seienden wäre die metaphysische Apolitie bloß „eine Flucht aus der handgreiflichen Ethik"80. Nietzsches politische Philosophie des Nihilismus behandelt die gegenseitigen Bedingungsverhältnisse von Politik und Metaphysik, indem sie Utopie und Apolitie als Grundstrukturen des Politischen herausstellt. Der Gegensatz der großen Politik zur kleinen durchgängig von Machbarkeit geprägten Politik läßt sich am besten in einem analog zu Nietzsches ethischen Begriff „Übermensch" gebildeten Wort ausdrücken, nämlich
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modernen Bewußtseins, den das auf sich selbst gestellte Individuum in sich geknüpft hat, ohne ihn wieder lösen zu können. Unabhängig von der denkerischen Herkunft stehen alle Richtungen der gegenwärtigen Philosophie vor diesem Dilemma der individualistischen Heteronomie, man denke z. B. an Heideggers „Herrschaft des Man".
WB 11, KSA l, S. 507. Za III, Die Heimkehr, KSA 4, S. 231 f. Vgl. Arno Baruzzi: Alternative Lebensform? Freiburg/München 1985, S. 124, bringt die Dialektik der in der Aufklärung hochstilisierten Machbarkeit auf eine kühne Formel: „Die Machbarkeit der Utopie endet in der Utopie der Machbarkeit". Die politische und wissenschaftliche Utopie, die auf Machbarkeit setzt, zeigt ihr wahres Gesicht in der Ubiquität, die konkrete Orte unserer Lebenswelt in ein „Nirgendwo im Sinne der Ortslosigkeit und Unbewohnbarkeit" verwandelt. KSA 7, 30 (35), S. 744.
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„Überpolitik"81. Wie Nietzsches Epistemologie des Willens zur Macht die metaphysischen Voraussetzungen der Moral und Wissenschaft aufdeckt, so hat seine politische Philosophie die zwischen Politik und Metaphysik bestehenden Voraussetzungen und begrifflichen Korrespondenzen zu erschließen, die von der kleinen Politik vorausgesetzt und damit regelrecht übersehen werden. Wenn Nietzsche sich mit seiner Artisten-Metaphysik der Aufgabe stellt, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens"82, dann legt er seiner anfänglichen Philosophie die Einsicht in den Zusammenhang von Theorie und Poiesis zugrunde. Diese Einsicht gewinnt er im Rückgang auf die elementaren Prozesse der Sinngebung, nämlich im Schritt zurück in jene „Genialen-Republik von Thaies bis Sokrates"83. Es ist für eine Nietzsche-Interpretation schlechthin entscheidend, die Bedeutung der Frage nach der Lebensform für Nietzsches Programm zu erkennen. Denn im genealogischen Rückgang wird dargestellt, wie sich die moralische Gesetzgebung im Austrag der Legitimationskrise des Ethischen und Politischen durch die Erzeugung des philosophischen Menschen-Typus vollzieht. Die Griechen zeichnen sich nach Nietzsche dadurch aus, daß sie das Leben, das sie wollten, sogleich leben konnten, indem sie sich selbst mit Rücksicht auf faktisches Leben Maß und Grenze setzten. Die Synthese von Wollen und Können vollzieht sich durch die moralische Gesetzgebung: darauf richtet sich auch Nietzsches Überpolitik aus, die sich zwischen den strukturellen Polen der Apolitie und der Utopie bewegt. Dabei hebt Nietzsche vier paradigmatische Merkmale des Typus des philosophischen Menschen hervor, welche zugleich die „Tyrannen des Geistes" auszeichnen: die strenge Notwendigkeit zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter, die Freiheit von jeder Konvention, die großartige Einsamkeit und die tugendhafte Energie84. Daraus wird ersichtlich, daß Nietzsches Überpolitik auf die Herrschaft der philosophischen Lebensweise ausgerichtet ist. Die Tyrannis des Geistes ist nicht die diktatorische Herrschaft im Namen der Wahrheit, sondern die Herrschaft der Wahrheit selbst. Und in diesem Sinne sagt Nietzsche: „Gesetzgeber sein ist eine sublimiertere Form des Tyrannenthums"85. Wenn aber die Zeit des Tyrannen des Geistes vorbei ist, drängt sich die Frage auf, welche 81
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Vgl. Manfred Riedel: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt/M. 1975, S. 52f. und 63f., wobei in Anlehnung an Aristoteles die Metapolitik als „kritischer Ausdruck für die zuerst bei Aristoteles nachweisbare und dann traditionell gewordene Vermischung von Politik und Metaphysik" herausgearbeitet wird. GT, Versuch einer Selbstkritik 2, KSA l, S. 14. PHG 2, KSA l, S. 810. PHG l, KSA l, S. 807. 261, KSA 2, S. 215.
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Herrschaft es unter den Bedingungen des Nihilismus geben kann, wie jeweils die moralische Sinngebung sich vollzieht, und mit welchen Mitteln eine Tugend zur Macht und Herrschaft kommt. Angesichts der Grundlosigkeit der modernen Welt geht es in Nietzsches zutiefst praktisch angelegter Philosophie um die Grundlegung einer neuen Moral, deren Maßstab die ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt ist, wobei das Ästhetische sich vom Wesen des Kunstwerkes ableitet86. Da der genealogische Durchgang des Nihilismus letztendlich zum Problem „Mensch", dessen Wesen ihm wesentlich verborgen bleibt, vorstößt, ist der Weg zur neuen Grundlegung ein Irrgang, der am Ende die tragische Verfassung des Menschen als unhintergehbares Datum bejahen muß. Wenn Nietzsche im Hinblick auf den Anfang der abendländischen Philosophie lapidar sagt: „was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben"87, so erweist sich seine Philosophie als eine dieses Geheimnisses. Seine Überpolitik entwickelt sich dementsprechend durch experimentelle Irrgänge zwischen Apolitie und Utopie, experimentell im Sinne der Setzung des Grundes (Hypothesis) durch die einsame Betrachtung der Dinge (Experimentum). Die Frage nach der politischen Philosophie bei Nietzsche muß daher ins Feld der Durchdringung von Politik und Metaphysik vordringen, statt in kritischem Radikalismus an Nietzsches „Vordergrund-Philosophie" vorbeizugleiten.
§ 6. Die Themen der politischen Philosophie des Nihilismus und die demokratische Bewegung
Nietzsches Metaphysik ist als „Ethik" Überpolitik. Die mit der Ethik verbundene Politik meint nicht politische Herrschaft überhaupt, sondern Herrschaft der Tugend. Schwierig bleibt aber die Frage nach den Möglich86
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Die hermeneutische Schwierigkeit beim Verstehen dieser Formel rührt vielleicht davon her, daß sich die Aufgabe der Interpretation von Begriffen im Rekurs auf einen tradierten Begriffsgebrauch nur vom Standpunkt der Philosophie der Neuzeit uns stellt. Da Nietzsche die zu denkende Sache oft mit den augenscheinlich selbstverständlichen Worten maskiert, wäre es angebracht, diese Begriffe von der Sache her zu deuten; nur im kritischen Blick auf das Selbe des von Nietzsche Gedachten meldet sich sogleich das „Andere", das den Selbstverständlichkeitsanspruch jener Worte ungültig macht. Man wollte z. B. in dieser Formel eine begrifflichen Widerspruch sehen, weil die beiden Begriffe, „Ästhetik" und „Rechtfertigung", sich miteinander nicht vertragen. Der tiefgehende Gedanke Nietzsches ist aber, daß Rechtfertigung sich nur „ästhetisch" vollzieht, d. h. einer, wie auch immer, der diskursiven Legitimation vorgehenden Grundlegung bedarf. Vgl. Volker Gerhardt: Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, in: Zur Aktualität Nietzsches. Bd. I, hrsg. v. M. Djuric und J. Simon, Würzburg 1984, S. 81—98, wo behauptet wird, daß eine ästhetische Metaphysik „ein hölzernes Eisen" sei, weil, „wer sich in Begründungen für eine ästhetische Rechtfertigung der Welt versucht, in die spekulative Haltung, die doch gerade überwunden werden soll, (zurückfällt)" (96). M A I 261, KSA 2, S. 217.
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keiten der theorie- und praxisfähigen Lebensführung. Es liegt nahe, daß Nietzsche angesichts der ethischen Neutralisierung der Politik einen Begriff des Politischen, der sich von den postmetaphysischen Gesellschaftsbedingungen ableitet, einzuführen versucht. Wie er im Nihilismus seiner Zeit eine genuine Möglichkeit des neuen Anfangs sieht und um des Durchbruchs willen das Ganze der abendländischen Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt, verläuft seine geistige Entwicklung durch experimentelle Irrgänge hindurch und gelangt zu einem Kulminationspunkt seiner Erkenntnis, wo „das Wahre, Gute und Schöne von da an wieder dasselbe (sind)"88. Mit der Umkehrung der Metaphysik, die sich im Nihilismus vollzieht, ist die äußerste Möglichkeit der Philosophie erreicht, welche einen neuen Anfang vorbereitet. In diesem Sinne unternimmt Nietzsche eine scharfe Konfrontation der demokratisch erzeugten Tyrannis mit der griechischen Tyrannis des Geistes, um die Bewegungsstrukturen des Nihilismus herauszuarbeiten. Ohne die kritische Analytik des Nihilismus wäre das bloß ein anachronistischer Versuch, auf der Spitze der entzauberten Moderne den antiken tragischen Mythos wieder herzustellen. So wenig möglich eine analytische Kritik der die ganze Erde umspannenden Demokratie ohne die geschichtsphilosophische Analyse des Nihilismus ist, so wenig sinnvoll ist auch eine bloß historische Rückwendung des Nihilismus ohne eine in die Zukunft weisende Erschließung seiner Grundstrukturen. So gelangt Nietzsche zur Einsicht, daß der Nihilismus im Grunde der nihilistischen Verfassung des Menschen entspringt. Es handelt sich um die dämonische Zwischen-Struktur des Menschen, die die Geschichtlichkeit der Geschichte und des Menschen bestimmt, und zwar im dialektischen Spiel von: „Der Mensch macht die Geschichte" und: „Die Geschichte macht den Menschen". Für das Verständnis des Wesens des Nihilismus tut man gut daran, den Nihilismus als die innere Logik dieses Geschehens in seinen Strukturen zu erschließen, anstatt die einzelnen Stationen der Verfallsgeschichte aufzuzeichnen. Dasselbe gilt auch für das Verständnis der politischen Philosophie Nietzsches. Wer seine Überpolitik in der ethisch vermittelten Korrespondenz von Metaphysik und Politik begreifen will, muß das Augenmerk auf die Strukturmomente des Nihilismus richten, statt aus den einzeln verstreuten Äußerungen über Politik eine politische Theorie rekonstruieren zu wollen. Nietzsche sah z. B. in der Expansion Rußlands die Chance zur Bildung des „Einen Willens" Europas, der endlich „die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokrati88
J. Simon: Friedrich Nietzsche, in: O. Hoffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie II, München 1981, S. 203-224, hier S. 215.
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sehe Vielvölkerei zu einem Abschluss"89 bringen sollte. Erblickt man aber darin die politische Idee eines vereinten Europas, so geht man in die Irre. Nietzsche wendet hier die Gesetzlichkeit des Nihilismus geographisch, um die Bewegungsstrukturen des Willens anschaulich zu machen. Rußland war in den Augen Nietzsches das Land, in dem die Symbiose der sozialistischen Utopie und der liberalistischen Machbarkeit am deutlichsten zutage tritt: „Da ist die Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille — ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung — in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden"90. Wie Hegels geographische Darstellung der Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit die Bewegungsstrukturen des freien Willens erschließt, so deckt Nietzsche hier die zweideutige Natur des Willens zur Macht auf. Das Land der totalen Politisierung ist aber zugleich das Land des Verlustes des Politischen. Gerade hier setzt Nietzsche mit seiner Forderung der „großen Politik" an: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, — den Zwang zur grossen Politik"91. Bei dieser Proklamation ist Nietzsche sich aber darüber im klaren, daß die Periode der Tyrannen ebenso vorbei ist. Die radikale logische Konsequenz in seinem Rückgang auf die elementaren Prozesse des Nihilismus darf nicht übersehen werden. Das heißt: Die Herrschaft, die es in den höheren Kultursphären freilich immer wird geben müssen, soll den Bedingungen des Nihilismus Rechnung tragen. Offenbar geht es Nietzsche darum, die im Nihilismus aufgestaute Willenskraft in eine die erdhafte Verfassung des Menschen bejahende Herrschaft zu kanalisieren und, „trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen"92, zu fördern. Um diese dem Menschen eigene Herrschaft bestimmen zu können, muß man den aufs äußerste zugespitzten Willen wollen können. Dazu ist es dringend notwendig, die zwischen Metaphysik und Politik bestehenden Voraussetzungen und begrifflichen Korrespondenzen zu erschließen, die Nietzsche durch seine ganzen Schriften hindurch philosophisch thematisiert. Von diesem Standpunkt aus kann man in der Tat die prima facie widersprüchlichen Sentenzen untereinander verbinden, „sobald man sie im Zusammenhang mit seiner Philosophie in einer nur ihm eigenen Perspektive interpretiert"93. Die Verdichtung einiger Grundformeln in den achtziger Jahren kommt nicht von 89 90
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JGB, VI 208, KSA 5, S. 140. Ebda., S. 139. JBG, VI 208, KSA 5, S. 146. MA I, 261, KSA 2, S. 218. Raymond Polin: Nietzsche und der Staat oder Die Politik des Einsamen, in: Hans Steifen (Hrsg.): Nietzsche. Werk und Wirkungen, Göttingen 1974, S. 27-44, hier S. 27.
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ungefähr, sondern sie hat sich auf verschiedenen Stationen seines Weges vorbereitet, an denen jeweils das Interpenetrationsfeld von Metaphysik und Politik in verschiedenen Perspektiven gemessen und durchleuchtet wird. Unter der Oberfläche der blendenden, in ihrer Radikalität kaum überbietbaren Kritiken der „kleinen Politik" findet sich noch eine tiefere Philosophie des Abgrundes, wo der Kampf um den rechten Weg in der Einsamkeit mit sich und in der Verlassenheit mitten unter vielen ausgetragen wird. Daß seine „Vordergrundsphilosophie" der Macht auch eine andere Philosophie verbirgt, gesteht Nietzsche selber in „Jenseits von Gut und Böse": „Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Widerhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus"94. Auf die Sprache dieses Schweigens ist aufmerksam zu hören, um die politische Linie der Entwicklung Nietzsches im Hinblick auf das Verhältnis von Politik und Metaphysik klar zu erkennen. Denn es handelt sich nicht nur um die thematische Kontinuität der Macht, sondern auch um die Konsistenz der philosophischen Problematisierungen dessen, was die Politische Philosophie des Nihilismus zum Gegenstand hat. Auf die innere Logik seines Philosophierens weist Nietzsche selber hin, indem er in einem Fragment von 1888 zum Vorwurf der Konsequenzlosigkeit seiner Philosophie Stellung nimmt: „Ich gebe meine Argumentation in allen wesentlichen Schritten, Punkt für Punkt. Mit etwas Logik in dem Leibe und einer mir verwandten Energie, mit einem Muth zu dem, was man eigentlich weiß ... hätte man diese Argumentation auch schon meinen früheren Schriften entnehmen können"95. Wir wenden uns nun dieser inneren Logik zu, indem wir uns an die Dreiteilung der philosophischen Phasen Nietzsches halten, die sich inzwischen durchgesetzt hat, und das in gleicher Phase thematisierte Verhältnis von Politik und Metaphysik anhand seiner Kritik der kleinen Politik erörtern. Dabei knüpfen wir zuerst an Henning Ottmanns' Nietzscheinterpretation an, die sich durch eine mit großer Akribie durchgeführte aufschlußreiche Erschließung des politischen Gehaltes des Werkes Nietzsches auszeichnet und darüber hinaus eine klar formulierte Aussage wagt: „Es gibt bei Nietzsche eine politische Philosophie"96. Die bekannte Gliederung seines Werkes in drei 94 95 96
JGB, IX 289, KSA 5, S. 233f. KSA 13, 14(183), S. 370. Hennig Ottmann: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, S.V. Mit dieser sorgfältig durchgeführten Untersuchung über Nietzsches Einstellung zur praktischen Politik im Hinblick auf seine Philosophie schließt H. Ottmann ohne Zweifel weitgehend eine Lücke der bisherigen Nietzsche-Forschung, die sich durch die der „Magie des Extrems" erlegene zweideutige Rezeptionsgeschichte erklären läßt. Charakteristisch für seine Unter-
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Perioden bildet auch für H. Ottmann die unangefochtene Grundlage der Auslegung, wobei sich die Bestimmtheit dieser Perioden in der politischen und philosophischen Doppelperspektive wandelt. Die denkerische Bewegung Nietzsches faßt H. Ottmann als „Verwandlungen" auf, „die aus dem DeutschGriechen den Europäer und Freigeist sowie schließlich den Philosophen des ,Menschen' und der ,Erde' werden ließen"97. Um die Wechselverhältnisse
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suchung ist schon der erste Satz, mit dem er sich auf die vielfaltigen Interpretationsströmungen, welche in seiner Sicht nur „les extremes se touchent" beweist, einläßt: „Man darf wieder Nietzsche lesen, und doch ist ein Teil seiner Lehre, seine politische Philosophie, noch immer von Legenden umrankt" (V). Allerdings bleibt bei Ottmann im Hintergrund, daß Nietzsches politische Philosophie nicht ein Teil seines philosophischen Systems, sondern, wie wir ausführlich darlegen werden, zugleich seine über die platonisch geprägte Philosophie hinausgehende, d. h. postmetaphysische Metaphysik ist. Nietzsches Lehre von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" ist insofern die „Metaphysik der Metaphysik" (K.SA 10, 9 (41), S. 358), als welche Nietzsche in einem Fragment aus dem Jahr 1883 seine Philosophie verstanden will. Zu Recht sagt H. Ottmann, daß das rechte Verständnis der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen „alles entscheidet" (361) und folglich der angemessene Zugang zu der politischen Philosophie „in der Beziehung von Machtwillen und Wiederkehr zu finden" (352) ist. Statt von diesem Standpunkt aus die Beziehung der einzelnen politischen Äußerungen Nietzsches zu seiner in den achtziger Jahren entwickelten Metaphysik eigens unter die Lupe zu nehmen, geht der Verfasser eindringlich auf die doppelte Rezeptionsgeschichte ein: zum einen auf Nietzsches Rezeption des Überlieferten, die sein Verhältnis von Gefangenheit und Befreiung zeigt; und zum anderen auf die Rezeption der Philosophie Nietzsches, die sich im Hinblick seiner Kritik sowohl des Liberalismus wie des Sozialismus analog zu Hegels Rezeption in Nietzsche'sche Rechte und Linke einteilen läßt. „Nietzsches Politik und Philosophie zu deuten", so Hennig Ottmann, „muß heute Aufgabe eher der Legendenzerstörung als der Legendennachprüfung sein" (6). Da Nietzsche von der Spitze der Moderne nicht nur auf die Antike zurückgedacht, sondern auch in das, was über diese Moderne hinausführt, vorausgedacht hat, setzt der Verfasser es sich zum Ziel, „Nietzsches Bild aus jenen Ahnengalerien zu lösen, in die es Gegner und Jünger stellen wollen. Nietzsche gehört in andere, antike wie moderne, gefüllt mit Bildern von Sokrates und Platon, Epikur und Epiktet, Thukydides und Machiavelli, Voltaire und Rousseau". (8) Daher erklärt sich der lexikalische Anspruch dieser Arbeit von selbst, Nietzsches Einstellungen zu den zeitgenössischen politischen Denkströmungen, diese selbst vor Nietzsche rechtfertigend, zu durchstreifen, um Denkmotive seiner Philosophie ausfindig zu machen. Am Ende der Untersuchung kommt ein Nietzsche heraus, der weder Kapitalist noch Liberalist ist, der „aus dem .Herrn der Erde' einen Diener derselben machen" (392) will. Wenn dieser recht gelungenen Untersuchung auch das Verdienst der ersten, systematischen Darstellung des Verhältnisses von Politik und Philosophie in Nietzsches Denken zukommt, kann man am Ende den Eindruck nicht los werden, daß im Durchgang der geistigen Entwicklung Nietzsches seine „Magie des Extrems" entzaubert wird, so daß seine Philosophie, die ihr eigene eigenartige Gegensätzlichkeit und Radikalität verloren, „lesbar" wird. In unserem Zusammenhang fällt ins Auge, daß Hennig Ottmann, um die jeweiligen politischen Positionen Nietzsches zu charakterisieren, in Anlehnung an Platon mit den voneinander nicht sauber abgegrenzten Begriffen wie „Apolitie", „Überpolitik", „Utopie" operiert. Ebda., S. 7, Zur Einteilung des Nietzscheschen Denkens, vgl. K. Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1981, S. 42ff., wo der Gang des Denkens Nietzsches in seinen Entwicklungsphasen „erstens als die Zeit kultur- und geniegläubigen Verehrens (bis 1876), zweitens als die Zeit positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit und kritischer Zersetzung (bis 1881), drittens als die Zeit der neuen Philosophie (bis zum Ende 1888)" charakterisiert wird. Siehe auch K. Ulmer: Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes, Berlin/München 1962, S. 20ff.
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69
von Politik und Philosophie in ihrer zeitgemäßen Feststellung der Vergangenheit und in ihrer unzeitgemäßen Vorzeichnung der Zukunft anschaulich darzustellen, wird jeder Periode ein plakativer Titel gegeben, was auch dem Aufbau der Untersuchung entspricht: Deutscher und Grieche (1858 — 1876), Europäer und Freigeist (1876 — 1882) und Philosoph des Menschen und der Erde (l880/82-l889)98. Nietzsche war bis zu seiner ersten philosophischen Schrift politisch konventionell, so daß der Entwicklungsgang bis zum ersten philosophischen Durchbruch als Geschichte einer allmählichen Befreiung von Konvention und Zeitgemäßheit verstanden werden muß. Bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang, daß Nietzsche schon zu Beginn seines Philosophierens den Bezugspunkt nennt, der den Sinn seines Werkes ausmachen soll: „Fatum und Geschichte"99. Im Gegensatz zur Natur als dem Bereich der Notwendigkeit gilt die Geschichte als Zusammenhang der in Willensfreiheit getroffenen Entscheidungen. Wenn Nietzsche in einem anderen Vortrag von 1862 „Willensfreiheit und Fatum" einander gegenüberstellt, setzt er sich schon ab von dem neuzeitlichen Begriff der Natur, die Kant zufolge nicht durch ein der Natur innewohnendes Gestaltungsprinzip, sondern durch die die Wirklichkeit erst konstituierenden Prinzipien der Vernunft hervorgebracht wird; Nietzsche greift hier auf den klassischen Begriff der „Physis" zurück, welche den Menschen zur Aktualisierung des ihm aufgegebenen Menschseins bringt: „das Fatum setzt den Menschen wieder in organische Verbindung mit der Gesamtentwicklung und nöthigt ihn, indem es ihn zu beherrschen sucht, zur freien Gegenkraftentwicklung"100. Hier kündigt sich schon ein Nihilismus „jenseits von Gut und Böse" an, der sich auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung der Natur zur Wehr setzt; denn „Fatum ist die 98
99
100
Um den ersten Überblick auf den Aufbau und den Vorgang der Interpretation H. Ottmanns zu schaffen, wird das folgende Schema gemacht. Perioden 1. Periode 2. Periode 3. Periode
(1858-1876)
(1876-1882)
(1880/82-1889)
Entwicklung
Deutscher und Grieche
Europäer und Freigeist
Philosophie
Artisten-Metaphysik
Philosoph des Menschen und der Erde Nihilismus
Dialektik der Aufklärung Politik Apolitik Überpolitik Utopie BAW II, 59. Damit ist das auf den Begriff gebracht, was Nietzsches ganzes Denken bestimmt und hervortreibt. Man kann an die Stelle des „Fatum" den anderen Grundbegriff „Natur" setzen; Natur und Geschichte: das ist das Grundthema des Nihilismus. Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit wird bereits aufgelöst, was später im Gedanken der „amor fad" zum Ausdruck kommt. Da diese strikte Unterscheidung das Produkt des auf sich allein gestellten, so metaphysisch vereinsamten Subjekts ist, wird deren Aufhebung sich als Befreiung des im Subjekt als Grund festgehaltenen Menschen erweisen. Willensfreiheit und Fatum, BAW II, 62.
70
Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
unendliche Kraft des Widerstandes gegen den Freien Willen; freier Wille ohne Fatum ist ebenso wenig denkbar, wie Geist ohne Reelles, Gutes ohne Böses"101. Da erst die Anerkennung des menschlichen Wesens als des Willens zur Macht den Willen selbst freisetzt, geht es Nietzsche darum, diese menschliche Natur aufzudecken. Ohne die Einsicht in das Wesen der Natur entartet der Mensch zum bloßen vom Prinzip der Kausalität beherrschten Automaten, und sein Handeln zum praxislosen Machen. Nietzsche hat dies klar ausgesprochen: „die fatumlose, absolute Willensfreiheit würde den Menschen zum Gott machen, das fatalistische Prinzip zu einem Automaten"102. Der Ansatz zu dem, was der tolle Mensch in der „Fröhlichen Wissenschaft" verkündet, ist nicht verkennbar: „Gott ist tot". Das Fatale der neuzeitlichen Autonomie erblickt bereits der junge Nietzsche darin, daß der Mensch, wenn er die Natur in sich und außer sich verdrängt, in der Konsequenz seiner Selbsterkenntnis schließlich Gott tötet, aber nicht weiß, daß er damit nur Selbstmord begeht. Der Spruch vom Tod Gottes besagt dann, daß der Mensch tot ist. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, daß Nietzsche es sich zur inneren Aufgabe seines Denkens macht, den Menschen vom selbst verschuldeten Sklaventum der Automaten zu retten und ihm zu einer der Natur entsprechenden Herrschaft zu verhelfen. „Der Wille zum großen Menschentum und zur höheren Kultur" ist, wie K. Ulmer sagt, das, „was Nietzsches ganzes Denken bestimmt und hervortreibt"103. Nach 1870 betreibt Nietzsche mit aller Kraft die Demaskierung des letzten Menschen. Dabei tritt er als „Hemmschuh im Rade der Zeit" und als „Arzt der Cultur"104, wie er so den „Philosophen" definiert, auf. Daß Nietzsche in dieser ersten Periode der „Unzeitgemässen Betrachtungen" die Kultur als Maßstab für die Politik setzt, zeigt sich schon in seiner berühmten und berüchtigten These, „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehöre"105. Damit wehrt er sich vehement gegen die Perversion der Politik, welche bloß auf die hedonistische Leidensminderung hinausläuft. In seiner schonungslosen Kritik am Zeitgemäßen führt Nietzsche gegen den Sozialismus keineswegs das Argument von der Kulturnotwendigkeit des Krieges ins Feld. Genauso wenig hat er mit seiner Kritik des bürgerlichen Egoismus und der Entfremdung die Idee des Rechtstaates preisgegeben106. Als „Hemmschuh 101 102 103 104
105 106
Fatum und Geschichte, BAW II, 59. Willensfreiheit und Fatum, ebda. K. ULmer, a. a. O., S. 12. KSA 7, 19 (17) und 23 (15), S. 545. Der griechische Staat (1872), KSA l, S. 767. Vgl. Hennig Ottmann, a. a. O., S. 30. Bei seiner Interpretation hält er an der liberalistischen Tradition moderner Solidarität, Gleichheit und Humanität fest und relativiert die Radikalität der Zeitkritik Nietzsches, die diesen „als Gegner des Machtstaates und nationaler Machtstaatspolitik, als Gegner des Rechtsstaaates und des Liberalismus, als Gegner des Sozialismus"
Nihilismus und demokratische Bewegung
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im Rade der Zeit" wendet er sich dem zu, was not tut, indem er versucht, dieses Notwendige begrifflich auf den Punkt zu bringen. So konzentriert sich sein unzeitgemäßer analytischer Blick auf den inneren Zusammenhang, der über die Systemunterschiede hinaus Sozialismus und Liberalismus miteinander verbindet. In Nietzsches Sicht entpuppt sich die Moderne als eine „durchaus sklavisch sich gebahrende und dabei das Wort „Sklave" ängstlich scheuende Welt"107. Diese Selbsttäuschung des modernen Menschen liegt im Wesen der neuzeitlichen Bestimmung des Menschen. Die Ideologie der Menschenwürde kaschiert, daß alles sich quält, „um ein elendes Leben elend zu perpetuieren"108. Um den Sprung zur Selbsterkenntnis des Menschen zu schaffen, bedarf es der Entlarvung des dem Glück blind nachjagenden Menschen, der sich in verfügten und selbstverfügenden Verhältnissen befindet. Um die Menschenwürde nicht als bloße Eigenschaft, sondern ursprünglich zu denken, dreht Nietzsche den Spieß neuzeitlich errungener Autonomie um, indem er die Menschenwürde als Eignung des Menschseins versteht. Die revidierte Autonomie, die Menschenwürde als Eignung, herrscht nämlich dort, „wo das Individuum völlig über sich hinausgeht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß"109. In diesem Kontext muß seine provokative These von der Kulturnotwendigkeit des Sklaventums gelesen werden, wie er anschließend gleich hinzufügt: „eine Wahrheit freilich, die über den absoluten Werth des Daseins keinen Zweifel übrig läßt"110. Diese Wahrheit besagt nämlich, daß das Menschenrecht nur im Übergang des Menschlichen ins Göttliche, nämlich in der Selbstüberwindung des Menschen liegt. Nietzsches Kritik der gegenwärtigen Zustände und des gegenwärtig herrschenden Menschentypus schreckt vor nichts zurück, wenn er klar sagt: in der neueren Zeit bestimmt nicht der kunstbedürftige Mensch, sondern der Sklave die allgemeinen Vorstellungen: als welcher seiner Natur nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen Namen bezeichnen muß, um leben zu können. Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit, sind die dürftigen Erzeugnisse des sich vor sich selbst versteckenden Sklaven thums111.
