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German Pages 364 Year 2013
Texturen des Denkens
Nietzsche Heute
Band 5
Texturen des Denkens Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse
Herausgegeben von Marcus Andreas Born und Axel Pichler
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 978-3-11-029889-5 e-ISBN 978-3-11-029890-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die im vorliegenden Band enthaltenen Beiträge sind aus Vorträgen hervorgegangen, die während der Tagung „Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse“ im Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg an der Saale vom 27. bis zum 29. Juli 2012 gehalten wurden. Zunächst soll an dieser Stelle den Vortragenden für das Gelingen der Veranstaltung gedankt werden. Nicht nur die intensiven Diskussionen und Anregungen vor, während und nach der Veranstaltung, sondern auch die Über- und Ausarbeitung ihrer Vorträge stellten eine Bereicherung für die Auseinandersetzung mit Jenseits von Gut und Böse dar. Namentlich möchten wir an dieser Stelle Andreas Urs Sommer für seine wertvollen Ratschläge bei der Planung und Durchführung der Tagung und Jakob Dellinger für den kritisch-freudigen Austausch bei ihrer Konzeption hervorheben. Des Weiteren danken wir Matheus Tomczak für die umsichtigen Korrekturen der Texte und der Klassik Stiftung Weimar, insbesondere dem Goethe- und Schiller-Archiv, für die freundliche Betreuung vor Ort sowie für die Erlaubnis, Auszüge aus dem Druckmanuskript von Jenseits von Gut und Böse am Ende dieses Bandes abzudrucken. Besonderer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft dafür, dass sie sowohl die Veranstaltung als auch die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes durch eine großzügige Finanzierung im Rahmen eines Projektes (BO 3183/3) zur Erforschung von Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse unterstützt hat. B e r l i n, im Juni 2013.
Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen
IX
Marcus Andreas Born und Axel Pichler Einleitung 1 Marcus Andreas Born und Axel Pichler Text, Autor, Perspektive. Zur philosophischen Bedeutung von Textualität und literarischen Inszenierungen in Jenseits von Gut und Böse Beat Röllin Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig? Zur Werkgenese von Jenseits von Gut und Böse
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Andreas Urs Sommer „Glossarium“, „Commentar“ oder „Dynamit“? Zu Charakter, Konzeption und Kontext von Jenseits von Gut und Böse 69 Joel Westerdale Zur Ausdifferenzierung von Sentenz und Aphorismus in „Jenseits von gut und böse“ (1882) und Jenseits von Gut und Böse (1886)
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Annamaria Lossi Philosophie als Selbstgestaltung? Umwertung und Selbstverständnis im Ausgang von Nietzsches „von den Vorurtheilen der Philosophen“ in Jenseits von Gut und Böse 107 Helmut Heit Lesen und Erraten: Philosophie als „Selbstbekenntnis ihres Urhebers“ João Constâncio On Nietzsche’s Conception of Philosophy in Beyond Good and Evil: Reassessing Schopenhauer’s Relevance 145 Jakob Dellinger Vorspiel, Subversion und Schleife. Nietzsches Inszenierung des ‚Willens zur Macht‘ in Jenseits von Gut und Böse 165
123
VIII
Inhaltsverzeichnis
Anthony K. Jensen From Natural History to Genealogy
189
Werner Stegmaier Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart Martin Endres „Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!“ Nietzsches ‚subtiles‘ Schreiben in Jenseits von Gut und Böse
205
231
Enrico Müller Geist und Liebe zur Maske. Zu Aphorismus JGB 40 und Nietzsches Personenbegriff 243 Marco Brusotti „der schreckliche Grundtext homo natura“: Texturen des Natürlichen im Aphorismus 230 von Jenseits von Gut und Böse
259
Corinna Schubert „Wanderer, wer bist du?“ Überlegungen zu Maske und Dialog, Figur und dem Vornehmen in Jenseits von Gut und Böse 278 279 Christian Benne „ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!“: Synästhetische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse 296
Personenregister Abbildungen
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305
Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen A Werkausgaben KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, ab Abt. IX/4 von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York: De Gruyter 1967 ff.
KGB Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin, New York: De Gruyter 1975 ff.
KSA Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. München, Berlin, New York: dtv/De Gruyter 1999.
B Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS DW EH FW GD GM GMD GT HL IM JGB M MA MD
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Mahnruf an die Deutschen
X
NL NW PHG SE SGT ST UB VM WA WB WL WS Za
Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen
Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra
C Verzeichnis der verwendeten Hefte und Notizbücher aus der KGW IX N VII 1, N VII 2, N VII 3
W I 3, W I 4, W I 6, W I 7
WI8
W II 1
KGW IX/1–3. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach. Bearb. v. Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und Johannes Neininger. Berlin, New York: De Gruyter 2001. KGW IX/4. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin. Bearb. v. Nicolas Füzesi, Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René Stockmar, Jochen Strobl, Franziska Trenkle. Unter Mitarbeit v. Falko Heimer. Berlin, New York: De Gruyter 2004. KGW IX/5. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin. Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René Stockmar, Jochen Strobl, Franziska Trenkle. Unter Mitarbeit v. Falko Heimer. Berlin, New York: De Gruyter 2005. KGW IX/6. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin. Bearb. v. Marie-Luise Haase, Bettina Reimers, Thomas Riebe, Beat Röllin, René Stockmar, Franziska Trenkle. Unter Mitarbeit v. Falko Heimer. Berlin, New York: De Gruyter 2006.
Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen
XI
D Textkritische Zeichen Handschrift
Darstellung KGW IX
Erste Niederschrift Einfügungen und Zusätze Streichung Zeilenumbruch —
Text Text
Text Zeilenumbruch Seitenumbruch
Transkription im vorliegenden Band Text {Text} Text /xx/ //xx//
Marcus Andreas Born und Axel Pichler
Einleitung Arbeiten über Nietzsche, die vorliegende eingeschlossen, beginnen gewöhnlich mit irgendwelchen Gemeinplätzen über seinen Stil. Einer der elementarsten besagt, Nietzsches Denken sei von seinem Schreiben nicht zu trennen, und mit seinem Stil zurechtzukommen, sei eine wesentliche Voraussetzung dafür, ihn überhaupt zu verstehen. Dieser Gemeinplatz ist jedoch auf unzählige Weisen ausgelegt worden, und jede dieser Auslegungen hat zu auffallend verschiedenen Lesarten seines Denkens geführt. (Nehamas 2012 [1985], S. 31)
Die Gefahr ist nicht zu leugnen, dass sich der Leser des vorliegenden Bandes, der sich den „Texturen des Denkens“ zuwendet, auf besagtem Gemeinplatz wiederzufinden meint. Tatsächlich wurde die These, dass Nietzsches Schreiben eng mit seinem Denken verwoben ist, bereits so oft wiederholt, dass davon ausgegangen werden könnte, dass weitere Bemühungen um das Thema obsolet sind. Insbesondere befindet sich auf einem derartigen Platz, wer sich diesbezüglich zu Also sprach Zarathustra äußert, zu jenem Werk, das entscheidend dazu beigetragen hat, dass Nietzsche als dichtender Philosoph oder philosophierender Dichter aufgefasst wurde und für das er in Ecce homo empfiehlt, es der Musik zuzurechnen (vgl. EH Za 1). Doch nicht nur in Nietzsches selbsterkorenem Hauptwerk, auch in den meisten seiner weiteren Texte drängt sich den geneigten Lesern das Ineinander von ‚Form‘ und ‚Inhalt‘ regelrecht auf. Ursache dafür ist nicht zuletzt die Vielzahl an Textsorten und Schreibgattungen, in welchen sich Nietzsches Philosophieren ausgedrückt hat: Von der Abhandlung über die Sentenz, den Aphorismus, den Kurzessay bis zum Gedicht sind etliche Genres in seinem Œuvre vertreten. Die Frage, inwieweit dieser Vielfalt von Gattungen sowie den von ihnen realisierten spezifischen literarischen Darstellungsformen ein philosophisches Gewicht zugemessen werden kann, wurde in der Auseinandersetzung mit Nietzsches Texten sehr unterschiedlich beantwortet, wobei sich in der NietzscheDeutung des vorigen Jahrhunderts drei Grundtendenzen ausmachen lassen. Deren erste hielt Nietzsches Texte aufgrund ihrer Literarizität für mit dem philosophischen Diskurs unvereinbar und schloss Nietzsche aus den Reihen der ernstzunehmenden Denker aus. Paradigmatisch für diese oft auf einem stark szientifischen Philosophieverständnis fußende Ausschlussgeste ist Rudolf Carnaps Stellung zu Nietzsche, die er insbesondere in seinem Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ zum Ausdruck gebracht hat. Dort kommt es zu einer auf den ersten Blick überraschenden Gegenüberstellung von Nietzsche und Heidegger, aus welcher Ersterer eindeutig als Sieger hervorgeht. Laut Carnap ist Nietzsche „derjenige Metaphysiker, der vielleicht die stärks-
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Marcus Andreas Born und Axel Pichler
te künstlerische Begabung besaß“ und dadurch „am wenigsten in den Fehler“ geraten sei, den „Ausdruck des Lebensgefühls“ mit sinnvollen Aussagen zu verwechseln (Carnap 1931, S. 241). Hinter diesem ‚Lob‘ steht die von Carnap am Ende seines Aufsatzes artikulierte Auffassung, dass Metaphysik „ein Ersatz, allerdings ein unzulänglicher, für die Kunst“ (Carnap 1931, S. 240) sei.1 In eine andere Richtung tendieren Ansätze, für die Martin Heidegger als herausragendes Beispiel genannt werden kann. Dessen ‚systematisierende‘ Interpretation zielte darauf, Nietzsches Denken ein philosophisches Gewicht zu geben, wobei den Werken als solchen und den für Nietzsches Schriften charakteristischen Darstellungsformen wenig bis gar keine Beachtung geschenkt wurde. Dies drückte sich im Falle Heideggers nicht zuletzt darin aus, dass es in seinen Deutungen zu einer eindeutigen Bevorzugung des Nachlasses kam. Ausgehend von diesem und auf der Folie von Nietzsches vermeintlicher ‚Umkehrung des Platonismus‘ gelangte Heidegger zu einer systematischen (Re-)Konstruktion von Nietzsches Denken und präsentierte den Willen zur Macht, die ewige Wiederkunft des Gleichen, den Nihilismus, den Übermenschen und die Gerechtigkeit als fünf Grundworte Nietzsches (vgl. Heidegger 1961). Einem solchen Ansatz lag es fern, formale oder inhaltliche Kontexte der von ihm verwendeten Textpassagen zu berücksichtigen.2 Liefen Deutungen wie diejenige Heideggers auf die Einsicht hinaus, dass es sich bei Nietzsche, wenn man seine Schriften ihrer formal-stilistischen Exzesse entkleidete, ebenso wie bei seinen Vorläufern um einen traditionellen Philosophen handelte, dem man positive Thesen und Ansichten zuschreiben kann, wurde von der dritten dominierenden Deutungsrichtung der Nietzscheforschung im 20. Jahrhundert die Existenz derartiger Thesen und Lehren in Nietzsches Schriften konsequent bestritten (vgl. Allison 1979). Diese Position wurde vorwiegend von neo- und poststrukturalistischen französischen Autoren wie Jacques Derrida, Georges Bataille, Bernard Pautrat, Sarah Kofman und Phillipe LacoueLabarthe vertreten und von Derrida eindringlich an den ‚Stilen Nietzsches‘ festgemacht (vgl. Derrida 2003 [1973]).
1 In den Kontext derartig stark systematisierender Deutungen gehört auch der Vorwurf des Irrationalismus, der Nietzsches Denken von Philosophen wie Georg Lukács und Jürgen Habermas gemacht wurde. 2 Siehe zu dieser sowie der folgenden Deutungstendenz der Nietzscheforschung des vorigen Jahrhunderts bereits Allison 1979, insbesondere S. 199 f., der dort auch in Bezug auf die Heidegger in ihrem Vorgehen folgenden philosophischen Interpretationen feststellt: „One concern however, was held in common by most of these ‚philosophical‘ interpreters: to make sense of Nietzsche, one had to modify if not sacrifice what they considered to be the stylistic excess of his writing.“ (Allison 1979, S. 199)
Einleitung
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In den letzten Jahrzehnten hat sich in der deutschsprachigen Nietzscheforschung ein Lektüreparadigma herausgebildet, das sich von den drei zuvor beschriebenen Grundtendenzen folgendermaßen abgrenzen will: Einerseits sollen Nietzsches Schriften philosophisch ernst genommen werden, ohne sein Denken in systematisierenden ,Rekonstruktionen‘ erstarren zu lassen. Durch den sich hierbei ergebenden Fokus auf die formale Seite von Nietzsches Denkbewegung droht jedoch die Gefahr, diesem jegliche Inhalte abzusprechen und einer interpretatorischen Willkür die Tore zu öffnen. Daraus folgt andererseits die Notwendigkeit, Nietzsches Denken trotz des Verzichtes auf allzu starke, textferne Präsuppositionen durch die Berücksichtigung der formalen Eigenheiten seiner Texte sowie der für deren Verständnis mittlerweile gut erforschten intertextuellen Kontexte philosophisch gerecht zu werden. Ein Charakteristikum dieser Deutungen ist die Zusammenführung traditioneller philologischer Lektüremethoden mit genuin philosophischen Fragestellungen.3 Die sich daraus ergebende Form eines ‚philologischen Philosophierens‘ konnte sich unter anderem neben den KGW-Herausgebern Giorgio Colli und Mazzino Montinari auf den französischen Nietzsche-Philologen Richard Roos berufen, der bereits 1972 sechs philologische Leitsätze für die Nietzschelektüre formulierte (vgl. Roos 1987). In Anlehnung an diese Deutungstradition und deren Betonung der untrennbaren Verschränktheit von Form und Inhalt im philosophischen Schreiben Nietzsches sowie aufgrund der damit unmittelbar zusammenhängenden Bedeutung, die der jeweilige Umgang mit der im Falle von Nietzsches Handschriften und veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorhergesehenen Schriften höchst individuellen und stark variierenden Textualität, für dessen Deutung spielt, haben wir diesen Konferenzband unter den Titel Texturen des Denkens gesetzt. Auch für den sich in dieser Metapher manifestierenden Ansatz stellt sich jedoch die Frage, ob und inwieweit eine Lektüre von Nietzsches Texten als ein Nachvollzug des eigentlichen Textgeschehens oder als interpretatorischer Akt zu verstehen ist.4 Die ,Antworten‘, die sich in Nietzsches Werken auf diese für jede
3 Zu den zentralen Repräsentanten dieser Deutungsrichtung sowie deren gemeinsamen Grundannahmen siehe auch den Anfang des folgenden Beitrages. 4 Christian Stetter versteht unter ,Textur‘ das, „was geschrieben ist und gelesen wird“, während ‚Text‘ dasjenige ist, „was geschrieben und verstanden wird“ (Stetter 1999, S. 294). Eine derartige Unterscheidung zwischen ‚Text‘ und ‚Textur‘ weist somit nachdrücklich auf die Frage nach der Bedeutung der Textualität und der von dieser getragenen Schreibweisen für das Verständnis und die Auslegung von Nietzsches Philosophie. Zugleich erlaubt sie es erneut auf jene Problemkonstellation aufmerksam zu machen, die bereits 1979 David B. Allison im Zuge seiner Rekonstruktion der dekonstruktivistischen Nietzsche-Lektüren von Paul de Man und Jacques Derrida herausgearbeitet hat und die auch fern der von Allison für ihre Nachzeichnung ausgewählten Autoren für die gegenwärtige Nietzscheforschung von immenser Bedeutung ist (vgl. Allison 1979).
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Marcus Andreas Born und Axel Pichler
Textlektüre zentrale Frage ausmachen lassen, entbehren auf den ersten Blick selbst der Eindeutigkeit. So findet sich in diesen sowohl ein Lob der „E p h e x i s in der Interpretation“ (AC 52, KSA 6, S. 233) in Der Antichrist als auch widersprechend erscheinende Aussagen wie am Ende von Aphorismus 374 aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft: „Ach, es sind zu viele u n g ö t t l i c h e Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, — unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen…“ (FW 374, KSA 3, S. 627) In Anbetracht der Spannung, die sich aus der Gegenüberstellung derartiger Passagen ergibt, soll der Begriff der ,Texturen‘ jenen Aspekt von Nietzsches Denken akzentuieren, der immer noch einige Aufmerksamkeit verdient, wenn auch bereits zahlreiche Untersuchungen existieren, in denen die These vom Ineinander von Form und Inhalt behauptet wird. Hierbei dient der Fokus auf Jenseits von Gut und Böse als eine Möglichkeit, diese Behauptung konzentriert an einem Werk auszuweisen. Wirft bereits die Perspektive der ,Texturen‘ einige Fragen auf, so könnte auch die Rede von „Nietzsches Inszenierung der Philosophie“ irritieren, wenn der Versuch vermutet wird, dass Nietzsches Denken mit ihr aus dem Rahmen ‚ernsten Philosophierens‘ gelöst werden soll.5 Die Zusammenführung von Nietzsches Philosophie mit diesem aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammenden Fachterminus des praktischen Theaterbetriebs scheint sein Denken in einen fiktionalen Kontext zu überführen, der quer zu der seit der Antike als Gegenstand und Erkenntnisziel der Philosophie erachteten Trias des Wahren, Guten und Schönen steht. Eine solche Einklammerung der philosophischen Valenz von Nietzsches Denken wird keinesfalls angestrebt.6 Stattdessen soll mit dem Konzept der ‚Inszenierung‘ der Fokus auf das gelegt werden, was man als ‚Textgeschehen‘ von Jenseits von Gut und Böse bezeichnen kann. Dabei kommt es zugleich zu einer Wiederaufnahme eines zentralen Momentes, der auch im herkömmlichen Inszenierungsbegriff mitschwingt, nämlich der Tatsache, dass ‚Inszenierungen‘ immer an handelnde Personen gebunden sind, seien diese nun der Regisseur, der Schauspieler, der Autor oder eben textinterne Akteure. Eine derartige Rückbindung des philosophischen Denkens an textuell inszenierte Figuren ist für ein Buch wie Jenseits von Gut und Böse, dessen sechster Aphorismus jede Philosophie als
5 Zum Begriff der Inszenierung siehe einführend Kiermeier-Debre 2007. 6 Ebenso soll mit dem Begriff ‚Inszenierung‘ nicht an jüngere literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu den ‚Inszenierungspraktiken‘ angeknüpft werden, wenn diese unter ihr die Positionierung eines historisch-empirischen Autors innerhalb des literarischen Feldes qua „resonanzbezogene[r] paratextuelle[r] und habituelle[r] Aktivitäten und Techniken“ (vgl. Jürgensen/Kaiser 2011, S. 10) verstehen.
Einleitung
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„Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6, KSA 5, S. 19) ausweist, mehr als gerechtfertigt. Aufgrund der zentralen Problemkonstellationen und leitenden Fragestellungen erscheint es als sinnvoll, deren Klärung in der Auseinandersetzung mit Nietzsche auf die Beschäftigung mit einem einzigen Werk zu beschränken. Die Wahl fiel dabei auf Jenseits von Gut und Böse, dessen erstes Hauptstück für lange Zeit als die geschlossenste und umfangreichste Artikulation von Nietzsches spätem Denken betrachtet worden ist (vgl. Habermas 1968). Im eröffnenden Beitrag „Text, Autor, Perspektive. Zur philosophischen Bedeutung von Textualität und literarischen Inszenierungen in Jenseits von Gut und Böse“ wird an die skizzierten Problemkonstellationen angeknüpft, um die sich in dem Inszenierungsbegriff versammelten Eigenheiten von Jenseits von Gut und Böse in den Blick zu nehmen: Dessen erster, von Axel Pichler verfasste Teil „Auf der Suche nach dem ‚authentischen Text‘. Editionsphilologische und literaturtheoretische Konsequenzen der Textualität für eine philosophische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse“ widmet sich den textuellen Inszenierungspraktiken von JGB 246 mittels einer textnahen Lektüre, die zugleich die Entstehung des Aphorismus’ berücksichtigt. Dabei wird gezeigt, dass die in diesem ‚Werksegment‘ und seiner Genese ersichtlich werdende ‚rhetorisch-stilistische Inszenierung‘ keinen Akt poetischer Willkür von Seiten ihres Verfassers darstellt, sondern als eine direkte Umsetzung der in Jenseits von Gut und Böse mehrfach thematisierten erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Fragestellungen verstanden werden kann, was letztendlich zur performativen Umsetzung der im Zuge dieser Fragestellung entwickelten Positionen in Aphorismus 246 führt. Zur Klärung dieses Sachverhaltes kommt eine dafür entwickelte Lektüremethode zum Einsatz, die einer der zentralen Besonderheiten von Nietzsches Schreibweise – der Tatsache, dass die Bedeutung der Mehrheit seiner Begriffe in extremo von den sie jeweils umgebenden Kontexten bestimmt werden – Rechnung trägt, indem sie an die Stelle einer dem Schreibprozess folgenden genetischen Rekonstruktion des letztendlich publizierten Textes diesen mit aus besagtem Schreibprozess herauslösbaren früheren ,Varianten‘ konfrontiert und so die semantischen Eigenheiten der in ihm verwendeten Ausdrücke profiliert. Der zweite, von Marcus Andreas Born verfasste Teil des einleitenden Beitrags „,Fusstapfen zur Selbsterkenntniss‘: Zur performativen Exposition des Denkens in Jenseits von Gut und Böse“ wendet sich der Frage zu, inwiefern sich das, was in Jenseits von Gut und Böse ausgedrückt wird, unmittelbar auf eine einzelne Perspektive oder sogar die Position des Autors beziehen lässt. Hierfür wird ein Zugang gewählt, der ein spezifisches Charakteristikum von Nietzsches Schreibweisen fokussiert, das in diesem Werk sehr präsent ist: Die Exposition von philosophierenden Perspektiven, die als solche deutlich herausgestellt werden. So
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zeigt sich im Werk zum einen, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen inszeniert wird und zum anderen, dass einige dieser Positionen nicht nur durch ihre teilweise drastischen Thesen gekennzeichnet sind, sondern durch deutliche Textsignale als solche greifbar werden. Insbesondere die Genesis einiger Aphorismen zu Judentum und zum Weib, die sich über den Vergleich mit ihren früheren Fassungen aus dem Nachlass nachvollziehen lässt, unterstreicht hierbei, dass diese Aphorismen weniger darauf abzielen, allgemeine Thesen vorzustellen, als dass sie die Vorurteile dessen in den Vordergrund rücken, der sie ausdrückt. Damit legt der Text nahe, das in ihm Vorgebrachte nicht als unmittelbaren Ausdruck von eindeutig ablesbaren Positionen (des Autors) aufzufassen, sondern fordert dazu auf, die in ihm präsentierten Thesen kritisch zu reflektieren. Im Zentrum von Beat Röllins Aufsatz „Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig? Zur Werkgenese von Jenseits von Gut und Böse“ steht die komplexe Werkgenese des Anfang Juni 1886, nach zahlreichen vergeblichen Versuchen Nietzsches, das Manuskript bei anderen Verlegern unterzubringen, schließlich von C.G. Naumann gedruckten Buches. Der Autor zeichnet die Veränderungen von der in einem am 12. April 1886 an den Verleger Heymons gesandten Brief noch gegebenen Werkkomposition zur letztendlich bei Naumann publizierten Fassung im Zuge einer philologischen „Manuskriptanalyse“ des Druckmanuskriptes nach. Röllin beschränkt sich dabei nicht nur auf die präzise philologische Rekonstruktion der Werkgenese, sondern bietet parallel dazu einen Einblick in die bei Nietzsche nach Abschluss der für ihn stets mühevollen Abschriften mit Leim und Schere fortgesetzte werkkompositorische Arbeit. Diese schlägt sich im Druckmanuskript unter anderem in der mehrfachen Redaktion der Nummerierung der Aphorismen nieder. Durch die Rekonstruktion der über diese Nummerierungen erschließbaren unterschiedlichen Werkkompositionen erarbeitet Beat Röllin die Grundlage für werkgenetische Lektüren von Jenseits von Gut und Böse. Andreas Urs Sommer zeigt in seinem Beitrag „,Glossarium‘, ,Commentar‘ oder ,Dynamit‘? Zu Charakter, Konzeption und Kontext von Jenseits von Gut und Böse“ auf, dass Selbstkommentare des Autors – wie ‚Glossarium‘ und ‚Commentar‘ sowie die von Josef Viktor Widmann stammenden ‚Dynamit‘-Metapher – nicht eigentlich der adäquaten Beschreibung des Buches dienen, sondern einer von Nietzsche spätestens seit 1885 immer stärker forcierten Werkpolitik folgen. Solcherart seien diese Autokommentare zwar „als autoritative Auskünfte über die jeweiligen Werke notorisch unzuverlässig“, besäßen aber aufgrund der sie bestimmenden „Selbstreferentialität“ einen heuristischen Wert zur Aufschlüsselung der sich in ihnen artikulierenden Bedürfnissituation des Autors. Diese stelle eine Reaktion auf die damals quasi noch nicht gegebene Wirkung von Nietzsches Schriften und den Versuch diesem status quo entgegenzusteuern dar, was im Falle von Jenseits von Gut und Böse zu einer Annäherung an die antike Form des
Einleitung
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Protreptikos geführt habe, deren formale und strukturellen Analogien sowie Differenzen zu Jenseits von Gut und Böse von Sommer präzise herausgearbeitet werden. Dabei treten insbesondere die promissorisch-temptatorischen Momente des Textes hervor, ausgehend von denen Sommer abschließend einige der zentralen Topoi der sich in Jenseits von Gut und Böse realisierenden Denkbewegung in den Blick nimmt. Joel Westerdale fragt zu Anfang seines Aufsatzes „Zur Ausdifferenzierung von Sentenz und Aphorismus in ‚Jenseits von gut und böse‘ (1882) und Jenseits von Gut und Böse (1886)“ danach, inwiefern eine Schrift wie Jenseits von Gut und Böse als eine Aphorismenschrift bezeichnet werden kann. Hierfür zieht er vergleichend eine Sentenzensammlung aus dem Nachlass heran, die Nietzsche unter anderem mit „Jenseits von gut und böse“ betitelt hatte. Dabei zeigt sich, dass der in der Nietzscheforschung selbstverständlich gewordene Gebrauch der Gattungsbezeichnung Aphorismus zur Bezeichnung von Nietzsches Texten durchaus problematisch ist, was Westerdale insbesondere an formalen Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Jenseits von Gut und Böse und Menschliches, Allzumenschliches demonstriert. Im Zuge dieses Vergleiches geht der Autor auch auf den über Paul Rée vermittelten Einfluss der französischen Moralisten auf Menschliches, Allzumenschliches ein, in deren Tradition Nietzsche dieses Werk explizit stellt, und bringt dabei in Anschlag, dass dieser Einfluss eher für die psychologisch-entlarvende Methodik als für die formalen Aspekte gilt, die auch in Jenseits von Gut und Böse hineinwirken. Als entscheidender Einfluss auf die formale Gestalt von Nietzsches Aphorismen werden schließlich Lichtenberg und Bacon präsentiert, mit denen der Übergang zur Frage nach dem antisystematischen Impetus der Aphoristik eingeleitet wird, die sich bei Nietzsche laut Westerdale als Form eines ,nachsystematischen‘ Denkens beschreiben lasse. Eingedenk der Gemeinsamkeiten von Menschliches, Allzumenschliches und Jenseits von Gut und Böse stellt Westerdale zuletzt eine entscheidende Differenz zwischen den beiden Textsammlungen heraus, wenn er dem späteren Werk eine stärkere Kohäsion konzediert, die vom früheren ,Sentenzenbuch‘ „Jenseits von gut und böse“ noch nicht erfüllt wird und sich unter anderem in der These vom ‚Willen zur Macht‘ ausdrückt. Setzt sich Westerdales Beitrag solcherart mit der Relevanz sowie der philosophischen Bedeutung der Textsorten in Nietzsches Schriften auseinander, wendet sich der Beitrag „Philosophie als Selbstgestaltung? Umwertung und Selbstverständnis im Ausgang von Nietzsches ‚von den Vorurtheilen der Philosophen‘ in Jenseits von Gut und Böse“ von Annamaria Lossi dem ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse zu. Bereits am Anfang ihres Artikels konstatiert Lossi eine Spannung zwischen Nietzsches These, dass in einer jeden Philosophie die Individualität ihres Urhebers hervortrete und seiner Kritik an
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Konzepten wie ,Ich‘ und ,Subjekt‘. In Anknüpfung an diese Feststellung erarbeitet Lossi mit Rückgriff auf Gadamers Hermeneutik ein Verständnis des Vorurteils, in dem dieses als positives Phänomen interpretiert wird, da es einen stets notwendigen Verstehenshorizont stifte. Diese Bestimmung des Vorurteils verbindet die Autorin mit Nietzsches Hervorhebung der Persönlichkeit des Urhebers einer Philosophie, in die sich dessen Vorurteile einschreiben. Lossis Interpretation verknüpft Nietzsches Ansatz einer Physio-Psychologie, die darauf abzielt, diese Vorurteile als solche zu erkennen, mit seinem Projekt einer Umwertung, wobei sie als leitende Absicht eine Transformation des herkömmlichen Philosophierens zu einem ,Selbstphilosophieren‘ erkennt: Wenn allgemein gilt, dass das Bewusstsein von unbewussten Triebkräften motiviert wird, zeigt sich nach Lossi im Trieb zur Philosophie der unbewusste Trieb zur Selbstgestaltung, der es erlaubt, den diversen Philosophien das Bild vom Selbst des jeweiligen Philosophen abzulesen. Die insbesondere in Jenseits von Gut und Böse thematisierte enge Bindung des Denkens an die Grammatik, wegen der sich auch philosophisch nur das als ‚Ich‘ ausdrücken lässt, was sprachlich zu fassen ist, erlaubt es der Autorin schließlich, nicht nur eine jede Philosophie, sondern auch ein jedes ‚Ich‘ auf die Sprache zurückzuführen. Ein verwandter Themenkreis, das Verständnis von Philosophie als ‚Selbstbekenntnis ihres Urhebers‘ wird in Helmut Heits Beitrag „Lesen und Erraten. Philosophie als ,Selbstbekenntnis ihres Urhebers‘“ zum Ausgangspunkt lektüremethodologischer Reflexionen. Ausgehend von Hegel konturiert Heit ein Philosophieverständnis, das Form und Inhalt scharf trennt und formale Aspekte philosophischer Werke als verunreinigende Elemente für deren Deutung ausschließt. Wenn sich die gegenwärtige Nietzscheforschung einen derartigen Zugriff auf Nietzsches Texte verbiete, stelle sich laut Heit erneut die Frage nach adäquaten Lektüremethoden. Heit sieht insbesondere in der anglo-amerikanischen Forschung ,philosophisch-rekonstruktive‘ Interpretationen am Werke, die sich dann als problematisch herausstellen, wenn sie über Widerstände der Texte hinweggehen, indem sie diese ausgehend von ihrem eigenen Horizont interpretativ überlagern. Als eine weitere gegenwärtig präsente Lesart markiert Heit ,kontextuell-philologische‘ Lektüren, die er an Nietzsches verstreute Lektüreanweisungen bindet und als deren Ausdruck er literaturtheoretische Interpretationen ebenso wie quellenkritische Herangehensweisen ansieht. Hierbei drohe jedoch die Gefahr, dass mögliche Inhalte von Nietzsches Denken in der Lektüre verloren gehen, wenn jegliche Thetik hinter die formale Gestalt der Texte zurücktritt. Den beiden genannten Lesarten fügt der Autor seine ‚psychologisch-entlarvende‘ Methode hinzu, die er aus JGB 6 entwickelt. Diese erlaube es, diverse Philosophien daraufhin zu befragen, was sie über ihre Urheber und deren Ziele verraten, auch wenn der Urheber letztendlich ebenso wenig auf eine Position
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festgelegt werden kann wie sein Text. Ausgehend von den präsentierten Interpretationsmethoden plädiert Heit für eine Lektüre, in der Lesen und Erraten als gleichwertige Aspekte einer Interpretation erachtet werden. João Constâncio fragt in seinem Aufsatz „On Nietzsche’s Conception of Philosophy in Beyond Good and Evil: Reassessing Schopenhauer’s Relevance“, inwiefern sich Nietzsches Konzept der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse auf Schopenhauers Denken beziehen lässt. Constâncio arbeitet dabei drei zentrale Thesen heraus: Erstens handle es sich bei Nietzsches Hypothese des ‚Willens zur Macht‘, obwohl diese als anti-metaphysisches und derartig auch anti-schopenhauerisches Konzept entwickelt wurde, um ein trotz allem an Schopenhauers Willensmetaphysik und deren metonymischer Analogie zwischen Selbst und Welt orientiertes ‚Theorem‘. Zweitens folge Nietzsche Schopenhauer trotz der im Spätwerk nachdrücklich werdenden Zurückweisung von dessen Methode der Selbstbeobachtung und des aus dieser hervorgehenden metaphysischen Dualismus auch darin, dass er in Jenseits von Gut und Böse selbst Formen der Selbstbeobachtung und die mit dieser einhergehende Perspektive der ersten Person zur Entwicklung der Hypothese des ‚Willens zur Macht‘ einsetzt. Dies führe drittens dazu, dass sowohl Schopenhauer als auch Nietzsche trotz ihres Wissens um den anthropomorphen Charakter ihrer metonymischen Analogien rein fiktionale Konzeptionen der Philosophie ablehnen. Auch Jakob Dellinger wendet sich in seinem Beitrag „Vorspiel, Subversion und Schleife“ dem Motiv des ,Willens zur Macht‘ in Jenseits von Gut und Böse zu. Hierbei distanziert er sich insbesondere von ,naturalistischen‘ Interpretationen, die den ‚Willen zur Macht‘ ausgehend vom Nachlass als propositionales Erklärungsmodell auffassen. Obwohl sich derartige Auslegungen mittels einiger Passagen von Jenseits von Gut und Böse bekräftigen ließen, weist Dellinger nach, dass die Inszenierung des Motivs in diesem Werk weitaus reflektiertere Interpretationen zulässt. Ausgehend von unterschiedlichen möglichen Bedeutungen des ,Vorspiels‘ in Jenseits von Gut und Böse wird auf Textsignale eingegangen, die einer rein thetisch orientierten Lesart im Wege stehen. Gerade im ersten Hauptstück mobilisiere der Autor ein subversives Inszenierungspotential, das sich nicht darin erschöpft, Positionen der philosophischen Tradition zu unterlaufen bzw. linear durch neue Positionierungen zu ersetzen. Auch der Rückgriff auf die Textgenese von Jenseits von Gut und Böse belege, inwiefern Leser gezielt dazu motiviert werden, die im Text vorgebrachte These vom ‚Willen zur Macht‘ und die Perspektive dessen, der sie inszeniert, zu hinterfragen. Dellinger zeigt somit auf, inwiefern Nietzsche nicht nur eine Symptomatologie bestimmter Denkmuster präsentiert, sondern kunstvoll Symptome exponiert, die es erlauben, den Text selbst in Frage zu stellen. Solcherart initiiere Nietzsches Denken eine Schleife, mittels derer sich das Motiv des ‚Willens zur Macht‘ in der Lektüre
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als ein simulatives Vorspiel im Rahmen einer wesentlich selbstbezüglichen Philosophie präsentiert. In seinem Beitrag „From Natural History to Genealogy“ stellt Anthony K. Jensen die historiographische Methode des fünften Hauptstückes von Jenseits von Gut und Böse „zur Naturgeschichte der Moral“, derjenigen von Zur Genealogie der Moral gegenüber. Jensens Aufsatz setzt mit einer Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des fünften Hauptstückes ein, im Zuge welcher er die zentralen intertextuellen Einflüsse der dort entwickelten ‚Naturgeschichte‘ freilegt. Dabei demonstriert er wie Nietzsche auf Basis dieser Quellen eine naturalistische „T y p e n l e h r e der Moral“ (JGB 186, KSA 5, S. 105) entwickelt hat, die insbesondere die komplexe Interaktion zwischen historischen Ereignissen und den diesen zeitgenössischen Moralen zu erfassen trachtet. Im Zentrum dieses Ansatzes stehe – so Jensen – ein von Goethe über Schopenhauer und Bachofen bis Burckhardt beeinflusstes Konzept von ‚Typus‘, welches Letzteren sowohl in seiner temporär-statischen als auch dynamischen Eigenheit aus einer realistischen Perspektive in den Blick nimmt, die ihre eigenen naturalistischen Vorannahmen durch die bedeutende Rolle, die in ihr die auf die Erfassung von ‚Urphänomenen‘ zielende intuitive Anschauung spielt, jedoch stellenweise durchbricht. Jensen folgert daraus: „Nietzsche’s critique of herd morality in NdM [=„zur Naturgeschichte der Moral“; die Hrsg.] therefore depends upon a realist historiographical attribution of naturalistic causes for a typological phenomenon found in the present.“ Anders verhalte es sich laut Jensen in der Schrift Zur Genealogie der Moral. Obwohl Nietzsche auch dort zu beinahe den selben moralkritischen Resultaten gelange wie ein Jahr zuvor in Jenseits von Gut und Böse, tue er dies in Zur Genealogie der Moral mit Hilfe einer anderen historiographischen Methode: Während der ‚Naturhistoriker‘ aus JGB V die Gewordenheit der von ihm untersuchten Moralen zugesteht, jedoch die Gewordenheit seiner eigenen Methode ausklammert, inkludiere der ‚Genealoge‘ aus Zur Genealogie der Moral auch diese in seine eigenen methodologischen Vorannahmen, wodurch dessen Deutungen zu konstruktiven Interpretationen realer Sachverhalte werden, die aufgrund ihres temporal-subjektiven, sprich: perspektivistischen Charakters nicht als realistische Auslegungen verstanden werden dürfen. Wie schon Jensens Beitrag verlässt auch Werner Stegmaiers Aufsatz „Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart“ den werkimmanenten Rahmen des vorliegenden Bandes. Im Zuge einer textnahen Lektüre ausgewählter Aphorismen stellt der Autor die Frage nach der Tauglichkeit der dort gelieferten philosophischen und politischen Konzepte für unsere Gegenwart. Im Mittelpunkt steht dabei der deutende Nachvollzug der von Nietzsche insbesondere in JGB 203 sowie dem sechsten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse artikulierten Hoffnung auf neue Philosophen als „Befehlshaber“, „Führer“ und „Gesetzgeber“ auf
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der heuristischen Basis einer „Philosophie der Orientierung“: Ausgehend von der Diagnose des Nihilismus, also der Einsicht in die Haltlosigkeit der bisher obersten Werte, habe Nietzsche versucht, Wege und Mittel zu finden, den daraus resultierenden Zustand vollkommener Desorientierung zu meistern. Dafür experimentierte er mit den Typen des „Versuchers“ und den „Philosophen der Zukunft“, welche in der Lage seien, der Orientierung von sich aus Halt zu geben und deren höchste Stufe Nietzsche als die „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n “ (JGB 211, KSA 5, S. 145) bezeichne. Letztere sollten laut Nietzsche – so Stegmaier – als „G e s e t z g e b e r “ (JGB 211) eine Grundverfassung der menschlichen Orientierung setzen können. Derartig habe Nietzsche den höchsten Anspruch an die Philosophie seit den Griechen gestellt und diesen zugleich mit dem höchsten Pathos verbunden. Trotz des unleugbaren Faktums, dass die mit diesem Philosophieverständnis einhergehende ‚Aufgabe‘ gegenwärtig überholt erscheint, zeigt Stegmaier anhand einer präzisen Beschreibung derjenigen inhaltlichen und formalen Momente in Nietzsches Denken, die diesen hohen Anspruch unterlaufen ohne ihn vollständig zu brechen, dass gerade in diesen Momenten ein immenses philosophisches Potential für unsere Gegenwart liegt. Mit dem Beitrag „,Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung‘. Nietzsches ‚subtiles‘ Schreiben in Jenseits von Gut und Böse“ von Martin Endres setzen diejenigen Lektüren ein, die sich auf einen einzelnen Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse fokussieren. Im Zentrum von Endres’ Text steht der Aphorismus 24, mit dem das zweite Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse eröffnet wird. Endres orientiert sich an der Frage, wie das im Titel des Werkes eingeführte „Jenseits“ von Gegensätzen „gedacht und sprachlich zur Darstellung gebracht werden kann, wenn sich Gegensätze unablässig in jedes Urteil, in jede begrifflich-propositionale Aussage“ einschreiben. Ausgehend von dieser Fragestellung gelingt es Endres, die von Nietzsche selbst in GM II 13 gelieferte ‚Definition des Begriffs‘ als historisch bedingte ‚Verflüssigung des Sinns‘ in ihrer konkreten performativen Umsetzung in JGB 24 nachzuzeichnen. Dabei zeigt der Autor – nicht zuletzt durch die Berücksichtigung des in den ‚Vorstufen‘ und dem Druckmanuskript dokumentierten Schreibprozesses –, dass besagte ‚Verflüssigung des Sinns‘ auf der sprachlich-darstellerischen Ebene von JGB 24 nicht zu einer von Teilen der Forschung häufig konstatierten semantischen Ambivalenz führt, sondern eine Form des ‚subtilisierenden‘ Schreibens zeitigt, welches qua performativer Vorführung besagter Gegensätze diese zwar nicht vollständig hinter sich lässt, aber soweit ausdifferenziert, dass es dadurch zu einer partiellen ‚Erkenntniserweiterung‘ kommt. Letztere verdanke ihren kognitiven Status der Tatsache, dass die solcherart ‚inszenierten‘ Einsichten eben nicht propositional ausgesagt, sondern im Sagen ‚gezeigt‘ und zugleich auf die Bedingung ihrer Möglichkeit hin befragt werden.
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Konzentriert sich Endres Beitrag auf die sprachliche Umsetzung eines der zentralen erkenntnistheoretischen Probleme von JGB, wendet sich Enrico Müllers Text „Geist und Liebe zur Maske. Zu Aphorismus JGB 40 und Nietzsches Personenbegriff“ dem Persönlichkeitskonzept in Jenseits von Gut und Böse zu. Auf Basis des antiken persona-Begriffes, welcher noch die gegenwärtig als Gegensätze verstandenen Konzepte von ‚Rolle‘ und ‚Person‘ in sich vereinigte, zeichnet Müller Nietzsches vielfältige Verwendung des Masken-Motivs nach. Dabei zeigt er, dass Nietzsche mit dem von ihm inaugurierten ‚Sprachspiel der Maske‘ einen Personenbegriff entwickelt, der sich reflexiv an dessen antikem Verständnis abarbeitet und solcherart zu einer Persönlichkeitskonzeption gelangt, die sich aufgrund ihrer Dynamizität nur mehr über die diagnostische Deutung der je nach Kontext wechselnden Masken rekonstruieren lässt. Als zentralen Ort der Entwicklung dieses Persönlichkeitskonzepts weist Müller das zweite Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse aus, aus dessen Kontexten er auch den für seine Deutung zentralen Aphorismus JGB 40 liest. In diesem weist er im Zuge seiner textnahen Lektüre, dabei selbst sich besagten diagnostischen Prozederes bedienend, eine komplexe Diätetik des Maskengebrauchs nach, die auf einer Ökonomie der Scham fußt, ohne welche die Realisierung der Lebens- und Denkform des ‚freien Geistes‘ zum Scheitern verurteilt wäre. Ein weiteres zentrales Moment der anthropologischen ‚Grundannahmen‘ von Jenseits von Gut und Böse wird in Marco Brusottis Beitrag „‚der schreckliche Grundtext homo natura‘: Texturen des Natürlichen im Aphorismus 230 von Jenseits von Gut und Böse“ untersucht. Brusotti analysiert darin die Bedeutung und Funktion des Schlagwortes ‚homo natura‘ anhand einer die Textgenese von JGB 230 berücksichtigenden Lektüre. Dabei demonstriert er eingangs im Zuge einer Nachzeichnung der Titelentwürfe verschiedener Hauptstücke von Jenseits von Gut und Böse, dass das gesamte Werk sowie die im Anschluss an es entstandenen späten Vorreden zu den Neuauflagen von Nietzsches Werken 1886/87 sich im Kontext einer ‚(Auto-)Naturgeschichte des freien Geistes‘ bewegen. Diese trete auch ins Zentrum des textgenetisch zwei thematische Stränge – den Versuch der Naturalisierung des ‚Geistes‘ sowie des Programmes der Rückübersetzung des Menschen in die Natur – in sich vereinigenden Aphorismus JGB 230. In diesem komme es laut Brusotti zu einer diese zugleich verabschiedenden Freilegung der Irrtümer einer metaphysischen Anthropologie, an deren Stelle implizit eine selbstbezügliche, auf die in JGB 229 ausgeführte ‚Grausamkeit des Erkennenden‘ zurückverweisende Beantwortung der Jenseits von Gut und Böse insgeheim leitenden und am Ende von JGB 230 explizit gestellten Frage „‚warum überhaupt Erkenntniss?‘“ (KSA 5, S. 169) trete. Auch Corinna Schuberts Beitrag „,Wanderer, wer bist du?‘ Überlegungen zu Maske und Dialog, Figur und dem Vornehmen in Jenseits von Gut und Böse 278“
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setzt sich anhand des Maskenmotivs mit der Persönlichkeitskonzeption von Jenseits von Gut und Böse auseinander. Ausgehend von einer Analyse des Aufbaus und der sprachlichen und gedanklichen Durchformung von JGB 278 weitet sie ihre Untersuchung schrittweise auf andere Partien von Jenseits von Gut und Böse und Nietzsches anderen Werken bis in den Nachlass aus. Durch die Spannweite ihrer kontextuellen Einbettung von JGB 278 bekommt die Autorin unterschiedliche ‚Schichtungen‘ des von ihr untersuchten Motivs zu fassen, das sie auf Themen wie die Vornehmheit und die Ehrfurcht bezieht und eng mit der Figur des Wanderers verknüpft. Auf dessen Auftreten in anderen Werken geht Schubert ebenfalls ein, um derartig die vielschichtigen und nicht zu fixierenden Maskierungen unterschiedlicher Perspektiven in Jenseits von Gut und Böse herauszuarbeiten. Diese prägen die Dialogsituation des untersuchten Aphorismus’ deutlich, aus dem die Autorin die Frage nach der Produktion von Identitäten herausschält, die sich laut ihr in ihrem Widerspiel nicht fixieren lassen. Den Abschluss des Bandes bildet Christian Bennes Beitrag „‚ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!‘: Synästhetische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse 296“. Benne liest den letzten Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse als herausragendes Beispiel der mittlerweile immer stärker in den Fokus der Forschung rückenden Werkpolitik des späten Nietzsche, die im strategischen Einsatz verschiedener Formen des Paratextes – insbesondere der späten Vorrede – ihre offensichtlichste Ausprägung finde. Ausgehend von der exponierten Stellung von Aphorismus 296, welche dessen herausragenden metareferentiellen Status auch strukturell unterstreicht, widmet sich Benne einer ‚synästhetischen Lektüre‘ des Textes, die unter bewussten Vorbehalten zahlreiche der in ihm angelegten poetologischen Reflexionen freilegt. Dabei zeigt Benne wie Nietzsche in JGB 296 durch den Einsatz verschiedener rhetorischer Mittel die Topoi der Unmöglichkeit direkter Gedankenübertragung und der Unsagbarkeit als Bedingungen der philosophisch-schriftstellerischen Existenz reflektiert. Besagtes Kommunikationsproblem werde vom Aphorismus nicht so sehr als Folge der Vergegenständlichung von Gedanken durch die Schrift, sondern als Konsequenz der dieser eignenden Temporalität ausgewiesen. Letztere werde vom Text jedoch nicht nur behauptet, sondern sowohl durch seine Bildlichkeit als auch durch die ihn prägende Sprachmusik regelrecht vorgeführt.
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Text, Autor, Perspektive Zur philosophischen Bedeutung von Textualität und literarischen Inszenierungen in Jenseits von Gut und Böse Ich bin auch bei der Bildung von Zusammenhängen vorsichtig geworden. Ich sage nicht während der Regen gegen die Fenster stürzt, schleifen wir die Untergänge vor uns her, sondern ich sage der Regen, der gegen die Fenster stürzt und die Untergänge vor sich herschleifen und so fort. Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. Ilse Aichinger: Schlechte Wörter
Einleitung1 Die Frage, die in ausgezeichneter Weise an Nietzsches Werke gerichtet werden kann – und sollte – ist die nach der philosophischen Bedeutung der Darstellungsformen für seine Philosophie. Obwohl die Schreibweisen und literarischen Inszenierungen in der Nietzscheforschung der letzten Jahrzehnte eine Rolle spielten, wurden grundlegende Konzepte selten einer terminologischen Klärung unterzogen, um sie ins Zentrum der Nietzsche-Lektüre zu rücken.2 Paradigma-
1 Der erste Abschnitt „Auf der Suche nach dem ‚authentischen Text‘. Editionsphilologische und literaturtheoretische Konsequenzen der Textualität für eine philosophische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse“ stammt von Axel Pichler, der zweite „,Fusstapfen zur Selbsterkenntnissʻ: Zur performativen Exposition des Denkens in Jenseits von Gut und Böse“ von Marcus Andreas Born. 2 Laut Alfons Reckermann 2003, S. 22 war Georges Bataille einer der ersten Nietzsche-Exegeten, der dessen Schreibweisen ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie gestellt hat. Im Rahmen der französischen Nietzsche-Renaissance sind ihm dann Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Sarah Kofman und Bernard Pautrat in dieser Zugangsweise gefolgt. In der angelsächsischen Forschung haben Autoren wie Paul de Man, Alexander Nehamas und Bernd Magnus diesen, von Letzterem als ‚postmodern‘ bezeichneten Zugang aufgenommen. Vgl. de Man 1988, Nehamas 1985 und Magnus/Stewart/Mileur 1993. Ohne die der Mehrheit der zuvor genannten Autoren eignenden starken sprachphilosophischen Vorannahmen haben jüngst in der deutschsprachigen Nietzscheforschung insbesondere Claus Zittel 2011 [2000], Daniela Langer 2005 und Werner Stegmaier 2012 die Verschränkung von Form und Inhalt in Nietzsches veröffentlichten Schriften zum Ausgangspunkt ihrer Nietzscheinterpretationen gemacht und sie unter die Kennzeichnungen eines „ästhetische[n] Kalküls“ (vgl. Zittel 2011 [2000], S. 12) bzw. „Nietzsches Formen philosophischer Schriftstellerei“ (vgl. Stegmaier 2012, S. 7–14) gebracht.
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tisch spiegelt sich dieses Vorgehen wider in der seit den sechziger Jahren immer wieder aufgegriffenen Debatte um die Bedeutung der sprachlich-textuellen Unterschiede zwischen den veröffentlichten und den nachgelassenen ‚Fassungen‘ von Aphorismus 36 aus Jenseits von Gut und Böse, der eine der umfangreichsten Darlegungen des Willens zur Macht in den von Nietzsche autorisierten Werken bietet.3 Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit diesem ‚Text‘ schreibt Wolfgang Müller-Lauter, dass entgegen Karl Schlechtas Betonung der „Vorsicht“, die Aphorismus 36 bedingt durch die fast durchgehende Verwendung des Konjunktives durchwalte, es verfehlt sei – wie es schon Alfred Baeumler ausgedrückt hatte – „‚ein Stilmittel als eine sachliche Distanzierung im Hauptpunkt‘ auszulegen“ (Müller-Lauter 1999, S. 35). Müller-Lauter stützt diese These durch einen Vergleich des publizierten Aphorismus’ mit einer vermeintlichen Vorstufe aus dem Nachlass (vgl. NL 1885, KSA 11, 38[12]), in welcher Nietzsche sich „mit unzweideutiger Entschiedenheit“ ausspreche, um dann zu folgern: „Geht es um die Herausarbeitung von Nietzsches letzten ‚Einsichten‘ […], so verdient hier – wie in anderen Fällen aus anderen Gründen – der Nachlaßtext, der ‚Vorstufe‘ ist, den interpretatorischen Vorrang gegenüber der veröffentlichten Fassung.“ (MüllerLauter 1999, S. 36)4 Dieser These, d. h. der Auffassung, dass Nietzsches Nachlass philosophisch den veröffentlichten Schriften vorzuziehen und dass die Darstellungsform dem philosophischen Gehalt unterzuordnen sei,5 ist entschieden widersprochen worden. So konstatiert zum Beispiel Ernst Behler: „Während sich Nietzsches gedruckt erscheinende Schriften gewöhnlich apodiktischer Festlegung entziehen, fehlt in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen meist die zweite, durchkreuzende oder gegenwirkende Schreibweise.“ (Behler 1988, S. 24)6
3 Zu JGB 36 siehe auch Jakob Dellingers Beitrag in diesem Band. 4 Dass es sich bei diesem Notat nicht eigentlich um eine ‚Vorstufe‘ im strengen Sinne der KGWHerausgeber handelt, hat Beat Röllin verbaliter bestätigt. Für eine eingehendere Beschäftigung mit JGB 36 und dieser Problematik siehe Endres/Pichler 2013. 5 Vgl. Heidegger 1961, Danto 1998 [1965], Abel 1984 und Gerhardt 1996. 6 Ein aus Bernd Magnus, Stanely Stewart und Jean-Pierre Mileur gebildetes Autorenkollektiv gelangt zu einem ähnlichen Resultat, wenn es im Rahmen der Zweiteilung der Nietzscheforschung in ‚lumpers‘ und ‚splitters‘ als zentrales Unterscheidungskriterium zwischen den diesen beiden Gruppen eignenden Lektüreansätzen den Umgang mit Nietzsches Nachlass bestimmt (vgl. Magnus/Stewart/Mileur 1993, S. 35–47). Die zweite Gruppe – die ‚splitters‘ –, der sich das Kollektiv selbst zurechnet, kennzeichnet sich durch die Auffassung „that Nietzsche’s philosophy cannot be divorced from his style“ (Magnus/Stewart/Mileur 1993, S. 37), was zu einer interpretativen Bevorzugung des veröffentlichten Werkes führt.
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Anküpfend an diese Problemkonstellation soll im ersten Teil dieses Aufsatzes die Frage nach der Bedeutung der Textualität für Nietzsches Denken gestellt werden. Diesbezüglich ist festzustellen, dass die scheinbar triviale Tatsache, dass uns Nietzsches Philosophieren in Form von Texten überliefert wurde, den Exegeten vor der eigentlichen Textinterpretation bereits eine bedeutende heuristische Vorentscheidung abnötigt, nämlich diejenige, wie er mit den konstitutiven Eigenschaften von Nietzsches Texten umgeht und welchen Textbegriff er seiner Untersuchung zu Grunde legt. Wie ein Blick in jüngere editions- und literaturtheoretische Debatten zeigt, ist diese Entscheidung weitaus weniger trivial als man gemeinhin annimmt. Der erste Teil dieses Aufsatzes widmet sich daher primär der Frage, welche zusätzliche Optionen aus den text- und editionstheoretischen Debatten der Gegenwart für die Nietzsche-Deutung gewonnen werden können. Der zweite Teil des Aufsatzes geht schließlich Textsignalen nach, die die leicht von der Hand gehende Identifizierung der vielfältigen unterschiedlichen Perspektiven, die sich in Jenseits von Gut und Böse ausdrücken, mit ihrem Autor in Frage stellen.7 Damit wird der Fokus entschieden auf das Werk und seine Gestaltung gelegt und gezeigt, dass die literarische Gestaltung, die sich unter anderem in wörtlicher Rede, kurzen Dialogen und Brechungen diverser Sprecherperspektiven ausdrückt, es nicht erlaubt, sie ohne ein Übermaß an interpretativer Gewalt auf eine Position zurückzuführen. Hierbei stellt sich als besonderes Merkmal von Nietzsches Schrift heraus, dass einige der in ihr philosophierenden Perspektiven als solche exponiert werden, wenn sie auf ihre Verstrickung in eigene Vorurteile verweisen.
Die umfangreichste Ausformulierung der Differenzen von Nachlass und veröffentlichtem Werk stammt von Claus Zittel, der konstatiert, dass „[d]en veröffentlichten Schriften […] qua Form ein Reflexionsgrad mehr als den nachgelassenen Aufzeichnungen“ (Zittel 2000, S. 138 f.) eigne. 7 Zum subtilen Spiel mit Sprecherfiguren und Eigennamen vgl. auch Derrida 2000.
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1 Auf der Suche nach dem ‚authentischen Text‘. Editionsphilologische und literaturtheoretische Konsequenzen der Textualität für eine philosophische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse Die folgende Auseinandersetzung mit der Textualität von Nietzsches Philosophie wird im Wesentlichen auf Resultate der jüngeren Editions- und Literaturtheorie zurückgreifen, die in der Einsicht kulminieren, dass „[e]inen Textbegriff einzuführen, ohne zugleich den Begriff der Textkritik zu reflektieren, sich immer als problematisch erweisen“ (Reuß 2005, S. 4) wird. Wir werden uns also als erstes dem Status sowie den Problemen der Edition von Nietzsches Texten zuwenden. Die diese bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bestimmende Verfälschungsgeschichte ist hinlänglich bekannt.8 Weitaus weniger geläufig sind die editorischen Problemata, die aufgrund von damals zeitgemäßen editionsphilologischen Grundentscheidungen in die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari ab 1967 in Angriff genommene Kritische Gesamtausgabe der Werke und damit in die Kritische Studienausgabe eingegangen sind, die in der Nietzscheforschung immer noch weitgehend unreflektiert als Grundlage der Interpretationsarbeit in Anspruch genommen werden. 1982 hat Montinari eine seiner zentralen Editionsvorgaben lakonisch zusammengefasst: Mit seiner Ausgabe von Nietzsches Werken „soll der handschriftliche Nachlaß in seiner authentischen Gestalt bekannt werden“ (Montinari 1982, S. 118). Wie Davide Giuriato und Sandro Zanetti in Anknüpfung an wegbereitende Überlegungen von Wolfram Groddeck und Michael Kohlenbach9 überzeugend dargelegt haben, hat insbesondere die Frage nach der vermeintlich „authentischen Gestalt“ von Nietzsches Nachlass nach Montinaris frühem Tod 1986 auf der Grundlage jüngerer Entwicklungen in der Textkritik10 zu der Einsicht geführt,
8 Siehe hierzu: Montinari 1982, S. 92–119 und KSA 14, S. 383–400; Müller-Lauter 1995, S. 223– 260; Fornari 2000, S. 143–149 sowie die jüngst erschienene Monographie von Beat Röllin 2012. 9 Siehe dazu: Groddeck 1991 sowie Groddeck/Kohlenbach 1995. 10 Bei diesen Entwicklungen handelt es sich insbesondere um den im deutschsprachigen Raum von Editionstheoretikern wie Siegfried Scheibe, Hans Zeller und Gunter Martens forcierten Paradigmenwechsel vom Verständnis eines ‚Textes‘ als fixiertes linguistisches Objekt, dessen Varianten nicht zu ihm gehören, zu einem dynamischeren Textbegriff, der unter ‚Text‘ einen „Komplex aller Textvariationen und Varianten“ (Bremer/Wirth 2010, S. 243) versteht.
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daß Montinaris Editionspraxis in ihrem Versuch, Nietzsches Niederschriften in chronologischer Anordnung zu rekonstruieren, mit ihrerseits fragwürdigen Kategorien operiert hatte, durch welche aus Nietzsches schwer lesbaren Notizen, Aufzeichnungen und Entwürfen linearisierte Texte in Form von Vorstufen und Fragmenten entstanden sind. Die textkonstituierende Behandlung von Nietzsches Aufzeichnungen basierte dadurch auf einer Interpretationsfolie, die dem Anspruch, die „authentische[…] Gestalt“ zugänglich zu machen, nicht genügen konnte. (Giuriato/Zanetti 2003, S. 90 f.)
Das Streben nach einer vermeintlich „authentischen Gestalt“ führte bekannterweise zur Edition des Nachlasses in der KGW IX. Deren Herausgeber treten entschieden der auch in der Nietzscheforschung nicht selten anzutreffenden Vorstellung entgegen, dass Texte einfach vorliegen (vgl. Reuß 2005, S. 5), insofern sie in den „Editorischen Vorbemerkungen“ festhalten: „Die Wiedergabe von Handschrift im typographischen Satz ist auch bei einer auch noch so differenzierten Druckgestaltung nicht als Abbildung (‚mimesis‘), sondern eher als Resultat einer Übersetzung (‚interpretatio‘) von einem polymorphen in ein stereotypes Schreibsystem zu verstehen.“ (KGW IX/1, S. XV) Nimmt man diesen Sachverhalt ernst, verbietet es sich, unreflektiert „zur eigentlichen Tagesordnung überzugehen“ (Montinari 1982, S. 118), wie es Montinari nach der Destruktion des Mythos eines von Nietzsche geschrieben Buches mit dem Titel Der Wille zur Macht zu tun gehofft hatte: Wenn die stets interpretierende Textkonstitution die weiteren Schritte der Deutung mitbestimmt, müsste eigentlich jede Nietzscheinterpretation vor der ‚vermeintlichen‘ Auslegung des Textes ihr Textverständnis offenlegen. Äußerungen wie die eingangs zitierte von Müller-Lauter geraten vor diesem Hintergrund in den Verdacht, auf den reflexiven Einbezug eines die eigene Auslegung entscheidend beeinflussenden Elementes verzichtet zu haben, was zu einer Einschränkung ihrer Glaubwürdigkeit führt. Wie Textbegriff und Textkonstitution die weitere Deutung beeinflussen, soll an einem Beispiel demonstriert werden. Dabei bietet es sich an, sich eines Textes zu bedienen, dessen Bedeutung für die in Jenseits von Gut und Böse zur Anwendung gebrachte Darstellungsform bereits gut erforscht ist. Dies trifft auf den Aphorismus 246 zu, der in den letzten Jahren im Mittelpunkt zahlreicher Untersuchungen zu Nietzsches Schreibweisen und dem diesen zugrunde liegenden Stilbegriff gestanden hat.11 Durch den Rückgriff auf ein in seiner veröffentlichten Fassung bereits gut erforschtes ‚Werksegment‘ wird es möglich, sowohl die von der Editions- und Literaturtheorie herausgearbeiteten Unterschiede zwischen
11 Dazu zählen insbesondere die Beiträge von Renzi 1997, van Tongeren 2000, Benne 2012 und Stegmaier 2012.
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‚abgeschlossenem‘ Drucktext und ‚unabgeschlossener‘ Handschrift zu verdeutlichen als auch das heuristische Potential einer als Handschrift vorliegenden ‚Vorstufe‘ für die Deutung eines veröffentlichten Textes zu demonstrieren. Wirft man einen Blick auf die Textgenese des besagten Aphorismus’, so fällt dabei insbesondere auf, dass weder in der KGW VI – aufgrund des Fehlens eines Nachberichtes – noch in der KSA Vorstufen oder Varianten besagten Textes zu finden sind. Anders verhält es sich in der KGW IX. Dort findet sich im Heft W I 8 ein Notat12, das von Colli und Montinari aufgrund seines vermeintlichen Vorstufencharakters – d. h. aufgrund seiner unmittelbaren formalen Nähe zum später im Werk veröffentlichten Aphorismus13 – nicht in einen der Nachlassbände aufgenommen worden ist und das in dem durch die Änderung des Editionsplanes der KGW nun wohl nicht mehr veröffentlichten Nachbericht hätte unterkommen sollen (vgl. W I 8, S. 266; siehe auch Abb. 10a/b). Vergleicht man diese Aufzeichnung mit dem in JGB gedruckten Aphorismus, stechen die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen schnell ins Auge. So rutscht die am Anfang des Notats stehende Kontrastierung von jenem, der „seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt“ (W I 8, S. 266) mit jenem „Andere[n], dem die Worte zögernd wie von {einer ver} {der} Decke einer feuchten Höhle herabtropfen, kalt, mit einem dumpfen Wiederhall“ (W I 8, S. 266) ans Ende von JGB 246 und wird dabei zugleich in ihrer Reihenfolge umgekehrt. Im veröffentlichten Aphorismus heißt es dann: „Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle — er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang — und einen Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt“ (JGB 246, KSA 5, S. 189)14. Neben der Umkehrung hat sich auch die weitere Satzstellung verändert und das Bild von den geräuschvoll herabtropfenden Worten ist aufgebrochen worden und ein einstiger Teil desselben – der „Wiederhall“, der nun ein „Wiederklang“ ist – wird dem Bewusstsein eines der beiden dargestellten antagonistischen Sprachverwender
12 Der synonym zur ‚Aufzeichnung‘ gebrauchte Terminus ‚Notat‘ stammt von der KGW IXHerausgeberin Marie-Luise Haase und ersetzt in der jüngeren Forschung die lange Zeit übliche Bezeichnung von Nietzsches nachgelassenen ‚Texten‘ als ‚Fragmente‘. Vgl. Stegmaier 2007, S. 90, Fußnote 29. 13 In den „Editorischen Grundsätzen zur Kritischen Studienausgabe“, welche denjenigen der KGW folgen, führen Colli und Montinari folgende Kriterien zur Begründung an, ob ein ‚Text‘ als linearisiertes ‚Fragment‘ in den eigentlichen Nachlassbänden oder als ‚Vorstufe‘ in den Nachberichtsbänden veröffentlicht wurde: „Von den Vorstufen und Vorarbeiten zu allem, was sich in den von Nietzsche selbst veröffentlichten Werken oder auch im Nachlaß in einer ausgearbeiteten Form überhaupt vorfindet, wurden diejenigen ausgeschlossen, die sich von der späteren Fassung rein formal unterscheiden“ (KSA 14, S. 19). 14 Sämtliche im Folgenden nicht ausgewiesenen Zitate stammen aus JGB 246, KSA 5, S. 189.
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und Schriftstellertypen zugeschrieben.15 Das diese Kontrastierung abschließende Bild des seine Sprache wie einen Degen handhabenden Schriftstellers, der „vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beissen, zischen, schneiden will. —“16 findet sich im Notat noch nicht. Eine weitere Verschiebung besteht darin, dass das Ende des Notats an den Anfang des veröffentlichten Aphorismus wandert. Dabei fällt insbesondere das Fehlen des durch eine Interpretation von Luca Renzi in der Nietzscheforschung zu Ehren gelangten „dritten Ohr[s]“ in der früheren Fassung auf (vgl. Renzi 1997). Dort ist schlichtweg von demjenigen, „der Ohren hat“, die Rede. Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Unterschied liegt im Vorhandensein des potentiellen Autokommentars vom Wissen darüber, „dass K u n s t in jedem guten Satze steckt“, in der Druckfassung. Auf die Differenzen zwischen dieser Stelle und dem intensiv überarbeiteten Mittelabschnitt der ‚Vorstufe‘ wird später noch ausführlicher eingegangen werden. An diesem Punkt kann rückblickend auf die zuvor kurz referierten editionsphilologischen und texttheoretischen Reflexionen allerdings schon festgehalten werden: Je nachdem welchem Textbegriff man folgt, wird man diese Veränderungen und Verschiebungen anders hinterfragen und beurteilen müssen. So wird ein ‚bloß‘ am philosophischen Gehalt interessierter Leser in den beiden ‚Texten‘ wohl nur nebensächliche formale Variationen desselben ‚Gedankens‘ sehen und somit die Gegenüberstellung der beiden Fassungen als philosophisch irrelevant beiseite schieben. Für einen solchen Leser stellt die vermeintlich philosophisch ergiebigere Fassung den ‚authentischeren‘ Text dar, wobei die philosophische Ergiebigkeit wiederum von dem ihr zugrundeliegenden Philosophieverständnis abhängt. Auf diesem Wege wird die faktisch gegebene Materialität des Textmonumentes aufgrund philosophischer Präsuppositionen unbedacht zur Seite geschoben.
15 Luca Renzi hat als reale Vorlagen der beiden hier skizzierten Typen Eugen Dühring und Nietzsche selbst identifiziert (vgl. Renzi 1997, S. 341). Renzi selbst verblüfft diese versteckte Autoreferenz aufgrund der Tatsache, „daß Nietzsche schließlich sich selbst als den gut-schreibenden ‚Meister‘ versteht und somit das Rätsel oder, besser gesagt, den Widerspruch seiner Kritik an dem Schreiber/Leser löst: den Widerspruch, der darin besteht, daß Nietzsche selbst die deutschen ‚Bücher‘ kritisiert, indem er auf Deutsch schreibt und, trotz der heftigen Kritik an der geschriebenen Sprache, seine Meinung letztlich schriftlich zum Ausdruck bringen muß“ (Renzi 1997, S. 342 f.). Dieser Widerspruch – sprich: die Tatsache, dass Nietzsche schreibend die Schrift kritisieren muss – wird uns im Folgenden noch eingehender beschäftigen. 16 Auf die spornenden Eigenschaften eines Degens muss hier wohl nicht eigens hingewiesen werden. Zum Zusammenhang von Sporn/Sporen und Stil bei Nietzsche siehe: Derrida 2007 [1973].
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Wie aufschlussreich diese bei ihrer genauen Beachtung auch für philosophische Fragen sein kann, soll an dem noch nicht besprochenen Mittelteil des Notats sowie dessen Parallelstelle im Druckmanuskript gezeigt werden. Dabei werden diese als Kontrastfolie dem veröffentlichten Text mit dem Ziel gegenübergestellt, die Eigenheiten von Letzterem noch klarer hervortreten zu lassen. Hierbei wird einem Verständnis von Text gefolgt, welches diesen „in seinem konkreten, materiell-medialen Objektstatus [untersucht …,] der als Erweiterung der genuin sprachlichen Zeichenstruktur und ihrer bedeutungsgenerativen Aspekte“ (Kammer/Lüdeke 2005, S. 15) verstanden wird. Versucht man sich an der Schaffung einer möglichst linearen Darstellung des Mittelteils des Notats17 und verzichtet dabei nicht auf die Aufnahme der Einschübe und Streichungen, ergibt sich folgende Lesart: {Aber wer unter D. weiß, wer fordert von sich zu wissen, oder} Daß {zum nächsten Verständnisse eines jedes Satzes gehört: zu wissen,} {nöthig ist noth thut: daß man nicht im Zw. ist} {in welchem Tempo er läuft, ob} {ob er vielleicht}, jede Stil=Art ihr Tempo hat, die Reize der Tempo=Wech-sel, die {versucht, ob er} staccati u. rubati {vorher giebt}, daß man die {über die} metrisch entscheidenden Silben fühlt daß {nicht im Zweifel ist, – daß man} daß der Satz {als} ein klingendes Ganze ist {/nimmt u. hört} daß die Consonanten u. Diphthonge in ihrem Hinter- und Neben {Gegen} einander sich umfärben u. neu {an neu} abtönen (W I 8, S. 266; Lesart erstellt von A.P.; siehe auch Abb. 10a/b)
17 Zur Problematik einer derartigen Linearisierung von Nietzsches Autographen siehe die Rezension von Hubert Thüring zu den ersten Bänden der KGW IX. Thüring bringt die editionsphilologische Problematik von Nietzsches Nachlass folgendermaßen auf den Punkt: „Wo weiterhin unendliche Interpretationen von Nietzsches Nachlaß abgeschöpft werden sollen, wird man bei den Lesetexten der Nachgelassenen Fragmente bleiben; denn jede Interpretation setzt einen zitierbaren Text voraus, den sie in Anführungszeichen setzt, um zu sagen, ‚was er eigentlich sagt‘. Die handschriftlichen Dokumente, als die der Nachlaß nun vorliegt, sind jedoch, bevor sie gelesen werden können, ein Geschehen, das gesehen und beschrieben werden muß. Die Konstitution von lesbarer Bedeutung bleibt in dieses Geschehen involviert, ohne daß je ein Sinn davon abgelöst, fixiert und interpretiert werden könnte. Jede Genese von Text steht, ob auf seiten der Produktion oder der Rezeption, im Dienst der Herstellung von Zitierbarkeit.“ (Thüring 2003). In Anknüpfung an diese Ausführungen bietet der hier gebrachte Transkriptionsvorschlag einen Mittelweg zwischen dem Nachvollzug des Geschehens in bzw. auf dem Manuskript und der sinnkonstituierenden Lektüre eines linearisierten Notats. Die Widerstände, welche die in diese Transkription übernommenen Streichungen sowie die Kennzeichnung der Einfügungen einem rein sinnkonstituierenden Lesen entgegensetzen, sind insofern das Resultat eines Kalküls von Seiten des Textkonstituenten, das von der Hoffnung getragen wird, dass die aus diesen Widerständen folgenden Irritationen den Leser dazu bewegen, den Schritt zur Beschäftigung mit der diplomatischen Transkription oder gar der Handschrift zu wagen.
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Das Manuskript dokumentiert, dass genau an dem Punkt, an welchem sich der Text der Problematik des Tempos und der Akzentuierung der Prosa zuwendet, zahlreiche Überarbeitungen stattgefunden haben. Diese auf den ersten Blick banale Tatsache ist gerade bei einem Schriftsteller wie Nietzsche, dessen Selbstcharakterisierungen gerne unüberprüft als Beleg eines performativen Schreibens herangezogen werden,18 höchst bedeutungsvoll. Die zahlreichen Überarbeitungsspuren im Notat können nämlich einerseits tatsächlich als Streben nach einem performativen Schreiben gelesen werden – d. h. als die formale Umsetzung des im Text inhaltlich Ausgedrückten –, belegen aber andererseits durch ihren unvollendeten Charakter auch das stets mögliche Scheitern dieses Unterfangens. Das in der Handschrift dokumentierte und als Misslingen des performativen Schreibens deutbare Textgeschehen öffnet dem Leser zugleich eine zusätzliche Deutungsebene jenseits des eigentlichen Schreibprozesses. Es bietet sich an, die in der spekulativen Deutung der Überarbeitungsspuren im Manuskript nachvollziehbar gewordene Tendenz zur Verschränkung von Inhalt und Form als konkreten Ausdruck jener philosophisch-abstrakten Problematik zu verstehen, die in Jenseits von Gut und Böse auf die Formel einer ‚Philosophie der Grammatik‘ gebracht wird. Diese kulminiert in der These, dass die jeweilige Sprache – verstanden als konventionelles Denkschema oder, wie es in JGB 20 heißt, als „unbewusste[] Herrschaft und Fügung durch gleiche grammatische Funktionen“ (KSA 5, S. 34) – die Möglichkeiten des Sag- bzw. Schreib- und Denkbaren vorgibt. In JGB 20 wird dieser Schematismus der konventionellen Sprache letztendlich als potentielle Ursache für die „wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen […und] deutschen Philosophirens“ (KSA 5, S. 34) ausgewiesen, als deren Folge in JGB 28 das Deutsche als „des Presto in seiner Sprache unfähig“ (KSA 5, S. 46) gekennzeichnet wird. Derartige Äußerungen haben zahlreiche Interpreten zum Anlass genommen, Nietzsches spätem Denken einen regelrechten Sprachdeterminismus vorzuwerfen. So schreibt zum Beispiel Manfred Frank, dass durch das Konzept der ‚Philosophie der Grammatik‘, „Nietzsche in gewisser Weise die Offenheit und Unendlichkeit der Interpretation“ (Frank 1984, S. 273) einschränke. Dieser Auffassung ist in der Forschung aus zwei sich teilweise ergänzenden Perspektiven widersprochen worden: Einerseits durch Rückgriff auf Nietzsches frühe ‚Metapherntheorie‘, welcher die Tendenz zur permanenten Weiterentwicklung der Sprache eignet, andererseits durch Analysen von Nietzsches schriftstellerischer Praxis, in welcher man das Bemühen um die sprachliche Markierung, wenn nicht gar den
18 Vgl. Simonis 2002.
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Versuch eines Ausbruchs aus dem vermeintlichen Sprachdeterminismus zu entdecken glaubte.19 Letzteres scheint auch der vorliegende ‚Text‘-Fall zu belegen: Vergleicht man nämlich das hier untersuchte Notat mit der veröffentlichten Fassung, kann man die sich dabei zeigenden und rein am Textmaterial nachvollziehbaren Differenzen in der Umsetzung eines performativen Schreibens und der potentiell aus diesem folgenden Wirkung auf den Leser festmachen, scheint doch der veröffentlichte Text diesen mithilfe zusätzlicher darstellerischer Mittel weitaus nachdrücklicher für die Bedeutung eben dieser Darstellungsformen sowie der notwendigen Beachtung der Klänge und Tempi zu sensibilisieren. Dem durchwachsenen und grammatikalisch partiell inkorrekten Abschnitt des Notats entspricht folgende Stelle aus JGB 246: Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? (JGB 246, KSA 5, S. 189)
Nicht nur sind in dieser Fassung die zuvor offensichtlichen Widerstände überwunden,20 daneben wird der Weg dieser Überwindung auch sprachlich dargestellt, wenn die im Notat noch fehlende „Brechung der allzustrengen Symmetrie“ in dem von ihr ‚sprechenden‘ Satz nicht nur erwähnt, sondern auch offensichtlich umgesetzt wird: An die Stelle der im Notat in der Grundschicht durch die vier mit einem ‚dass‘ eingeleiteten faktiven und in ihrem Satzbau noch stark symmetrischen Nebensätze – „Daß jeder Satz, jede Stil-Art ihr Tempo hat, die Reize der Tempowechsel, die staccati u. rubati, daß man die metrisch entscheidenden Silben fühlt, daß der Satz ein klingendes Ganzes ist, daß die Consonanten u. Diphthonge in ihrem, Hinter- und Nebeneinander sich umfärben u. neu
19 Siehe dazu Rorty 1992, S. 162–201; Pichler 2010, S. 115–131 und Denant 2012 sowie die in diesen Beiträgen diesbezüglich gelistete weiterführende Literatur. 20 Die hier vollzogene Gegenüberstellung der materialen Unterschiede zwischen früherer Fassung und publiziertem Aphorismus, insbesondere der Sachverhalt, dass Erstere zahlreiche Überarbeitungsspuren besitzt, versucht sich nicht an einer divinatorischen Rekonstruktion der Intentionen des Verfassers. Die beschriebenen Unterschiede liegen faktisch vor und werden nur in dieser Faktizität analysiert. Nicht vermeintliche mentale Ereignisse im Bewusstsein des Schreibers, sondern die jeweilige Textur samt der ihr eingeschriebenen Bedeutungspotentiale stehen somit im Mittelpunkt des Interesses.
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abtönen“ (W I 8, S. 266; Lesart erstellt von A.P.) – treten im veröffentlichten Aphorismus vier zwar ebenso faktive Nebensätze, die sich jedoch durch die den regelmäßigen Satzbau aufbrechenden Attribute sowie den an den letzten ‚Dass‘Satz anschließenden additiven Nebensatz eben nicht mehr – wie noch in der Vorstufe – zu einem Polysyndeton vereinen.21 Zu einer Intensivierung des sprachlichen Vollzugscharakters im veröffentlichten Aphorismus trugen auch die Korrekturen im Druckmanuskript bei (D 18, Bl. 82r; siehe Abb. 17). Dort finden sich in den besagten vier faktiven Nebensätzen vier Überarbeitungen, von denen die Mehrheit – nämlich die Streichung des „bei sich“ sowie die Ersetzung des „ist“ durch ein „sein darf“ in der Grundschicht des ersten sowie die Einfügung des „als gewollt“ im zweiten dieser Nebensätze – wesentlich zur Umsetzung der „Brechung der allzustrengen Symmetrie“ beitragen. Im Unterschied zu diesen Überarbeitungen scheint es sich bei der Ersetzung des in der Grundschicht des Druckmanuskriptes noch zu findenden „metrisch“ durch „rhythmisch“ hingegen primär nicht um eine weitere Umsetzung besagter asymmetrischer Brechungen der Periode, sondern um eine inhaltlich gewichtige Veränderung zu handeln, besteht doch ein zentrales Moment von Nietzsches Sprachverständnis und der mit dieser einhergehenden Schreibpraxis in seiner Anknüpfung an die antike Rhythmik (vgl. Benne 2012). In dieser stand nicht wie im gegenwärtigen Deutschen die Akzentuierung, sondern ein quantitierendes Prinzip im Vordergrund, dessen Bedeutung darin lag, eine wahrhafte Zeitökonomie, einen „Leib“, zu erzeugen, dem als Ganzem anschließend zwar Bedeutungen zugewiesen werden können, der sich aber nicht auf diese Bedeutungen reduzieren lässt. In diesem Sinn gibt es ein volleres „Verstehen“ als jenes, dass lediglich auf die Extraktion von Bedeutung abzielt (Benne 2012, 201).22
Indem im Druckmanuskript „metrisch“ durch „rhythmisch“ substituiert wird, öffnen sich dem mit Nietzsches Schriften vertrauten Leser intertextuelle Bezüge
21 Die mit dem „wer“ einsetzende Apodosis fehlt in der Grundschicht der ‚Vorstufe‘ vollständig. Erst im Rahmen der Überarbeitung wurde sie – am Anfang – des Satzfragmentes eingefügt, jedoch der so neu einsetzende Satz nicht grammatikalisch korrekt abgeschlossen. Diese Lesart beginnt mit der Frage: „Aber wer unter D. weiß, wer fordert zu wissen […]“ (KGW IX/5, W I 8, S. 266 – siehe auch oben und Abb. 10a/b). 22 Zu Nietzsches Verständnis der antiken Metrik und deren rhythmische Konkretisierung im Sprechen siehe neben den eigentlich altphilologischen Studien, d.s. insbesondere die Vorlesungsaufzeichnungen mit dem Titel Rhythmische Untersuchungen (vgl. KGW II/3, S. 281–338), auch die Briefe an Carl Fuchs von Mitte April 1886 (vgl. KGB III/3, Bf. 688) und Ende August 1888 (vgl. KGB III/5, Bf. 1097) sowie die Forschungsbeiträge von Bornmann 1989, Fietz 1992 und Benne 2012.
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zu seinen frühen philologischen Arbeiten zum Rhythmus, in welchen besagte Bedeutung zeitökonomischer, quantitierender Kriterien in der Antike herausgearbeitet wurden. Diese intertextuelle Referenz von „rhythmisch“ führt letztendlich durch die in Nietzsches Gesamtwerk gegebene Absetzung des antiken Rhythmus’ vom deutschen Metrum zu einer weiteren Stärkung des sprachlichen Vollzugscharakters innerhalb des veröffentlichten Aphorismus’.23 Neben diesen „Formen selbstreflexiver poetischer Indexikalität“ (Wirth 2007, S. 27)24 wird die Überwindung der in der frühen Fassung aus dem Heft W I 8 noch gegebenen Widerstände zusätzlich noch reflektiert, wenn der ‚Text‘ auf die ‚von den meisten deutschen Lesern leider verabsäumte Notwendigkeit‘, auf das „so viel [von] Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen“ (JGB 246), hinweist. Auch in diesem Falle belegt eine Gegenüberstellung von Druckmanuskript und veröffentlichtem ‚Aphorismus‘ einen höheren Grad von Performativität in Letzterem: Zahlreiche der auditiven Verba der publizierten Fassung wie zum Beispiel das „hinzuhorchen“ am Ende der bereits ausführlich erläuterten Periode oder das „Man hat zuletzt eben ‚das Ohr nicht dafür‘“ im darauffolgenden Satz, fehlen in der Grundschicht des Druckmanuskriptes und wurden erst nachträglich eingefügt (vgl. D 18, 86r.; siehe Abb. 17). Eingedenk der im ‚Aphorismus‘ selbst verhandelten Bedeutung von Klang und Rhythmus für den darin beschriebenen Stil sowie anknüpfend an die bereits erwähnte Studie von Luca Renzi kann man in Anbetracht der Überarbeitungen im Druckmanuskript Passagen wie diejenige von der ‚Notwendigkeit‘, auf das „so viel [von] Kunst und Absicht in der Sprache
23 Die laut Bornmann von Nietzsche eigentlich entdeckte Differenz zwischen antiker Sprechrhythmik und deutschem Metrum hat Rudolf Fietz durch die Gegenüberstellung von altgriechischer und neuer deutscher Lyrik lakonisch auf den Punkt gebracht: „Während die griechische Sprache, da rhythmisch ‚erfüllt‘, kein von ihrer eigenen Zeiteinteilung unabhängiges Taktschema nötig hat und den Vers aus sich herausbildet (wobei der Wechsel von Längen und Kürzen gerade nicht als mechanisch-regelmäßige Repetition metrisch immer gleicher Zeitwerte vorzustellen ist), findet der Vers sein Maß jetzt [= im Deutschen] nicht länger in der Sprache, die ihn bildet, sondern umgekehrt wird die Sprache in ein ihr äußerliches repetitives Regelmaß eingepaßt.“ (Fietz 1992, S. 65) 24 Auf die Bedeutung der Periode sowie deren performativen Charakter in JGB 246 hat neben Luca Renzi bereits Paul van Tongeren hingewiesen, ohne dies jedoch durch eine intensive Textanalyse zu belegen. Vgl. van Tongeren 2000, S. 89 und S. 93. Auch die Tatsache, dass es hier also tatsächlich zu einer Form des performativen Schreibens kommt, erlaubt es nicht, dieses aufgrund eines einzigen Nachweises für sämtliche Texte Nietzsches schlichtweg vorauszusetzen. Im Falle von so stark segmentierten Werken wie denjenigen Nietzsches, sollte die vermeintliche performative Umsetzung im Text geäußerter ‚Thesen‘ ein jedes Mal von Neuem an der jeweils untersuchten Textpassage ausgewiesen werden. Siehe dazu auch: Pichler 2012 und Born 2012a.
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hinzuhorchen“, als selbstreflexiv-poetologische Metaisierung25 und somit als konkrete Leseanweisung deuten, deren Telos in einer Sensibilisierung des Rezipienten gegenüber eben diesen sprachlich-rhythmischen Nuancen des von ihm gelesenen ‚Textes‘ liegt. Nur ein solcher Leser kann letztendlich in der Lage sein, durch den – um mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno zu sprechen – mimetischen Nachvollzug eines performativen Schreibens die Bedeutung des Klangs des jeweiligen Ausdrucks für und jenseits der jeweiligen Sinnkonstitution zu erfassen, sich etwaiger semantischer Verschiebungen inne zu werden und so im auch in Nietzsches Texten regelmäßig in Frage gestellten26 Ausnahmefall die
25 Werner Wolf versteht unter Selbstreflexivität eine „Selbstreferenz, bei der Elemente eines Systems über andere desselben Systems oder das System insgesamt oder Aspekte desselben eine Aussage enthalten und die Rezipienten zu entsprechenden Reflexionen veranlassen“ (Wolf 2007, S. 39). 26 Im Kontext besagter Fragestellung hat insbesondere ein nicht überarbeitetes Notat Berühmtheit erlangt, das Nietzsche zwischen Sommer 1886 und Herbst 1887 aufzeichnete. Es lautet in der Transkription der KGW IX: „Grundlösung: / wir glauben an die Vernunft: diese / aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist nach den aller naivsten Vorurtheilen / hin gebaut / nun lesen wir Disharmonien u. Probleme / in die Dinge hinein, weil wir nur / in der sprachl. Form denken – somit / der „ewigen Wahrheit“ der „Vernunft“ glauben / (zb. Subjekt Prädikat usw. / wir hören auf zu denken, wenn wir es / nicht in dem sprachl. Zwange thun wollen / wir langen gerade noch bei dem Zwei= / fel an, hier eine Grenze als Grenze zu / sehen. / Das vernünftige Denken ist ein Interpre= / tiren nach einem Schema, welches wir nicht / abwerfen können.“ (N VII 3, S. 165; Lesart erstellt von A.P.; vgl. NL 1886/1887, KSA 12, 5[22]). Eine ausführliche Lektüre dieser Aufzeichnung bietet Pichler 2014. Diesem Notat stehen im Nachlass allerdings zahlreiche Aufzeichnungen gegenüber, wie das ebenfalls kaum überarbeitete Notat NL 1888, 14[119], das den nachträglich eingefügten Titel „Gegenbewegung die Kunst“ trägt und in dem – in Übereinstimmung mit Nietzsches spätem Leibdenken – zu lesen ist: „Der aesthet. Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer / extremen Empfänglichkeit für Reize u. Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit / u. Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen.“ (W II 5, S. 100; Lesart erstellt von A.P.; vgl. NL 1888, KSA 13, 14[119]). In Anbetracht dieser Diskrepanz schloss Josef Simon: „Nietzsches Denken wird von der Differenz zwischen einer vom individuellen Sprechen ausgehenden poetischen, produktiven Kraft der Sprache einerseits und der ‚Notwendigkeit‘ disziplinierten, an die Intersubjektivität der ‚Art‘ zurückbindenden Redens andererseits bestimmt. Diese Differenz scheint für ihn unaufhebbar zu sein.“ (Simon 1972, S. 12) Letztendlich ist die poetische Innovationspraxis theoretisch nicht einholbar, da auch eine vermeintlich metasprachliche Beschreibung dieser Praxis dem allgemeinen Schematismus folgen würde. Ob ein Ausbruch aus Letzterem tatsächlich möglich ist und, wenn ja, sich gar kommunizieren lässt, bleibt vom jeweiligen Kommunikationsakt – im Falle der Beschäftigung mit Nietzsche: Leseakt und dem in diesem erfolgenden rhythmischen Vollzug – abhängig. Siehe dazu auch die folgende Fußnote.
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Grenzen des bloß konventionellen Verstehens zu überschreiten.27 Bei demjenigen, der dafür ‚das Ohr‘ nicht hat – wie es im veröffentlichten Aphorismus heißt – ist diese „feinste Künstlerschaft […] wie vor Tauben verschwendet“. Nur jene Ohren, welche auf die „Kunst und Absicht in der Sprache“ lauschen, werden es letztendlich vermögen jene ‚vornehmen Töne‘ zu hören, die in einem weiteren zentralen ‚sprachgenealogischen‘ Aphorismus – JGB 268 (vgl. KSA 5, S. 221 f.) – insgeheim der aus der Gewalttätigkeit der konventionalisierten Sprache folgenden Gemeinheit auszubrechen vermögen und solcherart eben dieser gegenübergestellt werden.28 Die soeben anhand der Auseinandersetzung mit früheren Fassungen des später als Aphorismus 246 von Jenseits von Gut und Böse veröffentlichten ‚Textes‘ exemplarisch durchgeführte Untersuchung der Bedeutung des jeweils der Analyse zugrunde gelegten Textverständnisses sollte noch einmal mit Nachdruck gezeigt haben, wie besagte Textverständnisse die auf ihnen fußenden Analyseresultate beeinflussen. Folgt man jenem auch von uns zuvor bereits vorgestellten Textverständnis, das in der gegenwärtigen deutschen Editionspraxis weite Anerkennung findet und im Gegensatz zu früheren – insbesondere – hermeneutischen Modellen auch die Materialität und Medialität des jeweiligen Textes berücksichtigt, ist im Falle Nietzsches strikt zwischen Drucktexten und Handschriften zu differenzieren.29
27 In eben diese Richtung weist auch Christian Benne: „In der Tat liegt Nietzsches Ambition als Dichter nun genau darin, die eigene Behauptung [d.i. die Tatsache, dass das Deutsche antiker Rhythmik nicht fähig ist – A.P.] durch die Entwicklung einer Artistik des Stils zu widerlegen, die das leisten soll, wozu eine akzentuierende Sprache wie das Deutsche theoretisch eigentlich gar nicht fähig sein dürfte, nämlich eine unerhörte rhythmisch-temporale Variationsbreite zu bieten, die von der abgenutzten Alltagssprache oder der fossilierten Begriffsdichtung der akademischen Philosophie gleich weit entfernt ist.“ (Benne 2012, S. 207) Insofern wäre es notwendig den hier diskutierten Aphorismus auch noch auf seine rhythmische Dimension hin zu untersuchen, was aus Platzgründen jedoch leider nicht möglich ist. Welche Einsichten eine derartige Lektüre liefern kann, belegt Christian Bennes Beitrag in diesem Band. 28 Anzumerken bleibt, dass allerdings nichts – nicht zuletzt aufgrund von fehlenden Kriterien des Gelingens – den tatsächlichen Erfolg, i. S. einer adäquaten Sinnerfassung, eines derartigen mimetischen Nachvollzugs einer qua Rhythmik höchst individualisierten Prosa garantiert, da es sich bei ihm ja um den Versuch handelt, jene Kunst zu erfassen, „die errathen werden will, sofern der Satz verstanden sein will“ wie es in JGB 246 heißt. Zum Topos des ‚Erratens‘ siehe Stegmaier 2012, S. 12 ff. und S. 68 sowie Brotbeck 1990. 29 Versteht man also den Begriff der ‚Textur‘ als das zentrale Medium von Nietzsches Philosophie und überführt die Metapher von den ‚Texturen des Denkens‘ in einen medientheoretischen Kontext, zeigen sich schnell die Parallelen zwischen dem hier entwickelten Textbegriff und jüngeren medienphilosophischen Positionen. In diesen gilt mittlerweile „Medialität als die Bühne der performativen Prozessierung kultureller Semantik nicht mehr als Ort des nachträglichen Ver
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Wie die sporadische ‚textgenetische‘ Lektüre von JGB 246 bestätigt hat, unterscheiden sich Drucktext und Handschrift im Falle Nietzsches allerdings nicht nur in ihrer Materialität und Medialität, sondern auch in der Komplexität der Darstellungsform. Dem veröffentlichten Text von JGB 246 eignet tatsächlich ein Reflexions- und Vollzugsgrad mehr als der Grundschicht des Druckmanuskriptes bzw. der noch früheren Fassung aus dem Heft W I 8. Aufgrund dieser beiden Kennzeichen von Nietzsches veröffentlichen Schriften plädieren wir dafür, sich mit diesen primär in jener Form auseinanderzusetzen, in der ihre semantisch komplexeste Version ihre materiale Gestalt angenommen hat: als Werk. Dieses – im gegebenen Falle also Jenseits von Gut und Böse – sollte stets der Ausgangspunkt der Auslegung sein. Eine derartige Werklektüre kann selbstverständlich stets durch textgenetische oder intertextuelle Analysen ergänzt werden, wobei bei einer solchen Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes, insbesondere bei den Notaten, auf ihren abweichenden Textstatus als Handschriften geachtet werden sollte, wenn dies Aufschluss für eine Interpretation bietet. Häufig sind derartig ‚textgenetische‘ Lektüren, wie der oben erbrachte Nachweis eines performativen Schreibens durch den kontrastierenden Vergleich von Notat (‚Vorstufe‘), Druckmanuskript und JGB 246 gezeigt haben sollte, von einem nicht zu vernachlässigenden heuristischen Wert für das Werkverständnis.30
arbeitens eines vorgängigen und gegenüber seiner Mediatisierung autonomen Sinns, sondern als der seines Hervorbringens“ (Jäger 2004, S. 15). Unter diesen Voraussetzungen ist dann auch das in der diesem Band seinen Titel gebenden Metapher im Genetiv stehende ‚Denken‘ „als kognitivsemiologisches Archiv, das durch jene Verfahren der Medien gespeist wird, die die operative Logik der kulturellen Semantik bestimmen“ (Jäger 2004, S. 16), zu verstehen. Aus diesen Bestimmungen folgt, dass besagtes Archiv nur mehr über Lektüre und Deutung der ‚Textur‘ zugänglich ist. Insofern ist der in der Metapher verwendete Genetiv primär als genetivus objectivus zu verstehen. 30 Ähnlich verhält es sich bei den Intertexten, zum Beispiel Textstellen aus anderen Werken Nietzsches: Auch diese können durch die Anwendung des in der Philologie seit der Antike praktizierten Parallelstellenverfahrens zur Lichtung etwaiger dunkler Stellen in anderen Werken herangezogen werden. Dabei ist jedoch ebenso bedacht vorzugehen wie bei den vermeintlichen ‚Vorstufen‘, da derartige Parallelstellen als publizierte Drucktexte selbst in einem bestimmten Werkrahmen eingebettet sind, der nachdrücklich ihren semantischen Gehalt bestimmt. Die insbesondere durch die Arbeit am Nietzsche-Wörterbuch nachgewiesene Polysemierung einzelner Wörter in Nietzsches Sprachgebrauch verweist so zugleich auf die hohe Rhetorizität von Nietzsches Schrift. Zur Polysemie siehe insbesondere: Siemens/van Tongeren 2012. Zu den Grenzen des Parallelstellenverfahrens bei der Anwendung auf Nietzsche in Anbetracht der sich aus besagter Polysemie ergebenden immensen Bedeutung des jeweiligen Kontextes siehe unter anderem: Pichler 2012.
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2 „Fusstapfen zur Selbsterkenntniss“: Zur performativen Exposition des Denkens in Jenseits von Gut und Böse. Die exemplarisch an der Schreibweise von JGB 246 herausgearbeitete autoreflexive Darstellungsform demonstriert, dass die literarische Gestaltung einer Textpassage keinesfalls ein Nebenprodukt dessen ist, was in ihr ,gesagt‘ wird. Doch nicht nur einzelne Aphorismen, sondern das gesamte Werk JGB lässt sich unter der Fragestellung lesen, inwieweit rhetorisch-stilistische Aspekte als gewichtige Elemente von Nietzsches Philosophieren selbst und eben nicht als dekoratives Beiwerk desselben aufgefasst werden können.31 Das Folgende wendet sich einem entscheidenden Merkmal von Nietzsches Schreibweisen in JGB zu, wenn gefragt wird, wer in diesem Werk zu Wort kommt und inwiefern die sich ausdrückenden Perspektiven reflexiv gebrochen werden. Dabei wird einer Vielzahl von Textpassagen Raum gegeben, was es erlaubt, die Präsenz dieser Textsignale im Werk aufzuzeigen. Eine Vielzahl der Interpretationen scheint zu implizieren, dass sich in Nietzsches Werken ein weitgehend gleichbleibender Autor ausdrückt. Dies legt ein Umgang mit den Texten nahe, der Passagen aus dem Frühwerk bis in die späten Schriften zusammen mit Notaten und Briefen zusammenführt und aus derartig collagierten Zitatsammlungen Thesen zu Nietzsches Philosophie konstruiert. Zwar wurden die Werke in unterschiedliche Phasen eingeordnet und es finden sich auch Auseinandersetzungen, die differenzierter mit den Texten und ihrem Status verfahren, doch werden selbst in Untersuchungen, die sich einzelnen Werken zuwenden, oftmals frei Passagen aus den genannten Quellen herangezogen, ohne deren Bezug zum eigentlich interpretierten Text zu reflektieren. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, dass es legitim ist, alle Texte Nietzsches, in denen sich etwas Passendes findet, undifferenziert als Ausdruck der ,Position‘ des Autors zu lesen, ohne die jeweiligen Kontexte der gewählten Passagen zu berücksichtigen. Doch lässt sich zeigen, inwiefern sich JGB gegen derartige Reduktionen sperrt, sobald die sehr präsenten Inszenierungsstrategien des Werks in der Lektüre wahr- und ernstgenommen werden. Auch ein anderer Zugang zu Nietzsches Texten, der sich bereits bei Lou Andreas-Salomé findet, die „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ (vgl. Andreas-
31 Mit der philosophischen Bedeutung von Nietzsches Schreibweisen haben sich insbesondere Nehamas 1985, Simson 1995, van Tongeren 2000 und Stegmaier 2012 eingehend beschäftigt (siehe dazu auch die Fußnote 2 sowie die Einleitung zu diesem Band).
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Salomé 2000 [1894]) erkannte und den engen Zusammenhang von Leben und Denken betonte, stellt sich als fragwürdig heraus, wenn er als Leitlinie einer Interpretation dient.32 Gerade an Also sprach Zarathustra wurde die Identifikation des Autors mit seinem Werk nicht selten auf die Spitze getrieben, obwohl es offensichtlich genug ist, dass man dem Text nicht gerecht wird, wenn man ihn als ein Schlüsselwerk liest und den Autor mit dem Protagonisten gleichsetzt. Dass es durchweg problematisch ist, aus dem, was Zarathustra in Za ,lehrt‘, auf Lehren Nietzsches zu schließen, wurde bereits eingehend thematisiert.33 Doch nicht nur Za, sondern auch andere Werke Nietzsches erlauben die Frage danach, inwiefern sich der Autor hier unvermittelt ausdrückt. So bezieht die Vorrede von Zur Genealogie der Moral das gestellte Moralproblem auf denjenigen, der sich im Text ausspricht, was als eine Perspektivierung der vorgebrachten Gedanken (und möglicherweise der gesamten GM) gelesen werden kann, jedoch nicht auf den Autor zurückverweisen muss. In der Vorrede findet sich die allgemeine These: „Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir m ü s s e n uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ,Jeder ist sich selbst der Fernste‘ – für uns sind wir keine ,Erkennenden‘…“ (GM Vorrede 1, KSA 5, S. 247 f.). Der anschließende Abschnitt scheint diese These einholen und
32 Der Frage nach der Bedeutung der Autorschaft für eine Interpretation von Nietzsches Werken hat sich zuletzt Corinna Schubert in Abgrenzung zu biographistischen Ansätzen von Lou Andreas-Salomé bis in die Gegenwart zugewandt. Mit Fokus auf Nietzsches Verwendung von Personalpronomen zeigt sie auf, dass sich seine Texte nicht auf eine Position reduzieren lassen, sondern dass in ihnen eine Vielzahl an Stimmen zu Wort kommt: „Dadurch gibt es keine einheitliche Positionierung eines Autors mehr, kein einheitliches Präsentieren von Erkenntnissen durch eine verbürgte Autorität, keine Einheit der Sprachebene, sondern ein Sprechen mit vielen Stimmen. Nietzsche zerreißt die Stimme, die spricht“ (Schubert 2012, S. 286 f.). Schubert fragt, inwiefern es berechtigt ist, die Figuren, die in Nietzsches Werken textuell als mögliche Autorfiguren konstituiert werden, mit dem ,empirischen‘ Autor Nietzsche zu identifizieren und kommt zu dem Schluss: „Wenn wir von etwas Kenntnis haben, dann ist es ein ,Friedrich Nietzsche‘ in allen Facetten der durch die Texte vermittelten Selbstinszenierung, aus denen keine stabile, authentische Person abgeleitet werden kann“ (Schubert 2012, S. 288). 33 So hat Werner Stegmaier bereits betont, dass man den sogenannten ,Lehren‘ Zarathustras eher beikommt, wenn man sie als „Anti-Lehren“ versteht (siehe Stegmaier 1997, S. 420, vgl. ausführlicher: Stegmaier 2000). Claus Zittel hat ausgehend von diversen Textsignalen eindringlich darauf hingewiesen, dass Nietzsche seine Prophetenfigur auf mehreren Ebenen gebrochen präsentiert. Dabei hat er unterstrichen, dass Zarathustras zuweilen mit Pathos vorgebrachte Thesen bereits in ihrer textuellen Präsentation parodiert und ironisiert werden (vgl. Zittel 2011 [2000]). Zur Frage, inwiefern die rhetorischen Strategien von Za darauf abzielen, den Leser in ein agonales Verhältnis zum Text im Sinne einer ,Feindesliebe‘ in der Erkenntnis zu versetzen vgl. Born 2011.
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konterkarieren zu wollen, wenn über die Herkunft der ,eigenen‘ Gedanken reflektiert wird und sogar Lektüreerlebnisse referiert werden (vgl. GM Vorrede 4). Einige dieser Elemente ließen sich zwar biographisch ,herleiten‘, was jedoch ihre Funktion im Text noch nicht erklären würde, die nicht zuletzt darin besteht, mittels einer Exposition der Herkunft der vorgebrachten Gedanken eine Reflexion anzustoßen. Ähnlich kann für EH festgestellt werden, dass sich in den unbescheidenen Überschriften wie „Warum ich so weise bin“, „Warum ich so klug bin“, „Warum ich so gute Bücher schreibe“ nicht ein Autor ausdrückt, der seiner Selbstüberschätzung ungehemmt die Zügel schießen lässt. Stattdessen erlauben die textuellen Inszenierungsstrategien die Frage, inwiefern hier eine Autorfigur als möglicher Anziehungs- und Abstoßungspol präsentiert wird.34 In Za und EH zeigt sich ein teils offensichtliches, teils kaschiertes Spiel mit textuell inszenierten Perspektiven, das simple Identifikationen der jeweiligen Perspektive mit ihrem Autor als problematisch erscheinen lässt. Doch drängt sich nicht dagegen der Eindruck auf, dass sich dieser Autor in JGB direkter ausdrückt als in Za und EH? In diesem Sinne behauptet Rolf-Peter Horstmann in seiner Einleitung zur Übersetzung von JGB: „[D]o not expect these writings to express impartial views on whatever subject they address – they express, in an emphatic sense, Nietzsche’s own views“ (Horstmann 2002, S. XIV). Tatsächlich finden sich in diesem Werk etliche starke Thesen, sei es zur Geschichte der Philosophie (z. B. „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war“; JGB 6, KSA 5, S. 19), zur Moral („Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen….“; JGB 108, KSA 5, S. 92), zu Mann und Weib („über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen“; JGB 231, KSA 5, S. 170) und zu zahlreichen weiteren Themen, die mit einiger Überzeugung vorgebracht werden. Doch lässt sich der Versuch, JGB im Vergleich zu Za in den Status eines ,reinen‘, philosophisch eindeutigen Textes zu heben, in dem Nietzsche seine Perspektive
34 Daniela Langer hat sich den komplexen Strategien von EH zugewandt. Sie geht zu Recht davon aus, dass jede „ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk […] grundsätzlich den Charakter der Textualität dieses Werkes beachten“ müsse (Langer 2005, S. 43) und kommt zu der schlüssigen These: „Das […] in Ecce homo ausgesagte Ich ist jedoch nichts als der Effekt seiner eigenen Konstruktion; es ist ein literarisch inszeniertes, textuell erzeugtes Ich, das sich im Zeitpunkt des Schreibens generiert“ (Langer 2005, S. 129). Langer führt weiter aus, dass der Text der Setzung eines Ichs zugleich entgegenarbeitet: „Die literarischen Inszenierungsstrategien der Autobiographie desjenigen Autors, der mit seiner Subjektkritik den Ansatzpunkt für den sogenannten ,Tod des Subjekts‘ geliefert hat, heben das Ich allerdings im selben Maße wieder auf, wie sie es setzen.“ (Langer 2005, S. 175).
Text, Autor, Perspektive
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deutlich ausdrückt, entschieden zurückweisen. Zwar lässt sich in JGB kein durchgehendes ,Narrativ‘ ausmachen wie im Zarathustra, doch finden sich neben dem, was man als deutlichere Stellungnahmen des Autors in den neun Hauptstücken markieren könnte, in JGB zahlreiche Passagen, in denen unterschiedliche Sprecherpositionen als solche ausgewiesen werden, die nicht in einer (Autor-)Perspektive aufgehen. Hierbei werden einige von diesen explizit mittels Anführungszeichen als Figurenrede markiert, wenn auch oftmals unklar bleibt, wer wen in welcher Situation anspricht. So heißt es in Aphorismus 80: „,Mitleiden mit Allen‘ – wäre Härte und Tyrannei mit d i r , mein Herr Nachbar!–“ (JGB 80, KSA 5, S. 88) und in JGB 113 „,Du willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen –‘“ (JGB 113, KSA 5, S. 93). Zwar legen die folgenden Aphorismen nahe, dass es sich hier um den Ratschlag einer Frau an eine andere handelt, doch lässt der Text dies letztendlich offen. Auch Aphorismus 140 wirft in diesem Punkt Fragen auf: „R a t h a l s R ä t h s e l . – ,Soll das Band nicht reissen, – musst du erst drauf beissen‘“ (JGB 140, KSA 5, S. 97). So ist hier nicht nur die Sprechersituation ungeklärt, sondern der Text ist zudem sehr kryptisch, was sich als eine absichtliche Verrätselung herausstellt, auf die der Titel ,Rath als Räthsel‘ deutlich verweist. Dies lässt sich einem Vergleich mit einer früheren Nachlasspassage entnehmen, die einen erklärenden Passus zu Ehe und Geschlechtsverkehr enthält, der in JGB fortgelassen wurde (vgl. NL 1882, KSA 10, 3[1]51). Eine mögliche Interpretation wäre, dass der Autor Nietzsche hier seine wirkliche ,Meinung‘ verschlüsselt hat, damit der Leser selbst auf sie schließen kann und somit scheinbar selbständig auf Gedanken kommt, die ihm unbemerkt vom Text souffliert werden. Doch ist zu bedenken, dass eine derartige ,Auflösung‘ der verrätselten Passage selbst mit Kenntnis der Nachlasspassage nicht eindeutig möglich ist und durch das Wegschneiden der ohnehin dürftigen zusätzlichen Informationen nicht mehr möglich ist. Auch die „Sieben Weibs-Sprüchlein“ in JGB 237 nehmen die Perspektive des „Weibs“ ein und suggerieren zuweilen pikante Einsichten in fremde Denkwelten. Ausgehend von diesen Beispielen kann zunächst festgehalten werden, dass es nicht genügt, die Aphorismen von JGB auf ihren ,Inhalt‘ zu lesen, sondern dass sich im Werk Passagen finden, in denen das Vorgebrachte perspektivisch gebrochen ist. Derartig vorgebrachte ,Thesen‘ sind ebenso wenig luzide, wie sie sich auf eine greifbare Perspektive zurückführen lassen. Ein direkter Ausdruck dessen, was der Autor seinen Lesern zu sagen hat, lässt sich diesen und weiteren Passagen nicht ablesen. Über die Markierung von einzelnen Perspektiven hinaus finden sich kurze Dialoge wie im verschachtelten Aphorismus 37, der sich auf den vorangehenden Aphorismus 36 beziehen lässt, in dem der Wille zur Macht als eine Interpretation markiert wird: „,Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht —?‘ Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde! Und, zum
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Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden! —“ (JGB 37, KSA 5, S. 56). Ist der gesamte Aphorismus 281 als Sprecherposition markiert, so gibt auch der Folgeaphorismus ein kurzes Gespräch wieder: „,Aber was ist dir begegnet?‘ – ,Ich weiss es nicht, sagte er zögernd: vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen‘“ (JGB 282, KSA 5, S. 230). Im Umfeld dieser Passage aus dem neunten Hauptstück lässt sich eine Bündelung dessen ausmachen, was als ,Perspektivierungstechniken‘ bezeichnet werden kann.35 Dadurch, dass bei diesen Passagen oftmals unklar ist, wer sich ausdrückt und fraglich bleibt, ob die jeweils vorgestellte Perspektive irrelevant ist, ob sie favorisiert oder abgelehnt wird, oder ob sich in ihr gar ,Nietzsche selbst‘ ausdrückt, lässt sich der Text nicht auf eine Deutung festlegen. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf, dass in JGB zahlreiche vielschichtige und interpretativ nicht fixierbare Perspektiven zusammengestellt werden. Dies könnte auch auf Passagen ausstrahlen, in denen die Markierung von Sprecherpositionen nicht explizit gemacht wird. Doch erstreckt sich dieses Spiel mit den Perspektiven in JGB nicht nur auf dieses Werk selbst. Bereits der zweite Aphorismus lässt sich intertextuell auf Menschliches, Allzumenschliches I beziehen: Die in Anführungszeichen stehende fingierte Kritik, in der sich „das typische Vorurtheil“ der Metaphysiker ausdrücken soll, paraphrasiert den ersten Aphorismus des früheren Werks (vgl. MA I 1, KSA 2, S. 23). Wenn hier auch nicht unbedingt eine explizite intertextuelle Markierung vorliegt, wird über die Anführungszeichen deutlich gemacht, dass eine Gegenposition angegriffen wird. Der Leser, der darüber hinaus das frühere Werk kennt, kann die komplexe Bezugnahme auf dieses als Teil eines Dialogs verstehen, der sich in JGB ausgehend von einer Kritik an MA I entspannt. Es wird suggeriert, dass sich der Aphorismus in JGB auf jemanden bezieht, der das in MA I Vorgebrachte ablehnt, wodurch das dort Geschriebene bekräftigt wird.36 An diesen Passagen wird ebenso wie im Falle der Leseradressierungen (z. B. „Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser. –“; JGB 22, KSA 5, S. 37, vgl. z. B. JGB 37, JGB 44) das schillernde Spiel mit Perspektiven deutlich, das auch auf der Inhaltsebene einiger Aphorismen verhandelt wird. Doch gibt es neben der auffälligen Präsenz von Passagen, in denen unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen, Aphorismen, in denen sich derartige Perspektivierungen nicht ausmachen lassen.
35 Vgl. insbesondere JGB 280–282 und 286–287. Siehe auch JGB 82, 152, 183, 185. Corinna Schubert zeigt in ihrem Beitrag im vorliegenden Band anhand einer textnahen Lektüre von JGB 278 eindrücklich einige der Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Interpretation auf, die nicht bloß auf Inhalte eines Aphorismus abzielt, sondern dessen diversen Textsignalen nachgeht. 36 Eine offensichtliche Bezugnahme von JGB auf MA findet bereits über die Anzahl und Titel der jeweiligen Hauptstücke statt (vgl. hierzu den Beitrag von Joel Westerdale im vorliegenden Band).
Text, Autor, Perspektive
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Gerade die Verwendung der ersten Person Singular in weiten Partien des Werks ließe sich als unverstellter Ausdruck der ,Position‘ des Autors deuten. Der Eindruck, dass sich in diesen Aphorismen Nietzsche selbst unvermittelt zu Wort meldet, könnte sich durch den Kontrast zu Passagen verstärken, die offensichtlich perspektivisch gebrochen sind. Doch lassen sich diesem Versuch, die Perspektive des Autors gegen andere Perspektiven in JGB abzugrenzen, zwei Aspekte des Werks entgegensetzen. Der eine Aspekt drückt sich nicht zuletzt in der Subjekt-Kritik insbesondere im ersten Hauptstück von JGB aus, der andere lässt sich in der literarischen Inszenierung unterschiedlicher Perspektiven in JGB ausmachen.37 Bereits die Vorrede des Werks stellt heraus, dass der „Seelen-Aberglaube […] als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11) und weist zudem hin auf die „Verführung von Seiten der Grammatik her“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11 f.), die erst in JGB eine derartig starke Präsenz im Werk entfaltet. Die Kritik an den „Vorurtheilen der Philosophen“ im ersten Hauptstück wendet sich gegen die Vorstellung, dass sich ein Denker von seiner affektiv-leiblichen Sphäre ablösen kann, um zu philosophieren. Stattdessen wird betont: „[D]as meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen“ (JGB 3, KSA 5, S. 17). Philosophen folgen somit den alltäglichen Vorurteilen, die eine geistig-erhabene Sphäre über eine leiblich-niedere stellen und einen wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Körper behaupten. Doch wird diese schmeichelhafte Selbstüberschätzung abgewiesen und „physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben“ (JGB 3, KSA 5, S. 17) als Triebkräfte des Denkens ausgemacht. Dabei besteht sowohl die Möglichkeit einer bloßen Selbsttäuschung des jeweiligen Philosophen als auch dessen Versuch, andere davon zu überzeugen, dass sein eigenes
37 An dieser Stelle bietet sich auch der Terminus ,Stimme‘ an, wenn unter diesem „[d]er Akt des Erzählens, der das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten sowie das Verhältnis von erzählendem Subjekt und Leser umfaßt“ (Martinez/Scheffel 2009, S. 30) verstanden wird. Doch sollte nicht übergangen werden, dass die Verwendung von ,Autorstimme‘ oder ,Stimme‘ das Problem zwar markieren kann, es aber nicht löst. Alexander Nehamas hat sich in „Who are ‚The Philosophers of the future‘?: A reading of Beyond Good and Evil“ dafür entschieden, von einem ‚Erzähler‘ (,Narrator‘) von JGB zu schreiben. Obwohl diese Formulierung eine Einheit suggeriert, so dass gefragt werden kann, ob nicht besser von ,Erzählern‘ die Rede sein sollte, und Nehamas im Verlauf seines Aufsatzes den Erzähler von JGB stillschweigend wieder mit Nietzsche identifiziert (vgl. Nehamas 1988), ist dieser Ansatz bemerkenswert, da er es erlaubt, das in JGB Vorgebrachte nicht als unvermittelten Ausdruck der ,Position‘ des Autors Nietzsche zu interpretieren. Dies sollte jedoch nicht dazu führen, die Perspektiven, die sich in JGB ausdrücken, nicht als solche ernst zu nehmen.
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Denken nicht von unbewussten Antrieben motiviert wird. Generell scheint zu gelten: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6, KSA 5, S. 19). Es wird nahe gelegt, dass eine jede Philosophie Rückschlüsse auf die unbewussten Antriebe dessen erlaubt, der sie vorbringt, was auch auf denjenigen zutreffen dürfte, der diese These vorstellt. Somit lädt der Aphorismus dazu ein, das in ihm Behauptete auf die Perspektive zurückzubinden, die sich in ihm zu Wort meldet. Aphorismus 17 wendet sich der allgemeinen Frage nach dem Subjekt des Denkens zu, das als eine Illusion dargestellt wird, die auf die Grammatik zurückgeführt wird. Doch ebenso die abgeschwächte Fassung Lichtenbergs, der Descartes ,ich denke‘ ein ,es denkt‘ gegenüberstellt, wird als unbefriedigende Simplifizierung eines komplexen Sachverhaltes abgelehnt.38 Die Markierung von Perspektiven stellt sich als ein Merkmal der literarischphilosophischen Schreibweisen heraus, mit dem auf die soeben skizzierte Verwicklung des Denkens in das Gedachte reagiert und verwiesen wird, so dass in JGB konkret-performativ eingeholt wird, was abstrakt-thetisch gefordert wird. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die Frage nach der Autorintention an der literarischen Inszenierung von JGB vorbei greift, da sich der Text in seiner komplex-irritierenden Perspektivierung einer Lesart entzieht, die ihn auf allgemeine Thesen festlegen will.39 Doch lassen sich nicht – so könnte hier eingewandt werden – trotz der entschiedenen Ablehnung eines einheitlichen und durchgehenden Subjekts in JGB zahlreiche Passagen ausmachen, in denen der Autor hervortritt, wobei der Text auf den Zusammenhang einer Philosophie mit dem Philosophen, der sie vorbringt, hinweist? Und würde sich dieser Autor nicht angesichts seiner allgemeinen Thesen zur Möglichkeit von (Selbst-)Erkenntnis blamieren, wenn er deren Wahrheit konstatiert? Diesem möglichen Einwand kann erstens entgegen gehalten werden, dass ein ,Autor-Subjekt‘ über JGB schwerlich zugänglich sein wird und dass schwerlich anzunehmen ist, dass sich der Denker Friedrich Nietzsche in diesem Werk direkt offenbart, indem er von sich in der ersten Person
38 Für eine ausführliche Interpretation von JGB 17 mit Bezugnahme auf Nietzsches Auseinandersetzung insbesondere mit Lichtenberg, Descartes und Kant sei auf Nikolaos Loukidelis 2013 verwiesen. 39 Dies lässt sich auch für den „Willen zur Macht“ geltend machen. Zwar wird dieser in zahlreichen Passagen von JGB (JGB 9, 13, 186, 198, 211, 227 und insbesondere 259) mit starker Überzeugung vorgestellt, doch wird der nämliche Wille in den Aphorismen 22 und 36 (vgl. auch JGB 23) differenzierter präsentiert und entschieden an eine Erkenntnisperspektive zurückgebunden. Vgl. hierzu den Beitrag von Jakob Dellinger im vorliegenden Band.
Text, Autor, Perspektive
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schreibt. Für ihn könnte gelten, was in Aphorismus 269 über die sogenannten großen Männer geschrieben wird: Der Erfolg war immer der grösste Lügner, – und das „Werk“ selbst ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in’s Unerkennbare; das „Werk“, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die „grossen Männer“, wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein (JGB 269, KSA 5, S. 224).
Die großen Männer werden in dieser Passage als eine Konstruktion aufgefasst, die von ihren Werken aus retrospektiv vorgenommen wird. Ausgehend von dem Erfolg, den das Werk darstellt, schließt der Leser, dass eine besondere Leistung für es nötig war. Somit erscheint der Autor, wie der Text ihn nahelegt, als Konstrukt des Lesers, auch er stellt eine Vereinfachung von Pluralitäten zugunsten der Möglichkeit von Erkenntnis dar. Zweitens lässt sich darauf verweisen, dass das jeweilige ,Ich‘, das sich in JGB ausdrückt, tatsächlich als involvierter Akteur in einem unabgeschlossenen Denkprozess inszeniert wird, den es selbst ebenso wenig überblicken kann, wie die eigenen Antriebe. Nach dem bisher Gesagten ist es nicht überraschend, wenn konstatiert wird, dass fast alle Aphorismen des ersten Hauptstücks und viele weitere in JGB mit Formulierungen in der ersten Person Singular oder Plural durchsetzt sind.40 Es finden sich etliche Passagen wie z. B. „Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird“ (JGB 1, KSA 5, S. 15), „unsere neue Sprache“, „Nachdem ich lange den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe“ (JGB 3, KSA 5, S. 17), „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war“ (JGB 5, KSA 5, S. 19, Hervorhebung jeweils M.A.B.). Damit ist jedoch noch keine Lanze für die These gebrochen, dass mit der Perspektive, die sich in der ersten Person Singular ausdrückt, die Position des Autors in den Blick rückt.41 Selbst wenn die Frage zurückgestellt wird, ob sich in JGB eine durchgehende Position ausspricht oder ob nicht immer neue Perspektiven zu Wort kommen, die sich zuweilen aufeinander beziehen, wird die Sachlage nicht einfacher. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich selbst im Falle, dass wir die Perspektiven, die sich in JGB in der ersten Person ausdrücken, als eine Position auffassen, starke Brechungen ausmachen lassen, mit denen z. B. die Kritik an der philosophischen Tradition in ein anderes Licht gerückt wird. Zwar wird in zahlreichen Passagen eine Überlegenheit gegen
40 Ohne derartige Markierung sind lediglich JGB 8, 18 und 9, letzterer adressiert jedoch die Stoiker in der zweiten Person Plural, so dass auch hier eine Sprecherperspektive hervortritt. 41 Zu den Personalpronomen in Nietzsches Texten vgl. van Tongeren 2000, S. 90 f. und Schubert 2012.
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über der philosophischen Tradition oder Gegenwart proklamiert, doch präsentieren sich einige der jeweiligen Perspektiven, die dies behaupten, als in die kritisierte Tradition eingelassen. Bereits die Überschriften des sechsten und des siebten Hauptstücks „wir Gelehrten“ und „unsere Tugenden“ zeigen ebenso wie zahlreiche Aphorismen an, dass derjenige, der sich in JGB ausdrückt, von seiner Verstrickung in die kritisierten Positionen weiß: „Mein Gedächtniss – das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub!“ (JGB 204, KSA 5, S. 130). In einer weiteren Passage heißt es dann: W i r I m m o r a l i s t e n ! – Diese Welt, die u n s angeht, in der wir zu fürchten und zu lieben haben […]. Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und können da nicht heraus –, darin eben sind wir „Menschen der Pflicht“, auch wir (JGB 226, KSA 5, S. 162).
Im anschließenden Aphorismus findet sich: „Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister […]“ und später: „bleiben wir h a r t, wir letzten Stoiker!“ (KSA 5, S. 162). Die positive Identifikation mit der Stoa ist überraschend, wenn beachtet wird, wie entschieden diese im ersten Hauptstück angegriffen und im Vergleich zu Epikur abgewertet wird. Darüber hinaus wird deutlich, dass derjenige, der sich an dieser Stelle bemerkbar macht, nicht behauptet, Redlichkeit sei die Tugend, von der er und die nicht näher spezifizierten Anderen nicht loskommen, sondern dass es bloß heißt „gesetzt, dass dies unsere Tugend ist“. Ähnlich lautete es schon zuvor: „Unsere Tugenden? – Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben“ (JGB 214, KSA 5, S. 151).42 Es drängt sich nicht nur hier der Verdacht auf, dass derjenige, der sich in JGB zu Wort meldet, keine souveräne Erkenntnisposition, keinen erhabenen oder gar absoluten Standpunkt beansprucht, sondern auf die Bedingtheit des eigenen Denkens hinweist. Eine Perspektive, die einige ihrer Fehlgriffe sehr wohl dokumentiert und unterstreicht, lässt sich auch in JGB 250 und 251 entdecken: Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn […]. Zum Beispiel über die Juden: man höre (JGB 251, KSA 5, S. 192 f.).
42 Vgl. hierzu die Kritik des ,historischen Sinns‘ in JGB 224, die verinnerlicht und in eine Selbstreflexion überführt wird: „Wir Menschen des ,historischen Sinns‘: wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten“ (KSA 5, S. 159). Auch hier – und in zahlreichen weiteren Passagen – bleibt es nicht bei einer scheinbar distanzierten Auseinandersetzung mit anderen Positionen, sondern die Verstrickung des Denkenden in das Gedachte wird problematisiert.
Text, Autor, Perspektive
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Das Eingeständnis, sich selbst irgendwann einmal Gedanken über derartige Dinge gemacht zu haben, könnte als eine wohlfeile und späte Selbstkritik erscheinen, wenn es sich z. B. auf frühere Werke bezieht. Doch folgt dieses Bekenntnis einer Passage über eben das Thema, das den Sprecher eigentlich nichts angeht: Aphorismus 250 steht unter der Frage „Was Europa den Juden verdankt?“ und der Aphorismus selbst spart nicht mit allgemeinen und wenig zurückhaltenden Aussagen über die Juden und das, was Europa ihnen verdankt:
Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten […]. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden — dankbar. (JGB 250, KSA 5, S. 192)
Aber nicht nur die vorangehende Passage, auf die sich JGB 251 als auf einen Bereich bezieht, über den man besser geschwiegen hätte, sondern ebenso der direkt an das Bekenntnis anschließende Satz wendet sich dem Judentum zu, so dass der Eindruck einer freudig-ironischen Selbstentblößung entsteht, da die Selbstkritik unnötig gewesen wäre, wenn die umliegenden Passagen schlichtweg fortgelassen worden wären. Es drängt sich somit der Eindruck auf, dass an dieser Stelle eine philosophierende Perspektive präsentiert wird, die auf ihre eigene Blöße, ihre eigene Fehlbarkeit und Anmaßung hinweisen will.43 Damit wird diese Perspektive nicht nur deutlich bemerkbar, indem sie als solche mit ihren eigenen Vorurteilen in den Vordergrund tritt, sondern sie öffnet sich zugleich für eine mögliche Kritik.
43 Burnham geht davon aus, dass Nietzsche in JGB 250 einen supranationalen Standpunkt vertritt, während er in JGB 251 eine nationalistische Maske trägt: „Nietzsche is wearing a mask of nationalism (that is, using its language, taking up its themes and concerns) in order to intervene within that discourse (and that of ,modern ideas‘), and change it from within“ (Burnham 2007, S. 181). Lampert deutet den „gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete“ als Verweis auf Nietzsches Nähe zu Wagner: „This remark presumably refers to the anti-Semitism of Wagner and his circle and represents Nietzsche’s public apology for his own brief descent into anti-Semitic remarks in the 1860s“ (Lampert 2001, S. 255 f.). Abgesehen davon, dass dies eine sehr kaschierte „public apology“ darstellen würde, trägt diese Feststellung nicht zur Klärung der Frage nach einer möglichen Funktion dieser Passage in ihrem Kontext bei. Irritierend ist auch die nicht unwesentliche Perspektivenumstellung vom Notat zum Aphorismus: Schließt das Notat mit dem Verweis auf Urteile über den Antisemitismus, zu denen man eigentlich unberufen sei („Zum Beispiel über den Antisemitismus: man höre. –“, W I 8, S. 201), sind es in JGB die Juden. Dies findet sich bereits in einem früheren Notat, wo noch von einem „kleinen Aufenthalte in D.“ (N VII 2, S. 26), sehr wahrscheinlich Deutschland, die Rede ist.