Da die real existierende Entfremdung des Menschen von den sogenannten „Grundrechten des Menschen" verschleiert und die verkehrte Gesellschafts-
107 108 109 110 111
ausweist, indem er die Worte wie „Sklave" und „Krieger" als „übersteigerte Gegenbilder zu Sozialismus und Kapitalismus" auffaßt. Hingegen ist zu fragen, in welcher Hinsicht Nietzsches Kritik der Moderne Kapitalismus und Sozialismus einschließt. Der griechische Staat, a. a. O., S. 764. Ebda. Ebda., S. 766. Ebda., S. 767. Ebda., S. 765.
72
Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
Ordnung, deren strukturelle Gewalt nicht weniger schlimm ist, von der Ideologie der Gleichberechtigung aller aufrechterhalten wird, ist es für Nietzsche nur ein kleiner Sprung zur Erkenntnis der „grausam klingenden Wahrheit", die angesichts der im Namen des Menschenrechts das Menschsein verdrängenden Unkultur „der Geier" ist, „der dem prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagt"112. Nietzsches Geier greift so ins Herz der Moderne ein, indem er die verzerrten Lebensformen des seiner Natur entwurzelten Menschen aufdeckt. In den Exempla des Kulturverfalls wie D. Fr. Strauß, E. v. Hartmann und E. Dühring erblickt Nietzsche den reinen „Philistertypus", der aufgrund des Mangels jeder Selbsterkenntnis „überall das gleichförmige Gepräge seiner selbst wiederfindet und nun aus diesem gleichförmigen Gepräge aller .Gebildeten' ... auf eine Kultur schliesst"113. Während die wahre Kultur „die zur Harmonie Eines Stils zusammenlaufende Mannigfaltigkeit" voraussetzt, kommt die Philisterei nur dadurch zur Herrschaft, daß sie alle künstlerisch produktiven Formen und Förderungen eines wahren Stils ausschließt und negiert; als dauerhaft begründete stilisierte Barbarei erhält nunmehr die zur Herrschaft gebrachte Philisterei des negativen Wesens „ein System der Nicht-Kultur"114. Im Gegensatz zur Philosophie, die nach Aristoteles doch eine „suchende Wissenschaft" ist,115 lautet die Philisterlosung: „es darf nicht mehr gesucht werden".116 An die Stelle des Suchens tritt das bequeme „Finden", das von grenzloser Neugierde heimgesucht ist und daher nie ankommt. „Das Suchen überhaupt zu verdächtigen und zum bequemen Finden aufzufordern": das ist „das Ziel dieser unphilosophischen Bewunderer des nil admirari"117. Nietzsche erblickt hierin die Herkunft des passiven Nihilismus. Es handelt sich hier um Nietzsches Kritik am neuzeitlichen Subjekt, das sich auf sich beschränkt und nicht über sich hinauskommt. Der unphilosophische Nihilismus ist so die letzte Konsequenz der abendländischen Metaphysik, die nicht mehr als eine über den Menschen hinausge112 113
1:4 115
116
117
Ebda., S. 767. DS 2, KSA l, S. 165. Ebda., S. 166. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, IV 2, 1003 a26ff. und Metaphysik, VII l, 1028 b2. Daraus geht hervor, daß Metaphysik als eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht, die Prinzipien und die höchsten Ursachen sucht und das zum Gegenstand hat, „das jetzt und von alters und immer gesucht worden ist und immer von neuem in Frage gestellt wird". DS 2, KSA l, S. 168. DS 2, KSA l, S. 168 und 169. Hier verwendet Nietzsche zum ersten Mal den Begriff des „Experimentierens", den er dem philiströsen Verlangen nach Ruhe entgegenhält: „Aus alle dem wilden Experimentieren rettete er sich in's Idyllische und setzt dem ruhig schaffenden Trieb des Künstlers ein gewisses Behagen entgegen, ein Behagen an der eigenen Enge, der eigenen Ungestörtheit, ja an der eigenen Beschränktheit". Es ist im Auge zu behalten, daß Nietzsche das Wort „Experimentieren" hier im Sinne der philosophischen Suche nach dem Grund gebraucht.
Nihilismus und demokratische Bewegung
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hende Disziplin betrieben wird, sondern nur noch als menschliche Metaphysik118. Die Frage nach den Menschen wurde von der klassischen Metaphysik, die in ihrer Suche nach dem Göttlichen doch das Wesen des Menschlichen traf, niemals zur umfassenden Frage allen Philosophierens erklärt. Erst bei Kant, der alle Bereiche der Philosophie um die zentrale Frage, „Was ist der Mensch", sammelt119, rückt sie in den Mittelpunkt. Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist das Ausloten des menschlichen Erkenntnisvermögens auf die Kraft der menschlichen Vernunft hin. Kants transzendentale Methode, die den Bereich der Wißbarkeit erschließt, verschließt zugleich den Weg zu den Dingen. Darin liegt gerade die „fundamentale Antinomie des Idealismus", von der Nietzsche spricht: „gerade die Vernunft sollte ihm sagen, wie wenig durch die Vernunft über das Ansich der Dinge auszumachen ist"120. Am Anfang des Philosophierens Nietzsches sind Gesellschaftskritik und Vernunftkritik miteinander verschränkt. Die Dämonie des auf menschliche Machbarkeit setzenden Humanismus besteht paradoxerweise in der Verdrängung des Dämons, der den sich auf spreizenden Menschen an seine tragische Verfassung des Zwischen erinnert. Der Bildungsphilister, der sich durch das büchermäßig uniforme Urteilen charakterisiert, erschreckt uns „durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung alles urspünglichen Hineinsehens in die Menschen"121. Da es sich in Wirklichkeit um die Unfähigkeit der Erfahrung des anderen handelt, ist es die stilisierte Barbarei der Philister: Mit welcher Laterne würde man hier nach Menschen suchen müssen, die eines innigen Sich-Versenkens und einer reinen Hingabe an den Genius fähig wären, und die Muth und Kraft genug hätten, Dämonen %u ciiiren, die aus unserer Zeit geflohen sind122.
Der freie Wille, durch den der Mensch aus der Verfügungsgewalt Gottes entlassen ist, nimmt sich selbst in Besitz; und das Wissen macht die Natur zum Eigentum des Menschen. Der Perversion des Menschen, der sich selbst zum verfügbaren Bestand macht, entspricht die Verkehrung der Natur. Das Prinzip der Kausalität, nach dem der Mensch seine Verfügungsgewalt auf die Erde ausübt und sich dabei als Täter mit einem freien Willen begreift, ist in 118
119
120 121 122
Hierzu vgl. Max Müller: Existenzphilosophie. Von der Metaphysik zur Metahistorik, hrsg. v. A. Halder, Freiburg/München 1986, S. 181 f. Den Zusammenhang von Philosophie und Anthropologie betont Kant, wenn er in seiner Logikvorlesung meint, daß man „im Grunde" alle philosophischen Fragen „zur Anthropologie" rechnen könne; vgl. I. Kant: Logik (Titel der Originalausgabe: Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen, Hrsg. Jäsche, 1800), in: I. Kant: Werke in zehn Bänden, hrsg. W. Weischedel, Bd. 5, Darmstadt 1983, S. 448.
DS 6, KSA l, S. 191. DS 8, KSA l, S. 204. Ebda. (Hervorhebung, Lee)
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
der Tat „das fatalistische Prinzip zu einem Automaten"123. Der Mensch, der in sich einen sicheren Grund legen wollte, geriet an den Rand des Abgrundes und verwandelt sich in einen Sklaven seiner selbst. Nicht-Kultur und Unmensch: so lautet das Ergebnis der unzeitgemäßen Betrachtungen Nietzsches und, wie wir meinen, der kritischen Wahrnehmung seiner Zeit für die Bildung der politischen Philosophie des Nihilismus. In der Erscheinung des dekadenten Philister-Typus erblickt Nietzsche „gefahrliche, für Kunst und Gesellschaft gleich bedenkliche Verkümmerungen der politischen Sphäre"124. Wie Nietzsche den Begriff des Sklaven im Kontext der praktischen Philosophie gebraucht, so liegt es nahe, daß er das Politische vom wesentlichen Zusammenhang von Politik und Metaphysik her versteht. Praxis ist Voraussetzung für Politik; aber Arbeit ist keine Praxis. Unter der Herrschaft der automatisierten Menschen wird „die Politik zum Mittel der Börse und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst"125 mißbraucht. Der aristotelischen „Politik" ist Nietzsche insofern verpflichtet, als er die besondere Problematik der Ökonomie, anders als Marx, im Zusammenhang mit der praktischen Philosophie behandelt. Wenn der moderne Mensch im vollen Bewußtsein dekretiert: „der Egoismus soll unser Gott sein"126, dann vollzieht sich dadurch die anthropologische Wende der Sophistik nachträglich, indem die Tugend der Pleonexie zum gesellschaftlichen Prinzip schlechthin erklärt wird. Der Staat ist weder der ideologische Bezugspunkt der politischen Handlung noch der „Status" des gesellschaftlichen Halts, er wird zu einer „Schutzanstalt egoistischer Einzelner"127 degradiert, die nunmehr für das möglichst ungestörte Nebeneinanderleben der atomisierten Individuen sorgt. Wollte man aber in Nietzsches Kritik an dem modernen Staat eine individualistische Aversion gegen alle Institutionen sehen, geht man an der Sache vorbei. Im Gegenteil, Nietzsche spricht von der „ungeheuren Notwendigkeit des Staates, ohne den es in der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen"128. Was Nietzsches Denken bestimmt und hervortreibt, ist die Notwendigkeit einer orthaften Bestimmung der politischen Gemeinschaft und einer Wiedergewinnung des Menschlichen, das gerade im Zuge der Feststellung des Menschen paradoxerweise verdrängt worden ist. Das Nietzscheanische Denken richtet sich dementsprechend auf die Rehabilitierung der Philosophie bzw. der philosophischen Lebensform aus. 123 124 125 126 127 128
Willensfreiheit und Fatum, BAW II, S. 59. Der griechische Staat, KSA l, S. 772. Ebda., S. 774. HL 9, KSA l, S. 321 (Hervorhebung, Lee). Der griechische Staat, KSA l, S. 774. Ebda., S. 770f.
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Angesichts der von „Sucht" heimgesuchten Welt geht Nietzsche unermüdlich auf die Suche nach der inneren Logik dieser dekadenten Bewegung. Schon zur Zeit der „Unzeitgemässen Betrachtungen" glaubt Nietzsche, daß zwischen dem gesellschaftlichen Dekadenzphänomen und der Geschichte der Philosophie ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Denn in dem System der historischen Weltbetrachtung, das Hegel geschichtsphilosophisch wie philosophiegeschichtlich aufbaut, erblickt Nietzsche nichts anderes als die „Selbstvernichtung der Philosophie"129. Dem berühmten Satz aus der „Rechtsphilosophie" Hegels: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig"130, hält Nietzsche die Frage entgegen: „Ist diese Unvernunft wirklich?"131. Unvernunft deswegen, weil der Mensch, der sich auf Selbsterhaltung stellt, letztendlich nur sich selbst vernichtet. Unvernunft und Unkultur sind deckungsgleich. „Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das entzündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiter-Standes abgeben mag, ist eben jene Philister-Kultur"132. Wenn Nietzsche die Geschichte genealogisch als Fortschritt der Unvernunft freilegt, so muß er auch die innere Logik dieser Dekadenzgeschichte erschließen. Der Entwicklungsgang Nietzsches erweist sich vor diesem Hintergrund als der Hin- und Hergang zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, bis er in der „Götzen-Dämmerung" unter dem Titel „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde" diese „Geschichte des Irrthums" darstellt133. Nietzsche faßt diese Geschichte der Unvernunft aus einer doppelten Perspektive: politisch als „demokratische Bewegung" und philosophisch als „Nihilismus". Dabei greift Nietzsche ein antikes Bild auf, das die Interpenetration von Unvernunft und Unkultur deutlich zeigt und ihm daher als Spiegel der Epoche dient: Sokrates und den Sokratismus. In der Tat fungiert der Sokratismus als „das antik-moderne Vexierbild134. Das Problem des Sokrates ist nämlich unser Problem, oder vielleicht das Problem, das von alters her immer gesucht worden ist und von neuem in Frage gestellt wird. Nach Nietzsche hat der Sokratismus „das mörderische Prinzip"135 der Erkennbarkeit und Machbarkeit freigesetzt, durch das die tragische Verfassung des Menschen in der Duplizität des Dionysischen (Weltoffenheit) und des Apollinischen (Welt129 130 131
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), KSA l, S. 742. G.W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, Frankfurt/M. 1970, S. 24. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, KSA l, S. 742.
132
DS 8, KSA l, S. 205.
133
Siehe GD, Wie die „wahre Welt" endlich zur Fabel wurde, KSA 6, S. 80/81. H. Ottmann, a.a.O., S. 38: „Nietzsches Antisokratismus war doppeldeutig, eine mißlungene Kritik des historischen Sokrates auf der einen, eine beachtliche Kritik der Epoche auf der anderen Seite". Hingegen kann man einwenden, daß Nietzsche Sokrates primär und grundsätzlich als „Problem" auffaßt, nicht als eine historische Person.
134
135
GT 12, KSA l, S. 87.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
bildung) an die Peripherie gedrängt wurde. Mit Sokrates ist zugleich der „Typus des theoretischen Menschen" in die Welt gekommen, ein Mensch mit „Wahnvorstellungen", nämlich mit dem „unerschüttlichen Glauben", dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern zu corrigiren im Stande sei136.
Erkennbarkeit und Korrigierbarkeit der Welt sind das mörderische Prinzip der Kausalität, durch das die demokratische Bewegung in Gang gesetzt wird. An die Stelle des Dramas, des Geschehens tritt der „deus ex machina", den der ästhetische Sokratist Euripides einführt. So erklärt Nietzsche Euripides zum Wegbereiter der Massendemokratie: „Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere, mit unerhörter Klugheit Land und Gut verwalte und ihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit"137. Wesentlich ist hier, daß ein bestimmter Typus des Menschen unmittelbar mit der gesellschaftlichen Formation des solchen gleichen Prinzips zusammenhängt. Die Logik des Sokratismus läßt sich auf eine Formel bringen: „ G l e i c h s e t z e n des Nicht-Gleichen" 1 3 8 . Es handelt sich um die von Parmenides präludierte Tautologie, die als Ontologie des Gleich-Bleibenden in ihren Metamorphosen die moderne nivellierte Gesellschaft hervorgebracht hat. In einem 1884 verfaßten Fragment faßt Nietzsche die Logik der „demokratischen Heerde" in einer Formel zusammen: „ G l e i c h m a c h u n g Aller" 139 . Während der Begriff durch das Übersehen des Individuellen und des Wirklichen entsteht, geht die Demokratie auf die Logisierung des Volkes. Denn „nichts nämlich ist demokratischer als die Logik"140. Vor diesem Hintergrund führt jeder Versuch, das Volk zur Raison zu bringen, zur Manipulation und Berechenbarmachung des Volkes. Dieses innere Prinzip der demokratischen Bewegung sowohl auf der logischen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene hebt die geläufigen Grenzen zwischen dem Sozialismus und dem Liberalismus auf. Der Sozialismus will durch das Prinzip der Machbarkeit die Lüge der Gleichheit der Menschen verwirklichen, während der Liberalismus auf der Gleichheit der Menschen beharrt, die nur noch die Machbarkeit der Welt hervorbringt. In einem Fragment von 1887 schreibt Nietzsche nochmals im Hinblick auf Sokrates: 136 137 138
139
GT15, KSA l, S. 98f. GT 11, KSA l, S. 77. lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), KSA l, S. 880 (Hervorhebung, Lee). KSA II, 27 (80), S. 295 (Hervorhebung, Lee). 348) KSA 3> s 584
Nihilismus und demokratische Bewegung
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„Die Wissenschaft und die Demokratie gehören zusammen"141. Gleichheit und Machbarkeit stehen im Zentrum der Nietzscheschen Kritik des Nihilismus. Nietzsches Freigeist votiert gegen alle Tendenzen zur Demokratie, indem er die geheime Verwandtschaft der bürgerlichen und der sozialistischen Welt aufdeckt142. Er geht mit den sich selbst liberal nennenden Bürgerlichen scharf ins Gericht: „eure eigene Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Sozialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten lasst, wie als ob sie dort etwas Anderes wäre"143. Nietzsche sieht darüber hinaus im Sozialismus die letzte Konsequenz der vom Sokratismus begleiteten geschichtlichen Bewegung. Der Sozialismus bringt nämlich den in der Aufklärung entstandenen Gedanken der „Soziabilität" zum Abschluß.144 Nietzsches Urteil über den Sozialismus lautet lapidar: Die H e e r d e n t h i e r - I d e a l e — jetzt gipfelnd als höchste Wertkanset^ung der „Societät": Versuch ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Werth zu geben145.
Da das im Sozialismus verkörperte Ideal Ubiquität und universale Objektivität beansprucht, liegt es nahe, daß der Sozialismus die Objektivation des als Symbiose von Leviathan und Utopie veranschaulichten Wesens der kleinen Politik ist. Sozialismus ist die Herrschaft der „gleichmachenden, gleichstellenden Tugenden"146 und das Nirgendwo der bloßen Machbarkeit. In der genealogischen Kritik zeigt sich, „daß in einer socialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet".147 Nihilismus und Sozialismus fallen zusammen, denn Sozialismus ist nichts anderes als die gesellschaftliche Konsequenz des Nihilismus. Der Sozialismus bringt nämlich den verkleinerten Menschen ohne Eigenschaften und die Erde ohne Natur 141
142
143
144
145 146 147
KSA 12, 9 (20), S. 347. Zur Verschränkung von Demokratie und Wissenschaft aus der Sicht der Gegenwart, vgl. A. Baruzzi: Europäisches „Menschenbild" und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Freiburg/München 1979, S. 100: „Die Wissenschaft will demokratisch und die Demokratie wissenschaftlich sein. Die Wissenschaft sucht den Konsens und ist insofern demokratisch; die Demokratie sucht den vernünftigen Menschen und ist insofern wissenschaftlich". Zur Demokratie-Kritik Nietzsches, vgl. Stefan Breuer: Friedrich Nietzsche, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. I. Fetscher und H. Münkler, Bd. 5: Neuzeit: Vom Zeitalter des Imperialismus bis zu den neuen sozialen Bewegungen, München/Zürich 1987, S. 163-172. VM 304, KSA 2, S. 503. Die Aufklärer gehen davon aus, daß der Mensch sich selbst in dem ihm von Natur gegebenen Streben nach Glück zum sozialen Wesen machen kann. Für die Aufklärung ist der Mensch nicht nur animal rationale, sondern auch animal sociabile. Die Soziabilität des Menschen gründet in seiner Rationalität, die sich in der Herstellung der Sozietät vollzieht. Vgl. A. Baruzzi: Einführung in die politische Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1983, S. 170f.
KSA 13, 11(140), S. 65. KSA 11, 37(14), S. 589. KSA 11, 37(11), S. 586.
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Die Frage nach der politischen Philosophie des Nihilismus
hervor, und der Nihilismus zeigt, welche Herkunft der Sozialismus hat. Seine Kritik faßt Nietzsche wie folgt zusammen: Der Socialismus — als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, der Oberflächlichen, der Neidischen und der Dreiviertels-Schauspieler — ist in der That die Schlußfolgerung der modernen Ideen und ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, — aber man folgert nicht mehr148.
Die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei führt zum Anarchismus, zur Herrschaft ohne Prinzip. Daraus folgert Nietzsche, daß ein neues Prinzip geschaffen werden muß. Aber diese Schlußfolgerung bequemt sich nicht mit einem Rückgang auf das antike Vorbild, sondern nimmt diese geschichtliche Entwicklung konsequent ins tragische Wesen des Menschen auf. Mit anderen Worten, Nietzsche sieht „die demokratische Bewegung als etwas Unvermeidliche s"149 an. Da sich diese Bewegung in Nietzsches genealogischer Rückwendung als die innere Logik der abendländischen Geschichte herausstellt, gilt es, diese Bewegung noch zu beschleunigen, damit die Strukturen des Verhältnisses von Politik und Metaphysik deutlicher ans Licht kommen. Wenn „die demokratische Bewegung unaufhaltsam" ist150, und wenn diese nur „die Gesamte Entartung des Menschen" zur Folge hat, dann drängt sich die Frage auf: „Wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen?"151 Nietzsche sucht diese demokratische Bewegung zu überwinden, indem er sie radikalisiert. Um diese Bewegung umzukehren, müssen die von der Herde festgehaltenen starken Menschen im Einzel- und Ausnahmefall noch stärker geraten, um einen anderen Menschentypus zu zeigen, so wie die Demokratisierung auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft. Nietzsches Hoffnung: „die Demokratisierung Eurapa's ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen"152. Man könnte wieder vor dieser radikalen Diagnose Nietzsches, die vor nichts zurückschreckt, die Flucht ergreifen, um sich auf den Standpunkt des Humanismus der Moderne zu stellen. Nach Nietzsche ist aber dieser bequeme Weg unmöglich geworden, denn die Selbstenttäuschung des auf sich allein gestellten Subjekts meldet sich überall. Nietzsche sagt: „Wer diese 148
Ebda.
149
KSA 11, 34 (108), S. 456 (Hervorhebung, Lee). Nietzsche interessiert sich grundsätzlich für die „demokratische Gesamtbewegung", nicht für den nationalen Staat. Vgl. KSA II, 26 (352), S. 242. i» ^-jj 275, KSA 2, S. 571: „Die Demokratisierung Europa's ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer". 151 JGB, V 203, KSA 5, S. 126ff. 152
JGB, VIII 242, KSA 5, S. 183.
Nihilismus und demokratische Bewegung
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Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, — und vielleicht auch eine neue Aufgabe!"153 Es handelt sich um die Aufgabe der politischen Philosophie des Nihilismus. Diese Aufgabe kreist um das Problem „Mensch", denn Nietzsche faßt „die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungsform des Menschen"154 auf.
153
154
JGB, V 203, KSA 5, S. 128. Ebda., S. 126.
III. Kapitel: Der Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik § 7. Der Antagonismus von „wahr", „schön" und ,&ut" als Gegenwart des Nihilismus „Europäischer Nihilismus" — das ist das Verdikt Nietzsches für seine Interpretation der abendländischen Geschichte, die sich, mit Parmenides präludierend, als eine Geschichte des metaphysischen Denkens entwickelt hat. Nihilistisch ist die Geschichte der abendländischen Metaphysik nicht nur von ihrem Anfang an, sondern von Grund auf und damit auch ihr Verhältnis zur Welt wie ihr Versuch der weltlichen Transfigurationen1. Nietzsche entlarvt nicht nur die Geschichte des Abendlandes als Nihilismus, in dem die zu Ende gedachte Logik der Geschichte zum Vorschein kommt; sondern er versteht sich selbst als „der erste vollkommene Nihilist Europas"2, der in sich selbst den Nihilismus zu Ende gelebt hat. Nihilistisch ist selbst noch ihre Entlarvung und ihre Überwindung". Aus dem sich antigeschichtlich gebärdenden nihilisti1
2 3
Vgl. Emanuele Severino: Vom Wesen des Nihilismus, Stuttgart 1983. Der Verfasser setzt sich von der existentialistischen Deutung des Nihilismus radikal ab, derzufolge das Existieren des Daseins mit dem Nichts zu tun hat und im Bewußtsein seiner Nichtigkeit doch zur Erhellung des Daseins gelangen kann; und er behauptet dagegen im Rückgang auf Parmenides, daß das Wesen der europäischen Kultur Nihilismus ist, „weil das Zunichtemachen der Dinge, die Überzeugung, daß das Seiende ein Nichts ist und das von dieser Überzeugung geleitete und bestimmte Handeln der Grundsinn des Nihilismus ist" (S. 28f.), Severino zufolge ist „Blitz der Existenz selbst die Nacht des Nichts". Hier muß nur betont werden, daß sein Verständnis des Nihilismus von dem Nietzsches nicht grundverschieden ist, wenn er sagt: „Der Nihilismus ist das ethos, die Wohnstätte des Abendlandes. Seine Struktur" (S. 29). KSA 13, 11 (411), S. 190. Vgl. Zum vielfältigen Versuch der Überwindung des Nihilismus und zu den damit verbundenen Schwierigkeiten, vgl. Dieter Arendt (Hrsg.): Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts, Darmstadt 1974; Alexander Schwan: (Hrsg.): Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag, Darmstadt 1975. Daß die Nihilismusdiskussion „wegen der Ausflüchte, durch die wir uns die Problematik verstellen", archaisch wirken würde, behauptet Otto Pöggeler in seinem aufschlußreichen Resümee der Forschungsgeschichte; siehe O. Pöggeler: „Nihilist" und „Nihilismus", in: Archiv für Begriffsgeschichte,
Der Antagonismus der Werte als Gegenwart des Nihilismus
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sehen Anarchismus findet Nietzsche eben die Geschichtlichkeit der Geschichte heraus, indem er die Bewegungsstruktur der metaphysischen Weltbildung selbst als nihilistisch aufdeckt. Durch Nietzsches genealogische Rekonstruktion zeigt sich, daß Wahrheit und Macht wesentlich miteinander verbunden sind. Die Wahrheit vollzieht sich in der Form der Macht; die Macht braucht 2ur Durchsetzung eine Maske der Wahrheit. Durch die Demaskierung des Doppelmechanismus von Macht und Wahrheit nimmt Nietzsche den Automatismus der technischen Sachzwänge im Verlauf der Realisierung der absoluten Autonomie aufs Korn, indem er zeigt, daß die Verdrängung der Natur aus dem Bereich des Menschlichen nun die Korruption der humanen Vernunft und die Ohnmacht zur Schaffung der neuen perspektivischen Wahrheit mit sich bringt. Im Hinblick auf das Verhältnis von Politik und Philosophie bedeutet der Nihilismus die Herrschaft der korrumpierten, d. h. ihre Natur vergessen habenden Vernunft. Hierin liegt das Wesen der okzidentalen Despotie, die in der uneingeschränkten Autonomie des Menschen die Natur wie das Menschliche des Menschen ausschließt. Nihilismus ist nicht nur das kulturkritische Problem, sondern das Problem des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen schlechthin. Nihilismus hat für Nietzsche eine dreifache Bedeutung: als kulturkritischer Begriff zeigt er die Gegenwart des Daseins im Zustand des Nicht-mehr des alles einigenden, einheitlichen Seins; der Nihilismus ist zweitens ein anthropologischer Begriff, der die Bewegungsstruktur der Weltbildung des Menschen im Blick auf das Immer-schon seines Daseins in dieser Welt darstellt; und im Nihilismus schlägt sich ein geschichtsphilosophischer Aspekt nieder, indem er den jeweiligen Lebenszusammenhang des Daseins auf das Noch-nicht hin erschließt. Da die Politische Philosophie des Nihilismus auf die vernünftige, d. h. der Natur und Endlichkeit des Menschen entsprechende Gestaltung des Zwischen zwischen Mensch und Dingen ausgerichtet ist, kommt es Nietzsche darauf an, die dreifache Struktur des Nihilismus zu erschließen. Wenn der Schritt zurück in die Entstehungsgeschichte der Vernunft uns auch einen Einblick in deren Abgründigkeit gewährt, steht Nietzsches Analyse des europäischen Nihilismus primär und XIX (1975), S. 197-210, hier S. 210. Im Anschluß an ein Diktum des Augustinus: „Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas", erblickt Ludwig Landgrebe nur in der .Selbstherrschaft' eine Möglichkeit der Überwindung des Nihilismus, wenn er sagt: „So wird das Innere der Schauplatz, auf dem es sich entscheiden muß, ob wir in das wesenlose Nichts des Nihilismus versinken sollen oder wieder einen Boden unserer Existenz finden, von dem her das Dasein einen Sinn erhält". Ludwig Landgrebe: Zur Überwindung des europäischen Nihilismus, in: D. Arendt (Hrsg.), ebda., S. 19 — 37, hier S. 36. Josef Simon hingegen beschränkt das Problem des Nihilismus auf das Phänomen der „moralischen Ontologie", deren Überwindung zugleich die des Nihilismus bedeutet. J. Simon: Nietzsche und das Problem des europäischen Nihilismus, in: R. Berlinger und W. Schrader (Hrsg.): Nietzsche - kontrovers III, Würzburg 1984, S. 9—37.