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Auch andere Philosophen weisen darauf hin, dass ihre Erkenntnisse ,beschränkt‘ sind, doch erhält dieser Aspekt in JGB ein entschiedenes Gewicht. Dies wird unter anderem in dem Aphorismus augenfällig, der einigen Aphorismen zum ,Weib‘ und den sieben Weibs-Sprüchlein vorangestellt ist, die nicht unbedingt zurückhaltend mit dem anderen Geschlecht umgehen: Aber im Grunde von uns, ganz „da unten“, giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares „das bin ich“; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm „feststeht“. Man findet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade u n s starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine „Überzeugungen“. Später – sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir s i n d, – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum U n b e l e h r b a r e n ganz „da unten“. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das „Weib an sich“ einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie sehr es eben nur – m e i n e Wahrheiten sind. (JGB 231, KSA 5, S. 170)
Das Streben des Denkers geht hier weniger auf eine Erkenntnis des anderen Geschlechts als auf Selbsterkenntnis. Die folgenden sehr starken Thesen zum „Weib an sich“ – auch Kants Auseinandersetzung mit dem Ding an sich klingt hier ironisch an – erlauben somit Rückschlüsse auf den, der sie vorbringt. Zwar werden die Thesen damit nicht zurückgenommen, doch zeigt sich, wie sehr sich eine Erkenntnisperspektive als eingelassen in einen unüberschreitbaren Horizont präsentiert.44 Auch hier erlaubt der Blick in den Nachlass Aufschluss über einige Veränderungen: Eine Vorstufe zu diesem Aphorismus trug den Titel „,Das Weib an sich‘“
44 Paul van Tongeren hat auf die Spannung, die zwischen den apodiktischen Thesen und der gleichzeitigen Perspektivierung in JGB 231 und den folgenden Aphorismen hingewiesen, und verallgemeinert: „True knowledge has, according to Nietzsche, both characteristics at the same time: it is absolute and apodictic on the one hand and it relativizes itself as only an interpretation on the other“ (van Tongeren 2000, S. 167; siehe auch van Tongeren 1989, S. 219). Lampert weist zwar auf die These hin, dass die Wahrheiten über das ,Weib an sich‘ „eben nur – m e i n e Wahrheiten sind“, lehnt jedoch die Möglichkeit, dass sie zu einer Perspektivierung des sich ausdrückenden Ichs dient, ausgehend von einer rhetorischen Frage ab: „Does this imply that these thoughts can be dismissed as idiosyncrasies of an unteachable male? On the contrary, my thoughts are the thoughts of a thinker whose cruel task is to recover the basic text of homo natura and use that recovered text in a war against modern ideas“ (Lampert 2001, S. 233). Burnham deutet diese Passage in dem Sinne, dass Nietzsche zwar auf sein eigenes Vorurteil verweist, das aber von allen Männern „by virtue of their gender“ (Burnham 2007, S. 167) geteilt wird.
Text, Autor, Perspektive
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(W I 8, S. 203).45 Obwohl dieser Titel nicht in JGB übernommen wurde, bleibt das Grundproblem im Aphorismus erhalten. Hierbei zeigen drei in den veröffentlichten Text eingegangene Hinzufügungen, inwiefern eine stärkere Bindung der Thesen zum Weib an die erste Person erreicht wird: Aus „Aber im Grunde, ganz ,da unten‘“ wurde in diesem Notat „Aber im Grunde von uns, ganz ,da unten‘“ und aus „zum ,Unbelehrbaren‘“ wurde „zu unserem ,Unbelehrbaren‘“ (W I 8, S. 203). Zuletzt wurde die „Artigkeit“ näher bestimmt und eingefügt: „wie ich sie eben gegen mich begangen habe“. Diese Bindung an die erste Person, die sich im Plural noch allgemein auf die unbelehrbaren Menschen – oder nur auf die Männer – beziehen könnte, wird mit dem abschließenden Singular in JGB 231 noch enger auf die Perspektive bezogen, die sich im Text artikuliert. Dieser Eindruck verstärkt sich mit Blick auf eine noch frühere Fassung, in der es heißt: „Über ‚Mann u. Weib‘ z. B. kann ich nicht umlernen, sondern nur auslernen: – nur zu Ende entdecken, was in mir darüber feststeht.“ (N VII 2, S. 54; Herv. M.A.B.). Die explizite Hervorhebung einer philosophierenden Perspektive holt somit das ein, was insbesondere im ersten Hauptstück allgemein über die Philosophen herausgestellt wurde. Wurde dort eine Kritik an der philosophischen Tradition laut, weil diese ihr eigenes Erkenntnisinteresse leugnete, so wird dieses Interesse performativ hervorgehoben, indem eine der Perspektiven, die sich in JGB bemerkbar machen, ihre eigene Verstrickung nicht nur eingesteht, sondern sie in den Fokus rückt und exponiert.46 Damit ließe sich diese Markierung der Leitung durch die eigenen Vorurteile als eine Funktion der Inszenierungsstrategien von JGB interpretieren. Die beiden angeführten Passagen können als Ausdruck einer Haltung gewertet werden, die sich um eine „Tapferkeit des Gewissens“47 bemüht und sich eingesteht, dass das Folgende auch für die eigene Perspektive gilt:
45 Es lässt sich dem Heft auch entnehmen, dass Nietzsche überlegte, den Titel ,Das Weib an sich‘ in einem Inhaltsverzeichnis, das bereits sehr dem von JGB ähnelt, als Titel des vierten Hauptstücks zu verwenden (vgl. W I 8, S. 159; vgl. auch W I 8, S. 174, wo die Formulierung zum Titel von „Die Gelehrten“ hinzugeschrieben wurde). 46 Es konnte bereits an ausgewählten Aphorismen gezeigt werden, dass die Kritik der philosophischen Tradition in JGB von der Antike bis in die Gegenwart modellhaft verstanden werden kann und dass der Text den Leser dazu motiviert, sie auf JGB selbst anzuwenden (vgl. Born 2012a und Born 2012b). 47 JGB 5, KSA 5, S. 19. Im Kontext: „[…] während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine ,Eingebung‘, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird: — sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie ,Wahrheiten‘ taufen — und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich
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Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, ob gerade i h r Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen! (JGB 25, KSA 5, S. 42)
Die Perspektive, die in JGB Thesen als solche vorstellt, hebt diese nicht notwendig wieder auf. Zwar wird darauf verwiesen, dass diese Thesen vermutlich Irrtümern aufsitzen, die dem Erkennen tief verankert zugrunde liegen, doch sind diese Thesen damit noch nicht als unhaltbar überführt. Der Verweis auf die Bedingtheit der eigenen Perspektive(n) kann als implizite Aufforderung verstanden werden, das jeweils Vorgebrachte nicht bloß hinzunehmen, sondern sich prüfend mit ihm auseinanderzusetzen. Das Eingeständnis, dass auch das eigene Denken von einer affektiv-leiblichen Sphäre und grammatikalischen Strukturen präformiert ist, bedeutet jedoch nicht, sich von den erkannten ,Beschränkungen‘ befreit zu haben. Statt aber diese Erkenntnis zu ignorieren oder sie gar zu kaschieren, zeigt JGB ein Denken, das die eigene Perspektivität explizit macht, wodurch in der Lektüre eine reflexive Spannung erzeugt wird, die eine steigernde Überschreitung des Vorgebrachten ermöglichen kann. Darüber hinaus kann diese performative Exposition dazu führen, dass der Rezipient die in JGB vollzogene Reflexion an sich nachvollzieht und seine eigenen Erkenntnisse auf ihre Herkunft überprüft bzw. dies wiederum – falls er als Autor tätig wird – von seinen Lesern fordert. Wenn betont wird „ich selbst gerade habe längst über Betrügen und Betrogenwerden anders denken, anders schätzen gelernt“ (JGB 34, KSA 5, S. 53), zeigt sich eine philosophierende Perspektive, die sich als Teil eines noch nicht abgeschlossenen und vermutlich unabschließbaren Diskurses inszeniert.48 Die schriftstellerische Strategie einer modellhaften Exposition von philosophierenden Perspektiven lässt sich dem durch den Verlust des Glaubens an ein gesichertes Wissen veränderten Erkenntnisparadigma zurechnen, das sich in JGB ausdrückt. Es konnte anhand zahlreicher Textpassagen gezeigt werden, dass sich in JGB nicht bloß eine Kritik an der Vorstellung eines überlegenen ErkenntnisSubjekts findet, sondern dass der Text einige seiner Perspektiven mittels literari-
dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt“ (JGB 5). 48 An späterer Stelle wird nach der „Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t “ (KSA 5, S. 54) gefragt, wodurch die endliche Erkenntnisperspektive deutlich als eine solche markiert wird. Hiermit wird eine Bescheidung der Erkenntnis auf den Bereich vorgenommen, über den von der jeweiligen Perspektive aus Aussagen möglich sind.
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scher Strategien exponiert. Diese Strategien können eine Abstoßbewegung initiieren, wobei mit etlichen Unbekannten von Seiten der Rezipienten zu rechnen ist, die durch den Text nicht endgültig zu steuern sind. Die starken Perspektiven, die sich im Text ausdrücken, widerlegen sich somit nicht selbst, sondern behaupten sich zuweilen entschieden und sichern sich oftmals mehr rhetorisch denn argumentativ gegen mögliche Einwände ab. Diese Perspektiven, die zuweilen auf ein ,Ich‘ des Textes schließen lassen, das sich nicht als überlegen darstellt, sondern seine Verstrickung in die Tradition und das Denken exponiert, müssen somit ausgehend von der Lektüre von einer anderen Perspektive aus in Frage gestellt und überwunden werden.
3 Fazit Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung wandte sich der Frage zu, inwiefern für die philosophische Deutung von Nietzsches Schriften deren Textualität von Bedeutung ist. Dies wurde exemplarisch anhand einer ‚textgenetischen‘ Lektüre von JGB 246 überprüft, einem Aphorismus, dessen publizierte Fassung auf hohem sprachlichen Niveau über unterschiedliche Schreibweisen reflektiert. Die kontrastierende Gegenüberstellung der publizierten Fassung mit ihren handschriftlich überlieferten Vorläufern zeigte, dass es im Zuge des Schreibprozesses an diesem ‚Aphorismus‘ nicht nur zu einer Zunahme der Autoreflexion der eigenen Darstellungsform kommt, sondern auch, dass der ‚Text‘ selbst den Resultaten dieser Reflexion mit jedem weiteren Überarbeitungsschritt immer konsequenter entspricht. Dies wurde als Ausdruck einer Tendenz zu einem performativen Schreiben hin gedeutet, das nicht nur thetisch-propositionale Inhalte präsentiert, sondern das Gesagte in den eigenen Ausdruck einschreibt. Der zweite Teil der Untersuchung verfolgte diesen Aspekt des performativen Schreibens anhand der Inszenierung von philosophierenden Perspektiven in JGB. Hierbei stellte sich heraus, dass deren vielfältige Perspektivierungen es nicht erlauben, sie ohne entschiedene Verluste für eine Interpretation auf einen einzelnen ‚Erzähler‘ oder gar den Autor Friedrich Nietzsche zu reduzieren. Dagegen zeigt JGB ein Denken, das sich selbst als prozessual präsentiert und den Leser in ungelöste Probleme hineinführt, die er selbst aus seiner Perspektive reflexiv durchdringen muss. Somit dient JGB als Modell einer Auseinandersetzung mit philosophischen Thesen, das weniger auf eigene Thesen fixiert ist als dass es den Nachvollzug des Denkens textuell in den Vordergrund stellt.
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Beat Röllin
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig? Zur Werkgenese von Jenseits von Gut und Böse Am 10. April 1886 berichtete Friedrich Nietzsche seinem Freund Franz Overbeck aus Nizza, wo er die Wintermonate über mit der Vollendung eines neuen Werkes beschäftigt gewesen war: Winter-Pensum exakt fertig, Abschrift selbsthändig besorgt, Fädchen drum gebunden, ad acta gelegt. Dergleichen druckt mir Niemand, am wenigsten Credner; und der Luxus vom vorigen Jahre darf nicht wiederholt werden (ich meine das Drucken auf eigne Kosten.) Zuletzt: es hat Alles keine Eile. (KGB III/3, Bf. 684)
Ganz ähnlich äußerte er sich auch am folgenden Tag gegenüber seinem Schwager Bernhard Förster: Er sei „[e]twas überarbeitet“ aufgrund von „viel Abschreiberei“ – „schließlich fehlt mir die Lust, etwas von mir ‚öffentlich‘ zu machen. Kurz, ein Fädchen um’s Manuscript und ad acta gelegt.“ (KGB III/3, Bf. 685) Das Manuskript, von dem die Rede ist, war Jenseits von Gut und Böse. Nachdem Nietzsche im Verlauf der „Abschrift“ (KGB III/3, Bf. 684) für sein neues Werk verschiedene Titel in Erwägung gezogen hatte, stand dieser Titel offenbar seit Ende März definitiv fest, denn am 27. März teilte ihn Nietzsche seinem Freund Heinrich Köselitz mit: Diesen Winter habe ich benutzt, etwas zu schreiben, das Schwierigkeiten in Fülle hat, so daß mein Muth, es herauszugeben, hier und da wackelt und zittert. Es heißt: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. (KGB III/3, Bf. 680)
Tatsächlich schien es Nietzsche im Weiteren weder an der Lust noch an Mut zu fehlen, JGB herauszugeben. Am 12. April, nur gerade zwei Tage nachdem er das Manuskript angeblich „ad acta gelegt“ (KGB III/3, Bf. 684) hatte, versuchte er Carl Heymons vom Carl Duncker’s Verlag in Berlin als neuen Verleger dafür zu gewinnen: Geehrter Herr, mit diesem Briefe möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, ein philosophisches Werk von mir herauszugeben, das unter dem Titel „Jenseits von Gut und Böse“ bereit sein würde, in die Welt zu gehn. […] Der Umfang des Buches möchte sich ungefähr auf 300 Seiten erstrecken. – Bedingungen für neue Auflagen vorbehalten. – Druck alsbald beginnend. (KGB III/3, Bf. 687)
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Doch Heymons lehnte ab und ließ sich, da er aufgrund seiner durchaus realistischen Kalkulationen ein Verlustgeschäft befürchten musste, auch nicht durch Nietzsches Bereitschaft, auf sein Autorenhonorar zu verzichten, umstimmen. Nietzsche machte daraufhin einen letzten Versuch mit Hermann Credner von Veit und Comp., einem Verleger aus Leipzig. Mit Credner hatte er im Herbst 1885 bereits eine Neuauflage von Menschliches, Allzumenschliches vereinbart und, nach dem endgültigen Scheitern dieses Vorhabens, sich im Januar auf eine Fortsetzung der Morgenröthe geeinigt. Nietzsches Enthusiasmus, der ihn mitunter zu einem abendlichen „kleinen Rundtanz“ im Nachthemd animiert hatte, weil er in Credner seinen „lange ersehnte[n] Verleger der Zukunft“ (KGB III/3, Bf. 666) gefunden zu haben meinte, war indessen bald geschwunden. Zum einen ließ sich das neu entstandene Werk nach Nietzsches eigener Einschätzung nicht mehr als eine Fortsetzung der Morgenröthe herausgeben, zum anderen machte Credner bezüglich der Form und Ausstattung des Buches verlegerische Vorgaben, die Nietzsches Wünschen überhaupt nicht entgegenkamen. Dank der diplomatischen Vermittlung durch Max Heinze, der Nietzsche im April in Nizza besucht hatte und Anfang Mai in Leipzig bei Credner vorsprach, schien eine Publikation von JGB im Verlag Veit und Comp. zu guter Letzt aber doch noch möglich. Nietzsche beauftragte Heinze deshalb, Credner das Manuskript auszuhändigen, mit der Bitte, den Druck sofort in Angriff zu nehmen. Zwei Wochen später, am 23. Mai, verlangte Nietzsche jedoch völlig aufgebracht sein Manuskript von Credner zurück, da dieser mit dem Druck noch nicht einmal begonnen hatte. JGB erschien schließlich im „Druck und Verlag“ von C. G. Naumann – auf Nietzsches eigene Kosten. Am 3. Juni gab Nietzsche seine definitive Zusage: Geehrter Herr, besten Dank für die übersandte Berechnung: ich gestehe, daß ich gehofft hatte, Sie würden einen noch geringeren Kostenpreis herausrechnen. […] Zuletzt bitte ich Sie angelegentlich, den Druck, so sehr es nur angeht, zu beschleunigen und jede Woche mindestens 3 Bogen fertig zu stellen. (KGB III/3, Bf. 705)
Das Manuskript, das Nietzsche am 10. April in Nizza fertiggestellt hatte, ging also erst Anfang Juni in Druck. Der Druck nahm rund acht Wochen in Anspruch, ausgeliefert wurde das Buch Anfang August. Ein ‚Fädchen um’s Druckmanuskript‘ und fertig? Hatte Nietzsche am 10. April 1886 in Nizza denn tatsächlich dasjenige JGB abgeschlossen, das Anfang August erschien? Diese Frage stellt sich zumal, wenn man Nietzsches Brief vom 12. April an den Verleger Heymons genauer liest. Den Inhalt von JGB umriss Nietzsche damals wie folgt: Das Buch enthält zehn Abschnitte, deren Überschriften lauten: Von den Vorurtheilen der Philosophen. Der freie Geist. Das religiöse Genie. Das Weib an sich. Zur Naturgeschichte der
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Moral. Wir Gelehrten. Unsere Tugenden. Völker und Vaterländer. Masken. Was ist vornehm? (KGB III/3, Bf. 687)
Abgesehen davon, dass das vierte Hauptstück noch „Das Weib an sich“ statt „Sprüche und Zwischenspiele“ hieß und das dritte Hauptstück „Das religiöse Genie“ statt „Das religiöse Wesen“, fällt an dieser Inhaltsangabe vor allem auf, dass JGB Mitte April mit „Masken“ noch ein weiteres Hauptstück, also insgesamt zehn statt neun Hauptstücke umfasste, aber noch keine Vorrede und keinen Nachgesang beinhaltete. Im Folgenden soll eine Manuskriptanalyse, deren besonderes Augenmerk der zum Teil mehrfach redigierten Nummerierung der Aphorismen gilt, etwas Licht ins Dunkel der Werkgenese und Werkkomposition von JGB bringen.
1 Das Druckmanuskript D 18 Das Druckmanuskript von JGB ist Bestand von Nietzsches spätem Nachlass und wird im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar unter der Signatur GSA 71/26 aufbewahrt. Die gemeinhin verwendete Mette-Signatur lautet D 18. Bis auf ein vermutlich fehlendes Titelblatt ist D 18 vollständig überliefert. Es umfasst 108, in der Regel nur auf der Vorderseite beschriebene Blätter. Im Prinzip handelt es sich bei diesem Manuskript um ein Konvolut von Folioblättern. Doch die meisten Folioblätter sind zurechtgeschnitten. Viele dieser Teilblätter sind wiederum aneinandergeklebt, mitunter mittels schmaler Papierstreifen, die zwischen die aneinandergefügten Teilblätter geklebt sind. Aus diesem Grund besteht ein JGB-Druckmanuskriptblatt oft aus mehreren montierten Teilblättern. Die Beschaffenheit des Druckmanuskripts lässt einige Rückschlüsse auf seine Entstehung zu: Nietzsche muss die „Abschrift“ (KGB III/3, Bf. 684), d. h. die Reinschriften, die zur späteren Verwendung als Druckvorlage bestimmt waren, auf Foliobogen festgehalten haben. Er benutzte dazu ausschließlich die Vorderseiten, die er in der Regel von der ersten bis zur letzten Zeile beschrieb. Hatte er eine Reinschrift abgeschlossen, begann er noch auf demselben Blatt, nach einer Leerzeile, mit der nächsten. Diese Reinschriften entstanden in einer vermutlich insgesamt beliebigen, auf jeden Fall für das spätere Werk nicht weiter verbindlichen Reihenfolge. Die eigentliche Werkkomposition mit Schere und Leim erfolgte wahrscheinlich erst nach der ganzen „Abschreiberei“ (KGB III/3, Bf. 685) oder kurz vor Schluss. Nietzsche muss die Foliobogen auseinander- und zugeschnitten haben, um die Reinschriften als einzelne Texte (Aphorismen) neu sortieren und arrangieren zu können. Daraufhin klebte er,
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zumal wenn es sich um kürzere Texte handelte, die Reinschriften in der gewünschten Reihenfolge wieder aneinander. Die Entstehungszeit der zugrundeliegenden Reinschriften ist auf vermutlich Ende Januar bis 10. April 1886 zu datieren. In einem nur als Entwurf überlieferten Brief bot Nietzsche Mitte Januar dem Verleger Credner „etwas Neues“ an (damals noch als Fortsetzung der Morgenröthe), das „bis zur Abschrift fertig“ (N VII 2, S. 19 f., resp. KGB III/3, Bf. 663) sei. Zu jenem Zeitpunkt hatte er die Texte also noch nicht als Druckvorlage ins Reine geschrieben. Nachdem er von Credner, datiert auf den 26. Januar, dessen „principielles Einverständniß“ (KGB III/4, Bf. 339) erhalten hatte, wird sich Nietzsche sogleich an die Arbeit gemacht haben. Er sah sich im Folgenden aber, wie er in seinem nur als Entwurf überlieferten Antwortschreiben an Credner von vermutlich Ende Januar eingestehen musste, durch sein Augenleiden „bedenklich in der Vollendung der Abschrift gehemmt“ (N VII 2, S. 23, resp. KGB III/3, Bf. 665). Am 25. Februar berichtete er dann seiner Mutter, er komme mit dem Abschreiben „langsam, langsam von der Stelle“ (KGB III/3, Bf. 674). Am 10. April schließlich konnte er seinem Freund Overbeck, wie eingangs zitiert, mitteilen, dass er die Abschrift „exakt fertig“ (KGB III/3, Bf. 684) habe. Diese Datierung auf vermutlich Ende Januar bis 10. April 1886 gilt jedoch nicht für alle Reinschriften des Druckmanuskripts. JGB 24 und JGB 193 sowie rund ein Drittel der „Sprüche und Zwischenspiele“ (JGB 63–78, 93–98, 156–162 und 166–185) stellen, wie am unterschiedlichen Papier und an der Handschrift zu erkennen ist, Reinschriften älteren Datums dar, die Nietzsche als solche in das neue Druckmanuskript einfügte. Die ebenfalls früher entstandene Reinschrift zu JGB 16 stammt zudem von fremder, genauer von Louise Röder-Wiederholds Hand: Nietzsche verwendete in diesem Fall eine der Diktatniederschriften vom Juni 1885 für das Druckmanuskript.
2 Die Nummerierung der Aphorismen Wirft man einen Blick auf das Druckmanuskript D 18, werden nicht nur die vielen Überarbeitungen der Texte sofort auffallen, sondern auch die durchgängigen Korrekturen der Nummerierung. Die Nummern aller Aphorismen wurden (mit Ausnahme von JGB 258) mindestens ein Mal, mitunter bis zu vier Mal geändert: zuweilen von Nietzsches Hand, öfter von fremder Hand, mal mit Tinte, mal mit Bleistift, mal durch Überschreibung der Ziffern, mal durch Aufzeichnung einer neuen Nummer und Durchstreichung der alten. In den häufigsten Fällen beschränkte sich die Redaktion der Nummerierung darauf, dass eine von Nietzsche eingetragene Nummer in der Druckerei von
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig?
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fremder Hand korrigiert wurde. In anderen Fällen wie zum Beispiel der Reinschrift von JGB 285 ist der Befund komplexer (vgl. D 18, Bl. 100r; siehe Abb. 18): Die anfängliche Nummer „305“ wurde zu „307“ korrigiert, später zu „313“, alles jeweils von Nietzsches Hand. Danach wurde die „313“ von fremder Hand zu „282“ korrigiert, später zu „284“. Der Aphorismus stand im Druckmanuskript also zuletzt unter der Nummer 284 – er erschien schließlich als JGB 285. Für die teils mehrfachen Korrekturen der Nummerierung gab es verschiedene Gründe. Bei rund dreihundert Aphorismen auf über hundert Blättern ist es nicht weiter verwunderlich, dass bei der Nummerierung hin und wieder Fehler unterliefen: dass einmal ein Aphorismus vergessen wurde, dass einmal die Abfolge der Blätter durcheinandergeraten war oder dass schlicht falsch gezählt wurde. Der entscheidende Grund für die Vielzahl der Korrekturen war jedoch der Umstand, dass Nietzsche nach der ersten Nummerierung mehrere werkkompositorische Eingriffe vornahm. Zum einen entfernte er Aphorismen wieder aus dem Manuskript oder strich sie ebenda durch. Oder er fügte nachträglich einen neuen Aphorismus hinzu. Zum anderen änderte er die Reihenfolge von Aphorismen innerhalb eines Hauptstücks. Oder er entriss Aphorismen ihrem ursprünglichen Kontext, um sie in ein anderes Hauptstück einzufügen. Dem Drucker waren diese Korrekturen gewiss ein Ärgernis, für die Forschung stellen sie indessen einen Glücksfall dar. Denn anhand der Änderungen, die Nietzsches werkkompositorischen Nachbesserungen geschuldet sind, lässt sich die Werkgenese von der Fertigstellung des Druckmanuskripts im April bis zum tatsächlichen Erscheinen des Buches im August 1886 in weiten Teilen rekonstruieren.1
1 Eine tabellarische Übersicht über sämtliche Aphorismennummern im Druckmanuskript D 18 findet sich am Ende dieses Aufsatzes. Die Tabelle gibt die Nummerierung und ihre diversen Änderungen zwar etwas vereinfacht, aber vollständig wieder. In der ersten Spalte sind die Nummern der Erstfassung eingetragen, in den folgenden vier Spalten die diversen Änderungen dazu und in der letzten Spalte die endgültigen Nummern der Aphorismen in JGB (respektive für in JGB nicht erschienene, aber überlieferte Nummern der KSA-Druckort). In der Tabelle recte gedruckte Nummern stammen von Nietzsches Hand, kursiv gedruckte Nummern von fremder Hand. Nummern in spitzen Klammern sind in D 18 nicht überliefert und in der Tabelle von mir ergänzt. Die in der ersten Spalte fett gedruckten Nummern gehörten zum ursprünglichen neunten Hauptstück „Masken“ (siehe dazu die folgende Rekonstruktion). Die Anordnung von oben nach unten folgt dem Druckmanuskript respektive JGB: zuerst die Vorrede, dann die neun Hauptstücke mit den Aphorismen 1–296, dann der Nachgesang.
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Beat Röllin
3 Die Erstfassung mit 308 Aphorismen in „10 Abschnitten“ Die von Nietzsche eigenhändig vorgenommene erste Nummerierung der Aphorismen ergibt eine Erstfassung von JGB.2 Diese Erstfassung zählte 308 Aphorismen.3 Fast alle 308 Nummern sind mit dem Druckmanuskript D 18 überliefert; es fehlen einzig die Nummern 32–36, 260, 264, 272, 308. Zwei dieser Nummern, 260 und 308, finden sich im Nachlass wieder, in Mappe Mp XV, Bl. 76r und Bl. 77r (vgl. NL 1886, KSA 12, 4[5] und 4[3]). Nietzsche entfernte sie im Zuge der weiteren Werkkomposition aus dem Druckmanuskript und bewahrte sie daraufhin unter seinen Papieren auf. In Bezug auf die fehlenden Nummern 264 und 272 ist zu vermuten, dass eine dieser beiden Nummern die ursprüngliche Aphorismusnummer von JGB 40 war.4 Von den 308 Aphorismen der Erstfassung scheinen zuletzt also nur sechs Aphorismen, die Nummern 32–36 und die Nummer 264 oder 272, nicht überliefert zu sein.5
2 Der von mir so genannten ‚Erstfassung‘ können im Laufe von Nietzsches Werkgestaltung durchaus andere, frühere Fassungen vorausgegangen sein; diese hatte Nietzsche aber noch nicht nummeriert. 3 Ein Aphorismus war dabei versehentlich doppelt nummeriert (JGB 86, in der Erstfassung Nummer 90 und 91), ein weiterer Aphorismus war versehentlich ohne Nummer geblieben (JGB 237 [b]). 4 Für JGB 40 fehlt die erste Nummerierung; offenbar schnitt Nietzsche sie bei einer späteren Beschneidung des entsprechenden Druckmanuskriptblattes weg. Doch das Incipit von JGB 40 lautet „Alles, was tief ist, liebt die Maske“ (JGB 40, KSA 5, S. 57), und ich werde im Folgenden zeigen, dass die fehlenden Aphorismen Nummer 264 und 272 der Erstfassung ursprünglich einem Hauptstück mit dem Titel „Masken“ zugehörten. 5 Aber vielleicht sind uns die Aphorismen 32–36 doch überliefert, freilich in einer späteren Abschrift und in einem anderen Kontext, nämlich mit der Vorrede zu MA I. Denn erstens stammen die fünf Aphorismen 32–36 aus dem JGB-Hauptstück über den „freie[n] Geist“ und gehörten offenbar zusammen. Zweitens gehen die Abschnitte 3–8 der MA I Vorrede alle – wie eben die meisten JGB-Aphorismen – auf Vorstufen aus dem Sommer 1885 und Winter 1885/86 zurück. Drittens sind im JGB-Druckmanuskript auf zwei Rückseiten Fragmente einer Reinschrift dieser Vorstufen vom Sommer 1885 und Winter 1885/86, das heißt Fragmente einer weiteren, späteren Vorstufe zur MA I Vorrede überliefert (D 18, Bl. 8v und 85v); diese Fragmente einer weiteren Vorstufe lassen, da im Druckmanuskript durchgestrichen und bloß noch des Papiers wegen verwendet, auf eine weitere, noch spätere Reinschrift schließen, die Nietzsche bei der Zusammenstellung des Druckmanuskripts bereits angefertigt haben musste. Und viertens verfasste Nietzsche die MA I Vorrede nach eigener Darstellung zum größten Teil im Frühling 1886 in Nizza (obwohl er damals von der späteren Realisierbarkeit der Neuausgabe von MA noch gar nicht wissen konnte). – Ich vermutete an anderer Stelle bereits, dass zur MA I Vorrede eine nicht überlieferte Reinschrift aus dem Frühjahr 1886 existiert haben muss (vgl. Röllin 2012, S. 45,
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig?
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Die Reihenfolge, in der die ursprünglichen Aphorismen 1–308 im Druckmanuskript vorliegen, liefert die entscheidenden Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der Werkstruktur der Erstfassung. Nach den Nummern 1–258 tritt zwischen dem achten und dem neunten Hauptstück, zwischen „Völker und Vaterländer“ und „Was ist vornehm?“, eine größere Lücke in der ursprünglichen Reihenfolge auf: Im Anschluss an die Nummer 258 erscheinen die Nummern 285 und folgende. In der ursprünglichen Reihenfolge fehlen also 26 Aphorismen: die Nummern 259–284. (Dem Schicksal dieser Nummern gehen wir weiter unten nach.) Wie bereits erwähnt, bot Nietzsche dem Verleger Heymons am 12. April 1886 ein JGB an, das „zehn Abschnitte“ enthielt. Die Titel, die Nietzsche damals nannte, entsprechen größtenteils den definitiven Titeln der Hauptstücke, wie wir sie kennen. Indessen hatte das ursprüngliche neunte Hauptstück den Titel „Masken“, während „Was ist vornehm?“ damals noch das zehnte Hauptstück darstellte. Dieselben Titel und dieselbe Reihenfolge – „9. Masken / 10. Was ist vornehm?“ – finden sich auch in der spätesten JGB-Werkdisposition, die sich Nietzsche in sein damaliges Arbeitsheft notierte (vgl. W I 8, S. 159).6 Ferner ist im Nachlass ein Folioblatt mit der Aufschrift „Masken“ überliefert, das Nietzsche offenbar zeitweilig als Titelblatt gedient hatte (Mappe Mp XIV, S. 422; bislang unpubliziert). Und schließlich zeugt im Druckmanuskript das Titelblatt zu „Was ist vornehm?“ von der früheren Kapiteleinteilung: Die erste Niederschrift des Titelblattes lautete nicht „Neuntes“, sondern „Zehntes Hauptstück: / was ist vornehm?“; erst in einer späteren Überarbeitung korrigierte Nietzsche „Zehntes“ zu „Neuntes“ Hauptstück (D 18, Bl. 88r; siehe Abb. 19). Die verschiedenen Indizien lassen zweifelsfrei den Schluss zu, dass die aus dem Druckmanuskript rekonstruierte Erstfassung in 308 Aphorismen mit jenem JGB in „zehn Abschnitten“ identisch ist, das Nietzsche am 12. April 1886 dem Verleger Heymons anbot und das ein neuntes Hauptstück mit dem Titel „Masken“ beinhaltete. Dieses ursprüngliche neunte Hauptstück „Masken“
Anm. 50). Ich kann nun im Anschluss daran weiter vermuten, dass diese nicht überlieferte Reinschrift vor allem aus den der Erstfassung von JGB entnommenen Aphorismen 32–36 bestanden hatte. 6 Die Werkdisposition W I 8, S. 159 geht wiederum auf Dispositionen im selben Heft, S. 173–174, zurück. Die S. 174–151 enthalten zudem, neben den letzten Vorstufen (mit Ausnahme des noch späteren „Nachgesangs“ und einer Druckfahnenkorrektur), auch die spätesten Titelentwürfe zu JGB („Zur Naturgeschichte des höheren Menschen“, „Selbstgespräche eines Psychologen“ und eben „Jenseits von Gut und Böse“; vgl. W I 8, S. 151 ff.).
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Beat Röllin
muss jene Nummern 259–284 der Erstfassung zum Inhalt gehabt haben, die in der erwähnten Lücke der ersten Nummerierung zwischen dem achten („Völker und Vaterländer“) und späteren neunten Hauptstück („was ist vornehm?“) fehlen. Das Inhaltsverzeichnis des ursprünglich neunten „Masken“-Hauptstücks ist somit wie folgt zu rekonstruieren: Erstfassung: 259 260 261 262 263
265 266 267 268 269 270 271
273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284
JGB (resp. Nachlass): JGB 296 (Mp XV, Bl. 76r = NL 1886, KSA 12, 4[5]; aus dem Dm entfernt) JGB 193 JGB 246 JGB 247a ? (JGB 40?) JGB 27 JGB 28 JGB 288 JGB 289 JGB 290 JGB 291 JGB 292 ?(JGB 40?) JGB 277 (D 18, Bl. 99r = NL 1886, KSA 12, 4[2]; im Dm gestrichen) JGB 278 JGB 279 (D 18, Bl. 99r = NL 1886, KSA 12, 4[4]; im Dm gestrichen) JGB 280 JGB 281 JGB 282 JGB 283 JGB 269 JGB 270 JGB 295
4 Die Auflösung des „Masken“-Hauptstücks Bekanntlich erschien JGB schließlich nicht in der Form der Erstfassung, nicht mit 308 Aphorismen in zehn Hauptstücken, sondern mit insgesamt 296 Aphorismen in neun Hauptstücken. Nietzsche hatte das „Masken“-Hauptstück aufgelöst und die Aphorismen daraus auf die übrigen Hauptstücke verteilt. So finden sich die Nummern 259–284 (mit Ausnahme von vier Aphorismen, die Nietzsche nicht mehr weiter für JGB
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig?
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verwendete) im überlieferten Druckmanuskript an verschiedenen Stellen außerhalb der ursprünglichen Reihenfolge der Erstfassung.7 Lediglich sechs dieser Nummern rückte Nietzsche in die vorangehenden Hauptstücke: die Nummern 265 und 266 sowie das spätere JGB 40 (das keine Erstnummerierung mehr aufweist) in das zweite Hauptstück, die Nummer 261 in das fünfte und die Nummern 262 und 263 in das achte Hauptstück. Die übrigen sechzehn Aphorismen ordnete er in das folgende, d. h. in das letzte und fortan neunte Hauptstück „Was ist vornehm?“ ein. Nietzsches Beweggründe zur Neu- oder Umgestaltung der Werkstruktur von JGB lassen sich aus dem Manuskriptbefund nicht erhellen: Aus dem Manuskript ist nur zu erschließen, wie Nietzsche in der Werkkomposition Änderungen vornahm, nicht aber warum. Da er die Aphorismen größtenteils in „Was ist vornehm?“ unterbrachte, liegt zwar die Vermutung nahe, dass ihm die beiden Hauptstücke „Masken“ und „Was ist vornehm?“ vom Inhalt her zu ähnlich waren; vielleicht war ihm aber auch daran gelegen, die bereits vorhandenen Analogien von JGB zu Menschliches, Allzumenschliches um eine weitere Analogie zu ergänzen, da nunmehr beide Werke jeweils neun Hauptstücke zählten. Auch hinsichtlich einer genaueren Datierung der JGB-Fassung in neun Hauptstücken lässt uns die Überlieferung im Dunkeln. Denn es sind weder im Druckmanuskript noch in Nietzsches Briefwechsel Anhaltspunkte auszumachen, die darauf hinweisen könnten, wann genau Nietzsche das „Masken“-Hauptstück auflöste. Nachdem er die Erstfassung spätestens am 12. April 1886, als er sie dem Verleger Heymons anbot, erstellt hatte, lag das Manuskript noch zwei, maximal drei Wochen bei ihm in Nizza (und vielleicht auch noch in Venedig?), bevor er es Anfang Mai seinem Freund Heinze nach Leipzig schickte. Und nachdem er das Manuskript am 25. Mai von Credner zurückerhalten hatte (vgl. KGB III/4, Bf. 381), war es ungefähr eine weitere Woche in Nietzsches Besitz, dieses Mal in Naumburg, bis er es schließlich Anfang Juni Naumann zum Druck übergab. Sowohl Mitte bis Ende April als auch Ende Mai, Anfang Juni hatte Nietzsche also Gelegenheit, Änderungen am Gesamttext von JGB vorzunehmen und die Kapitel umzustellen. Da sich Nietzsches Beweggründe für die Revision der Werkkomposition nicht ermitteln lassen, bleibt auch unklar, welche JGB-Fassung – die Erstfassung mit zehn Hauptstücken oder die spätere Fassung mit neun Hauptstücken – bei Credner in Druck gegangen wäre, wenn dieser sich im Mai 1886 als zuverlässiger und vertrauenswürdiger Verleger herausgestellt hätte.
7 In der tabellarischen Übersicht zur Nummerierung am Ende dieses Aufsatzes sind diese Nummern fett hervorgehoben.
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5 Die neue Vorrede Die Erstfassung besaß wahrscheinlich keine Vorrede. Zwar hatte Nietzsche in der spätesten JGB-Werkdisposition im Arbeitsheft W I 8 noch eine Vorrede geplant (vgl. W I 8, S. 159), aber im Brief an den Verleger Heymons umriss Nietzsche den Inhalt der Erstfassung ohne Vorrede; und auch im Druckmanuskript selbst weist nichts darauf hin, dass zur Erstfassung eine Vorrede existiert hätte.8 Die JGB-Vorrede, wie wir sie kennen, kam erst zu einem späteren Zeitpunkt zustande, indem Nietzsche die ursprünglichen Aphorismen Nummer 1 und 2 kurzerhand zur Vorrede umfunktionierte. Zu diesem Zweck überschrieb er die Nummerierung des ersten Aphorismus („Vorausgesetzt, daß die Wahrheit ein Weib ist“) mit „Vorrede.“, strich die Nummerierung des zweiten Aphorismus („Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe“) durch und fügte, mit einer Notiz für den Setzer („ohne Zwischenraum!“), eine Anschlusslinie ein, die den ersten mit dem vormals zweiten Aphorismus verband (vgl. D 18, Bl. 1r; siehe Abb. 11). Des Weiteren überarbeitete er die Schlusssätze des zweiten Aphorismus („Als Noth empfand ihn zum Beispiel Pascal […] selbst todtzulachen. – “, KSA 14, S. 346), die nunmehr den Schluss der neuen Vorrede darstellten („Aber wir, die wir weder Jesuiten […] wer weiß? das Z i e l …“, JGB Vorrede, KSA 5, S. 13). In der Folge korrigierte er die gesamte Nummerierung des ersten Hauptstücks: Aus den Nummern 3–25 wurden die Aphorismen 1–23. Auf die aufwendige und bestimmt mühsame Korrektur der Nummerierung in den übrigen acht Hauptstücken verzichtete er. Diese weiteren Korrekturen wurden im Druckmanuskript durchgängig von fremder Hand, also in der Druckerei nachgetragen.9 Mit dieser Umstellung war die Werkstruktur von JGB, wie es Nietzsche schließlich veröffentlichen sollte, weitgehend realisiert. Was Nietzsche dazu bewog, JGB zuletzt doch noch mit einer Vorrede beginnen zu lassen, ist anhand der Überlieferung ebenfalls nicht zu ermitteln. Die Plausibili-
8 Im Druckmanuskript finden sich jedoch noch die Spuren einer Vorrede, die Nietzsche vor der Komposition der Erstfassung wieder verworfen haben muss. D 18, Bl. 25 war ursprünglich ein Titelblatt mit der Aufschrift „Vorrede“. Die Rückseite (die im Druckmanuskript schließlich als Vorderseite erscheint) benutzte Nietzsche zur Reinschrift der Aphorismen JGB 42 und 43. Diese beiden Aphorismen besaßen bereits eine Nummerierung („1“, „2“), die der Nummerierung der Erstfassung vorausgegangen war. Ich vermute, dass dies die Nummerierung der Vorrede war, einer Vorrede, die Nietzsche folglich noch vor der Komposition der Erstfassung wieder verworfen hatte. Die Vorstufen zu JGB 42 und 43 hatte Nietzsche bereits im Sommer 1885 als Anfang einer Vorrede vorgesehen. 9 In der tabellarischen Übersicht zur Nummerierung am Ende dieses Aufsatzes sind die Neuordnung des Anfangs mit einer Vorrede und die damit einhergehenden Korrekturen der Nummerierung in der vierten Spalte festgehalten.
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tät verschiedener Spekulationen darüber hängt unter anderem davon ab, wann genau Nietzsche die beiden ersten Aphorismen der Erstfassung zur Vorrede umwandelte. Im Druckmanuskript ist die Vorrede gezeichnet mit „Sils-Maria, im Juni 1885.“, in JGB, auf eine spätere Anweisung Nietzsches vom 19. Juli 1886 hin, mit „Sils-Maria, Oberengadin / im Juni 1885 (Letzteres ganz klein!)“ (KGB III/3, Bf. 723). Dabei handelt es sich um ein symbolisches Datum. Tatsächlich war in Sils-Maria im Juni 1885 eine erste Reinschrift des der Vorrede zugrundeliegenden Textmaterials zustande gekommen; Nietzsche hatte es damals Louise Röder-Wiederhold diktiert. Doch das vermeintliche Datum der Vorrede notierte Nietzsche erst viel später im Druckmanuskript, im Zuge der nachträglichen Umwandlung der beiden Aphorismen Nummer 1 und 2 zur Vorrede. Er musste es am oberen Blattrand hinzufügen (vgl. D 18, Bl. 1r; siehe Abb. 11), da am unteren Blattrand, aufgrund der Überarbeitung der neuen Schlusssätze der Vorrede, kein Platz mehr war. In meiner Untersuchung zu den Werkplänen vom Sommer 1885 äußerte ich die Vermutung, Nietzsche habe das Datum – „Sils-Maria, im Juni 1885.“ – erst in Nizza im April 1886 aufgeschrieben (vgl. Röllin 2012, S. 178 f.). Nach meinen weitergehenden Recherchen zur Entstehungsgeschichte des Druckmanuskripts von JGB erachte ich es inzwischen als wahrscheinlicher, dass Nietzsche die Datierung der Vorrede erst Ende Mai, Anfang Juni in Naumburg oder Leipzig vornahm.10
6 Die kleine Odyssee von JGB 296 Wenngleich Nietzsche eine ganze Reihe von Aphorismen umstellte oder in einem anderen Hauptstück unterbrachte, gab es nur einen einzigen Aphorismus, JGB 296 („Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!“), den er gleich mehrmals an eine andere Stelle rückte und dabei verschiedenen Hauptstücken zuordnete. Nietzsche war sich anscheinend nicht schlüssig, an welcher besonderen Stelle im Werk dieser stilistisch wie inhaltlich herausragende, poetologische Aphorismus am besten zu seiner Wirkung kommen könnte.
10 Die verschiedenen Indizien lassen in diesem Fall aber (bislang) keine einheitliche Deutung zu. Als besonderes Problem erweist sich der schlechte Zustand von D 18, Bl. 1. Offensichtlich war Bl. 1 als oberstes Blatt des Druckmanuskripts über längere Zeit hinweg ungeschützt dem Licht ausgesetzt, so dass es stark vergilbt ist. Infolgedessen lassen sich auf diesem Blatt die verschiedenen Tinten von Auge nur schlecht differenzieren, vor allem aber lassen sie sich im Vergleich mit dem Befund im übrigen Manuskript nur bedingt identifizieren. Die im Manuskript auf Bl. 1 heute braun erscheinende Tinte, mit der Nietzsche die Neuerungen „Vorrede“ und „Sils-Maria, im Juni 1885.“ nachtrug, war möglicherweise ursprünglich dieselbe, schwarze Tinte, mit der er das Inhaltsverzeichnis, D 18, Bl. 3, um den Eintrag „Aus hohen Bergen. Nachgesang.“ ergänzte.
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In der Erstfassung hatte Nietzsche JGB 296 als Aphorismus 259 an den Anfang des ursprünglichen neunten Hauptstücks „Masken“ gestellt (vgl. hier und im Folgenden D 18, Bl. 104r; siehe Abb. 20). Nach der Auflösung des „Masken“Hauptstücks sollte der Aphorismus den Schluss von „Was ist vornehm?“ und damit den Schluss von JGB überhaupt bilden, das damals noch keinen Nachgesang besaß. Also gab Nietzsche dem Aphorismus die Nummer 324, was in der Durchnummerierung zu jenem Zeitpunkt die letzte Nummer von JGB war; außerdem notierte er am rechten oberen Blattrand „Schluß“. Doch noch vor der Übergabe des Druckmanuskripts an Naumann beschloss Nietzsche, den Aphorismus an den Anfang des vierten Hauptstücks „Sprüche und Zwischenspiele“ zu stellen. Die Nummer 324 und den Hinweis „Schluß“ strich er durch (wie er zu einem früheren Zeitpunkt bereits die Nummer 259 durchgestrichen hatte) und anstelle einer neuen Nummer schrieb er zunächst den Titel „Selbstgespräch.“ darüber, dann, nachdem er auch den Titel gestrichen hatte, setzte er stattdessen bloß drei Sternchen darüber. Daneben vermerkte er für den Setzer „ohne Nummer!“ sowie „Anfang des 4ten Hauptstücks“. Mit diesen Anweisungen zu JGB 296 übergab Nietzsche das Manuskript Anfang Juni der Druckerei. Doch am 13. Juni, nur wenige Tage vor dem Druck des Bogens 6 mit dem Anfang des vierten Hauptstücks, erhielt Naumann von Nietzsche neue Instruktionen zugeschickt: Das unnumerierte, mit drei Sternen bezeichnete Stück, welches jetzt den Anfang vom vierten Hauptstück macht („Ach, was seid ihr doch etc.“) soll von dieser Stelle weg und an das Ende des neunten Hauptstücks gerückt werden d. h. an den Schluß des Buches. Dort bekommt es die letzte Nummer und verliert seine Sternchen. (KGB III/3, Bf. 708)
Daraufhin wurden in der Druckerei die Sternchen in Nietzsches Manuskript weggestrichen und der Aphorismus bekam (erneut) die zu jenem Zeitpunkt letzte Nummer, 324, dieses Mal von fremder Hand eingetragen. Wie wir wissen, blieb das Stück über „meine geschriebenen und gemalten Gedanken“ zwar der letzte Aphorismus von JGB – aber nicht, wie Nietzsche am 13. Juni noch meinte, der Schluss des Buches.
7 Die Manuskriptnachträge: Der Nachgesang und JGB 258 Nietzsche ließ Naumann, als das Druckmanuskript bereits in dessen Druckerei war, noch zwei Nachträge zukommen: D 18, Bl. 105–108 mit „Aus hohen Bergen. Nachgesang.“ und Bl. 90 mit dem nachträglichen Aphorismus JGB 258.
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Am 13. Juni war das neunte Hauptstück „Was ist vornehm?“, wie dem oben zitierten Brief an Naumann zu entnehmen ist, noch der Schluss des Buches. Nur wenig später muss sich Nietzsche indessen dem Nachgesang „Aus hohen Bergen“ zugewandt haben. Das Gedicht war unter dem Titel „Einsiedlers Sehnsucht.“ (KGB III/1, Bf. 562) im Herbst 1884 entstanden. Doch die beiden Schlussstrophen des Nachgesangs mit dem Incipit „Dies Lied ist aus“ verfasste Nietzsche erst eineinhalb Jahre später in Leipzig. Die Vorstufen dazu finden sich im Arbeitsheft W I 8 auf den S. 103–106. Sie sind auf Mitte Juni 1886 zu datieren, da Nietzsche dieselben Seiten offenbar nur wenig später für einen Briefentwurf nutzte, der kurz vor dem 20. Juni entstanden sein muss (vgl. KGB III/3, Bf. 710). Die anschließende Nachsendung des Nachgesangs an die Druckerei erfolgte mit einem Notabene, das Nietzsche am oberen Rand des dazugehörigen Titelblattes angebracht hatte: „NB. folgt auf das neunte Hauptstück und macht den Schluß des Buches!“ (D 18, Bl. 105r). Diesen neuen Schluss des Buches trug Nietzsche auch im Inhaltsverzeichnis nach: Die Inhaltsangabe „Aus hohen Bergen. Nachgesang.“ wurde im Druckmanuskript von Nietzsches Hand mit einer späteren, schwarzen Tinte hinzugefügt (vgl. D 18, Bl. 3r). Auch die Manuskriptseite mit dem Aphorismus JGB 258 war eine Nachsendung. Am oberen Rand von D 18, Bl. 90r ist Nietzsches eigenhändiger Vermerk zu lesen: „NB! zur Einschiebung auf p. 228 an Stelle des Weggestrichenen!“ Mit der Seitenangabe „p. 228“ nahm Nietzsche Bezug auf Bogen 15 der Korrekturbogen. Er hatte ihn wahrscheinlich in der zweiten Juliwoche nach SilsMaria geschickt bekommen. Dementsprechend dürfte Naumann das neue Blatt mit JGB 258 spätestens Mitte Juli erhalten haben, zusammen mit dem korrigierten Bogen 15. Nietzsche hatte auf dem Korrekturbogen die ursprüngliche zweite Hälfte von JGB 257 weggestrichen (vgl. KSA 14, S. 371 f., zu JGB 257). An deren Stelle fügte er nun einen weiteren, neuen Aphorismus von ungefähr demselben Umfang ein, JGB 258. (Was zur Folge hatte, dass die weiteren Nummern, wie Nietzsche auf dem Korrekturbogen festhielt, um eins nach oben korrigiert werden mussten.) Über die Gründe dieser Substitution, gleichsam in letzter Minute, können wir wiederum nur spekulieren. Möglicherweise hatte Köselitz, der ja die Druckbogen ebenfalls zur Durchsicht zugestellt bekam, im Rahmen seiner Korrekturen inhaltliche oder argumentationslogische Bedenken mitgeteilt. Oder Nietzsche waren beim Korrekturlesen seinerseits Bedenken gekommen, die ihn von der Veröffentlichung der ursprünglichen zweiten Hälfte von JGB 257 absehen ließen. Die Hinzufügung eines neuen Aphorismus im Anschluss an einen zur Hälfte gekürzten Aphorismus Mitte Juli war die letzte Änderung, die Nietzsche in werkkompositorischer Hinsicht vornahm. Ungefähr drei Wochen später, am 4. August, konnte er auf einer Postkarte an Naumann bereits zufrieden feststellen: „Geehr
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tester Herr, die Exemplare sind eingetroffen und machen mir Freude: Alles sieht gut aus“ (KGB III/3, Bf. 728). Ein ‚Fädchen um’s Druckmanuskript‘ und fertig? – Das Fädchen, das Nietzsche am 10. April 1886 um das Manuskript gebunden hatte, muss er in der Folgezeit öfter wieder entfernt haben. Er mochte mit der ‚Abschrift‘ zu JGB fertig gewesen sein, mit dem Werk JGB war er es noch nicht. Die Rekonstruktion der rund viermonatigen Entstehungsgeschichte von JGB von der vermeintlichen Fertigstellung des Manuskripts am 10. April bis zur Auslieferung des Buches am 4. August zeigt uns einerseits, wie Nietzsche bis zum letzten Moment an seinem Text feilte. Sie zeigt uns andererseits, dass sich die endgültige Gestalt von JGB bei allen werkkompositorischen Bemühungen Nietzsches mitunter auch mehr oder weniger kontingenten Umständen verdankt. Es scheint durchaus möglich, dass JGB, wäre es vielleicht zwei Monate früher bei Heymons im Carl Duncker’s Verlag oder bei Credner im Verlag Veit und Comp. erschienen, eine andere Werkstruktur aufgewiesen hätte: mit einem Hauptstück mehr, ohne Vorrede, ohne Nachgesang. Die Umstellungen und Änderungen, die Nietzsche in den Wochen vor und während der Drucklegung noch vornahm, zeugen sowohl von seiner Intention, JGB als Gesamttext durchzukomponieren, als auch davon, dass die schließlich veröffentlichte Abfolge der 296 Aphorismen nicht zwingend die einzig richtige oder mögliche war.11
Literaturverzeichnis Röllin, Beat (2012): Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885: eine Nachlass-Lektüre. Philologisch-chronologische Erschließung der Manuskripte. München: Fink.
11 Ich danke Thomas Riebe und René Stockmar für Anmerkungen und Hinweise.
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Nummerierung der Aphorismen im Druckmanuskript D 18 erste Spalte
Erstfassung 1–308
letzte Spalte
JGB (resp. Nachlass)
recte
von Nietzsches Hand
kursiv
von fremder Hand
fett
aus dem ursprünglichen 9. Hauptstück „Masken“
in D 18 nicht überliefert
[]
Hinzufügung von mir, B.R.
1886, 4[1]
in KSA als NL 1886, KSA 12, 4[1] ediert
Vorrede 1 2
Vorrede
Vorrede
Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen 3
1
JGB 1
4
2
JGB 2
5
3
JGB 3
6
4
JGB 4
7
5
JGB 5
8
6
JGB 6
9
7
JGB 7
10
8
JGB 8
11
9
JGB 9
12
10
JGB 10
13
11
JGB 11
14
12
JGB 12
15
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JGB 13
15 16
14
JGB 14
17
15
JGB 15
18
16
JGB 16
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19
17
JGB 17
20
18
JGB 18
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JGB 19
22
20
JGB 20
23
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JGB 21
24
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JGB 22
25
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JGB 23
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JGB 24
25
JGB 25
Zweites Hauptstück: der freie Geist 26 27 b
37 27
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JGB 26
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JGB 27
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JGB 28
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JGB 29
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–
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?
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?
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Drittes Hauptstück: das religiöse Wesen 49
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JGB 52
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JGB 53
58
50 54
JGB 54
59
51 55
JGB 55
60
52 56
JGB 56
61
57
JGB 57
62
58
JGB 58
63
59
JGB 59
64
60
JGB 60
65
61
JGB 61
[66]
[62]
JGB 62
63–85
JGB 63–85
Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele 67–89 90 91 [sic!]
86 87
86
JGB 86
92–189
88–186
87–185
JGB 87–185
Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral 190
186
JGB 186
191
187
JGB 187
192
188
JGB 188
193
189
JGB 189
64
Beat Röllin
194
190
JGB 190
195
191
JGB 191
196
192
JGB 192
261
193
JGB 193
197
194
JGB 194
198
194 195
JGB 195
199
195 196
JGB 196
200
196 197
JGB 197
201
197 198
JGB 198
202
198 199
JGB 199
203
199 200
JGB 200
204
200 201
JGB 201
205
201 202
JGB 202
206
202 203
JGB 203
207
204
JGB 204
208
205
JGB 205
209
–
1886, 4[1]
210 209
206
JGB 206
211
207
JGB 207
212
208
JGB 208
213
209
JGB 209
214
210
JGB 210
Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten
215
211
JGB 211
216
212
JGB 212
217
213
JGB 213
218
214
JGB 214
219
215
JGB 215
Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden
65
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig?
220
216
JGB 216
221
217
JGB 217
222
218
JGB 218
223
219
JGB 219
224
220
JGB 220
225
221
JGB 221
226
222
JGB 222
227
223
JGB 223
228
224
JGB 224
229
225
JGB 225
230
226
JGB 226
231
227
JGB 227
232
228
JGB 228
233
229
JGB 229
234
230
JGB 230
235
231
JGB 231
236
232
JGB 232
237
233
JGB 233
238
234
JGB 234
239
235
JGB 235
240
236
JGB 236
241
237
JGB 237[a] JGB 237[b]
242
238
JGB 238
243
239
JGB 239
248 244
240
JGB 240
244 245
241
JGB 241
245 246
242
JGB 242
246 247
243
JGB 243
249 248
244
JGB 244
247 249
245
JGB 245
Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer
66
Beat Röllin
262
250
263
a
251
247
250
250b 251b
247 b
[248]
JGB 248
251
251b 251c
247 c
[249]
JGB 249
252
248
[250]
JGB 250
253
249
[251]
JGB 251
254
250
[252]
JGB 252
255
251
[253]
JGB 253
256
252
[254]
JGB 254
257
253
[255]
JGB 255
258
254
[256]
JGB 256
285
255
[257]
JGB 257
–
–
–
JGB 258
286
256
[258]
JGB 259
246
JGB 246
a
JGB 247 a
Zehntes Neuntes Hauptstück: was ist vornehm?
287
257
[259]
JGB 260
288
258
[260]
JGB 261
289
259
[261]
JGB 262
290
260
[262]
JGB 263
291
261
[263]
JGB 264
292
262
[264]
JGB 265
293
263
[265]
JGB 266
294
264
[266]
JGB 267
295
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[267]
JGB 268
266
268
JGB 269
282
296
283
297
267
269
JGB 270
303
305
298
268
[270]
JGB 271
296
298
299
269
[271]
JGB 272
297
299
300
270
[272]
JGB 273
298
300
301
271
[273]
JGB 274
299
301
302
272
[274]
JGB 275
300
302
303
273
[275]
JGB 276
67
Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig?
273
304
274
276
JGB 277
274
305
–
–
1886, 4[2]
275
306
275
277
JGB 278
276
307
276
278
JGB 279
277
–
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–
1886, 4[4]
278
308
277
279
JGB 280
279
309
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JGB 281
280
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JGB 282
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JGB 283
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JGB 284
305
307
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JGB 285
306
308
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JGB 286
307
309
315
284
286
JGB 287
267
316
285
287
JGB 288
268
317
286
288
JGB 289
269
318
287
289
JGB 290
270
319
289[sic!]
290
JGB 291
271
320
290
291
JGB 292
301
303
321
291
293
JGB 293
302
304
322
292
294
JGB 294
323
293
292 295
284 259
324 Schluß
JGB 295 ten
*** Anfang des 4 Selbstgespräch Hauptstücks 324 ohne Nummer!
JGB 296
–
–
–
–
1886, 4[5]
–
–
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?
–
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–
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?
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–
1886, 4[3]
Aus hohen Bergen Schluß
Aus hohen Bergen
Nachgesang
Andreas Urs Sommer
„Glossarium“, „Commentar“ oder „Dynamit“? Zu Charakter, Konzeption und Kontext von Jenseits von Gut und Böse* Friedrich Nietzsche sparte nicht mit „Fingerzeigen“, wie seine Werke zu verstehen seien. Entsprechend dankbar zeigen sich manche seiner Interpreten, wenn sie den einen oder anderen dieser „Fingerzeige“ ihren Werkdeutungen zugrunde legen können. Wer Konzeption und Struktur von Jenseits von Gut und Böse verstehen will, den wird daher eine Aufzeichnung vom Sommer oder Herbst 1886 geradezu beglücken, die eine Vorrede zu einem bekanntlich nie realisierten, zweiten Band oder einer erweiterten, zweiten Auflage von JGB entwarf: Um es schließlich zu sagen, worauf ich mit den eben gegebenen Winken die Leser dieses Buches vorzubereiten für nöthig finde: es steht auch mit diesem Buche [sc. JGB], dessen letzter Theil hiermit ans Licht gegeben wird, nicht anders als es bisher mit meinen Schriften stand, — es ist ein Stück meines Hinter-mir. Was ihm zu Grunde liegt, Gedanken, erste Niederschriften und Hinwürfe aller Art, das gehört meiner Vergangenheit an: nämlich jener räthselreichen Zeit, in der „Also sprach Zarathustra“ entstand: es dürfte schon um dieser Gleichzeitigkeit willen nützliche Fingerzeige zum Verständniss des eben genannten schwerverständlichen Werkes abgeben. Namentlich auch zum Verständnisse seiner Entstehung: mit der es etwas auf sich hat. Damals dienten mir solcherlei Gedanken sei es zur Erholung, sei es als Selbstverhör und Selbstrechtfertigung inmitten eines unbegrenzt gewagten und verantwortlichen Unterfangens: möge man sich des aus ihnen erwachsenen Buches zu einem ähnlichen Zwecke bedienen! Oder auch als eines vielverschlungenen Fußwegs, der immer wieder unvermerkt zu jenem gefährlichen und vulkanischen Boden hinlockt, aus dem das eben genannte Zarathustra-Evangelium entsprungen. So gewiß auch dies „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt und abgeben soll, so vielleicht doch eine Art vorläufiges Glossarium, in dem die wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes Buchs – eines Ereignisses ohne Vorbild, Beispiel, Gleichniß in aller Litteratur – irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind. (NL 1886/87, KSA 12, 6[4], S. 233 f.)
Nach Mazzino Montinari „gibt N“ hier „eine genaue Darstellung vom Platz, den Jenseits von Gut und Böse unter seinen Schriften einnimmt“ (KSA 14, S. 345). Nietzsche schien in dieser Aufzeichnung sogar noch weitergehende Versprechen zu
* Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und Vorschläge zu seiner Verbesserung danke ich Herrn Daniel Unger.
70
Andreas Urs Sommer
machen, nämlich nicht nur zu verraten, wie es um die Stellung von JGB im Corpus seiner Schriften bestellt ist, sondern auch, welche Konzeption oder Struktur dieses Werk hat, eben diejenige eines „Glossariums“ zu den terminologischen Innovationen von Also sprach Zarathustra. Wir müssten also nur noch herausfinden, was Nietzsche unter „Glossarium“ versteht und würden uns dann schon der Aufgabe entledigt haben, etwas zur Konzeption und Struktur von JGB zu sagen. Nun wird uns nicht weiter beunruhigen, dass „Glossarium“ oder „Glossar“ in Nietzsches Werken und philosophischem Nachlass ein hapax legomenon ist. Dem frühen philologischen Nachlass ist immerhin zu entnehmen, dass Nietzsche das Homerische Glossar von Apion und Heliodor kannte (vgl. NL 1868/69, P I 12, 74[6], KGW I 5, S. 75). Das verweist auf Nietzsches philologischen Hintergrund – sein Lehrer Friedrich Ritschl behandelt beispielsweise in seinen Plautus-Studien das Glossarium Plautinum (vgl. Ritschl 1868, Bd. 2, S. 228–273). Ein Glossarium ist nach zeitgenössischem Verständnis schlicht ein „Wörterbuch, namentlich zur Erklärung dunkler, wenig gebräuchlicher Wörter“ (Meyer 1885–1892, Bd. 7, S. 442). „Besonders in der makedonisch-römischen Zeit beschäftigten sich viele Gelehrte mit der Abfassung von Verzeichnissen solcher Glossen (Glossarien), die namentlich die Lektüre der Homerischen Gedichte erleichtern sollten“ (Meyer 1885–1892, Bd. 7, S. 442). Das Glossarium erklärt demnach Dunkles und Unverständliches, übersetzt es in eine andere Zunge. Das scheint Nietzsche auch im Sinn gehabt zu haben, als er Jacob Burckhardt am 22. 09. 1886 wissen ließ, dass JGB „dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders“ (KGB III/3, Bf. 754). JGB soll also ein erläuterndes Wörterbuch zu Za sein. Diese scheinbar unproblematische, scheinbar von Nietzsche selbst gedeckte Konzeptionsbestimmung des Werkes wirft freilich bei näherem Hinsehen mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Nicht nur, dass Anders-Sagen keineswegs Deutlicher-Sagen implizieren muss. Schon im zitierten Nachlasstext 6[4] gibt sich Nietzsche vorbehaltvoll: Es heißt nicht, JGB sei ein „Glossarium“, das die wichtigen neuen ZarathustraBegriffe und -Werte aufliste, sondern „vielleicht doch eine Art vorläufiges Glossarium“, in dem diese Begriffe und Werte „irgendwo einmal vorkommen und mit Namen genannt sind“. Das impliziert, dass alles Mögliche sonst in diesem Buch gleichfalls vorkommen kann – es ist zumindest möglich, dass sich dieses Buch im Glossar-Sein nicht erschöpft. Viele Interpreten haben die Äußerungen Nietzsches, die zwischen Za und JGB eine enge Verbindung herstellen – unter Inkaufnahme einer dienenden Rolle für JGB –, zum Anlass genommen, in JGB nach den angeblichen Lehren Zarathustras zu fahnden. Sie sind vor allem dann fündig geworden, wenn sie das, was sie zu finden hofften, eben Zarathustras Lehren, hinter dem Wortlaut des Textes dingfest zu machen verstanden, also entweder eine allegorische oder eine gewaltsame Exegese übten. Die „Begriffs-Neuerungen“ von Za kommen in JGB entweder gar
„Glossarium“, „Commentar“ oder „Dynamit“?
71
nicht explizit vor (so ergeht es dem Übermenschen und der Ewigen Wiederkunft des Gleichen), oder doch nur unter vielen Vorbehalten (so ergeht es dem Willen zur Macht). Sollten, wenn schon nicht die Begriffe, doch wenigstens die Themen von Za in JGB präsent sein, so sind sie gut versteckt. Es bedarf der hermeneutischen Kunststücke ausgewiesener Esoteriker (sprich: Straussianer), um sie aus dem Text von JGB herauszuzaubern, und zu behaupten, diese Themen bestimmten nicht nur insgeheim die labyrinthischen Denkwege von JGB. Die „wichtigsten Begriffs- und Werth-Neuerungen jenes Buchs“ sind in JGB gerade nicht „mit Namen genannt“, jedenfalls nicht mit den bekannten Namen. Nun könnte man einwenden, ein Buch über ein Buch müsse das nicht leisten; es könne sich ja für die gleiche Sache anderer Namen bedienen – z. B. statt den Übermenschen den „Vornehmen“ in den Vordergrund stellen (wobei es sich gerade hier um Unterschiedliches zu handeln scheint). Das wäre dann kein Glossarium, sondern ein Kommentar, der das eine Vokabular in ein anderes übersetzt. Am 26. 10. 1886 fragte Nietzsche seinen Freund Reinhart von Seydlitz: „Hast Du Dich in meinem ‚Jenseits‘ umgethan? (Es ist eine Art von Commentar zu meinem ‚Zarathustra‘. Aber wie gut müßte man mich verstehn, um zu verstehn, in wie fern es zu ihm ein Commentar ist!)“ (KGB III/3, Bf. 768). Das zu verstehen, fällt wirklich schwer, denn hatte Nietzsche nicht zur selben Zeit, nämlich in dem eingangs zitierten Vorwort-Entwurf 6[4] zur geplanten Neuauflage von JGB gerade erklärt, dass „dies ‚Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‘ keinen Commentar zu den Reden Zarathustra’s abgiebt und abgeben soll“? Was jetzt? Kommentar zu Za oder nicht? Und falls ja, in welcher Weise, wenn es doch gar nicht offensichtlich ist, dass die scheinbar großen Themen des philosophischen Epos Za mit JGB einfach in philosophische Prosa übertragen werden? Es gibt mit anderen Worten gute Gründe, der von Nietzsche retrospektiv behaupteten, engen Verbindung von Za und JGB nicht blindlings Glauben zu schenken. Zunächst ist gar nicht klar, in welcher Weise diese Verbindung besteht – und diejenigen, die hier Klarheit behaupten, indem sie Vereinzeltes aus dem späteren Werkes aufgreifen und zum Passepartout für alles Übrige erklären, tilgen den Eigenwert dieses Werkes. Man könnte anfügen, dass auch Nietzsche diesem Eigenwert gelegentlich misstraut zu haben schien, wenn er JGB im Verhältnis zu Za meinte definieren zu müssen. Dass die Orts- und Sachbestimmung von JGB im Verhältnis zu Za eher irreführend, wenn nicht abwegig ist, fiel übrigens schon Franz Overbeck auf. In seiner differenzierten Antwort auf Erwin Rohdes schonungslose Kritik an JGB schrieb er diesem am 23. 09. 1886: „Auch hat mich wenigstens das Buch [sc. JGB] nicht im geringsten weiter über die Ziele, die letzten Ein- und Absichten des Verf〈assers〉 aufgeklärt, es ist mir überhaupt nach Zarathustra wie der reine Rückfall vorgekommen, was bei solchen Einsiedlerbüchern besonders bedenklich ist.“
72
Andreas Urs Sommer
(Overbeck/Rohde 1990, Bf. 68) Ein Jahrhundert später hielt Michael Tanner der Interpreten-Mehrheitsmeinung trocken entgegen, dass die Schriften nach Za zwar als Kommentare zu Za gedacht gewesen sein mögen, dies jedoch keineswegs der Eindruck sei, den sie bei den Lesern hinterließen. Vielmehr könne einem, wenn man nichts von der Existenz von Za wüsste, nicht auffallen, dass zwischen FW und JGB eine Lücke klaffe (vgl. Tanner 1986, S. 203). Nietzsches Darstellung von JGB als „Glossarium“ oder „Commentar“ zu Za ist vor allem eines: eine Kontinuitätsbehauptung. Gegen den Anschein, sein denkerisches und schriftstellerisches Werk zerfalle in unverbundene Einzelteile, setzt Nietzsche den Grundsatz, zwischen seinen Schriften bestehe ein Verhältnis von Kohärenz und Konsistenz. Dieser Grundsatz soll ganz im Stile der philosophischen Tradition den Anschein von kontinuierlicher Entwicklung und innerer Folgerichtigkeit erzeugen. Dabei kommt, je weniger sich das in Planung begriffene Hauptwerk Der Wille zur Macht realisieren lässt, dem stattdessen zum Hauptwerk stilisierten Za die Funktion zu, letzter Bezugspunkt der Selbstinterpretation zu sein. Nietzsche suggeriert, in diesem Werk sei implizit die Summe seines Denkens und damit all das schon enthalten, was die späteren Schriften bloß noch explizierten. Entsprechend kann für Nietzsche auch die Anzahl seiner Werke nicht beliebig sein: Auf der Rückseite vom Umschlag des letzterschienenen Buchs [sc. JGB] finden Sie eine Art Überblick und Programm über meine bisherige und zukünftige Thätigkeit. Es sollen 10 Werke und nicht mehr sein, mit denen ich „übrig“ bleiben will (Bf. an Ernst Wilhelm Fritzsch, 07. 08. 1886, KGB III/3, Bf. 730).
Auf der Umschlagrückseite der Erstauflage von JGB stellte Nietzsche drei noch erscheinende Werke in Aussicht, um die Zehnzahl komplett zu machen: Der Wille zur Macht, Die ewige Wiederkunft und Lieder des Prinzen Vogelfrei (KGW VI/2, S. 257, vgl. auch den Abdruck im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 182, 9. August 1886). Die Lieder des Prinzen Vogelfrei sollten vermutlich auch die im Werkdekalog von JGB sonst unterschlagenen, aber bereits 1882 publizierten Idyllen aus Messina enthalten. Die Zehnzahl der Werke korrespondiert mit der Zehnzahl der Abschnitte von JGB. Die Strukturanalogie geht sogar noch weiter, denn JGB besteht aus neun „Hauptstücken“ und einem lyrischen „Nachgesang“: Das letzte Werk der Liste auf dem JGB-Rückumschlag, die Lieder des Prinzen Vogelfrei, ist gleichfalls ein lyrisches. Auch sonst war Nietzsche darauf bedacht, zwischen seinen Werken Korrespondenzen herzustellen. Im Falle von JGB ist die auffälligste Korrespondenz diejenige zum Aufbau von MA I: Beide Werke haben neun Hauptstücke, deren Aufbau einander ähnelt. „Nietzsche verknüpft Kritik und Krisis [so in EH JGB 1 bzw. EH MA 1] nicht nur formal, sondern sucht die inhaltliche Korrespondenz zwischen den zweimal neun Hauptstücken und den beiden Schlüssen von
„Glossarium“, „Commentar“ oder „Dynamit“?
73
‚Menschliches, Allzumenschliches‘ und ‚Jenseits von Gut und Böse‘“ (Scheier 1990, XXXIII). Aber auch zu den nachfolgenden Werken, die sich im Übrigen gar nicht dem mit JGB angekündigten Werk-Dekalog fügen wollen, konstruierte Nietzsche noch im Prozess der Produktion eine Verknüpfung. So heißt es im Brief an Constantin Georg Naumann vom 17. 07. 1887 zur Genealogie der Moral: Hier, geehrtester Herr Verleger, ist eine kleine Streitschrift [sc. GM] die in direktem Zusammenhange mit dem voriges Jahr erschienenen „Jenseits“ steht: schon dem Titel nach. Vielleicht bringt sie das zu wege, die Aufmerksamkeit auf jenes Buch zu lenken: obschon sie gewiß nicht in dieser Absicht entstanden ist. – Meine Bitte ist, den Druck derselben umgehend zu beginnen; Ausstattung, Typen, Papier, Zahl der Exemplare – Alles exakt wie bei „Jenseits“: so daß diese Abhandlung wirklich als Fortsetzung von jenem „Jenseits“ auch äußerlich sich ausnimmt. (KGB III/5, Bf. 877)
Sein Schaffen soll als ein Werk-Kontinuum erscheinen – das ist leitende Absicht, die hinter Nietzsches anhaltenden Verknüpfungsversuchen steht. Ohnehin scheint Nietzsche kaum eines seiner Buchprojekte als abgeschlossen empfunden zu haben; ständig dachte er über neue Teile, Bände, Ergänzungen und erläuternde Vorworte nach, so dass viele seiner Werke zunächst als Fortsetzungen oder Erweiterungen von früher Publiziertem ihren Anfang nahmen. Aus seinen Selbstzeugnissen ist zunächst wenig Auskunft über die Konzeption des Einzelwerkes, also auch nicht über die von JGB zu gewinnen. Aufschlussreicher sind da Äußerungen, die die Genese der Schrift betreffen, namentlich im Brief an Heinrich Köselitz vom 20. 07. 1886: Die Schwierigkeit, die es dies Mal [sc. bei JGB] für mich hatte, zu reden (noch mehr: den Ort zu finden, von wo aus ich reden konnte), nämlich unmittelbar nach dem „Zarathustra“, werden Sie mir reichlich nachgefühlt haben: aber jetzt, wo das Buch ziemlich deutlich vor mir steht, scheint es mir, daß ich die Schwierigkeit ebenso schlau als tapfer überwunden habe. Um von einem „Ideal“ reden zu können, muß man eine Distanz und einen niedrigeren Ort schaffen: hier kam mir der früher vorbereitete Typus „freier Geist“ trefflich zu Hülfe. (KGB III/3, Bf. 724)
An Fritzsch schrieb Nietzsche am 07. 08. 1886, JGB sei „eine Art Einführung in die Hintergründe des Zarathustra“ (KGB III/3, Bf. 730). Diese Äußerung ist immerhin insofern zutreffend, als die in JGB verarbeiteten Materialien ja tatsächlich zu einem guten Teil aus der Za-Zeit stammen.1 Aber sie ist irreführend, insofern sie eine teleologische Strukturierung auf Za hin betreibt und JGB seinen Eigenwert
1 In der Vorrede datiert Nietzsche JGB auf „Juni 1885“, also auf einen Zeitpunkt, zu dem das Werk in seiner eigentlichen Form noch gar nicht vorlag. Hier wollte Nietzsche auch die zeitliche Verbindung zu Za besonders deutlich hervortreten lassen (vgl. Scheier 1990, S. XXXIII).
74
Andreas Urs Sommer
nimmt. In der Kommunikationssituation, in der sich Nietzsche gegenüber seinem Verleger befand, war das allerdings wohlbegründet, wollte er diesen doch zu einer Neuausgabe von Za bewegen. Aber auch hier wäre es problematisch, die Verlautbarung als hermeneutischen Schlüssel für JGB misszuverstehen und dessen Deutung einseitig auf Za hin zu perspektivieren. Kurzum: Nietzsches Selbstzeugnisse sind als autoritative Auskünfte über die jeweiligen Werke notorisch unzuverlässig, da sie jeweils von sehr spezifischen Interessen geleitet wurden, die jenseits des Interesses einer möglichst authentischen Werkinterpretation lagen. Die „Fingerzeige“ weisen oft genug ins Leere oder in eine opake Fülle, helfen allenfalls beim Verstehen-Wollen von Nietzsches übergreifenden Textverknüpfungs- und Textvermarktungsstrategien, aber wenig beim Verstehen-Wollen einzelner Texte. Aufschlussreich sind diese „Fingerzeige“ jedoch in ihrer, modisch gesagt, Selbstreferentialität: Sie belegen, dass Nietzsche gegenüber seinen Kommunikationspartnern ständig damit beschäftigt war, sich selbst neu zu interpretieren, weil, so darf man vermuten, unter seinen Zeitgenossen niemand sich der Mühe unterzog, ihn und seine Werke zu interpretieren – weil er auf all seine Provokationen kaum eine ernstzunehmende Antwort bekam. Im Falle von JGB ist die Rezension von Josef Viktor Widmann beinahe die einzige Antwort, die Nietzsches Selbstbild einigermaßen entsprach oder in sein Selbstbild integriert werden konnte, weil sie die zerstörerische, landläufige Sicherheiten zersetzende, moralumstürzlerische Seite seines Werkes herausstrich. Entsprechend zitierte er sie und ihre Leitmetapher in seinen Briefen unablässig, beispielsweise am 20. 09. 1886 im Brief an Köselitz: „Der ‚Bund‘ hat, aus der Feder des Redakteurs V. Widmann, einen starken Aufsatz über mein Buch, unter dem Titel Nietzsche’s gefährliches Buch. Gesammt-Urtheil ‚das ist Dynamit‘“ (KGB III/3, Bf. 751). JGB erscheint dann in Nietzsches Retroperspektivierung plötzlich als eine Bombe oder als Folge einer Detonation, deren Splitter große Verheerungen anrichten. Das ist etwas ganz anderes als ein „Glossarium“ oder ein „Commentar“ zum so erhabenen „Zarathustra-Evangelium“. Nietzsche betrieb die Selbstinterpretation als eine Art permanenter Selbstzurschaustellung, die auch vor dem Mittel der Selbstumwertung nicht zurückschreckte. Fragt man nach Struktur und Konzeption von JGB, gerät man früher oder später ins Dickicht der Werkgenese. JGB ist in vielerlei Hinsicht eine Zusammenstückelung früherer Texte und hat im Laufe seiner Entstehung mit seiner Gestalt auch die Konzeption und Struktur verändert. Nach Fertigstellung von Za III unterzog Nietzsche seine vorangegangenen Werke einer Durchsicht. Dabei erschienen ihm M und FW „als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra“ (Bf. an Overbeck, 07. 04. 1884, KGB III/1, Bf. 504). Zugleich beschloss er, „eine Revision [s]einer Metaphysica und erkenntnißtheoretischen Ansichten“
„Glossarium“, „Commentar“ oder „Dynamit“?
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(KGB III/1, Bf. 504) in Angriff zu nehmen. Wiederholt griff Nietzsche nun zu seinen frühen Schriften (vgl. z. B. Bf. an Overbeck, Anfang August 1884, KGB III/1, Bf. 524). Ein Jahr später haben sich diese Selbstlektüren zum Vorsatz verdichtet, sämtliche Exemplare seiner bisher beim säumigen Verleger Ernst Schmeitzner gedruckten Schriften in die Hand zu bekommen und neu herauszugeben. Namentlich MA I sowie VM und WS wollte Nietzsche „einer schleunigen neu redigirten Auflage“ zuführen (Bf. an Elisabeth Förster, kurz vor dem 15. 08. 1885, KGB III/3, Bf. 621). Jedoch nahm er von diesem Vorhaben im Zuge der anhaltenden Verlagsimponderabilien wieder Abstand (vgl. Bf. an Overbeck, Anfang Dezember 1885, KGB III/3, Bf. 649), um sich stattdessen – so in einem Briefentwurf an Hermann Credner, den Nietzsche gerne als Verleger gewinnen wollte, Mitte Januar 1886 (vgl. KGB III/3, Bf. 663) – der Ausarbeitung eines zweiten Bandes der Morgenröthe zuzuwenden. Dieses Projekt zeichnete sich schon im Sommer 1885 ab (vgl. Schaberg 2002, S. 163). Das Verfahren, älteren Werken neue Bände nachzuschieben, das Nietzsche schon bei MA anwandte, diente augenscheinlich dazu, den nach Nietzsches Empfinden von der Leserschaft nicht hinreichend rezipierten, früheren Werken endlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. „Deine wie meine Schriften liegen vollständig vergraben und unausgrabbar in diesem Antisemiten-Loch“ (KGB III/3, Bf. 649), beschied Nietzsche während seiner juristischen Auseinandersetzung mit Schmeitzner Anfang Dezember 1885 seinem Freund Overbeck. Nietzsches Suche nach einem neuen Verleger, nicht nur seines bisherigen Schrifttums, für dessen Verbreitung Schmeitzner nach Nietzsches Ansicht nicht hinreichend gesorgt hatte, sondern besonders auch seines neuen Werks, schien von Erfolg gekrönt zu sein, als sich Hermann Credner als „Verehrer“ seiner Schriften zu erkennen gab und starkes Interesse an einer Zusammenarbeit signalisierte (Credner an Nietzsche, 26. 01. 1886, KGB III 4, Bf. 339). Und tatsächlich unterbreitete Credner am 06. 02. 1886 Nietzsche den Vorschlag, das geplante Buch als „Neue Folge“ der Morgenröthe in geringfügig kleinerem Format herauszubringen (KGB III/4, Bf. 342). Im Laufe der Arbeit verlor das Manuskript im Frühjahr 1886 mehr und mehr seinen Fortsetzungscharakter, so dass das Buch bald auch einen neuen Namen erhielt, explizit im Brief an Heinrich Köselitz vom 27. 03. 1886: „Diesen Winter habe ich benutzt, etwas zu schreiben, das Schwierigkeiten in Fülle hat, so daß mein Muth, es herauszugeben, hier und da wackelt und zittert. Es heißt: / Jenseits von Gut und Böse. / Vorspiel / einer Philosophie der Zukunft.“ (KGB III/3, Bf. 680) Im Entwurf eines Briefes an Credner schrieb Nietzsche Ende März 1886 unter Hinzufügung von Arbeitsproben: „Das Buch ist als ‚Fortsetzung‘ oder ‚neue Folge‘ der ‚Morgenröthe‘ unmöglich auszugeben: davon habe ich mich während der Abschrift überzeugt. Es ist dazu viel zu fundamental (auch im Ton abweichend)“ (KGB III/3, Bf. 682). Nietzsche wünschte eine Auflage von
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1000 Stück und das entsprechende Honorar. Credner scheint darauf nicht eingegangen zu sein, so dass sich der Plan, mit ihm ins Geschäft zu kommen, nicht konkretisierte (vgl. Nietzsche an Franziska Nietzsche, 11. 04. 1886, KGB III/3, Bf. 686). Stattdessen versuchte Nietzsche sein Glück am 12. 04. 1886 bei Carl Heymons, dem Besitzer des Berliner Verlags Carl Duncker, um ihm sein „sehr unabhängig gedachte[s] und gemachte[s] Buch[.]“ anzubieten: „Meine Leser und Anhänger sind weit verbreitet genug, um Ihnen von vornherein die Verkäuflichkeit des Buchs wahrscheinlich zu machen“ (KGB III/3, Bf. 687). Heymons lehnte Nietzsches Ansinnen am 17. 04. 1886 allerdings rundweg ab, da er „von Werken philosophischen Characters oft nur gegen 100 Ex⟨emplare⟩ absetzte. Ich bezweifle, daß ich zur Deckung der Kosten nun einen Absatz von 6–700 Exemplaren erreichen würde und bedaure aufrichtig, den Vertrag ablehnen zu müssen“ (KGB III/4, Bf. 365). Nach weiteren ernüchternden buchgeschäftlichen Erfahrungen fasste Nietzsche den Entschluss, JGB wie den Privatdruck von Za IV auf eigene Rechnung zu publizieren. Deshalb wandte er sich an Constantin Georg Naumann, den Drucker von Za IV. Obgleich Nietzsche gehofft hatte, Naumann würde „einen noch geringeren Kostenpreis herausrechnen“ (KGB III/3, Bf. 705), erklärte er sich am 03. 06. 1886 mit dessen Angebot einverstanden und gab den sofortigen Druck in Auftrag. Im Juni und Juli 1886 erfolgten dann der Satz, die Korrektur – auch durch Heinrich Köselitz – und der Druck des neuen Werkes; am 02. 08. 1886 bat Nietzsche um die Übersendung von Frei- und Rezensionsexemplaren an nicht weniger als 46 Empfänger, darunter Freunde, aber auch Redaktionen und andere Multiplikatoren (vgl. KGB III/3, Bf. 726, vgl. Krummel 1998–2006, Bd. 1, S. 125–129, Fn. 146). Dennoch waren 10 Monate nach Erscheinen von JGB erst 114 Exemplare verkauft. Nietzsches erstes selbstfinanziertes Buchprojekt – sieht man einmal vom Za IVPrivatdruck ab – erwies sich in den ersten Jahren als finanzielles Fiasko. Im Einzelnen kann den Struktur- und Konzeptionstransformationen von JGB im Laufe der Genese der Schrift hier nicht nachgegangen werden. Wie durchgreifend Nietzsches Gestaltungswille noch in der letzten Phase vor der Manuskriptfinalisierung war, zeigt sich aber beispielsweise daran, dass er in kurzer Zeit die Gliederung von JGB grundlegend revidiert hat. Ende März 1886 sah sie laut dem Briefentwurf an Credner wie folgt aus: So, wie ich jetzt das ganze Material geordnet habe, beginnt das Buch mit jenem Hymnus „an den Mistral“: darauf folgt eine lange Einleitung, welche die Züge der Philosophie der Zukunft, deren Heraufkommen ich voraussage, darzustellen unternimmt. Darauf Erster Theil: Buch der Loslösung Zweiter Teil: Buch der Heimlichkeit (mit eingestreuten Versen und Epigrammen) Dritter Theil: Buch der Höhe zum Schluß das mitgesandte Lied „oh Lebensmittag“. (KGB III/3, Bf. 682)
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Fast schon ganz die Endgestalt hat die Gliederung von JGB zwei Wochen später gemäß dem Brief an Heymons vom 12. 04. 1886 angenommen: „Das Buch enthält zehn Abschnitte, deren Überschriften lauten: Von den Vorurtheilen der Philosophen. Der freie Geist. Das religiöse Genie. Das Weib an sich. Zur Naturgeschichte der Moral. Wir Gelehrten. Unsere Tugenden. Völker und Vaterländer. Masken. Was ist vornehm?“ (KGB III/3, Bf. 687). Die endgültige Gruppierung und Strukturierung des für JGB vorgesehenen Materials erfolgte also erst recht spät. Die meisten Gesamtinterpreten von JGB geben sich, befragt man ihre Bücher nach Konzeption und Struktur von JGB, zugeknöpft und reflektieren oft nur die definitive Gestalt des Werkes, nicht seine Vorformen. In der Werkeinführung von Christa Acampora und Keith Ansell-Pearson gibt es zum Beispiel eine ausführliche „Overview of Themes“ (Acampora/Ansell-Pearson 2011, S. 8–28), ohne dabei etwas über die Struktur oder Konzeption des inhaltlichen Arrangements zu verraten. Am lautstärksten hat sich Leo Strauss zur Struktur von JGB geäußert, der das Werk durch das vierte Hauptstück „Sprüche und Zwischenspiele“ (KSA 5, S. 85–104) in zwei Teile untergliedert sieht: Der erste Teil (Hauptstücke 1 bis 3) beschäftige sich mit Philosophie und Religion, der zweite Teil (Hauptstücke 5 bis 9) mit Politik und Moral (vgl. Strauss 1983, S. 176). J. Harvey Lomax hat dieser Erkenntnis nichts hinzuzufügen, wenn er, ohne Strauss zu nennen, die ersten drei Teile von JGB der theoretischen, die letzten fünf der praktischen Philosophie zuschlägt (vgl. Lomax 2003, S. 6) – als ob sich die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie bei Nietzsche nicht längst erledigt hätte. Laurence Lampert schließlich – er deklariert Strauss’ kurzen Aufsatz unumwunden als „the most comprehensive and profound study ever published on Nietzsche“ (Lampert 1996, S. 2) – braucht in seinem ausführlichen Kommentar wenig mehr als eine Seite, um seine Leser über Struktur und Konzeption von JGB zu unterrichten. Der Ertrag dieser Seite beschränkt sich im Wesentlichen auf die Wiederholung der Strauss’schen Einteilung. Angesichts des Veränderungstempos im Laufe der Werkfinalisierung ist die Aussagekraft dieser Bemerkungen zu Struktur und Konzeption von JGB allerdings beschränkt – ebenso beschränkt wie die Aussagekraft der eingangs zitierten Selbstzeugnisse Nietzsches. Daher möchte ich versuchen, JGB stattdessen aus der spezifischen Bedürfnissituation heraus zu erhellen, in der sich Nietzsche damals befand, nehme für diesen Versuch aber gleichfalls die von Nietzsche autorisierte Erscheinungsform des Werkes in seiner endgültigen Druckgestalt als maßgeblich. Die Bedürfnissituation gründete gleichermaßen im Nicht-gehört-Werden und in der Überzeugung, mit Also sprach Zarathustra ein Werk von denk- und weltverändernder Potenz vorgelegt zu haben. Das Nicht-gehört-Werden stand in denkbar größtem Gegensatz zu Nietzsches maximalem Wirkungswillen, dem Willen, möglichst von allen gehört zu werden. Nietzsches ernüchternder Befund war der, mit
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seinen bisherigen Schriften, wie er in seinem schon zitierten Brief an Overbeck Anfang Dezember 1885 schrieb, „vollständig vergraben und unausgrabbar in diesem Antisemiten-Loch“ zu schmachten (KGB III/3, Bf. 649). Der offenkundige Mangel an unmittelbarer Durchschlagskraft und Wirksamkeit ist die einschneidende Erfahrung, von der Nietzsches Briefe im Vorfeld von JGB immer wieder zeugen – in scharfem Kontrast zu seinem Wirkungswillen, der sich bis zum Projekt der „Umwerthung aller Werthe“ 1888 ins Unüberbietbare steigern wird. Zwei Maßnahmen sollten 1885/86 der negativen Erfahrung abhelfen: die Neuausgabe der früheren Schriften in einem anderen Verlag sowie die Publikation jenes Werkes, das den Titel Jenseits von Gut und Böse bekam. Die Resonanzlosigkeit ließ es Nietzsche angeraten erscheinen, das Gesamte seines Denkens immer wieder neu, anders darzustellen und es aus dem Vergraben-Sein ans Licht zu fördern. Das Programm für die Schriften ab JGB lautet daher: „Von da an sind alle meine Schriften Angelhaken: vielleicht verstehe ich mich so gut als Jemand auf Angeln?…“ (EH JGB 1, KSA 6, S. 350) Dass diese späte Selbsteinschätzung keine bloße Rückprojektion darstellt, macht bereits Nietzsches Brief an Overbeck vom 06. 11. 1884 deutlich, der auch sämtliche früheren Werke diesem Anforderungsprofil unterwarf: „wenn meine bisherigen Bücher nicht als Angelruthen wirken, so haben sie ‚ihren Beruf verfehlt‘“ (KGB III/1, Bf. 553). Die neutestamentliche Metapher vom Menschenfischer kehrte wieder im Brief an die Schwester kurz vor dem 15. 08. 1885, der das Ausbleiben einer Wirkung seiner Schriften auf das mangelnde Engagement seines Verlegers Schmeitzner zurückführte: „Die Bücher heraus aus diesem Winkel! Es sind meine Angelhaken; wenn sie mir keine Menschen fangen, so haben sie keinen Sinn!“ (KGB III/3, Bf. 622). Dieses Angelhaken-Prinzip gilt ebenso für Nietzsches Selbstzeugnisse, insofern sie seine Schriften bewerben, und zwar durchaus gezielt ausgerichtet auf unterschiedliche potentielle Leser. Wenn Nietzsche beispielsweise am 26. 10. 1886 Seydlitz JGB als „Commentar“ zu Za schmackhaft machen wollte, so wohl deshalb, weil er bei diesem Adressaten ein besonderes Interesse an Za voraussetzte. Diese Werbe- und Werbungsstrategien wanderten direkt in Nietzsches Werke ein: So lässt sich das Buhlen der Philosophen um das „Weib“ Wahrheit in der Vorrede zu JGB (KSA 5, S. 11–13) als ein erotisch konnotiertes Spiel um Attraktion und Attraktivität lesen – um eine Attraktivität, die die eigenen Schriften für das Publikum noch nicht gewonnen haben, aber doch würden gewinnen müssen. Mit JGB wollte Nietzsche einen neuen Anfang setzen, der seiner Unauffindbarkeit in den zeitgenössischen Debatten ein Ende setzen sollte. Der Untertitel des Werkes: „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ suggeriert genau diesen neuen Anfang. Es ließe sich darüber spekulieren, ob scheinbare Vereindeutigungen und Radikalisierungen, die sich insbesondere im Bereich der Moralkritik und des politischen Denkens in JGB abzeichnen, dem Wunsch nach Popula-
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risierung dienen: Je extremer die Positionen sind, desto größer könnte die Chance sein, auf Widerhall zu stoßen. Jedenfalls haben schon frühe Interpreten wie Widmann und Eduard von Hartmann (1891) JGB als Manifest eines resoluten Antiegalitarismus verstanden, der, so Hartmann, demokratische Gesinnung mit einer neuen Tyrannei überwinden wolle. Wird Nietzsche eindeutiger unter dem Druck, gehört werden zu wollen? Der Untertitel des Werkes stellt den einführenden, den initiatorischen Charakter heraus. Dieser Untertitel erweckt den Anschein, JGB sei als Protreptikos, als Werbeschrift für die Philosophie konzipiert. Seit der Antike ist die Protreptik (προτρεπτική τέχνη) die Kunst der Überredung zu einem bestimmten Tun – eine Kunst, die sich die Philosophen schon früh zunutze gemacht haben, um das Philosophieren als das für jedes denkende Wesen eigentlich erstrebenswerte Tun ins richtige Licht zu rücken. Den herkömmlichen Protreptikoi der Philosophie und ihren populärsten Propagandisten steht Nietzsche zur Entstehungszeit der ersten Texte von JGB allerdings höhnisch ablehnend gegenüber: „Ich will Niemanden zur Philosophie überreden: es ist nothwendig, es ist vielleicht auch wünschenswerth, daß der Philosoph eine seltene Pflanze ist. Nichts ist mir widerlicher als die lehrhafte Anpreisung der Philosophie, wie bei Seneca oder gar Cicero.“ (NL 1884, KSA 11, 26[452], S. 271) In den Verdacht einer „lehrhaften Anpreisung der Philosophie“ wird JGB zwar nicht geraten, dennoch will auch dieses Werk eine neue Form von Philosophie – eine gesetzgebende, selbstbewusste Philosophie – den Lesern schmackhaft machen. Jenseits von Gut und Böse ist der Protreptikos zu einer Philosophie der Zukunft. Als solcher grenzt sich die Schrift auch ab von all den moralischen Protreptikoi der Philosophiegeschichte: „Philosophie hat wenig mit Tugend zu thun.“ (NL 1884, KSA 11, 26[452], S. 271) Um das Ziel der Anwerbung zu erreichen, muss JGB als Protreptikos eine möglichst breite Blütenlese dessen bieten, was die neue, unvergleichliche Philosophie der Zukunft beinhalten und ausmachen wird. „Inzwischen nämlich wird mein letzthin herausgegebenes ‚Jenseits‘ die Aufmerksamkeit hinreichend auf meinen Namen lenken und dient insofern als ‚Appetitmacher‘ und Stomachicum für meine Art von Litteratur (– die nicht zur ‚leichten‘ gehört! –)“ (Bf. an Fritzsch, 24. 09. 1886, KGB III/3, Bf. 755). Es scheint nun so, als ob der Adressatenkreis von JGB gänzlich offen wäre – als ob jeder Adressat der Schrift sein könnte. Allerdings konterkarieren Nietzsches einschlägige Äußerungen diese Adressatenoffenheit. Als JGB noch der zweite Band von M hätte sein sollen, hieß es im Briefentwurf an Credner, Mitte Januar 1886: „ich würde sagen es ist ein Buch für geistige Wagehalse und Feinschmecker; es ist sogar vom Feinsten und Verwegensten daran. Trotzdem hat es nichts, was wie ein direkter Angriff erscheint; ich gehöre nicht zu den Parteimenschen irgend welcher Art welche durchaus ‚bekehren‘ oder ‚umwerfen‘ wollen.“
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(KGB III/3, Bf. 663) Auch nach Erscheinen stellte Nietzsche das Werk, als er um den 20. 09. 1886 Hippolyte Taine dafür gewinnen wollte, als „schwer verständlich“ hin, „voller Hintergedanken, eine fremde Denkweise vielleicht mehr noch verbergend als verrathend: welchen Lesern kann ein solches Buch billigerweise zugemuthet werden? Den Allerwenigsten jedenfalls, den wirklichen Räthselrathern, den historischen ‚Zeichendeutern‘“ (KGB III/3, Bf. 753). Nietzsche richtete sich an die Wenigsten, so scheint es, und doch wollte er jeden möglichen Leser als potentiellen Anhänger gewinnen. Er spielte damit, dass jeder zum exklusiven Kreis der „Allerwenigsten“ gehören möchte. Der Text von JGB inszeniert das gleich eingangs als Rollenspiel von Sphinx und Oedipus (vgl. JGB 1, KSA 5, S. 15) und legt damit dem Leser nahe, sowohl in die Rolle des Rätsel-Stellers als auch des Rätsel-Lösers zu schlüpfen. JGB ist mit anderen Worten nicht nur als protreptisches Werk im Hinblick auf die erst angedeutete Philosophie der Zukunft konzipiert, sondern auch als temptatorisches Werk, das das zukunftsphilosophische Potential aus den jeweiligen Lesern herauskitzeln will.2 Es ist ein Werk, das die Leser zunächst in fundamentalphilosophischer Hinsicht (Hauptstück 1) und im Blick auf die Selbsteinschätzung (Hauptstücke 2 und 6), sodann in religiöser Hinsicht (Hauptstück 3), in moralphilosophischer (Hauptstücke 5 und 7) und schließlich in politischer Hinsicht (Hauptstücke 8 und 9) in Versuchung führt, indem es ihre gewohnten Sicherheiten zur Disposition stellt. Zugleich ist JGB aber auch ein promissorisches Werk (ein prometheisches vielleicht ebenso): Die Gedanken bleiben angedeutet, nichts wird zu Ende geführt. JGB macht unentwegt Versprechungen auf die Zukunft, da das bisher Erbrachte und Geleistete weder gehört wird noch genügt, obwohl in den außertextuellen Selbstzeugnissen der ständige Rückbezug auf das bereits Geleistete vorherrscht, das als singuläre Leistung begriffen wird (Za). In diesen Selbstzeugnissen jenseits von JGB wird der promissorische Charakter dieses Werkes auch auf die Vergangenheit bezogen: Wenn JGB als „Glossarium“ oder als „Commentar“ zu Za verstanden wird, impliziert dies das Versprechen, 2 Deshalb kann Nietzsche am 12. 10. 1886 seinen Freund Overbeck damit aufziehen, dass dessen Nicht-Verstehen ihn beruhige, nämlich darüber, womöglich in JGB zu deutlich geworden zu sein: „Übrigens hat es mit dem ‚Verstandenwerden‘ etwas auf sich; und ich hoffe und wünsche, es möge noch eine gute Zeit dauern, bis es dazu kommt. Am besten wäre es wohl erst nach meinem Tode. Es hat mich ordentlich beruhigt, daß auch ein so feiner und wohlwollender Leser, wie Du es bist, immer noch zweifelhaft darüber bleibt, was ich eigentlich will: meine Angst war groß geworden gerade in der umgekehrten Richtung, nämlich, daß ich dies Mal etwas zu deutlich gewesen sei und ‚mich‘ zu früh schon verrathen habe. Es liegt auf der Hand: ich muß erst noch eine Menge erzieherischer Prämissen geben, bis ich mir endlich meine eignen Leser gezüchtet habe, ich meine Leser, die meine Probleme sehn dürfen, ohne an ihnen zu zerbrechen.“ (KGB III/ 3, Bf. 761, S. 264 f.)
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dass dieses Werk auch für die Erschließung der Vergangenheit, des schon Vollbrachten hilfreich, ja unentbehrlich sein werde. Der promissorische Aspekt kommt ebenso in der vielfältigen Ausrichtung und Anlehnung dieses Werkes zum Tragen, das zunächst als Fortsetzung von M gedacht war, in der Struktur aber MA I imitiert, sodann Za entweder glossiert, kommentiert oder konterkariert (letzteres nach EH JGB 2, KSA 6, S. 351), und schließlich den Vorspann zu GM darstellt.3 All dies verspricht, JGB enthalte eigentlich alles, was sich ausdenken lässt – wenngleich nur in noch unausgeführter Form. Promissio und temptatio, Versprechen / Verheißung und Versuchung sind wesentliche Strukturierungsmomente von JGB. Ein wichtiges Mittel, mit dem diese Strukturierungsmomente ins Werk gesetzt werden, ist die allusio, das anspielende, unvollständige Sprechen, das vom Leser stets Antworten verlangt – wie sie die Schlange von Adam und Eva verlangt hat. Daher überrascht es wenig, dass es nach Nietzsches Retraktation von JGB in Ecce homo gerade die teuflische Paradiesschlange ist, mit der er sich und sein Werk vergleicht: Das Raffinement in Form, in Absicht, in der Kunst des S c h w e i g e n s, ist im Vordergrunde, die Psychologie wird mit eingeständlicher Härte und Grausamkeit gehandhabt, — das Buch entbehrt jedes gutmüthigen Worts… Alles das erholt: wer erräth zuletzt, w e l c h e Art Erholung eine solche Verschwendung von Güte, wie der Zarathustra ist, nöthig macht?… Theologisch geredet — man höre zu, denn ich rede selten als Theologe — war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntniss legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein… Er hatte Alles zu schön gemacht… Der Teufel ist bloss der Müssiggang Gottes an jedem siebenten Tage… (EH JGB 2, KSA 6, S. 351)
Nach EH ist JGB in Konzeption und Struktur Za genau entgegengesetzt. Wird dort ausgeführt und geantwortet, wird in JGB verrätselt und gefragt. Die Schrift soll protreptisch wirken, indem sie promissorisch und temptatorisch agiert. Die Konzeption von JGB lässt sich, gemäß dem Brief an Widmann vom 04. 02. 1888, als die einer „raffinirten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung“ (KGB III/5, Bf. 985) beschreiben. JGB kann, so an Carl Spitteler am 10. 02. 1888, „als verbotenes Buch“ gelten „– aber trotzalledem enthält es den Schlüssel zu mir, wenn es einen giebt“ (KGB III/5, Bf. 988). Der protreptische, der promissorische und der temptatorische Charakter von JGB hilft zu erklären, weshalb Nietzsches sogenannte Hauptlehren in dieser
3 Dabei überrascht es nicht, dass manche Interpreten sogar auf die (falsche) Idee verfallen, JGB sei als Teil des von Nietzsche nie realisierten Hauptwerks Der Wille zur Macht intendiert gewesen (so Southwell 2009, S. 12 f.). In GM II 16 erscheint der Mensch selbst als promissorisches Wesen, „als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei…“ (GM II 16, KSA 5, S. 324).
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Schrift scheinbar gar nicht oder höchstens auf Umwegen zur Sprache kommen. Man darf vermuten, auch hier solle durch Verrätselung und Verunklarung Interesse und Ausgräberlust bei den richtigen Lesern geweckt werden: Der „Wille zur Macht“ wird beispielsweise in JGB 36 unter der Präambel des Als-ob („Gesetzt, dass“) und im Irrealis („so hätte man damit sich das Recht verschafft“) präsentiert (KSA 5, S. 54 f.) – nicht als eine Lehre, sondern als eine Versuchung, als Mittel der philosophischen Selbstbevollmächtigung künftiger Philosophen, die über die herkömmlichen freien Geister hinausgewachsen sein werden. Was mit dem protreptischen, promissorischen und temptatorischen Charakter von JGB gemeint ist, erhellt auch ein rascher, ganz oberflächlicher Überblick über einige Schwerpunkte im fortlaufenden Text. Es ist kaum ein Zufall, dass Nietzsche im ersten Hauptstück unter den Vorurteilen der Philosophen mitnichten nur die idealistisch-metaphysischen, sondern ebenso die materialistisch-atomistischen Vorurteile kritisch zersetzt. Der Begriff eines einfachen Willens, der einer eindeutigen ontologischen Lehre vom Willen zur Macht doch vorausliegen zu müssen scheint, wird in JGB 19 einer Fundamentalkritik unterzogen: „Wollen scheint mir vor Allem etwas C o m p l i c i r t e s, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist“. Dies vorausgesetzt: Auf welche andere Weise denn bloß als Wort sollte der Wille zur Macht dann eine Einheit sein? In der Metareflexion auf das Geschäft der Philosophen arbeitet Nietzsche heraus, wie stark die Ausübung dieses Geschäftes an grammatische Strukturen gebunden ist (JGB 20). Philosophen neigen dazu, Worte zu Dingen zu hypostasieren (JGB 21). Entsprechend gelten am Ende des ersten Hauptstücks philologische (JGB 22) und psychologische Methoden (JGB 23) als Mittel der Wahl, um die „Vorurtheile der Philosophen“ einzudämmen. Als „Herrin der Wissenschaft“ (JGB 23) soll die Psychologie auch als Führerin im Meere der Moral und ihrer Kritik auftreten; der letzte Abschnitt bildet damit den Übergang zum zweiten Hauptstück über den freien Geist und verweist voraus auf das fünfte Hauptstück, das sich der „Naturgeschichte der Moral“ widmet. Das zweite Hauptstück beginnt wie schon JGB 1, d. h. der erste Abschnitt des ersten Hauptstücks, mit der Frage nach dem Willen zum Nicht-Wissen, zum Ungewissen, Unwahren (vgl. JGB 24, KSA 5, S. 41). Dieser Wille zum Ungewissen (JGB 24), zur Ungewissheit (JGB 1), der sich in den Dienst einer skeptischen Verunsicherung stellt (vgl. Sommer 2007), ist ein Movens, vielleicht sogar ein Glutkern der Denk- und Schreibbewegung von JGB: Die Schrift steht unter der Präambel der Verunsicherung, die zugleich Verheißung und Versuchung ist. Man könnte argumentieren, die wesentliche Textstrategie von JGB bestehe darin, diesem spezifischen Willen, dem Willen zum Ungewissen zur Macht zu verhelfen, um damit eine Revolution der Denkungsart zu bewirken. Gerade der ontologische und herrenmoralische Dogmatismus, den manche Interpreten für die geheime Quintessenz von JGB halten, würde zu dem darin waltenden Willen zur Ungewiss
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heit in äußerstem Gegensatz stehen. Es scheint, als ob dieser Wille zum Ungewissen den Philosophen eingepflanzt werden solle. Dem korrespondiert, was Nietzsche in EH JGB 2 sagt: „Im letzteren Sinne ist das Buch eine S c h u l e d e s g e n t i l h o m m e, der Begriff geistiger u n d r a d i k a l e r genommen als er je genommen worden ist. Man muss Muth im Leibe haben, ihn auch nur auszuhalten, man muss das Fürchten nicht gelernt haben…“ (KSA 6, S. 350 f.) Eingangs haben wir festgestellt, dass Nietzsches Selbstzeugnisse eher verschleiern als dass sie klären, was JGB eigentlich sein soll und sein will. Mitunter sind diese Einschätzungen geradezu kontradiktorisch. Nicht nur in diesem Buch selbst, sondern auch in der Haltung des Autors ihm gegenüber scheint der Wille zum Ungewissen zu regieren. Dieser Wille zum Ungewissen und Unwahren gilt Nietzsche nicht als Gegensatz zum Willen zum Wissen. Letzterer ist vielmehr dessen „Verfeinerung!“ (JGB 24, KSA 5, S. 41). Das Versucherische schwingt immer mit, denn die „höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen“ (JGB 30, KSA 5, S. 48), wenn sie an falsche Ohren gelangen. Auch da sind wiederum Angelhaken ausgeworfen. Der Wille zum Ungewissen ist beispielsweise im schon erwähnten Abschnitt JGB 36 wirkmächtig, der das berühmt-berüchtigte Bekenntnis zum Willen zur Macht als Grundprinzip alles Seienden zu enthalten scheint. Näher besehen statuiert Nietzsche hier aber eher ein Exempel dafür, dass man, wie es am Ende von JGB 34 heißt, gegenüber Subjekt, Prädikat und Objekt „ein Wenig ironisch“ sein müsse (KSA 5, S. 54). JGB 36 enthält kaum ein Bekenntnis zum „Willen zur Macht“, sondern eine Fiktion – es statuiert das Exempel einer Fiktion, klar und deutlich markiert durch das vielfache „Gesetzt, dass“ sowie durch den Konjunktiv II. Der Willensbegriff, den Nietzsche hier so bereitwillig benutzt und wie Schopenhauer als etwas unmittelbar Gegebenes einführt, wird, wie gesagt, bereits in JGB 19 problematisch. JGB 42 stellt für die „neue Gattung von Philosophen“, die sich ankündige, aber noch nicht verwirklicht sei, in Aussicht, dass diese Philosophen das „Recht“ haben würden, „a l s V e r s u c h e r bezeichnet zu werden“ (KSA 5, S. 59). Der hier herausgestellte Charakterzug von JGB, nämlich der temptatorische, antizipiert also das in die Gegenwart vorweggenommene Selbstverständnis der künftigen Philosophen (auch EH JGB 2 spielt darauf an). Wenn JGB ein Protreptikos sein sollte, dann in Gestalt einer Versuchung. Es ist das Werk eines Denkers, der sich als Versucher sieht und mit seinem Text und seinen Lesern gleichermaßen Versuche treibt. Daher bleibt auch der Adressatenkreis offen, denn je nach Versuchsanordnung sind Reaktionen jedweder Art möglich. Abschließend bleibt zu bedenken, dass es der Aphorismus oder genauer die Form des an thematischen Ketten gereihten Kürzest-Essays ist, der als Baustein der Hauptstücke von JGB fungiert – mit Ausnahme des vierten (hier sind es
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Sentenzen und ‚reine‘ Aphorismen, d. h. ko- und kontextuell isolierte Einzelkurztexte) sowie des lyrischen Nachgesangs. Der verstörende Charakter des Aphorismus ist vielen Interpreten aufgefallen, weil er nichts gültig und letztlich erklärt (vgl. z. B. Strong 1975, S. 132–134). Schon Tanner stellt allerdings fest, dass Nietzsche in JGB Aphorismus und Argumentation in einmaliger Weise kombiniere (vgl. Tanner 1986, S. 200). Tanner stellt weiter fest, dass die Aphorismen Nietzsches keinen anhaltenden mnemotechnischen Effekt zeitigten:
For it is one of the most striking features of reading Nietzsche, even when he is at his best – an amazingly high proportion of the time – that he is both very striking and strangely unmemorable. […] Since aphorisms are related non-linearly, one can’t retrace them, as one can an argument, by recalling the steps in it. And if the effect is, as so often, one of dazzlement, that’s all the more likely to lead to forgetfulness. (Tanner 1986, S. 200)
Wenn tatsächlich der Erinnerungseffekt von Aphorismen so gering ist, dann ist es, kann man Tanners Überlegungen fortspinnen, nicht erstaunlich, dass man Nietzsche in der philosophiehistorischen Retrospektion meinte auf Lehren festlegen zu müssen – gerade in JGB. Und könnte Nietzsche auf die thematische Gruppierung und die Durchbrechung der aphoristischen Isolation seiner vorangegangenen Werke, indem sich die Kürzest-Essays zumindest in einigen Hauptstücken von JGB zu einer Art fortlaufender Argumentation verdichten, nicht gerade verfallen sein, weil er den ‚Impact‘ seiner bisherigen Schriften als schmerzlich gering erfahren musste? Dann wäre der Rezeptions-Mangel nicht nur dem Verleger-Problem und der Unerhörtheit des Inhalts, sondern auch der Form geschuldet. Einen ersten Versuch einer neuen, nicht-aphoristischen Form unternimmt bekanntlich schon Za. Aber auch die immer wieder gebrochene Lehrrede führt nicht zum gewünschten Effekt. Also wird in JGB der Aphorismus, wie er in MA, M oder FW erscheint, erweitert zu argumentativ konjugierten Kurztextgruppen.4 Die Kurztexte von JGB setzen gerade keine festen Horizonte und sind auch in diesem Sinne keine Aphorismen im Wortsinn, sondern reißen a-horistisch neue Horizonte auf. Auch in dieser Hinsicht stellt sich JGB sowohl als temptatorisch als auch als promissorisches Buch dar: Jeder Leser pickt das heraus, was ihm wichtig er-
4 Heinrich Köselitz als Herausgeber der dritten und vierten Auflage von JGB wollte dezidiert den Anschein erzeugen, es handle sich um ein Aphorismenbuch im alten Stil: „Der Herausgeber der dritten und vierten Auflage [sc. Nietzsche 1894] versah sämmtliche Abschnitte des Werks mit selbsterfundenen Überschriften, wodurch auch den in zusammenhängender Gedankenentwicklung geschriebenen Capiteln der Anschein aphoristischen Charakters gegeben wurde.“ (Nietzsche 1895, Nachbericht, S. I) Von GoAK werden diese Überschriften wieder entfernt (vgl. Krummel 1998–2006, Bd. 1, S. 274). Im Sinn von M oder FW ist JGB kein Aphorismenbuch.
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scheint; jeder gewichtet individuell nach seinen Vor-Urteilen und liest damit ein anderes Buch. Das Buch selektiert dadurch selbst seine Leser. Auch als „Glossarium“ hat JGB keine zwingende systematische Struktur, sondern fängt immer wieder neu an. Was immer die Philosophie der Zukunft sein mag: Die Philosophie von Nietzsches Gegenwart ist wie ihr exemplarisches Werk protreptisch, promissorisch und temptatorisch.
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Zur Ausdifferenzierung von Sentenz und Aphorismus in „Jenseits von gut und böse“ (1882) und Jenseits von Gut und Böse (1886) 1 Einleitung „Jenseits von gut und böse“ – so lautet einer der Titelentwürfe für ein von Nietzsche im Herbst 1882 zusammengestelltes, aber nie veröffentlichtes „Sentenzen-Buch“ (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 53). Die fast 500 Texte in diesem ‚Buch‘ halten sich streng an das landläufige Verständnis der Gattung Aphorismus; denn sie sind kurz, tiefsinnig, pointiert und provokativ. Diese Aphorismen, die selten aus mehr als einem einzigen Satz bestehen, sind kontextuell isoliert, nichtfiktional und in Prosa geschrieben, und entsprechen somit Harald Frickes einflussreicher Beschreibung der Gattung (vgl. Fricke 1984, S. 14), die mehr oder weniger vom Nietzsche-Wörterbuch übernommen wird (vgl. NWB, S. 76–81). Sowohl die notwendigen als auch weitere Merkmale des Aphorismus, die Fricke unterscheidet, nämlich Einzelsatz, Konzision, sprachliche und/oder sachliche Pointiertheit, tauchen die ganze Sammlung hindurch immer wieder auf. „Jenseits von gut und böse“ – fortan abgekürzt mit „Jgb“ – entspricht auch anderen konventionellen Definitionen des Aphorismus: „In its orthodox usage, the term ‚aphorism‘ is used to denote a short expression of a general truth or pointed assertion“ (Marsden 2006, S. 23). Dagegen gehören die Texte in dem veröffentlichten Werk mit dem gleichen Titel in Großschreibung nicht so eindeutig zu dieser Gattung. Im Vergleich zu dem formal viel einheitlicheren Jgb zeigt JGB eine Vielfalt von Textsorten, die nur selten der gängigen Bestimmung des Aphorismus entsprechen. Allein die durchschnittliche Länge der Aphorismen aus JGB stellt die Gattungszuweisung der Sammlung in Frage – die Sentenzen aus Jgb bestehen im Durchschnitt aus ungefähr 25 Wörtern (~11.200 Wörter verteilt über ~450 Aphorismen), die des ersten Hauptstücks von JGB aus durchschnittlich 290 Wörtern (6690 Wörter im ersten Hauptstück verteilt auf 23 Texte). Die Form des Aphorismus ist aber auch nicht so eindeutig mit der kurzen Sentenz, d. h. mit dem „EinSatz-Aphorismus“ (Stegmaier 2012, S. 11), zu identifizieren. Dies ist bereits seit Anfang der wissenschaftlichen Aphorismus-Forschung klar, schon seitdem Franz Mautner in seiner bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 1933 zu der etwas resignierenden Erklärung gelangt ist, der Aphorismus sei „[j]ede sonst nicht definierbare kürzere Prosaaufzeichnung“ (Mautner 1933, S. 22). Aber auch er wagt es nicht, den Aphorismus per se durch die Kürze des Textes zu definieren,
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sondern verwendet das Konzept hier nur in Abgrenzung zu längeren Prosaaufzeichnungen. Obwohl im Nietzsche-Wörterbuch die Kürze als wesentliches Merkmal des Aphorismus bezeichnet wird, wird letztendlich auch dieses Charakteristikum interpretatorisch offen gelassen: „Die Kürze ist eine Form der Zurückhaltung“ (NWB, S. 79), d. h. nicht, der Text muss unbedingt kurz sein, sondern einfach kürzer als ein Leser erwarten würde. Damit wird jedoch Frickes Beschreibung beibehalten, denn für ihn muss ein Aphorismus konzis sein, aber „konzis schreiben heißt nicht ‚wenig schreiben‘, oder ‚nur das Nötige schreiben‘, sondern: weniger schreiben als eigentlich ‚nötig‘ wäre, und die nötigen Ergänzungen der Eigenanstrengung des Lesers überantworten“ (Fricke 1984, S. 16). Sentenzen wie diejenigen, die man im Sentenzen-Buch Jgb findet, sind in der Tat auf eine Weise konzis, die dem späteren Buch JGB fremd bleiben muss. Dennoch ist JGB eine Aphorismen-Sammlung, wenn man nicht nur die Tradition der deutschen Aphoristik berücksichtigt, in die Nietzsche seine Schriften stellt, sondern auch die Art, wie der Autor die aphoristische Form entfaltet, d. h. darstellt und einsetzt. Wenn man diese Form ‚ernst genug‘ nehmen will, wie Nietzsche es in der Vorrede zur GM verlangt, muss man den Aphorismus, so wie Nietzsche ihn versteht und verwendet, von der gängigen Definition des Aphorismus, die eigentlich derjenigen der Sentenz entspricht, unterscheiden.
2 Eine Vielfalt von Formen Auch wenn Nietzsche zu den größten Aphoristikern der abendländischen Kultur zählt, sind seine Werke freilich „[nicht] a p h o r i s t i s c h im Sinne der berühmten Aphoristiker“ (Jaspers 1947, S. 9). Im heutigen englischsprachigen Raum liest man immer wieder die Kritik, dass die Bezeichnung ,aphorism‘ oder ,aphoristic‘ bei Nietzsche meistens fehl am Platz oder nur in seltenen Fällen nützlich sei. Ruth Abbey behauptet, Texte von mehr als zwei Seiten „might be better called essayette or Reflection [sic] than an aphorism“ (Abbey 2000, S. 158). Ein genauso enges Verständnis der Gattung Aphorismus taucht in der Analyse von Jill Marsden auf, wobei sie Texte als Aphorismen bezeichnet, die von Nietzsche gar nicht als solche geschrieben sind, z. B. Auszüge aus Also sprach Zarathustra, einem Text, den Nietzsche ausdrücklich „eine Dichtung und keine Aphorismen-Sammlung“ (Bf. an Franz Overbeck, 10. Februar 1883, KGB III/1, Bf. 373) nennt. Da der so verstandene Begriff ‚aphoristisch‘ nur auf einen kleinen Bruchteil der sogenannten aphoristischen Werke der mittleren Schaffensperiode (MA I, MA II, M, FW) anzuwenden ist, raten solche Studien von dem Gebrauch der Bezeichnung insgesamt ab. Hier erkennt man den Einfluss von Walter Kaufmann, der den aphoris
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tischen Charakter von JGB aus genau diesem Grund entschieden in Frage stellt (vgl. Kaufmann 1965, S. XVII). Ein ähnlicher Impuls zeigt sich auch im deutschsprachigen Diskurs, und zwar ausgerechnet bei denjenigen, die sich am intensivsten mit Nietzsches Aphoristik beschäftigen. Sowohl die frühe Studie von Hiltrud Häntzschel-Schlotke als auch die etwas spätere von Bernhard Greiner bestehen einstimmig darauf, dass nur wenige von Nietzsches Texten Aphorismen ‚im strengen Sinne‘ sind (vgl. Häntzschel-Schlotke 1967, S. 40 sowie Greiner 1972, S. 78). Auch das Nietzsche-Wörterbuch unterscheidet terminologisch kaum zwischen Sentenz und Aphorismus. Natürlich werden die Rubriken nicht als ausnahmslos deckungsgleich dargestellt. Denn der „Terminus ‚Aphorismus‘ ist nur teilweise gleichbedeutend mit dem viel öfter belegten Ausdruck ‚Sentenz‘“ (NWB, S. 76). Nach vorbeugenden Einschränkungen dieser Art wird der Aphorismus dann jedoch weiter implizit synonym mit der Sentenz oder der zum gleichen Wortfeld gehörenden Maxime verwendet. Das lässt sich Sätzen wie dem Folgenden entnehmen: „Die meisten aphoristischen Texte findet man in M, FW und in den Kapiteln ‚Sprüche und Zwischenspiele‘ aus JGB und ‚Sprüche und Pfeile‘ aus GD“ (NWB, S. 79). Auch wenn das NietzscheWörterbuch unmittelbar vor dieser Behauptung eingesteht, dass Nietzsche in der GM (GM Vorrede 2, KSA 5, S. 248) „MA explizit eine ‚Aphorismen-Sammlung‘“ (NWB, S. 79) nennt, findet MA keinen Platz auf dieser Liste. Nur wenn diese „aphoristischen Texte“ der Gattung der kurzen Sentenz – also dem allgemeinen Verständnis des Aphorismus – entsprechen, erhält eine solche Darstellung von Nietzsches Œuvre Sinn. Sonst könnte man das Fehlen der zwei MA-Bände – und dazu von JGB als Ganzes – auf dieser Liste kaum nachvollziehen. Daraus lässt sich schließen, dass der Aphorismus ‚im strengen Sinne‘ eigentlich ‚im Sinne der Sentenz‘ heißen soll. Natürlich besteht JGB aus mehr als nur Sentenzen, auch wenn es solche enthält. Einige von diesen entstammen dem früheren Jgb und finden sich insbesondere im vierten Hauptstück „Sprüche und Zwischenspiele“1. Aber solche Texte sind eher die Ausnahme. Bereits der Anfang des Buches zeigt, dass es sich hier um keine gewöhnliche Aphorismen-Sammlung handelt: Schon aufgrund seiner Länge kann der erste Text mit seinen 223 Wörtern kaum als Sentenz gelten; solch einen Text lernt man nicht auswendig, um geistige Wendigkeit in feiner Gesellschaft zu beweisen, so wie die Maximen der französischen ‚moralistes‘. Die darauffolgenden Aphorismen würden sich in einer Salonschlacht als ebenso unbrauchbare Waffen erweisen. Aber handelt es sich hier überhaupt noch um Aphorismen?
1 Für eine ausführliche Liste aller korrespondierenden Texte, siehe KSA 14, S. 667–674.
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2.1 Eine Aphorismen-Sammlung Nachdem Nietzsche die vier Teile von Also sprach Zarathustra verfasst hatte, wandte er sich wieder den Texten der mittleren Periode mit der Absicht zu, sie neu zu bearbeiten und auf den aktuellen Stand seiner Philosophie zu bringen (vgl. Schaberg 1995, S. 126). Die Zwänge des Verlagswesens verhinderten jedoch die Durchführung eines solchen Vorhabens. Nietzsche musste sich mit Hinzufügungen (neuen Vorreden, dichterischen Beigaben, dem fünften Buch der FW) anstelle von grundlegenden Überarbeitungen zufrieden geben. JGB entstand in dieser Zeit ursprünglich als Wiederbearbeitung von MA (vgl. Franco 2011, S. 179 ff.), und die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Büchern sind offensichtlich: beide bestehen aus Aphorismen und sind gegliedert in neun nach Themen organisierten „Hauptstücken“. Auch diese Themen verbinden die beiden Bücher: während MA mit dem Hauptstück „Von den ersten und letzten Dingen“ beginnt, setzt JGB mit „von den Vorurtheilen der Philosophen“ ein; in MA heißt ein Teil „Das religiöse Leben“, in JGB „das religiöse Wesen“; was man als „Zur Geschichte der moralischen Empfindungen“ in MA findet, erscheint in JGB als „zur Naturgeschichte der Moral“. Natürlich gibt es auch inhaltliche Überschneidungen, z. B. wenn JGB 2 die Frage stellt: „Wie k ö n n t e etwas aus seinem Gegensatz entstehn?“ (JGB 2, KSA 5, S. 16). Hier hört man den Widerhall von MA I 1, das mit der Behauptung anfängt: „Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen“ (MA I 1, KSA 2, S. 23). Solche strukturellen und inhaltlichen Parallelen zwischen MA und JGB gibt es in Hülle und Fülle, aber wichtiger für die aktuelle Diskussion ist die formale Ähnlichkeit: Beide Bücher umfassen eine breite Vielfalt von Formen, die nichtsdestoweniger als Aphorismen zu bezeichnen sind. Manche von diesen Aphorismen sind Sentenzen, und in beiden Texten erscheinen solche Aphorismen oft zusammen gruppiert – in MA stehen sie hauptsächlich in den Hauptstücken 6 („Der Mensch in Verkehr“), 7 („Weib und Kind“) und 9 („Der Mensch mit sich allein“); in JGB findet man die meisten im vierten Hauptstück. Aber beide Werke beschränken sich nicht auf solche kurzen Aphorismen. Es ist von Anfang an klar, dass es sich weder bei MA noch bei JGB um ein Sentenzen-Buch handelt. In beiden Fällen dominieren eher längere Texte, die meistens allein stehen, aber mitunter gibt es nicht selten Diskussionen, die sich über mehrere Textsegmente erstrecken. Diese formale Vielfalt des Buches wird durch das Hinzufügen der abschließenden Gedichte „Unter Freunden. Ein Nachspiel“ (MA) und „Aus hohen Bergen. Nachgesang“ (JGB) verstärkt. Gleichzeitig haben diese Schlussgedichte eine gegensätzliche Wirkung: sie betonen die formale Einheit aller vorangehenden Abschnitte, deren formale Vielfältigkeit dennoch im Vergleich zur Lyrik eine Einheit als Prosa
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bildet. Die Aphorismen von MA und JGB sind also von einer formalen Vielfalt, aber dennoch Aphorismen. In diesem Sinn verkörpern sie in sich Nietzsches „vielfachste Kunst des Stils“ (EH Bücher 4, KSA 6, S. 304), die Alexander Nehamas als das Kennzeichen von Nietzsches Schreiben betrachtet. Wenn Nehamas die Untersuchung des Aphorismus zugunsten des „stylistic pluralism“ ablehnt, da „any treatment of his writing that concerns only the aphorism, […] is bound to be incomplete“ (Nehamas 1999, S. 19), lässt sich entgegnen, dass der Aphorismus bereits eine solche Vielheit darstellt, wenn man ihn nicht mehr auf die Sentenz beschränkt. Was Nehamas bevorzugt, ist genau die Art stilistischer Pluralität, die schon die Aphorismen-Sammlung MA und auch ihren Nachfolger JGB auszeichnet.