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
grundsätzlich im Kontext seiner genealogischen Fragestellung nach dem ursprünglichen Geschehen des Seins, das die Geschichte der abendländischen Metaphysik bestimmt. Darum geht man in die Irre, wollte man im Nihilismus irgendeinen zufälligen faktischen Zustand sehen, der auf soziale Notstände, physiologische Entartungen oder Korruption hinweist. Es ist nicht minder ein Irrtum, wenn man den Nihilismus als das Resultat einer sich auf sich selbst stellenden Vernunft versteht, die erst im 19. Jahrhundert hervorkam. Nihilismus ist vielmehr das Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik, das deren Entfaltung in der Geschichte wesentlich bestimmt. Da Nietzsche die Geschichte des Nihilismus, die selber das ursprüngliche Grundgeschehen ist, vom Ur-Sprung her interpretiert, kann man den Wesenszusammenhang von Geschichte und Nihilismus mit Heidegger in einer kurzen Formel zusammenfassen: „der Nihilismus ist Geschichte".4 Damit wird ein Doppeltes angezeigt: Zum einen verweist der Nihilismus als Geschichte auf eine lang hinter uns liegende und über uns hinausgreifende geschichtliche Bewegung, in der sich das Verhältnis von Mensch und Welt und somit die Wahrheit über das Seiende im Ganzen wesentlich wandelt; zum anderen wird zugleich an das „nihilistische" Anfangsgeschehen erinnert, das die Geschichtlichkeit dieser Geschichte mit ausmacht. Der Nihilismus ist, in seinem Wesen gedacht, die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes. Vorausgesetzt, daß der Grundzug der abendländischen Metaphysik auf der Vergessenheit des abgründigen Grundgeschehens beruht, dann besteht das Wesen des Nihilismus darin, daß es mit dem Sein selbst nichts ist. Denn das Anfangsgeschehen, durch welches das Seiende als Seiendes erfahren wird, ist eben der Ur-Sprung ins Nichts, als welches sich das, was dem Seienden als solchen die Wahrheit gewährt, entzieht. Die Frage nach dem Sinn (Wert) des Seins ist in der Sicht Nietzsches zugleich die Frage nach dem Wesen des Nichts. Gegen Heideggers These, daß Nietzsches vermeintliche Überwindung der Metaphysik allererst die Vollendung des Nihilismus sei, ist daran festzuhalten, daß die als Verkehrung gedachte Umkehrung schon die Auflösung der Metaphysik und den Übergang zum anderen Denken anzeigt.5 4 5
M. Heidegger: Nietzsche II, S. 91. Vgl. M. Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot", in: Holzwege, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M: 1977, S. 259. Durch Heideggers vielfaltige Ausführungen zu Nietzsches Stellung in der Metaphysikgeschichte zieht sich die Spannung zwischen der Behauptung einer Verstrickung Nietzsches in die Metaphysik als deren „Verkehrung in ihr Unwesen" (209) und der Deutung als einer den Übergang vorbereitenden „Versammlung" (M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 63). Heideggers Ortsbestimmung der Nietzscheschen Philosophie, die sich durch die Ausspannung zwischen Herkunft und Zukunft charakterisieren läßt, findet sich paradigmatisch in, M. Heidegger: Zur Sache des Denkens, a. a. O., S. 63: „Das Ende der Philosophie ist der Ort, derjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt. Ende als Vollendung meint diese
Der Antagonismus der Werte als Gegenwart des Nihilismus
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Da Nihilismus im Grunde das wesenhafte Nichtdenken an die ontologische Verschränkung von Sein und Nichts ist, verändert sich die ganze Perspektive des Nihilismus: „Grundeinsicht über das Wesen der decadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen".6 Den historischen Zugang zum Phänomen des Nihilismus erschließt Nietzsche aber, indem er zunächst kulturkritisch vorgeht, auch wenn sich seine Besinnung darin nicht erschöpft. So enthält das Wort Nihilismus eine kritische Doppelbedeutung: (1) „Die pessimistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen decadence";7
(2) „der Nihilism ist keine Ursache, sondern nur die Logik der decadence".8 Ohne Zweifel liegt Nietzsches Frage nach dem Wesen des Nihilismus seine existenzial-ontologische Grunderfahrung zugrunde, die er in der Schrift „Die fröhliche Wissenschaft" den tollen Menschen aussprechen läßt: „Gott ist tot".9 Zeitkritisch gewendet ist die historische Genealogie des Nihilismus eine Syptomatologie dieser alles vernichtenden Zeiterfahrung. Es geht nämlich um „das grösste neuere Ereignis, dass ,Gott todt ist', dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist".10 Aus diesem Passus geht zwar deutlich hervor, daß Nietzsches Wort vom Tod Gottes den christlichen Gott meint. Aber es ist zu bedenken, daß hierin die onto-theologische Dimension der abendländischen Metaphysik anvisiert ist. Weil die Metaphysik, insofern sie Seiendes als solches anspricht, die Frage nach dem höchsten Seienden im Ganzen ist. Die Metaphysik ist in sich Onto-Theologie.11 Gott ist vor diesem Hintergrund das, von wo aus und worauf hin das Seiende ist; so ist Gott das ewig-gleiche Sein, die eine Wahrheit und die all-vereinigende Ordnung. Metaphysik als Onto-Theologie ist der Platonismus, demgegenüber das Christentum sekundär und abkünftig ist. Denn „Christentum ist Platonismus für's ,Volk'"t2. Platons Idee des Guten weist die transzendentale Struktur des dreifältigen „Einen" als die „Einheit" des „Wahren", des „Guten" und des „Schönen" auf: Das Wahre ist das eigentlich Seiende, das Gute zeigt
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Versammlung". Dementsprechend steht die Frage im Vordergrund, ob Nietzsche „der letzte Metaphysiker des Abendlandes" (Nietzsches I, S. 480) ist, oder ob bei der von Nietzsche vollzogenen Umdrehung des Platonismus sich schon eine Herausdrehung aus ihm und damit eine Verwandlung des Denkens vollzieht. Hierzu vgl. W. Müller-Lauter, a.a.O., S. 149. KSA 13, 15 (31), S. 426. KSA 13, 17(8), . S. 529; auch 17(1), S. 519: „Begriff der nihilistischen Bewegung als Ausdruck der decadence". KSA 13, 14 (86), S. 265. FW, III 125, KSA 3, S. 480-482. FW, V 343, KSA 3, S. 573. Vgl. M. Heidegger: Nietzsche II, S. 348. JGB, Vorrede, KSA 5, S. 12.
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
das Worum-willen des Seienden, auf das alles überall ankommt, während das Schöne die Ordnung und Einheit des Seienden im Ganzen darstellt. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Tod Gottes als die Auflösung der vernünftigen Koinonia. Die Gegenwart des Nihilismus, der als der „unheimlichste aller Gäste" vor der Tür steht, wird von Nietzsche als „Antagonismus von ,wahr' und ,schön' und ,gut'" erfahren13. Am Ende der Entfaltung der metaphysischen Geschichte ist das Wahre nicht mehr das Gute, das Gute nicht mehr das Schöne. Der Zusammenbruch dieser transzendentalen Einheit ereignet sich, wenn der Sinn alles Sinnhaften sinnlos wird. Der Tod Gottes bedeutet, um mit Karl Löwith zu sprechen, „daß der ganze Horizont weggewischt ist, auf den hin der europäische Mensch seit zwei Jahrtausenden sein Dasein ausgelegt hat"14. Den Prozeß der Disgregation der zuvor in einer Einheit zusammengehaltenen Willen zur Macht beschreibt Nietzsche paradigmatisch am Beispiel der literarischen decadence, die sich dadurch auszeichnet, „dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz heraus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein Ganzes mehr".15 In diesem „Gleichnis für jeden Stil der decadence" gehören „Anarchie der Atome" und „Disgregation des Willens" konstitutiv zusammen. Konsequenterweise findet Nietzsche deren Modifikationen in dem moralischen Anspruch auf „Freiheit des Individuums" wie auch in der politischen Theorie der „gleichen Rechte für Alle".16 Das Ganze, das den traditionellen onto-theologischen Horizont des Wirklichkeitsverständnisses bildete, gewährt uns nicht mehr den ewigen Halt; es ist zu einem Seienden degradiert, das zwar nicht schlechthin nichts ist, aber so, wie es eigentlich nicht sein sollte. In der genealogischen Rückblendung gewinnt das Ganze den Charakter des me on. Platons ontologische Rangordnung, in der die sinnliche Welt (kosmos aistheton) von der übersinnlichen (kosmos noeton) getragen und bestimmt war, wird hier umgedreht. Das Ganze, das zuvor alles einzelne in sich schloß, verliert seine verbindliche und vor allem organisierende Kraft. Es bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann: Es dämmert der Gegensatz der Welt, die wir verehren, und der Welt, die wir leben, die wir — sind. Es bleibt übrig, entweder unsere Verehrungen abzuschaffen oder uns selbst. Letzteres ist der Nihilismus17. 13 14
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KSA 12, 2 (127), S. 125f. Vgl. K. Löwith: Nietzsches Vollendung des Atheismus, in: Hans Steffen (Hrsg.): Nietzsche. Werk und Wirkungen, Göttingen 1974, S. 7-18, hier S. 12. WA 7, KSA 6, S. 27. Ebd. KSA 12, 2 (131). S. 129.
Der Antagonismus der Werte als Gegenwart des Nihilismus
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Angesichts der erneut aufbrechenden Gegensätzlichkeit sieht sich der Mensch vor die Alternativen gestellt: die durch den Tod Gottes leer gewordene Stelle neu zu besetzen, indem er neue Ideale aufrichtet, oder diese metaphysische Stelle selbst abzuschaffen, um schließlich die Welt, die wir sind, zu bejahen. Hier kommt Nietzsches Gedanke der Umwertung aller Werte zum Tragen. Denn die als Disgregation beschriebene Verfallserscheinung ist nicht ein Zustand, der irgendwie zu beseitigen wäre, sondern ein Prozeß, dessen Gesetzlichkeit gerade das Wesen des Nihilismus ausmacht. Nietzsche kommt es allein und einzig darauf an, den Prozeß ohne das ideologische Wohin zu denken18. Da zum Leben auch die Dekadenz gehört, und gar wesentlich ist, sieht sich Nietzsche vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert der metaphysischen Werte war, muß er zum einen darlegen, daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt; zum anderen muß er neue Werte setzen, die eine andere Schätzung des Lebens in sich enthalten. D. h. der europäische Nihilismus muß als ein notwendiger Übergangszustand beschrieben werden, um dessen Geschichte einen Wendepunkt zu setzen: „Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige Consequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der decadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand sie abzuschaffen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wirtf'™. Zur Überwindung des Nihilismus gilt es daher, die decadence in ihrer Notwendigkeit zu durchschauen und zu durchleben. Von hier aus ist schon deutlicher zu sehen, daß und inwiefern zum vollendeten Nihilismus die Umwertung aller Werte notwendig mit gehört, und wie dieser Umwertung aller Werte natürlich eine Erfahrung des Zwischen-zustandes vorausgeht. Diesen Zustand, in dem die bisherigen Werte abgesetzt, die neuen noch nicht gesetzt sind, nennt Nietzsche deshalb „normal", weil seine Heraufkunft im Wesen des Nihilismus angelegt ist und darin zugleich die äußerste Möglichkeit des anderen Anfangs liegt. Diese Zweideutigkeit des Nihilismus ist maßgebend für die Unterscheidung zwischen dem „aktiven Nihilismus" und dem „passiven Nihilismus": (1) „Nihilism als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes als active r Nihilism"; 18
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Nietzsche Destruktion der „alten" Teleologie gibt der neuen Freiheit kreativen Schaffens Raum und impliziert damit die „neue" Teleologie, die auf einer in der Philosophie des Willens zur Macht deutlich wahrnehmbare Anthropologie gründet. Vgl. Hans Peter Balmer: Freiheit statt Teleologie. Ein Grundgedanke von Nietzsche, Freiburg/München 1977. KSA 13, 14(75), S. 255f.; auch 15(31), S. 427: „Die decadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut nothwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen".
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
(2) „Nihilism als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der p a s s i v e Nihilism" 2 0 .
Der passive Nihilismus deckt sich ganz mit der Dekadenz, die sich durch „Selbstzersetzung" charakterisiert. Alle Gesetze, nach denen das Leben sich entwickelt, stehen im Gegensatz zu den Werten, um derentwillen wir zu leben aushaken. Dieser Nihilismus stellt „einen pathologischen Zwischenzustand" dar, „sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind: sei es, daß die decadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat"21. Die Synthesis der Werte und Ziele, auf der jede starke Kultur beruht, löst sich auf, so daß die einzelnen Willen mit sich Krieg führen: „es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens"22. Im Blick auf das Lebensganze besagt dies: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet künstlich, ein Artefakt"23. Zur Unheimlichkeit dieses nihilistischen Geistes gehört es, daß er seine eigene Herkunft wie die Notwendigkeit seiner selbst nicht kennt. Der aktive Nihilismus vermag auf sich zurückzublicken, um vorauszusehen und damit vorauszubestimmen, „was kommt, was nicht mehr anders kommen kann"24. Der aktive Nihilismus ist daher ein Durchgang durch die Geschichte der abendländischen Metaphysik. Erst hier bahnt sich Nietzsches tiefgreifende Frage nach dem Wesen des Nihilismus an, welche seiner unzeitgemäßen Zeitkritik zugrunde liegt. Darum formuliert Nietzsche die aphoristisch verkündete Erfahrung vom Tod Gottes methodisch um: Der Nihilism ein normaler Zustand. Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?' Was bedeutet Nihilism? — daß die obersten Werthe sich entwerten. Er ist %n>eideuti£-'.
Nietzsche begreift den Nihilismus zunächst als den geschichtlichen Vorgang der Entwertung der bisherigen obersten Werte. Noch wesentlicher ist es aber, daß er auch die neue Wertsetzung als Nihilismus bezeichnet, um der Umwertung aller Werte den Charakter einer Gegenbewegung zu geben. Um den Nihilismus als „die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale"26 zu begreifen, unternimmt es Nietzsche, die Herkunft des Nihilismus genealogisch aufzurollen. Dabei erweist sich die Zweideutigkeit des Nihilismus als die notwendige Voraussetzung27. 20 21 22 23
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KSA 12, 9 (35), S. 350f. Ebd. KSA 13, 11 (99), S. 48. WA 7; KSA 6, S. 27. KSA 13, 11 (411), S. 189. KSA 12, 9 (35), S. 350. KSA 13, 11 (411), S. 190. Zur Zweideutigkeit des Atheismus Nietzsches bemerkt K. Löwith: „Der Atheismus Nietzsches ist die Gottlosigkeit eines Menschen, der am Anfang und am Ende seiner Laufbahn einen .unbekannten Gott' anrief. K. Löwith: Nietzsches Vollendung des Atheismus, a. a. O., S. 13.
Der Wille zur Wahrheit als Herkunft des passiven Nihilismus
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§ 8. Der Wille %ur Wahrheit als Herkunft des passiven Nihilismus Die Nietzschesche Krisendiagnose der Moderne als decadence mündet ins Problem der Verborgenheit der metaphysischen Vernunft. Die Zweideutigkeit des Nihilismus macht deutlich, daß die Diagnose moderner Welt im genealogischen Rückstieg zugleich die Pathogenese der abendländischen Metaphysik aufdeckt. Daß der Nihilismus nach dem Schema der Ursache-Wirkung nicht zu erklären ist, daß erst der Rückblick in seine Herkunft den Ein- und Durchblick der Metaphysik gewährt, wird spätestens dann unübersehbar, lenkt man den Blick auf jene im Nihilismus sich eröffnende Möglichkeit zu seiner Überwindung. Wo der Nihilismus herrscht, da waltet die Ursächlichkeit. Was der Nihilismus ist, enthüllt sich erst dann, wenn seine Herkunft genealogisch aufgerollt wird. Denn das Wesen des Nihilismus enthält in sich das Rettende, das erst im Rückgang auf seine Herkunft sichtbar wird. Daher konzentriert sich der genealogische Rückblick darauf, das nihilistische Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik als die Herkunft des Nihilismus zu erkennen, um so das Wesen des Nihilismus erst zu seinem eigentlichen Scheinen zu bringen. Dementsprechend hat die genealogische Frage eine dreifache Struktur: „Von der Heraufkunft des Nihilismus, von der Notwendigkeit des Nihilismus und von der Selbstüberwindung des Nihilismus"2*. Da die Genealogie der Moral zugleich eine Genealogie der Logik ist, versteht es sich von selbst, daß Wahrheit im Vordergrund der Nietzscheschen Vernunftkritik steht. Als Archäologie des abgründigen Grundes muß Nietzsches Genealogie zuerst darauf zielen, bis in den Grund der abendländischen Metaphysik überhaupt vorzudringen, um schließlich dessen Abgründigkeit zu entschleiern. Dieser Grund ist der Satz vom Grund, der als der Grundsatz der Logik Sein und Denken in dessen Identität (Wahrheit) auf- und umschließt29. Der Grundsatz formuliert nicht nur das Wesen aller Aussagen, die als Ort der Wahrheit fungieren, sondern er bringt auch zur Sprache, „warum" das Seiende, solange es ist, „ist". Die metaphysische Grundfrage erweist sich damit als „Warumfrage", die in ihrer Struktur den Wesensgrund des „Woher" und den Beweggrund des „Woraufhin" in sich schließt. Metaphysik ist im Grunde zugleich Archäologie und Teleologie. Am Ende dieser metaphysischen Tradition sagt Hegel diesen Zusammenhang mit prägnanter Kürze: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich 28
KSA 13, 13 (4), S. 215.
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Vgl. M. Heidegger: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme" der „Logik", Gesamtausgabe Bd. 45, Frankfurt/M. 1984.
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist"30. Aufgrund der nihilistischen Erfahrung, daß die Antwort auf das „Warum" ausbleibt, und daß das Ganze nicht mehr als das Wahre lebt, läßt sich Nietzsches Genealogie analog der metaphysischen Grundfrage so formulieren: Warum denn Warumfragen? Die Destruktion der Logik, die zugleich der neuen Wertsetzung des Willens zur Macht dient, setzt daher dort an, wo der metaphysische Anfangsgrund der Logik zugrunde liegt. Der Ausgangspunkt des Nihilismus ist in Nietzsches Blick „der Wille zur Wahrheit"31. Damit sieht man deutlicher, worum es Nietzsche in seiner Philosophie des Willens zur Macht geht: Um die Fundierung eines philosophischen Weges durch den Willen zur Wahrheit hindurch zum Willen zur Macht. Hier muß man sich aber vor einem möglichen Mißverständnis hüten, daß Nietzsche bloß den Begriff der Wahrheit gegen den der Macht austauscht. Gemeint ist vielmehr die von Nietzsche mit Schärfe hervorgehobene nihilistische Erfahrung, daß der Aufbruch des neuen Denkens nur aus dem Wesen der Metaphysik hervorbrechen kann. Wahrheit und Macht sind keine Alternativen, von denen eine die andere ausschließt, sondern sie gehören wesenhaft zusammen. Inwiefern, so ist im Zusammenhang des Wesensbezuges von Macht und Wahrheit zu fragen, erwächst aus der Erkenntnis des Willens zur Wahrheit die Forderung nach der Gründung eines Grundes: „Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophen an: in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie — Woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies ,durfte'?"32 Mit seiner Genealogie intendiert Nietzsche, gerade das in Frage zu stellen, was von der Metaphysik unmöglich hintergefragt werden dürfte. Nietzsche zieht daraus die Konsequenzen: „Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik — bestimmen wir hiermit unsere eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage yt stellen"*. Die den letzten Grund hinterfragende Genealogie entschlüsselt nun die Ausgangsposition und die strukturelle Voraussetzung des Willens zur Wahr30
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G.W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke 3, a. a. O., S. 24. Nihilismus — das ist Arendts These — ist „die umgekehrte Seite des Idealismus". Vgl. D. Arendt: Die Überwindung des Nihilismus, in: ders. (Hrsg.): Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte, a. a. O., S. 350-354, hier S. 350. KSA 13, 13(3), S. 214: „Zur Geschichte des europäischen Nihilisimus ... Der Wille zur Wahrheit. Ausgangspunkt: Niedergang des Werthes .Wahrheit'". GM, III 24, KSA 5, S. 401. Ebda.
Der Wille zur Wahrheit als Herkunft des passiven Nihilismus
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heit. Der Wille zur Wahrheit vollzieht sich zuerst in einer Theoretisierung der Welt. Es ist vor allen Dingen an die metaphysische Grundlegung bei Sokrates und Platon zu denken. Nietzsche erschließt die optische Verfassung der abendländischen Philosophie schon in seiner ersten Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", in der er am Untergang der griechischen Tragödie die Genese des europäischen Nihilismus aufdeckt34. Die griechische Tragödie ist nach Nietzsche durch die Verlagerung des Schwerpunktes vom Hören zum Sehen zu Grunde gegangen. Zu-GrundeGehen ist hier doppeldeutig im Sinne des Untergangs des hörenden Denkens und des Aufgangs des sehenden Erkennens. In diesem Zusammenhang kennzeichnet sich die griechische Tragödie durch die Duplizitätsstruktur von apollinischem und dionysischem Prinzip35. Der Absurdität des humanen Lebens entspringt die Notwendigkeit zur Erzeugung der erlösenden Vision, welche die Grenzen des Individuums bewahrt; dieser apollinische Schein wird jedoch vom Dionysischen eingeholt, das den Bann der Individuation zersprengt und damit den Weg zum „Ur-Einen" offen läßt. Das Apollinische geht auf das Schauen, das Dionysische hingegen auf das Hören36. Vor diesem Horizont zeigt sich der Untergang der griechischen Tragödie als ein Umschlag vom Hören zum Sehen. Diese einschneidende Zäsur bewirkt nach Nietzsche die „sokratische Tendenz", die in der Lust am Schauen besteht. Gegen das Dionysische tritt nunmehr das Sokratische auf, dessen Wesen im „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens" liegt37. In der Person des Sokrates verkörpert sich der „Typus des theoreti34
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Zur optischen Verfassung der idealistischen Vernunft, vgl. KSA 11, 40(28), S. 643f.: „Es muß gedacht worden sein, lange bevor es Augen gab. (...) Vor der Einübung also, die Welt als bewegte Gestalten zu verstehen, liegt die Zeit, wo sie als veränderliche und verschiedenartige Druck-Empfindung .begriffen' wurde. Daß in Bildern, daß in Tönen gedacht werden kann, ist kein Zweifel: aber auch in Druckgefühlen". Zum Vorrang des „sehenden" Denkens vor dem „hörenden" Denken in der europäischen Geschichte der Metaphysik, vgl. Dieter Bremer: Hinweise zum griechischen Ursprung und zur europäischen Geschichte der Lichtmetaphorik, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 17 (1973), S. 7 — 35; und ders.: Licht als universales Darstellungsmedium. Materialien und Bibliographie, in: ebda., 18(1974), S. 185—206. Die Herrschaft durch das Auge bringt Oswald Spengler in seiner Interpretation eines Spruches Nietzsches: „Der Mensch ist ein Raubtier", noch plastischer zur Sprache, indem er sagt: „Die höheren Pflanzenfresser werden neben dem Gehör vor allem durch die Witterung beherrscht, die höheren Raubtiere aber herrschen durch das Auge. Die Witterung ist der eigentliche Sinn der Verteidigung. Die Nase spürt Herkunft und Entfernung der Gefahr und gibt damit der Fluchtbewegung eine zweckmäßige Richtung von etwas fort. Das Auge der Raubtiere aber gibt ein Ziel. Schon dadurch, daß die Augenpaare der großen Raubtiere wie beim Menschen auf einen Punkt der Umgebung fixiert werden können, gelingt es, das Beutetier zu bannen". Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1971, S. 13. Vgl. GT4, KSA l, S. 38f. GT, 12, KSA l, S. 83. GT, 17, KSA l, S. 111.
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
sehen Menschen".38 Das Tun des theoretischen Menschen wird durch „eine tiefsinnige Wahnvorstellung" motiviert: Ihr entspricht „jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei"39. Damit ist der unhintergehbare Grund der abendländischen Philosophie gelegt. Mit dem Sieg des Bewußtseins gegen den Instinkt ist der Wesensbezug der abendländischen Metaphysik auf die Theorie hergestellt. Theoria heißt griechisch, zusammengewachsen aus thea und horao, das Ansehen des Ansehens, und zwar im Sinne der Hervorbringung des Wesens aus der Verborgenheit ans Licht.40 Platon nennt das Aussehen, worin sich etwas in seinem Wesen zeigt, eidos. Offenbar liegt in dem Begriff der idea der Bezug auf das idein als die Weise des Vernehmens. Am Anfang der „Metaphysik" weist auch Aristoteles auf die von Natur aus gegebene Liebe des Menschen zum Sehen hin und formuliert schließlich den Grundsatz der Metaphysik schlechthin: Theorie geht auf das Sein41. Das Verhältnis vom Sehen des Sehens und dem Denken des Denkens hat die ganze Philosophiegeschichte bewegt und steht bis zu Hegel, der seine Enzyklopädie mit dem Rückbezug auf die Aristotelische Formel „noesis noeseos" beschließt, in dieser Form fest. Die Geschichte des europäischen Nihilismus geht so mit der Theoretisierung des Weltverständnisses einher. Aus dem Fluß des Werdens, das für Nietzsche den wahren Seinsmodus ausmacht, stellt der theoretische Blick nur das heraus, was dem Leben nützlich erscheint. Das Heraus-stellen des Sichzeigenden, d. h. des Wahren ist im Grunde das Fest-steilen des Allgemeinen, das sich über das einzelne Wirkliche erhebt. Da die vom theoretischen Menschen angezielte Wahrheit die Festmachung des Beständigen ist und damit in die Welt des Werdens einschneidet, 38
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GT, 15, KSA l, S. 98. Hierzu vgl. J. Simon, Nietzsche und das Problem des europäischen Nihilismus, in: Nietzsche-kontrovers III, hrsg. v. R. Berlinger u. W. Schrader, Würzburg 1984, S. 9—37; und F. Kaulbach, Ästhetische und philosophische Erkenntnis beim frühen Nietzsche, in: Zur Aktualität Nietzsches, Bd. I, hrsg. v. M. Djuric und J. Simon, Würzburg 1984, S. 63-80, hier S. 64ff. GT 15, KSA l, S. 99. Diesen Glauben an die unbedingte Erkenntnis der Welt nennt Nietzsche den erhabenen metaphysischen Wahn, der als Instinkt der Wissenschaft beigegeben ist. Vgl. die Interpretation Heideggers, in: M. Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1978, S, 48ff. Daß die abendländische Metaphysik primär und grundsätzlich auf dem Primat der Theorie gründet, zeigt A. Halder, Aktion und Kontemplation, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, hrsg. v. F. Böckle, FX. Kaufmann, K. Rahner, B.Weite, Teilband 8, Freiburg, Basel, Wien 1980, S. 71-89; in diesem Zusammenhang eröffnet A. Baruzzi einen neuen Horizont, in dem der Primat des Sehens nicht unbedingt mit dem des Denkens einhergeht, A. Baruzzi, Alternative Lebensform? Freiburg/München 1985. Aristoteles, Metaphysik, XII l, 1069 a.