2.2 Sentenz und Aphorismus Obwohl die Gattungen Sentenz und Aphorismus verschieden sind, stehen sie sich in Nietzsches Werk sehr nahe. Soviel wird schon in dem bekannten Satz aus der GD deutlich: „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der ‚Ewigkeit‘“ (GD Streifzüge 51, KSA 6, S. 153). Hier erscheinen die zwei Gattungen auf das Engste miteinander verbunden, aber sie gehen dennoch nicht ineinander auf. Zuerst könnte man in dem zitierten Satz „die Sentenz“ als Apposition lesen. Aber die Pluralform des Relativpronomens („denen“) sowie auch die der Kopula („sind“) untergraben diese Identifikation. Dass die beiden Singularformen darüber hinaus zusammen als „Formen“ der Ewigkeit beschrieben werden, lässt darauf schließen, dass das Subjekt des Satzes nicht „Der Aphorismus [oder anders gesagt], die Sentenz“, sondern „Der Aphorismus [und] die Sentenz“ ist. Die „Ewigkeit“ dieser beiden Formen liegt in der von Fricke betonten Konzision, die sich auf die Eigenanstrengung des Lesers verlässt, aber die ausgerechnet deswegen zu immer neuen Ergebnissen führen kann, was Werner Stegmaier als ein „Immer-Anders-Verstehen“ (Stegmaier 1992, S. 285) beschreibt. Da aber die Sentenz als Untergruppe des Aphorismus zu verstehen ist (manche Texte in der Aphorismen-Sammlung MA sind zweifelsohne Sentenzen), bleibt diese Äußerung weiterhin problematisch, wenn auch nicht in Bezug auf die falsche Identifikation von Aphorismus und Sentenz. Dass die problematische Identifikation von kurzer Sentenz und vielfältigerem Aphorismus immer noch in der Forschung nachwirkt, lässt sich an der Diskussion über Nietzsches „Muster“ für seine „Kunst der Auslegung“ in GM erkennen. In der Vorrede von GM beklagt Nietzsche, dass man „diese [aphoristische] Form heute n i c h t s c h w e r g e n u g nimmt“; dafür sei eine „Kunst der Auslegung“ nötig (GM
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Vorrede 8; KSA 5, S. 255). Nietzsche verspricht dem Leser ein Musterbeispiel davon, „was [er] in einem solchen Falle ‚Auslegung‘ nenn[t]: — dieser Abhandlung [= GM III; J.W.] ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar“ (GM Vorrede 8, KSA 5, S. 256). Bisher gibt es keinen Konsens darüber, welchen der vorangestellten Texte Nietzsche damit meint: den als Epigraph dienenden Auszug aus Za oder den ersten Abschnitt der Abhandlung GM III. Beide wurden „vorangestellt“, indem Nietzsche sie erst spät der Abhandlung hinzugefügt hatte (vgl. KSA 14, S. 380; vgl. Clark 1997, S. 612). Da der Text aus Za kurz und provozierend wirkt, passt er gut zum konventionellen Verständnis des Aphorismus: „Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig — so will u n s die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann“ (GM III, KSA 5, S. 339). Die genaue Verbindung zu GM III, „Was bedeuten asketische Ideale?“, ist unklar. Doch ist von einem Aphorismus zu erwarten, dass für seine Auslegung eine beachtliche Eigenanstrengung des Lesers zu erbringen ist. Ausgehend von dieser Passage einen Text wie die darauffolgende Abhandlung als Auslegung der Vorlage zu schreiben, würde einen beträchtlichen Aufwand an exegetischer Mühe und Kreativität voraussetzen. Aber die knappe Form erfordert keine raffinierte Definition der Gattung Aphorismus. Diejenigen, die lieber den Begriff ‚Auslegung‘ erhalten wollen als den der Gattung ‚Aphorismus‘, opfern die Form auf, um so die Beziehung zwischen Text und Auslegung zu erhalten. Kurz gesagt: Wer bereit ist, ein enges Verständnis des Aphorismus aufzugeben, kann damit ein konventionelles Verständnis des Auslegungsprozesses bewahren. Der alternative Text zum Epigraph, nämlich GM III 1, wurde auch „vorangestellt“. Das Druckmanuskript eröffnete ursprünglich mit Abschnitt 2; erst nachdem die jetzt nummerierten Abschnitte 2 bis 23 geschrieben worden sind, hat Nietzsche den ersten Abschnitt hinzugfügt (vgl. KSA 14, S. 380). Aber mit 173 Wörtern ist dieser Abschnitt kaum ein Aphorismus ‚im strengen Sinne‘. Dafür aber deutet er den Ablauf der darauffolgenden 27 Abschnitte weitgehend an: Aus der parataktischen Anapher des Anfangstextes wird ein beinahe kontinuierlicher Diskurs (vgl. GM III 2–28, KSA 5, S. 340–412), der die Struktur dieses Textes weithin widerspiegelt (vgl. Wilcox 1998, S. 449 und Janaway 1997, S. 256). Teil 2 kehrt zu der Frage zurück, mit der Teil 1 beginnt, „Was bedeuten asketische Ideale?“ Der letzte Abschnitt endet mit dem gleichen Schluss, den Nietzsche schon am Ende des ersten Abschnitts erreichte: „[L]ieber will noch der Mensch d a s N i c h t s wollen, als n i c h t wollen“ (GM 28, KSA 5, S. 412). Dazwischen entfaltet sich die Abhandlung entsprechend der Entwicklung in Teil 1. Wilcox, Janaway und Clark vertreten die Ansicht, GM III 1 sei der Aphorismus, von dem Nietzsche in GM Vorrede 8 spricht. Ein großer Vorteil dieser Meinung ist die konventionelle, intuitive Lesart, die sie erlaubt. Postmoderne Interpretationen, z. B. solche, die die heikle Verbindung zwischen dem Epigraph und GM III
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als Lizenz zur freien Auslegung verstehen (wie die von Kelly Oliver 1993), würden sich dabei erübrigen. Aber natürlich basiert die Stichhaltigkeit einer Interpretation wie der von Wilcox darauf, dass eine solch konventionelle, intuitive Lesart an sich plausibler ist als eine radikale. Eine derartige Vorentscheidung setzt jedoch eine generelle Überlegenheit konventioneller Interpretationen gegenüber alternativen, radikaleren Lesarten voraus, ohne diese Präferenz begründen zu können. Auch wenn sie intuitiver wirkt, ist diese Ansicht natürlich nicht ohne Konsequenzen, da sie ein weitaus flexibleres und vielfältigeres Verständnis der Form des Aphorismus verlangt.
2.2.1 Die Sentenz Dass die Sentenz und der Aphorismus bei Nietzsche leicht zu verwechseln sind, liegt nicht nur an dem gängigen Verständnis der Form des Aphorismus, sondern auch an Nietzsches Texten. Seine Verwendung der Gattungsbezeichnungen mag wohl konsequent sein, aber das heißt noch lange nicht, er habe sie nicht dann und wann ineinander verflochten und dabei Verwirrung verursacht. Wenn Nietzsche in EH auf die Veröffentlichung seiner ersten Aphorismen-Sammlung MA zurückblickt, erklärt er den Titel so: „der Titel sagt ‚wo i h r ideale Dinge seht, sehe i c h — Menschliches, ach nur Allzumenschliches!‘“ (EH MA 1, KSA 6, S. 322). Dennoch erscheint die erste Vorstellung des titelgebenden Ausdrucks in dem besagten Band in einem etwas anderen Licht. Dieser Ausdruck taucht erst am Anfang des zweiten Hauptstücks in einem Aphorismus mit dem Titel „V o r t h e i l e d e r p s y c h o l o g i s c h e n B e o b a c h t u n g “ (MA I 35, KSA 2, S. 57) auf. In diesem Text behauptet Nietzsche, Europa leide an einer „Armuth an psychologischer Beobachtung“, die sich darin zeige, dass man heute „die großen Meister der psychologischen Sentenz“, d. h. „La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten“ (MA I 35, KSA 2, S. 58), nicht mehr lese. Als ob die Widmung an Voltaire und das Epigraph von Descartes in der Erstausgabe nicht genug wären, seinen ersehnten Bruch mit Wagner zu unterstreichen, gleicht Nietzsche hier sein Projekt dem der französischen moralistes an. Und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Indem ständig die eigentlichen Motivationen hinter unserem Denken und Handeln bloßgelegt werden, entspricht die Methode von MA derjenigen von Nietzsches französischen Vorgängern. Die inhaltlichen Einflüsse sind längst erläutert (vgl. Balmer 1981, Donnellan 1982 und Faber 1986). Aber das Nachleben der Moralisten in MA zeigt sich sowohl formal als auch methodisch, was insbesondere in der Verwendung und Verteidigung der Sentenz deutlich wird. Die Weise, auf die Nietzsche den raffinierten Schreibstil der moralistes preist, hinterlässt den Eindruck, dass sein eigenes Werk sie formal emuliert. Er schreibt,
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selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. (MA I 35, KSA 2, S. 58)
Da der Autor angeblich selber zu denen gehört, die diese Kunst gebührend zu würdigen wissen, stellt er sich als jemand dar, der in ihr erzogen ist und in ihr gewetteifert hat. Dabei wird seine Verbindung zu den großen Meistern der Sentenz ebenso verstärkt wie der Eindruck, dass er selbst Verfasser solcher Texte sei. Also erscheinen die Texte in Nietzsches erster Aphorismen-Sammlung unter den Vorzeichen der französischen Moralisten. Diese Moralisten sind die Meister der Sentenz. Nietzsche positioniert sich in dieser Tradition, wobei er suggeriert, das Buch MA I sei mit Schriften wie denen von La Rochefoucauld und anderen in seiner formalen Gestalt zu vergleichen. Da die erste Verwendung von „Menschliches, Allzumenschliches“ auch den Titel zum ersten Mal anspricht, scheint sie den Band als Ganzen zu betreffen. Diese Einführung des ‚Begriffs‘ „Menschliches, Allzumenschliches“ in Nietzsches Œuvre erlaubt aber nicht nur einen Vergleich mit der „Sentenzen-Schleiferei“ der Moralisten. Darüber hinaus bezieht sie sich auch auf ein Sentenzen-Buch seines Freundes Paul Rée. Indem Nietzsche „das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches“ mit der „psychologische[n] Beobachtung“ identifiziert, verweist er auf Rées 1875 erschienenes Buch „Psychologische Beobachtungen“, ein Werk, dessen Titel Nietzsche in dem darauffolgenden Aphorismus (vgl. MA I 36, KSA 2, S. 58) nennt. Erst durch Rée lernte Nietzsche die Schriften der Moralisten zu schätzen, denn obwohl er wahrscheinlich deren Namen in seiner Schopenhauer-Lektüre gefunden hatte, erscheinen sie erst zu der Zeit seiner Freundschaft mit Rée in seinen eigenen Notizen (vgl. NL 1876, 16[5], KSA 8, S. 287). Lou AndreasSalomé, die als Dritte in dieser notorischen Dreiecksbeziehung fungiert, bestätigt diesen Ablauf (vgl. Andreas-Salomé 1994, S. 132; siehe auch: Treiber 2004, S. 385–409; EH MA 6 sowie GM Vorrede 4), sowie auch die Verbindung zwischen Rée und den Moralisten. Sie beschreibt Rées eigenes Werk auch als „Sentenzen im Geist und Stil Larochefoucaulds“ (Andreas-Salomé 1994, S. 132), denn das Buch bestehe ausdrücklich und fast ausschließlich aus solchen kurzen aphoristischen Texten. Formal gesehen ähneln Rées „Psychologische Beobachtungen“ viel eher dem ‚Sentenzen-Buch‘ Jgb als MA, das formal diverser ist. Die Methode der ‚psychologischen Beobachtung‘ mag also das Projekt der Untersuchung des Menschlichen, Allzumenschlichen beschreiben. Was jedoch die Form betrifft, beschreibt der Ausdruck nur einen Bruchteil der Aphorismen in MA. Dieser Ausdruck passt zur analytischen Methode besser als zur Form des Buches, auch wenn die Identifikation des „Nachdenken[s] über Menschliches, Allzumenschliches“
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mit der ‚psychologischen Beobachtung‘ einen breiteren Geltungsbereich andeutet. Da der Aphorismus MA I 35 ursprünglich als Teil einer Vorrede gedacht war (vgl. KSA 14, S. 126), ist er entsprechend selbstreflexiv. Er erkennt den thematischen und formalen Einfluss der Moralisten und Rées an, was aber nicht heißen muss, dass er sich deren Schreibmodus pauschal aneignet. Dies verdeutlicht insbesondere eine Analyse der verschiedenen Ebenen der Selbstreflexivität dieses Textes. Insofern er den Titel des ganzen Bandes auslegt, behandelt der Text das allgemeine Projekt von MA und reiht es in eine bestimmte intellektuelle Tradition ein. Nietzsche deutet seine eigene Teilhabe an der „Sentenzen-Schleiferei“ an, indem er auch sich selbst als jemanden darstellt, der in ihr wetteifert. Aber diese zwei Instanzen der Selbstreflexivität beziehen sich auf zwei verschiedene Interpretationen von ‚Selbst‘. Während sich jene auf das Projekt des gesamten Buches bezieht, hat diese keinen gleichwertigen Umfang. Das Buch selbst mag wohl im Bann der „großen Meister der psychologischen Sentenz“ (MA I 35, KSA 2, S. 57) stehen, was jedoch keinen Anlass zu der Behauptung gibt, alle darin enthaltenen Texte seien formal Imitationen französischer Sentenzen. MA ist kein „SentenzenBuch“ wie Jgb, sondern eine „Aphorismen-Sammlung“, deren allgemeine Struktur und Form später von JGB übernommen wird.
2.2.2 Der Aphorismus Die Tatsache, dass MA I 35 und die drei darauffolgenden Aphorismen ursprünglich als Vorrede gedacht waren, verstärkt die Beziehung zwischen dieser Aphorismen-Sammlung und der moralistischen Tradition der Sentenz. Aber die eigentliche, gedruckte Fassung von MA fängt weder mit einer Diskussion der psychologischen Beobachtung noch der Vorteile der Sentenz an, sondern mit der Erklärung von Nietzsches neuem Projekt einer „historische[n] Philosophie […], welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken“ (MA I 1, KSA 2, S. 23) sei. Die anschließende Reihe von Aphorismen scheint eine Art Apologie der Naturwissenschaft zu sein, die sich auf die Vorteile der wissenschaftlichen Methode konzentriert. Nietzsche lehnt die metaphysische Gewohnheit ab, Werte und Wahrheit in einem fabelhaften „Ding an sich“ zu verorten, denn seine neue Philosophie hat keinen Platz für solche „ewigen Thatsachen“ oder „absoluten Wahrheiten“ (MA I 2, KSA 2, S. 25). Stattdessen empfiehlt er die Suche nach den „kleinen unscheinbaren Wahrheiten“, die „mit strenger Methode“ zu finden seien (MA I 3, KSA 2, S. 25). Derartige Wahrheiten zu schätzen, anstatt metaphysischen und künstlerischen Irrtümern nachzuhängen, sei „das Merkmal einer höhern Cultur“ (MA I 3, KSA 2, S. 25). Solche Äußerungen führen
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manche Interpreten zur Darstellung von Nietzsche als einen „methodological naturalist“, wenn sie Nietzsche eine philosophische Methode zuschreiben, die „continuous with empirical inquiry in the sciences“ (Leiter 2002, S. 3) sei. Ob das für Nietzsches ganze philosophische Entwicklung gilt, wäre noch zu untersuchen, doch wird deutlich, dass Nietzsches Vorliebe für naturwissenschaftliche Methoden am stärksten in der Zeit spürbar wird, in der er sich dem Aphorismus zuwendet. Nietzsches Hinwendung zum Aphorismus wirft Fragen nach seiner Methodologie auf, auch wenn das Wort „Aphorismus“ nur ein einziges Mal in Nietzsches ersten drei Aphorismen-Sammlungen auftaucht. Dieses eine Mal ist aber vielsagend, denn es bezieht sich nicht auf die Sentenzen der ‚moralistes‘, sondern auf die Werke von demjenigen Schriftsteller, dem gewöhnlich die Großtat zugeschrieben wird, den Aphorismus in den deutschen Sprachraum eingeführt zu haben. „Lichtenberg’s Aphorismen“ zählen, so Nietzsche, zu den wenigen Werken deutscher Sprache, die es zusammen mit Goethes Schriften verdienen, „wieder und wieder gelesen zu werden“ (WS 109, KSA 2, S. 599). Diese Verwendung der Gattungsbezeichnung bietet einen wertvollen Einblick in Nietzsches Verständnis der aphoristischen Tradition, in die er später das eigene Werk stellt. Vermutlich meint Nietzsche die Lichtenberg-Bände, die er selbst besaß und immer wieder aufschlug.2 Mitunter erreichen die Texte in Lichtenbergs sogenannten Sudelbüchern die Bündigkeit einer ‚sentence‘, aber die meisten seiner Einträge sind aufgrund ihrer Länge kaum für eine ‚Salonschlacht‘ geeignet. In der Tat ist ihre formale Vielfältigkeit genauso beeindruckend wie ihre thematische Reichweite. Manche erstrecken sich über mehrere Seiten, andere umfassen nicht mehr als zwei Wörter. So wie Lichtenberg es beschreibt, ist ein Sudelbuch „ein Buch, worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben“ (Lichtenberg 1980, S. 352; zitiert auch im „Vorbericht“ der Ausgabe von 1867, die Nietzsche besaß, Lichtenberg 1867, S. XVI-XVII). Wenn Nietzsche unter dem Begriff ‚Aphorismen‘ ein solches Gemisch von Texten und Textsorten versteht (d. h. wissenschaftliche Beobachtungen, philosophische Einsichten, kurze Aufsätze, Gedankenexperimente, Metaphern, usw.), unbeschwert von den Anforderungen des Salons oder der Akademie, dann scheint es auch sinnvoll zu sein, dass er einen Text wie MA eine „Aphorismen-Sammlung“ nennt. Das ist weit entfernt von der „Sentenzen-Schleiferei“ der französischen Moralisten, aber es entspricht einer anderen Tradition, die zwar nicht direkt auf Nietzsche Einfluss
2 Die entsprechenden Werke firmieren zwar nicht unter der Bezeichnung ‚Aphorismen‘, doch wurde dieses Wort erst mit dem Erscheinen von Albert Leitzmanns Lichtenberg-Ausgabe von 1902–1908 zur Norm.
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hatte, aber doch über Lichtenberg auf ihn wirkte, nämlich die von Francis Bacon (1561–1626) entwickelte ‚traditio per aphorismos‘. Bacons Einfluss auf Lichtenberg ist längst nachgewiesen (vgl. Neumann 1976b). Seine Wichtigkeit für die deutsche aphoristische Tradition ist auch bekannt, da er die Form nicht nur einsetzte, sondern zugleich theoretisch reflektierte. Im ersten Buch von The Advancement of Learning (1605) beschreibt er „the overly-early and peremptory reduction of knowledge into arts and methods“ als eine Gefahr für den empirischen Forscher. In diesem Kontext führt er weiter aus, „knowledge, while it is in aphorisms and observations, it is in growth; but when it once is comprehended in exact methods, it may, perchance, be further polished, and illustrated and accommodated for use and practice, but it increaseth no more in bulk and substance“ (Bacon 1857, Bd. 3, S. 292). Indem sie das System anstatt der Beobachtung bevorzugen, drohen diese ‚Methoden‘ die Ergebnisse zu verfälschen. Dazu könnte die ‚traditio methodica‘ der Scholastiker, deren erstickendem Einfluss sich Bacon zu entziehen sucht, noch eine andere bedenkliche Folge zeitigen, denn ihre Methoden „[by] carrying the shew of a total, do secure men, as if they were at furthest“ (Bacon 1857, Bd. 3, S. 405). Dagegen hebt er die Antike positiv hervor, von der es heißt, sie „used to deliver the knowledge which the mind of man had gathered in observations, aphorisms, or short dispersed sentences […] which did invite men, both to ponder that which was invented, and to add and supply further“ (Bacon 1857, Bd. 3, S. 498). Demnach ist der Aphorismus nach Bacon ‚offen‘ im doppelten Sinne: indem er neue Kombinationen und Kontexte fördert sowie zu weiterem Nachdenken anregt. Insofern widerstehen aphoristische Äußerungen jeglichem unüberlegten Reduzieren der einzelnen Beobachtungen auf ein voreiliges System. Der in einem Aphorismus eingekapselten Beobachtung geht das System, das sie interpretieren will, voraus.
3 Aphorismus, System und Wissenschaft Nach Friedemann Spicker ist es nicht die Kürze, sondern die „Haltung gegen Dogmatismus und System“ (Spicker 1997, S. 354), die den Aphorismus auszeichnet. Er erkennt die wichtige Rolle, die die Vorstellung des Systems in der Aphorismus-Forschung spielt, und behauptet, das „Anti-Systematische gehört […] von Anfang an zum Kern der Semantik des ‚Aphorismus‘-Begriffs“ (Spicker 1997, S. 352). Solch eine Einstellung findet sich in der Forschung immer wieder. So meint Richard T. Gray, der Aphorismus sei traditionell „a symptom of the express lack of, or protest against […] systematic ideology“ (Gray 1987, S. 10). Die Art des Protests stellt Gerhard Neumann einsichtig dar, indem er darauf aufmerksam macht, dass schon Bacons aphoristische Strategie nicht ganz antisystematisch ist,
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sondern versucht, die reine Beobachtung mit systematischem Denken zu vereinbaren (vgl. Neumann 1976b, S. 46). Dabei stellt sich eine ‚offene‘ Ordnung heraus, die zwischen System und individueller Erfahrung, zwischen theoretischem und empirischem Wissen vermittelt. In einem Satz, der fast von Bacon stammen könnte, beschreibt er den Aphorismus als die „Darstellung des Konflikts zwischen dem Einzelnen, Beobachteten, Bemerkten, sinnlich Aufgenommenen einerseits und seiner Aufhebung im Allgemeinen, Merksatzhaften, Reflektierten, durch den Geist Abstrahierten andererseits“ (Neumann 1976a, S. 5). Die Spannung zwischen Aphorismus und System negiert also nicht die Gültigkeit des systematischen Diskurses, vielmehr zeigt sie an, dass diese Gültigkeit niemals absolut sein kann. Nicht alle Forscher sind begeistert von der dominanten Rolle des SystemBegriffs in der Interpretation der aphoristischen Form. Harald Fricke fragt sich, ob diese Denkweise in der Erläuterung der Gattung von Wert sei, und zwar sieht er in ihr eine unproduktive Ablenkung. „Es wäre ratsam“, behauptet er, „diesen nebulosen Begriff zu Entzugszwecken einmal für wenigstens 50 Jahre aus der Aphorismus-Forschung zu verbannen“ (Fricke 1984, S. 3 f.). Vielleicht hat er im Allgemeinen Recht, aber ausgerechnet bei Nietzsche gilt ein solches Verständnis der Form umso mehr, weil gerade Nietzsche das systematische Denken für besonders verdächtig hält. Schon in M warnt er: „V o r s i c h t v o r d e n S y s t e m a t i k e r n ! “ (M 318, KSA 3, S. 228). Diese Einstellung behielt er bis zum letzten Jahr seines schriftstellerischen und philosophischen Schaffens bei, in dem er bekanntlich schrieb: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD Sprüche 26, KSA 6, S. 63). Von besonderem Interesse für den vorliegenden Beitrag ist der Kontrast, den Nietzsche zwischen systematischem und wissenschaftlichem Denken festlegt. Denn seine gleichzeitige Hinwendung zum Aphorismus und zu den Naturwissenschaften als Vorbild deutet darauf hin, dass strenge Methoden nicht mit philosophischen Systemen zu verwechseln sind. Nietzsche betont in diesem Punkt ausdrücklich:
I n d e r W ü s t e d e r W i s s e n s c h a f t . — Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man „philosophische Systeme“ nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Räthsel… (VMS 31, KSA 2, S. 393)
Die Gefahr für den wissenschaftlichen Menschen liegt gerade im philosophischen System. Da Nietzsche die Naturwissenschaften als Musterdiskurs übernimmt und im gleichen Atemzug auf den Aphorismus zurückgreift, kann man davon ausgehen, dass er dadurch genau dieser Gefahr zu entgehen versucht. Durch den Aphorismus vermeidet er den Eindruck, „die Lösung aller Räthsel“ zu besitzen, denn allein die Lücken zwischen den Texten widersprechen solcher Vollständig-
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keit. Die aphoristische Äußerung betäubt nicht, sondern verlangt weiteres Denken und Suchen. Nietzsche ermuntert das wissenschaftliche Gemüt, sich vor ‚philosophischen Systemen‘ zu hüten, und die Ernährung, die solche Systeme anbieten, als täuschende Fata Morgana zu erkennen. Eine Weise, sich solchen Systemen zu widersetzen, ist das aphoristische Schreiben.
3.1 Das Vorsystematische und das Nachsystematische Was Nietzsche ablehnt, so Werner Stegmaier, „ist nicht das System als eine Form der nachträglichen Darstellung der Gedanken, sondern als eine Form, die den Gang des Denkens schon im vorhinein bindet“ (Stegmaier 1992, S. 285). Insofern als diese Interpretation Nietzsche eine Art ‚vorsystematischen‘ Denkens zuschreibt, ist sie aus dem gleichen Guss wie die von Walter Kaufmann. Für Kaufmann ist der Aphorismus ein Ausdruck von Nietzsches ‚experimentalism‘ (vgl. Kaufmann 1974, S. 72 ff.), wobei jeder aphoristische Text ein Experiment darstellt, das keine universelle Geltung beansprucht, sondern die Einführung von neuem Beweismaterial zulässt, sowie auch die Aussetzung des Überwundenen (Kaufmann 1974, S. 86). Der individuelle aphoristische Text geht dem interpretierenden System voraus, das man auf Basis dieser einzelnen Texte aufbauen wollte (Kaufmann erwähnt Bacon nicht, aber dessen Einfluss, ob wissentlich oder unwissentlich, ist leicht erkennbar). Immerhin ist für Kaufmann das Systematisieren im Begriff des Experiments vorgegeben, denn „the experiment is stopped prematurely if systematization is not eventually attempted“ (Kaufmann 1974, S. 94). Nietzsche wolle immer noch die „Anarchie der Atome“ (WA 7, KSA 6, S. 27; vgl. Kaufmann 1974, S. 73) überwinden und dabei eine kohärente Philosophie zustande bringen. Wenn Nietzsche philosophische Systeme auch der Unredlichkeit bezichtigt, zielen seine eigenen philosophischen Schriften Kaufmann zufolge dennoch auf ein vergleichbares Projekt ab. In dieser Interpretation ähnelt Nietzsches aphoristische Strategie stark der von Bacon, denn auch dessen Aphorismen sind „presystematic“ (Vickers 1968, 85), indem sie eine Stufe auf dem Weg zur Entwicklung eines Systems bilden. Aber im Unterschied zu Bacon könnte man Nietzsches Hinwendung zum Aphorismus noch besser als ‚post-systematic‘ beschreiben. Diese Einstellung zeigt sich zum Beispiel schon im elften Aphorismus von MA, „D i e S p r a c h e a l s v e r m e i n t l i c h e W i s s e n s c h a f t “ (MA I 11, KSA 2, S. 30). In diesem Text kritisiert Nietzsche diejenigen, die glauben, in der Sprache „a e t e r n a e v e r i t a t e s “ (MA I 11, KSA 2, S. 30) erreicht zu haben. Trotz dieses Fehlers verlangt Nietzsche nicht, dass der Mensch der Sprache abschwören solle, sondern er erkennt einen wichtigen Vorteil in dieser fehlerhaften Verschmelzung von Sprache und Wissen
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über die Welt, da erst diese die Wissenschaft ermöglicht. Die Sprache, schreibt er, sei „die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft“ (MA I 11, KSA 2, S. 30). Ohne den Glauben an die Wahrheit als etwas Gefundenes gäbe es weder die Entwicklung der Vernunft noch die Logik, weder die Mathematik noch die wissenschaftliche Fragestellung überhaupt. Auch wenn die Sprache Wahrheiten erzeugt, die Nietzsche für irrtümlich hält, z. B. die Gleichheit der Dinge oder die Identität desselben Dinges zu verschiedenen Zeitpunkten, sind solche Irrtümer notwendig für das wissenschaftliche Denken. Man hält diese Irrtümer für Wahrheiten, und Nietzsche gesteht etwas überraschend ein: „Glücklicherweise ist es zu spät“ (MA I 11, KSA 2, S. 30). Obwohl es für gewöhnlich nicht als etwas Positives aufgefasst wird, wenn es zu spät für etwas ist, wird dies hier nahegelegt. In diesem Sinne kann man sein Denken als nachsystematisch bezeichnen, denn es profitiert von einem systematischen Denken, auch wenn es dieses nicht mehr als gültig anerkennt. Eine Aphorismen-Sammlung ist in diesem Sinne ein struktureller Ausdruck dieser Einstellung, die der Welt nach dem Tod Gottes ähnelt. Ohne festen Bezugspunkt gleicht die Notlage ihres Lesers der des tollen Menschen: „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? […] Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“ (FW 125, KSA 3, S. 481). Ohne Mittelpunkt, ohne Orientierung, ohne Richtung oder Telos zu sein – das sind genau die Herausforderungen, mit denen der Leser einer Aphorismen-Sammlung konfrontiert wird. Sie hat weder Mitte noch notwendige Sequenz. Wenn man zugibt, dass Gattungen gewisse Weltanschauungen mitteilen, dann berichten Nietzsches Aphorismen-Sammlungen von einem, der den Tod Gottes erlebt hat. Ihm ist der „Gesammt-Charakter der Welt […] in alle Ewigkeit Chaos“ (FW 109, KSA 3, S. 468). Auch wenn Nietzsche diese Situation nicht als nihilistisch darstellt, bietet er in den Werken seiner mittleren Periode keine klaren Alternativen an. Erst später beginnt er, festere Begriffe anzudeuten, die die Möglichkeit einer Orientierung in sich bergen. Diese erscheinen vielleicht nicht ganz zufällig zur gleichen Zeit, in der er seine Muster für eine Kunst der Auslegung am Beispiel eines Aphorismus veröffentlicht.
4 Eine gemeinsame Wurzel Schon mit der ersten Veröffentlichung von FW 1882 behauptet Nietzsche einen gewissen Zusammenhang seiner Schriften. Auf der linken Seite des Buchdeckels steht: „Mit diesem Buche kommt eine Reihe von Schriften Friedrich Nietzsche’s zum Abschluss, deren gemeinsames Ziel ist, ein neues Bild und Ideal des Frei-
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geistes aufzustellen. In diese Reihe gehören“ MA, VMS, WS, M und FW. Aber erst nachdem er Za geschrieben hatte, fing er an, die Kohärenz seiner Philosophie ständig und immer wieder zu betonen. Das Verso von GM stellt das Buch als Teil eines Netzwerks vor: „Dem letztveröffentlichten ,Jenseits von Gut und Böse‘ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben“ (KSA 14, S. 377). Durch die Verwendung von gleichem Layout, gleicher Type und gleichem Papier wollte Nietzsche sicherstellen, dass diese Kontinuität unverkennbar war (vgl. KGB III/5, Bf. 877). GM ergänzt JGB, das seinerseits schon das Gleiche wie Za erklären sollte (vgl. KGB III/3, Bf. 754), auch wenn der Inhalt, so die Vorrede von GM, noch in die Zeit vor MA zurückreicht. Nietzsche erklärt unzweideutig, dass diese Konsequenz die Stärke seines Denkens bezeuge: Dass er noch an seinen Gedanken in MA über die Herkunft moralischer Vorurteile festhielte, dass sie sich selber inzwischen immer fester an einander gehalten haben, ja in einander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden G r u n d w i l l e n der Erkenntniss (GM Vorrede 2, KSA 5, S. 248).
Indem er sich auf diese „gemeinsame[] Wurzel“ beruft, plädiert Nietzsche nicht nur für die Kohärenz seines Denkens, sondern auch für seine philosophische Legitimität. Diese Meinung verstärkt er noch weiter, wenn er erklärt: So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgend worin e i n z e l n zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne. (GM Vorrede 2, KSA 5, S. 248 f.)
Diese Darstellung seiner Werke als einheitliches Ganzes passt auch gut zu seiner Muster-Auslegung in GM III, die sich auf solche Kohärenz verlässt und diese auch bestätigen will, indem sie sich regelmäßig auf Nietzsches andere Schriften bezieht. Auch wenn JGB eine Aphorismen-Sammlung ist, die einem Werk aus Nietzsches mittlerer Phase formal und strukturell ähnelt, ist der Text immerhin ein Werk aus der Schaffensperiode nach Za.
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4.1 Im Kontext Obwohl JGB nicht nur die Themen aus MA, sondern auch dessen Form und Struktur wiederaufgreift, sind die zwei Werke sehr unterschiedlich. Wenngleich die Gruppierung von Aphorismen in neun Hauptstücke in JGB den Lesern bekannt vorkommt, macht sich sofort ein oberflächlicher, aber vielsagender Unterschied bemerkbar. Im Vergleich zu fast allen Texten aus den aphoristischen Werken der mittleren Periode, von der „Chemie der Begriffe und Empfindungen“ (MA I 1) bis zu „Incipit tragoedia“ (FW 342), haben nur wenige Aphorismen in JGB (genau 10) eigene Titel. Dieser formale Unterschied verrät eine unterschwellige Disparität zwischen MA und JGB. Denn die Titel in jenem Werk isolieren die einzelnen Aphorismen und betonen ihre Unabhängigkeit vom umliegenden Text. Da die überwiegende Mehrheit der Aphorismen in JGB keine derartigen Titel hat, entsteht der umgekehrte Eindruck: diese Sammlung wirkt weniger unterbrochen. Es handelt sich hier angeblich nicht um Textsegmente, die für sich allein stehen, sondern um ein formal wie auch thematisch einheitlicheres Buch als sein Vorgänger. In MA verwendete Nietzsche die aphoristische Form, um dem übermäßigen Einfluss des systematischen Diskurses zu entgehen. Man könnte sagen, er äußerte seine Kritik großer Erzählungen nicht dadurch, dass er eine Gegenerzählung entwirft, sondern dadurch, dass er überhaupt nicht narrativ schreibt. Das ist weithin eine negative Geste, deren kritischer Wert in dem liegt, was sie nicht ausführt. Aber JGB hat eine mögliche positive Basis, die MA und den darauffolgenden Werken fehlte. Denn diese frühen Werke stammen aus der Zeit, bevor Nietzsche begann, mit den übergreifenden Gedanken der ewigen Wiederkehr, des Übermenschen und des Willens zur Macht zu experimentieren. Insofern als JGB und MA am gleichen kritischen Projekt teilhaben, sind sie Früchte desselben Baums, aber die aphoristische Form, die sie auch im Allgemeinen teilen, entzieht sich solchen gewichtigen Gedanken. Die Schwerkraft eines großen Gedankens wie dem des Willens zur Macht kann den Leser aber orientieren und der späteren Diskussion eine Richtung geben, dem die aphoristische Form traditionell widersteht. Auch wenn der Wille zur Macht nicht im Zentrum des Buches steht, leiht er der späteren Aphorismen-Sammlung eine gewisse Kohärenz, die dann in ihrer systematischeren und kontinuierlicheren ‚Ergänzung‘ GM noch weiter ausgeführt wird. Laut Werner Stegmaier orientiert man sich an Aphorismen in Nietzsches Philosophie „wie an Anhaltspunkten der alltäglichen Orientierung: sie stehen allein, aber man verlässt sich nicht allein auf sie, sie sind nie völlig verständlich“ (Stegmaier 2012, S. 12). Dafür gibt es auch den weiteren Kontext, den man selber definieren muss. Im Sentenzen-Buch Jgb aus dem Jahre 1882 sind die isolierten
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Aphorismen nur schwer im Zusammenhang zu lesen. Man sucht einen weiteren Kontext in der eigenen Erfahrung oder in der Biographie des Verfassers, auch wenn Nietzsche eine solche Lesart ausdrücklich ablehnt (vgl. VMS 129, ein Text, der natürlich auch zum Kontext gehört). Solche Aphorismen verkörpern genau die Spannung, die Gerhard Neumann beschreibt, zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem Sinnlichen und dem Abstrakten. Manche Texte wirken gleichzeitig vertraut und fremd, wie zum Beispiel der zuckersüße Satz: Seifenblasen und Schmetterlinge und was ihrer Art unter Menschen ist scheinen mir am meisten vom Glücke zu wissen: diese leichten, thörichten beweglichen zierlichen Seelchen flattern zu sehen — das rührt mich zu Thränen und Versen. (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 58 = Jgb 42).
Wird eine solche Äußerung direkt gelesen, erweckt sie den Eindruck schlechter Lyrik. Aus dem Munde des persischen Propheten aber klingt es nicht so schwerfällig wie bei dem literarisch geneigten Philosophen (vgl. Za I Lesen). Das gilt auch für den berüchtigten Satz „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“ (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 97 = Jgb 367; vgl. Za I Weiblein). Ohne den dialogischen Kontext von Za wirkt er viel heftiger, und man fragt sich, ob der Za-Kontext nötig ist, um den Text als Sentenz, d. h. in seiner ursprünglichen Form, zu verstehen. Einen gewissen Zusammenhang von JGB stiftet der ,Wille zur Macht‘. Vielleicht bringt der Begriff nicht alle Aspekte des Bandes zusammen, aber er stellt eine Perspektive bereit, aus der viele der Texte betrachtet werden können. Das lässt sich an der Übernahme einer Sentenz aus Jgb zeigen, die in einen Aphorismus von JGB integriert wird. Die meisten Texte aus dem früheren „SentenzenBuch“, die in JGB erscheinen, befinden sich im vierten Hauptstück „Sprüche und Zwischenspiele“, jedoch nicht die Folgende: „Philosophische Systeme sind die bescheidenste Form, in der Jemand von sich selber reden kann—eine undeutliche und stammelnde Form von Memoiren“ (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 62 = Jgb 79). Zu dieser Zeit hielt Nietzsche biographische Auslegungen noch für verdächtig. Die menschliche Quelle aufzusuchen, sei nichts als „Topfguckerei“ (VMS 129, KSA 2, S. 432), die aus der weisen Sentenz eine biographische Banalität mache. Diese Sentenz bietet aber keine biographische Erklärung des philosophischen Systematisierens an, sondern eine psychologische, oder besser gesagt, sie behauptet, solches Systematisieren sei psychologisch zu erklären, auch wenn sie dies nicht tut. Erst später in JGB nimmt Nietzsche diese Herausforderung an. JGB 6 beginnt mit „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6, KSA 5, S. 19). Hier wird die Rolle des Willens (‚ungewollt‘) gleich angesprochen, was in der früheren Fassung fehlt, denn diese
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beschäftigt sich mit eher traditionellen Themen der Gattung Sentenz: falscher Bescheidenheit und verborgenem Hochmut. In JGB tritt der Wille in einem längeren Aphorismus hervor, der mit dem Satz endet: an dem Philosophen [ist] ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, w e r e r i s t – das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind. (JGB 6, KSA 5, S. 20)
Dass die Macht eine Rolle in dieser Darstellung spielt, ist unbestreitbar, heißt es doch früher im selben Aphorismus: „Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als s o l c h e r versucht er zu philosophiren“ (JGB 6, KSA 5, S. 20). Auch könnte man sich an JGB 9 orientieren, wo Nietzsche die Folgen davon beschreibt, was geschieht, wenn eine Philosophie anfängt, an sich zu glauben: „Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille zur Macht“ (JGB 9, KSA 5, S. 22). Diese Schilderung kennt man schon aus Za, aber hier lässt sie sich leicht mit JGB 6 verbinden, das auf einem Text basiert, der aus der Zeit vor der Ausbildung des Willens zur Macht als Begriff stammt. Hier wird die Sentenz jedoch selber durch die Linse des Willens zur Macht neu gelesen und genau in diesem Licht wird ihre Lehre neukontextualisiert und neuinterpretiert. Auch wenn der Wille zur Macht nicht dazu dienen sollte, JGB in seiner Gesamtheit unter einen Gesamtbegriff zu bringen, verleiht er diesem Werk eine Kohäsion, die sich weder in Jgb, noch in den Werken der mittleren Periode finden lässt.
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Annamaria Lossi
Philosophie als Selbstgestaltung? Umwertung und Selbstverständnis im Ausgang von Nietzsches „von den Vorurtheilen der Philosophen“ in Jenseits von Gut und Böse1 La letteratura moderna, cioè degli ultimi centocinquanta anni, ha l’aria di una grande confessione. (Croce 1926, S. 129)
Die Frage nach den philosophischen Vorurteilen Die Lektüre eines Textes ruft ein auf den ersten Blick selbstverständliches Erlebnis hervor, nämlich die Präsenz des Autors im Text. Das geschieht auf verschiedene Weise durch die Figur des Sprechers oder Erzählers sowie durch Redeweisen, durch die ein Text sich dem Leser zuwendet. Die Frage nach dem Autor, der sich im Text zur Darstellung bringt, hängt mit der Natur des jeweiligen Textes zusammen: So ist etwa ein philosophischer Text ein zu interpretierender Text, in dem die Stimme des Philosophen bzw. des Autors unmittelbar zu erkennen ist. Ein solcher Text bringt zunächst ein von allem Persönlichen distanziertes, nach den Regeln der Logik aufgebautes philosophisches System zum Ausdruck, in dem der Autor den Leser ohne Unterbrechung wie ein Regisseur begleitet. Im ersten Hauptstück von JGB („von den Vorurtheilen der Philosophen“) thematisiert Nietzsche die Art und Weise, wie die Philosophen aus bestimmten Fundamenten heraus ihr Denken einrichten. Für einen Philosophen hält man für gewöhnlich jemanden, der auf dem Wege der Logik und ausschließlich durch intellektuelle Strategien geleitet zu seinen Aussagen über die ‚Wahrheit‘ gelangt. Könnte man aber nicht auch denjenigen einen Philosophen nennen, der sich durch die Art und Weise, wie er denkt und spricht, selbst auf der philosophischen Bühne darstellt? In seinem Werk des Jahres 1886 behauptet Nietzsche, die Philosophie lasse die Persönlichkeit eines Individuums erscheinen; zugleich stellt er die Fragwürdigkeit von Begriffen wie ‚Ich‘ bzw. ‚Subjekt‘ als einen „Aberglaube[n]“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11) der Moderne heraus. Diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Überlegungen werden in einem Text vor-
1 Ich bin Nikolaos Loukidelis für seine Fragen und Anregungen zu einer früheren Fassung des vorliegenden Beitrages sehr dankbar.
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genommen, der sich vornehmlich mit der Schilderung einer Philosophie des „Jenseits“ (Jenseits von Gut und Böse) befasst. Wie lassen sich diese verschiedenen Aspekte in Nietzsches eigenem Philosophieren zusammendenken? Die erste Kapitelüberschrift bzw. der Titel des ersten Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse lautet „von den Vorurtheilen der Philosophen“. Nietzsche setzt sich hier mit den tradierten Sinnhorizonten des Philosophierens auseinander, indem er zugleich sein eigenes Denken zur Darstellung bringt. Es scheint, dass Nietzsche damit – so meine hier zu entfaltende Grundthese – über die Kennzeichnung der Philosophie als Metaphysik hinaus eine Philosophie des Selbst etablieren wolle, die als Philosophie dieses Selbst seine Vorurteile zur Sprache bringt. Im Folgenden werde ich Nietzsches Begriff des ‚Vorurteils‘ erörtern, um von diesem aus das Verhältnis zwischen seiner Philosophie der ‚Umwertung‘ und seinem eigenen Selbstverständnis genauer umreißen zu können. Es gilt, Nietzsches Anschluss an das überlieferte Philosophieren in Kontrast zu seinem eigenen (späten) Denken zu entfalten, um auf diese Weise sichtbar zu machen, warum man Nietzsches Strategien in Jenseits von Gut und Böse auch als vorbildliche Selbstgestaltung seiner Spätphilosophie lesen kann. Im VI. Buch der Politeia wird bekanntlich die Frage gestellt, was den Philosophen vom Geometer unterscheidet. Das von Sokrates angeführte Argument lautet, der Unterschied bestehe darin, dass der Erstere nach den Voraussetzungen (hypotheseis) bzw. nach den Grundlagen jeder Wissenschaft im modernen Sinne frage, während der Letztere sie bloß für den Nutzen betreibe. Die Unselbstverständlichkeit bzw. die Auslotung der vermeintlichen Fundamente des Denkens ist für die Philosophie seit jeher konstitutiv. In Jenseits von Gut und Böse fragt Nietzsche dagegen nicht danach, welche Voraussetzungen die Philosophen ausloten sollten, um sich etwa von den Wissenschaftlern oder von den Künstlern zu unterscheiden. Er geht vielmehr von einem von ihm gesetzten Bild aus, wie üblicherweise philosophiert wird und hebt als Voraussetzungen dieses Philosophierens den „Wille[n] zur Wahrheit“ (JGB 1, KSA 5, S. 15) hervor. Es sind diese Worte, mit denen das Buch eröffnet: Das metaphysische bzw. sich diesseits von Gut und Böse befindende Denken ist nach Nietzsche maßgeblich durch das Vorurteil eines ‚Willens zur Wahrheit‘2 geprägt. Der Notwendigkeit des Vorurteils der ‚Wahrheit‘ für das metaphysische Denken setzt Nietzsche hier die ‚Unwahrheit‘ entgegen als dasjenige, das im Dienst des Lebens steht: „Die Unwahrheit als 2 Auf die Unentbehrlichkeit dieses Begriffs bei Nietzsche wird hier nicht näher eingegangen; zweifellos ist er jedoch für sein ganzes Denken maßgebend, wie Werner Stegmaier zu Recht festegestellt hat: „Die Leitlinien in Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff halten sich von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn bis zum späten Nachlaß im wesentlichen durch“ (Stegmaier 1985, S. 71).
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Lebensbedingung zugestehn“ (JGB 4, KSA 5, S. 18). Philosophische Vorurteile wie das Streben nach Wahrheit erweisen sich in Hinblick auf das Leben als das philosophisch Fragwürdigste überhaupt. Es lässt sich nun fragen, ob das schlussendliche Ziel eines Philosophierens ‚jenseits von Gut und Böse‘ darin liegt, die nun als das Fragwürdigste schlechthin erscheinende ‚Wahrheit‘ abzuschaffen bzw. ob es Nietzsches ‚Umwertung aller Werte‘ darum geht, zu zeigen, wie man ohne Vorurteile bzw. jenseits von Wertunterscheidungen überhaupt denken kann. Wäre das der Fall, so würde man auf ein Paradox stoßen: Die Umwertung aller Werte würde in ein Philosophieren münden, in dem kein Vorurteil mehr – als Wahrheit verstanden – einen Platz findet, um anschließend ‚wahrhaftig‘ verstehen und denken zu können. Es gibt jedoch Gründe dafür, an Nietzsches Frage nach den Vorurteilen im Anschluss an den Wahrheitsbegriff anders heranzugehen und das Verhältnis zwischen den Vorurteilen und der Wahrheit als Nietzsches eigensten philosophischen Ansatz aufzunehmen. Das alte Dilemma, ob Vorurteile um der Wahrheit willen abgeschafft oder aber beibehalten werden sollen, hat die Philosophiegeschichte seit jeher beschäftigt. Die philosophisch-hermeneutische Positivität des Vorurteils, wie Gadamer sie in seiner philosophischen Hermeneutik herausgestellt hat, wird von der Alltagssprache unmittelbar widerlegt3. Das Wort ‚Vorurteil‘ suggeriert zunächst ein übereiltes Urteil, also das überstürzte Ergebnis eines unvollständigen, mangelhaften und alles andere als begründeten Urteilsprozesses. Diese Auffassung lässt sich auf die Aufklärung und die in ihr vollzogene Entwertung des Vorurteils zurückführen. Danach stellt ein Vorurteil entweder eine Übereilung dar oder lediglich eine menschliche Ansicht, wie schon Thomasius in seinen Lectiones de praeiudiciis (1689–1690) und in der Einleitung der Vernunftlehre (Kap. 13, §§ 39– 40) unterschied. Thomasius’ Unterscheidung wird von Gadamer im Abschnitt „Die Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung“ in Wahrheit und Methode 1960 wieder aufgenommen, wenn er schreibt: Diese Einteilung [in Vorurteile des menschlichen Ansehens und der Übereilung – A.L.] hat ihren Grund in dem Ursprung der Vorurteile in Hinblick auf die Personen, die sie hegen […]. Wenn die oben zitierte Einteilung auch gewiss nicht auf die Rolle eingeschränkt ist, welche die Vorurteile beim Verstehen von Texten spielen, so findet sie doch im hermeneutischen Bereich ihre bevorzugte Anwendung. Denn die Kritik der Aufklärung richtet sich in erster Linie gegen die religiöse Überlieferung des Christentums, also die heilige Schrift. [Die Aufklärung] will die Überlieferung richtig, d. h. vorurteilslos und vernünftig verstehen. (Gadamer 1960, S. 276, Hervorhebungen v. A. L.)
3 Vgl. Gadamer 1960, S. 225 ff.
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Der Wahrheitsanspruch einer überlieferten Deutung ließe sich so mittels der Vernunft zurückweisen, in der die Vorurteile keinen Platz mehr haben. „Sapere aude!“ lautet Kants Formulierung, die wir in dem im Dezember-Heft 1784 der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz Beantwortung auf die Frage: Was ist Aufklärung? finden: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1784, S. 481). Dieser aus Horaz’ Epistolae stammende Aufruf verbindet sich mit einer von Kant negativ gezeichneten ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ des Menschen, seiner Unfähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, insofern die Überlieferung diesen Verstand unterdrücke. Die von Kant auf diese Weise geforderte Wiederaneignung der menschlichen Freiheit (als Freiheit zum und vom Räsonnement) kann als Überwindung der stets neu gebildeten Vorurteile verstanden werden, die „zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen“ (Kant 1784, S. 485).4 Im 20. Jahrhundert hat Gadamer den Versuch unternommen, mit dem Begriff der ‚hermeneutischen Interpretation‘ zu einer Balance zwischen der Überlieferung bzw. dem Vorurteil und der eigenständigen Interpretation bzw. der subjektiven Freiheit des Gedankens beizutragen. Indem er sich zunächst kritisch gegen das Wahrheitsprinzip Schleiermachers wendet, also gegen die Auffassung, das Vorurteil diene im Rahmen des Verhältnisses zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung als ein Mittel, das Vergangene gleichsam wieder aufleben zu lassen, versteht Gadamer die (im Sinne Schleiermachers) ‚wahre‘ Bedeutung in Bezug auf sein Urbild als Täuschung. Er zielt stattdessen auf eine Rekonstruktion der Vergangenheit im Sinne einer Integration von Vergangenem und Gegenwärtigem. Als Basis des geschichtlichen Charakters allen Verstehens erweist sich das Trugbild der Objektivität nämlich genauer betrachtet als eine als ‚wahrhaftig‘ aufgenommene Entsprechung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Vorverständnis, von dem Gadamer in Rückgriff auf Heideggers Phänomenologie spricht, enthält einen neuen Sinn dessen, was interpretiert werden soll. In dieser gedanklichen Konstellation spielt die Aufwertung des Vorurteils eine wichtige Rolle: Die Interpretation erweist sich näher besehen als die Überprüfung der Legitimität des eigenen Vorverständnisses bzw. des Vorurteils im positiven Sinne. Wie Gadamer hervorhebt, ist der Mensch als endliches Wesen stets zunächst in einem ‚Vorurteilshorizont‘ gefangen, und doch zugleich imstande, sich ein subjektiv vernünftiges Urteil zu bilden. Der Mensch gehört einer Überlieferung an und bewegt sich in einem kulturell geprägten Verständnishorizont, den er nicht
4 Deswegen hat Leo Strauss mit Recht bemerkt, das Vorurteil sei lediglich als „das eindeutige polemische Korrelat des allzu vieldeutigen Worts ‚Freiheit‘“ in der Aufklärungszeit zu verstehen (Strauss 1966, S. 114).
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eigens wählt, und der seine eigenen Deutungen beeinflusst. Das Vorurteil erscheint hier als etwas, dem man nicht zu entgehen vermag. Streng genommen, gehorchte daher die Auffassung der Aufklärung, selbst keinem Vorurteil mehr anzuhängen,5 dem eigenen Vorurteil einer vorurteilsfreien Vernunft.
Das Verhältnis von Unbewusstheit und Bewusstwerdung Im ersten Teil von Jenseits von Gut und Böse wird somit ein naheliegendes Leitmotiv wieder aufgenommen, jedoch eigens konturiert, insofern es bei Nietzsche nicht um eine wirkungsgeschichtliche Wiederaneignung des Vorurteils ‚Wahrheit‘ geht – weder als Vorbild einer neu zu entdeckenden Urwahrheit noch als ein der Überlieferung gegenüber angemesseneres Urteil. Es geht ihm vielmehr darum, zu zeigen, wie man ‚umwertend‘ – und das heißt immer auch ‚umdrehend‘6 – philosophieren kann. In der Geschichte der Philosophie erscheint die Wahrheit nach Nietzsche nicht als Ziel, sondern als ein das Philosophieren verdeckender Schleier. Die ‚objektive Wahrheit‘ als angebliches Endziel verdeckt das, was im Philosophieren auf ausgezeichnete Weise zum Tragen kommt: die Persönlichkeit ihres Urhebers. Diese Einsicht hat Folgen sowohl für Nietzsches Umwertung des Philosophierens als auch für sein eigenes Selbstverständnis. Er schreibt, dass „jede grosse Philosophie bisher […] das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires [war]“ (JGB 6 KSA 5, S. 19). Die von Nietzsche als subkutan wirkende Kraft des Vorurteils verstandene ‚Wahrheit‘ rückt die Philosophie in die Nähe eines Selbstbekenntnisses. Das Philosophieren wird als etwas verstanden, das zunächst einmal nicht von der Logik und einem einzigen ‚Trieb zur Erkenntnis‘ geleitet wird, sondern vom Kampf unterschiedlicher Triebe im Menschen. Hinter dem ‚Schleier der reinen Logik‘ und der unantastbaren Dialektik verbergen sich somit die grundlegenden Voraussetzungen einer philosophischen Position; und sie verlangen nach einer Psychologie ‚jenseits von Gut und Böse‘7, wie es im Schlussparagraphen des ersten Hauptstückes heißt (vgl. JGB 23, KSA 5, S. 38 f.). Diese neue Auffassung der Psychologie hängt mit Nietzsches Ziel der ‚Umwertung‘ zusammen: „Der n e u e Psychologe – heißt es im Paragraphen 12 – bereite ja „dem Aberglauben ein
5 Zu einer umfangreichen Erläuterung des Vorurteilsbegriffs in der Aufklärungszeit vgl. Godel 2007. 6 Zur Deutung der Umdrehung als Denkverfahren Nietzsches überhaupt siehe Lossi 2006. 7 Ausführlicher zum Begriff ‚Psychologie‘ bei Nietzsche im Anschluss an Platon: Lossi 2006, S. 64 ff.
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Ende“ (JGB 12, KSA 5, S. 27). Es geht jetzt um eine als logòs tés psychés verstandene Psychologie, da der Aberglaube, von dem bereits in der Vorrede die Rede war (vgl. JGB Vorrede, KSA 5, S. 11), zugleich den Vorurteilen über die Einheit von Seele, Ich und Subjekt entspricht, die als solche in Frage gestellt werden. Nietzsche stellt sich demnach als der erste Psychologe dar, der die Philosophie durch seine methodologische, die „moralischen Vorurtheile“ (JGB 23, KSA 5, S. 38) destruierende Genealogie auf eine paradigmatische Erneuerung zuführt. Als originelle philosophische Selbstverständigung stellt die Psychologie eine Art Übersetzung der ‚Umwertungs‘-Philosophie des späten Nietzsche dar. Nietzsche zufolge muss die angestrebte neue Haltung einer Philosophie, die sich ‚jenseits von Gut und Böse‘ bewegt, von einer Kritik am „Problem der Wahrhaftigkeit“ (JGB 5, KSA 5, S. 18), welches das oberste Ziel des herrschenden metaphysischen Denkens bildet, ihren Ausgang nehmen. Wenn die bisherige Philosophie einem „Grundglauben der Metaphysiker“ entsprang, nämlich dem „Glauben an die Gegensätze der Werthe“ (JGB 2, KSA 5, S. 16), soll die neue Haltung des Philosophen dazu führen, diese Dogmatisierung innerhalb des Denkens abzubauen. Das metaphysische Denken gründet auf reinen Gegensätzen, die in die Dinge hineingelegt werden. Aus diesem Grund sind Philosophen nach Nietzsche von Anfang an Dogmatiker gewesen (vgl. JGB Vorrede, KSA 5, S. 11): Sie seien diejenigen, die von der Gegensätzlichkeit der Dinge abhängig bleiben, während die bald heraufkommende „neue Gattung von Philosophen“ durch ein „gefährliche[s] Vielleicht in jedem Verstande“ (JGB 2, KSA 5, S. 17) gekennzeichnet sind. Die ‚Gefährlichkeit‘ weist auf die Unsicherheit eines jeden Urteils, denn die philosophischen Wahrheiten der Dogmatiker seien nichts Anderes als Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, […] vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen [sind], nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf (JGB 2, KSA 5, S. 16).
Oder, wie er später in dem zweiten, mit „der freie Geist“ überschriebenen Hauptstück schreibt, „Stufen der Scheinbarkeit […] gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins“ (JGB 34, KSA 5, S. 53 f.). Der Gegensatz zwischen Wahrheit und Irrtum ist das Produkt eines moralischen Urteils, welches den Irrtum zu etwas Bedenklichem erklärt. Bereits in einer Notiz des Jahres 1875 schrieb Nietzsche über das natürliche Verhältnis von Wahrheit und Irrtum:
Die Natur scheint es nicht darauf angelegt zu haben, uns überall sogleich zur Wahrheit zu führen; sie bedarf, scheint es, zeitweilig der Irrthümer. Daß Irren etwas Menschliches ist, genügt noch nicht um das Dasein zu verdächtigen. Erst wo der Irrthum moralisch wird, die Lebensauffassung vergiftet, wird er bedenklich (NL 1875, 9 [1], KSA 8, S. 132).
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Die in ein solches Urteil gehüllte Bewertung der Wahrheit verwehrt es demnach, einen philosophischen Text tatsächlich als das Ergebnis der „kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik“, die die „Selbstentwicklung“ eines Philosophen ausmache, zu betrachten (JGB 5, KSA 5, S. 19). Es handelt sich vielmehr um „ein[en] vorweggenommene[n] Satz, ein[en] Einfall, eine ‚Eingebung‘, zumeist ein[en] abstrakt gemachte[n] und durchgesiebte[n] Herzenswunsch“, der dann „von ihnen [den Philosophen – A.L.] mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt“ und „Wahrheit“ genannt wird (JGB 5, KSA 5, S. 19). Das zur Wahrheit verklärte Vorurteil wird zu einer festen, unberührbaren Gewohnheit des Denkens, die als solche unbeachtet im Philosophieren ihr Unwesen treibt. Im Unterschied zu Gadamers hermeneutischem Ansatz ist Nietzsches Vorurteilsverständnis kein philosophisch-praktisches, sondern ein physiologisch geprägtes, das heißt eines, das von den Trieben des Menschen hervorgebracht wird. Der Kampf der Triebe ist der erste, zentrale Aspekt, da er wesentlich im Spiel ist, wenn es um die Philosophie geht. Das physiologische Verständnis des philosophischen Urteils bedingt und umfasst sämtliche metaphysischen, moralischen oder ästhetischen Unterscheidungen. Zugleich erschließt die Frage nach einem unbewussten, in der Philosophie wirkenden Triebgeschehen die Frage nach dem Bewusstwerden des eigenen Vorverständnisses. Genauer betrachtet wendet sich Nietzsches Frage nach den Grundlagen des Philosophierens in Jenseits von Gut und Böse nicht nur kritisch gegen die metaphysische Wahrheit als einem unbewusst wirkenden Vorurteil, sondern weist den Prozess der Bewusstwerdung dieses Vorurteils als eine unabschließbare Aufgabe des Philosophierens aus. Dem Verhältnis zwischen Unbewusstheit und Bewusstwerdung entgeht auch Nietzsches Philosophieren nicht. Dieses Verhältnis hat Nietzsche später selbst in Bezug auf die Bewusstwerdung der Sprachlichkeit des Menschen im Aphorismus 354 des letzten Buches der Fröhlichen Wissenschaft8 erneut aufgegriffen und dort einen Trieb zum Bewusstwerden als den Grundtrieb zur Sprache dargestellt. Grob ausgedrückt lautet Nietzsches These wie folgt: Die Sprache bzw. Bewusstwerdung verhält sich zum Unbewussten umgekehrt proportional. „Das Bewusstsein“, schreibt Nietzsche in FW 354, hat „sich nur unter dem Druck des MittheilungsBedürfnisses entwickelt“ (FW 354, KSA 5, S. 591) – und wird langsam überflüssig. Nietzsches Ziel ist es, auf analytische Weise das menschliche, allzumenschliche Bedürfnis nach einer sprachlich vermittelten Wahrheit zu enthüllen: Danach besitze der Mensch in der Welt einen logischen bzw. nach den Regeln der Sprache artikulierbaren Erkenntnisgegenstand, eben weil er diese Welt so eingerichtet
8 Siehe dazu Stegmaier 2012, insbesondere S. 261–288.
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hat, dass sie ihm erlaubt, Dinge als Objekte in ihr zu entdecken. Die vernunftgeleitete und durch die Grammatik geprägte Sprache vergisst ihre ‚innere Motivation‘ und sinkt damit zur bloßen Mitteilung herab: wo das Bedürfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung da (FW 354, KSA 3, S. 591).