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kommt im ästhetischen Sokratismus „das mörderische Prinzip" zum Ausdruck42. Daß der Wahrheit als Fest-stellung des Seienden der Wille zur Gleichheit zu Grunde liegt, zeigt Nietzsche durch die genealogische Analyse der philosophischen Begriffsbildung in seiner frühen Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", welche, seinem späten Bekenntnis gemäß, einen programmatischen Charakter hat43. Anpeilt ist hier die Rückführung der Philosophie auf ihre Ausgangssituation. Philosophie will das, was ist, auf den Begriff bringen. Nietzsche erinnert uns zuerst an die formale Struktur dieser Definition, um schließlich die darin implizierte Individualität und Geschichtlichkeit aufzuzeigen. Seine nihilistische Zeiterfahrung auf den Begriff bringend formuliert Nietzsche die Grundstruktur der Begriffsbildung: , Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen" M. Mit dieser Formel trifft er nicht nur den Kern der diskursiven Logik, deren Dynamik und Bewegungsstruktur im Fortschreiten vom Einzelnen zum Allgemeinen liegt. Dies trifft sowohl den epagogischen Gang der Aristotelischen Wissensbildung, die sich im Aufgang vom Individuellen zum Allgemeinen durch die Stufen von aisthesis (Wahrnehmung), mneme (Erinnerung), empeiria (Erfahrung), iechne (Können) und episteme (Wissen) vollzieht45; wie auch die transzendentalphilosophische Begriffsbildung Kants, die durch die logischen Verstandes-Akte der Komparation, der Reflexion und der Abstraktion zustande kommt46. Darüber hinaus hebt Nietzsche besonders hervor, daß jeder Begriff 42
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GT 12, KSA l, S. 87. Vgl. KSA 12, 6 (4), S. 233; KSA 11, 26 (372), S. 249. Neben seine „Geburt der Tragödie" reiht Nietzsche dieses absichtlich geheimgehaltene Schriftstück ein in jene Schriften, in denen er den Schopenhauerschen Pessimismus durch die Radikalität des Skeptizismus überwunden hat und darüber hinaus auf das andersartige Denken verweist. WL l, KSA l, S. 880 (Hervorhebung, Lee). In diesem Zusammenhang steht auch Nietzsches Verständnis des Historischen, für das das Erinnern konstitutiv ist. Erinnern ist ein Vergleichen des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen im Blick auf das Zu-künftige. KSA 7, 29 (29), S. 636: „Alles Erinnern ist Vergleichen d. h. Gleichsetzen. Jeder Begriff sagt uns das; es ist das „historische" Urphänomen. Das Leben erfordert also das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen; so dass immer eine gewisse Gewaltsamkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist". Vgl. Jörg Salaquarda: Studien zur zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien, 13 (1984), S. 1—45, hier S. 18ff. Von der humanen Verfaßtheit in der Liebe zu den Sinneswahrnehmungen ausgehend beschreibt Aristoteles am Anfang der „Metaphysik" die ontologische, d. h. vom Sein zum Denken vorschreitende Begriffsbildung, die aus fünf Stufen besteht: aisthesis, phantasia, mneme, empeiria, techne und episteme. Von der transzendentalen Begriffsbildung unterscheidet sie sich wesentlich dadurch, daß hier eine dialektische Bewegung des Hinausgehens über die Erfahrung zum Wissen und des Zurückgehens vom Allgemeinen auf die Erfahrung besteht. Hinsichtlich des Nihilismus sei nur angemerkt, daß Aristoteles diese Wissensbildung von der Warumfrage her analysiert: „Denn die Erfahrenen kennen nur das Daß, aber nicht das Warum; jene aber kennen das Warum und die Ursache", Aristoteles, Metaphysik, A l, 981 a28-30. Vgl. I. Kant: Logik, hrsg. v. G. B. Jäsche, Werke in zehn Bänden, Bd. 5 hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, S. 524ff. Ausgehend von der Differenzierung der „Vorstel-
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
im Grunde eine Setzung ist. Es handelt sich also, um mit Kant zu sprechen, um „gemachte Begriffe (conceptus factitii)"47. Die Begriffsbildung durch den theoretischen Menschen beschreibt Nietzsche wie folgt: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss48.
Konstitutiv für die Bildung eines Begriffs sind das Fallenlassen der individuellen Verschiedenheiten und das Weglassen des Ungleichen. Nietzsche läßt jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Absonderung alles übrigen sich notwendig aus der humanen Existenz ergibt. Da der Sinn für Wahrheit im Grunde der „Sinn für Sicherheit" ist49, ist es nicht verwunderlich, daß der moralische Mensch sein Handeln „unter die Herrschaft der Abstraktionen" stellt, damit er es nicht mehr erleidet, „durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden"50. Aber im Hinblick auf den Nihilismus ist es noch wesentlicher, daß die Genese des Begriffs durch das Vergessen des Individuellen selber in Vergessenheit gerät. Vergessen wird dabei, daß beim Willen zur Wahrheit der mächtigste und zukunftsvollste Trieb am Werk ist. Wenn der Wille zur Wahrheit sich zu emanzipieren sucht, so vergißt er, daß er aus seinem Gegensatz, dem Willen zur Täuschung, erwachsen ist: „die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind"51. Der Wille zur Wahrheit verstellt die Wirklichkeit, indem er sich als Gegensatz zum Machtwillen überhaupt ausgibt. Der seiner Herkunft vergessene Begriff erweist sich damit als „Begräbnisstätte der Anschauung"52, als Tod dessen, was eigentlich das Leben in seiner Lebendigkeit ausmacht. Die Ungeheuerlichkeit des Willens zur Gleichheit liegt jedoch darin, daß ihr eine eigentümliche lebensfeindliche Bewegung entspringt. Diesen Zug der von ihrer Herkunft los- und herausgelösten wissenschaftlichen Bewegung nennt Nietzsche den „Ägypticismus", der sich durch den Mangel an historischen
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lung" nach „Anschauung" und „Begriff gelangt Kant zum Schlüsselpunkt seiner Logik: Begriff als reflektierte Vorstellung (repraesentat discursiva) ist Vorstellung der Vorstellung. Hierzu vgl. M. Heidegger, Kants These über das Sein (1961), in: Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, S. 445-480. I. Kant: Logik, Werke 5, § 4, ebda., S. 523. WL l, KSA l, S. 879f.
M, I 26, KSA 3, S. 37. WL l, KSA l, S. 881. WL1, KSA l, S. 880f. WL 2, KSA l, S. 886.
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Sinn und den Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens auszeichnet53. Dieses wissenschaftliche Weltverständnis geht in Nietzsches Sicht auf den Machtwillen der Schwachen zurück, die mit dem „Geist der Rache" durchtränkt sind: „Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach Gleichheit"54. Da die Gleichheit nur durch die Vernichtung dessen, was das Leben ist, gewonnen werden kann, ist der Wille zur Gleichheit schließlich der Wille zum Nichts. Die Philosophie arbeitet unaufhaltsam „an jenem grossen Columbarium der Begriffe"55, und zwar sub specie aeterni. Aus der Furcht vor dem Ungewissen, Zufälligen und Plötzlichen sucht sich die Philosophie den Zufluchtsort, der eigentlich nirgendwo ist und daher nur in der Fiktion seine Präsenz findet. Wenn der Wille zur Wahrheit doch ein verkappter Machtwille ist, stellt sich die Frage, wie das Nichts überhaupt „gewollt" werden kann56. Hier liegt die Vermutung nahe, daß es wohl in der immanenten Struktur des Willens angelegt sein muß. Bevor wir auf Nietzsches Analyse dieser Strukturvoraussetzung eingehen, müssen wir zunächst darauf hinweisen, daß sich der europäische Nihilismus schon in der metaphysischen Verschränkung des Seins mit dem Wollen ausdrückt. So wie der Begriff durch das Übersehen des Individuellen und Wirklichen entsteht, intendiert der Wille zur Wahrheit die Vernichtung dessen, was nicht unter die Verstandesregel subsumiert werden kann. Aus der Ohnmacht gegen das Leben bricht er auf zur Allmacht, zu Gott. Mit der Errichtung der übermenschlichen Autorität, vermöge derer das „Ziel von außen gestellt, gegeben, gefordert" scheint, revoltiert der Wille zur Wahrheit gegen die Welt, in der man lebt: die andere Welt, wie sie aus diesen Thatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens57.
Der Philosoph erfindet eine Vernunftwelt, in der Vernunft und logische Funktionen adäquat sind; der religiöse Mensch schafft eine göttliche Welt, die die ewige Erlösung von der diesseitigen Welt darstellt, und der moralische Mensch errichtet eine freie Welt, die sich im Gewissen einrichtet. All diese anderen Welten sind die Konsequenzen des metaphysischen Willens zur Wahrheit: „Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der decadence"?* Am Ende dieses langen Weges kommt es zum Bewußtsein, daß der in der 53 54
GD, Die „Vernunft" in der Philosophie I, KSA 6, S. 74. Za II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 180.
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WL 2, KSA l, S. 886.
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Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/N. Y. 1971, S. 74. KSA 13, 14 (168), S. 354. Ebd.
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
decadence ausgebildete Wille zur Wahrheit ein „Wille zum Nichts" ist39. Die Geschichte des europäischen Denkens läßt sich, solange dieser auf der Vernunft basiert, auf die Formel bringen: „Vernunft ,Geist' — nur um nicht wollen zu müssen, sich selbst das ,Wozu' setzen zu müssen"60. Der metaphysische Wille ist wohl der Wille zum Nicht-mehr-leben-müssen, zum Nichtweiter-wollen-müssen, zum Nichts.
§ 9. Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus
Schon von hier aus ist deutlich zu sehen, daß und inwiefern zum vollendeten Nihilismus die Willenssetzung als Umwertung aller Werte gehört, und wie die Chance zur Überwindung des Nihilismus in seinem eigenen Wesen selbst liegt. Wir können hier wieder auf die vorher ausgeführten Darlegungen über die Gegenwart des Nihilismus zurückgreifen. Bei der hypothetischen Unterscheidung zwischen dem passiven und dem aktiven Nihilismus setzt Nietzsche voraus, „daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, keine ,Dinge an sich' giebt" und zieht daraus den Schluß, „dies ist selbst ein Nihilism, und der extremste"61. Der Übergang zum aktiven Nihilismus ist nur durch den Rückgang auf die Herkunft des passiven Nihilismus herbeizuführen. Denn der Nihilismus als Geschichte der metaphysischen Wertsetzungen läßt sich erst dann voll begreifen, wenn die Wertsetzung als solche in ihrem Wesen erkannt ist. Da der Anfang der abendländischen Metaphysik mit ihrer Moralisierung der Welt einen nihilistischen Zug aufweist, ist der Nihilismus auch nur durch die Rückbesinnung auf die Anfangsgeschichte der Metaphysik zu kurieren. Der Rückgang ist aber in seiner Radikalisierung der dem Nihilismus eigentümlichen Bewegung zugleich ein Übergang zu einem anderen Anfang: jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes Wachsthum, für den Übergang in neue Seinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus, der eigentliche Nihilism, zur Welt käme62.
Die metaphysische Bewegung, in der sich der Wille zur Wahrheit ausprägt, ist an den Punkt geraten, an dem deutlich wird, daß Gott als das oberste Wertmaß des metaphysischen Willens „Nichts" ist. Wenn der Wille zur 59
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GM, KSA KSA KSA
III 28, KSA 5, S. 412. 12, 9 (143), S. 356. 12, 9(35), S. 351. 12, 10 (22), S. 468.
Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus
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Wahrheit auch den Geist der „Verneinung des Lebens"63 verkörpert, ist und bleibt er doch Wille, und zwar als „des „Willens Widerwille gegen die Zeit"64. Das Geheimnis der Nietzscheschen Lösung liegt darin, daß der Wille zum Nichts doch ein Wille, wenn auch ein widerwilliger, ist: das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen %um Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille^.
Hervorgehoben wurde hierbei das Wort „Wille". Nietzsche denkt den Nihilismus nach Herkunft, Entfaltung und Überwindung einzig aus dem Willensgedanken. Der Wille zum Nichts sträubt sich gegen das Wollen, indem er vergißt, daß er im Grunde auch Wille, nämlich Wille zur Macht ist; der Wille, der sich selber erlösen will, ist aber „Wollen zu Nicht-Wollen"66. In dieser an sich paradoxen Formulierung zeigt sich der Kontext seiner Willensphilosophie, aus dem sich die exakte Bedeutung des Begriffes der „Hypothese" erst ergibt. Hypothese bedeutet nicht eine wissenschaftliche Annahme, die bei der Durchführung eines Experiments gemacht wird, sondern der Begriff der Hypothese erinnert uns an die ursprüngliche Bedeutung der hypothesis, Wesenssetzung67. Hypothesis als thesis des hypokeimenon bedeutet die Gründung des Grundes im Sinne der Setzung dessen, was Grund sein soll. In Nietzsches Umwertung aller Werte handelt es sich nämlich um die Gründung des neuen Grundes, der sich aus dem bisherigen Nihilismus herausstellt. Da der Nihilismus in seiner doppelten Struktur um den Willen kreist, ist Nietzsches Hypothese die Setzung des Wesens des Willens. Der aktive Nihilismus läuft darauf hinaus, dem widerwilligen Willen in Erinnerung zu rufen, daß er doch ein Wille ist, und die Wahrheit als eine Gestalt des Willens zur Macht zu begreifen. Wenn Nietzsche mit seinem extremen Nihilismus die Radikalisierung des Willens intendiert, stellt sich die Frage, ob und inwiefern seine Grundsetzung des Willens zur Macht nicht-metaphysisch ist. Die Antwort darauf muß noch aufgeschoben werden. Festzuhalten ist nur daran, daß sich Nietzsches Philosophie gerade in dem, was sie aus der Geschichte der abendländischen Metaphysik herausgreift, d. h. im Willensgedanken gründet. Was sich in der decadence vererbt, ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit des abendländisch-europäischen Denkens: „die Unkraft im 63
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AC 7, KSA 6, S. 173. Za II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 181. GM, III 28, KSA 5, S. 412. Za II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 181. Hier übernehme ich Heideggers Auslegung der Hypothese als thesis des hypokeimenon, vgl. M. Heidegger, Grundfragen der Philosophie, a. a. O., S. 86. Daß Nietzsche den Begriff der Hypothese in diesem Sinn verwendet, läßt sich durch einen Blick auf die Stelle bestätigen, wo er im Zusammenhang mit dem europäischen Nihilismus von der „christlichen MoralHypothese" spricht, siehe KSA 12, 5/71), S. 211.
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Widerstande gegen die Gefahr", moralisch ausgedrückt, „die Resignation und Demuth vor dem Feinde"68. Auf die dekadente Krankhaftigkeit antwortet die Wahrhaftigkeit, die sich im Willen zur Wahrheit verbirgt. Die Wahrhaftigkeit wendet sich endlich gegen die Moral: „An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an ... die Moral zu Grunde"69. In diesem Prozeß des Untergangs des metaphysisch-religiösen Willens sieht Nietzsche aber eine Steigerung der Macht, die es erlaubt, den Nihilismus als ein „gutes Zeichen",70 als Stimulans der Lebenserneuerung aufzufassen. Im genealogischen Rückstieg in die Herkunft des Nihilismus tut sich ein neuer Horizont auf, vor dem der metaphysische Grund einen hypothetischen Charakter anzeigt: ,,,Gott' ist eine viel zu extreme Hypothese"71. Dieser extremen Position wird wiederum eine andere extreme, aber umgekehrte entgegengehalten. Mit der extremen Hypothese der Metaphysik räumt der Nihilismus auf und zugleich die neue Möglichkeit der hypothetischen Wesenssetzung ein: Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein geben, als ob alles umsonst sei72.
Da sich die Legitimation des Willens zur Wahrheit einzig und allein von seiner Nützlichkeit zur Lebenserhaltung und -Steigerung ableitet, kommt hier der Gedanke der perspektivischen Interpretation zum Tragen, die in der Setzung des jeweils anderen Grundes auf Mehr-Macht absieht. Durch die Rückführung des metaphysisch einheitlichen und alleinigenden letzten Willens auf jene Interpretation, die einmal die stärkste war, wird dem metaphysischen Anspruch der Alleingültigkeit sein Grund entzogen. Mit seiner Auffassung der Metaphysik als Interpretation leitet Nietzsche eine post-metaphysische Wende der abendländischen Philosophie ein. Interpretation als logisches Prinzip erlaubt es, den Nihilismus zu überwinden, ohne in die Schwierigkeiten des Relativismus zu geraten. Denn in der Interpretation bringt das Bewußtsein die „Ordnung der Dinge" nicht hervor, sondern entwirft Perspektiven, die sich im Kontext anderer Interpretationen bewähren. Im Geist des aktiven Nihilismus legt Nietzsche ein einheitliches Konzept von Interpretationsphilosophie zugrunde73. In den Vordergrund rückt dabei nicht das Bewußtsein, 68 69
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72 73
KSA 13, 14 (65), S. 250. GM, III 27, KSA 5, S. 410. KSA 12, 9 (186), S. 450. KSA 12, 5/71, S. 212. Ebda. Zur gegenwärtigen Diskussion über den Interpretationismus der Analytischen Philosophie, vgl. G. Abel: Relativismus, Pragmatismus, Interpretationismus. Zu neueren Entwicklungen in der Analytischen Philosophie, AZP 13.3(1988), 51-67; H. Lenk: Welterfassung als
Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus
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das die Gegenstände erzeugt, sondern das Sein, das sich doch in einem Ordnungsgefüge, wenn auch immer durch die perspektivische Verschiebung des Standpunktes gebrochen, auftut. Die Setzung des neuen Grundes ist umso notwendiger, je mehr der metaphysische Grund sich in einen dunklen Abgrund zu verwandeln droht. Dem Entwurf einer anderen Sichtweise muß aber die Zerstörung der alten Perspektive vorausgehen. Darum tritt der aktive Nihilismus als „ein consequenter Nihilismus der That"74 auf. Es kommt zum Ausbruch der gewalttätigen Kraft, die im Untergrund des Willens zur Wahrheit aufgehäuft worden ist. „Sein M a x i m u m von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Z e r s t ö r u n g : als aktiver Nihilism"^. Die Relativität dieser destruktiven Kraft rührt davon her, daß der Nihilismus letztlich von der Stärke oder Schwäche seines Willens abhängt. Im Gegensatz zum passiven Nihilismus, der zu müde ist, um noch angreifen zu können, zeichnet sich der aktive Nihilismus eben durch dieses Zerstören-Können aus, das aus dem Wissen des Wesens des Nihilismus erwächst und somit ein Anders-Wollen impliziert. Darin kommt die Macht des extremen Nihilismus zum Ausdruck. Weil er im Willen zur Macht den Grundzug des Lebens erkennt und darüber hinaus ihn als Grundcharakter des Seienden anerkennt, ist für Nietzsche der Nihilismus selbst das „Ideal der höchsten Mächtigkeit des Geistes, des überreichsten Lebens"76. Der aktive Nihilismus ist darum mehr als „eine Betrachtsamkeit über das ,Umsonst'", sondern „das Nein der That": man legt Hand an, man richtet zu Grund77. Dies erscheint dem passiven Nihilismus als ein ZuGrunde-gehen des Willens zur Wahrheit, während es dem aktiven Nihilismus eine Steigerung des ihm inhärenten Willens zur Macht ist. Dieser Nihilismus findet sich aus dem bisherigen Leben heraus, indem er dem, was entartet und abstirbt, „das Verlangen zum Ende" eingibt. Da der aktive Nihilismus die decadence aus dem Weg räumt und zugleich in der Lage ist, „für eigene neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen", spricht Nietzsche vom „ekstatischen Nihilismus", der den Menschen wieder in die ursprüngliche Offenheit des Da-seins bringt und damit alles Seiende ins Freie heraus-stellt78.
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Interpretationskonstrukt. Bemerkungen zum methodologischen und transzendentalen Interpretationismus, AZP 13.3 (1988), 69 — 78; G. Abel: Interpretationsphilosophie. Eine Antwort auf Hans Lenk, ebd., 79 — 86; und F. Fellmann: Interpretationismus und symbolischer Pragmatismus. Zur Diskussion zwischen Günter Abel und Hans Lenk in AZP 13.3 (1988), in: AZP 15.2(1990), 51-59. KSA 13, 14 (9), S. 221. KSA 12, 9(35), S. 351. KSA 12, 9 (39), S. 353.
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KSA 13, 11(123), S. 59f.
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KSA 11, 35 (82), S. 547. Hierzu vgl. M. Heidegger, Brief über den „Humanismus" (1946), in: Wegmarken, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt/M. 1976, S. 324ff., wo Nietzsches Lehre
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Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
Mit der Rettung des Willens und der Einführung der perspektivischen Interpretation schafft Nietzsche den Ausbruch aus der metaphysischen Wesensfrage, bei der es auf das nihilistische Wozu ankommt, und den Durchbruch in eine neue Denkweise, die das Seiende als solches in seiner Eigenart zu fassen sucht, ohne zu fragen, was es ist. Nietzsches Genealogie versucht, insofern sie die Überwindung des Nihilismus als dessen eigene äußerste Konsequenz beschreibt, das Wesen des metaphysischen Denkens derart zu unterlaufen, daß es ein notwendiger Bestandteil der neuen Denkungsart wird. Diese ist im Grunde „unlogisch"79. Logik will etwas als etwas feststellen. Dies geschieht wesentlich im Urteil, das im Satz ausgesagt wird. Unlogisch heißt vor diesem Hintergrund, daß der aktive Nihilismus über das Nein des Urteils hinausgeht und es in das Ja der faktischen Welt zu integrieren sucht. Dazu ist es erforderlich, das nihilistische Pathos des Umsonst in die Tat umzusetzen, was nämlich ein Zu-Grunde-richten ist: „Der Ver-nichtung durch das Urtheil sekundirt die Ver-nichtung durch die Hand"80. Der konsequente Nihilismus leitet das Jasagen in die Wege, das aus der Übermacht des Wertsetzenden erwächst. Im Unterschied zum passiven Nihilismus, dessen Aktion von Grund aus „Reaktion" ist, soll hier das Nein-sagen und Neintun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens kommen81. Der Gedanke der Bejahung der diesseitigen Welt zieht sich bei Nietzsche wie ein roter Faden durch seine Schriften hindurch und bildet die Kohärenz und Einheit seines ganzen Philosophierens. Im Hinblick auf die Voraussetzung der nihilistischen Hypothese bedeutet dies Ja-sagen das Begreifen der „Bedingtheit des Lebens durch perspektivische Illusion"82. Durch den genealogischen Rückstieg entpuppt sich „das Pathos der Wahrheit", das beim theoretischen Menschen festzustellen ist, als das „Pathos des Umsonst"83. Für Nietzsche ist es eine der gefährlichsten Übertreibungen, das Erkennen nicht im Dienste des Lebens, sondern an sich, um jeden Preis zu wollen. Trotz der Einsicht in die nihilistische Verfassung des Willens zur Wahrheit ist es ihm doch klar, daß die Wahrheit für das Leben eine notwendige Voraus-setzung ist. Das Wesen der Wahrheit ist aber „die Werthschätzung", ein „Für-wahr-halten". Die Setzung der perspektivischen Wahrheit ist für den Willen zur Macht unentbehrlich:
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der ewigen Wiederkehr des Gleichen in^den Zusammenhang der metaphysischen existentia gebracht wird, die als actualitas von der ekstatisch gedachten Ek-sistenz wesentlich verschieden ist; Ek-sistenz nennt das ekstatische Innestehen in der Wahrheit des Seins, während existentia dagegen Wirklichkeit im Unterschied zur bloßen Möglichkeit meint. KSA 13, 11 (123), S. 59. Ebda. GM, I 10, KSA 5, S. 270f. KSA 11,26(334), S. 237f. Ueber das Pathos der Wahrheit, CV l, KSA l, S. 760.
Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus
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Daß eine Menge Glauben da sein muß, daß geurtbeilt werden darf, daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werthe fehlt: — das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist nothwendig; nicht, daß etwas wahr ist**.
Mit dem metaphysischen Willen, der die Wahrheit an sich voraussetzt, sind Fiktivität und Vorläufigkeit der perspektivischen Wahrheit hintergangen. Sobald sich der richtende Wille vom Leben emanzipiert, führt er zur Hinrichtung dessen, was ist. Der extreme Nihilist ist sich hingegen darüber im klaren, daß die Wahrheit, die er zwar absolut setzt, immer eine Täuschung und Fiktion ist: Die extremste Form des Nihilism wäre: daß jeder Glaube, jedes Für-wahrhalten nothwendig falsch ist: weil es eine w a h r e Welt gar nicht giebt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend nöthig haben)K.
Für-wahr-halten ist ein Grundzug des Willens zur Macht, und insofern eine Leistung der Subjektivität, die aber in Nietzsches Blick „ewig zur Wahrheit verdammt zu sein" scheint86. Die perspektivische Setzung der eigenen Wahrheit bestätigt und bewährt sich im Durchsetzen gegen die anderen Machtwillen. Weil jede Absolutsetzung der perspektivischen Wahrheit in einen verhängnisvollen Irrtum verfällt, darf man nicht bei einer einmal gewonnenen Perspektive stehen bleiben. Plastisch ausgedrückt, wenn man an einer Sache, die im Grunde ein Werden ist, hängen bleibt, wird es einem zum Verhängnis. Darum ist der extreme Nihilist jener Mensch, „welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existiert nicht"87. Aufgrund der ontologischen Verschränkung der Wahrheit mit der Unwahrheit ist das nihilistische Denken der Spannung zwischen der Setzung perspektivischer Wahrheit und der Voraussetzung ihrer Relativität ausgesetzt. Auf diesem Standpunkt gesteht man das Werden als einzige Realität zu. Da die Welt des Werdens je nach Standort und Perspektive des Blicks anders erschlossen und vergegenwärtigt wird, geht sie von Natur aus in ihrer Scheinbarkeit auf, der wir mit dem Willen zum Schaffen entgegentreten. Der extreme Nihilist geht so weit zu erkennen, daß es das Maß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Nothwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zu Grunde zu gehen88.
Die Bejahung der Welt läuft daher auf die Entbindung dessen hinaus, was das moralische Denken unterbindet, nämlich der aktiven und interpre84 85 86
87 88
KSA 12, 9 (38), S. 352. KSA 12, 9 (41), S. 354. Ueber das Pathos der Wahrheit, CV l, KSA l, S. 760.
KSA 12, 9 (60), S. 366. KSA 12, 9 (41), S. 354.
100
Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik
tierenden Kräfte. Der Wille zur Wahrheit, der eine Welt des Bleibenden fingiert, ist wesentlich „Kunst der Interpretation", wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört89. Wenn der Mensch die Überzeugung, er könne mit seinem Feststellen der Dinge die wahre Welt erfassen, verliert, geht ihm die Kraft zu interpretieren und Fiktionen zu schaffen verloren. Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, „ist", ist ein Glaube der Unproduktiven und Willensschwachen, die keine Welt schaffen „wollen". Nietzsche zieht daraus den Schluß: „.Wille zur Wahrheit' - als Ohnmacht des Willens %um Schaffen"™. Der aktive Nihilismus ist hingegen ein Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes, da er wieder im Besitz der Kraft ist, „produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben zu setzen""31. Hieraus entwickelt sich ein „Antagonism in den Kraft-Graden der Naturen von dem Erkennen, daß etwas so und so ist", und im „Thun, daß etwas so und so wird"92. Der Ohnmacht des Seins wird das Fest-stellen-wollen dessen, was ist, und der Macht des Werdens das Fest-setzen-können, wie es sein soll, zugeordnet. Setzen und Setzen-Können: darauf kommt es Nietzsche in seiner Philosophie des Willens zur Macht an. Die Kraft dazu kann aber erst dann gewonnen werden, wenn der Machtwille sich an den Abgrund des Willens zur Wahrheit erinnert. Darüber hinaus sollen auch all die Stationen in Erinnerung gebracht werden, die der europäische Nihilismus zurückgelegt hat. Auf diesem Standpunkt erzielt der aktive Nihilismus „ein muthiges Bewußtwerden und Ja-sagen zu dem, was erreicht ist"93. Damit stellt Nietzsche zum einen die europäische Vernunftgeschichte in Rechnung, zum anderen legt er, vom Gipfelpunkt der neuzeitlichen Subjektivität ausgehend, die Setzungsvernunft in ihrer Abgründigkeit bloß. Jedesmal, wenn der Machtwille eine perspektivische Wahrheit setzt, wird ihm offenbar, daß er schon gesetzt ist. Denn die Welt, in der er sich befindet, hat ihre Geschichte. Ja-sagen heißt dann Sich-erinnern an den Abgrund des humanen Da-seins und zugleich Eingestehen der je und je wechselnden Perspektiven. Darin eröffnet sich der Weg zu den Dingen, ein Einblick, daß ist, was ist. Da Dionysos ein Name für "das Wahrhaft-Seiende und Ureine, als das ewig Leidende" ist94, ist das 89 90 91
92 93 94
KSA 12, 9 (60), S. 366. KSA 12, 9 (60), S. 365. KSA 12, 9 (33), S.350. KSA 12, 9 (60), S. 365. KSA 12, 9 (66), S. 370. Vgl. Peter Koslowski: Der leidende Gott, in: Willi Oelmüller (Hrsg.): Leiden, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1986. S. 51-57. Vgl. Heinz Röttges: Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Berlin/N. Y. 1972, insbesondere S. 262—292: „Die Substitution der Theodizee durch die absolute Praxis: Der Wille zur Macht". Nietzsches philosophische Begründung des Humanismus ist, so lautet Röttges' These, noch einer „Theodizee des Mundanen" verpflichtet, die die Lehre vom „Willen zur Macht" als die Reflexion des Scheiterns eine Kosmodizee vertritt.