Indem Nietzsche die überlieferten Voraussetzungen eines philosophischen Diskurses, seine üblich gewordenen Ausgangspunkte und Strategien auf eine kritische Weise erneut reflektiert, wirft er zugleich einen erhellenden Blick auf ihre sprachliche Konstitution. Die Philosophie erscheint plötzlich als eine Gattung der Literatur, deren Grundcharakter darin besteht, auf eine objektive und unbestreitbare Logik und Dialektik Anspruch zu erheben, die im Grunde als von der Sprache verdeckte und solcherart ihren eigentlichen Ursprung verdunkelnde Orientierungspunkte erscheinen, tatsächlich aber aus dem unbewusst bleibenden Kampf der Triebe herrühren. Diese sprach-physiologische Perspektive wurde bereits in verschiedenen Beiträgen insbesondere anhand der verschiedenen Schreibformen von Nietzsche untersucht. In Jenseits von Gut und Böse ist dieser Ausgangspunkt von zentraler Bedeutung. Das Verhältnis von Autor und philosophischem Text wird im Zusammenhang einer Argumentation erhellt, die sich als ‚Psychologie‘ im Sinne eines Vorbildes einer Philosophie des ‚jenseits (von Gut und Böse)‘ versteht. Es geht um eine Psychologie, die „wieder der Weg zu den Grundproblemen“ (JGB 23, KSA 5, S. 38) werden soll. Eine solche philosophische Untersuchung ‚jenseits von Gut und Böse‘ gestaltet sich nun als psychologische Annährung an die dem Philosophieren zugrunde liegenden Motive. Aus der Kritik am Problem der Wahrheit heraus versteht Nietzsche seine Haltung gegenüber der Philosophie als ein kritisches Hinterfragen ihrer maßgeblichen Motive. Dabei erweist sich das Verhältnis zwischen einem Autor und seinem Denken als besonders aufschlussreich, da die Niederschrift eines philosophischen Textes zunächst von einem unbewussten Streben danach geleitet wird, eine Art Selbstbekenntnis abzulegen. Die Idee, nach der jedes Denken auf eine unbewusste Selbstbeschreibung hinausläuft, legt ja nahe, dass es ihm unbewusst zuletzt um eben diese Darstellung dieses Selbst geht. Wie Nietzsche ans Licht bringt, lässt die umwertende psychologische Praxis die Wahrheit zum einen in den Hintergrund treten und zum anderen das Subjektive als „Subjekt[]Vielheit“ (JGB 12, KSA 5, S. 27) und als Hauptfigur des philosophischen Diskurses in den Vordergrund rücken. Die Notwendigkeit philosophischer Selbstbeschreibung und die Umwertung der Wahrheit als Bedingung der Möglichkeit einer Philosophie ‚jenseits von Gut und Böse‘ sind im ersten Teil des Buches offen-
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sichtlich. Nietzsche transformiert hier das alte Philosophieren in eine Philosophie jenseits der überlieferten metaphysischen Schemata, um auf diese Weise den vorbildhaften Modus seines eigenen ‚Selbstphilosophierens‘ ans Licht zu bringen. Dieser physiologisch-theoretisch geprägte Versuch bleibt nicht auf das Werk aus dem Jahr 1886 beschränkt; er wird von da an immer wieder erneut unternommen. So kann man Ecce homo nicht zuletzt als Inszenierung einer philosophischen Haltung lesen, in der es überhaupt nicht mehr um Autobiographisches im engeren Sinne geht, sondern als einen Text deuten, in dem die ganze umwertende Parabel Nietzsches jäh und unerwartet zu einem Endpunkt gelangt. Dieses neue Modell philosophischer Schriftstellerei erweist sich dabei zunächst als in vielerlei Hinsicht selbstbezogen: Nietzsche bezieht sich hier auf das vergangene Philosophieren als Gegenstand der ‚Umwertung‘ sowie auf einen sich ‚jenseits von Gut und Böse‘ positionierenden psychologischen Ansatz. Er bezieht sich also auf sich selbst, jedoch nicht in der Weise einer philosophischen, die ‚Wahrheit‘ enthüllenden Weltanschauung in Form eines theoretischen Systems, sondern in der Weise einer sich inszenierenden philosophischen Selbstbezogenheit, die immer wieder neu in Frage gestellt werden kann und muss. Nun lässt sich auch sagen, dass Nietzsche das zuvor geschilderte Aufklärungsvorurteil aller Philosophen, dass nämlich die ‚Logik der Wahrheit‘ immer dort ansetze, wo kein Vorurteil mehr im Spiel sei, nicht nur konterkariert. Er zeigt auf, dass und wie die Wahrheit weniger als ein Ziel des Denkens fungiert, als dass sie im Sinne einer unbewussten Selbstinszenierung wirkt und als solche immer wieder verlangt, die eigene philosophische Bewusstwerdung in Frage zu stellen. Im sechsten Aphorismus aus „von den Vorurtheilen der Philosophen“ kündigt Nietzsche an, wie er die Philosophie nun versteht: Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires (JGB 6, KSA 5, S. 19).
Der Gedanke, dass die Philosophie das Bekenntnis eines Selbst sei und sich zugleich als Resultat eines Kampfes von Trieben erweist, gibt dem eigenen Selbstverständnis eine Färbung der Unsicherheit. Das philosophische Bekenntnis geschieht hier auf eine besondere Art, insofern dieses Selbst von sich selbst schreibt, ohne sich bewusst zu sein. Mehr als beim Selbst bzw. bei einem Ich, das seine eigenen Erlebnisse erzählend ins Spiel bringt, geht es beim Philosophieren um tief verborgene Triebe, die zum Schreiben führen, das heißt, die zum bewussten Denken und zum philosophischen Ich hindrängen. Das bewusste Denken wird in die Urtriebe des Menschen hineingenommen, es stellt keinen Gegensatz
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zum Unbewussten9 dar, sondern gehört zu den Instinkten des philosophierenden Menschen. Im dritten Aphorismus schreibt Nietzsche über das bewusste Denken: Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens (JGB 3, KSA 5, S. 17).
Das Bewusstsein lässt sich noch unter die instinktiven Reaktionen eines Menschen rechnen, so dass die Wahrheit zum einen als Wert für das Leben und die Triebe zum anderen als der Boden aller anfänglichen Wertschätzungen erscheinen. Im Anschluss an die Frage nach einer bewussten, jedoch aufgrund der Triebe unbewusst durchgeführten Selbstgestaltung in der Philosophie verknüpft Nietzsche das enge Verhältnis von Philosophie und moralischen Absichten mit den Grundtrieben zum Philosophieren. Das schließt an frühere Überlegungen Nietzsches an, wie eine Notiz vom Sommer 1875 zeigt: Jeder Trieb ist ein Bedürfniß und enthält bereits die Vorstellung von der Existenz eines Gegenstandes der Befriedigung; so ist der Trieb ideenbildend (NL 1875, 9 [1], KSA 8, S. 132).
Die Triebe stellen sich in ihrer eigenen Natur als philosophierende Instanzen dar, insofern sie das Dasein einer Idee gewissermaßen schon voraussetzen. Das Streben nach der eigenen Selbstbehauptung, die bei dem Kampf der Triebe als deren Grundzug zum Vorschein kommt, setzt das eigene Selbst schon voraus: Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht […] wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, — und dass jeder Einzelne von ihnen gerade s i c h gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten H e r r n aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als s o l c h e r versucht er zu philosophiren (JGB 6, KSA 5, S. 19).
Philosophieren heißt, Herr über etwas zu werden; es sei „dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ‚Schaffung der Welt‘“, der „alles Dasein nur nach [dem] eignen Bilde dasein machen“ möchte, wie Nietzsche im Anschluss an die Kritik der stoischen Philosophie schreibt (JGB 9, KSA 5, S. 21). Genauer besehen geht es im ganzen ersten Hauptstück um eine Kritik der scheinbar
9 Zu einer umfangreichen Darstellung von Nietzsches Philosophie des Unbewussten siehe die Beiträge in: Georg/Zittel 2012.
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gleichgültigen ‚Logik‘ philosophischer Vernunft, die ihren Ausgangspunkt tatsächlich aus den einer Wertschätzung entsprungenen Gegensätzen gewinnt. Statt als eine objektive, nach reiner Wahrheit und Erkenntnis strebende Tätigkeit, die selbst als untergründig wirkendes Vorurteil verstanden wird, bringt Nietzsche das Philosophieren als das Produkt eines bewussten, und darin reflektierenden, moralischen Selbst aufgrund der natürlichen Rangordnung seiner Triebe zum Vorschein, wenn er schreibt: [A]n dem Philosophen [ist] ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugnis dafür ab, w e r e r i s t — das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind (JGB 6, KSA 5, S. 20).
Das Philosophieren erweist sich als eine sich ergebende bewusste Tätigkeit, in der erst die Rangordnung der Triebe das Verhältnis zu Wahrheit und Erkenntnis bestimmt. Es scheint, als würde sich die Philosophie als eine unwillkürliche Selbstdarstellung herausstellen, in der sich jeder Trieb nicht als Werkzeug zur Erkenntnis, sondern als ‚letzter Zweck des Daseins‘ versteht. Demnach lässt sich der Trieb zum Philosophieren als ein ungewollter und unmerklicher Wille auffassen, sich zu gestalten. In JGB 6 macht Nietzsche nicht nur darauf aufmerksam, dass Triebe und Philosophie eng miteinander verbunden sind, sondern auch darauf, dass ein philosophisches System aus Form und Inhalt insofern besteht, als hier ein ‚subjektives‘ Triebssystem am Werke ist. Vermag die Philosophie als ein so verstandenes Konstrukt das Ich als solches überhaupt noch zum Ausdruck zu bringen? Kann, anders gesagt, dieses Selbst als sprachlicher Ausdruck der unbewussten Triebe sich dessen bewusst werden, was es in Wahrheit ist?
Philosophie als (unbewusste) Selbstgestaltung Die Verteidigung eines Gedankens bzw. seine sprach-logische Rekonstruktion, geschieht demnach stets a posteriori, das heißt, die logischen Gründe kommen erst dann zum Zuge, wenn die Lebenstriebe ihre Rangordnung bereits festgestellt haben und sich ein Trieb gegen den anderen durchgesetzt hat. Der Wille zur Logik bzw. zur Sprache erweist sich als eine nachträgliche Maske, die sich die Philosophie als Resultat des Kampfes der Triebe überzieht. Deswegen kann Nietzsche feststellen, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ (JGB 6, KSA 5, S. 19) nicht der Vater der Philosophie sein könne. Die Erkenntnis sei ja „wesentlich Schein“ (NL 1880, 6 [441], KSA 9, S. 312), wie es bereits aus einer Notiz aus dem Jahr 1880 zu
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entnehmen ist.10 Wenn die Philosophie weniger von einem Trieb zur Erkenntnis als vielmehr von einem Trieb zum Selbstbekenntnis herrühre, wie Nietzsche in JGB 6 unmissverständlich festhält, ist die Philosophie nichts anderes als „eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6, KSA 5, S. 19). Diese Engführung macht zunächst zwei Grundaspekte geltend: Zum einen scheint diese Auffassung das Streben nach der und die Mühe um die sich aus einem bewussten Gedankengang herausstellende philosophische Wahrheit zu negieren. Das sich philosophisch durchsetzende Denken um der Wahrheit willen stellt sich als Täuschung dar, vor allem, weil es nicht von einem Ich bewusst gesteuert, sondern unbemerkt vollzogen wird. Wenn der Philosoph nicht mehr für den Autor seines eigenen Textes gehalten wird, erscheint seine Philosophie als eine stets vom Licht der Selbstdarstellung überstrahlte ‚Textur‘, als deren Ursprung das Unbewusste zur einzig wirkenden Leitkraft des Philosophierens avanciert. Der Philosoph lässt sich zwar in seinen eigenen Texten erkennen, nicht aber deswegen, weil er sie geschrieben hat, sondern weil er in diesen Texten zum ersten Mal wird, was er ist. Zum anderen bringt die Philosophie als Selbstbekenntnis eine Selbstbezüglichkeit ins Spiel, die zwar zu keiner freien Selbstdarstellung zu gelangen scheint, da das Selbstbekenntnis trotz seines Urhebers bloß als Text existiert. Es setzt jedoch durch diesen Text dessen Autor einer sich stets neu zu befragenden Selbstverständigung bzw. seiner unablässigen Interpretation durch die Anderen bzw. seine Leser aus. Das zieht die Frage nach sich: Wie versteht sich ein Autor selbst durch seine eigene Schriften? Wie sehr bleiben Texte den eigenen Absichten treu? Diese Überlegungen schließen unmittelbar an die Frage nach dem Verhältnis zwischen Selbst, Schriftlichkeit und Philosophie an, worauf auch die abschließende Argumentation Nietzsches in Jenseits von Gut und Böse hinzuweisen scheint. Um diese Frage genauer zu fassen, soll kurz das Verhältnis zwischen Ich
10 Dort heißt es auch: „Was ist also Erkenntniß? Ihre Voraussetzung ist eine irrthümliche Beschränkung, als ob es eine Maaßeinheit der Empfindung gebe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntniß auch weggedacht — ein Auffassen von ‚absoluten Relationen‘ ist Unsinn. Der Irrthum ist also die Basis der Erkenntniß, der Schein. Nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins“ (NL 1880, 6 [441], KSA 9, S. 311). Dabei nimmt Nietzsche die Sprache nicht aus, indem er sagt: „— Ebenso ist die Sprache eine angebliche und geglaubte Basis von Wahrheiten: der Mensch und das Thier bauen zunächst eine neue Welt von Irrthümern auf und verfeinern diese Irrthümer immer mehr, so daß zahllose Widersprüche entdeckt werden und dadurch die Menge der möglichen Irrthümer verringert wird, oder der Irrthum weiter getrieben wird. ‚Wahrheit‘ giebt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet z. B. Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder — das ist die Art menschlicher Wahrheit“ (NL 1880, 6 [441], KSA 9, S. 312).
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und Sprache aufgegriffen werden. Die Wertschätzung der Wahrheit bestimmt erst nachträglich die Einordnung der philosophischen Gedanken. Sie bringt die Genese eines philosophischen Textes als etwas zum Vorschein, das durch die Sprache zwar einen Moment, ein Gefühl, einen Gedanken zur Mitteilung bringt, aber auch ein für einmal allemal fixiert. Die sprachliche Festschreibung wird zwar von der „Forderung [nach] einer adäquaten Ausdrucksweise“ (NL 1888, 14[122], KSA 13, S. 303) geführt; dennoch scheint die Sprache nach Nietzsche den Weg zu einer solchen Suche unvermeidlich zu versperren. Wie er in einer späteren Notiz aus dem Jahr 1888 festhält: Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken… (NL 1888, 14[122], KSA 13, S. 303)
Das Verhältnis zwischen den Sachen, deren „Relation“, mitteilen zu können – darin lässt sich das Wesen der Sprache im Sinne eines horizontalen Bezuges fassen.11 Sobald etwas sprachlich gefasst ist, ist die Brücke zur Wirklichkeit abgebrochen. Es gibt nunmehr etwas wie ein sprachliches Wesen der Dinge, oder anders gesagt: die Dinge werden unvermeidlich durch die Lupe der jeweiligen Wertschätzungen beleuchtet. Aber auf diese Weise bleiben die Dinge allein auf einer sprachlichen Ebene zugänglich. Werden die Gedanken schriftlich auf einer Buchseite fixiert, setzen sie sich nicht nur von ihrer Wirklichkeit ab, sondern befreien sich auch von ihrem Autor. Die Werke als Sammlungen von Gedanken stehen gegen den Autor auf und werden schon bald zu Kulturgütern eines Zeitalters. Es scheint, dass Nietzsche das Auseinandertreten von Autor und Werk in diesem Sinne versteht und auch befürchtet. Er gibt in Ecce homo z. B. zu: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften“ (EH Bücher 1, KSA 6, S. 298). Aber das, was mit diesem „ich“ gemeint wird, bleibt fragwürdig, da das Verhältnis zwischen einem schreibenden Ich, das sich zu seinen Werken verhält, und diesen Letzteren, ein Ich voraussetzt, das sich auch über seine Werke hinaus selbst versteht. Bereits in der „Vorrede“ zu Jenseits von Gut und Böse sprach Nietzsche die Mahnung aus, dass der Glaube an ein „Subjekt“ und „Ich“ „Aberglaube“ sei, der „auch heute noch nicht aufgehört [habe], Unfug zu stiften“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11). Die Frage nach einem unverfälschten bzw. vorurteilslosen Ich liegt jedoch bereits in der Sprache begründet und wird durch deren konstitutiven Charakter versperrt. In den zum ersten Hauptstück gehörenden Aphorismen 16 bis 23 hat Nietzsche eine kritische Erläuterung der Vorurteile der Philosophen
11 Zur relationalen Sprachauffassung in ihrem Verhältnis zu Nietzsches Verständnis der Metapher siehe Zittel 2000.
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vorgelegt, nicht zuletzt um das Verhältnis zwischen Sprache und Philosophie zu beleuchten: Danach scheint die Philosophie den Regeln der Sprache notwendig unterworfen zu sein. Bereits das stellt einen Grund dar, weswegen Texte zum einen einen Weg zum Ich des Autors darzustellen und ihm einen solchen zum anderen ein für alle Mal zu versperren scheinen. Nietzsche spricht von den „Familien-Ähnlichkeiten“ der verschiedenen Philosophien aufgrund der der Philosophie selbst zugrunde liegenden Sprachverfasstheit: Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik — ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen — von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint (JGB 20, KSA 5, S. 34 f.).
In diesem Sinne sind „harmlose Beobachter“ diejenigen, die „glauben, dass es ‚unmittelbare Gewissheiten‘ gebe, zum Beispiel die Gewissheit ‚ich denke‘“ (JGB 16, KSA 5, S. 29). Dieser Glaube an das Ich gehört den Dogmatisierungen des philosophischen Denkens an, ist aber lediglich auf die „Verführung der Worte“ zurückzuführen (JGB 16, KSA 5, S. 30): wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz „ich denke“ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, — zum Beispiel, dass i c h es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein „Ich“ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, — dass ich w e i s s , was Denken ist […] (JGB 16, KSA 5, S. 30).12
12 Zu Nietzsches eigenem Umdrehungsverfahren auch in Hinsicht auf das Verhältnis von ‚Cogito‘ und ‚Sein‘ lässt sich auf eine Notiz aus dem Jahr 1881 hinweisen, deren Titel „Grundgewißheit“ lautet, wo es heißt: „‚Ich stelle vor, also giebt es ein Sein‘ cogito, ergo est. – Daß ich dieses Vorstellende Sein bin, daß Vorstellen eine Thätigkeit des Ich ist, ist nicht mehr gewiß: ebenso wenig alles was ich vorstelle. – Das einzige Sein, welches wir kennen, ist das vorstellende Sein. Wenn wir es richtig beschreiben, so müssen die Prädikate des Seienden überhaupt darin sein. (Indem wir aber das Vorstellen selber als Objekt des Vorstellens nehmen, wird es da nicht durch die Gesetze des Vorstellens getränkt, gefälscht, unsicher? –) Dem Vorstellen ist der Wechsel zu eigen, nicht die Bewegung: wohl Vergehen und Entstehen, und im Vorstellen selber fehlt alles Beharrende; dagegen stellt es zwei Beharrende hin, es glaubt an das Beharren 1) eines Ich 2) eines Inhaltes: dieser Glaube an das Beharrende der Substanz d. h. an das Gleich bleiben Desselben mit sich ist ein Gegensatz gegen den Vorgang der Vorstellung selber. (Selbst wenn ich, wie hier ganz allgemein vom Vorstellen rede, so mache ich ein beharrendes Ding daraus) An sich klar ist aber, daß Vorstellen nichts Ruhendes ist, nichts Sich selber Gleiches Unwandelbares: das Sein also,
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Die zunächst gegen Kant und Descartes gerichtete Kritik wird dann im Aphorismus 17 anhand des „Aberglauben[s] der Logiker“ (JGB 17, KSA 5, S. 30) noch tiefgehender erörtert. Dass das ‚ich denke‘ eine unmittelbare Gewissheit für die Philosophen ist, entspringt danach der Überzeugung der Logiker, dass ein Gedanke nicht kommt, wenn ‚er‘ will, sondern wenn ‚ich‘ will; so dass die Logiker verfälschend sagen13: das Subjekt „ich,“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt: aber dass dies „es“ gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine „unmittelbare Gewissheit“ (JGB 17, KSA 5, S. 30).
Die Weltanschauung einer Philosophie und tiefgehender eines Ich liegen grundsätzlich in der Sprache begründet. Der sprachliche Ausdruck eines Ich bringt das ‚Ich‘ philosophisch zur Geltung, aber nur als ein solches, das sich in der Sprache als solches ausdrücken und eine Form geben lässt. Die Philosophie als ungewolltes Selbstbekenntnis ihres Urhebers macht die echte Natur dieses philosophischen Selbst als ein zunächst sprachlich aufgefasstes Ich deutlich, das sich in einem Text dann nachträglich als Ich ausdrückt. Möglicherweise aus diesem Grund schreibt Nietzsche im abschließenden Aphorismus von „was ist vornehm“? über die Nachträglichkeit aller schriftlichen Gedanken und setzt sie in Verbindung zu ihrem Autor14: Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen machtet — und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden: so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so langweilig! Und war es jemals
welches uns einzig verbürgt ist, ist wechselnd, nicht-mit-sich identisch, hat Beziehungen (Bedingtes, das Denken muß einen Inhalt haben, um Denken zu sein). – Dies ist die Grundgewißheit vom Sein. Nun behauptet das Vorstellen gerade das Gegentheil vom Sein! Aber es braucht deshalb nicht wahr zu sein! Sondern vielleicht ist dies Behaupten des Gegentheils eben nur eine Existenzbedingung dieser Art von Sein, der vorstellenden Art! Das heißt: es wäre das Denken unmöglich, wenn es nicht von Grund aus das Wesen des esse verkennte: es muß die Substanz und das Gleiche behaupten, weil ein Erkennen des völlig Fließenden unmöglich ist, es muß Eigenschaften dem Sein andichten, um selber zu existiren. Es braucht kein Subjekt und kein Objekt zu geben, damit das Vorstellen möglich ist, wohl aber muß das Vorstellen an Beide glauben. – Kurz: was das Denken als das Wirkliche faßt, fassen muß, kann der Gegensatz des Seienden sein!“ (NL 1881, 11 [330], KSA 9, S. 569 f.). 13 Über den Aphorismus 17 von JGB hat Nikolaos Loukidelis einen überzeugenden Kommentar geschrieben. Ich bedanke mich bei dem Verfasser, dass er mir die bislang unveröffentlichte Dissertation (vgl. Loukidelis 2013) zur Verfügung gestellt hat. 14 Siehe dazu den Beitrag von Christian Benne in diesem Band.
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anders? Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben l a s s e n , was vermögen wir denn allein abzumalen? […] Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer N a c h m i t t a g ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: — aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten — — schlimmen Gedanken! (JGB 296, KSA 5, S. 239)
Und das gilt zumal für den Autor einer Philosophie jenseits von Gut und Böse.
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Lesen und Erraten: Philosophie als „Selbstbekenntnis ihres Urhebers“ Die mythische Form der Platonischen Dialoge macht das Anziehende dieser Schriften aus, aber es ist eine Quelle von Mißverständnissen; […] Die mythische Darstellung, als älter, ist Darstellung, wo der Gedanke noch nicht frei ist: sie ist Verunreinigung des Gedankens durch sinnliche Gestalt; diese kann nicht ausdrücken, was der Gedanke will. […] So z. B. bedient sich Platon in seinem Timaios, indem er von der Erschaffung der Welt spricht, der Form, Gott habe die Welt gebildet, und die Dämonen hätten dabei gewisse Beschäftigungen gehabt; es ist ganz in der Weise der Vorstellung gesprochen. Wird dies aber für ein philosophisches Dogma Platons genommen, daß Gott die Welt geschaffen, daß Daimonien, höhere Wesen geistiger Art, existieren und bei der Welterschaffung Gottes hilfreiche Hand geleistet haben, so steht dies zwar wörtlich in Platon, und doch ist es nicht zu seiner Philosophie gehörig. […] So kann man Platonische Philosophie in dieser Art aufstellen, man ist durch Platons Worte berechtigt; weiß man aber, was das Philosophische ist, so kümmert man sich um solche Ausdrücke nicht und weiß, was Platon wollte (Hegel 1833, S. 188–190).
Im Vergleich zu dem selbstsicheren und wahrheitsgewissen Umgang Hegels mit der stilistischen Form und dem in Teilen mythischen Inhalt der Schriften Platons hat der Optimismus stark nachgelassen. Wer beansprucht schon heute noch für sich, zu wissen, was das Philosophische ist und was demnach ein Philosoph wie Platon wollte, auch wenn in seinen Texten etwas anderes steht? Insofern scheint sich auch hier zu bestätigen, was Herbert Schnädelbach einmal sehr allgemein über Hegel gesagt hat, dass an ihm „nur zu lernen ist, wie es nicht geht“ (Schnädelbach 1999, S. 76). Wenn man sich aber nicht mehr im Stile Hegels einem komplexen und auch literarisch anspruchsvollen Denker wie Platon – oder wie Nietzsche – zuwenden kann, wie dann? Diese Frage wird mich im Folgenden beschäftigen, indem ich zunächst den Blick auf zwei Strömungen der jüngeren Nietzsche-Rezeption richte, die ich als philosophisch-rekonstruktiv (1) bzw. kontextuell-philologisch (2) charakterisieren möchte. Beide Strömungen haben ihren Nutzen und ihre Nachteile, beide finden sich in Nietzsche. Die Spannung zwischen Nietzsches Erwartungen an gründliche Leser und seinen eigenen, oft sehr selektiven, Lektürepraktiken wird in Nietzsches Text selbst reflektiert. Wie ich anhand einer detaillierten Deutung von JGB 6 zeigen möchte, entwickelt Nietzsche eine weitere und durchaus komplexe Heuristik, die man als psychologischentlarvend bezeichnen kann (3). Davon ausgehend argumentiere ich für eine produktive Gleichzeitigkeit von Lesen und Erraten, wie sie auch Nietzsches Rezeptionsweise z. B. Hegels zugrunde liegt (4). Zunächst ist es jedoch zur Annäherung an die problematischen Texturen Nietzsches hilfreich, die Implikationen
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der oben zitierten Bemerkungen Hegels genauer anzusehen und drei zentrale Komponenten dieses Philosophieverständnisses herauszuarbeiten, da sie alle eine umstrittene Anwendung auf Nietzsche gefunden haben: Erstens ist bei philosophischen Texten Form und Inhalt strikt zu unterscheiden: Philosophie gilt als in Worte gekleideter Inhalt, der sprachliche Ausdruck ist nur eine unvollkommene Darstellung des Gedankens. Bilder, Allegorien, Metaphern und dergleichen stellen eine „Verunreinigung des Gedankens durch sinnliche Gestalt“ dar und sollten dort, wo der Gedanke frei ist, vermieden werden. Somit hat Philosophie nicht erst in der analytischen Philosophie einen propositionalen, strikt auf ihren rationalen semantischen Inhalt bezogenen Charakter. Sie ist wesentlich schmucklos, nüchtern, ohne Emotionen. Versteht man Philosophie als eine Ordnung von klaren Aussagen, die nicht durch Rhetorik und Geschmacksurteile verunreinigt sind, so ergibt sich daraus eine deutliche Forderung an philosophische Schriftsteller: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“ (Wittgenstein 1984 [1921], S. 7). Auch wenn dieses Diktum selbst dem späteren Wittgenstein kaum mehr als realistische Forderung erschien, hat sich doch der Anspruch auf distinktes und luzides Philosophieren zumindest als Ideal der Klarheit weitgehend erhalten. Aus der strikten Trennung von Form und Inhalt ergibt sich zweitens, dass der Leser nicht nur das Recht, sondern gegebenenfalls sogar die Aufgabe hat, den Text von Verunreinigungen zu säubern und so den Kern des philosophischen Arguments herauszuarbeiten. Um zu erkennen, dass dieses oder jenes zwar wörtlich im Text steht, aber dennoch nicht zu seiner Philosophie gehörig ist, muss man allerdings – wie Hegel sich sehr im Klaren war – wissen, „was das Philosophische ist“ und „was Platon wollte“. Beabsichtigt man also, einen philosophischen Text nicht einfach so zu nehmen, wie er in seiner gegebenen Form vorliegt, sondern will seinen tieferen, vielleicht verborgenen Inhalt herausarbeiten, so rekurriert man damit auf einen irgendwie gearteten privilegierten Zugriff auf diesen Text. Diese Privilegierung des Rezipienten gegenüber dem Autor ist die vielleicht wichtigste Komponente der Leseweise Hegels: Eine solche philosophische Lektüre sieht sich nicht nur vor die Aufgabe gestellt, die Wahrheiten der Tradition zu bergen, sondern auch Ungereimtheiten, Fehler und Unglaubwürdiges zu erkennen und zu bereinigen. Drittens impliziert diese Aufgabenstellung eine Reihe von Instrumenten zur Bereinigung von Verunreinigungen. Ein probates Mittel zu diesem Zweck ist der Rekurs hinter den Text auf den Autor und seine Biographie. Ernst Bloch erzählt eine Anekdote über Hegel, die diesen Umstand gelungen veranschaulicht: „‚Was in meinen Büchern von mir ist‘, sagte Hegel […] zu einer Tischdame, die ihn wie einen Tenor anstaunte und erhoben war, neben solch interessanter Figur zu
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sitzen, ‚was in meinen Büchern von mir ist, ist falsch‘“ (Bloch 1962, S. 38). In einer so verstandenen Philosophie spielt die Person des Autors gerade so wie seine Lebensumstände, seine Gesundheiten und Krankheiten, seine Liebschaften und Leidenschaften, seine privaten und politischen Kämpfe nur eine einzige, obgleich wichtige Rolle: Der Mensch wird herangezogen, um zu erklären, warum in den Büchern eines großen Philosophen auch allzumenschlicher Unfug stehen kann. Die philosophischen Wahrheiten hingegen – und seien sie auch allegorisch, pädagogisch oder ironisch verborgen – gelten unabhängig davon und lösen sich von diesen Beschränktheiten. Indem Hegel Form und Inhalt trennt, ein Ideal der Klarheit anlegt, seine eigene Interpretationsperspektive als überlegen begreift und so das Vernünftige und Brauchbare vom Irrationalen und Falschen trennt, vollzieht er eine denkende Aneignung der Texte Platons. Man kann sein Vorgehen als philosophisch-rekonstruktive Lesart bezeichnen: Ein kompetenter Leser rekonstruiert den sachlichen Gehalt der tradierten Texte, er arbeitet dasjenige heraus, was an dem überlieferten Material noch Relevanz und Bedeutung hat.
1 Philosophisch-rekonstruktive Lesarten Wer mit den zahlreichen Interpretationen der Philosophie Nietzsches einigermaßen vertraut ist, wird nicht wenige Bücher erinnern, die im wesentlichen Nietzsche auf eine Weise lesen, wie Hegel Platon las. Dies zeigt sich oft schon daran, wie schwer sich viele Leser mit der Poesie und den literarischen Kompositionen der Texte Nietzsches tun. So bezeichnen beispielsweise Acampora und AnsellPearson in ihrem JGB-Kommentar zwar das vierte Hauptstück als „‚heart‘ of the book“ (Acampora/Ansell-Pearson 2011, S. 16), aber dessen ungeachtet ist das entsprechende Kapitel zu den Sprüchen und Zwischenspielen ihr kürzestes.1 Ähnlich wie Hegel scheinen auch sie davon auszugehen, dass die stilistischen Extravaganzen Nietzsches zwar ,das Anziehende dieser Schriften‘ ausmachen, sich aber zugleich einer philosophischen Analyse widersetzen. Deutlicher erweist sich der philosophisch-rekonstruierende Zugang allerdings in der mehr oder minder entschiedenen und selektiven Aneignung als relevant erachteter inhaltlicher Teile des überlieferten Oeuvres. Wir wissen nicht, wie Hegel Nietzsche gelesen hätte, aber an Autoren, die dem biographischen und zeitgeschichtlichen Kontext wenig 1 Auch in anderen Monographien zu JGB wie etwa bei Burnham 2007, Lampert 2001 oder van Tongeren 1989 wird das vierte Hauptstück recht stiefmütterlich behandelt. Erst Marcus Born stellt sich der Herausforderung, die Sprüche und Zwischenspiele ausführlicher zu erörtern (vgl. Born 2013).
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Relevanz beimessen, hat es ebenso wenig gefehlt wie an Versuchen, seine literarische und lyrische Sprachgewalt in eine nüchterne Sprache solider Argumente zu übersetzen. Vom George-Kreis bis zu Lukacs und Bäumler hatten alle ‚ihren‘ Nietzsche. Das stärkste Stück ‚Nietzsche-Rekonstruktion‘ ist allerdings immer noch das sogenannte Hauptwerk Der Wille zur Macht. Man kann jedoch auch an Lesarten denken, deren Produktivität für die Nietzsche-Forschung kaum in Abrede gestellt werden kann, wie etwa an Foucault oder Deleuze, oder an Heidegger, der gleichfalls selbstsicher besser wusste, was Nietzsche wollte und was zu seiner Philosophie gehört. Aber ein großer Gegenspieler Heideggers kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, man werde „gerade wenn man Nietzsche als Philosophen ernst nehmen will, ‚konstruieren‘ müssen, dies freilich mit Behutsamkeit und in strenger Orientierung an dem, was er aufzeichnet“ (Müller-Lauter 1978, S. 234). Insbesondere bei neueren englischsprachigen Arbeiten lassen sich praktische Parallelen zu dem oftmals als Ausbund kontinentaler Sprachverwirrung geschmähten Hegel ausmachen. Sehr deutlich wird diese Form der Aneignung zum Beispiel in Nietzsches Task – An Interpretation of „Beyond Good and Evil“, wenn Nietzsches Denken in vielen Hinsichten als politische Theologie im Stile von Leo Strauss erscheint (vgl. Lampert 2001). Grund für das breite Spektrum unterschiedlicher Vereinnahmungen ist nicht allein die theoretische Ambition der jeweiligen Autoren, sondern auch die Widerspenstigkeit der Texte Nietzsches. So bekennt etwa Richard Schacht, „making sense of Nietzsche is something I have been attempting to do ever since I first became aware of him […] I am still at it today because I continue to find it challenging and rewarding and because it still needs doing“ (Schacht 1995, S. XI). Dass es noch immer notwendig ist, Nietzsche überhaupt erst sinnvoll zu machen, liegt an seinen exkludierenden und maskierten Schreibpraktiken und an der spezifischen Textur seiner Gedanken: „The difficulty is not (as in the case of Kant, or Hegel, or Heidegger) that he is so hard to read. On the contrary: unlike them he reads easily. But that only makes it all too easy to read him superficially“ (Schacht 1995, S. XI). Eine naheliegende Möglichkeit des ‚making sense of Nietzsche‘ besteht darin, seine Schriften so zu lesen, als seien sie sinnvoll. Diese Herangehensweise zeigt sich explizit bei Maudemarie Clark. Sie wendet ein ‚principle of charity‘ in ihrer Deutung an, welches vor allem darauf abzielt, Nietzsche vor naheliegenden Einwänden zu schützen: „as far as Nietzsche’s texts allow, I avoid attributing to him positions against which there are obvious objections“ (Clark 1990, S. IX). Von einer solchen Methodik ausgehend scheint es ihr etwa nicht vernünftig, die Aussagen Nietzsches zum Willen zur Macht als eine behavioristische Theorie ernst zu nehmen. „I resist […] the idea that Nietzsche believed that all behavior is motivated by a desire for power because I do not see any way in which this could be a plausible or interesting hypothesis about human behavior“ (Clark 1990,
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S. 212). Eine wohlwollende Interpretation bedeutet demnach, Nietzsche möglichst keine Aussagen zuzuschreiben, die dem Leser unplausibel oder uninteressant erscheinen. Insbesondere versucht Clark, die zumindest vordergründig inkonsistenten Bemerkungen Nietzsches zum Begriff der Wahrheit zu bereinigen, indem sie werkgeschichtliche Phasen im Denken Nietzsches unterscheidet. Faktisch zieht sie damit die Subjektivität des Autors heran, um problematische Aspekte des Werkes zu lösen. So erweist sich die Interpretation anhand eines solchen ‚principle of charity‘ als spezifischer Modus einer rekonstruktiven Aneignung, der sich bei weitem nicht nur bei Clark findet und den wir von Hegels Umgang mit Platon kennen. Natürlich sind Herangehensweisen dieser Art nicht unwidersprochen geblieben. Schon 1996 betont Lanier Anderson unter dem Titel Overcoming Charity die Nachteile eines solchen „methodological demand that an interpreter attributes the most reasonable or the truest possible view to the text“ (Anderson 1996, S. 308), denn die Standards dessen, was als „most reasonable“ oder „truest possible“ gilt, können offenbar zwischen verschiedenen Denkern variieren, insbesondere wenn sie durch mehr als 100 Jahre getrennt sind: When we take correspondence to our own beliefs as the standard for an acceptable attribution to historical texts, we risk imposing our beliefs onto the past, and missing the real differences between historical philosophical positions and our own. In its more moderate form, it seems to me, the principle of charity does have an important role to play in guiding interpretations in philosophy, and in the humanities more generally. It is important that we try to make sense of the texts and artifacts whose meanings are our object of study. At the same time, we must focus on making sense of our objects on their own terms and in their own context, to the greatest extent possible within the inevitable limits of imagination. (Anderson 1996, S. 341)2
Anderson betont so die notwendige Gleichzeitigkeit einander widerstreitender Zugriffe, nämlich sowohl den Texten wie auch uns selbst gerecht zu werden. Daher gilt es, eine prekäre Balance zu wahren zwischen dem Eigenrecht der historischen Texte und den intellektuellen Ansprüchen der je heutigen Leser. Dieser Balance entkommt man auch dann nicht, wenn man sich scheinbar sehr eng an den vorliegenden Text anschmiegt. So ist etwa Lawrence Hatab überzeugt, dass Nietzsche der Sprache mächtig war und auch exakt das meint, was er sagt. Eine wahrhaft wohlwollende Interpretation müsse daher zunächst und vor allem Nietzsche in seinen Aussagen ernst nehmen. Anstatt sperrige Gedanken wie den 2 Nadeem Hussain hat diesen Eindruck noch weiter zugespitzt. „It is hard not to have the feeling that in the face of this lack of resistance by the texts, we are seeing regular deployments of what I would call the ‚principle of hypercharity‘: if p, then Nietzsche believes that p.“ (Hussain in Vorbereitung, S. 53) – für diesen Hinweis danke ich Christoph Schuringa.
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der ewigen Wiederkehr als Allegorie, Ironie, Zwischenphase oder bloße Spielerei wegzuerklären, verlangt sein ‚principle of charity‘, die Gründe für Nietzsches Aussagen nachvollziehbar zu machen. „Coming to terms with eternal recurrence should be the first order of business in engaging Nietzsche philosophically, to understand why this notion was not problematic for him“ (Hatab 2005, S. 64). Indem Hatab allerdings so die Diskrepanz zwischen Nietzsche und uns markiert und die daraus resultierende Notwendigkeit zur Deutung und Übersetzung anerkennt, entzieht auch er sich nicht dem oben genannten Balanceakt. Nietzsches Texte sind leicht lesbar, aber schwer verständlich; sie liegen nicht einfach fertig zum bloßen Ablesen da, sondern ihr Sinn muss sich im Kopf des Lesers erst herstellen, sie müssen interpretiert werden. Diese Interpretationen trennen faktisch zwischen Form und Inhalt und bemühen sich um eine Rekonstruktionen des sachlichen Gehalts der Texte. Im Verhältnis zu Hegel geschieht dies mit mehr salvatorischen Klauseln, wonach die Lesarten nur noch plausibel, sinnvoll oder „truest possible“ sein wollen. Wir können Nietzsche nicht mehr so lesen, wie Hegel seinen Platon las, dazu fehlt uns vor allem die Gewissheit, das Wesen der Wahrheit und der Philosophie und damit auch den sachlichen Gehalt der Texte sicher zu kennen. Welchen Status aber können derartige Aneignungen beanspruchen, wenn ihre Standards selbst wesentlich von dem Gutdünken des Interpreten abhängen? Wenn daher an Hegel nur zu lernen ist, wie es nicht geht, bleibt die Frage: Wie sonst?
2 Kontextuell-philologische Lesarten Es ist kein Zufall, dass hinsichtlich einer philosophisch-rekonstruktiven Lesart vor allem englischsprachige Autorinnen und Autoren besprochen wurden. Tatsächlich überwiegt in der anglo-amerikanischen Nietzsche-Forschung ein solcher aneignend-argumentativer Umgang, obwohl es natürlich Ausnahmen und Überschneidungen gibt. Wenn für diese Form der Nietzsche-Aneignung Hegel Pate gestanden hat, so könnte man für eine Alternative dazu Anleihen bei Nietzsche selbst machen. In seinen Schriften formuliert er verschiedentlich Anweisungen an einen idealen Leser, nicht zuletzt wohl auch aufgrund der massiven Schwierigkeiten seiner Bücher, ihre Leser zu finden. So gibt er seiner Genealogie der Moral folgende Bemerkung mit auf den Weg: — Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat […] Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben,
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Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist — und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften —, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls n i c h t „moderner Mensch“ sein muss: d a s W i e d e r k ä u e n … (GM Vorrede 8, KSA 5, S. 255 f.)
Indem Nietzsche betont, dass auch schriftliche Kommunikation ein doppelt kontingenter Prozess ist, der sowohl am Autor wie am Leser scheitern kann, verwahrt er sich gegen die alleinige Verantwortung für etwaige Missverständnisse. Um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, bedarf es erstens der Kenntnis des ‚ganzen Nietzsche‘, zweitens einer geduldigen Gründlichkeit und drittens allgemeiner kultureller Voraussetzungen. Ist heute die Zeit für die Lesbarkeit seiner Schriften gekommen? Jedenfalls fehlt es nicht länger an Lektüren, die bis zur Repetition detailgenau und eher nüchtern sind – wie es zur Semantik des Wiederkäuens zu gehören scheint. Der wissenschaftliche Geist hat sich Nietzsches angenommen. Besonders in Kontinentaleuropa hat man nach einer mehr als 50jährigen Geschichte zumeist kompromittierender Vereinnahmungen konstatiert, es sei „unerlaubt, ja beinahe unanständig, Nietzscheaner zu sein“ (Montinari 1982, S. 3). Die neue, kritische Edition von Mazzino Montinari und Giorgio Colli sollte die Basis schaffen für einen seriösen Umgang mit Nietzsche, d. h. für eine „philologisch-historisch fundierte Lektüre seiner Werke“ (Montinari 1982, S. 4). Insbesondere erlaubt die KGWB, die Werke Nietzsches in ihrer zeitlichen Folge, in ihrer inneren Beziehung zum Nachlass und in ihren quellengenetischen Kontexten zu begreifen. Gegen den naheliegenden Einwand, dass eine solche Lektüre Nietzsches „auf eine Historisierung und Philologisierung seiner Philosophie hinausläuft“ (Montinari 1982, S. 7), macht Montinari zweierlei geltend. Erstens betont er mehrfach, dass die Philologie eine präliminare Arbeit ist, sie schafft die Grundlage der philosophischen Auseinandersetzung ohne mit ihr identisch zu sein oder sie gar ersetzen zu können. Zweitens verweist er darauf, was „Nietzsche selber zur Frage der philologischen Lektüre seiner Schriften“ (Montinari 1982, S. 8 f.) gesagt hat: Nietzsche wünscht sich einen „Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen“ (EH Bücher 5, KSA 6, S. 305). Und: „Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: – endlich schreibt man auch langsam“ (M Vorrede 5, KSA 3, S. 17). Zumindest was die ersten beiden im Vorwort zur GM genannten Bedingungen betrifft, scheinen die gegenwärtigen Aussichten also gut zu sein. An umfassender Kenntnis der Schriften Nietzsches und an einer geduldig-gründlichen Lektüre fehlt es nicht. Im Anschluss an Montinari und andere hat sich eine weitverzweigte kontextuelle und quellengenetische Nietzscheforschung entwickelt, die nicht zuletzt aufgrund der exzeptionell guten Überlieferung der Notate, Entwürfe und
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Briefe über reiches Material verfügt. Ohne Zweifel haben sich mit Hilfe kritischphilologischer und quellengenetischer Arbeiten eine Reihe von Standards etabliert, hinter die man nicht wieder zurückfallen sollte. Dazu gehört insbesondere, bewusst mit dem Nachlass umzugehen, die Kompositionsprinzipien und Formen seiner Texte zu beachten, den Zusammenhang von Leben und Werk angemessen zu würdigen und die engeren und weiteren Kontexte seiner Schriften zu berücksichtigen. Während Montinari in diesen Rekonstruktionen noch ein Mittel zum philosophischen Verständnis Nietzsches gesehen hatte, heißt es heute mancherorts: Ein „ideales Ziel der Nietzsche-Forschung ist, all das zu kennen, was Nietzsche geschrieben, gelesen, gedacht hat“ (D’Iorio 2003, S. 67). Der Ertrag und Nutzen quellengenetischer Forschung ist offensichtlich, auch die hier vorliegende Arbeit profitiert davon. Dennoch darf man fragen, ob in einer solchen regulativen Idee das Ziel und nicht vielmehr nur ein Mittel der Nietzsche-Forschung zu sehen ist. Hinsichtlich der Gründlichkeit der Lektüren wird ebenfalls in produktiver Weise auf Nietzsches eigenes Vorbild verwiesen. So konstatiert Christian Benne, Nietzsche sei darin „ein absolut zeittypischer Philologe“ (Benne 2006, S. 18), dass er auf einer Trennung von Lesen und Interpretation bestanden habe. Die Kunst des guten Lesens besteht dabei in dem feinfühligen Sich-Einlassen auf das Fremde und Andere, auch wenn damit die Gefahr einer Schwächung und Überformung des Eigenen einhergeht. Hinsichtlich der Interpretation argumentiert Benne, dass diese bei Nietzsche „per se Fälschung zu bedeuten“ (Benne 2005, S. 151) scheint. Dazu verweist er unter anderem auf ein oft erörtertes Notat aus Nietzsches spätester Phase, wonach ein „Mangel an Philologie“ in dem Unvermögen besteht, „einen Text als Text ablesen [zu] können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen“ (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 460). Indem Benne jedoch den Kontext und vor allem die direkte Fortsetzung des Notats nicht anführt, wird eine entscheidende Einschränkung Nietzsches in seinem Zitat nicht deutlich: Das nenne ich den Mangel an Philologie: einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der „inneren Erfahrung“ – vielleicht eine kaum mögliche … (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 460).
Das Vermögen, einen Text als Text vorurteilsfrei abzulesen, gilt somit nicht nur als historisch späte und delikate zivilisatorische Leistung, sondern mutmaßlich sogar als ein Ding der Unmöglichkeit. Argumentiert man daher, der „offensichtliche Gegensatz von Lesen und Interpretieren […] prägt Nietzsches Schriften von Anfang an“ (Benne 2005, S. 154), so muss man zugleich eine Präzisierung im Sinn behalten: „Nietzsche glaubt natürlich nicht, dass die Distanzierung von eigenen Affekten und Motiven […] vollständig gelingt“ (Benne 2005, S. 154). Somit handelt es sich offenbar nicht um einen strikten Gegensatz zwischen Lesen und Interpre-
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tation, sondern um eine graduelle Differenz. Lesen ist immer auch ein Prozess der interpretierenden Aneignung.3 Wenn man daher mit Benne an der Möglichkeit des wiederkäuenden und dadurch multiperspektivischen, distanzierten und gründlichen Lesens festhält, und dafür gibt es diverse gute Gründe, so führt das dennoch nicht dazu, ein Lesen ganz ohne Interpretation annehmen zu dürfen. Wie auch Werner Stegmaier betont, bleibt es daher keinem Leser erspart, sich in seinen „Interpretationen zumindest vorläufig festlegen zu müssen“ (Stegmaier 2007, S. 86). Um dieser prekären Situation zu begegnen, rekurriert Stegmaier, ähnlich wie Montinari, auf Nietzsches explizite Hinweise an seinen idealen Rezipienten; und wie Benne (vgl. Benne 2005, S. 153) tut er das, indem er das Verfahren der „schlechtesten Leser“ problematisiert: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze“ (VM 137, KSA 2, S. 436). Mit Blick auf diese Kritik selektiv aneignender Lektüren formuliert Stegmaier eine alternative Programmatik zukünftiger Nietzsche-Forschung, zu der er selbst nicht zuletzt mit seinem jüngsten Buch (vgl. Stegmaier 2012) einen bemerkenswerten Beitrag geleistet hat: Wir haben nun hinreichend Übersichten und systematische Interpretationen entworfen. Die Nietzsche-Philologie als unendliche Philologie von Nietzsches Aphorismen ist damit gut vorbereitet, kann nun an die Aphorismen im einzelnen gehen. Die unendliche Philologie der Aphorismen, ihrer Kontexte in den Aphorismen-Büchern und ihrer Genealogie in den Nachlass-Notaten könnte die Aufgabe der kommenden Nietzsche-Forschung sein. (Stegmaier 2007, S. 94)
Für die Notwendigkeit einer solchen unendlichen Philologie anstelle der bisherigen philosophischen Rekonstruktionen und Fest-Stellungen führt Stegmaier neben der (zumindest bei ihm) eingetretenen hinreichenden Sättigung vor allem zwei Gründe an: Zum einen ist „Nietzsches Philosophieren [selbst] in unablässiger Bewegung“ (Stegmaier 2011, S. 108). Der Nachvollzug eines solchen dynamischen Denkens kann daher selbst nur im Prozess ständiger Bewegung geschehen. „Nietzsche-Philologie in Nietzsches Sinn muß eine […] unendliche
3 Die Herausgeber der KGW IX gehen so weit, sogar die diplomatische Transkription der Handschriften „im typographischen Satz“ bereits als „Übersetzung (interpretatio)“ zu verstehen (Haase/Kohlenbach 2001, S. XV). Folglich heißt es: „In authentischer Gestalt befindet sich Nietzsches handschriftlicher Nachlaß strenggenommen allein im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv“ (Röllin/Stockmar 2007, S. 25). Selbst in Weimar muss er aber noch mit den je eigenen Augen entziffert werden, die wiederum nicht die Augen Nietzsches sind, der allerdings tot ist und dessen Denken ohnehin prozessual war. So führt sich die Idee der Authentizität selbst ad absurdum. Der ‚Text an sich‘ bleibt allenfalls regulative Idee.
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Philologie von Nietzsches Aphorismen sein.“ (Stegmaier 2007, S. 94 f.). Zum anderen ist die Festlegung Nietzsches auf fixe Positionen oder gar Lehren irreführend. Insbesondere sind die mutmaßlichen Lehren Zarathustras vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und von der Ewigen Wiederkunft vielmehr „Nietzsches Anti-Lehren“, sie führen nur „das Scheitern scheinbar allgemein-gültiger Lehren vor“ (Stegmaier 2012, S. 16 f.). Das Adjektiv ‚allgemein-gültig‘ ist hier von Interesse, denn Stegmaier hatte bestimmt, „Lehren sind das, was einer dem anderen übermitteln kann, ohne dass der Sinn sich verändert“ (Stegmaier 2000, S. 193). Damit legt er jedoch einen Maßstab an, der bestenfalls bei dem formalen Nachvollzug eines mathematischen Beweises realisiert werden kann. Der tatsächliche Prozess des Lehrens und Lernens setzt aber weder eine solche statische diachrone Identität der Beteiligten noch einen vollständigen und verlustfreien Transfer des Inhalts voraus.4 An dieser Stelle ergibt sich eine interessante Verbindung zu einer NietzscheDeutung, die in zahlreichen anderen Hinsichten eher als philosophisch-rekonstruktiv zu charakterisieren ist. Axel Pichler ignoriert die Vita Nietzsches ausdrücklich und zielt auf eine produktive, aktualisierende Aneignung Nietzsches „für die philosophischen Fragen der Gegenwart“ (Pichler 2010, S. 16; vgl. S. 45 f.). Dennoch kommt auch Pichler – trotz der grundsätzlichen Differenzen in Ziel und Herangehensweise (vgl. Pichler 2010, S. 175 f.) – wie Stegmaier zu dem Schluss, dass Nietzsche keine Lehren in einem irgendwie klassischen Sinne vertritt. Pichlers archäologisch-diskursanalytische Deskription Nietzsches führt zu einer dynamischen Verflüssigung der Texte, wonach es nicht nur keine Lehre, sondern sogar „keine Philosophie Nietzsches, sondern nur eine Nietzschesche Denkbewegung gibt“ (Pichler 2010, S. 17; vgl. S. 43). Es handele sich um ein dynamisches „Denken ohne Zentrum“ (Pichler 2010, S. 169), wofür Pichler das vielleicht sperrige, aber sehr treffende und schöne Wort Orchestikologie geprägt hat. In dieser Version moderner Sprachwissenschaft und Philologie erscheint Nietzsches Text als Tanz, als Ereignis ohne Lehre, ohne Zentrum, ohne Inhalt. Allenfalls „simulieren“ die „diskursiven Formationen Nietzsches […] traditionelle theoretische Formationen“ (Pichler 2010, S. 173), denn: „Wie soll ein Denken, dessen zentrales Cha
4 Dementsprechend finden sich in Stegmaiers Konzept der Anti-Lehren schon früh Ansätze zu alternativen belehrenden Mitteilungsformen wie ‚vorführen‘, ‚zeigen‘ oder ‚raten‘, die er dann in seiner Philosophie der Orientierung ausarbeitet. So ist wohl auch Stegmaiers Bemerkung zu verstehen: „Wenn Sokrates weiß, dass er nichts weiß, lehrt Nietzsche, dass er nicht lehrt“ (Stegmaier 1995, S. 227). Die Paradoxie dieses Satzes ist ja, dass Sokrates zumindest etwas weiß (und so drückt er sich in der Apologie auch aus; Platon Apo., S. 21d) und Nietzsche zumindest etwas lehrt. Darüber hinaus gibt Nietzsche seinen Lesern auch inhaltlich „zu denken“ (Stegmaier 1995, S. 230) und trägt so zu einer möglichen „Orientierung“ bei (Stegmaier 1995, S. 232).
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rakteristikum die Auflösung der Erkenntnistheorie und mit ihr das Verschwinden jeglichen legitimierten Wissens ist, noch in der Lage sein, (neues) Wissen und somit ‚Inhalt‘ zu produzieren?“ (Pichler 2010, S. 169). Einen Text ohne ‚Inhalt‘ gut zu lesen, stellt jedoch eine erhebliche Herausforderung dar. Mit Blick auf die bisher erläuterten Probleme scheint es fast, dass wir bald 200 Jahre nach Hegel nicht nur zu lernen haben, wie es nicht geht, sondern, dass es nicht geht. Die Suche nach dem Text Nietzsches scheint sich als infiniter Regress zu erweisen. Allerdings beantwortet sich Pichlers rhetorische Frage nicht von selbst. Ähnlich wie bei Stegmaier scheint auch bei Pichler die mutmaßliche Unmöglichkeit für Nietzsche, etwas Gehaltvolles nicht nur virtuell mitzuteilen, unter anderem aus einem besonders anspruchsvollen Konzept von Lehre, legitimiertem Wissen oder Inhalt zu resultieren. Ein nomadisches, prozedurales, experimentelles Denken muss jedoch nicht ohne Inhalt sein. Einerseits kommt ein gedruckter Text nicht umhin, als solcher in einer Textur fixiert zu sein. Andererseits ist auch ein transitives Denken ein ‚Denken über etwas‘. Der Prozess ist nicht das Gegenteil des Inhalts, sondern die Dynamik konstituiert sich nur und gerade in ihren bewegten Inhalten. Denken ereignet sich nicht einfach, sondern es existiert nur in der schöpferischen Auseinandersetzung mit seinen Gegenständen. Nietzsche zum Beispiel vertritt tatsächlich die These, dass das Denken eine tanzende Dynamik ist – so lautet jedenfalls meine These.
3 Philosophie als Selbstbekenntnis ihres Urhebers Neben der mangelnden Bereitschaft, ihn erstens umfassend und zweitens gründlich zu lesen, macht Nietzsche immer wieder auch ein drittes Hindernis für ein angemessenes Verständnis seiner Texte geltend: die generellen Unzulänglichkeiten des modernen Menschen. Neben der bereits angeführten Stelle aus der Vorrede zu GM zeigt sich dieser Umstand deutlich an einer Anekdote, die Nietzsche in Ecce homo berichtet: Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heisst: e r l e b t haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf als „moderne“ Menschen erreichen könnten. (EH Bücher 1, KSA 6, S. 298 f.)
Zunächst dokumentiert diese Anekdote Nietzsches gefühlte Distanz zu seiner Zeit. Er versteht sich als unzeitgemäß und hofft darauf, posthum geboren zu werden. Vor der Gegenwart verbirgt er sich und ist vor ihr verborgen, denn „jeder tiefe
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Geist braucht“ nicht nur eine Maske, sondern sie „wächst auch fortwährend“ um ihn „Dank der beständig falschen, nämlich f l a c h e n Auslegung“ (JGB 40, KSA 6, S. 58). Gleichzeitig scheut Nietzsche weder Kosten – die Finanzierung des Drucks von JGB übernimmt er bekanntlich selbst – noch Mühen, um einige seiner Gedanken zu veröffentlichen und sie so für jedermann zugänglich zu machen. In diesem Sinne schreibt Nietzsche Bücher für „Alle und Keinen“ (Za, KSA 4, S. 9). Gleichzeitig dokumentiert diese Anekdote neben der Kritik an der Moderne noch eine andere Dimension des erfolgreichen Lesens: „verstanden, das heisst: e r l e b t haben“. Verstehen wird hier über das kognitive Erfassen propositionaler Gehalte hinaus als ein erlebter Gleichklang bestimmt, als Nachvollzug oder als VertrautSein mit einer Erfahrung. Es versteht nicht nur ein Rezipient eine Proposition oder ein Betrachter ein Kunstwerk, sondern es versteht ein Mensch einen anderen Menschen. In diesem Sinne ist Verstehen an Vorraussetzungen gebunden, die dem Ablesen des Textes vorausliegen und in das Feld der Psychologie führen. Um genauer zu fassen, wie Nietzsche diese Verbindung von Verstehen und Erlebthaben konzipiert, ist der Aphorismus JGB 6 besonders hilfreich. Außerdem erlaubt er eine erweiterte Antwort auf die Ausgangsfrage dieses Textes, wie Nietzsche noch gelesen werden kann. Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will e r —) hinaus? (JGB 6, KSA 5, 19 f.)
Große Philosophie ist somit erstens nicht-intentional und nicht-bewusst mit ihrem Urheber verbunden, zweitens ist ihr Wesen und „eigentliche[r] Lebenskeim“ in den moralischen Absichten des Autors zu sehen, und drittens ist die resultierende Heuristik die einer entlarvenden und erratenden Psychologie, die dementsprechend am Schluss des ersten Hauptstücks „wieder als Herrin der Wissenschaft anerkannt“ (JGB 23, KSA 5, S. 38) werden soll. Damit kulminiert in JGB 6 ein Gedanke aus den drei vorangegangenen Aphorismen, in denen Nietzsche das Denken mit Instinkt-Thätigkeiten (JGB 3), Lebensbedingungen (JGB 4) und durchgesiebten Herzenswünschen (JGB 5) in Verbindung gebracht hatte. Dagegen wechselt der anschließende siebte Aphorismus das Thema und ermäßigt auch die gedankliche Dichte,5 – ein Stilmittel, das Nietzsche in seiner Kompositi-
5 „Section 7 appears to be rather a digression“ (Burnham 2007, S. 22).
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on der Aphorismen benutzt, um wichtige Gedanken nicht durch eine allzu gedrängte Folge zu verschleißen. Zugleich beginnt mit JGB 7 die Anwendung des Gedankens auf verschiedene Philosophen und Konzepte, so dass der Aphorismus offenbar eine zentrale Stellung im Kontext des ersten Hauptstücks einnimmt. In diesem Fall ist es zudem interessant, sich die Vorstufe des Textes anzusehen, nicht zuletzt, weil sie leider nicht ediert ist. Der erste Entwurf des späteren sechsten Aphorismus findet sich in einem Großoktavheft mit der Signatur M III 4, welches Nietzsche im Herbst 1881 und dann noch einmal im Frühjahr-Sommer 1883 für Exzerpte, Dispositionen und Notate unterschiedlicher Art genutzt hat.6 Dort zeigt sich auf den Seiten 90 und 91, dass Nietzsche einen ersten Entwurf aus dem Sommer 1883 dann im Juni 1885 – offenbar für die Vorbereitung seines Diktats an Louise Röder-Wiederhold – noch einmal redigiert hat. Die Datierung ist hier so klar möglich, weil Nietzsche nur während dieses Aufenthaltes in SilsMaria eine bestimmte, violette Tinte verwendet hat (vgl. Röllin 2012, S. 25). Die überarbeitete Fassung von M III 4, S. 90 f. findet sich dann in der Diktatniederschrift (vgl. Röllin 2012, S. 212) sowie in Nietzsches Druckmanuskript von 1886 (D 18) und wurde dementsprechend auch im Druck endgültig fixiert. Die Textgenese von JGB 6 lässt sich somit auf Sommer 1883 und Juni 1885 datieren. Dieser Umstand ist nicht nur von quasi-kriminologischem Interesse bezüglich der Frage, zu welchem Zeitpunkt etwas kristallisierte, was zuvor in Nietzsches Kopf noch ein dynamisches Denkgeschehen war. Das Notat M III 4, S. 90–91 verweist inhaltlich auf eine Kontinuität der Gedanken und erlaubt einen interpretatorisch hilfreichen Blick in den früheren Kontext. Sehen wir uns dazu die Revisionen an:
Abb. 1: M III 4, Blatt 90 (Auszug)
6 In seinem Kommentar zu Band 5 der KSA verweist Montinari auf dieses Notizheft Nietzsches und gibt seine Entzifferung der ersten Fassung (KSA 14, 348 f.), leider ohne die Seitenzahlen zu ergänzen. In die bisherige Edition von M III 4b (= KSA 10, S. 235–324) ist der Text, weil er als Vorstufe charakterisiert wurde, nicht aufgenommen. Da es zu JGB bislang noch keinen Nachberichtsband gibt und zugleich der Nachlass in der KGW IX erst ab 1885 ediert wird, kann man von Glück sagen, dass Montinari diese Vorstufe in KSA 14 zitiert. Allerdings liegt das Heft inzwischen in der Faksimilie-Edition auf www.nietzschesource.org vor, von wo auch die Abbildung stammt. – Ich danke Beat Röllin für sehr nützliche Hinweise zu diesem Thema.