Das dionysische Ja-sagen als Zukunft des aktiven Nihilismus
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dionysische Ja-sagen der Einblick in das, was ist. Daß diese höchste Einsicht jenseits des logischen Denkens ist, zeigt Nietzsche, indem er die Unterscheidung zwischen Vernunft und Intuition heranzieht. Während sich der theoretische Mensch, sich an das Begriffssystem klammernd, durch das Leben rettet, zerschlägt es der intuitive Mensch, der sich auf den fundamentalen Trieb zur Verstellung einläßt. Aus den Begriffen und Abstraktionen, mit denen der diskursive Mensch das Unglück nur abwehrt, erzwingt sich der intuitive Mensch Glück und erntet „eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung"95. Daraus ist ersichtlich, daß Nietzsche den diskursiven Verstand in die intuitive Vernunft aufnimmt. Während Kant den intuitiven Verstand im Gegensatz zum diskursiven Verstand bloß als denkmöglich annimmt, gelangt Nietzsche durch die nihilisitische Bewegung zu der Einsicht, daß der intuitive Einblick in das, was ist, nur durch die konsequente Radikalisierung der diskursiven Setzungsvernunft erreicht werden kann 96 . Der genealogische Durchgang entschleiert nicht nur die Abgründigkeit des metaphysischen Denkens, er holt auch das ein, was dabei „vergessen" worden ist. Die Selbstüberwindung des Nihilismus besteht daher wesentlich in dem „Versuch, Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde"97. Gerade diese Doppeldeutigkeit des Ja-sagens zum Erreichten wie zum Verneinten bildet den Kern der tragischen Erkenntnis Nietzsches.
95 96
97
WL 2, KSA l, S. 888f. Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke, Bd. 8. Der diskursive Verstand erscheint als das Derivat des intuitiven Verstandes, der für Nietzsche die einzige Wirklichkeit ist. KSA 12, 9(164), S. 432.
Zweiter Abschnitt Die Genealogie des Subjekts am Leitfaden des Leibes
IV. Kapitel: Die Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie § 10. Die Dekodierung des cartesianischen fundamentum absolutum inconcussum: „Ich denke"
Wie alle große Philosophen präsentiert sich Nietzsche ausdrücklich als Schöpfer einer philosophischen Methode, nämlich der Genealogie, die von der Intention der Kritik getragen ist 1 . Mit der Akzentuierung des Prinzips „Methode" schließt sich Nietzsche an die Tradition an, die von Descartes mit seinem „Discours de la Methode" inauguriert wurde. Von Nietzsche aus gesehen ist die neuzeitliche Philosophie „eine erkenntnistheoretische Skepsis"2, die aus einem kritischen Ansatz, nämlich dem des methodischen Zweifels, entstanden ist. Der Grundzug der europäischen Moderne ist die Freiheit, die mit der skeptischen Kritik, bzw. der kritischen Skepsis einhergeht. Im Hinblick auf die skeptische Bewegung der Moderne weist das Wort „Kritik" eine zweifache Bedeutung auf: Destruktion der Autorität, welche jenseits aller Prüfung und Kontrolle steht; und Verfügung über einen sicheren Grund, von dem aus das Denken und Handeln seine Legitimation ableitet. 1
2
Vgl. MA, IX 635, KSA 2, S. 360f.: „denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern ... Deshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist". Unverkennbar ist der Cartesianische Primat der wissenschaftlichen Methode: curibus omnibus exsolvi — solus secedo ("ich löse mich aus allen Sorgen heraus und ziehe mich als einen einzigen allein zurück"). R. Descartes: Meditationes de Prima Philosophie, in: Oeuvres, ed. C. Adam/P. Tannery, Vol. IX, S. 18. Zur unauftrennbaren Verschränkung von Methode und Inhalt in der Philosophie Nietzsches, vgl. F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, S. IX. Er betont, „daß die ,Inhalte' der Metaphysik Nietzsches seiner Experimentalmethode angemessen sind und zu ihr gehören" (ebda.). Nietzsches Methode vollziehe „den Übergang von der Methode der Begründung einer Philosophie durch erste wahre Sätze zu derjenigen experimenteller Prüfung und Rechtfertigung philosophischer Grundannahmen" (ebda., S. 134). Vgl. ders.: Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche, in: J. Simon (Hrsg.): Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. II, Würzburg 1985, S. 90-105, hier S. 104f. JGB, III 54, KSA 5, S. 73.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
Daß die Devise des methodischen Zweifels bei Descartes mit dem Satz des Grundes, d. h. mit dem Erkenntnisinteresse der Gewißheit und Sicherheit unlösbar verbunden ist, zeigt der Satz, mit dem Descartes die erste seiner „Meditationen" beginnt: „Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend als wahr habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, und daß ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich endlich einmal etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften ausmachen wolle"3. Das hier zugrundegelegte Prinzip besteht darin, auf dem Wege kritischer Prüfung und selbständig vollzogener Rechtfertigung zum Stand der unerschütterlichen Wahrheit zu kommen. Es handelt sich um das Prinzip der Methode, die auf dem Weg des Zweifels die Gewißheit im voraus sichert4. Die cartesianische Methode ist der Sehnsucht nach der neuen, wenn auch anderen Sicherheit und Evidenz in dem Maße verfallen, in dem sie sich von der Autorität eines tradierten Glaubens lossagt. Für Nietzsche liegt das Entscheidende darin, daß Descartes alle Autorität nur in der Vernunft gründet, und zwar in der humanen Vernunft, wenn er sagt: „Niemals ging meine Absicht weiter als auf den Versuch, meine eigenen Gedanken zu referieren und auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört"5. Angestrebt ist auf dem nach innen gerichteten Wege des Zweifels der Besitz dessen, was als der unerschütterliche Grund aller Gewißheit in uns vorliegt, nämlich der Selbst-besitz des menschlichen Subjekts, der im Satz: „Ich denke", zum Ausdruck kommt. Nach langen Umwegen auf der Suche nach dem Grund der Freiheit und Sicherheit findet der Mensch sich selbst als ein unbedingt Gewisses und Evidentes wieder. Die hierbei zugrundegelegte Freiheit des Menschen basiert auf der Prozessualität des Selbstdenkens, das es zur Aufgabe macht, im skeptischen Gang auf das je Unzweifelbare sich selbst in Besitz zu nehmen und von dem so sichergestellten Grund aus sich wiederum einer Sache zu bemächtigen. In diesem Zusammenhang läßt sich die Cartesianische Grundannahme wie folgt formulieren: Selbstbesit^ ist Weltbesit^. Nietzsche nimmt für sich den Reflexionsstand des freien Selbstdenkens, das Descartes aus den Fesseln unkontrollierter Glaubensansprüche befreit 3
4
5
Rene Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt u. hrsg. v. Arthur Buchenau, Hamburg 1965, S. 11. Am Anfang des „Discours de la methode" weist Descartes ausdrücklich darauf hin, daß angesichts der Universalität der Vernunft die Verschiedenheit unserer Meinungen lediglich daher rührt, „daß wir unser Denken in verschiedenen Bahnen bewegen und nicht dieselben Dinge berücksichtigen". R. Descartes: Discours de la methode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übersetzt u. hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg I960,. S. 3. Ebda., S. 25.
Dekodierung des cartesianischen Grundsatzes: Ich denke
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hat, in Anspruch. An Descartes rühmt Nietzsche „die geschmeidige Verwegenheit" des freien, immer freier werdenden Geistes, dem die Leichtigkeit des Hinwegtanzens über beengende Grenzen eigentümlich ist6. Aber in Nietzsches Augen ist der cartesianische Zweifel immer noch nicht radikal genug, um das Denken wahrhaft freimachen zu können. Denn mit seinem Anspruch auf Festigkeit und Sicherheit hat sich Descartes an die Kette der neuen Autorität gelegt. Die neue Autorität, die nun an die Stelle der göttlichen Vernunft tritt, ist das alles auf sich zurückstellende, sichernd vorgehende Selbst des sich zu sich selbst befreienden Menschen: das Subjekt1'. Das Selbst des Menschen wird im Akt des Zweifeins wesentlich als das zu Grunde liegende, d. h. als sub-iectum erschlossen. Am Ende des Vorstellens als Akt und Vollzug der skeptischen Methode stellt es sich als das Allergewisseste und Sicherste heraus, und die dadurch sichergestellte Identität vom ego cogito und dem ego sum bringt die zwischen Glauben und Wissen hin und her laufende Bewegung endlich zum Stehen. Der Grundsatz „Ich denke" fungiert nicht nur als die regulierende Vorgabe des methodischen Zweifels, sondern er setzt eigens auch das, was ein Seiendes in seiner Wahrheit ist, voraus. In diesem Zusammenhang weist das Selbst-denken eine zweifache Struktur auf: Zum einen ist die Freiheit des „Selbst" in der Weghaftigkeit des Denkens zum Prinzip erhoben, und zum anderen ist das „Selbst" als Grund der Sicherheit und Gewißheit in Rechnung gestellt. Eben diese wesenhafte Verschränkung von Freiheit und Sicherheit ist nach Nietzsche dafür verantwortlich, daß Descartes seine skeptische Methode nicht konsequent vollzogen hat: 6
7
KSA 11, 34(92), S. 450: „Wie gut nimmt sich Leibniz und Abälard, Montaigne, Descartes und Pascal aus! Die geschmeidige Verwegenheit solcher Geister zu sehen ist ein Genuß (...)". Die Anklage der Vernunftdiskussion richtet sich gegen eine im Prinzip der Subjektivität gründende Vernunft, die mit einem die Realität überspringenden Methodenzwang gekoppelt ist. Das Regime einer zum falschen Absoluten aufgespreizten Subjektivität verwandelt die Mittel der Emanzipation in die vielfältigen Instrumente der Unterdrückung und Entfremdung. Nietzsches Aktualität liegt in seiner Einsicht in die Unmöglichkeit einer Selbstbegründung des Humanismus der Aufklärung. Wenn Nietzsche aber gegen die Aufklärung, die im transzendentalen Rückgang des Subjekts auf sich selbst die „metaphysischen, religiösen und moralischen Irrtümer" des Menschen durchschaut, die „neue" Aufklärung ins Feld führt, nimmt er die Genese dieser Irrtümer aufs Korn, indem er die Bewegungsstruktur der Konstituierung des Subjekts erschließt. Nietzsches Anliegen ist die genealogische Rekonstruktion dessen, was als „das Subjekt" bezeichnet wird, nicht die Verteufelung des sich selbst zum Objekt machenden Subjekts. Diesen Aspekt hat kein anderer als Michel Foucault klarer gesehen, wenn er im Hinblick auf seinen Themenwechsel sagt: „es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt". M. Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1986, S. 12. Zum Methodenzwang der subjektorientierten Wissenschaft, vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistische Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1976.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie Descartes ist mir nicht radikal genug. Bei seinem Verlangen, Sicheres zu haben und „ich will nicht betrogen werden" thut es Noth zu fragen „warum nicht?". Kurz, moralische Vorurtheile (oder Nützlichkeits-Gründe) zu Gunsten der Gewißheit gegen Schein und Ungewißheit 8 .
Descartes will einen Standort festmachen, von dem aus dann das Sein und die Wahrheit selbst begrifflich genau abgegrenzt werden. Was im Satz „ich will nicht betrogen werden" zur Sprache kommt, ist der Wille zur Wahrheit. Dieser Wille entspringt der Möglichkeit einer Täuschung durch die menschliche Sinnlichkeit 9 . Es ist die Ironie der Cartesianischen Setzungsvernunft, daß die methodisch zur Geltung gebrachte Überzeugung an die maßstäbliche Rolle rationaler Sicherheit und Gewißheit doch nur ein „Glaube" ist. Die Grundlegung des Selbst, durch die der Mensch sich als subiectum ins Zentrum der Welt stellt, ist nichts anderes als eine „Selbsttäuschung". Nietzsche erblickt in der Methode des omnibus dubitare „das schönste Mittel, sich zu betrügen" 10 . Nietzsche sieht ein, daß der Grundsatz des Descartes von moralischen Voraussetzungen nicht unabhängig ist, sondern daß ein immanenter Zusammenhang von Kritik und Moral besteht. In der nihilistischen Erkenntnis der Sinnotwendigkeit der moralischen Voraussetzungen ist das Motiv einer „Radikalisierung des cartesischen Zweifels" angelegt, in der dem denkenden Subjekt das Recht abgesprochen wird, einen Archimedischen Punkt in sich und für sich selbst zu suchen 11 . Es liegt auf der Hand, daß der Cartesische Zweifel selbst Anlaß bietet zum Zweifel, ob der allergewisseste, von der Vernunft angebotene Grundsatz des „Ich denke" von der Kritik verschont bleiben könne. Diesbezüglich lautet Nietzsches Diktum: „Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!"12 Der Cartesische Zweifel wird von Nietzsche dahingehend radikalisiert, daß auch noch die moralischen Voraus-setzungen, unter denen der erkenntniskritische Grundsatz gesetzt wird, einer Kritik ausgesetzt werden, bis sich der sichergestellte Grund als Abgrund entpuppt 13 . Die Abgründigkeit des sich ins 8 9
10 11 12 13
KSA 11, 40(10), S. 632. Vgl. R. Descartes: Discours de la methode, ebda., S. 11, findet es gut, „sie alle geprüft zu haben, selbst die abergläubigsten und falschesten, um ihren wahren Wert kennenzulernen und sich zu hüten, von ihnen getäuscht zu werden". KSA 11, 39(13), S. 624. Vgl. F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, a.a.O., S. 134. KSA 11,40(25), S. 641. Nietzsches Einstellung zu diesem Problem kann man mit einem Satz, den B. Waldenfels in der Sprache Descartes' zur Philosophie der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty spricht, charakterisieren: „Anstatt den ordre de la vie unter den ordre de la raison zu beugen, versucht er, den ordre de la raison im ordre de la vie selbst zu entdecken und aufzuzeigen". B. Waldenfels: Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty, in: Philosophisches Jahrbuch, 75 (1967/68), S. 347 — 365, hier S. 348. Kein Zweifel, daß durch diesen Blickwandel die Bedeutung der Methode eine ganz andere wird und dementsprechend eine Neuformulierung des Wahrheits-
Dekodierung des cartesianischen Grundsatzes: Ich denke
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Zentrum der Welt stellenden Subjekts zeigt sich darin, daß die von Descartes begründete Erkenntnistheorie von einer vorherigen Entscheidung über den moralischen Charakter des Daseins abhängig ist. Angezweifelt wird die Glaubwürdigkeit derjenigen normativen Basis, die den Maßstab der „Gewißheit" und der „Wahrheit" bildet. Denn „der Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit"14. Auf diese moralische Herkunft der logischen Grundsätze ist der Cartesische Zweifel noch einmal anzuwenden, um zu fragen, woher das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit der logischen Urteile steht und fällt, seine Legitimation bekommt. Dieses „Woher" ist das Stichwort für „die Gegenbewegung gegen die absolute Autorität der Göttin ,Vernunft'" 15 . Nietzsche hält jedoch an der moralischen Sinn-Notwendigkeit des Glaubens fest, um der Moral die Festigkeit abzusprechen. In Nietzsches Augen ist die Moralität des Daseins wesentlich dadurch bestimmt, daß der Mensch sich zu sich selbst und zu seiner Umwelt verhält. Die Freiheit der menschlichen Existenz wird damit von der Sicherheit des jeweils Zugrundegelegten abgekoppelt, indem zur Erkenntnis gebracht wird, daß die jeweils bestimmte Moral sich aus der grundsätzlichen Faktizität des Menschen in der Welt ergibt. In Nietzsches genealogischer Sicht ergibt sich die grundsätzliche Schwierigkeit der Cartesianischen Problematik daraus, daß Descartes das Phänomen der Moral verkennt und damit das Wesen der Setzungsvernunft nicht ins Auge faßt. Wenn Nietzsche die Scheinhaftigkeit der Welt ins Feld führt, dann bedeutet es mehr als eine bloße Opposition gegen Descartes, der betonte, daß die Welt eine Täuschung ist und daß nur im Denken des Subjekts der Weg zur Ständigkeit, ja gar zum „Unbedingten" gegeben ist16. Nietzsche
14 15 16
begriffs erforderlich ist. Vgl. GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA l, S. 14: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers %u sehn, die Kunst aber unter der des Lebens". Dem Wahlspruch der lebensverneinenden Historic: „fiat veritas pereat vita", hält Nietzsche die Maxime der leiblichen Vernunft entgegen: „fiat vita pereat veritas". Zur Maxime des Historischen, siehe HL 4, KSA l, S. 272. Vgl. Lou Andreas Salome: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, S. 144. Ebda. Ebda. Nietzsches Philosophie intendiert nicht die bloße Opposition gegen die idealistische Vernunftsphilosophie, indem sie eine „Philosophie der Kunst" begründet. Nietzsche liegt es ebenso fern, die Aporie der Subjektphilosophie durch die Rehabilitierung der Kunstbedürftigkeit des Menschen kompensatorisch aufzuheben. Vgl. Heide Schlüpmann: Friedrich Nietzsches ästhetische Opposition. Der Zusammenhang von Sprache, Natur und Kultur in seinen Schriften 1869 — 1876, Stuttgart 1977. Der Sinn der „ästhetischen Opposition" liege nach Schlüpmann in der Wiedererinnerung einer Sprache der Natur, die die kulturell deformierte und konventionalisierte Sprache erneuern und vervollständigen kann. Das Interpretamentum „ästhetische Opposition" verfehlt aber den ontogenetischen Aspekt der Physiologie der Kunst Nietzsches, indem es die Kunstbedürftigkeit des Menschen bloß zur anthropologischen Konstante rechnet und somit die Kunst als ein kompensatorisches Mittel zur Aufhebung der
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
geht es in erster Linie darum, die Welt von der leiblichen Verankerung des Menschen in der mundanen Wirklichkeit her zu verstehen. Daß der Mensch aufgrund seiner leiblichen Verfassung sich faktisch schon in einer vorgefundenen Welt befindet, zu der er sich dann mit seinen Interpretationen verhält, zeigt Nietzsche genealogisch, indem er jeden Grund ins Abgründige verwandelt und das Sein ins Werden liquidiert. Gerade die Tatsache, daß der Grund der Dinge in sich etwas Betrügerisches enthält, kommt gerade der Interpretationsphilosophie zugute, weil es nicht nur den Ausgangspunkt des methodischen Zweifels sondern auch seinen Endpunkt im Sinne einer weltbejahenden Anerkennung der Dinge darstellt. So kommt es, daß die „Unvernunft" wie das Willkürliche, Zufällige, Ungewisse, von der sich die „wahre" Welt abgrenzt, wieder ins Leben gerufen wird. Nietzsche thematisiert damit die Fiktivität der uns angehenden Welt und bringt seine genealogische Erkenntniskritik auf die metaphysisch-ontologische Dimension des cartesianischen Grundsatzes. Nietzsches entlarvende Kritik ergibt, daß das Wesen der Cartesischen Grundlegung des „ego cogito" im ausdrücklichen Vollzug eines im voraus festgemachten Seinsverständnisses liegt, aus dem erst die Grundverfassung des Erkennens und des Gegenstandes verständlich wird. Der Entwurf des „Ich denke" ist in der ursprünglichen Zusammengehörigkeit des cogitat und des cogitatur die vorweg vollzogene Enthüllung und Bestimmung dessen, als was Denken qua Denken im vorhinein verstanden werden muß: Es giebt keine unmittelbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was „denken" ist und zweitens was „sein" ist17.
Diese apriorische, vor aller Erkenntnis vollzogene, und moralische, d. h. alles Denken und Handeln leitende Voraus-setzung ist es, unter der die Vernunft uns einbricht. Daraus wird ersichtlich, daß man auf dem Wege Descartes' nicht zu etwas absolut Gewissem kommt, sondern nur zum Faktum eines sehr starken Glaubens. Da die Festsetzung von Sein und Denken in „ego cogito" nicht erst durch die Erkenntnis begründet ist, sondern jeder Erkenntnis vorausgeht, erfolgt im cogito nicht nur ein Vorgang, welcher einfach bewußt wird, sondern „ein Urtheil, daß es der und der Vorgang ist, und wer z. B. nicht zwischen denken, fühlen und wollen zu unterscheiden wüßte, könnte den Vorgang gar nicht constatiren"18. Nietzsche hat klar
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Selbstentfremdung betrachtet. Zur Bestimmung der Kunstphilosophie als Alternative, vgl. auch Mihailo Djuric: Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/N. Y. 1985, S. 284. "Als ein möglicher Wendepunkt der künftigen philosophischen Entwicklung, die eine genuine Alternative zur bisherigen sein sollte, ist die Kunst für Nietzsche wahrhaftig ,Organon der Philosophie'". KSA 11,40(24), S. 641. Ebda.
Dekodierung des cartesianischen Grundsatzes: Ich denke
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eingesehen, daß es sich beim Grund-Satz des Descartes bereits um „ein logisch-metaphysisches Postultat"19 handelt, von dem aus entschieden wird, ob und inwieweit das Vorgestellte Anspruch auf Ständigkeit (Sein) und Wahrheit (Denken) hat, kurz, was die Welt überhaupt sein soll. Den logischen Grundsätzen liegen also die ontologischen Glaubenssätze zugrunde. Im Hinblick auf die moralischen Werte in der Theorie der Erkenntnis könnte man meinen, daß die Glaubwürdigkeit der Voraus-setzung gerade in der Absurdität von deren Setzung liegt: credo, quia absurdum. Gegenüber der Erkenntniskritik des Descartes, der den Glauben als Schein entlarvt, ist es aber in der neueren Philosophie „glaubwürdiger" geworden, daß der Grundzug der humanen Freiheit — nachdem der nach innen verfolgte Grund des Subjekts sich auch als Schein entpuppt hat — die schöpferische Projektion eines Scheins ist. Diese nihilistische Einsicht läßt sich am besten auf eine Formel bringen, die dem Wesen der metaphysischen Grundstellung eigen ist: credo, ut intelligam. Angesichts der ontologischen Grundverfassung des Daseins, die sich in der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Seinsverständnis und -Verhältnis artikuliert, kommt der Wille zur Macht zum Zuge, indem er jeweils einen fertigen „Glaubens-Satz" hervorbringt. Nietzsche konstatiert einen immanenten Zusammenhang von Glauben und Wissen. Das Sein des Seienden ist in keiner Weise zugänglich ohne vorgängiges Seins-verhältnis des Menschen, das als wollendes Sich-verhalten im Sinne des Willens zur Macht ausgelegt wird20. Der prima facie willkürliche Akt: Ich glaube, damit ich 19 20
KSA 12, 10 (158), S. 549. Zum inneren Zusammenhang von Meinen, Glauben und Verstehen, vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 95, in: L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. l, Frankfurt/M. 1984, S. 294: „Wenn wir sagen, meinen, daß es sich so und so verhält, so halten wir mit dem, was wir meinen, nicht irgendwo vor der Tatsache: sondern meinen, daß das und das — so und so — ist. — Man kann aber dieses Paradox (welches ja die Form einer Selbstverständlichkeit hat) auch so ausdrücken: Man kann denken, was nicht der Fall ist". Wittgenstein wendet sich hier von seinem „Tractatus logico-philosophicus" ab, indem er die „vor-ontologische" Dimension des „Erfahrungssatzes" thematisiert. Das Zentrum post-idealistischer Philosophie liegt in der Rehabilitierung der „Meinungen", in denen die Welt zuerst und zumeist zur Sprache kommt, wie sie ist. Die Welt zeigt sich: Darauf kommt es im „Glaubenssatz" Nietzsches wie im „Erfahrungssatz" Wittgensteins an. „Meinen" erschließt als Modus des endlichen Daseins allererst die Welt. Im Gegensatz zur idealistischen Vernunftphilosophie, in der es um die Konstituierung der Welt durch das Subjekt geht, steht im Vordergrund dieses post-transzendentalen Denkens eine Weltordnung, die vor aller Erfahrung ist und sich durch die gan^e Erfahrung hindurchzieht. In diesem Problemkreis, den Nietzsche mit seiner Philosophie des Willens zur Macht eingrenzt, treffen sich Heideggers „Sein und Zeit" und Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen". Hierzu gibt es keine umfassende Untersuchung. Man vergleiche: Thomas Rentsch: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985. Zur Entwicklung der Philosophie Wittgensteins im von Schopenhauer und Nietzsche sehr stark geprägten geistigen Klima Wiens, vgl. B. F. McGuiness (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis, Blackwell 1967.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
erkenne, entspringt jedoch der neuen Interpretation des Verhältnisses von Mensch und Welt, von Erkennen und Sein, d. h. daß die neue Denkweise immer „das Vorhandensein eines neuen Maaßes, einer neuen EmpfindungsScala"21 voraussetzt. Zu fragen ist hierbei, ob die jeweils bestimmte Maßgabe des Denkens das nihilistische Wesen und die leibhafte Verfassung des Menschen genügend in Rechnung stellt. Der Anmaßung der neuzeitlichen Vernunft, die sich in der Weltherrschaft des Menschen manifestiert, steht nun die Mäßigung der humanen Setzungsvernunft durch die leibhafte Ortsbestimmung des Menschen entgegen, welche den Zwischen-Charakter des humanen Daseins in Anschlag bringt. Nietzsche gibt uns darauf folgenden Hinweis: Was ist Erkennen im Verhältniß zum Sein? Für den, welcher auf alle diese Fragen schon fertige Glaubenssätze mitbringt, hat aber die Cartesianische Vorsicht gar keinen Sinn mehr: sie kommt viel zu spät. Vor der Frage nach dem „Sein" müßte die Frage vom Werth der Logik entschieden sein22.
Die hier vollzogene Radikalisierung des Cartesianischen Zweifels verfolgt eine doppelte Strategie: Zum einen wird die skeptische Kritik dahingehend erweitert, daß auch die moralischen Grundlagen, die den Grundsatz der Erkenntniskritik bestimmen, noch eingeholt werden; zum anderen läuft sie darauf hinaus, die Sinn-Notwendigkeit der moralischen Setzung als das Wesen der menschlichen Freiheit zu begreifen. Stellt sich heraus, daß die Logik in der Moral gründet, dann läßt sich desweiteren behaupten, daß die Moral in der fundamentalen Moralität des Menschen aufgehoben ist. Wenn sich die Moral derart selbst aufhebt, kommt der Philosophie die Aufgabe zu, die in einem jeden Welt- und Selbstverhältnis des Menschen implizite Struktur ausfindig zu machen. Darin ist die Vorrangigkeit der Frage nach der Moralität, d. h. dem Sinn der Moral begründet. Nietzsche wendet sich nun dem Umstand zu, daß Descartes trotz seiner tiefsinnigen Einsicht in den Zusammenhang von Freiheit und Methode doch der metaphysischen Vertrauensseligkeit verhaftet bleibt. Gemeint ist die wesenhafte Symbiose von Wahrheit und Sicherheit im Cartesianischen Grundsatz: „Ich denke". Der Grund dafür, daß Descartes das Denken auf das sich selbst stellende Subjekt zurückführt, ist in Nietzsches Sicht, wie er ständig betont, der tief verwurzelte „Glaube an die Grammatik",23 welcher dafür sorgte, daß Descartes „in dem Fallstrick der Worte hängen blieb"24. Wenn gerade durch den Grund-Satz erst mitgesetzt wird, was Sein und Denken besagen, ist der Satz: „Ich denke", als Satz aller Sätze der eigentliche Ort der 21 22 23
KSA 11, 34(255), S. 507. KSA 11,40(23), S. 640. Ebda. Vgl. auch KSA 11, 40 (20), S. 637: „die Grammatik als veritas aeterna", JGB KSA 5, S. 29, 31 u. 73.
24
KSA 11,40(23), S. 640.
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Wahrheit. Der Logik des Denkens entspricht so die Grammatik der Sprache, deren Pendant im Handeln wiederum die Moral ist25. Auf das methodische Monitum: „Es muß besser gezweifelt werden", folgt nun der durchaus konsequente Schritt: „man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen"26. Im genealogischen Rückstieg erweist sich die abendländische Metaphysik als die „Philosophie der Grammatik"27. Die Vorherrschaft des europäischen philosophischen Fragens, das in seiner sich selbst erhellenden Umgrenzung des Gefragten wesentlich eine Frage nach dem Grunde ist, basiert nach Nietzsche auf „der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen"28. Nietzsche spricht von der grundlegenden „Sprachverwandtschaft", welche bewirkt, daß „von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt"29. Hier ist nach der Bedeutung des „von vornherein" zu fragen. Nietzsche gibt dem Wort eine zweifache Auslegung: Die Apriorizität der Sprache besagt zum einen, daß sich der jeweils andere Sinnentwurf einer historischen Gegenwart immer im Rahmen der Grammatik des anfänglichen 25
26 27
28 29
Vgl. Josef Simon: Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition, in: Nietzsche-Studien, l (1972), S. 1—26. Der Verfasser betrachtet Nietzsches Thema von der „gemeinsamen Philosophie der Grammatik" in ihrem philosophischen Zusammenhang mit der Tradition einer spekulativen, rationalen oder transzendentalen Grammatik. Allen Versuchen der Spekulation, eine „Grammatik der Philosophie" als universale Struktur der transzendentalen Vernunft zu entwickeln, soll Nietzsches „Philosophie der Grammatik" vorausgehen. So wie Nietzsches Begriff „Leben" im Zusammenhang mit dem „sprechenden" Leiben des Menschen über einen sich von der logischen Grammatik des Satzes her verstehenden Begriff der Vernunft hinausgeht, führt Nietzsches „Philosophie der Grammatik" den logischen Grundsatz des „Ich denke" auf den ihm vorausgehenden Erfahrungssatz des leibhaften „Ich bin" zurück. Vgl. auch R. E. Künzli: Nietzsche und die Semiologie. Neue Ansätze in der französischen Nietzsche-Interpretation, Nietzsche-Studien, 5 (1976), S. 263-288. JGB, I 16, KSA 5, S. 29. JBG, I 20, KSA 5, S. 34. Ebda. Ebda. Nietzsches Rückführung der Grammatik auf „Sprachverwandtschaft" macht deutlich, daß sich seine „Philosophie der Grammatik" gegen die spekulative Satzgrammatik, die a priori bestimmt, was die Sprache ist, richtet und den Prozeß der Konstituierung einer Sprache im Kontext des jeweiligen Lebenszusammenhangs beschreibt. Es handelt sich um die sich jeweils verdichtenden „Familienähnlichkeiten" im Sinne Wittgensteins. Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Nr. 67, a. a. O., S. 278. Zur „Gemeinsamkeit" der Sprache sagt Wittgenstein am Beispiel des Spinnens eines Fadens: „es läuft ein Ewtas durch den ganzen Faden, — nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern". Wesentlich ist aber, daß Wittgenstein in der Übereinstimmung der Menschen in der Sprache die Übereinstimmung einer Lebensform sieht. Vgl. L.Wittgenstein, ebda., Nr. 241, a.a.O., S. 356. Mit seiner „Philosophie der Grammatik" nimmt Nietzsche in gewisser Hinsicht die sich an Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen" anschließende sprachanalytische Philosophie vorweg, die sich selbst aus einem Gegensatz zum metaphysischen Denken versteht und daher dessen Gebundensein an die Grammatik seiner Sprache erschließt. Vgl. A. C. Danto: Nietzsche äs Philosopher, New York 1980, S. 121f.
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Fragens entfaltet; zum anderen bedeutet die Diktatur der Sprache, daß zu anderen Möglichkeiten der Weltdeutung der Weg verschlossen bleibt. Diese zweifache Struktur der Grammatik erschließt Nietzsche durch die Analyse des Cartesianischen Grund-Satzes. In seiner genealogischen Rekonstruktion der grammatischen Voraussetzungen des Denkens entschlüsselt Nietzsche den Glauben an die Grammatik und kommt damit zum Ergebnis, daß die Logik des setzenden, d. h. Satz bildenden Denkens in der existenzialen Apriorizität der Sprache verwurzelt ist.30 In seiner genealogischen Analyse des Cartesianischen Grund-Satzes richtet Nietzsche sein Augenmerk primär und grundsätzlich auf den „Vorgang", der sich im Satz „Ich denke" ausdrückt. Dadurch werden zuerst die Voraussetzungen erkennbar, die Aussagen in ihrer Grundstruktur bestimmen. Es handelt sich um „eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist", nämlich: (1) dass ich es bin, der (2) dass überhaupt ein (3) dass Denken eine welche als Ursache
denkt, Etwas es sein muss, das denkt, Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, gedacht wird, dass es ein „Ich" giebt, endlich,
(4) dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichen ist, — (5) dass ich u/eiss, was Denken ist31. Zwei Worte sind von Nietzsche besonders hervorgehoben, nämlich: „Ich" und „weiß". Dadurch ist der Kern des Satzes in seiner Gewißheit und Identität getroffen: ich weiß, daß ich denke. Die Schwierigkeit der Begründung der mit dem „cogito" implizierten Voraussetzungen besteht gerade darin, daß das „ich denke" im zum voraus vollzogenen Akt „ich weiß" gründet. Die sich selbst vergewissernde Herstellung des Denkens ist auf die Entscheidung desjenigen Maßes angewiesen, nach dem die Unterscheidung zwischen Wollen, Fühlen und Denken erfolgen soll. Was Nietzsche gegen den Satz des ego cogito vorbringt, ist also die Abkünftigkeit der allergewissesten Aussage. D. h. die Gewißheit der Aussage leitet sich von der jeweiligen perspektivischen Weltinterpretation ab, die sich aus der Kontextualität des Lebens ergibt, und von der die Stabilität der konstituierten Ordnung abhängt. Es ist einleuchtend, wenn Nietzsche in jenem Grund-Satz eine Antwort auf die „Fragen der Metaphysik" erblickt, „welche heißen: ,Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?' "32 Nietzsche beruft sich hier ausdrücklich auf die Tradition, wenn er die Verbindlichkeit des Cartesiani30
Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 160.
31
JGB, I 16, KSA 5, S. 30.
32
Ebda.
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sehen Grundsatzes unter der Perspektive der metaphysischen Leitfragen thematisiert, nämlich der Herkunftsfrage (Woher?), der Grundfrage (Warum?) und der Sachfrage (Was?). Weil Descartes mit seiner Bemühung um den festen, sicheren Grund in uns immer noch von der Grammatik der umfänglichen Fragen der Metaphysik geleitet bleibt, deshalb habe er sich „mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntniss" getraut, „jene metaphysische Frage sofort zu beantworten"33. In Nietzsches neuer Perspektive hat Descartes in eins mit der Tradition versäumt und unterlassen, die metaphysischen Fragen als solche radikaler, d. h. ursprünglicher zu fragen. Der eigentliche Sinn der metaphysischen Fragestellung wird in dem Maße in die Vergessenheit gedrängt, in dem man sich unmittelbar auf die Antwortfmdung verlegt. Die Vorherrschaft der Grammatik bedeutet dann, daß die metaphysische Fragestellung immer als metaphysische Grundstellung im Sinne der Beantwortung behandelt wird. Das philosophische Erkennen ist aber für Nietzsche „ein zu Ende-Kennen"34, das es erst ermöglicht, die eigenen Voraussetzungen der Philosophie selbst in Frage zu stellen. Nietzsches Versuch, sich von der Grammatik zu befreien, ist letztendlich darauf angelegt, die Fragen der Metaphysik an den anfänglichen Anfang derselben zurückzubringen und so das philosophische Fragen als solches zu entfalten. Der Rückgang in den ursprünglichen Ort des philosophischen Fragens und Denkens vollzieht sich also als Emanzipation von der „Grammatik", die durch die Vorgabe einer bestimmten Beziehung von Mensch und Welt den Standort des Menschen im Ganzen des Seienden mitbestimmt. Diese logisch oktroyierte Verfassung des Menschen artikuliert sich wesentlich im GrundSatz: „Ich denke", dessen grammatische Satzstruktur zugleich die Herrschaftsstruktur des Menschen über die Welt ist. Die Satzstruktur sagt, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubt: „ ,Ich' ist Bedingung, ,denke' ist Prädikat und bedingt — Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werder muß"35. Der Wahrheit als Identität des ego cogito und des ego sum, und der Begründung des durch diesen Satz gesetzten und gesicherten Grundes liegt jene Hypothese zugrunde: „Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes"36. Da werden schon Dinge und deren 33
34 35
36
Ebda. JOB, I 16, KSA 5, S. 29. JGB, III 54, KSA 5, S. 73. Gegen das Cartesianische Residuum „ego", das sich noch von der metaphysischen Relation „Substanz-Modus" ableitet, legt Nietzsche anschließend die Vermutung nahe, daß eher das Umgekehrte wahr sei: „ .denke' Bedingung, ,Ich' bedingt; ,Ich' also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird". Vgl. KSA II, 40 (24), S. 640. KSA 12, 10 (158), S. 549. Nietzsches Kritik richtet sich gegen die fundamentale Voraussetzung der Feststellbarkeit des vorstellenden Subjekts, die es zur Konstituierung der objektiven Realität in Anspruch nimmt. Für die Schlußfolgerung des Seienden, das denkt, aus der
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Tätigkeit derart gesetzt, daß sie alle dem Menschen zum Objekt werden. Diese apriorische Voraus-setzung, daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, das denkt, ist aber für Nietzsche „eine Formalisierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Thun einen Thäter setzt"37. Nietzsche hat eingesehen, daß die Logik im Grunde in der Anthropologie aufgehoben ist, daß der Mensch seine Natur- und Weltbeherrschung seiner Sprache verdankt. Daß aber die Anthropologie ihrerseits in der Logik des Verhältnisses von Mensch und Welt gründet und die Grammatik nur in der Dialogik dieses Grund-verhältnisses aufgeht, zeigt Nietzsche, indem er den Glauben an das denkende Subjekt als die „Verführung der Sprache und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft" 38 herausstellt. Vom fortgeschrittenen Standpunkt des Pessimismus aus vollzieht er „die Umkehrung, nämlich das Denken als Ursache und Bedingung sowohl von ,Subjekt' wie von ,Objekt', wie von ,Substanz' wie von ,Materie' anzunehmen ... vielleicht nur die umgekehrte Art des Irrthums ist"39. Da der Grund-satz der neuzeitlichen Subjektphilosophie sich als ein Glaubens-satz demaskiert, hängt nun seine „Glaubwürdigkeit" davon ab, wie und inwieweit der Mensch den objektiven Schein des abgründigen Grundes ausstehen kann, ohne ihn in das Sein des festen Grundes zu verwandeln. Denn %um Sieben gehört wesentlich das Ausstehen, d. h. jedem Ethos geht voraus und liegt ^ugrunde ein Pathos. Nietzsche intendiert hier ein Denken, das aus der nihilistischen Einsicht in die Scheinbarkeit der jeweils anderen Setzung des Wesens und des beständigen Selbst-Widerspruchs hervorkommt. Der Glaube an „die Grammatik als veritas aeterna und folglich als Subjekt Prädikat und Objekt"40 wird damit delegitimiert. Darin liegt der Grund, daß mit der Umkehrung des Denkens auch eine Umwertung der Sprache erfolgt. So wie das Denken vom Erkennen, soll die Sprache von der Grammatik losgelöst und an ihren ursprünglichen Ort gebracht werden. Nietzsche geht es grundsätzlich um das Phänomen Denken und Sprache. Um zu diesem anfänglichen Ort des philosophischen Fragens zu gelangen, geht Nietzsche genealogisch in drei Schritten vor:
37 38
39 40
Tatsache des Denkens ist der Glaube an dem Substanzbegriff verantwortlich. Mit dem Primat des Subjekts vor der Substanz macht Nietzsche darauf aufmerksam, daß die Cartesianische Bestimmung der res cogitans als substantia cogitans auf einer Auslegung des Geschehens beruht, in dem das Subjekt sich als solches konstituiert. Nietzsche sagt: „Der Substamfbegnff eine Folge des Subjektsbegnfk: nicht umgekehrt". KSA 12, 10 (19), S. 465. Vgl. K. H. Volkmann-Schluck: Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt/M. 1968, S. 72ff. Das „Subjekt" Nietzsches meint weder eine substantielle res noch ein sich als spontan verstandenes Vermögen, es ist eine Synsthese des Interpretationsprozesses. Ebda. GM, I 13, KSA 5, S. 279. KSA 11,40(20), S. 637. Ebda.
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Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Tatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, — nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „er" will, und nicht wenn „ich" will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt „ich" ist die Bedingung des Prädikats „denke". Es denkt: aber dass dies „es" gerade jenes alte berühmte „Ich" sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine „unmittelbare Gewissheit". Zuletzt ist schon mit diesem „es denkt" zu viel gethan: schon dies „es" enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst41.
In diesen Gedankengängen zeigt sich die radikalisierende Methode Nietzsches, die bei jedem Schritt über die Sprache hinaus und zugleich auf sie zurückgeht. Im vollen Bewußtsein der Notwendigkeit, mit der Sprache und den Gewohnheiten des Volks-Verstandes sich behelfen zu müssen, treibt Nietzsche die das Denken bestimmende Grammatik in ihre äußerste Konsequenz, um schließlich zu zeigen, daß der festgestellte Tatbestand bloß eine Fälschung, Interpretation ist. Dabei fällt es in die Augen, daß Nietzsche seine Argumentation von der oberflächlichen, alltäglichen Erfahrung des Menschen ableitet, daß ein Gedanke ihm einfach einfallt. Beim genealogischen Durchgang: ich denke — es denkt — es wird gedacht, wird der Vorgang des Denkens als solcher herausgearbeitet, den die Sprache in ihrer grammatischen Versteinerung nicht zum Ausdruck bringen kann. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen für die Interpretation: Zum einen wird die grammatisch geregelte Liäson von Mensch und Sprache in die von Natur und Mensch transformiert. Der Mensch erfährt sich nicht mehr als das Subjekt der Sprache, sondern er wird in das ihn umgreifende Naturgeschehen aufgelöst und eingebunden. „Es denkt": so sollte man sprechen wie man sagt: es blitzt. Durch die Umformulierung des „ich denke" zu „es denkt" ist der Mensch in einen Bereich hineinversetzt, der, der Einwirkung des Subjekts entzogen, dem Menschen nicht geheuer ist42. Das Es ist nämlich etwas, was sich nicht 41
42
JGB, I 17, KSA 5, S. 30f. Nietzsches Zurückführung des logischen Grundsatzes auf ein Es-Satz als Impersonal deutet die Möglichkeit an, das Sagen von „Es denkt", „Es blitzt" nicht als Aussagen zu verstehen. Im „Es denkt" wird nicht die Aussagbarkeit dessen, was es denkt, genannt, sondern dieses gerade als ein Unaussagbares. Darin kommt der ursprüngliche Bezug des Menschen zur Welt selbst zur Sprache. Vom Ereignen her gedacht, heißt dies „Es denkt" für Heidegger: „Sein ohne das Seiende denken". Vgl. M. Heidegger: Zeit und Sein, in: ders.: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 1-25, hier S. 25. Zur Bedeutung des „Es" sagt Heidegger: „Der im Es gemeinte Bedeutungsbezirk reicht vom Belanglosen bis in das Dämonische" (S. 19). Nietzsche kommt es eben darauf an, dieses Dämonische eigens und ursprünglich zu denken. Vom sprachanalytischen Standpunkt aus bemerkt Hartmut Brands: „Die Eliminierung des Subjekts in ,cogito' war ja auch das Ziel, das Nietzsche mit der Umformulierung zu ,es denkt' verfolgte, um die mit dem Subjekt ,ich' verbundenen Voraussetzungen zu vermeiden". H. Brands: „Cogito ergo sum". Interpretationen von Kant bis Nietzsche, Frei-
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dingfest hinstellen läßt. Es handelt sich hier um einen Umschlag von der Geschichte des Menschen ins Geschehen der Natur. Die zweite Konsequenz betrifft Nietzsches eigentliche Intention, den Prozeß als solchen ohne den Glauben an ein die Bewegung auslösendes Etwas zu denken. So kommt es dazu, jenes problematische „es" wegzulassen und das cogitatur als Tatsache ohne eingemischte Glaubensartikel festzustellen. In seiner Radikalität beläßt es Nietzsche jedoch nicht dabei. Er deklariert auch die passivische Form als Täuschung, denn aufgrund der leiblichen Verankerung des Menschen in der Welt und seiner sprachlichen Verfaßtheit läßt sich der Tatbestand nicht nackt hinstellen. Bei jedem Verhalten des Menschen zur Welt handelt es sich im Grunde um die „Auslegung des Vorgangs", wobei jeder Vorgang immer Auslegungs-Geschehen ist. Durch den genealogischen Gang durch die Sprache hindurch gelangt nun Nietzsche zu dem Punkt, von dem aus das „Menschliche" des Menschen in seiner Grundstruktur erschlossen werden kann 43 . Als Duktus dieses neuen Philosophierens gilt dementsprechend die Frage nach der „Natur" des Geschehens. Der Weg zu dieser neuen, ursprünglichen Fragestellung ist in Nietzsches Sicht aber durch die Grammatik verdeckt, deren Grundstruktur das Prinzip der Kausalität darstellt: „Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist"44. Wenn Nietzsche sich entschließt, „es geschieht da etwas" an die Stelle von „da gibt es etwas" zu setzen, und schließlich „ohne jenes kleine ,esc auszukommen", 45 dann ist dies eigens dafür berechnet, das Prinzip der Kausalität zu destruieren, um schließlich den Weg zur Welt freizumachen.
43
44 45
bürg/München 1982, insbesondere S. 247 — 271, hier S. 253. Durch die Analyse der Impersonalien zeigt er deutlich, daß die Deutung des Satzes „es denkt" als ein impersonaler Ausdruck nicht möglich ist. Denn in den impersonalen Sätzen handelt es sich um Existenz und Kausalsätze, wenn mit dem „es" eine nicht näher zu bestimmende Ursache des Geschehens angezeigt wird. Die Begründung der Durchstreichung des „Es" bei Nietzsche ist demnach: „,denken' gehört nicht zu den Impersonalien" (S. 255). Hierzu ist die Herausarbeitung der unausdrücklichen „vor-ontologischen" Fundamente des „cogito sum" erforderlich. In „Sein und Zeit" schreibt M. Heidegger: „Mit dem .cogito sum' beansprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren Boden bereitzustellen. Was er bei diesem .radikalen' Anfang unbestimmt läßt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer der Seinssinn des ,sum'". M.Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 24. Hierzu vgl. Robert Spaemann: Das „Sum" im „Cogito Sum", in: ZfphF, 41 (1987), S. 373-382. Ebda. Ebda. Vgl. KSA 11, 40 (23), S. 639: „In jenem berühmten Cogito steckt 1) es denkt 2) und ich glaube, daß Ich es bin, der da denkt, 3) aber auch angenommen, daß dieser zweite Punkt in der Schwebe bliebe, als Sache des Glaubens, so enthält auch jenes erste ,es denkt' noch einen Glauben: nämlich, daß .denken' eine Thätigkeit sei, zu der ein Subjekt, zum mindesten ein ,es' gedacht werden müsse".
Kritik des Kausalitätsprinzips und Freilegung des Naturgeschens
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§ 11. Die Kritik des Kausalitätsprin^ips und die Freilegung des Naturgeschehens Nietzsches Kritik des „Causalismus" ist eine Gelenkstelle seiner genealogischen Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie. Sie macht den systematischen Ort des philosophischen Problems kenntlich und stellt zugleich das Fundament für das „andere" Denken bereit. Nietzsches Philosophie speist sich nicht bloß negativ aus der Vermeidung von Fragen metaphysischer Art, sondern beruht positiv auf der genealogischen Methode, deren Prinzip nicht die Sicherheit, sondern die bejahende Meisterung der Unsicherheit ist. Es hat sich erwiesen, daß die Voraussetzungen und Thesen, aus denen für Descartes die Notwendigkeit seines Grundsatzes und dessen Verbindlichkeit entspringt, selbst unhaltbar sind, da sie auf einer unzureichenden Prüfung und Wesensbestimmung eben dessen basieren, was jene Voraussetzungen begründet. Im Aufweis der Abgründigkeit der Cartesischen Gewißheit und Sicherheit rollt Nietzsche dementsprechend das Problem der Möglichkeit des Denkens und der Sprache auf. Nietzsches Kritik der idealistischen Vernunftsphilosophie zielt in erster Linie darauf ab, die Perspektive des philosophischen Fragens reicher und ursprünglicher auszugestalten, und d.h. das Problem der Metaphysik zur Durchsichtigkeit zu bringen. Ausgangspunkt der Kritik ist für Nietzsche dabei das Phänomen des „ich denke". Für Nietzsche verhält es sich so, daß die Logik des „ich denke" wesentlich aus der Grammatik des „ich spreche" abgeleitet worden ist. In der genealogischen Rückführung des Denkens auf die Sprache tritt das Prinzip der Kausalität als Grundstruktur der Metaphysik hervor. Der Abkünftigkeit des Denkens von der Sprache entspricht, daß der Grundsatz der Kausalität nicht logisch auf dem logischen Satz vom Grunde beruht, sondern umgekehrt dieser sich erst aus jenem bestimmt: „Wir glauben an die Vernunft ..., weil wir nur in der sprachlichen Form denken"46. In diesem Sachzusammenhang ist die Richtung und Reichweite des fragenden Philosophierens Nietzsches vorgezeichnet. Nietzsche wird sich in dem Maß der sprachlichen Verfäßtheit des Menschen bewußt, als er das Phänomen der Sprache von der Grammatik abkoppelt, um diese jeweils auf die Faktizität und Interpretativität des sprachlichen Phänomens hin zu prüfen. Der hinter die Grammatik der transzendentalen Vernunft zurückgehende Fundamentalsatz der „gemeinsamen Philosophie der Grammatik" Nietzsches lautet: Wir hören auf %u denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu 44
KSA 12, 5 (22), S. 193.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können41.
In der Erfahrung der Grenze der Sprache eröffnet sich der Sinn des humanen Daseins, das nicht ein Etwas in der Welt sondern selbst eine Grenze ist. Der entscheidende Punkt ist, daß Wahrheit nicht mehr vorausgesetzt wird. Ausschließlich durch die und in der Interpretation zeigt sich die Welt, wie sie ist. Sobald wir von Dingen andere Meinungen und Interpretationen haben, folgt es, daß alle „wirklichen" Einwirkungen dieser Dinge auf uns daraufhin „anders" wirken48, d. h. im Augenblick der anderen Interpretation derselben Dinge gehen uns im Grunde andere Dinge auf. Die nihilistische Erkenntnis, daß die Welt, die uns angeht, im Grunde falsch ist, bringt nicht nur den Menschen ins Freie, sondern auch die Dinge. Aufgrund der unauftrennbaren Verschränkung von Faktizität und Interpretativität der Meinungen leitet sich die Sprachverwandtschaft nicht von der Identität der Dinge ab, sondern sie beruht paradoxerweise auf der Differenz dessen, was sich jeweils in den Meinungen offenbart. Die Sprache grenzt die Welt ein, indem sie diese erweitert, und umgekehrt. Hier ist es wichtig im Auge zu behalten, daß Nietzsches Destruktion der Grammatik nicht nur um der Sprache willen geschieht, sondern um das Menschsein des Menschen als sprechendes Wesen in den Blick zu bekommen. Nachdem Nietzsche den sprechenden Menschen in seiner Faktizität ausgehöhlt hat, wendet er sich dem erkennenden Menschen zu. Es handelt sich um den genealogischen Schritt von der Menschengeschichte zum Naturgeschehen. Wenn Nietzsche das grammatische Schema „Subjekt — Prädikat" als Fiktion aufdeckt, fordert er zugleich, die erkenntnistheoretische Subjekt47
48
Ebda. Vgl. L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Nr. 5.6, a. a. O., S. 67: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt". Da der Wert der Welt in der Interpretation liegt und da es Fakten gerade nicht, sondern nur Interpretationen gibt, erweitert G. Abel, um das Ineinandergehen von Faktizität und Interpretation zu markieren, das oben genannte Diktum Wittgensteins darauf hin: „Die Grenzen der Interpretation sind die Grenzen der Welt". G. Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/N. Y. 1984, S. 169. In Absetzung von der auf dem Satz des Widerspruchs gründenden formalen Logik, glaubt Abel bei Nietzsche eine philosophische „Geschehenslogik", die sich wesentlich auf die Interpretationsstruktur des ursprünglichen Welt- und Selbstverhältnisses bezieht, entdecken zu können. Hingegen macht Nietzsches Kritik der „Grammatik der Vernunft" deutlich, daß der Logos das eine und die Logik das andere ist. Jeder Versuch, das Geschehen des Logos unter eine ihm angeblich eigene Grammatik zu zwängen, sieht nicht ein, daß die so entstandene Logik das Geschehen des Logos verdeckt. Die nihilistische Konsequenz der neuzeitlichen Wissenschaft ist, daß die Naturerkenntnis des Menschen nichts anderes als die Erkenntnis seiner selber ist. Vgl. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M. 1981, S. 406: „Die Gründe für oder wider die Annahme einer ,Korrespondenztheorie' für den Fall moralischer Wahrheiten und für den Fall über die physikalische Welt sind dieselben".
Kritik des Kausalitätsprinzips und Freilegung des Naturgeschens
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Objekt-Unterscheidung zurückzuweisen. Bevor wir diese Problematik angehen, bedarf es noch eines Hinweises auf die Tragweite des Kausalitätsproblems, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Sprechen (Grammatik) Geschichte Geschehnisse Subjekt und Prädikat Ursache und Wirkung Kausalität
Erkennen (Naturgesetz) Natur Vorgänge Subjekt und Objekt Ursache und Wirkung Kausalität
Wenn das Prinzip der Kausalität im Kontext des Verhältnisses des Menschen zum Seienden und des Grundgeschehens von Geschichte und Natur durchleuchtet wird, dann versteht es sich von selbst, daß Nietzsche im Kausalitätsprinzip das Grundproblem der abendländischen Metaphysik erblickt. Denn der Grundsatz der Kausalität sagt a priori, was überhaupt zu einer Natur als Natur gehört; und in ähnlicher Weise kann sich das geschichtliche Geschehen nicht bekunden, wenn nicht zuvor entschieden ist — und dies bewirkt wiederum das Prinzip der Kausalität — was die Geschichtlichkeit der Geschichte ausmacht. Der Grundsatz der Kausalität ist insofern wesentlich auf die „Verfassung des Menschlichen" bezogen, als er das Verhältnis des Menschen zum Geschichtlichen wie Natürlichen bestimmt. Ohne auf diese Problematik näher einzugehen, brauchen wir uns hier nur daran zu erinnern, daß für Nietzsche jeweils jeder Grundsatz als ein „Glaubens-Satz" der innersten Fragwürdigkeit der Grundverfassung des Menschen entspringt. Beim Grundsatz der Kausalität haben wir es Nietzsche zufolge mit einem Glauben zu tun, dessen Gründe „ins Unbewußte" versunken sind, und der daher imstande ist, „aus der Vernünftigsten Sache langsam, langsam eine dicke Thorheit herauszupräpariren". Kurz: Er ist „der bestgeglaubte, längste, unbestrittenste, ehrlichste Glaube, den es unter Menschen gibt"49. Nietzsche spricht hier von „Gründen", welche den Menschen zur Hervorbringung und Grundlegung des Satzes der Kausalität veranlaßten. Was sind dies für Gründe? Nietzsche beantwortet diese Frage mit einem Verweis auf einen Urzustand des Menschen, der zugleich der Ursprungsort des Prinzips der Kausalität ist. Am Anfang sei der Mensch dem Unbekannten, und d. h. der Gefahr, der Unruhe, der Sorge ausgesetzt. Im Gefolge dieser Not und aus dem Bedürfnis, sie loszuwerden, habe er sich eine Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklären lasse, gebildet. Er setzte etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache an, und zwar als „eine ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, bei denen am schnellsten am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschafft 49
KSA 12, 4 (8). S. 181f.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
worden ist". Diese Konstruktion, welche Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung" unter dem Titel: „Die vier grossen Irrthümer", eindrucksvoll vorführt, vervollständigt er mit dem Hinweis auf die Emanzipation des durch das Furchtgefühl bedingten und erregten „Ursachen-Triebes". „Folge: eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich zum System und tritt endlich dominierend hervor, das heisst andere Ursachen und Erklärungen einfach ausschließend"50. Auf den ersten Blick scheint es, daß Nietzsche, wie die Überschrift des zitierten Aphorismus schon verrät, eine „psychologische Erklärung" der Herkunft des Kausalitätsprinzips gibt, da er die Gewißheit des Grundsatzes der Ursache auf den Willen zur Macht zurückführt: „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht"51. Bei näherer Betrachtung bringt uns jedoch jene Rekonstruktion der „Ur-situation" des Menschen in eine tiefere Dimension des philosophischen Fragens, die in die vorontologische, d. h. in die vor aller ontologischen „UrsachenSetzung" liegende Seinsart des Menschen weist. Die Gründe für das Prinzip der Kausalität sind Fragwürdigkeit und Not, die der leiblichen Verankerung des Menschen in der Natur und der intelligiblen Verhaftung mit dem Geschehen seiner Geschichte entspringen. Da der Grundsatz der Kausalität seine Dominanz gerade der Vergessenheit und Verdrängung jenes vorontologischen Seinsverhältnisses und -Verständnisses verdankt, ist er für Nietzsche zugleich „der tiefste, dümmste, .unbewußteste', vor Gründen am besten vertheidigte, von Gründen am längsten verlassene Glaube"52. Welcher Glaube versteckt sich im Satz der Kausalität? Nietzsche zeigt, daß das Problem der Kausalität nicht so sehr ein erkenntnistheoretisches Problem ist, sondern vielmehr in die Frage nach dem vorontologischen Verhältnis von Mensch und Welt mündet. Das Prinzip der Kausalität steht wesentlich im Zusammenhang des Weltproblems, wobei Nietzsche unter „Welt" den Inbegriff der ineinander verschränkten Machtbeziehungen versteht, also den Inbegriff von Natur und Geschichte, insofern sie ins Blickfeld der perspektivischen Interpretationen der Menschen fallen. Es ist von entscheidender Bedeutung ganz klar zu sehen, in welchem Sachzusammenhang bei Nietzsche das Problem der Metaphysik thematisiert wird. So sagt Nietzsche: 50 51 52
GD, Die vier grossen Irrthümer 5, KSA 6, S. 93. Ebda. KSA 12, 4 (8), S. 182. Zu dieser fundamentalsten Bestimmung der Kausalität gesellt sich eine ganze Reihe von Bemerkungen, welche sich in einem Satz zusammenfassen lassen: Als „Urglaube" ist der Satz der Kausalität „ein uralter Aberglaube". Vgl. KSA 12, l (38), S. 19; 4 (8), S. 182 und KSA 11, 34 (124), S. 462.