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Nach der Transkription von Montinari lautet der ursprüngliche 1883er-Text (in schwarzer Tinte): „Ich habe mich gewöhnt, die großen Philosophien als ungewollte Selbstbekenntnisse ihrer Urheber anzusehen: […]“ (KSA 14, S. 348). Nietzsche redigiert 1885 (in violetter Tinte) den Auftakt des Textes, er beginnt nicht länger mit „Ich“ und aus dem allzu willkürlichen „habe mich gewöhnt“ wird ein erfahrungsgesättigtes, passivisches „hat sich mir herausgestellt“. Durch die Ergänzung des „bisher war“ wird die These temporalisiert und zugleich ein alternativer Möglichkeitsraum eröffnet. Nietzsche entsubjektiviert so seine Idee und verleiht ihr mehr Gewicht, ohne sie zu einer objektiven überzeitlichen Tatsachenfeststellung zu stilisieren. Der zentrale Gedanke jedoch, dass eine große Philosophie als ‚Selbstbekenntnis ihres Urhebers‘ angesehen werden kann, bleibt unverändert. Das Wort „ungewollte“ wird nicht vergessen, sondern zur Charakterisierung der „Memoiren“ verwendet, die Nietzsche für die Diktatniederschrift ergänzt. Hierbei greift er zurück auf eine Überlegung, die er bereits im Sommer 1882 formuliert hatte: „Philosophische Systeme sind die bescheidendste Form, in der Jemand von sich selber reden kann – eine undeutliche und stammelnde Form von Memoiren“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]79). Damit sind wir, wie auch Montinari im Kommentar aufweist, zum kontextuellen Verständnis dieses Gedankens nicht nur auf 1883, sondern auch auf den späten Sommer des Jahres 1882 verwiesen: Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen Systeme auf PersonalActen ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem „Geschwistergehirn“: ich selber habe in Basel in diesem Sinne Geschichte der alten Philosophie erzählt (Bf. an Lou von Salome, 16.09.1882, KGB III/1, Bf. 305).
Tatsächlich lässt sich die psychologisch-entlarvende Deutung bedeutender Philosophie bei Nietzsche schon in der Baseler Zeit ausmachen. In seinem Fokus auf die Denkerpersönlichkeit in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ist sogar ein markantes und zeitlich untypisches Spezifikum von Nietzsches philosophiehistorischer Herangehensweise zu sehen – vielleicht inspiriert durch seine Beschäftigung mit den anekdotenreichen Philosophenviten des Diogenes Laertius (vgl. Heit 2013). Im Unterschied zu Hegel zieht er die Person des Autors jedoch nicht heran, um die privaten und falschen Verunreinigungen des sachlichen Gehalts zu erklären – sachlich widerlegt ist alle frühere Philosophie ohnehin, aber: „Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil“ (JGB 4, KSA 5, S. 18). Nietzsche interessiert an den vorplatonischen Denkern das Persönliche in der Philosophie als das „ewig Unwiderlegbare“ (PHG, KSA 1, S. 803). Das „System“ eines Denkers begreift er bereits 1873 als das „Gewächs“ einer gewissen „Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehen“ (PHG, KSA 1, S. 801). Indem Nietzsche die Philosophie auf diese Weise als Selbstbekenntnis charakterisiert, vermeidet er nicht nur die klassische Diskreditierung
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des persönlichen Gedankens als bloßer Meinung, sondern widersetzt sich auch dem biographischen Vorgehen, große Philosophie auf die Banalität persönlicher Erfahrungen und Krisen zu reduzieren.7 Vielmehr setzt Nietzsche die Philosophie nicht mit den Äußerlichkeiten des Lebenslaufs in Verbindung, sondern mit den grundlegenden moralischen Absichten ihres Autors. In erster Linie versteht Nietzsche eine große Philosophie demnach als das moralische Selbstbekenntnis ihres Urhebers. Der Philosoph bekennt sich selbst jedoch als Philosoph im Medium der Philosophie, d. h. der kritischen, argumentativen, begründenden und gründlichen Rede. Indem man die Philosophie als ein Mittel begreift, mit dem ein Geist sich ausdrücken und wirken will, so konstatiert man genau damit, dass ein solcher Geist sich eben gerade der Philosophie bedient und nicht etwa anderer Instrumente. „Philosophen: sie wollen ihren Geschmack an der Welt herrschend machen – deshalb lehren und schreiben sie“ (NL 1883, 7[107], KSA 10, S. 278). Nietzsche gibt also durchaus nicht den Unterschied zwischen Philosophie und anderen Genres preis, wenn er nach den Spuren unvermerkter Memoires in den philosophischen Texten und Systemen fragt. Mit Blick auf diesen philosophischen Gehalt fragt Nietzsche vielmehr nach dem Woher? und dem Wozu? Welche Bedürfnisse oder Nöte liegen einem Gedanken zugrunde und welche Konsequenzen hat er? Cui bono? Dergestalt versteht er die „‚Moral als Zeichensprache‘“ (NL 1883 7[47], KSA 10, S. 257) – in der Handschrift steht diese Zeile übrigens wie ein Titelentwurf allein auf einem Blatt (vgl. M III 4, S. 101). Zeichensprachen dieser Art bedürfen einer besonderen Kunst des Lesens: Ich habe mich für meine eigene Person daran gewöhnt, in allen moralischen Urtheilen eine stümperhafte Art Zeichensprache zu sehen, vermöge deren sich gewisse physiologische Thatsachen des Leibes mitteilen möchten, an solche, welche dafür Ohren haben. Aber wer hatte bisher dafür Ohren! (NL 1883, 7[125], KSA 10, S. 284)
Eine Anwendung dieses Gehörs führt Nietzsche auch im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse vor, aber besonders deutlich wird es zu Beginn des fünften. In JGB 187 fragt er zum Beispiel hinsichtlich des kategorischen Imperativs: „was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus?“ (JGB 187, KSA 5, S. 107). Zur Antwort gibt er eine unvollständige und irgendwie spontan wirkende Liste möglicher moralischer Absichten wie etwa, sich rechtfertigen, beruhigen, demütigen, rächen, verstecken oder verklären zu wol-
7 Wie man weiß, wandte insbesondere Lou Andreas-Salomé die enge Verbindung von Leben und Philosophie auf Nietzsche in seinen Werken selbst an und begründete so eine bestimmte Linie der Nietzsche-Interpretation, die zum Teil bizarre Stilblüten getrieben hat. Bemerkenswert genug, dass nach Montinaris Urteil das 1894 erschienene Buch „bis heute zu den Besten zählt, die je über ihn geschrieben worden sind“ (Montinari 1975, S. 133).
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len.8 Ein System menschlicher Triebe und Affekte wird nicht daraus. Der Rückschluss auf die zugrundeliegende Moral belehrt nicht in einem klassischen Sinne über das wahre Wesen der Dinge, sondern er verweist auf gut mögliche Motive. In diesem Sinne zeigen die Moralen nur, sie „sind auch nur eine Z e i c h e n s p r a c h e d e r A f f e k t e “ (JGB 187, KSA 5, S. 107). Indem Nietzsche die Rede von der Zeichensprache so wieder aufgreift, stellt er über die Heuristik des cui bono? hinaus eine weitere, inhaltliche These auf, die ihn ebenfalls schon 1883 beschäftigt hatte: „Die Moralen als Zeichensprache der Affekte: die Affekte selber aber als Zeichensprache der Funktionen alles Organischen“ (NL 1883, 7[60], KSA 10, S. 261 f.). Nietzsche konzipiert so eine Reihe von Rückverweisen: Eine Philosophie ist vor allem ein Zeichen der Moral ihres Urhebers, diese Moral wiederum ist ein Zeichen der Affekte und die Affekte schließlich die bildliche Übersetzung organischer und physiologischer Funktionen. An diesem Vorgehen sind in unserem Zusammenhang verschiedene Aspekte interessant. Erstens verschiebt sich das Augenmerk nicht mehr nur von der Philosophie auf ihren Urheber, sondern auch hinter diesen zurück. Es fragt sich daher, was ein ‚Urheber‘ ist bzw. von wem oder was wir überhaupt in den Texten ein Selbstbekenntnis vor uns haben. Damit verbunden ist zweitens die eher epistemologische Frage nach dem Verhältnis von Zeichensprache und Physiologie. Wechseln wir mit der Physiologie von der Welt der Bilder und Metaphern in die Welt der Tatsachenfeststellungen? Drittens schließlich ergeben sich Konsequenzen für Nietzsches Auffassung von Lesern und Autoren. Hinsichtlich der beiden erstgenannten Probleme ist wiederum der frühe Kontext von JGB 6 nützlich. Wie man weiß, hat sich Nietzsche im Sommer 1883 erneut intensiv mit Wilhelm Rouxs Studie Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre (1881) beschäftigt und in diesem Zusammenhang eine dynamische Konzeption von Leben formuliert. Mit dem Ziel, die darwinistische Evolutionstheorie um eine Erklärung der „feineren, inneren Zweckmäßigkeiten der thierischen Organismen“ (Roux 1881, S. IV) zu ergänzen, entwickelt Roux die im Titel seiner Schrift genannte entwicklungsphysiologische These. Nietzsche notiert dazu: „Relative Selbständigkeit der Theile selbst in den höchsten Organismen Roux p 65“ (NL 1883, 7[92], KSA 10, S. 272), und: Der „Kampf der Gewebe muß zum Gleichgewicht zwischen den Theilen führen, oder das Ganze geht zu Grunde. […] Der Kampf wird zu einem regulirenden Princip“ (NL 1883, 7[190], KSA 10, S. 302 f.). Die agonale Auseinan
8 Eine Vorstufe zu JGB 187 findet sich übrigens in direkter Nähe der Vorstufe von JGB 6 in M III 4 auf S. 92. Im Unterschied zu den bislang nicht edierten Seiten 90 und 91 ist diese jedoch als NL 1883, 7[58] in den Nachlass-Bänden veröffentlicht (KSA 10, S. 261). Zu dieser fragwürdigen Editionspraxis vgl. Groddeck 1991.
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dersetzung wird so zu dem prekären aber zugleich unverzichtbaren Motor von Leben und Entwicklung; ein Gedanke, der Nietzsche und Roux mit Heraklit verbindet: „‚Der Streit ist der Vater aller Dinge‘ sagt Heraklit“ (Roux 1881, S 65). Nietzsche begreift somit Leben nicht als eine statische Entität, sondern als das labile Gleichgewicht einer dynamischen und agonalen Organisation von Trieben und Geweben. Die Dynamik der widerstreitenden und strategisch kooperierenden Elemente führt entweder dazu, über eine gewisse Zeit eine hinreichend stabile Organisation zu bilden, oder aber das Lebewesen stirbt. Der ‚Urheber‘ ist demnach ein dynamischer psycho-physiologischer Komplex, eine „Leib-Organisation“ (Abel 2001, S. 31). Damit stellt sich die Frage nach dem epistemischen Status dieser psychophysiologischen Annahmen. Belehrt uns die Physiologie eines Menschen faktisch darüber, wer er ist, während seine Moral nur ein Zeugnis davon abgibt? Auf den ersten Blick scheinen wir hiermit bei Nietzsche eine Spannung zwischen erkenntnistheoretischer Skepsis und naturwissenschaftlichem Positivismus vor uns zu haben. Diese Spannung konstatierte schon Müller-Lauter (vgl. Müller-Lauter 1978, S. 196) und er verweist dazu auf eine erhellende Notiz aus Nietzsches erster Beschäftigung mit Roux: „Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede“ (NL 1881, 11[128], KSA 9, S. 487). Die eine Bilderrede zeichnet sich vor der anderen nicht durch ihre sachangemessene Wahrheit aus, sondern durch überlegene Überzeugungskraft und zweckmäßige Wirkungen. Allein unter diesen Bedingungen sollte einer „wissenschaftlichen Bildersprache […] der Vorzug vor anderen eingeräumt werden“ (Müller-Lauter 1978, S. 197). Nietzsches Gedanke, große Philosophie als Selbstbekenntnis ihres Urhebers zu begreifen, ist demnach keine klassische Lehre, sicher ist es keine vollständig und umfassend entwickelte Theorie, aber es ist doch eine begründete Hypothese, die mit dem Gesamtzusammenhang des Wissens seiner Zeit konsistent ist und für deren Geltungsanspruch grundsätzliche Erwägungen und erfolgreiche Anwendungen vorgebracht werden. Viel mehr kann man unter den Bedingungen nach-metaphysischen und grundsätzlich falliblen Denkens nicht erwarten – aber auch nicht weniger. Der Urheber, dessen Selbstbekenntnisse dieser Hypothese zufolge in seiner Philosophie vor uns liegen, zeigt sich so nicht als eine überzeitliche und unteilbare Einheit, sondern als ein labiles und dynamisches Gleichgewicht. „Das Individuum ist Vielheit“ (NL 1883, 7[273], KSA 10, S. 324). Auf diese Weise scheint sich nicht nur die Philosophie in ihren Urheber, sondern auch der Urheber selbst in einen dynamischen Lebensprozess aufzulösen. Tatsächlich ist der Urheber für Nietzsche (und seit Nietzsche) als autonomer Autor von Texten keine diachrone, stabile Identität mehr – in diesem Sinne ist er tot. Dennoch ist der Autor ein
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Schriftsteller in dem Sinne, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Buch zu einem wie auch immer vorläufigen Abschluss bringt und in Druck gibt. Ein Buch liegt in fixierter Textur vor und bringt bestimmte Gedanken zum Ausdruck, die einem Schriftsteller als dessen Produkt zugeordnet werden dürfen. Im Verhältnis zu seinem Autor stellt ein Text allerdings ein ungleich stabileres Gleichgewicht dar; die Gefahr für „geschriebene und gemalte Gedanken“ ist daher groß, „zu Wahrheiten zu werden“ (JGB 296, KSA 5, S. 239). Folglich kann es nützlich sein, sich des dynamischen Wesens seines Urhebers zu erinnern. Gleichzeitig kommt es Nietzsche aber darauf an, ob und vor allem in welcher Form es einem Autor gelingt, in dem dynamischen Kampf seiner Teile eine Organisation, ein geordnetes Gleichgewicht, d. h. eine Rangordnung zu schaffen. Diese Bedeutung der Rangordnung erläutert Nietzsche in JGB 6 anhand des Kontrastes zwischen einem großen Philosophen und einem Gelehrten, dessen wissenschaftliche Arbeit von keinem intrinsischen Motiv getrieben ist:
Die eigentlichen „Interessen“ des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der „hoffnungsvolle“ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht: — es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, w e r e r i s t — das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind. (JGB 6, KSA 5, S. 20)
Bedenkt man, dass Nietzsche ein guter Philologe war und zudem auch erwog, Chemie zu studieren (Bf. an Erwin Rohde 16.01.1869, KGB I/2, Bf. 608), so wird die satirische Ergänzung des Pilzekenners (der in der Vorstufe noch nicht enthalten war) umso deutlicher. Auch im Gelehrten existiert eine Rangordnung der Affekte, aber sie ist entweder zu instabil oder zu vage; er ist nicht souverän und die Wissenschaft ist für ihn daher eine Arbeit wie jede andere auch. Wie so vielen modernen Menschen diagnostiziert Nietzsche den Gelehrten die fehlende Einheitlichkeit eines starken Charakters. Aus diesem Grund – so denke ich – verleiht Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral seiner frohen Zuversichtlichkeit Ausdruck, seine eigenen Gedanken mögen „nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter Redenden, immer Bestimmteres verlangenden G r u n d w i l l e n der Erkenntniss. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen“ (GM Vorrede 2, KSA 5, S. 248).
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4 Soldaten, Pilzekenner und Psychologen Zum Schluss komme ich auf die Ausgangsfrage zurück, wie Nietzsche zu lesen sein könnte, insbesondere wenn wir ihn nicht so lesen können, wie Hegel Platon las. Schaut man sich dazu Nietzsches Hegel-Lektüre an, ergibt sich ein beachtliches Bild. Nietzsche erwähnt Hegel relativ häufig in seinen Schriften, in den früheren wie PHG oder HL geschieht das überwiegend kritisch. In JGB lässt er ihn in einem halbwegs positiven Licht erscheinen, wenn er etwa seinen historischen Sinn (vgl. JGB 204, JGB 254) und seinen philosophischen Fleiß lobt (JGB 211), oder ihn als Bruder-Genie Schopenhauers bezeichnet (JGB 252). Im Katalog von Nietzsches privater Bibliothek taucht er nur auf, weil Nietzsche dessen Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Juni 1875 verkauft hat. Folgt man Thomas Brobjer (2008, S. 206) so gibt es nur einen sicheren Beleg, dass Nietzsche Hegel überhaupt im Original gelesen hat, nämlich drei Abschnitte mit Exzerpten aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (NL 1873, KSA 7, 29[72–74]). Dort findet sich eine bezeichnende Stelle: Übrigens wäre alles ganz schön, wenn es nur nicht so absurd wäre, von „Weltgeschichte“ zu reden: gesetzt, es gäbe einen Weltzweck, so wäre es unmöglich ihn zu wissen, weil wir Erdflöhe und nicht Weltregierer sind. Jede Vergötterung der abgezogenen Allgemeinbegriffe, Staat, Volk, Menschheit, Weltprozess hat den Nachtheil, die Bürde des Individuums kleiner zu machen und seine Verantwortung zu erleichtern (NL 1873, 29[74], KSA 7, S. 662).
Einerseits führt Nietzsche eine solide immanente Kritik der Geschichtsphilosophie Hegels durch: Hegels Weltgeschichte überzeugt aus prinzipiellen Gründen nicht. Andererseits errät er die Konsequenzen dieses Denkens: Die Moral dieser Philosophie will auf die Erleichterung und Entwertung des Individuums hinaus. Nietzsche liest wenig Hegel, fällt deutliche Urteile und grenzt sich insgesamt von ihm ab. Wie gute Philologen ihren Horaz hat er seinen Hegel jedenfalls nicht gelesen, schon eher wie ein plündernder Soldat oder wie ein entlarvender Psychologe. In gewisser Hinsicht liest Nietzsche Hegel so ähnlich wie Hegel Platon las – und mit Blick auf die Stichhaltigkeit seiner Kritik liest er ihn gründlich genug. Er glaubt besser zu wissen, was Hegel wollte, und er verbindet Person und Philosophie. Allerdings tut er das auf einem ganz anderen Fundament und daher auf ganz andere Weise. Insbesondere glaubt Nietzsche nicht, die Wahrheit über Hegel zu eröffnen. Der entscheidend veränderte Kontext, der Nietzsche von Hegel trennt, ist der Wahrheitsgewissheitsverlust, der wie eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Anfang und dem Ende des 19. Jahrhunderts liegt (vgl. Schiemann 2013). Das Bewusstsein von der Fallibilität und Vorläufigkeit unserer intellektuellen Bemühungen hat sich seitdem eher verschärft. Um Nietzsche so zu lesen, wie er selber Hegel las, fehlt heute vielleicht zumeist der Mut – oder die Hybris. Mit
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einem gründlichen, gut geschulten bloßen Ablesen ist es dennoch nicht getan, da bei Nietzsche auch „Kunst in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will“ (JGB 246, KSA 5, S. 189). Es scheint daher am zweckmäßigsten, für einen Pluralismus unterschiedlicher Methoden des Lesens und Erratens zu plädieren, ohne dabei die Frage zu vergessen, worauf Nietzsche oder eben man selbst damit ‚hinaus will‘. Über die Wirkung eines Textes entscheiden ohnehin die Leser.
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João Constâncio
On Nietzsche’s Conception of Philosophy in Beyond Good and Evil: Reassessing Schopenhauer’s Relevance 1. Beyond Good and Evil, and especially its first part, is undoubtedly one of Nietzsche’s most decisive clarifications of his conception of philosophy. The main question addressed by this paper is how his conception of philosophy relates to Schopenhauer’s. A very common prejudice is that Nietzsche dismissed Schopenhauer’s philosophy after The Birth of Tragedy — and given that he was already very critical of Schopenhauer’s metaphysics of the will even before the The Birth of Tragedy, it seems safe to assert that after, say, The Untimely Meditations Schopenhauer’s influence on Nietzsche became at best residual. I think this approach is wrong. Schopenhauer remains an important influence on Nietzsche till the end of his philosophical activity. That is not to say there is no sort of break with Schopenhauer after The Birth of Tragedy. But when in Ecce homo Nietzsche goes so far as to declare that Schopenhauer was “wrong about everything” (EH BT 1)1 this should be read as an indication that he tried to overcome his master’s philosophy in virtually every point. Nietzsche departed from Schopenhauer’s doctrines very early — but he always retained these doctrines as his point of departure, or at least as one of his main points of departure. Schopenhauer functions for him as a very important development in the history of philosophy, but one which, precisely as such a development, is also a major ‘resistance’ that has to be overcome. Thus my hypothesis is that, in Beyond Good and Evil, Nietzsche presents a conception of philosophy which is both very similar and very different from Schopenhauer’s — very similar because it uses Schopenhauer’s philosophy as a point of departure, and very different because it claims to overcome it and truly depart from it. However, a thorough reassessment of Schopenhauer’s relevance for our understanding of Nietzsche’s conception of philosophy in Beyond Good and Evil
1 I use the translations of the Cambridge edition of Nietzsche’s works throughout the whole paper and refer to these with the following abbreviations: AC = The Anti-Christ; BGE = Beyond Good and Evil; EH = Ecce homo; GS = The Gay Science; GM = On the Genealogy of Morals; WLN = Writings from the Late Notebooks. For further bibliographical details see the references at the end of this article.
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and a thorough verification of my hypothesis are well beyond the scope of this paper. I shall start by focusing on Nietzsche’s critique of Schopenhauer’s conception of introspection or “self-observation”. This will be followed by a comparison between Schopenhauer’s metaphysics of the will and Nietzsche’s hypothesis of the will to power — a comparison that aims to assess the role and epistemic status of these ideas in their respective philosophies.
2. What can we know through self-observation? What is the epistemic status of firstpersonal knowledge? And what should be the role of self-observation in philosophy — if any? In Beyond Good and Evil 16 and 19 Nietzsche addresses these questions quite directly and he explicitly mentions Schopenhauer as one of the main targets of his critique of self-observation: There are still harmless self-observers who believe in the existence of “immediate certainties,” such as “I think,” or the “I will” that was Schopenhauer’s superstition: just as if knowledge had been given an object there to seize, stark naked, as a “thing-in-itself,” and no falsification took place from either the side of the subject or the side of the object (BGE 16). Philosophers tend to talk about the will as if it were the most familiar thing in the world. In fact, Schopenhauer would have us believe that the will is the only thing that is really familiar, familiar through and through, familiar without pluses or minuses. But I have always thought that, here too, Schopenhauer was only doing what philosophers always tend to do: adopting and exaggerating a p o p u l a r p r e j u d i c e . Willing strikes me as, above all, something c o m p l i c a t e d , something unified only in a word — and this single word contains the popular prejudice that has overruled whatever minimal precautions philosophers might take (BGE 19).
According to Nietzsche’s account, both Schopenhauer and Descartes have a naïve view of self-observation. They both reckon that, since we have direct access to ourselves, we must surely be able to know what we are. The “in-itself” of the objects of external experience may be problematic, but the “in-itself” of the object of internal experience — the “self” of self-consciousness — is not. Here an “immediate certainty” is possible, here our knowledge should be transparent and selfevident and allow for an ontological truth, a truth about “das Ding an sich”, the thing in-itself. Thus, Descartes believes that the judgment “I think” is an ontological axiom that tells us what we truly and ultimately are. It tells us that there really is a res cogitans, and we are such a res cogitans. Schopenhauer, for his part, replaces the judgment “I think” with the judgment “I will”. But the “superstitious” character of Descartes’ belief remains. The judgment “I will” is supposed to
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tell us that there really is a “will”, and this “will” is what we truly and ultimately are. Put differently, Schopenhauer’s understanding of self-observation is still “superstitious” because he believes that the word “will” has by itself the magic power of letting us know the “thing in-itself” beyond appearances, the magic power to designate and describe, without mediation, the ultimate, unconditioned ground of the phenomena that appear to our consciousness.2 Schopenhauer’s naïve belief in the will is, therefore, a function of his naïve belief in the magic powers of language. What he allegedly fails to see is that the “will” as a “unity”, as a sort of “atom”, a simple entity, is nothing but a linguistic construct. It is only the word “will” that creates the unity of the will, it is by means of the judgment “I will”, or “I have a will”, that we retroactively construct a selfinterpretation of our activity in terms of a subject that “wills” or “has a will”. Nietzsche’s conception of language is quite rich and complex,3 and it is most certainly presupposed in his critique of self-observation. Let me just recall a few aspects of this conception. (a) First, on Nietzsche’s view, language, consciousness and self-consciousness are social realities which cannot be properly distinguished from each other. As he argues in The Gay Science 354, becoming conscious in the proper, i.e. properly human, sense of the term is tantamount to becoming aware of something by means of “communication-signs”. This is because human consciousness and human self-consciousness involve conceptualization, and our concepts belong to the social milieu of communication by means of signs. Thus, language has a public dimension and no proposition is ever a private, solipsistic, direct description of an “inner state”. Our consciousness cannot observe and describe itself without the mediation of language, and language is always already a social and historical creation which transcends the solipsistic “subject”. Therefore, in selfobservation, as in any other kind of observation, what we actually do is that we reinterpret pre-given interpretations. Our words do not simply denote and descri-
2 Schopenhauer himself asserts that the word “will” (“Wille”) is a “Zauberwort”, a “magical word”, and he asserts that precisely in the passage which Nietzsche seems to have in mind in JGB 19: “Nun aber bezeichnet das Wort Wille, welches uns, wie ein Zauberwort, das innerste Wesen jedes Dinges in der Natur aufschließen soll, keineswegs eine unbekannte Größe, ein durch Schlüsse erreichtes Etwas; sondern ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehen, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei” (WWV I §22, 133). I quote Schopenhauer’s works and Nachlass from the Hübscher edition and use the following abbreviations: WWV = Die Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer 1949, vol. 2 and 3); HN = Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden (Schopenhauer 1966a); WWR = The World as Will and Representation (Schopenhauer 1966b). 3 See the two volumes that I have co-edited with Maria João Branco: Constâncio/Branco 2011 and Constâncio/Branco 2012.
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be what we see or what is supposedly “given”; they can only reflect upon previous interpretations. Put differently, in self-observation we do not simply “observe”: we interpret signs in terms of other signs. The word “sign” (“Zeichen”) is very important here. Nietzsche believes that words and concepts are “signs”, and every language is a “sign-language” (“Zeichensprache”).4 A sign is an abbreviation or simplification that stands for something x. As such, it refers to x, it “indicates” the presence of x by building an interpretation of x. But it is in no way a “copy” or a “re-presentation” of x. The concepts that emerge within language are not “mental pictures” of things. They cannot “correspond” or fail to “correspond” to a non-linguistic reality. Thus in self-observation we deal only with signs, with abbreviated indications of an unknown reality — indications that have to be interpreted, and that can only be interpreted by means of other indications. If we take our conscious, linguistically articulated intentions as an example, we have to acknowledge that each of them (as is known in self-consciousness through self-observation) “only belongs to the surface and skin” of what we are, or that “the intention is only a sign and symptom that first needs to be interpreted, and that, moreover, it is a sign that means too many things and consequently means almost nothing by itself” (BGE 32). This whole conception of language, consciousness and self-consciousness in terms of signs — indeed of communication-signs — has further implications. As abbreviations or simplifications, signs are also “falsifications”. Linguistic signs in particular work by creating “fictions” that then become realities for us. “The world that counts as ‘real’, so-called ‘reality’” (GS 58) — what Nietzsche calls in Beyond Good and Evil “the world we think we live in” (“die […] Welt, in der wir zu leben glauben”; BGE 34/JGB 34, KSA 5, p. 52) or “the world that is relevant for us” (“die Welt, d i e u n s e t wa s a n g e h t ”; BGE 34/JGB 34, KSA 5, p. 54) — this world is to a great extent a linguistic construction, the work of the creative power of language (e.g. GS 58). In aphorism 24 of Beyond Good and Evil, Nietzsche characterizes our world as a “s i m p l i f i e d , utterly artificial, well-invented, wellfalsified world” — and obviously this includes our so-called “inner world”. All introspective access to the inner experiences that occur in our self-consciousness is mediated by language and, therefore, it always results in a “s i m p l i f i e d , utterly artificial, well-invented, well-falsified” version of what is allegedly “given” in those experiences. The communicative, public dimension of our linguistic signs further implies that words are never a solipsistic creation. In fact, since communication-signs have a history, a tradition, their meanings evolve along causal chains that are
4 Cf. Stegmaier 2000a and Constâncio 2011.
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external to what they purport to denote at any given moment (cf. GM II 12–13).5 One of Nietzsche’s ways of criticizing the Schopenhauerian concept of “will” consists in probing into the history of the uses and meanings of the word “will” and showing that it did not emerge from a descriptive or denoting stance of direct self-observation. In GS 127, for example, he argues that Schopenhauer’s conception of the will did not result from introspective knowledge or a proper understanding of the “mechanism” and the “hundredfold delicate work” that has to be done to bring about the type of event which we interpret as an “act of will”, but rather from a “primordial mythology”, from a long chain of development which began in the time when primitive human-beings “believed […] only in persons (and not in substances, forces, things, etc.)” and, therefore, saw every natural event as an effect of some (personal) “will”. Schopenhauer’s conception is just, so to say, the final stage of this development — a final link in a causal chain which is fundamentally foreign to his efforts of self-observation. Standing at the end of this causal chain, he even “seems never to have attempted an analysis of the will because like everyone else he believed in the simplicity and immediacy of all willing” (GS 127). (b) Second, for Nietzsche the theme of the superstitious belief in the magic powers of language is connected with his view of knowledge as a sort of human skill for making familiar what is strange and unfamiliar (cf. GS 355, TI Errors 4–5). As Nietzsche puts it in the Nachlass, a word is something we place “at the place where our ignorance begins” (NL 1886–87, KSA 12, 5[3] = WLN, p. 106), that is, words create meanings that fill in an unknowable, frightening void. Language transforms what would otherwise face us as mysterious and frightening into something familiar, something that then appears to us not only as a reality, but also as a reality that we “know”. Nietzsche’s philosophy aims to invert this use of language. As aphorism 23 of Beyond Good and Evil makes clear, Nietzsche wants to develop the “most uncomfortable and unfamiliar” hypotheses, in order to make us plunge into the “enormous, practically untouched realm of dangerous knowledge” (BGE 23).6 Thus, what he calls, in aphorism 4, his “new language” (BGE 4) is a new philosophical use of language that makes language “dangerous” by making it critical — critical of its own reifications, simplifications and falsifications, critical of the assumpti-
5 Nietzsche’s approach is almost prescient of Saul Kripke’s antidescriptivism in Kripke 1981. It also anticipates much of what Derrida has to say about interpreting signs in terms of other signs (cf. Stegmaier 2000b). 6 On the “realm of dangerous knowledge” or “fearless findings” (“gefährliche Erkenntnisse”), see Stegmaier 2011.
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on that meaning can ever be eternal, critical of every linguistic construction that makes things comfortable and familiar for the spirit. It is from this standpoint — from the standpoint of a new critical language — that Nietzsche denies that we are able to have “immediate certainties” and know the “thing in-itself” through self-observation: But I will say this a hundred times: “immediate certainty,” like “absolute knowledge” and the “thing in itself” contains a contradictio in adjecto. For once and for all, we should free ourselves from the seduction of words! (BGE 16)
As we can see, it all comes down to the “seduction of words”. When we say “thing in-itself”, we don’t realize that the word “thing” is loaded with meaning and implies the notion of something that we can apprehend and describe by means of signs. Hence the concept of “thing” excludes the concept of “in-itself”. Likewise, when we say “immediate certainty”, we don’t realize that the word “certainty” implies mediation — that it implies an epistemic state which can only be reached through the use of signs. Put simply, we are seduced by language into thinking that we can use language to think from a non-linguistic point of view. But we are always already in the realm of language, and self-consciousness itself belongs to the historical and social milieu of communication by means of signs. Thus, again, whenever we attempt to say something about the “thing in-itself” we accomplish no more than just an interpretation of pre-given signs in terms of other signs. In fact, the “thing in-itself” is only one more sign and one more fiction created within a sign-language. To claim to know the “thing in-itself” — either through outer or inner experience — is nonsense. Such a claim is a clear sign of selfdeception, and self-deception is perhaps the rule, and not the exception, in our linguistic endeavors to introspect or observe ourselves. This whole conception of language — which, as we can easily see, implies a deflationary critique of self-observation — is also a major assumption behind Nietzsche’s suggestion, in aphorism 16 of Beyond Good and Evil, that we cannot adequately separate the meaning of “willing”, “thinking”, and “feeling”. None of these words — “willing”, “thinking”, “feeling” — can be made to correspond to a single, independent reality. If indeed “willing”, “thinking”, and “feeling” have different meanings, these different meanings result from linguistic differentiations. It is not the case that we can ever observe three different “things” or activities — x, y, z — and then name them with the words “willing”, “thinking”, and “feeling”. These words are only a semiotic interpretation of the same x. They indicate what this x is, but they do this by cutting into it the differentiations which are implied in their meanings, and not by forming pictures of pre-given differentiations. In this sense, such differentiations are really created by the words that name them.
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What this also implies is that the range, extension or sphere of any of these words intersects with the range, extension or sphere of the other words. What I designate with the word “willing” always already involves “thinking” and “feeling”; what I designate with the word “thinking” always already involves “willing” and “feeling”; and what I designate with the word “feeling” always already involves “willing” and “thinking”.7 This being so, it is not surprising that, in aphorism 19, after writing that willing strikes him “as, above all, something complicated” (“etwas C o m p l i c i r t e s ”; BGE 19/JGB 19, KSA 5, p. 32) —, Nietzsche puts forward an interpretation of willing that takes into account the inseparability of willing, thinking, and feeling. Willing, he claims, is in fact an “affect of command”, and this affect is not separable from a “commandeering thought” — i.e. from thinking —, and it is also not separable from a multiplicity of bodily sensations and feelings: “the feeling of the state a w a y f r o m w h i c h , the feeling of the state t o w a r d s w h i c h , and the feeling of this ‘away from’ and ‘towards’ themselves”, as well as “a feeling of the muscles that comes into play through a sort of habit as soon as we ‘will’, even without our putting ‘arms and legs’ into motion” (BGE 19). Moreover, this multiplicity of conscious feelings, thoughts, and affects is just the surface of an even more complicated multiplicity. The crucial idea of aphorism 19 is that “all willing is simply a matter of commanding and obeying, on the groundwork […] of a society constructed out of many souls” (BGE 19). These “many souls” are the unconscious drives that act as the “under-wills” of our conscious willing. What we call “willing” at the level of consciousness depends on the “groundwork” of a multiplicity of unconscious “under-wills”, i.e. spiritual (perceiving, interpretative) “wills to power”. This pluralistic interpretation of willing aims to avoid both Descartes’ and Schopenhauer’s dualistic and metaphysical approach. Where Descartes and Schopenhauer see unity, Nietzsche sees a multiplicity; where they see a substance and a “thing in-itself”, he sees a complex of phenomenal relations of willing, thinking and feeling. His critique of language is indeed his main weapon against both Descartes’ and Schopenhauer’s metaphysical dualism. And it is crucial that we understand in which sense Nietzsche believes that both Descartes’ and Schopenhauer’s approach is dualistic and metaphysical.
7 The claim that every linguistic conceptualization has a “range”, “extension” or “sphere” and that every concept has always “something in common with the spheres of other concepts” (WWR I §9, 42) is one of the most interesting claims of Schopenhauer’s theory of language (cf. WWV I §9, §13). Nietzsche saw that such a claim is incompatible with Schopenhauer’s belief that we can take at least certain words (like “will” or “intellect”) to refer to simple, un-relational entities (or to form mental pictures of pre-given differentiations).
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Descartes places the will in the res cogitans, which he believes to be a substance ontologically distinct from the body, i.e., with intrinsic properties and hence in itself un-related to the body. No one doubts that his is a classical case (or even the classical case) of dualism. By contrast with Descartes, Schopenhauer places the will in the body, or more precisely: he interprets the will as the essence and substantial ground of the body, or organism (e.g. WWR I §§17–19, WWR II §20). With this, he creates the concept of an “unconscious will”. The point, however, is that he dualistically opposes such a will to the “intellect”, i.e. to “consciousness”. The will, he writes, “is the prius of consciousness, and the root of the tree of which consciousness is the fruit” (WWR II §15, p. 139). Therefore, “the will is the substance of man, the intellect is the accident” (WWR II §19, p. 201): “Der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz” (WWV II §19, p. 225). This is also an instance of dualism because it implies that the essential property or attribute of the “accident” is not shared by the “substance”: the will, Schopenhauer asserts, is in itself “without knowledge” (“erkenntnißlos”), the intellect is “without will” (“willenlos”; WWR II §19, p. 208). In Nietzsche’s eyes, such dualisms are metaphysical because they assume that we can clearly distinguish what is “unconditioned” from the “conditioned”. A metaphysical claim, for him, is a claim to knowledge of the “unconditioned”. In a posthumous note from 1883, for example, he writes that the absurdity of all metaphysics consists in the deduction of the conditioned from the unconditioned: “Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten” (NL 1883, KSA 10, 8[25], p. 342). As early as in the second volume of Human, All Too Human, Nietzsche criticizes Schopenhauer’s metaphysics of the will for being a “generalization” (“Verallgemeinerung”) and for corrupting a moral insight by turning it into an unconditional theoretical claim about reality (cf. MA II, VM 5). From these and other similar passages we can infer that Nietzsche’s “will to power” is not a metaphysical alternative to Schopenhauer’s metaphysics of the will. The hypothesis of the “will to power” is an anti-metaphysical hypothesis — a hypothesis which is only about the “conditioned”, i.e., about relations that are immanent to what can be experienced. As part of a philosophy that sees every discourse as an interpretation of signs in terms of other signs, the “will to power” is an antimetaphysical hypothesis that remains open to new interpretations — in fact to “infinite interpretations” (GS 374). But now the question that arises is whether this means that Nietzsche’s conception of philosophy implies that the primacy of self-observation and the first-person perspective are simply meaningless and should be banished from philosophy. I think we can find the answer to this question in aphorism 36 of
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Beyond Good and Evil, Nietzsche’s main aphorism about the hypothesis of the will to power in the published writings. And the answer is “no”.
3. In aphorism 36 of Beyond Good and Evil Nietzsche begins the exposition of his hypothesis of the will to power precisely by assuming the first-person perspective, the perspective within which “our world of desires and passions” is supposedly “given”. It should be underlined that this “world of desires and passions” is also the world of “thought” (“Denken”), of the first-personal activity of “thinking” (“denken”), and Nietzsche’s first decisive step in the aphorism consists in interpreting our desires and passions as “drives” (“Triebe”) and thought as merely “a relation between these drives”: Assuming that our world of desires and passions is the only thing “given” as real, that we cannot get down or up to any “reality” except the reality of our drives (since thinking is only a relation between these drives) (BGE 36).
The Schopenhauerian resonances of the whole aphorism are unmistakable. First, the assumption that only our world of desires, passions, and thoughts can be said to be “given” is a central assumption in Schopenhauer’s metaphysics of the will. The reason why Schopenhauer believes that he has managed to make progress beyond Kant’s Critique of Pure Reason is precisely because he realized that, although Kant is right in claiming that all knowledge is conditioned by the forms of representation, there is a fundamental difference between our knowledge of objects in the external world and our knowledge of ourselves, that is, between our knowledge of bodies that appear outside of ourselves in space and our first-personal knowledge of our own body. The “knowing subject”, as Schopenhauer explains, is rooted in the world “through the medium of a body” (WWR I §18, p. 99), and this body, unlike all other bodies, is immediately “given” to us: we are inside of it, we are it. Thus, the thesis that the “will” is the “in-itself” of our body results from an interpretation of our embodied desires, passions, and thoughts from the first-person perspective (cf. WWV I §18). Our embodied self-consciousness, the first-personal experience of our own body, is the one and only “thread” that can guide us to the “thing in-itself” (cf. WWV I Anhang, pp. 497–500; WWV II §17, p. 198 and p. 203). Firstly, the “thread” guides us to the will as the “intelligible character” of our body — but, secondly, it allows for an analogy that guides us to the will as the “intelligible character” of the world as such and in general. The doctrine that the will is the ultimate
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essence of all things — and not just of the body — is grounded on this analogy between body and world, on this anthropomorphic projection of the essence of our embodied self-consciousness onto the whole of reality. Through self-observation we see our body “from inside” and build a concept of this inside; through analogy, we project this concept onto the inner nature of the world as if we could also see it “from inside”. Aphorism 36 of Beyond Good and Evil follows a strikingly parallel path. By interpreting our desires and passions as “drives” and our thoughts as “relations between these drives” Nietzsche manages to interpret the body and our embodied self-consciousness as “will to power”, i.e. as a “multiplicity of wills to power” (NL 1885–86, KSA 12, 1[58] = WLN, pp. 59 f.). Out of this interpretation he builds an analogy between body and life — i.e. between the “Triebleben” (the “instinctive life”; BGE 36/JGB 36, KSA 5, S. 55; my emphasis) of the body and life in general—, and then between life and the world, i.e. between the organic and the inorganic. The “hypothesis” of the “will to power” — the hypothesis that “all efficacious force” can be “univocally determined” as “will to power” — is the hypothesis that we can understand all “force”, including the inner force of the “mechanistic world”, by analogy with our inner force. If we have good reasons to interpret this inner force, the force which is “given” through self-observation, as a “multiplicity of wills to power” — and not as a single, unitary, Schopenhauerian “will”—, then we should also “make the attempt and pose the question” as to whether we can use this interpretation to “render the so-called mechanistic (and thus material) world comprehensible as well?”, i.e. use our interpretation of what we find inside of us to try and see the world “from inside”: “The world seen from inside, the world determined and described with respect to its ‘intelligible character’ – would be just this ‘will to power’ and nothing else. —” (BGE 36). In a posthumous note from 1885, Nietzsche makes it explicit that the hypothesis of the will to power depends on this analogy with the human, i.e. an analogy between what we see “from inside” our experience as humans and what might be seen “from inside” the world itself: “There is no help for it: one must understand all motion, all ‘appearances’, all ‘laws’ as mere symptoms of inner events, and use the human analogy consistently to the end” (NL 1885, KSA 11, 36[31] = WLN, pp. 26 f.). This note belongs to a whole constellation of well-known notes from the period of Beyond Good and Evil in which Nietzsche defines his method as a philosophizing “along the guiding thread of the body”, “am Leitfaden des Leibes”.8
8 Cf. NL 1884, KSA 11, 26[374]; NL 1884, KSA 11, 26[432]; NL 1884, KSA 11, 27[27]; NL 1885, KSA 11, 36[35]; NL 1885, KSA 11, 37[4]; NL 1885, KSA 11, 39[13]; NL 1885, KSA 11, 42[3]; NL 1885–1886,
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And this is precisely the Schopenhauerian metaphor mentioned above: the body as the only “thread” that can “guide” us to the “inner workings” of the world. Since Nietzsche also characterizes this method as “physiology”, one might think that, unlike Schopenhauer, he wants to follow the “guiding thread of the body” from a “scientific”, “naturalistic”, third-person perspective. However, Nietzsche’s “physiology” is still a “psychology”, it does not abandon the old and venerable hypothesis of the “soul”: Between you and me, there is absolutely no need to give up “the soul” itself, and relinquish one of the oldest and most venerable hypotheses — as often happens with naturalists: given their clumsiness, they barely need to touch “the soul” to lose it (BGE 12).
Instead of giving up the hypothesis of the soul, Nietzsche wants to make it sharper and subtler by replacing its “atomistic” conception with a pluralistic conception — a conception of “‘the soul as subject-multiplicity’ and the ‘soul as a society constructed out of drives and affects’” (“‘Seele als Subjekts-Vielheit’ und ‘Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte’”; BGE 12/JGB 12, KSA 5, p. 27). This complex, pluralistic “subject”, this multiplicity of “drives and affects”, is precisely what Nietzsche claims to have found by following “the guiding thread of the body”: Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfen, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwilkürlich auch das Ganze bejahen (NL 1884, KSA 11, 27[27]).
Thus, Nietzsche’s philosophy as psychology is a “physiology” — or, as he also calls it in Beyond Good and Evil, a “physio-psychology” (“Physio-Psychologie”; BGE 23/JGB 23, KSA 5, p. 38) — not because it gives up the “soul” and the firstperson perspective, but rather because it considers the “soul” from the viewpoint of how the body is affected. It adopts an embodied and affective first-person perspective. The “drives”, the “animated beings” out of which the body is “constructed”, are at the same time “affects”. In Beyond Good and Evil, Nietzsche also calls them a multiplicity of “under-wills or under-souls” (“‘Unterwillen’ oder Unter-Seelen”; BGE 19/JGB 19, KSA 5, p. 33). This multiplicity is, of course, a multiplicity of spiritual “wills to power”, and thus we see that it is by “following the guiding thread of the body” — or by adopting an embodied and affective firstperson perspective — that Nietzsche’s psychology becomes a “morphology and the d o c t r i n e o f t h e d e v e l o p m e n t o f t h e w i l l t o p o w e r ” (“Morphologie
KSA 12, 2[68]; NL 1885–1886, KSA 12, 2[70]; NL 1885–1886, KSA 12, 2[91]; NL 1885, KSA 11, 40[21]; NL 1886–1887, KSA 12, 5[56].
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und E n t w i c k l u n g s l e h r e d e s Wi l l e n s z u r M a c h t ”; BGE 23/JGB 23, KSA 5, p. 38). That is not to say that Nietzsche’s psychology operates exclusively from a first-person perspective and entirely gives up the third-person perspective of “physiology” in the usual sense of the word. Especially in the Nachlass, Nietzsche seems to suggest that his psychology requires both a first- and a third-person perspective. But this is also Schopenhauer’s view. He criticizes modern philosophers like Locke and Kant for having focused exclusively on what he calls the “subjective perspective of the intellect”, i.e. on the first-person perspective. Such a perspective must be complemented by what he then calls the “objective perspective of the intellect”, i.e. by “physiology” as the empirical study of consciousness and self-consciousness. In physiology our intellect is revealed as “nothing more than the physiological function of an internal organ, the brain” (WWR II §19, p. 273) — but this does not reduce the intellect to the brain (or to a “function of the brain”) because the “objective perspective” only complements the “subjective perspective”. Our best account of the mind requires both perspectives; they do not cancel each other out (cf. WWV II §22). All of this suggests an extraordinary affinity between Schopenhauer’s and Nietzsche’s conceptions of philosophy. One might say that, so far, we have only identified two substantial differences between their projects: (a) Nietzsche believes that Self and World should be conceived of as “will to power”, and not as “will”; (b) Nietzsche’s “will to power” is only a “hypothesis”, whereas Schopenhauer’s “will” is a dogmatic concept which presupposes a naïve view of self-observation, self-consciousness, and language. But the affinity between their projects becomes even more striking if we question Nietzsche’s account of Schopenhauer’s philosophy in Beyond Good and Evil: (a) Is Schopenhauer’s dualism as dogmatic as Nietzsche claims? (b) Even more radically, is Schopenhauer’s metaphysics of the will really a metaphysics in Nietzsche’s sense?
4. In an unpublished text from 1868 (“Zu Schopenhauer”; cf. NL 1867–1868, 57[55], KGW I/4, pp. 421–427), Nietzsche wrote that Schopenhauer interpreted the thing in-itself as will “with the help of poetic intuition” (“mit Hülfe einer poetischen Intuition”) and not by “logical proof” (NL 1867–1868, 57[55], KGW I/4, p. 421). I believe this is not simply intended as a reproach. More or less in the same period,
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Nietzsche praises the pre-Socratic philosophers for building their philosophies precisely “with the help of poetic intuitions” (cf. PHG 3 and PHG 5; my translation). Even more importantly, Nietzsche was surely very well aware that Schopenhauer himself defended that nothing can be said about the thing in-itself on the basis of reason and logical proof. This was, for Schopenhauer, Kant’s most important lesson (cf. WWV I Anhang). So, according to Schopenhauer himself, his metaphysics of the will is indeed based on a “poetical intuition”.9 It is a work of genius, and not of reason. Philosophy belongs among the arts as the work of genius and poetic intuition, and not among the sciences (cf. WWV II §31, p. 444). This is because philosophy starts where science ends. If, ex hypothesi, science were to complete all its tasks, this would be tantamount to a statement of the problem of philosophy — the metaphysical “riddle of the world”; it would not be its solution: “Jedoch sei auch andererseits bemerkt, daß die möglichst vollständige Naturerkenntniß die berichtigte Darlegung des Problems der Metaphysik ist” (WWV II §17, p. 198). Philosophy and the arts belong together precisely because they deal, at bottom, with “the problem of metaphysics”, the “riddle of the world”, “the true essence of things, of life, of existence as such”: “Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseyns zu lösen” (WWV II §34, p. 463). The only difference between philosophy and the arts is that philosophy tries to present the essence of the world through concepts, i.e. “abstractly”, whereas the arts communicate the essence of the world through intuition and remain forever in the realm of intuition (WWV I §36). Because philosophy presents its
9 Shapshay 2009 argues that Nietzsche is right in saying that Schopenhauer relies on poetical intuition rather than on logical proof, but she assumes that Nietzsche means this simply as a reproach. As Jakob Dellinger has pointed out to me, one could also use VM 5 and Nietzsche’s letter to Gersdorff about Schopenhauer, Lange and Haym (KGB I/2, Bf. 517) to argue that Nietzsche was not aware that Schopenhauer understood his philosophy as stemming from poetical intuition rather than logical proof. My reply to this is, firstly, that if Nietzsche read the second volume of WWV (as he surely did) he could hardly have missed Schopenhauer’s insistence upon the kinship between philosophy and art (as I try to show below); secondly, one has to distinguish Lange’s thesis that philosophy should use poetical intuition in order to “edify” from Schopenhauer’s thesis that philosophy should use poetical intuition in order to get as close as possible to the metaphysical solution of the “riddle of the world” (see also below). What Nietzsche says in the letter to Gersdorff (and to some extent also in VM 5) is that he now wants to protect “his” Schopenhauer from Haym’s criticism by reading him from a Langean perspective, but this does not imply that Nietzsche was not aware (even in 1866) of the fact that Schopenhauer’s metaphysics of the will relies on poetical intuition rather than on logical proof. (Many thanks to Jakob Dellinger for his kind and perceptive comments on my paper).
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intuitions through concepts, it has a fundamental affinity with science. But, as Schopenhauer explicitly asserts, philosophy has no “apodictic certainties” (WWV II §17, p. 201), philosophy is not “Wissenschaft aus bloßen Begriffen” (“science built only on concepts”) — philosophy is only “ein Wissen”, a form of “wisdom”: [Philosophie] ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußeren, wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über diese die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns liefert, wiedergelegt in deutliche Begriffe (WWV II §17, p. 204).
The “riddle of the world” is the same as “the problem of existence”, the question about the fact that something exists — the question about existence as such. Its object is therefore “the totality of experience”, “experience in general”, “experience as such”. Insofar as Schopenhauer’s philosophy is “drawn from the intuition of the external, real world”, it never leaves this realm of “experience as such” — and, in his own words, if we were to call it a science, we would have to call it “an empirical science” (“eine Erfahrungswissenschaft”; WWV II §17, p. 204). Schopenhauer’s metaphysics claims to be an “immanent metaphysics”, which “will never in the least go beyond the realm of experience” (HN I §386[406], p. 256). It goes “beyond the phenomena” only insofar as it produces an interpretation of the thing in-itself. But the thing in-itself is not another entity beyond the phenomena: it is merely what appears in the phenomena, “das Erscheinende” (or “das in ihr [d. h. in der Welt] Erscheinende”, WWV II §17, p. 204 f.)10: “[Die Metaphysik] bleibt immer immanent und wird nie transzendent” (WWV II §17, p. 203). Being a poetic intuition which never leaves the realm of experience and which does not try to use reason and abstract concepts to infer the existence of a transcendent thing in-itself, Schopenhauer’s philosophy claims to be no more than an interpretation of the totality of experience — an interpretation of what appears in the phenomenal world. Philosophy is “bloße Deutung und Auslegung” (WWV II §17, p. 203). It looks at the totality of experience as a “cryptograph”, a text written in code, and tries to decipher it:
The whole of experience is like a cryptograph [Geheimschrift], and philosophy is like the deciphering of it, and the correctness of this is confirmed by the continuity and connexion that appear everywhere. If only this whole is grasped in sufficient depth, and inner experience is connected to outer, it must be capable of being interpreted, decoded from itself [so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können] (WWR II §17, p. 182/WWV II §17, p. 203; translation slightly modified).
10 Cf. WWV I §24, p. 141; WWV II §1, p. 19; WWV II §25, p. 362.
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The only proof that an interpretation of the “cryptograph” is true — the only proof of the truth of Schopenhauer’s philosophy — lies in its consistency with the plurality of data given in experience, i.e. in the consistency of the way it makes sense of all the signs of the “cryptograph”: Such a deciphering of the world with reference to what appears in it must receive its confirmation from itself through the agreement in which it places the many different phenomena of the world with one another, and which we do not perceive without it. If we find a document the script [Alphabet] of which is unknown, we continue trying to interpret it until we hit upon a hypothesis as to the meaning of the letters by which they form intelligible words and connected sentences. Then there remains no doubt as to the correctness of the deciphering, since it is not possible for the agreement and consistency, in which all the signs [Zeichen] of that writing are placed by this interpretation [Auslegung], to be merely accidental; nor is it possible for us, by giving the letters an entirely different value, to recognize words and sentences in this new arrangement of them. Similarly, the deciphering of the world must be completely confirmed by itself. It must spread a uniform light over all the phenomena of the world, and bring even the most heterogeneous into agreement, so that the contradiction may be removed even between those that contrast most (WWR II §17, p. 184/WWV II §17, p. 204 f.).
According to Schopenhauer, the only “thread” that can guide us to the right interpretation of the world is, as we saw above, our first-person experience of our body, i.e., “the most intimate fact of self-consciousness” (“die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns”; WWV II §17, p. 204) as an embodied self-consciousness. But now we see that Schopenhauer is not as naïve about self-consciousness and self-observation as Descartes — or as Nietzsche’s account in Beyond Good and Evil suggests. He does not believe that self-observation leads to scientific certainty. His interpretation of the “in-itself” of his embodied self-consciousness as “will” is in fact just an aesthetic judgment. “Will” is a philosophical, abstract concept, but insofar as it emerges from a poetical intuition it has the same roots as a metaphor. In fact, it is a deeply personal concept, the work of Schopenhauer’s individual genius (cf. WWV II §17, p. 205), the expression of his way of feeling his own body “from inside”. His “wisdom” — his “Wissen” — is fundamentally rooted in Gefühl, in the way he is affected by “the most intimate fact of [embodied] self-consciousness”. Gefühl, according to Schopenhauer, should be defined only negatively as “not-reason”, i.e. as “not a concept, not abstract knowledge of reason” (WWR I §11, p. 51). Following the guiding thread of the first-person experience of the body implies precisely that one does not follow reason, but feeling. Schopenhauer’s poetical intuition — his intuition that we should use the word “will” to designate the in-itself of our embodied self-consciousness — is a feeling, although a feeling that depends on reflection and self-observation. Like every intuition of genius, such a feeling has a universal dimension, and it even
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presents itself as a deciphering of the ultimate essence of our being, but only because its conceptualization and rational communication exhibit the kind of consistency described above. The same applies, of course, to Schopenhauer’s analogy between the in-itself of our being and the in-itself of the world. This analogy is not a rational inference and it does not claim for itself the status of scientific knowledge. To borrow Kant’s terms, such an analogy is not a “dogmatic anthropomorphism”, but rather a “symbolic anthropomorphism” — an anthropomorphism which is legitimate because it is just a symbolic expression of a deeply felt similarity, an aesthetic judgment based on a feeling that stems from reflection (cf. Shapshay 2009, pp. 60 f.)11 The correct name for such an analogy is metonymy, a symbolic association and feeling of contiguity that gives access to a totality via one of its parts (cf. Shapshay 2009, pp. 65–68)12. From all of this it follows that, although Schopenhauer may often seem a very dogmatic philosopher — especially in volume I of The World as Will and Representation —, the epistemic status of his philosophy — especially as presented in volume II — is in fact very modest. He himself underlines that his first-person interpretation of the thing in-itself as will is only conditioned:
And although no one can recognize the thing-in-itself through the veil of the forms of perception, on the other hand everyone carries this within himself, in fact he himself is it; hence in self-consciousness it must be in some way accessible to him, although still conditionally [wenn auch nur bedingterweise] (WWR II §17, p. 182/ WWV II §17, p. 203; my emphasis).
We can even go further and say that the proposition “the thing in-itself is the will” is in fact a conditional proposition. We could reformulate it like this: “If we could really distinguish between phenomenon and thing in-itself, and if we could really know the thing in-itself on the basis of the fact that we have a first-personal feeling of our innermost being, then we would have to say that the thing in-itself is the will”. This, I think, expresses very precisely the hypothetical status that Nietzsche attributes to his interpretation of the world not as will, but as will to power. The end of aphorism 36 of Beyond Good Evil is worth quoting again: “The world seen
11 Kant distinguishes between the “dogmatic” and the “symbolic anthropomorphism” in the Prolegomena (§57, A 175; my translation). 12 According to the Historisches Wörterbuch der Philosophie, metonymy differs from synecdoche because it reduces something abstract to something material and with a graspable kern (e.g. the “heart” for feelings), and it differs from metaphor because it stems from a perception of contiguity rather than similarity (HWdP, vol 5, 1386 f.)
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from inside, the world determined and described with respect to its ‘intelligible character‘ — would be just this „will to power’ and nothing else. —” (“Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‘intelligiblen Charakter’ hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben ‘Wille zur Macht’ und nichts ausserdem. —”; BGE 36/ JGB 36, KSA 5, p. 55; my emphasis). In highlighting the hypothetical, conditional status of his interpretation of the world as will to power, Nietzsche draws the right consequences from the analogy (or the symbolic, metonymic anthropomorphism) between Self and World which is involved in that interpretation — the consequences that Schopenhauer himself did not fully draw in his use of the same type of analogy. At least in a qualified sense, Schopenhauer’s metaphysics of the will is ultimately a fictionalist philosophy of “as if”, as is Nietzsche’s hypothesis of the will to power. I say “in a qualified sense” because neither Schopenhauer nor Nietzsche sees his symbolic, metonymic anthropomorphism as an epistemologically arbitrary fiction. They both believe that they are being forced into putting forward their interpretations of the world, or forced into adopting a certain way of making sense of all the “signs” that constitute the “cryptograph” or the “text” (BGE 22) which is the world. Neither Schopenhauer’s metaphysics of the will nor Nietzsche’s hypothesis of the will to power is something in which they simply need to believe (on account of being, for example, comfortable or edifying). Their needs are involved in the formation of their interpretations of the world (something which Nietzsche acknowledges much more clearly — and much more willingly — than Schopenhauer), but these interpretations are also determined by epistemic commitments with which they have to be consistent. (In BGE 13 and 36 Nietzsche explicitly mentions the “principle of economy” as a commitment that has inferential implications which he must respect, but we can also mention, for example, his whole critique of the “prejudices of philosophers” as committing him to certain views whose inferential implications the hypothesis of the will to power cannot arbitrarily ignore or contradict; as for Schopenhauer, the passages about the “cryptograph” show that he sees his interpretation of the world as a correct interpretation — although its correctness is merely relative to the “signs” which are there to be interpreted). It should also be clear that Nietzsche’s quasi-fictionalism is more radical than Schopenhauer’s. As we saw above, Nietzsche’s conception of language implies that all words and concepts, as “signs”, are “simplifications” and hence “falsifications” of something unknowable. The will to power is still a “hypothesis” (and not simply a “fiction”), but it cannot be “true” in an absolute sense. Its terms are intrinsically human, its words and concepts are human, all too human “simplifications” and “falsifications”. My main point, however, is that both Nietzsche and
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Schopenhauer acknowledge that their ideas are not scientific doctrines, but only metonymic interpretations, “symbolic anthropomorphisms”.13 But, if this is so, then we should really ask whether Nietzsche’s conception of philosophy is less metaphysical than Schopenhauer’s. We may even question whether it is fair to say that Schopenhauer’s immanent metaphysics is dualistic — or whether it is a metaphysics at all. Can we really say that Schopenhauer’s conception of philosophy is metaphysical, while Nietzsche’s is not? I believe we can, and should — if a metaphysics is an answer to the “riddle of the world”. What really separates Nietzsche’s conception of philosophy from Schopenhauer’s is that the latter still aims at a definitive answer or “solution” to the “riddle of the world”. He knows that Kant’s Critique of Pure Reason has shown that reason cannot provide the solution. But, like Kant, he believes that we cannot get rid of what he calls “the metaphysical need” (“das metaphysische Bedürfnis”; WWV II §17). He defines the human being as the “animal metaphysicum” (WWV II §17, p. 176). As human beings, he believes, we need to make sense of existence as such — of the “totality of experience” — and, therefore, we all have a metaphysics, we all live by an implicit or explicit solution to the “riddle of the world”. His solution is not “scientific”, but it is the most objective one, the one that stands closer to the absolute truth. Nietzsche reinterprets the “metaphysical need” as a will — “the will to truth”, “der Wille zur Wahrheit”, the unconditional will to give unity to the totality of experience and find a solution to the “riddle of the world” at any price. This is the “will” that he questions and attacks right at the opening pages of Beyond Good and Evil, the “will” that he claims at the end of the Genealogy of Morals, has now reached its “self-overcoming”. I think it’s safe to infer from this that Nietzsche thought that his hypothesis of the will to power was not motivated by the will to truth, or, in other words, that the reason why we can say that that hypothesis is not metaphysical is because it does not claim to be a “solution” to the “riddle of
13 According to Kant, the reason why a “symbolic anthropomorphism” differs from a “dogmatic anthropomorphism” is precisely because the former establishes no more than an “as if”, which “in fact concerns the language and not the object itself” (Prolegomena §57, A 175). One is (as Kant says) forced(“genöthigt”) into accepting a symbolic anthropomorphism by the implications of one’s linguistic commitments and not by the nature of “the object itself”. This is how Kant exemplifies what he means by “symbolic anthropomorphism”: “Wenn ich sage: wir sind genöthigt, die Welt so anzusehen, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei, so sage ich wirklich nichts mehr als: wie sich verhält eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber, so die Sinnenwelt (oder alles das, was die Grundlage dieses Inbegriffs von Erscheinungen ausmacht) zu dem Unbekannten, das ich also hiedurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber doch nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Theil bin, erkenne” (Prolegomena §57, A 175, my emphases).
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the world” motivated by the will to truth. It belongs, rather, to the “realm of dangerous knowledge”, it is intended to remain open to question — open to critique and reinterpretation — but, more than that, it expresses what Nietzsche calls “a will to uncertainty”: by underlining the impossibility of a solution to the riddle of the world, it aims to make the “riddle” even more problematic, deeper. It fosters the sense of what Nietzsche calls in The Gay Science “the whole marvelous uncertainty and ambiguity of existence” (“[die] ganze[] wundervolle[] Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins”; GS 2/FW 2, KSA 3, p. 373). The “realm of dangerous knowledge” — the realm where the “free spirit” belongs — is one of “uncertainty” and “ambiguity”. In this realm, as Nietzsche claims in Book V of The Gay Science, “convictions have no right to citizenship” (GS 344); here, every hypothesis is just a “tentative experimental standpoint” (GS 344) — a standpoint that does not let the spirit rest in any “solutions” to the “riddle of the world”, but, on the contrary, liberates the spirit from the very need to rest on such “solutions”. Nietzschean hypotheses stem from different needs than Schopenhauer’s doctrines, and they foster needs and desires which are opposed to Schopenhauer’s philosophical pathos. The heuristic value of Nietzsche’s hypothesis of the will to power is therefore radically different from Schopenhauer’s metaphysics of the will. The kernel of Schopenhauer’s philosophy is a pessimistic negation of the value of life, the kernel of Nietzsche’s philosophy is perhaps the affirmation of life in the face of nihilism. We cannot understand this opposition — let alone evaluate it — if we do not try to make clear both Schopenhauer’s and Nietzsche’s conception of philosophy. In this paper, I tried to show that both conceptions have more in common than many assume.