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Um die Welt zu begreifen, müssen wir sie berechnen können; um sie berechnen zu können, müssen wir constante Ursachen haben; weil wir in der Wirklichkeit keine solchen constanten Ursachen finden, erdichten wir uns welche53.
Hier bringt Nietzsche zum Ausdruck, daß der Mensch, indem er sich die Welt erdichtet, seinen Standort sichert. Dieses setzende, erdichtende, fälschende Verhalten des Menschen zum Seienden im Ganzen ist ein „Für-wahrhalten", dem der fundamentale Glaube zu Grunde liegt, „daß wir ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden — das ist unser stärkster Glaube; ja im Grunde ist selbst schon der Glaube an Ursache und Wirkung, an conditio und conditionatum nur ein Einzelfall des ersten und allgemeinen Glaubens, unsres Urglaubens an Subjekt und Prädikat"54. Wovon leitet der Mensch sein Recht zur Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung ab? Der Mensch bemächtigt sich der Welt, indem er sich selbst als das Maß aller Dinge bestimmt. Es handelt sich um die anfangliche Entscheidung des Menschen vor aller Unterscheidung, durch welche der ursprüngliche Unterschied von Mensch und Welt ins Grundlose gedrängt wird. In Nietzsches Sicht ist es das Grundgeschehen der abendländischen Metaphysik, daß sich der Mensch zum „urteilenden Tier", das sich seinerseits der Welt bemächtigt, verurteilt: „Der Mensch glaubt sich als Ursache, als Thäter — alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte"55. Der Selbstbestimmung des Menschen als „Täter" korrespondiert die Definition des Geschehens als „Tun". Der Grundsatz der Kausalität geht davon aus, daß alles Geschehen ein Tun ist und einen Täter voraussetzt. Auf 53
54
55
KSA 12, 7 (56), S. 314. Dieses Diktum darf uns aber nicht dazu verleiten, daß Nietzsche „die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln" an sich in Frage stellt. Nietzsche greift den absoluten Wahrheitsanspruch der Erkenntnis durch Begriffe an und hält der Exaktheit der logmstischen Kalkülsprache die Kontextualität und Situativität des Sprechens in der Lebenswelt entgegen. Für jede Aussage ist in gewisser Hinsicht immer eine Definition zwar notwendig, die sich jedoch von Sprechsituation und Lebenskontext ableitet. Kants Unterscheidung zwischen intelligere und comprehendere ist hier geeignet, den Punkt zu markieren, an dem Nietzsches Interpretationsgedanke auf die Cartesianische Lehre von der Klarheit und Distinktheit der menschlichen Erkenntnis zurückgreift. Intelligere ist für Kant ein Erkennen bzw. Konzipieren durch den Verstand vermöge der Begriffe, comprehendere (Begreifen) heißt aber „in dem G r a d e durch die Vernunft oder a priori erkennen, als zu u n s e r e r A b s i c h t h i n r e i c h e n d ist" (Hervorhebung, Lee). Die Unzulänglichkeit der Berechenbarkeit und Machbarkeit für das Begreifen der Welt bringt Kant deutlich zur Sprache, wenn er sagt: „Konzipieren kan man vieles, obgleich man es nicht begreifen kann". I. Kant, Logik, Werke Bd. 5, S. 493. Das Begreifen ist für Nietzsche die Erkenntnis der Perspektivität der jeweiligen Meinung in ihrem Lebenszusammenhang. Dies illustriert er am Beispiel der Musik: „Was wäre wohl an einer Musik begriffen, wenn alles, was an ihr berechenbar ist und in Formeln abgekürzt werden kann, berechnet wäre". KSA 12, 4 (8), S. 182. KSA 12,2(83), S. 101.
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diese die Geschichte der abendländischen Metaphysik bestimmende Entscheidung des Menschen, sich als Tater, als Subjekt zu nehmen, geht die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, Tun und Leiden, Zweck und Mittel, Sein und Werden zurück. Da diese Weltbeherrschung via Selbstbestimmung des Menschen die Fragwürdigkeit der Menschennatur ausschließt und beseitigt, ist Nietzsches Philosophie konsequenterweise darauf ausgerichtet, die wahre Not und die eigentlich Fragwürdigkeit der Verfassung des Menschlichen erfahrbar werden zu lassen. In diesem Zusammenhang will Nietzsche seine Genealogie des transzendentalen Subjekts als eine Radikalisierung des Konzepts der humanen Endlichkeit verstanden wissen. Um das Wesen des humanen Daseins ursprünglich zu fassen und damit die Dinge lebendig werden zu lassen, stellt er das Konzept der Endlichkeit auf eine harte Probe. Dabei beruft sich Nietzsche ausdrücklich auf Kant, der das Prinzip der Kausalität als Grund des Verhältnisses des Menschen zum Gegenstand auffaßt. Ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung, formuliert Kant die transzendentalphilosophische Grundstellung zum Verhältnis des Menschen zum Seienden im „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile": „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung"56. Kant bringt hier die ursprüngliche Dimension ans Licht, in der die Identität des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses sichtbar wird. Denn das Zugleich des obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile besagt, daß das Begegnende, um als Gegenstand begegnen zu können, zuvor hinsichtlich seiner Gegenständlichkeit überhaupt gedacht werden muß. Die Regeln der Verhältnisbestimmung der Gegenständlichkeit der Gegenstände nennt Kant „Analogien der Erfahrung", wobei Analogie, ihrem ursprünglichen Begriff nach gefaßt, „ein Verhältnis von Verhältnissen" bedeutet57. Mit der zweiten Analogie der Erfahrung, nämlich mit dem Grundsatz der Kausalität artikuliert er das Grundverhältnis, das über die Beziehung des Menschen zur Natur und das Verhältnis der Erscheinungen zueinander entscheidet. Und die Grundentscheidung des neuzeitlichen Subjekts lautet unmißverständlich, „daß die Vernunft 56
57
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 158, B 197, Bezüglich der Stellung dieses Grundsatzes schreibt Heidegger: „Wer diesen Satz begreift, begreift Kants .Kritik der reinen Vernunft'. Wer diese begreift, kennt nicht nur ein Buch aus dem Schrifttum der Philosophie, sondern beherrscht eine Grundstellung unseres geschichtlichen Daseins, die wir weder umgehen, noch überspringen, noch sonst wie verleugnen können"; siehe M. Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1975, S. 143. Vgl. I. Kant: Kritik der Reinen Vernunft, B 218: „Das Prinzip derselben ist: Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich".
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nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt"58. Das Zugleich von Mensch und Welt erfüllt und bewährt sich nur in der transzendentalen Konstruktion der Dinge. Und die Ordnung der Dinge konstituiert sich durch die Objektivation und Projektion des vor-stellenden Subjekts. Da dies aber auf Kosten der Dinge geschieht, greift Nietzsche hier ein, um kritisch zu fragen, ob und wie anders das Zugleich von Mensch und Welt gedacht werden kann. Die genuine Möglichkeit, daß Mensch und Dinge im Freien zusammenkommen können, liegt nach Nietzsche eben in der ursprünglichen Andersheit von Mensch und Ding. Um dies zu begründen, kehrt Nietzsche das Prinzip der Kausalität um und stellt das Grundmodell des kausalen Nacheinander als Tauschung heraus. Wenn Kants Grundsatz der Kausalität im Problemzusammenhang der Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung steht, läßt sich die Grundintention der Nietzscheschen Kritik des „Causalismus" auf die Formel bringen: Die Frage nach der Erfahrung der Möglichkeit. Möglichkeit ist dabei zu verstehen als die vorontologische Erschlossenheit, die keine ontologische Setzung des Verhältnisses hintergehen kann. Um diese ursprünglich zu problematisieren, radikalisiert Nietzsche die philosophische Problematik durch Kant hindurch, indem er den Grundsatz der Kausalität auf den Kopf stellt. Die zweite Analogie, in der sich Kant über die Kausalität ausspricht, lautet „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität". Dieser Grundsatz ist in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verschieden gefaßt: A: Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt59. B: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung60.
Das Gesetz der Kausalität ergibt sich aus dem Grundsatz der Zeitfolge, dem gemäß die Wirkung d.h. der Fortgang in einem Vorgang notwendig von dem, was als das Bewirkende in der Zeit vorhergeht, bestimmt ist. Wesentlich auf die durch „Simultaneität und Sukzession" charakterisierte Zeit bezogen, besteht in der Ursache-Wirkung-Beziehung demnach ein Aufeinanderfolgen, ein Nacheinander. Die erste Fassung hingegen weist darauf hin, daß das Problem der Kausalität irgendwie mit dem Problem der Substanzialität gekoppelt ist. Denn das Nacheinander in der Ordnung der Zeit kann nur im Festhalten des Bleibenden wahrgenommen werden. D. h. das Geschehen der Natur geschieht auf dem Grunde von Beharrlichem und Bleibendem: „nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet 58 59 60
Ebda., B XIII. Ebda., A 189. Ebda., B 232.
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keine Veränderung, sondern einen Wechsel"61. Hier ist auch darauf zu achten, daß Kant den Begriff der Kausalität zum Ausgangspunkt für denjenigen der „Handlung" und der „Kraft" macht62. Das Naturgeschehen ist demnach Veränderung, deren Möglichkeit in der Kausalität der Handlung gründet: „Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden"63. Durch den synthetischen Grundsatz der Kausalität wird also die Regel, nach der das Naturgeschehen als „Handlung der Materie" mit der „Tat-Handlung" des Subjekts korrespondiert, vorgegeben. Gegen diese Identität und Kontinuität des handelnden Subjekts geht Nietzsche in frontale Opposition, indem er die „Analogie des Menschen" zu Ende denkt: Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle „Erscheinungen", alle „Gesetze" nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen64.
„Analogie des Menschen" besagt: Der Mensch sucht, wie er sich selbst als Täter bestimmt, auch die Täter des Naturgeschehens. Das In-BeziehungSetzen des Menschen zur Natur geschieht aber in den durch Sinnesempfindungen bestimmten Wahrnehmungen, welche „Geschehnisse im Menschen" sind. Wenn wir sie als solche in ihrem Geschehen nehmen, dann zeigt sich gemäß dem Prinzip der Kausalität, daß sie nacheinander folgen. In Nietzsches Sicht ist daher die Ursache-Wirkung-Beziehung eine Hypothese, die der Mensch wegen der Fragwürdigkeit seiner Existenz zum Zweck der Berechenbarmachung der Welt nötig hat. Die Endlichkeit des Menschen, aus der heraus Kant den Grundsatz der Kausalität entwickelt, ist aber dadurch übersprungen.65 Die Radikalisierung der Analogie des Menschen läuft dann darauf hinaus, das Wesen der Endlichkeit des Menschen ins Reine zu bringen. 61 62
63
64 65
Ebda., A 187, B 230f. Ebda., A 204, B 249: „Diese Kausalität führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz". Ebda., B 250. Unter dem Begriff „Handlung" versteht Kant die Leistung des apriorischen Einigens (Synthesis) des angeschauten Mannigfaltigen zu objektiven Gebilden. Die Naturbewegung ist insofern mit der transzendentalen Bewegung des Subjekts identisch, indem dieses in seiner den Objekten gegenüber vollzogenen Handlung „gegenstandbegründend" ist. Vgl. I. Kant: Prolegomena, § 53.
KSA 11,36(31), S. 563. Vgl. M. Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 31, Frankfurt/M. 1982, S. 167f., 191f. und 202f. Nach Heidegger liegt der Grund hierfür darin, daß Kant die Wesensbestimmung der Endlichkeit des Menschen unzureichend geprüft hat, daß er das Problem der Ontologie auf das Problem des Seienden qua Vorhandenen festgestellt hat, und daß auch bei Kant die überlieferte Leitfrage der Metaphysik: Was ist das Seiende? sich nicht ausbildet zu der diese Frage tragenden und führenden Grundfrage: Was ist das Sein? Diese unzureichende Bestimmung der Transzendenz bei Kant schlägt sich in der Orientierung der Kausalität nach der Natur nieder. Dagegen argumentiert aber Heidegger, daß Kausalität in der Freiheit gründet.
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Nietzsche betont, daß das die „Endlichkeit" zum absoluten Prinzip erhebende Erkenntnisprogramm der Transzendentalphilosophie eben die Endlichkeit des Daseins pervertiert66. Die transzendentale Vernunft legitimiert sich von der Endlichkeit des humanen Daseins, um diese wieder zu untergraben. So wie der transzendente Aufgang an der Übermacht der göttlichen Vernunft Schiffbruch erlitt, scheitert der transzendentale Rückgang wiederum an der Ohnmacht des Menschen, die Endlichkeit als solche zu durchdenken und auszuhalten. Der Mensch, der vor seiner Endlichkeit die Augen schließt, ist auch blind für die lebendigen Dinge. Denn in dieser transzendentalen Position ist die Wahrnehmung nichts anderes als die Vor-gabe der Weise des Wahrnehmens, die dem Menschen wesensnotwendig zugehört, insofern er sich im vorhinein jegliches Begegnende im Horizont von Raum und Zeit zeigen läßt. Dagegen weist Nietzsche mit großer Entschiedenheit darauf hin, daß der Mensch, sobald er sich auf die Dinge einläßt, bereits von ihnen angetan, d. h. von ihnen interpretiert ist. Aus diesem Grund verwirft er den „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität", um das im vorhinein bestimmte Zeitverhältnis des begegnenden Seienden als Fiktion zu entlarven: Die umgekehrte Zeitordnung Die „Außenwelt" wirkt auf uns: die Wirkung wird ins Gehirn telegraphiert, dort zurechtgelegt, ausgestaltet und auf seine Ursache zurückgeführt: dann wird die Ursache projicirt und nun erst kommt uns das Factum s^um B e w u ß t sein. D.h. die Erscheinungswelt erscheint uns erst als Ursache, nachdem „sie" gewirkt hat und die Wirkung verarbeitet worden ist. D. h. wir kehren beständig die Ordnung des Geschehenden um67.
Die endliche Vernunft verkennt den Charakter des Geschehens, sofern sie dieses nach dem Grundsatz der Kausalität nimmt, der als Regel fordert, was im Regressus der transzendentalen Bewegung geschehen soll. Mit anderen Worten heißt dies: „ein Zustand, der ein Geschehen begleitet, und schon eine Wirkung des Geschehens ist, wird projicirt als ,zureichender Grund' dessel64
67
Vgl. H. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M. 1974, S. 113: „Durch eine extreme Nötigung zur Selbstbehauptung ist die Idee der Epoche als einer aus dem Nichts ansetzenden Selbstbegründung — das heißt eben nicht: Selbstermächtigung hervorgegangen". Das „Selbst" ist wohl unbestritten eine Selbstverständnisfigur des menschlichen Daseins in der Welt, wie sie sich in der europäischen Neuzeit entschieden artikuliert hat. Der Gedanke vom Weltbesitz via Selbstbesitz zieht sich wie ein roter Faden durch die vielfaltigen Maximen der humanen Vernunft hindurch: .fe/kr/entscheidung (Pico della Mirandola), ,5W£.f/herstellung (Hobbes), JWfo/denken (Kant) und JV/iv/verwirklichung (Marx). Was ist dann dieses „Selbst" selber? Es ist offenbar die Stelle, auf der der Mensch einmal als Subjekt und dann als Objekt vorkommt und er in dieser doppelseitigen Selbstbegegnung sich selbst erfährt. Das „Selbst" kommt bei allem mit vor und ist für sich genommen nichts. In bezug auf die Transzendentalphilosophie kann man pointiert sagen, daß die Selbstbegründung, weil sie die strukturelle Leerstelle substanzialisiert und besetzt, immer eine Selbstermächtigung ist. KSA 11,34(54), S. 437.
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
ben"68. Trotz der genealogischen Entdeckung der Ursachen als bloßen Imaginationen hält Nietzsche an der darin vollzogenen Sinnmotivation fest, die darin besteht, das Naturgeschehen „nicht mehr als Zufall, sondern als jSinn4 "69 auftreten zu lassen. Wenn der Mensch, wie Nietzsche durchaus zugesteht, im Kausalitätsgesetz das Bild des Werdens vervollkommnet hat, aber dann „über das Bild, hinter das Bild nicht hinausgekommen" ist, gilt es, durch jenes Bild hindurch das Werden als solches zu begreifen, d. h. einzusehen, daß jedwede Sinnmotivation nur auf Grund einer Selbsttäuschung möglich ist. Da das Prinzip der Kausalität, das einst Mittel zur Sinnmotivation war, nun zum Selbstzweck geworden ist, steht es einer neuen Sinn-schaffung, deren Notwendigkeit je nach der geschichtlichen Zeit-wende gegeben ist, im Wege. Daher dreht sich alles darum, das Geschehen aus der Vergessenheit in Erinnerung zu rufen, um wieder eine sinnschaffende Weltperspektive eröffnen zu können. Nietzsche sagt: „Beim Glauben an Ursache und Wirkung ist die Hauptsache immer vergessen: das Geschehen selbst"70. Was ist das Geschehen? Der Eigencharakter des Geschehens kann nur hinreichend bestimmt werden, wenn zuvor die Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie, die im Grundsatz der Kausalität gründet, radikal vollzogen ist. Standpunkt dieser Destruktion ist, daß der Grundsatz der Kausalität nicht die Wahrheit, sondern eine imaginäre Fiktion für das Verständnis des Geschehens ist: „Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln — ist das wirklich ein .Begreifen'?"71 Nietzsche verfolgt hier eine doppelte Strategie: Zum einen nimmt seine Genealogie, die sich auch als eine Philosophie der Auslegung versteht, jeder „die" Wahrheit für sich beanspruchenden Erkenntnis und Wissenschaft den Charakter der „Erklärung", indem er sie als „Beschreibung" deklariert; zum anderen eröffnet er in diesem Prozeß der genealogischen Entlarvung das eigentliche Problem 68 69 70 71
KSA 13, 14 (81), S. 260. GD, Die vier grossen Irrthümer 4, KSA 6, S. 92. KSA 13, 14(81), S. 261. KSA 12, 7 (56), S. 314. Bereits im 13. Aphorismus des ersten Buches von „Menschliches Allzumenschliches" (1878) spricht Nietzsche von der „Logik des Traumes", dergemäß die vermeintlichen Ursachen für die erregten Empfindungen während des Schlafes „aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt" werden; siehe M A, I 13, KSA 2, S. 32ff. Nietzsche läßt es aber nicht dabei bewenden, im Traume eine Zeitumkehrung festzustellen, sondern dehnt die Logik des Traums auf das wache Erleben aus, so daß der Unterschied zwischen Traum und Wachen hinfällig wird. Vgl. KSA 11, 26(35), S. 156f.: „Wie im Traume zum Kanonenschuß die Ursache gesucht wird und der Schuß erst hinterdrein gehört wird also eine Zeit-Umkehrung stattfindet: diese Zeitumkehrung findet immer statt, auch im Wachen. Die .Ursachen' werden nach der ,That' imaginirt". In einem nachgelassenen Fragment aus dem Frühjahr 1888 spricht Nietzsche stattdessen vom „Phänomenalismus der .inneren Welt'", der „die chronologische Umdrehung" aufdeckt, die zur Folge hat, „daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wirkung". KSA 13, 15 (90), S. 458f.
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der Philosophie, das als solches erst in einer Verrückung der Perspektive sichtbar wird72. Die Verschiebung der philosophischen Perspektive läßt sich im wesentlichen in vier Aspekten zusammenfassen: (1) Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren;73 (2) Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, — sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursachen und Wirkungen sich bedingen;74 (3) Zwei aufeinander folgende Zustände: der eine Ursache, der andere Wirkung: ist falsch. ( . . . ) : es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden;75 (4) übersetzen wir den Begriff „Ursache" wieder zurück in die uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben: so ist uns keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt.76
Der idealistischen Vernunftphilosophie gemäß setzt jede Veränderung, jedes Anderswerden einen Urheber voraus und einen, an dem verändert wird. Ideal ist diese Position deswegen, weil sie die „Veränderung" des Naturgeschehens vom Standpunkt des sehenden Subjekts aus imaginiert. Die Veränderung nach dem Grundsatz der Zeitfolge ist dann nur eine „Verwandlung aller Vorgänge in optische Phänomene: und endlich wieder dieser Phänomene in reine Begriffs- und Zahlenphänomene"77. Dabei wird die Bewegung immer nur in isolierten Punkten wahrgenommen, die aus dem eigentlichen Geschehenskontinuum herausgerissen und nur „für uns" im kausalen Zusammenhang sind. Sehen ist als Schließen der logischen Vorgänge im Grunde immer ein „Erschließen", das nach Nietzsche in der vorgängigen Erschlossenheit des humanen Daseins in der Welt gründet. In diesem Zusammenhang ist auch Nietzsches Äußerung zu verstehen: „Während ,ich' sehe, sieht es bereits etwas Anderes".78 Hat sich so die Ursache-Wirkung-Beziehung als „Selbsttäuschung" des Menschen zum Zweck der Bewältigung des Geschehens entpuppt, läßt sich ohne weiteres behaupten: Das Geschehen ist im Grunde 72
73 74 75 76
77 78
Daß Nietzsches Genealogie, um die Vernunft vom Ereignis her zu denken, sich einerseits von der spekulativen Genetik der Vernunft und anderseits von der transzendentalphilosophischen Phänomenologie absetzt, legt der Begriff des „Phänomenalismus" nahe. Vgl. M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 35: „man muß unseren Willen zur Wahrheit in Frage stellen; man muß dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurückgeben; endlich muß man die Souveränität des Signifikanten aufheben".
FW, III 112, KSA3, S. 473. KSA 12, 2 (139), S. 136. KSA 13, 14 (95), S. 273. KSA 13, 14 (81), S. 260. KSA 11,25(392), S. 115. KSA 11,34(54); S: 437.
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Destruktion der idealistischen
Vernunftphilosophie
Veränderung ohne Grund. Durch die genealogische Destruktion des Kausalitätsprinzips gelangt Nietzsche zu einer „Philosophie des Ereignisses", die Foucault zufolge, es erlaubt, „den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen"79. Im Rückgriff auf Kants Unterscheidung zwischen Veränderung und Wechsel könnte man sagen, daß Nietzsche sich auf die Seite des Wechsels schlägt, um das Wandelbare überhaupt zu treffen und so einen neuen, ursprünglicheren Gedanken der Endlichkeit positiv zu fassen. In diesem Zusammenhang ist jede Veränderung im Fluß des Geschehens ein Umschlag des Einen in Anderes, das von jenem grundverschieden ist; sie ist ein Aufhören und Aufheben der Bestimmungen des Zustandes, in dem man sich jeweils befindet. Es liegt nahe, das Kontinuum des Geschehens als Kette der humanen Befindlichkeit zu verstehen. Wenn der Mensch sich mit seinem Verhalten zum Seienden je schon in einem Zustand befindet, wenn das sich im jeweiligen Zustand offenbarende, ursprüngliche Verhältnis das humane Verhalten erst ermöglicht, dann wird deutlich, daß das Geschehen weder bewirkt noch bewirkend ist. Die Frage nach der Erfahrung der Möglichkeit wird hier als Frage nach der ursprünglichen Möglichkeit und Notwendigkeit der Offenbarkeit des Urverhältnisses entfaltet. Trotzdem bleibt die andere Frage offen, von wo aus der Mensch das Geschehen, die Veränderung ohne Grund erschließend beschreiben kann. Diese Frage führt uns endlich zum entscheidenden Punkt, an dem die Destruktion des Kausalitätprinzips mit der Konstruktion der Philosophie des Willens zur Macht verknotet ist: Wille %ur Macht principiell Kritik des Begriffs „Ursache" Ich brauche den Ausgangspunkt „Wille zur Macht" als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein — nicht verursacht ..."80
Geschehen ist das Grundverhältnis der Machtquanten, die im Kampf zueinander stehen. Eine Veränderung kann sich nur aus dem Umstand ergeben, daß ein Machtquantum auf ein anderes übergreifen will. Veränderung wird von Nietzsche als Neufeststellung von Machtverhältnissen begriffen. Ohne den Willen zur Macht hier näher zu bestimmen, kann gesagt werden, daß Nietzsche damit die Endlichkeit des Menschen vom Grund der ursprüng79 80
M. Foucault, ebda., S. 40f. KSA 13, 14 (98), S. 274. Aus diesem Zusammenfallen vom Willen zur Macht und der Kritik an der Kausalität läßt sich, wie P. Heller unter Bezugnahme auf den Aphorismus „Logik des Traumes" in „Menschliches Allzumenschliches" richtig bemerkt, das „Zentralphänomen von Nietzsches späterer Weltbetrachtung" herauslesen; siehe P. Heller: Von den ersten und den letzten Dingen. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin/N. Y. 1972, S. 161.
Kritik des Anthropomorphismus
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liehen Verfassung des Menschen her thematisiert. Denn im Zuge der fortschreitenden Überwältigungsaktionen des Willens zur Macht lösen sich alle Machtverhältnisse wieder auf, um sich in anderen Konstellationen wieder festzusetzen. Die Erläuterung der humanen Endlichkeit hängt mit der Feststellung zusammen, daß wir uns so und so befinden. Nietzsche läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß jede Grundlegung der Metaphysik in der Absicht einer vollständigen Interpretation des Menschen dem Umstand Rechenschaft ablegen muß, daß der Mensch je schon in dem, was er tut, ist. Darin ist gleichsam die Notwendigket beschlossen, das Problem der menschlichen Freiheit aus dem Bezirk der Kausalität herauszudrehen, was freilich zugleich erfordert, das Verhältnis des Menschen zu sich selbst anders und ursprünglich zu fassen.
§ 12. Kritik des Anthropomorphismus
Durch die kritische Desillusionierung des sich auf sich selbst stellenden Ichs und die genealogische Aufdeckung des tatsächlichen Verhältnisses von Ursache und Wirkung wird dem Menschen der Boden, auf dem er sicher und gewiß stehen bleiben kann, entzogen. Dementsprechend drängt sich die Frage: Was ist der Mensch? erneut auf. Dies um so akuter, da sich in Nietzsches genealogischer Sicht die Metaphysik als Anthropomorphismus erweist. Die Konsequenzen, die Nietzsche daraus zieht, scheinen einander unüberbrückbar gegenüber zu stehen. Einerseits scheint Nietzsche von der subjektzentrierten Identitätsphilosophie Abschied zu nehmen, andererseits scheint seine Philosophie auf eine Radikalisierung und Vertiefung der Konzeption des autonomen, souveränen Subjekts hinauszulaufen81. Das letzte wird vor allem von 81
Die seit längerer Zeit kursierende Rede vom „Tod des Subjekts" ist zunächst von Michel Foucault ausgesprochen worden, der seinerseits ausdrücklich auf Nietzsches Spruch vom „Tod Gottes" Bezug nimmt. Es ist sinnreich, daß Foucault gerade am Ende des „Humanwissenschaften" überschriebenen, letzten Kapitels seines Buches „Les mots et les choses" die berühmte und berüchtigte These von der „Auflösung des Menschen" aufstellt. In Anlehnung an Nietzsche versucht Foucault eine tiefgehende Rechtfertigung des Menschen, die die Zugehörigkeit der Kritik des metaphysischen Humanismus zur Sphäre dessen, was sie kriüsiert, hervortreten läßt. Der radikale Humanismus ä la Nietzsche ist ein „Humanismus ohne Menschen", weil dieser nicht mehr auf sich selbst „zentriert" lebt, sondern ex-zentrisch in das Offene des „Zwischen" zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen sich freigibt. Dies erfordert aber das Sich-verstehen auf die „dämonische" Struktur des Menschen, die sich in der wesentlichen Zusammengehörigkeit vom Tod Gottes und dem letzten Menschen ausdrückt. Foucault schreibt: „So ist der letzte Mensch gleichzeitig jünger und älter als der Tod Gottes; da er Gott getötet hat, ist er selbst für seine eigene Endlichkeit verantwortlich. Da er aber im Tod Gottes spricht, denkt und existiert, ist seine Tötung selber dem Tode geweiht. Neue Götter, die gleichen, wühlen bereits den künftigen Ozean auf. Der Mensch wird verschwinden". M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäo-
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Destruktion der idealistischen Vernunftphilosophie
Heidegger vertreten, der Nietzsches Philosophie wesentlich als „Metaphysik der Subjektivität"82 begreift, während die erstere Interpretation der Nietzscheschen Philosophie hauptsächlich in der im Umfeld des französisschen Strukturalismus formulierten Subjektskritik zutage tritt83. Angesichts der prima facie ausweglosen Lage muß man, bevor man sich auf jene einander entgegengesetzte Interpretationsperspektiven einläßt, eigentlich fragen, welches Subjekt aus welchem Grund verabschiedet werden soll. Dabei muß man sich aber darüber im klaren sein, daß Nietzsche gegen das Denken der Alternative das Denken des „Anderen" ins Feld führt. Im Hinblick auf jene entscheidende Frage ist es geboten, Nietzsches Auffassung der abendländischen Metaphysik als eines Anthropomorphismus zunächst Schritt für Schritt nachzugehen. Die idealistische Vernunftphilosophie mit ihrem Grundsatz der Kausalität ist anthropomorph — sie gestaltet und betrachtet die Welt nach dem Bilde des Menschen. Die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung spürt Nietzsche in genealogischer Rückwendung als eine Entscheidung über das Verhältnis des Menschen zur Welt auf. Diese Entscheidung des Menschen für sich als eines handelnden Subjekts geht jeder bewußten Auslegung des Gegenstandes voraus. Die Subjekt-Objekt-Beziehung gründet in der Subjektivität, die ihre Normativität aus sich selber schöpft. Das Prinzip der Subjektivität vollzieht sich in der Verdoppelung des Subjekts, das sich selbst zum
82
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logic der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, S. 460. In seiner Absage an Sartre schreibt Foucault: „Was ist dieses anonyme System ohne Subjekt, was ist es, das denkt? Das ,Ich' ist zerstört ... nun geht es um die Entdeckung des ,es gibt'". M. Foucault: La Quinzaine litteraire, 51 (1966), dt., in: alternative, 54, S. 91—94, hier S. 93. Zur These vom Verschwinden des Menschen, vgl. Jacque Derrida: Fines homminis, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 88 — 123, wo das Ende des Menschen als das Denken des Seins verstanden wird, weil der Mensch das Ende des Denkens vom Sein ist. Und Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1987, insbesondere S. 175—189: „Anhang: Der Tod des Menschen und der Übermensch". Deleuze faßt den Begriff „Übermensch" als einen der Lebensform, wenn er sagt: „es ist die Ankunft einer neuen Form, weder Gott noch Mensch, von der man hoffen mag, daß sie nicht schlimmer sein wird als die beiden vorausgehenden" (189). L.Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Nr. 5.631, a.a.O., S. 67: „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht". Zur Kontroverse im Hinblick auf die These vom Tode des Subjekts, vgl. Herta Nagl-Docekal und Helmuth Vetter (Hrsg.): Tod des Subjekts? Wien/München 1987. M. Heidegger: Nietzsche: Der europäische Nihilismus, Gesamtausgabe Bd. 48, Frankfurt/M. 1986, S. 266. Zur Bedeutung und Rezeption der Philosophie Nietzsches im französischen Strukturalismus, vgl. Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt/M. 1981; Gianni Vattimo: Nietzsche heute? in: Philosophische Rundschau, 24 (1977), S. 67 — 91; Heinz Kimmerle: Die NIETZSCHE-Interpretation der französischen Differenzphilosophie, in: Karel Mächa (Hrsg.): Zur Genealogie einer Moral, Beiträge zur Nietzsche-Forschung, München 1985, S. 47 — 80. Manfred Frank: Was ist NeoStrukturalismus? Frankfurt/M. 1984; und Werner Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/M., Berlin 1986.
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Objekt der Erkenntnis macht. Das Objekt ist dann nicht nur als ein Gegenüber zum Subjekt ausgelegt, sondern der als Objekt gefaßte Gegenstand wird überdies in sich als „subjektartig" begriffen. Das heißt: „die Trennung des Geschehens in ein Thun und Leiden, die Supposition eines Thuenden ist vorausgegangen"84. Bei der Übersetzung des Geschehens in ein Tun drängt sich das Subjekt als Instanz einer Herrschaft des Menschen über die Welt in den Vordergrund. Im Grundsatz der Kausalität, der das Verhältnis des Menschen zur Welt im vorhinein bestimmt, artikuliert sich das Prinzip der Herrschaft, das sich in der Neuzeit als das Prinzip der Subjektivität entfaltet. Die fundamentale Entdeckung Nietzsches aber besteht darin: Das Prinzip der Subjektivität ist eine Hypothese, die im Sinne der Setzung eines Grundes den Dingen die „Ich-Vorstellung"85 souffliert. Der Anthropomorphismus ist daher die Überzeugung, daß die Welt, was und wie sie ist, im Grunde nur sein kann kraft des Prinzips der Herrschaft, das der Mensch von sich selbst ableitet. Das Paradoxe daran ist, daß der Mensch seine Herrschaft über die Welt nur solange aufrechterhalten kann, als er den hypothetischen Charakter des jeweils von ihm gesetzten Prinzips vergißt. Daß das Können wesentlich im Wollen, d. h. im Vergessen-Wollen gründet, zeigt Nietzsche, indem er den Wesenszusammenhang von Nihilismus und Vergessenheit des anfänglichen Geschehens der Ursachen-Setzung genealogisch aufdeckt. Wenn Nietzsche auch keine expliziten Aussagen über jenes anfängliche Geschehen macht, läßt sich jedoch rekonstruieren, daß dieses Geschehen den nicht mehr einholbaren und unverfügbaren Horizont jeder metaphysischen Grundstellung, die den Grundzug dieser Entscheidung des Verhältnisses des Menschen zur Welt erst ermöglicht und prägt, darstellt. Nietzsches Überlegungen zu diesem Thema haben, wie die nachgelassenen Fragmente zur Genüge dokumentieren, den Wandlungen seines experimentellen Denkens entsprechend vielfältige Facetten. Ein Grundgedanke hält sich jedoch durch: Der Grund-Zug jeder metaphysischen Ursachen-Setzung ist der Ent-Zug des anfänglichen Lebenszusammenhangs. Was Sprechen und Handeln ermöglicht, indem es sie einschränkt, und sie einschränkt, indem es sie ermöglicht, all das entzieht sich grundsätzlich dem ursprünglichen Lebenszusammenhang: Zuletzt könnte die Unerkennbarkeit des Lebens eher darin liegen, daß alles an sich unerkennbar ist, und wir nur begreifen, was wir erst gebaut und gezimmert haben; ich meine auf dem Widerspruche der ersten Funktionen des „Erkennens" mit dem Leben. Je erkennbarer etwas ist, um so ferner vom Sein, um so mehr Begriff*6. 84 85 86
KSA 12, 7 (1), S. 249f. Ebda. KSA 11,26(70), S. 167.
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Wird jedes Erkennen als interpretierende Falsifikation des Geschehens verstanden, so besagt die dem Erkenntnisakt verborgene „Unerkennbarkeit des Lebens" für den Menschen, daß jede metaphysische Ursachen-Setzung und die durch sie eröffnete Welt auf einem ursprünglichen, nie allein vom Menschen herstellbaren, jedoch auch nie ohne ihn erschlossenen Lebenszusammenhang beruht. Mit dem Hinweis auf die Widersprüchlichkeit des dem Menschen zur Lebensbedingung gewordenen schematisierenden Erkennens zeigt Nietzsche, daß sich das Gängigste und scheinbar längst Entschiedene als das Befremdlichste und Fragwürdigste herausstellt. Nietzsches Philosophie unternimmt es, das Selbstverständlichste als das Fragwürdigste zu enthüllen. Gerade darin liegt das Aufdringliche der genealogischen Demaskierung der Metaphysik als eines Anthropomorphismus. Diese Methode dringt sogleich in das Wesen der menschlichen Freiheit vor. Denn jeweils in der das Geschehen verfälschenden Ursachen-Setzung wird eine Entscheidung darüber gefällt, was innerhalb dieser Welt als wahrhaft seiend gilt, und somit das Verhältnis des Menschen zur Natur und ineins damit die mögliche Intentionsstruktur des menschlichen Verhaltens vorgängig formiert und determiniert. Das berühmte Wort Heideggers: „Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit"87, könnte Nietzsche schon für sich beanspruchen, insofern er deutlich macht, daß das Freisein sowohl zur Not und Fragwürdigkeit des Menschen gehört, als auch die innere Möglichkeit der Entscheidung des Richtmaßes für die Wahrheit bildet. Die Ausgesetztheit des Menschen in die nie völlig verfügbare Welt ist die Bedingung der Möglichkeit für jede Setzung des Grundes, von dem aus sich jeweils das Leben vollzieht. Nietzsche zielt auf die Verwandlung des wissenden Erkennens in ein bejahendes Denken. Darin liegt die Bedeutung seiner genealogischen Bestimmung der Metaphysik als eines Anthropomorphismus. Als unhintergehbares Faktum für jedes Denken und Handeln erweist sich dabei die leibliche Verfaßtheit des Menschen in der Welt. Diese beinhaltet drei konstitutive Merkmale: (1) Die Unerkennbarkeit der Welt; (2) Den Widerspruch zwischen Erkennen und Leben und (3) den Seinsentzug durch den Begriff. Nietzsches Kritik des Anthropomorphismus macht deutlich, daß auch das Denken, das im vollen Bewußtsein seiner nihilistischen Herkunft den anderen Grund zu gründen sucht, doch an der Endlichkeit und Abgründigkeit des humanen Daseins zugrunde gehen wird. Wenn der Mensch angesichts der Not der Zeit anders leben will, muß er eben dieses wollen können. Daher legt Nietzsches genealogische Analyse des metaphysischen Anthropomorphismus zwei Konzeptionen des Subjekts nahe. Zum einen stellt er das logische Subjekt in seiner Gefangenschaft im Begriffscolumbarium dar; das Subjekt ist der moralische Mensch, der nur das Müssen, welches M. Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt/M. 1976, S. 13.
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jedes Weiter-Wollen im Keime erstickt, im Sinne hat. Zum anderen bringt Nietzsche ein freies, schaffendes Subjekt ans Licht, das sich darauf versteht, zum Wollen-müssen jasagen zu können. Zur Veranschaulichung dieser bipolaren Differenzierung des Subjekts nehmen wir drei Dikta, die aus verschiedenen Phasen der philosophischen Entwicklung Nietzsches stammen: (1) Man findet zuletzt in den Dingen nichts wieder als was er selbst in sie hineingesteckt hat: das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken — Kunst, Religion, Liebe, Stolz88; (2) Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben89; (3) kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz90.
Nietzsche differenziert das Interpretationsgeschehen in den Akt des Auslegens und den des Hineinlegens. Für Nietzsche ist die Auslegung nichts anderes als die Selbstbeschreibung des Menschen, da er nach seinem Bild die Dinglichkeit erfunden und in das Sensationenwirrwarr hineininterpretiert hat. Im Hinblick auf den Anthropomorphismus besagt dies, daß der Mensch, um sich selbst zu beschreiben, Metaphern der Dinge bildet, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich das Logische als „der Trieb selber, welcher macht, daß die Welt logisch, unserem Urtheilen gemäß verläuft"91. Gesetzt, der Wille zur Wahrheit verwandelt um der Sicherheit willen alles in Menschen-Denkbares, MenschenSichtbares, Menschen-Fühlbares, dann ist es „die hyperbolische Naivetät des Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmaß der Dinge anzusetzen"92. Sie rührt wesentlich davon her, daß er an den Anschauungsmetaphern ihre Herkunft aus Metaphern vergißt und sie als die Dinge selbst ansieht. Mit anderen Worten, der Mensch hält das, was einzig vom Menschen bedingt ist, umgekehrt für das Unbedingte, das ihn zur Entsprechung herausfordert. Daher unternimmt es Nietzsche, die hart zementierten, vom ursprünglichen Lebenszusammenhang abgeschnittenen Begriffe als Metaphern zu entlarven. 88 89 90
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KSA 12,2(174), S. 154. FW, III 112, KSA 3, 473. WL l, KSA l, S. 883. KSA 11,25(333), S. 97. KSA 13, 11 (99), S. 49. Der Umstand, daß Nietzsche diese Aussage über den Anthropomorphismus im Kontext seiner Kritik des Nihilismus macht, gibt uns einen wichtigen Hinweis darauf, daß der Nihilismus nicht nur als die Logik der europäischen Geschichte, sondern auch als die Grundstruktur der Verfassung des Menschlichen verstanden werden kann. Heidegger hält dagegen Nietzsche einen extremen Anthropomorphismus vor, welcher darin besteht, die Vermenschlichung der Dinge „bewußt" zu vollziehen. Vgl. M. Heidegger: Nietzsche: Der europäische Nihilismus, a.a.O., S. 127ff.
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Gilt der Satz: „Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts"93, dann kommt auch der Glaube an wirkende Dinge wie Stoffe, Atome, Substanzen und Materien ins Wanken. Der Grundgedanke ist: Erst dadurch, daß der Mensch sich selbst als autonomes Subjekts in die Dinge hineingedeutet hat, entsteht der Anschein, daß dem Naturgeschehen auch ein Subjekt zu Grunde liegt. Im Hinblick auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt deckt Nietzsche eine zirkuläre Struktur auf: „das, als was sie uns gegenüber steht, ist unser Werk, das man auf uns zurückwirkt" 94 . Die Auslegung wird in ihrer anthropomorphen Zirkelstruktur erkannt, und damit zugleich die Annahme einer rein im Bewußtsein sich vollziehenden Korrespondenz als Illusion aufgedeckt. Denn der Wille zur logischen Wahrheit kann sich erst vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens vorgenommen ist. Ohne hier auf die daraus resultierende Wissenschaftskritik näher einzugehen,95 wollen wir daran festhalten, daß Nietzsche damit über die Alternative „Idealismus und Materialismus" hinausgeht. Mit der Absicht, das Subjekt als Fiktion zu entlarven, geht Hand in Hand Nietzsches Kritik der mechanistischen Atomistik, die zu der „Kraft", „die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt"96 sucht. Und diese kritische Desülusionierung bringt die Überzeugung mit sich, daß der Mensch eben in das gegenseitige Interpretations-Geschehen von Mensch und Welt eingebettet ist. Stellt sich die Gesetzmäßigkeit der Natur als eine Hinein- und Auslegung des Menschen heraus, so scheint die Verdoppelung des Subjekts recht gelungen zu sein. Nietzsche erklärt aber auch das Subjekt für eine bloße Fiktion. Das Fiktive der Naturdinglichkeit in ihrer Abkünftigkeit vom Sinn hineinlegenden Subjekt aufzuweisen, ist dann eine Aporie, in die Nietzsches entlarvende Genealogie sich hineinmanövriert. Denn das wäre eine zirkuläre Zurückführung einer Fiktion auf eine andere Fiktion, die sich der vernünftigen Argumentation entzieht. Nietzsches Zentrierung und Einordnung der Welt ins Subjekt kann zwei weitere Argumentationen zur Folge haben: Einerseits könnte man darin, wie Günther Abel es tut, die Vollendung der Immanentisierung der Wirklichkeitsauffassung sehen, und andererseits könnte man glauben, aus dieser unendlichen Entfaltung der Subjektivität den Satz:
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KSA 12, 2 (142), S. 137. KSA 11, 26 (44), S. 159. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, vgl. Horst Baier: Nietzsche als Wissenschaftskritilcer. Eine neue Perspektive der Nietzsche-Forschung in einem Buch von Karl Schlechta und Anni Anders, in: ZfphF, 20(1966), 130-143. JGB, I 17, KSA 5, S. 31.
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„Homo est brutum bestiale", herauslesen zu können97. Handelt es sich im Anthropomorphismus um das Verhältnis des Menschen zur Welt, dann ist der Schlüssel zur Lösung der Ambivalenz wohl im Subjekt zu suchen. Weltverhältnis und Selbstverhältnis stehen in einem Wesenszusammenhang. Aus dem Gesagten wird zugleich klar, daß nicht nur das Weltverhältnis zwiefältig ist, sondern daß auch das Selbstverhältnis zwiefältig bestimmt sein muß, um überhaupt ein Verhältnis zu sein. Bezeugt die Desillusionierung der Autarkie der Natur die Verborgenheit der wahren Welt der Ur-sachen, dann ist es konsequent, durch die Destruktion der Autonomie des Subjekts die Unerkennbarkeit des Menschen zu zeigen. Dabei ist zu beachten, daß die Aufgabe der fragenden Philosophie darin besteht, das Selbstverständlichste als das Fragwürdigste zu hüten. Solange man dies mißachtet und nicht ernst macht mit dem Wissen, daß das in der humanen Leiblichkeit im voraus erschlossene Grundverhältnis das Verhalten des Menschen zu sich selbst und der Welt erst ermöglicht, läuft man Gefahr, sich in der Unterscheidung von Leben und Geist, Intellekt und Materie, Innenwelt und Außenwelt zu verlaufen, und das eigentliche Problem des Menschlichen nur zu vernebeln und zu verdrängen. Nietzsches genealogische Problematisierung des Menschen beginnt demnach mit einer Untersuchung der Formen und Modalitäten des Verhältnisses zu sich, in denen sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt. Die Grundform des Selbstverhältnisses ist die Subjekt-ObjektBeziehung, in der immer ein Bezugspol, das Subjekt, das Übergewicht hat. Daß auch im Bewußtsein des erkennenden, alles verfügbar machenden Subjekts die Subjekt-Objekt-Beziehung sich konstatieren und konstruieren läßt, zeigt Nietzsche deutlich, indem er die Sphäre des Objekts in die des Subjekts einordnet: Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte giebt — daß „Objekt" nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist — ein Modus des Subjekts™.
Der Gedanke, daß nur das Subjekt als der gewisse und sichere Grund beweisbar ist, bzw. daß sich das Subjekt aufgrund des Kausalitätprinzips wesenhaft auf das Objektive der Welt bezieht, ist das Grundthema der 97
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Mit der These von der Endogenisierung des Weltverständnisses rundet G. Abel nicht nur die Philosophie Nietzsches, sondern auch die Geschichte der abendländischen Philosophie systematisch ab; gegen diese Interpretation kann man einwenden, daß Nietzsche gerade durch die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Innenwelt und Außenwelt von der quasi universalgeschichtlichen Konzeption des Nihilismus auf die nihilistische Struktur des Menschen zurückgeht. Vgl. G. Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/N. Y. 1984, S. 3—38. Für Heidegger ist die unbedingte Subjektivität bei Nietzsche darin begründet, daß die anmalitas im Willen zur Macht zur absoluten Geltung kommt. Vgl. M. Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus, a. a. O., S. 267. KSA 12, 9 (106), S. 395/6.
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neuzeitlichen Metaphysik. Zunächst scheint es, als ob Nietzsches genealogische Desillusionierung der Metaphysik der Subjektivität als „Hypothese" auf deren Aufhebung hinaus läuft. Dieser Schein jedoch täuscht. Nietzsche hält an der Hypothese des Subjekts fest, indem er sie radikalisiert. Wenn Kants kopernikanische Revolution besagt, daß die Gegenstände der objektiven Erkenntnis nicht von selbst erscheinen, sondern vom transzendentalen Subjekt zur Erscheinung gebracht werden, dann liegt es nahe, daß sich der genealogische Blick auf die Bewegungs- und Einheitsstruktur des transzendentalen Subjekts konzentriert. Nietzsche ist sich mit Kant darüber einig, daß Vernunft nicht als Erkenntnisvermögen verstanden werden darf, sondern vielmehr der Inbegriff von Vollzügen, Handlungen und Bewegungen des Denkens ist". In der transzendentalen Logik, in der Denken als ursprüngliches Handeln verstanden wird, beruft sich Kant auf das Prinzip der Synthesis, die die Fähigkeit bedeutet, „die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen"100. Die transzendentale Logik deckt im Rückgang in die Erkenntnisstruktur des Subjekts jene Funktions- und Vollzugsweisen des Verstandes und seiner Fundierungskorrelationen auf, durch die Erkenntnis als das dreifache Geschehen von Kooperation, Ordnung und Einheit zustandekommt. Die normative Verbindlichkeit des Verstandes liegt demnach in seiner Ordnungsleistung, die wesentlich mit der dazu in Spannung stehenden Bewegung des Überschreitens jeder getroffenen Entscheidung verbunden ist. Wir sehen hier, daß die prima facie nach dem demokratischen Prinzip vollzogene Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität, Affektionen und Funktionen von der Frage abhängt, „von wo" die transzendentale Bewegung ausgeht. Zuerst neigt Kant dazu, von der humanen Endlichkeit und der Unerkennbarkeit der Dinge an sich ausgehend, das dritte Grundvermögen einzuführen: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind"101. Aus diesem Passus ist 99
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Vgl. F. Kaulbach: Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen, in: R. Berlinger/ W. Schrader (Hrsg.): Nietzsche — kontrovers I, Würzburg 1981, S. 59 — 76; ders.: Autarkie der perspektivischen Vernunft bei Kant und Nietzsche, in: J. Simon (Hrsg.): Nietzsche und die philosophische Tradition II, Würzburg 1985, S. 90 — 105, und ders: Kant und Nietzsche im Zeichen der kopernikanischen Wendung. Ein Beitrag zum Problem der Modernität, in: ZfphF, 41 (1987), S. 349 — 372. Unter der Berücksichtigung der Sinnmotivation des perspektivischen Weltentwurfs versucht Kaulbach dem Gedanken der ewigen Wiederkehr die moralisch-praktische Bedeutung abzugewinnen. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 68, B 93. Ebda., A 78, B 103. Daß die Einführung eines dritten Grundvermögens keineswegs ein willkürliches Nebeneinander bedeutet, sondern sich aus der Notwendigkeit des sich selbst
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ersichtlich, daß die Synthesis als Einheitsgeschehen auf keinen der beiden Stämme der Erkenntnis zurückführbar ist. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die beiden sogenannten Erkenntnisvermögen nicht als Vermögen, das sich nur zu entfalten braucht, sondern als Vollzugsweisen der Bewegung der Einbildungskraft. Wird die Differenz zwischen Verstand und Einbildungskraft ernst genommen, so ist die Eingefügtheit des Menschen ins Offene des Geschehens nach innen wie außen in Anschlag zu bringen. Aber vor seiner originellen Einsicht in die Dunkelheit und Unerkennbarkeit des Menschen zurückschreckend, ordnet Kant die Einbildungskraft sogleich dem Verstand zu. So heißt es an der oben genannten Stelle weiter: „Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft"102. Die transzendentale Rückkoppelung der Synthesis der Einbildungskraft an das Vermögen der Spontaneität besagt, daß die logische Funktion des Verstandes „von sich aus", d. h. spontan das, was die Einbildungskraft in Gang bringt, zum Bild, Stand-bild macht. Das Einheitsgeschehen wird dadurch auf das Geschehen der Identifizierung mit der vorweggenommenen Einheit des „stehenden und bleibenden" Selbst reduziert,103 was nichts anderes als das Programm einer Rationalisierung der Phantasie ist. Wichtig ist dabei, daß die sich selbst realisierende Enthüllung der Vernunft als eigenursprünglich und eigenaktiv von der Welt abgekoppelt wird. Gegen diesen „transzendentalen Nominalismus"104, der dem Subjekt die Instanz des Gesetz-gebers für die Verfassung der Gegenständlichkeit zuschreibt, wehrt sich Nietzsche mit großer Entschiedenheit. Er knüpft an Kants ursprünglicher Einsicht in die Abgründigkeit der Einbildungskraft an und bestimmt sie sogleich als Wille zur Macht. Nietzsches Argumentation verläuft in ihrer einheitlichen Tendenz dahingehend, die transzendentale Apperzeption des „Ich denke" auf die Formel von der „Erkenntnis der Erkenntnis" zu übersetzen, um sie schließlich als immanenten Widerspruch zu entlarven. Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins ist für Nietzsche selbst widersprüchlich, weil in ihr, was Erkenntnis ist, dadurch erkannt wird, daß man bestimmt, was sie sein soll: „Was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir
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konstituierenden Einheitsgeschehens ergibt, zeigt Kant schon in der Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft", wo er betont, „daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden". Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 15, B 29. Ebda. Vgl. K. d. r. V, A 107. Vgl. Friedrich Kaulbach, Immanuel Kant, Berlin/N. Y. 1982, S. 158.
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unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis giebt"105. Es handelt sich um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das sich auf sich als Objekt zurückbeugt, um sich in einem Spiegelbild zu ergreifen. Die Konzeption von der Erkenntnis der Erkenntnis setzt dann einen festen Punkt außerhalb der spekulativen Bewegung voraus. Diese Setzung des festen Grundes im Bewußtsein führt zur Verabsolutierung eines Bedingten zu einem Unbedingten und damit in eins zur absoluten Subjektivität, die die Endlichkeit der Menschennatur, die eigentlich im Wesen der Erkenntnis ihre Bestimmung finden müßte, aus der transzendentalen Bewegung hinauskatapultiert. Die Entfremdung der aufgespreizten Subjektivität führt wesentlich von der Verdrehung des Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Leben her. Hier geht Nietzsches Erkenntniskritik in Moralkritik über, die den wahrheitskonstitutiven Zusammenhang von Moral und Metaphysik enthüllt. Entschieden weist Nietzsche jeden Absolutheitsanspruch der Moral zurück, spricht ihr die „überhistorische" Autorität absoluter Geltung ab. Nietzsches Moralkritik richtet sich gegen „die grosse Erbsünde der Vernunft, die unsterbliche Vernunft"106. Die Moral ist für Nietzsche aber ein geschichtliches Phänomen. Sein moralkritischer Fundamentalsatz lautet: Die Vernunft ist „auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall" entstanden107. Nietzsches Aufdeckung der Historizität der Vernunft überholt das im Grunde ahistorische Denken der dialektischen Vernunft, das dem entstehenden Historismus dadurch entgeht, die Geschichte der Vernunft als die Vernunft in der Geschichte spekulativ aufzuheben. Dagegen hält Nietzsche an der Endlichkeit und Geschichtlichkeit der Vernunft, die der Mensch an der Grenze seines eigenen Daß-seins erfährt, fest. So wie das Da-sein des Menschen grundsätzlich unerklärbar ist, läßt sich auch das Faktum der Vernunft nicht aus Geschichte erklären108. Mit der so 105
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KSA 12, 7 (4), S. 264. GD, Die vier grossen Imhümer 2, KSA 6, S. 89. M, II 123, KSA 3, S. 116. Zur Problematik der Historizität der Vernunft, vgl. Herbert Schnädelbach: Zur Dialekt der historischen Vernunft, in: Hans Poser (Hrsg.): Wandel des Vernunftbegriffs, München/ Freiburg 1981, S. 15 — 37; Hans Michael Baumgartner: Über die Widerspenstigkeit der Vernunft, sich aus Geschichte erklären zu lassen. Zur Kritik des Selbstverständnisses der evolutionären Erkenntnistheorie, in: ebda., S. 39 — 64. Rüdiger Bubner: Rationalität, Lebensform und Geschichte, in. H. Schnädelbach: Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 1984, S. 198-217; J. Habermas: Über Moralität und Sittlichkeit - Was macht eine Lebensform >rational