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Vorspiel, Subversion und Schleife Nietzsches Inszenierung des ‚Willens zur Macht‘ in Jenseits von Gut und Böse1 Die Abgrenzung gegen Martin Heideggers Deutung des ‚Willens zur Macht‘ als Vollendung der abendländischen Subjektmetaphysik ist längst zu einem Gemeinplatz der internationalen Nietzscheforschung geworden. Vor allem im Umkreis des – wenigstens im anglophonen Bereich – zunehmend sakrosankten ‚naturalistischen‘ Nietzschebildes hat sich eine Deutung des Motivs etabliert, die jener Heideggers diametral entgegengesetzt zu sein scheint: Nicht um ein ‚metaphysisches‘ Prinzip soll es sich beim ‚Willen zur Macht‘ handeln, sondern um eine ‚naturalistische‘, wissenschaftlich fundierte oder zumindest fundierbare Hypothese; nicht um eine ‚metaphysische Entität‘, sondern um die Auflösung von Dingontologie und Substanzdenken im Konzept einer jegliche Entität erst konstituierenden Relationalität fluktuierender Machtquanten – eine visionäre Vorwegnahme unseres heutigen wissenschaftlichen Weltbilds also (so z. B. Welshon 2004, S. 159), entwickelt im Anschluss an Boscovichs Kritik am Atombegriff sowie unter Rückgriff auf eine ganze Reihe natur- oder wenigstens populärwissenschaftlicher Quellen.2 So diametral der Gegensatz dieser beiden Deutungsansätze auf inhaltlicher Ebene erscheinen mag, so sehr bleiben sie in methodischer und formaler Hinsicht verwandt: Methodisch stützen sich auch ‚naturalistische‘ Rekonstruktionen mangels ausreichend detaillierter Belegstellen im veröffentlichten Werk oft primär auf Nachlassmaterial. Formal wird der ‚Wille zur Macht‘ nach wie vor meist als Schlüsselbegriff eines traditionellen propositionalen Deskriptionsprojekts verstanden, d. h. als mehr oder weniger umfassend angelegter Versuch, eine tragfähige Theorie zur Beschreibung einzelner Wirklichkeitsbereiche oder auch der Realität im Ganzen zu entwickeln.3 Für diese naheliegende Annahme gibt es
1 Zur hier ausgeklammerten Methodenreflexion meiner Lektürestrategie vgl. Dellinger 2012c. 2 Siehe z. B. Moore 2002, S. 55: „The will to power is essentially a Bildungstrieb, and is, as it were, an amalgam of a number of competing non-Darwinian theories: Nägeli’s perfection principle, Roux’s concept of an internal struggle, and Rolph’s principle of insatiability.“ 3 Diese formale Gemeinsamkeit ist als solche unabhängig von der inhaltlichen Frage, ob das deskriptive Konzept von einem einheitlichen Prinzip oder einem pluralistischen Relationalismus ausgeht. Nietzsche selbst unterstreicht zwar in JGB 19 die Pluralität des ‚Willens‘, verwendet den Begriff ‚Wille zur Macht‘ in JGB allerdings ausschließlich im Singular und scheint der Betonung von Pluralität und Relationalität somit weit weniger Bedeutung beizumessen als viele Interpreten.
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freilich auch in JGB eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, und die Entschiedenheit, mit der sich Nietzsche hier erstmals in eigenem Namen über den ‚Willen zur Macht‘ äußert, scheint wenig Zweifel hinsichtlich der Vehemenz der mit dem Schlagwort verknüpften theoretischen Ansprüche zu lassen: „Leben selbst ist Wille zur Macht“ (JGB 13, KSA 5, S. 27) heißt es etwa, oder dass „Leben eben Wille zur Macht i s t “ und dies zwar „als Theorie eine Neuerung“ sei, als „Realität“ jedoch das „U r - F a k t u m aller Geschichte“ (JGB 259, KSA 5, S. 208). Der berühmte Schluss von JGB 36 schließlich fasst, wenn auch konjunktivisch, „[d]ie Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet“ als „Wille zur Macht“ (JGB 36, KSA 5, S. 55). Später wird in der Rede von „einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“ (JGB 186, KSA 5, S. 107) auch der Konjunktiv aufgegeben. Kurz: Nietzsche spricht sich in JGB wiederholt nachdrücklich thetisch über den ‚Willen zur Macht‘ als Grundzug des ‚Lebens‘ und der ‚Welt‘ aus und scheint dies, wie ein Blick ins Druckmanuskript zeigt, auch durchaus bewusst zu tun. Beispielsweise handelt es sich bei der ersten thetischen Identifikation mit allem Leben in JGB 13 um eine nachträgliche Einfügung und auch andere Korrekturen wie die Änderung von „Urfaktum“ auf „U r - F a k t u m aller Geschichte“ oder von „Wille zur Macht“ auf „geistigste[r] Wille zur Macht“ (JGB 9, KSA 5, S. 22) zeigen, dass Nietzsche die Inszenierung dieses infektiösen Schlagworts minutiös komponiert und bis zuletzt adjustiert hat. Dennoch bleiben die Charakterisierungen des Begriffs gerade angesichts dieser massiven Ansprüche und ihrer sorgfältigen Komposition relativ spärlich und vage.
Vorspiel Dass Nietzsche mit dem Begriff des ‚Willens zur Macht‘ einerseits so umfassende Erklärungsansprüche verbindet, andererseits jedoch weitestgehend auf nähere Erläuterungen oder gar Begründungen verzichtet, lässt sich durch den VorspielCharakter des Werks begreiflich machen: Als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“, so könnte man argumentieren, gibt JGB nur erste Hinweise hinsichtlich des Prinzips, auf dessen Grundlage eine solche Philosophie entfaltet werden soll – immerhin wird auf der Umschlagrückseite bereits ein Werk mit dem Titel „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werte“ als „[i]n Vorbereitung“ befindlich genannt.4
4 Vgl. die Erstausgabe Nietzsche 1886, frei zugänglich im Rahmen des „Monographien Digital“Angebots der Klassik Stiftung Weimar: http://ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry, besucht am 28.01.2013.
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Das Motiv des Vorspiels lässt sich jedoch nicht nur als vorbereitendes Präludium oder – wie man mit Blick auf die Vorrede geltend machen kann – im erotisch-sexuellen Sinne verstehen, sondern auch im Sinne eines Simulierens und Fingierens, Vorgebens und Vorgaukelns: ‚Jemandem etwas vorspielen‘ im Sinne von ‚jemandem etwas vormachen‘, womöglich gar im Sinne von ‚jemandem etwas vortäuschen‘. Freilich suggeriert das JGB durchziehende Pathos des Zukünftigen zunächst nicht, dass Nietzsche sein ‚Vorspiel‘ als trügerische simulatio5 verstanden wissen wollte, ja auf den ersten Blick scheint sich diese Bedeutungsdimension in seinem Sprachgebrauch gar nicht nachweisen zu lassen. Tatsächlich deutet sich diese Konnotation jedoch in einem berühmten, just um den Vorspiel-Charakter des geplanten ‚Hauptwerks‘6 selbst kreisenden Notat aus der Entstehungszeit von JGB wenigstens an: Unter dem „nicht ungefährlichen Titel ‚der Wille zur Macht‘“ solle „eine neue Philosophie oder, deutlicher geredet, der Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens, zum ersten Male zu Worte kommen: billigerweise nur vorläufig, nur vorbereitend, nur ‚vorspielend‘.“ (W I 7, S. 49) Der zunächst scheinbar klar im Sinne des Präludiums verwendete Ausdruck „vorspielend“ verschiebt sich durch die anschließende Assoziation mit Topoi wie Erziehung, Überredung, Verführung und Versuchung zusehends in die angedeutete Richtung: „Denn jeder Ph. muß insoweit Erzieher sein, daß er, bevor er zu überzeugen unternimmt, erst überredet haben muß; u allem Beweisen das Verführen, allem Befehlen das Versuchen“. Überdeutlich wird die Konnotation des praktisch motivierten Vortäuschens schließlich, wenn Nietzsche das Wort „Verführen“ durch „In-die Irreführen“ ersetzt (vgl. W I 7, S. 49, Z. 33–34; siehe Abb. 9a/b).
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Den nachdrücklich thetischen Äußerungen über den ‚Willen zur Macht‘ steht in JGB eine ganze Reihe potentieller Subversionen entgegen, die eine propositionale Deutung als theoretisch-deskriptives Philosophem im traditionellen Sinne frag-
5 Axel Pichler spricht von einer „virtuellen Ontologie des Willens zur Macht“, die zunächst „den Anspruch auf Gültigkeit simulieren“ müsse (Pichler 2010, S. 182). 6 Die Adelung des Projekts zum ‚Hauptwerk‘ erfolgte wohlgemerkt erst später (vgl. Röllin 2012, S. 113–121). 7 Der Ausdruck ‚Subversion‘ wird hier als Sammelbegriff für verschiedenste textuelle Elemente oder Konstellationen verwendet, die den thetisch-propositionalen Status des Motivs in Frage stellen oder unterminieren (vgl. Dellinger 2012c).
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würdig erscheinen lassen8 und es nahe legen, jene Thetik im Sinne eines exoterischen9 ‚Vorspiels‘ als bewusst simulierte ‚große Erzählung‘ zu begreifen. Grund zur Skepsis gegenüber propositionalen Deutungen gibt bereits die Vorrede mit ihrer Wendung gegen die „Dogmatiker“: Wenn „der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 11) sich als untaugliches Mittel erwiesen haben sollen, kann dies im Hinblick auf die betont thetischen, wenn man so will ‚zudringlichen‘ und ‚dogmatischen‘ Äußerungen über den ‚Willen zur Macht‘ durchaus stutzig machen. Könnte es sich nicht auch bei ihnen um „eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlichallzumenschlichen Thatsachen“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 12) handeln? Immerhin deutet Nietzsche mehrfach den ‚persönlichen‘ Charakter der Deutung von ‚Natur‘ und ‚Welt‘ als ‚Wille zur Macht‘ an und strapaziert im dergestalt mit der Vorrede eine Klammer bildenden Schlussaphorismus JGB 296 nochmals ausdrücklich den persönlich-individuellen Charakter seiner Gedanken, die zu dogmatischen ‚Wahrheiten‘ zu werden drohen. Auch wenn er von „Leidenschaften“ und „schlimmen Hänge[n]“ spricht, „so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten“ (JGB 198, KSA 5, S. 118), suggeriert das einschränkende „so fern“, dass
8 Vgl. zum Folgenden die für die Kritik propositionaler Deutungen maßgeblichen Beiträge von Maudemarie Clark 2000 und George Stack 2005, S. 693–711. Vor allem Clark bezieht die von ihr registrierten Subversionen allerdings ausschließlich auf die ‚ontologische‘ und ‚biologische‘, nicht aber auf die im Rahmen ihres ‚naturalistischen‘ Nietzschebildes unverdächtigere ‚psychologische‘ Dimension des Motivs. Eine solche Differenzierung lässt sich exegetisch kaum legitimieren, denn erstens entwickelt Nietzsche im veröffentlichten Werk auch keine wissenschaftlichpsychologische ‚Lehre‘ vom ‚Willen zur Macht‘ und zweitens scheint nicht absehbar, wie und warum sich diverse Subversionen auf bestimmte Erklärungsansprüche beschränken und von ‚psychologischen‘ Thesen fernhalten lassen sollten (vgl. Reginster 2006, S. 132 f. und Richardson 2000, S. 108 f.). Clark/Dudrick 2012 lag zum Zeitpunkt der Ausarbeitung dieses Beitrags noch nicht vor und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden. Die Darstellung ist jedoch von einer analogen Problematik geprägt, insofern die Autoren zwar weiterhin aufgrund der von ihnen registrierten Subversionen ‚ontologische‘ und ‚biologische‘ Deutungen zurückweisen, nun aber auch Passagen wie JGB 13, JGB 22 oder JGB 36 als Belege für die Kernthese ihrer ‚esoterischen‘ Interpretation verstehen, „that the will to power is Nietzsche’s theory of the soul“ (Clark/Dudrick 2012, S. 243). 9 Vgl. JGB 30 sowie das berühmte Notat 5[9] (N VII 3, S. 179), das zeigt, dass Nietzsches Skepsis gegenüber dem Begriff des ‚Willens‘ keineswegs nur traditionelle Willenskonzeptionen wie jene Schopenhauers, sondern ebenso jene des ‚Willens zur Macht‘ betrifft, die hier als ‚exoterisches‘ Vorspiel erscheint.
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es sich bei der Universalisierung des Begriffs zum Wesen des Lebens überhaupt um eine ‚verwegene Verallgemeinerung‘ handeln könnte.10 Das Leitmotiv des ersten Hauptstücks bildet ebenfalls einen subversiven Hintergrund, vor dem es wenig plausibel erscheint, den ‚Willen zur Macht‘ als lineare Fortsetzung des traditionellen Projekts philosophischer Wahrheitssuche mit modifizierten Leitbegriffen zu verstehen: Nietzsche spricht nicht nur ganz bestimmte Vorurteile an, die er augenscheinlich auszuräumen sucht (z. B. in JGB 2 oder JGB 19), sondern suggeriert zugleich eine gewisse grundsätzliche, womöglich unauflösliche Bindung philosophischen Denkens an ‚Vorurteile‘. So erklärt er im Hinblick auf „alle Philosophen“, dass ihre Einsichten nicht einer „kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik“ (JGB 5, KSA 5, S. 18 f.) entspringen, sondern vielmehr erst nachträglich argumentativ verteidigten Vorannahmen und Wünschen. Sie seien in diesem Sinne „allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie ‚Wahrheiten‘ taufen“ (JGB 5, KSA 5, S. 19). Der ausdrückliche Bezug auf „alle Philosophen“ legt die Frage nahe, ob nicht auch der Philosoph Nietzsche – und womöglich gerade im Hinblick auf das Philosophem des ‚Willens zur Macht‘ – in diesem Sinne ‚Advokat‘ sein könnte. Immerhin ist die beschriebene Alternative zu jenem unbewussten Advokatentum nicht, sich derlei Vorurteilen zu enthalten, sondern die „Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht“ sowie der „gut[e] Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Uebermuth und um ihrer selbst zu spotten.“ (JGB 5, KSA 5, S. 19) Das „eben dies“ lässt sich dabei durchaus wie eine reflexive Bestätigung verstehen, dass „dies“ auch für das hier Vorgetragene gilt. Aus dem eingangs genannten Reiz, „auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch zu blicken“, ergeht so die Forderung an die Philosophen, „ihrer selbst zu spotten“: Nietzsche schürt – wenigstens im Hinblick auf seine vermeintlichen „‚Wahrheiten‘“ und „eigentlichen Meinungen“ (JGB 5, KSA 5, S. 19)11, zu denen die markanten Thesen zum ‚Willen zur Macht‘ üblicherweise gezählt werden – Misstrauen gegen sich selbst. Das Motiv der Selbstverspottung wird indes bezeichnenderweise genau in JGB 8, also unmittelbar vor der ersten Nennung des ‚Willens zur Macht‘ in JGB 9, mit dem Bild des Philosophen als Esel auf der Bühne wieder aufgegriffen (vgl. Born 2012b). Jedenfalls geht die Aufklärungsambition in JGB 5 nicht auf Beseitigung, sondern
10 Vgl. dazu auch die Bezeichnung des ‚Willens zur Macht‘ als „Grundcharakterzug der Herrschenden“ (N VII 3, S. 19). 11 Zur Problematik der ‚eigentlichen Meinung‘ vgl. Dellinger 2012c.
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einzig auf ‚Bewusstmachung‘12 von ‚Vorurteilen‘: Der Gegensatz zu Kant und Spinoza, die Nietzsche im Anschluss nennt, dürfte demgemäß weniger darin bestehen, dass Nietzsche kein ‚Vorurteil‘ vertritt, sondern eher darin, dass er dies bewusst tut und seinen Leser – „Feind oder Freund“ – darauf aufmerksam zu machen versucht. Dies gilt es insbesondere dann zu bedenken, wenn Nietzsche den ‚Willen zur Macht‘ gegen Spinozas Selbsterhaltungsprinzip setzt, das sich einer „Inconsequenz“ (JGB 13, KSA 5, S. 28) verdanken und dahingehend eine Art ‚Vorurteil‘ darstellen soll. Der Gedanke der Rückbindung philosophischer Theoriebildung an persönliche Interessen und Dispositionen wird in JGB 6 aufgegriffen und vertieft: „[J]ede grosse Philosophie“ habe sich bisher als „Selbstbekenntnis ihres Urhebers“ erwiesen, zumal „die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten“ (JGB 6, KSA 5, S. 19 f.). Der Verweis auf „unmoralische“ Absichten scheint – trotz der anfänglichen, im weiteren Verlauf des Abschnitts weitgehend aufgegebenen Vergangenheitsform – einen reflexiven Rückschluss auf Nietzsches eigene Philosophie geradezu herauszufordern.13 Auch das später noch deutlicher werdende Wohlwollen für die „grosse Philosophie“, an der „ganz und gar nichts Unpersönliches“ sein soll, legt es nahe, den Satz „[M]an thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will e r —) hinaus?“ (JGB 6, KSA 5, S. 20) als implizite Aufforderung an den Leser zu verstehen, jene Frage auch im Hinblick auf das Motiv des ‚Willens zur Macht‘ aufzuwerfen, das in seinen Präsentationen als Essenz von ‚Welt‘ und ‚Leben‘ eine eben solche ‚metaphysische Behauptung‘ darstellen könnte. Illustrativ ist dahingehend die Funktion des Motivs in JGB 186, wo Nietzsche gegen Schopenhauers Grundsatz neminem laede betont, „wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“ (JGB 186, KSA 5, S. 107). Wie ein Blick ins Druckmanuskript zeigt, wurden sowohl das Wort „falsch“ als auch der Zusatz „in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist“ nachträglich eingefügt (vgl. D 18, Bl. 46r; siehe Abb. 16). Während Schopenhauers Grundsatz also zunächst bloß als „abgeschmackt“ und „sentimental“, d. h. mittels rein subjektiv-emotiver Beweggründe diffamiert wurde, erlaubt die Be
12 Dabei gilt es zu beachten, dass sich Nietzsches Bewusstmachungsambitionen vielfach weitaus komplexer konfigurieren als traditionelle Aufklärungsprojekte, insofern sie sich an das jeweils Bewusstzumachende rückgebunden erweisen und daher auch keine vollständige ‚Transparenz‘ mehr etablieren können (vgl. Dellinger 2012b). 13 Vgl. Born 2012a, S. 203 f. In einem späteren Nachlassnotat wird der ‚Wille zur Macht‘ als das „Absolut=Unmoralische“ (W II 1, S. 104, Z. 2–4) bezeichnet.
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stimmung der Essenz der Welt als ‚Wille zur Macht‘ die ‚objektiv‘ anmutende Zurückweisung als „falsch“ und legitimiert so einen entgegengesetzen moralischen Standpunkt: Der ‚Wille zur Macht‘ fungiert als nachträgliches (pseudo-) theoretisches Supplement einer konträren normativen Haltung und ist als solches nicht neutrales Fundament, sondern seinerseits schon Produkt von Nietzsches Gegen-Moral (vgl. Dellinger 2013). Auch hier wird also offenbar ein „Herzenswunsch […] mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt“ (JGB 5, KSA 5, S. 19). Dass es Nietzsche mit dem Motiv weniger um eine theoretische Innovation als um dessen praktisch gegen-moralische Funktion gehen könnte, legt schon folgende, die Wahrhaftigkeit der Sprecherinstanz massiv in Frage stellende Formulierung nahe: „Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist“ (JGB 4, KSA 5, S. 18). Das könnte freilich gerade für Urteile wie „Leben selbst ist Wille zur Macht“ (JGB 13, KSA 5, S. 27) gelten: Leben wesentlich als ‚Auslassen von Kraft‘ statt als Selbsterhaltung zu beurteilen, wäre demnach primär ein Mittel zur Förderung und Züchtung einer bestimmten ‚Art‘.14 Die Warnung „Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor ü b e r f l ü s s i g e n teleologischen Principien!“ scheint sich zunächst klar auf Spinozas „Selbsterhaltungstrieb“ zu beziehen, den Nietzsche ausdrücklich als Beispiel nennt und der nur „eine der indirekten und häufigsten F o l g e n “ des „Wille[ns] zur Macht“ sein soll (JGB 13, KSA 5, S. 27 f.). Sowohl der Einschub „Leben selbst ist Wille zur Macht“ als auch die Spezifikation „hier wie überall“ sowie der ausdrückliche Verweis auf Spinoza und die nachdrückliche Fokussierung auf das Beispiel vermittels der Worte „wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist“ wurden erst nachträglich ins Druckmanuskript eingefügt (vgl. D 18, Bl. 10r; siehe Abb. 12). Durch die namentliche Nennung des ‚Willens zur Macht‘, auf den aufgrund der gebotenen „Principien-Sparsamkeit“ die „Selbsterhaltung“ reduziert werden soll und der somit selbst als ‚Princip‘ erscheint, lässt sich die Forderung nach „Vorsicht“ potentiell auch auf ihn beziehen (JGB 13, KSA 5, S. 27 f.). Das eingefügte „hier“ kann nicht
14 In einem Nachlassnotat nennt Nietzsche als einen Punkt der „Umwerthung aller Werthe“, die als „Mittel“ bezeichnet wird, um den „schwerste[n] Gedanken“ zu ertragen: „nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht“ (NL 1884, KSA 11, 26 [284]). Da die „neue Sprache“ ausdrücklich über die „Falschheit“ von Urteilen hinwegsehen soll, wirkt es unplausibel, von einer Kompatibilität der persönlich-normativen Färbung des Motivs mit ‚naturalistischen‘ Wahrheitsansprüchen auszugehen (wie z. B. Schacht 2000 und Anderson 2012). Bezeichnenderweise plädiert Nietzsche kurz vor der Präsentation des ‚Willens zur Macht‘ in JGB 36 analog zu JGB 4 nochmals für eine Aufwertung von „Betrügen und Betrogenwerden“ sowie des „Schein[s]“ gegenüber der „Wahrheit“ (JGB 34, KSA 5, S. 53).
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nur als nachdrücklicher Hinweis auf das (ohnehin präsente) Thema der Selbsterhaltung, sondern auch als Reflexion auf das Argumentationsgeschehen des Textes verstanden werden. Auch die Ergänzung „wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist“ lässt nicht nur Raum für andere Beispiele überflüssiger teleologischer Prinzipien, sondern erzeugt durch die abermalige Betonung des ohnehin evidenten Bezugs auf das Beispiel der Selbsterhaltung einen nahezu gegenteiligen Effekt. Wie Andreas Rupschus und Werner Stegmaier nachgewiesen haben, übernimmt Nietzsche den Inkonsequenz-Vorwurf von Adolf Trendelenburg, demzufolge Spinzoas conatus als positiv formuliertes Streben nach Erhaltung entgegen dessen Anspruch selbst noch ‚teleologisch‘ verfasst ist (vgl. Rupschus/Stegmaier 2009). Legt man diese Bedeutung von ‚teleologisch‘ an, könnte jedoch auch die These „Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft a u s l a s s e n“ (JGB 13, KSA 5, S. 27) als ‚teleologisch‘ verstanden werden. Eben dies scheinen auch die Identifikation des ‚Willens zur Macht‘ als gegenüber dem Selbsterhaltungstrieb grundlegenderes Prinzip sowie die Betonung in der Warnung vor „ü b e r f l ü s s i g e n teleologischen Prinzipien“ nahezulegen. ‚Überflüssig‘ dürfte er der Argumentationslogik von JGB 13 zufolge allerdings erst werden, wenn er sich seinerseits als bloße Folge eines noch umfassenderen Prinzips erwiese. Doch vielleicht ist weniger der Status des Motivs innerhalb dieser Argumentationslogik fragwürdig als diese selbst. Der sie explizierende Schlusssatz – „So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.“ (JGB 13, KSA 5, S. 28) – wirkt irritierend: Von der hier wie selbstverständlich im bestimmten Singular zitierten „Methode“ war bisher keine Rede und die Berufung auf Ockhams Rasiermesser als für die neuzeitliche Wissenschaftsgeschichte paradigmatisches Methodenideal wirkt im Kontext des im ersten Hauptstück entfesselten Misstrauens gegen traditionelle Verfahren und Selbstverständnisse von Philosophie und Wissenschaft auffällig unkritisch-konservativ. Warum sollte ein Sprecher, der sich einer „neue[n] Sprache“ bedient, die „Unwahrheit als Lebensbedingung“ zugesteht und „sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse [stellt]“ (JGB 4, KSA 5, S. 18), noch das tun, was ‚die Methode‘ gebietet? Warum ‚muss‘ diese für ihn noch ‚Principien-Sparsamkeit‘ sein? Dass dieses Methodengebot kontextuell problematisch ist, zeigt auch die neuerliche Berufung auf die Prinzipiensparsamkeit in JGB 36: Nach der Frage, ob „es nicht erlaubt“ sei, „auch die sogenannte mechanistische (oder ‚materielle‘) Welt“ als „eine V o r f o r m des Lebens“ qua ‚Wille zur Macht‘ zu verstehen, erklärt Nietzsche, es sei „nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen“, sondern „vom Gewissen der M e t h o d e aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist (— bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen)“. Dies
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sei „eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf“ (JGB 36, KSA 5, S. 55). Durch die Assoziation der „Methode“ mit dem Begriff der Moral und der Beteuerung, dass „man“ sich ihr nicht entziehen dürfe, wird die Berufung auf sie im Kontext einer umfassenden Skepsis gegen „m o r a l i s c h e Naivetät“ (JGB 34, KSA 5, S. 53) und „moralische[] Vorurtheile“ (JGB 23, KSA 5, S. 38) zutiefst fragwürdig. Die erst ins Druckmanuskript eingefügte Klammerbemerkung, dass jene Methode „bis zum Unsinn“ getrieben werden müsse (vgl. D 18, Bl. 22r.; siehe Abb. 15), macht schließlich überdeutlich, dass im Hinblick auf die sowohl in JGB 13 als auch in JGB 36 zum Motiv des ‚Willens zur Macht‘ führende reduktionistische Methode Vorsicht geboten ist. Weitere wichtige Subversionen bergen die zentrale Einführung des ‚Willens zur Macht‘ in JGB 22 sowie der weniger beachtete Zusammenhang mit JGB 21. Nietzsche erklärt in JGB 21 im Anschluss an die Zurückweisung der Begriffe des „freie[n]“ und des „unfreien Willen[s]“ zunächst, dass „w i r “ traditionelle philosophische Grundbegriffe wie „die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben“ und es, „wenn wir diese Zeichen-Welt als ‚an sich‘ in die Dinge hineindichten, hineinmischen […] m yt h o l o g i s c h [treiben]“ (JGB 21, KSA 5, S. 35 f.). Diese projektionstheoretische Einklammerung traditioneller Termini kontrastiert Nietzsche postwendend mit einer nachdrücklich thetischen Setzung alternativer Leitkategorien, die im Anschluss eigentümlich grob, ja nahezu naiv wirkt: „Der ‚unfreie Wille‘ ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um s t a r k e n und s c h w a c h e n Willen.“ (JGB 21, KSA 5, S. 36) Treibt es Nietzsche hier womöglich selbst „m y t h o l o g i s c h “, wenn er den „s t a r k e n und s c h w a c h e n Willen“ als „an sich“ des „wirklichen Leben[s]“ zu setzen scheint? Der nachfolgende Gedankenstrich gibt Raum für solche Reflexionen und die anschließende Aufnahme des Motivs der Bindung von Philosophie und Person könnte ebenfalls dafür sprechen: Auch die Betonung der Differenz von starkem und schwachem Willen wäre dem Leitmotiv des ersten Hauptstücks entsprechend als „Symptom“ zu begreifen, durch das sich „die Person verräth“ (JGB 21, KSA 5, S. 36). Wenn Nietzsche in weiterer Folge erklärt, dass „von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief p e r s ö n l i c h e Weise die ‚Unfreiheit des Willens‘ als Problem gefasst [wird]“ (JGB 21, KSA 5, S. 36), so ist dies von zentraler Bedeutung für JGB 22, wo der Gegensatz zweier unterschiedlicher Interpretationen davon, dass die Welt „einen ‚nothwendigen‘ und ‚berechenbaren‘ Verlauf habe“ (JGB 22, KSA 5, S. 37) neuerlich auftritt. Nietzsche differenziert in JGB 21 zwischen der Perspektive der „eitlen Rassen“, die „um keinen Preis ihre ‚Verantwortlichkeit‘, den Glauben an s i c h , das persönliche Anrecht auf i h r Verdienst fahren lassen“, ihre Determiniertheit also gleichsam als notwendige Auszeichnung verstehen, und dem durch „socialistische[s] Mit
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leiden“ verkleideten „Fatalismus der Willensschwachen“, die „nichts verantworten, an nichts schuld sein [wollen] und verlangen, aus einer innerlichen SelbstVerachtung heraus, sich selbst irgend wohin a b wä l z e n zu können“ (JGB 21, KSA 5, S. 36). Während letztere den ‚schwachen Willen‘ repräsentieren, kann die Deutungsweise der ‚eitlen Rassen‘ dem ‚starken Willen‘ zugerechnet werden.15 Eben dieser Gegensatz spiegelt sich in JGB 22 im Gegensatz zwischen der Interpretationsweise der „Physiker“, die mit ihrer Rede von der „‚Gesetzmässigkeit der Natur‘“ „den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegen[kommen]“ und deren „pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche“ auf die Devise „‚Ni dieu, ni maître‘“ gebracht wird, auf der einen und der von einem – gemeinhin mit Nietzsche identifizierten – „Jemand“ bezogenen Gegenposition auf der anderen Seite, welche die „tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen“ betont und den „‚nothwendigen‘“ Verlauf der Welt dahingehend erklärt, dass „jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht“ (JGB 22, KSA 5, S. 37). Der in JGB 21 eröffnete reflexive Hintergrund legt nicht nur nahe, diese gegensätzlichen Interpretationen jeweils für sich als ‚Symptome‘ von ‚starkem‘ und ‚schwachem‘ Willen zu begreifen, sondern auch die Gegensatzkonstruktion als solche erscheint von JGB 21 her projektionsskeptisch gebrochen und in die kaum mehr kontrollierbare Dynamik der Symptomatisierung von Denkmustern verstrickt: Auch bei der Konstruktion dieses Gegensatzes und der diagnostischen Deutung seiner Pole könnte es sich um ein ‚die Person‘ und ihre praktischnormativen Interessen verratendes Symptom handeln – und in der Tat kommt dem Gegensatz von Stärke und Schwäche bzw. der vielfach analogen Dichotomie von Krankheit und Gesundheit in Nietzsches gegen-moralischem Programm eine strategische Schlüsselrolle zu.16
15 Sowohl der Einschub „(die eitlen Rassen gehören dahin —)“ als auch die Qualifikation des Mitleidens als „socialistisch“, die den evaluativen Hintergrund des Gegensatzes betonen und die Verknüpfung zu JGB 22 verstärken, stellen nachträgliche Einfügungen ins Druckmanuskript dar (vgl. D 18, Bl. 14r.; siehe Abb. 13). 16 Vgl. JGB 202, wo über die Losung „ni dieu ni maître“ als „socialistische Formel“ ein ausdrücklicher Rückbezug zu JGB 21/22 hergestellt wird und Nietzsche gegen die demokratische „H e e r d e n t h i e r - M o r a l“ und ihren „zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes SonderRecht und Vorrecht“ sowie ihre Glorifikation des „Mitleidens“ die Möglichkeit anderer, „h ö h e r e [ r ] Moralen“ (JGB 202, KSA 5, S. 124 f.) beschwört. Das anschließende Bekenntnis zur Hoffnung auf „n e u e [ ] P h i l o s o p h e n, […] stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und ‚ewige Werthe‘ umzuwerthen, umzukehren“, die sich gegen die „Verkleinerungs-Form des Menschen“, „seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) wenden, zeigt deutlich, wie Nietzsche den JGB21/22 durchziehenden Gegensatz für sein gegen-moralisches Projekt mobilisiert.
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Dass die beiden in JGB 22 kontrastierten Interpretationen jeweils für sich als ‚Symptome‘ und somit nicht als neutrale deskriptive Propositionen, sondern als normative Interessen und persönliche Dispositionen verratende ‚Vorurteile‘ zu lesen sind, lässt sich auch durch die dortige Konnotation des Interpretationsbegriffs demonstrieren. Die Kennzeichnung des ‚Willens zur Macht‘ als „Interpretation“ (JGB 22, KSA 5, S. 37) wird im Kontext ‚naturalistischer‘ Lesarten vielfach dahingehend gedeutet, dass sich Nietzsche damit auf einen moderat-fallibilistischen, nicht mehr dogmatisch-metapyhsischen, sondern hypothetisch-empirischen Anspruch beschränkt. Doch dieses Verständnis von ‚Interpretation‘ im Sinne einer wissenschaftlich-nüchternen Hypothetizität stünde nicht nur in offensichtlicher Spannung zu den nachdrücklich thetischen, metaphysisch anmutenden Qualifikationen des ‚Willens zur Mach‘ als ‚Wesen‘ des Lebens und ‚Essenz‘ der Welt, sondern ebenso zu den Konnotationen, die der Interpretationsbegriff in JGB 22 selbst erfährt. Zwar beanstandet Nietzsche zunächst als „alte[r] Philologe“ die „schlechte[n] Interpretations-Künste“ der „Physiker“ und geißelt ihre Interpretation als den „demokratischen Instinkten“ verpflichtete „naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung“ (JGB 22, KSA 5, S. 37). Doch der Vorwurf der ‚schlechten‘ Philologie scheint nicht eigentlich durch inhaltliche Korrekturen, sondern einzig durch das formale Argument der Verwechslung von „Thatbestand“ bzw. „Text“ und „Interpretation“ begründet zu werden (JGB 22, KSA 5, S. 37).17 Analog zur Vorurteilsmotivik scheint Nietzsches Anspruch also weniger im Verzicht auf normative „Hintergedank[en]“ und eine durch sie geleitete interpretative Gewaltsamkeit als in deren bewusstem, freilich inhaltlich konträr orientiertem Vollzug zu liegen (vgl. Burnham 2007, S. 41 f.). Gegenüber der „pöbelmännische[n] Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche“ mit der „entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst“ (JGB 22, KSA 5, S. 37) aufzutreten, könnte also bedeuten, sich die ‚Natur‘ genau umgekehrt zurechtzumachen, nämlich so, dass das „Bevorrechtete und Selbstherrliche“ glorifiziert wird – und eben dies scheint der Fall zu sein, wenn sie mit einer offen zur Schau gestellten polemischen Feindschaft gegen alles ‚Demokratische‘ nicht als Ideal von Gleichheit und Gesetzestreue, sondern als Kampfplatz unerbittlicher Machtansprüche begriffen wird. Auch hier zeigt ein Blick ins Druckmanuskript, dass Nietzsche diese Konnotation des Interpretationsbegriffs gezielt akzentuiert: War zunächst nur von einer „entgegengesetzten Interpretationskunst“ die Rede, was die Möglichkeit einer
17 Bereits in einer Vorstufe (W I 7, S. 44) hatte Nietzsche „falsche Interpretationskünste“ durch „schlechte Interpretationskünste“ ersetzt und so der Assoziation eines ‚wahren‘ Korrektivs vorgebeugt.
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von ‚Hintergedanken‘ befreiten, dem Text angemesseneren Interpretation offen ließe, wird durch die Abänderung auf „entgegengesetzte[] Absicht und Interpretationskunst“ pointiert deren normative Interessiertheit unterstrichen (vgl. D 18, Bl. 14r.; siehe Abb. 13).18 Auch in und um JGB 36 lässt sich eine ganze Reihe an Indizien dafür festmachen, Nietzsches offensive Thesen im Sinne eines simulativen ‚Vorspiels‘ zu begreifen: Flankiert wird der lange Aphorismus von zwei kurzen Texten, deren burlesker Ton einen markanten Kontrast zur vergleichsweise ‚akademischen‘ Argumentation von JGB 36 bildet. Inhaltlich lässt es der Spott auf die voltairsche Aufklärung und das „S u c h e n der Wahrheit“ (JGB 35, KSA 5, S. 54) unwahrscheinlich erscheinen, dass Nietzsche in JGB 36 Aufklärung im Hinblick auf die wahre Verfassung der Welt zu betreiben versucht. Zwar kann man die Wette, dass der Mensch dabei nichts fände, auch exklusiv auf die Einschränkung „wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt“, nämlich gemäß dem voltairschen „‚il ne cherche le vrai que pour faire le bien‘“ (JGB 35, KSA 5, S. 54) beziehen (vgl. Burnham 2007, S. 61), sodass der ‚Wille zur Macht‘ als un-menschliche, un-moralische ‚Wahrheit‘ erscheint (vgl. Lampert 2001, S. 83 f.). Eben diesem Schluss scheint jedoch JGB 37 vorzubeugen, denn nachdem in der an die Setzung des ‚Willens zur Macht‘ am Schluss von JGB 36 anschließenden Frage „Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht —?“ (JGB 37, KSA 5, S. 56), neuerlich eine Verknüpfung theoretischer Fragen mit den moralisch konnotierten Begriffen von Gott und Teufel auftritt, heißt es: „Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde! Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden! —“ (JGB 37, KSA 5, S. 56) Was auch immer genau das „Gegentheil“ davon sein sollte, dass „Gott“ oder die göttlich-moralische Wahrheit widerlegt ist, der „Teufel“ oder die teuflisch-unmoralische Wahrheit jedoch nicht – jedenfalls scheint damit impliziert, dass die „teuflische“ Wahrheit ebenfalls als ‚widerlegt‘ betrachtet werden soll.19 Wenn nun, wie in JGB 18 betont wird, die Widerleg
18 In einem teilweise in JGB 44 aufgegriffenen Notat spricht Nietzsche von einer „Moral mit […] umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Große {Hohe}, statt ins Bequeme {u. Mittlere}, züchten will“ (W I 6, S. 41, Z. 44–46), und betont, „daß dazu aber viele Übergangs und Täuschungsmittel zu erfinden sind“ (W I 6, S. 43, Z. 4–6). 19 In VM hatte Nietzsche gegen Schopenhauer betont, dass der „Wille zu einer poetischen Metapher gemacht [ist], wenn behauptet wird, alle Dinge in der Natur hätten Willen“, und dies „so viel bedeutet als ob man durchaus den d u m m e n T e u f e l zum Gotte haben wolle.“ (VM 5, KSA 2, 382 f.) Vor diesem Hintergrund lässt sich JGB 37 auch als Beispiel dafür lesen, dass Nietzsche den ‚Willen zur Macht‘ durch im Kontext seiner Schopenhauer-Kritik irritierende Reminiszenzen fragwürdig macht. Vgl. Porter 2006, S. 554: „Nietzsche’s counter-claim, held against his metaphysical opponent, that ‚life simply is will to power‘ […], could be paraphrased without loss of meaning as ‚all that has being is only a willing‘ which is the very mythology he would oppose […].
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barkeit zum Reiz einer Theorie gehören kann, könnte dies durchaus auch für eine etwaige theoretische Ausbuchstabierung der ‚teuflischen Wahrheit‘ gelten, als die JGB 36 so oft verstanden wurde.20 Ebenso wie die ‚göttliche‘ Wahrheit in ihrer Assoziation mit der Aufklärungs-Moral des Guten problematisiert wird, ließe sich auch die ‚teuflische‘ Wahrheit des ‚Willens zur Macht‘ als Komplement einer antagonistischen Gegen-Moral dechiffrieren: Die ‚populäre‘ Redeweise könnte somit als eine solche verstanden werden, die die Problematik der Bindung jener ‚Wahrheiten‘ an normative Interessen noch nicht durchschaut hat, also gleichsam naiv an deren Kompatibilität und somit an ‚moralische Vorurteile‘ glaubt. Auch JGB 38 birgt nochmals einen potentiell subversiven Rückbezug auf JGB 36: Die französische Revolution fungiert in diesem Text nur als Beispiel dafür, dass „Zuschauer […] ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, b i s d e r T e x t u n t e r d e r I n t e r p r e t a t i o n v e r s c h w a n d “, und dass „eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen [könnte].“ (JGB 38, KSA 5, S. 56) Das lässt sich auch auf JGB 36 beziehen, wo Nietzsche „die sogenannte mechanistische (oder ‚materielle‘) Welt […] als eine V o r f o r m des Lebens“ (JGB 36, KSA 5, S. 54 f.) zu begreifen versucht und sich damit der „Analogie des M[enschen] zu Ende“ (W I 4, S. 26, Z. 16) bedient. Die Dichotomie von Text und Interpretation ist noch von JGB 22 her mit dem Motiv des ‚Willens zur Macht‘ verknüpft und den Schluss, dass die Welt „eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem [wäre]“ (JGB 36, KSA 5, S. 55), kann man in der Tat dahingehend verstehen, dass hier der Text unter der Interpretation verschwindet, insofern die Interpretation nunmehr mit der vorgespielten Prätention auftritt, mehr als bloß Interpretation zu sein (vgl. Endres/Pichler 2012).21 Der Schluss von JGB 38 reflektiert diese Konstellation auf ein „wir“, das eigentümlich vage bleibt: „— Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen? waren wir nicht selbst — diese ‚edle
It has been suggested that the word ‚will‘, presumably taken over from Schopenhauer, was not well chosen, because it carries suggestions which were unintended […]. We are right to feel uneasy with the term but wrong to rule out that Nietzsche’s aim was, precisely, to create this sense of unease“. Zur Deutung des ‚Willens zur Macht‘ als normativ motiviertes Gegenprogramm zu Schopenhauers Willenskonzeption sowie weiteren Literaturhinweisen siehe Dellinger 2013 sowie den Beitrag von João Constâncio im vorliegenden Band. 20 „An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an.“ (JGB 18, KSA 5, 31) Als Leser kann man sich damit regelrecht herausgefordert sehen, sich im Hinblick auf die ‚Theorie‘ des ‚Willens zur Macht‘ als ‚feinerer Kopf‘ zu erweisen. 21 Dabei gilt es zu beachten, dass für Nietzsche als Philologen auch der ‚Text‘ nichts unproblematisch Gegebenes, sondern bereits ein, wenn auch philologisch kontrolliertes, Konstrukt darstellt. Vgl. Benne 2005, S. 14 f.
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Nachwelt‘? Und ist es nicht gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, — damit vorbei?“ (JGB 38, KSA 5, S. 56) Das „[J]etzt“ des Begreifens, mit dem das ‚Vorspiel‘ als solches durchschaut wäre, könnte sich somit auch im hic et nunc der reflexiven Lektüre ereignen. Auch JGB 36 selbst birgt eine ganze Reihe potentieller Subversionen: Obwohl es sich um die ausführlichste explizite Diskussion des Motivs in JGB handelt, formuliert Nietzsche hier nicht thetisch, sondern präsentiert eine einzige hypothetische Konjunktivkette (vgl. z. B. van Tongeren 2000, S. 157 f.). Die Betonung, dass es sich beim ‚Willen zur Macht‘ um ‚seinen‘ Satz handelt, lässt sich nicht nur als thetische Durchbrechung des hypothetischen Tons deuten (so z. B. Schacht 2000, S. 86), sondern auch als neuerliche Rückbindung des Konzepts an die Autorpersönlichkeit im Sinne des in JGB 5 und 6 entwickelten Grundmotivs (vgl. van Tongeren 2000, S. 167). Auffällig erscheint ferner, dass Nietzsche mit Begriffen und Prämissen operiert, die er anderorts massiv problematisiert, wie z. B. mit dem Glauben an die Willenskausalität, gegenüber dem zuvor noch skeptische Zurückhaltung suggeriert wurde – „Warum glaube ich an Ursache und Wirkung?“ (JGB 16, KSA 5, S. 30) – und der in JGB 21 als ‚Mythologie‘ erscheint (vgl. auch die diesbezügliche Reflexion in der Vorstufe W I 7, S. 57). Beachtenswert ist nicht zuletzt, dass diverse operative Leitbegriffe teilweise unter Anführungszeichen stehen (vgl. van Tongeren 2000, S. 168 f.): Beispielsweise setzt Nietzsche im ersten Satz „gegeben“ und „Realität“ in Anführungszeichen, beruft sich dann jedoch auf die „Realität unsrer Triebe“ und geht in seiner weiteren Argumentation von deren Gegebenheit („dies Gegeben“) aus (JGB 36, KSA 5, S. 54). Nach der Frage, „ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen“ – auch die Alliteration und die auffällige Wortwiederholung „wirklich“/„wirkend“ könnten Reflexionssignale darstellen (vgl. deren gezielte Konstruktion durch die Setzung von „wirkend“ statt „bewegend“ in W I 7, S. 57, Z. 19–20) – und der Forderung, „die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen“, werden zunächst der „Wille“ und dann die „Wirkungen“ in Anführungszeichen gesetzt, nur um gleich anschließend wieder ohne Gänsefüßchen aufzutreten. Diese Uneinheitlichkeit führt zu einer verunsichernden Distanzierung der gesamten argumentativen Begrifflichkeit. Auch der „Wille zur Macht“ selbst wird zunächst ohne Anführungszeichen als „m e i n Satz“ (JGB 36, KSA 5, S. 55) eingeführt, dann gesperrt gesetzt und erst im Schlusssatz mit Gänsefüßchen versehen, sodass die terminologische Fixierung nochmals ausdrücklich als solche markiert wird. Bemerkenswert ist auch die Textgenese (vgl. Endres/Pichler 2013): In einem frühen Notat taucht der Begriff des ‚Willens zur Macht‘ noch gar nicht auf, wohl aber die – auch noch in der späteren, über WM berühmt gewordenen Version erhaltene – markante Subversion zu Beginn: „Und wißt ihr auch, was mir die
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Welt ist? Soll ich sie euch im Spiegel zeigen?“ (W I 3, S. 94) In der späteren (als NF 1885, KSA 11, 38[12] aufgenommenen und oft etwas irreführend als ‚Vorstufe‘ zu JGB 36 bezeichneten) Version setzt Nietzsche „die Welt“ unter Anführungszeichen und spricht dezidiert von „meinem Spiegel“: Jene Weltbeschreibung, die er erst in der Überarbeitung des Diktats an Louise Röder-Wiederhold mit dem Begriff des ‚Willens zur Macht‘ verknüpft (vgl. Röllin 2012, S. 119), scheint für ihn von Anfang an eine sehr persönliche und keineswegs neutral-deskriptive Perspektive zu sein: „[W]er hat sie gleich mir diese Welt der großen Wollüste der Zeugung u. des Todes“ (W I 3, S. 94), hieß es in der ersten Niederschrift, der Schluss des Diktats verdeutlicht nochmals die normative Dimension jener Weltdeutung: „Wißt ihr nun, was mir die Welt ist? Und was ich will, wenn ich diese Welt — will? — —“ (KGW VII, Bd. 4/2, S. 472)22.
Schleife Gemäß der durch die Subversionen als solche offenkundig werdenden interpretativen Gewaltsamkeit und normativen Interessiertheit der Deutung von ‚Leben‘ und ‚Welt‘ als ‚Wille zur Macht‘ lässt sich die Inszenierung des Motivs in JGB auch als Inszenierung des ‚Willens zur Macht‘ im doppelten Sinne verstehen: Das Motiv des ‚Willens zur Macht‘ ist wesentlich selbstbezüglich, insofern es selbst als Produkt eines ‚Willens zur Macht‘ verstanden werden kann und dergestalt eine seltsame Schleife mit verwickelter Hierarchie bildet.23 Noch bevor das Motiv des ‚Willens zur Macht‘ in JGB 13 als philosophisches ‚Theorem‘ zur Bestimmung von ‚Leben‘ eingeführt wird, tritt es in JGB 9 als Charakterisierung der Philosophie selbst auf. Nietzsche überträgt den Vorwurf gegen die Stoiker, ihr moralisches Ideal in die „Natur“ hineinzudeuten, zunächst auf alle Philosophie, die „anfängt, an sich selbst zu glauben“, und schließlich auf jegliche Philosophie: „Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ‚Schaffung der Welt‘, zur causa prima.“ (JGB 9, KSA 5, S. 22) Dass sich eine Vielzahl der diskutierten Subversionen als Hinweise darauf verstehen lassen, dass Nietzsche mit der ‚Theorie‘ des ‚Willens zur Macht‘ die ‚Welt nach seinem
22 Vgl. die Transkription von Röllin durch die auch erstmals sichtbar wird, dass das anschließende Diktat um das Motiv des Philosophen als Gesetzgeber kreist und teilweise für JGB 211 aufgegriffen wurde (Röllin 2012, S. 215). JGB 36 und 211 hängen in dieser Hinsicht auch textgenetisch zusammen. 23 Zum Begriff der seltsamen Schleife mit verwickelter Hierarchie siehe Hofstadter 1985, insbesondere die Explikation anhand von M.C. Eschers berühmter Lithographie Zeichnen.
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Bilde‘ schafft, sollte nun keiner ausführlicheren Erläuterung mehr bedürfen: Insbesondere die zentralen Darstellungen in JGB 22 und JGB 36 lassen sich als distinkt ‚persönliche‘ Weltdeutung begreifen, mit der Nietzsche wie die Stoiker in JGB 9 der „Natur“ sein gegen-moralisches Ideal „vorschreiben und einverleiben“ will (JGB 9, KSA 5, S. 22). Indem JGB 9 eben diesen präskriptiven Vollzug des Philosophierens seinerseits als Vollzug des ‚Willens zur Macht‘ lesbar macht, etabliert sich zwischen dem dargestellten Objekt und dem Vollzug der Darstellung eine deren gewöhnliche Hierarchisierung durchbrechende Schleifenstruktur. Sowohl JGB 13 (mit der Rückführung des Selbsterhaltungstriebs auf den ‚Willen zur Macht‘) als auch JGB 36 zeigen überdies die in JGB 9 genannte Tendenz zur causa prima, z. B. wenn es heißt, dass man „alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung — es ist Ein Problem — fände“ sowie dass „alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen [wäre] als: W i l l e z u r M a c h t “ (JGB 36, KSA 5, S. 55). Wenn Nietzsche im Hinblick auf die „Grundtriebe des Menschen“ erklärt, „dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben“ und „jeder Einzelne von ihnen gerade s i c h gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten H e r r n aller übrigen Triebe darstellen möchte“ (JGB 6, KSA 5, S. 20), so lässt sich dies ebenfalls auf die Reduktion des Selbsterhaltungstriebs (vgl. JGB 13, KSA 5, S. 27) bzw. sämtlicher anderer Triebe (vgl. JGB 36, KSA 5, S. 54) auf den ‚Willen zur Macht‘ beziehen: Die Ambition, „unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären“ (JGB 36, KSA 5, S. 55) wird vor diesem Hintergrund als Versuch des ‚Willens zur Macht‘ lesbar, sich selbst als primordialer Grundtrieb und Herr aller übrigen Triebe darzustellen. Analog dazu kann auch die in JGB 22 ‚mit der entgegengesetzten Absicht‘ vollzogene interpretative ‚Zurechtmachung‘ als Vollzug eines ‚Willens zur Macht‘ gelesen werden, der sich gegen den konkurrierenden Machtwillen der ‚Physiker‘ durchzusetzen versucht (vgl. van Tongeren 2000, S. 166). Nochmals aufgegriffen wird die zur Etablierung der Schleifenstruktur führende Beschreibung von Philosophie als ‚Wille zur Macht‘ am Schluss von JGB 211: „D i e e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n a b e r s i n d B e f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r […]. Ihr ‚Erkennen‘ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist — W i l l e z u r M a c h t.“ (JGB 211, KSA 5, S. 145) Gesetzt, dass Nietzsche trotz der den Aphorismus beschließenden Fragen nicht unter die „philosophischen Arbeiter“, sondern unter die „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n “ gerechnet werden soll, dann wäre seine Weltdeutung wesentlich präskriptive ‚Gesetzgebung‘ statt neutral-deskriptive Theorie und das zum Motiv des ‚Willens zur Macht‘ führende „‚Erkennen‘“ müsste unter Anführungszeichen
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gesetzt werden, zumal sein scheinbar schonungslos-redlicher „Wille zur Wahrheit“ tatsächlich selbst „Wille zur Macht“, d. h. analog zu dessen Charakterisierung in JGB 9 eine tyrannisch-gewaltsame Deutung der ‚Welt nach seinem Bilde‘ ist. Illustrieren lässt sich diese Komponente der Selbstbezüglichkeit des ‚Willens zur Macht‘ auch anhand von JGB 230, wo der Begriff zwar nicht expressis verbis auftaucht, aber durch den im Nachlass ausdrücklich assoziierten Topos des homo natura (vgl. W I 8, S. 85) sowie bei der Beschreibung des „Grundwillen[s] des Geistes“ als „[d]as befehlerische Etwas“, das „in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen [will]“ (JGB 230, KSA 5, S. 167) offensichtlich im Hintergrund steht: Dieser habe „den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen“ und „[s]eine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen“, wobei das Ziel jeweils das „Gefühl der vermehrten Kraft“ sei (JGB 230, KSA 5, S. 167). Der in JGB 229 auftretende ‚Erkennende‘ erscheint zunächst als Gegensatz zu jenem „Grundwillen“: „D i e s e m Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche — denn jede Oberfläche ist ein Mantel — wirkt jener sublime Hang des Erkennenden e n t g e g e n, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen w i l l“ (JGB 230, KSA 5, S. 168). Schon bei seiner Einführung wirkt dieser Gegensatz jedoch eigentümlich ambig, das hervorgehobene „Diesem“ kann nicht nur – wie der Schluss von JGB 229 suggeriert – auf den „Grundwillen“ als solchen, sondern auch exklusiv auf den zuletzt beschriebenen „gelegentliche[n] Wille[n] des Geistes, sich täuschen zu lassen“ bezogen werden. Im letzteren Fall könnte es sich auch beim „ErkennenWollen“ (JGB 229, KSA 5, S. 167) um ein Wollen im Sinne des „Grundwillens des Geistes“ handeln – auch als Wille, sich nicht täuschen zu lassen, wäre das „Erkennen“ somit JGB 211 gemäß unter Anführungszeichen zu setzen und als Vollzug des ‚Willens zur Macht‘ zu begreifen.24 Für diese Lektüreoption könnte auch sprechen, dass sich die erste Forderung des Rückgangs auf den „schreckliche[n] Grundtext homo natura“ nicht auf den Menschen als Thema der Philosophie, sondern auf deren Vollzug bezieht: Wieder zu entdecken sei der „Grundtext“ unter der „schmeichlerischen Farbe und Übermalung“ durch den „WortPrunk“ und „Lügen-Putz“ von Begriffen wie „Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen“ (JGB 230, KSA 5, S. 169) – also just in jenem Erkenntnisstreben, dem sich das
24 Zur so entstehenden Konstellation eines parasitären, sich gegen sich selbst kehrenden ‚Willens zur Macht‘ vgl. Dellinger 2012a und 2012b.
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hier adressierte „wir“ zu verschreiben scheint.25 Falls der „Grundtext“ tatsächlich mit dem ‚Willen zur Macht‘ identifiziert werden darf, heißt das aber zunächst – wiederum ganz im Sinne von JGB 9 und 211 –, dass das scheinbar heroischredliche Erkenntnisbemühen, das hier den Rückgang auf einen „ewigen Grundtext“ proklamiert, seinerseits als tyrannisch-gewaltsamer ‚Wille zur Macht‘ begriffen werden muss. Und eben dies scheint auch die zweite Beschwörung des homonatura-Motivs geradezu herauszufordern: Die Rede von einem „Herr werden“ über „die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne“ (JGB 230, KSA 5, S. 169) erinnert frappant an die anfängliche Beschreibung des „Grundwillens“ als jenes „befehlerische Etwas“, das „in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen [will]“ und „den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit [hat]“. Die Herausstellung des ‚Willens zur Macht‘ als eternaler Grundtext wäre somit selbst schon ein die „Nebensinne“ überwältigender Vollzug des ‚Willens zur Macht‘, der sein hehres Erkenntnisinteresse bloß ‚vorspielt‘ und genau daraufhin zu durchschauen wäre. Einen Hinweis auf die Fragwürdigkeit des hier inszenierten Erkenntnispathos könnten auch die eigentümlich ambivalenten Bilder der „unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren“ (JGB 230, KSA 5, S. 169) darstellen: Schließlich trat Ödipus nicht nur unerschrockenen Auges der Sphinx gegenüber, sondern gilt zugleich als Sinnbild der Blindheit. Odysseus Ohren indes waren bekanntermaßen nicht verklebt und die verklebten Ohren seiner Kameraden schützten diese zwar vor der Verlockung der Sirenen, sperrten sie eben damit aber zugleich von einer einmaligen ‚Erkenntnis‘ aus. Brisant ist auch die Wiederaufnahme der aus JGB 22 und 38 aufgeladenen Dichotomie von Text und Interpretation.26 Nachdem Nietzsche in JGB 22 betont
25 Eingeleitet wird diese Subversion des Redlichkeitsmotivs bereits in JGB 227: Falls „unsre Redlichkeit eines Tages müde wird“, sollen „wir letzten Stoiker“ sie durch unseren „geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung“ unterstützen und dergestalt „unserm ‚Gotte‘ mit allen unsern ‚Teufeln‘ zu Hülfe“ (JGB 227, KSA 5, S. 162 f.) kommen. Die Assoziation der „Redlichkeit“ mit dem „geistigsten Willen zur Macht“ sowie die Identifikation der ersten Person Plural als „Stoiker“ stellt den Rückbezug zu JGB 9 her (vgl. van Tongeren 2000, S. 224) und legt somit die Frage nahe, ob nicht auch das scheinbar redliche, ‚göttliche‘ Erkenntnisstreben ein ‚teuflischer‘ Vollzug des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ sein könnte: „Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist h e i s s e n will, der uns führt? (es ist eine Sache der Namen.).“ (JGB 227, KSA 5, S. 163) Durch die Aufnahme des Gegensatzes von ‚Gott‘ und ‚Teufel‘ entsteht zugleich ein Rückbezug auf JGB 35/ 36/37 und das dortige Spannungsfeld von redlich-moralisch-göttlicher und teuflisch-unmoralischer ‚Erkenntnis‘. 26 Noch deutlicher war die Verbindung in einer Vorstufe, in der statt vom „Grundtext“ zunächst vom „Natur-Text“ die Rede war (N VII 1, S. 21).
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hatte, dass der ‚Wille zur Macht‘ gleichfalls „Interpretation, nicht Text“ (JGB 22, KSA 5, S. 37) sei,27 spricht er nun nachdrücklich von einem eternalen „Grundtext“ (JGB 230, KSA 5, S. 169): Das lässt sich wiederum mit JGB 9 als simulatives ‚Vorspiel‘ einer Philosophie verstehen, die ‚anfängt, an sich selbst zu glauben‘, als ‚geistigster Wille zur Macht‘ die ‚Welt nach ihrem Bilde‘ schafft und sich dergestalt – sofern man „Grundwillen“ und „Grundtext“ mit dem ‚Willen zur Macht‘ identifizieren darf – als wesentlich selbstbezüglich erweist.28 Doch was genau bedeutet diese Selbstbezüglichkeit für den methodischtheoretischen Status des Motivs? Müller-Lauter rekonstruiert in seiner grundlegenden Arbeit zunächst mit Rückgriff auf den Nachlass eine ‚Theorie‘ des ‚Willens zur Macht‘, um anschließend den Akt ihrer Formulierung als eine ihr entsprechende reflexive Bestätigung zu begreifen.29 Dies scheint der Inszenierung des Motivs in JGB allerdings insofern zu widersprechen, als der ‚Wille zur Macht‘ in JGB 9 zuerst zur Bezeichnung der Gewaltsamkeit philosophischer Theoriebildung eingeführt wird, bevor er als Theorem zur Beschreibung von ‚Leben‘, ‚Natur‘, oder ‚Welt‘ auftritt. Während also bei Müller-Lauter die thetische Theorie der Reflexion auf den sie konstituierenden philosophischen Vollzug vorausgeht, verhält es sich in JGB genau umgekehrt: Hier geht die subversive Problematisierung des philosophischen Erkenntnisprojekts den thetischen Erkenntnisansprüchen voraus. Dass es sich bei den thetischen Setzungen des Motivs um einen Vollzug des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ handelt, bedeutet daher zunächst, dass auch sie als den ‚Vorurteilen‘ eines Philosophen entspringende Versuche verstanden werden müssen, die ‚Welt nach seinem Bilde‘ zu deuten. Die Schleife des ‚Willens zur Macht‘ erzeugt somit im Kontext von JGB keine unmittelbare Bestätigung, sondern zuerst eine massive, den rekapitulierten Subversionen entsprechende Destabilisierung des Motivs30 – und erst damit eine Art indirekter ‚Bestätigung‘
27 In einer Vorstufe hieß es: „Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text: u ich möchte mich {werde mich wohl aus vielen Gründen} hüten, von diesem Texte zu reden“ (W I 7, S. 44). 28 Dass die homo-natura-Passage immer wieder als zentrale Belegstelle für Nietzsches angeblichen ‚Naturalismus‘ angeführt wird, erscheint aus der Perspektive dieser Lektüreoption geradezu kurios. 29 Van Tongeren geht zwar zunächst von den Subversionen in JGB 36 aus und setzt ‚Metaphysics‘ in Anführungszeichen, rekonstruiert dann aber ebenfalls unter Rückgriff auf Nachlasspassagen eine ‚Theorie‘ des ‚Willens zur Macht‘ und erklärt: „knowledge is itself what it attempts to understand. It coincides with the true nature of being: will to power.“ (van Tongeren 2000, S. 168) 30 Die Massivität dieser Destabilisierung wird vielfach übersehen, etwa wenn bisweilen von einer ‚Selbstbegründung‘ des ‚Willens zur Macht‘ die Rede ist (vgl. z. B. Zibis 2007, S. 118 f.). Einer der wenigen Interpreten, die der subversiven Wirkung dieses Selbstbezugs Rechnung tragen, ist Reinhard Löw – allerdings um den Preis, Nietzsche darob nur noch als ‚Sophisten‘ gelten zu lassen (vgl. Löw 1984, S. 118).
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oder ‚Entsprechung‘. Die entscheidende Frage ist also, wie genau das subversivdestabilisierende und das bestätigend-affirmative Moment in der Schleife zusammenspielen bzw. was genau subvertiert und was genau ‚bestätigt‘ wird. Das berühmte „nun, um so besser“ (JGB 22, KSA 5, S. 37) suggeriert, wie schon Müller-Lauter (1974, S. 42 f.) betont hat, dass Nietzsche der geforderte Einwand, „dass auch dies nur Interpretation ist“, entgegenkommt: Sowohl die Interpretation der „Physiker“ als auch seine eigene sind damit als perspektivische ‚Zurechtmachungen‘ erkannt.31 Was sich damit reflexiv bestätigt, ist jedoch nicht eine umfassende, ontologische oder biologische Theorie der Machtquanten – die Fassungen von ‚Leben‘ und ‚Welt‘ als ‚Wille zur Macht‘ erscheinen vielmehr unterminiert –, sondern einzig das Grundmotiv der Perspektivität philosophischer Interpretation. Dabei wird mit der Subversion des Erklärungsanspruchs des Begriffs ‚Wille zur Macht‘ wohlgemerkt auch noch die Erklärung dieses Erklärungsanspruchs als Vollzug des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ problematisiert: Bereits die Fassung der Schleife als Schleife des ‚Willens zur Macht‘ erweist sich in diesem Sinne als gewaltsame Setzung und somit ‚bestätigt‘ sich neuerlich nur die perspektivische Gewaltsamkeit des Interpretierens, nicht aber deren Fassung als ‚Wille zur Macht‘.32 Axel Pichler hat jüngst mit Bezug auf Derrida (vgl. Derrida 1980, S. 418) die Frage aufgeworfen, ob sich Nietzsches „selbstbezüglich-paradox[e] Praktiken noch auf einen positiven Begriff bringen lassen“ und es zu einer „Deckung“ zwischen der Idee der Perspektivität und der Perspektivierung ihrer jeweiligen literarischen Darstellung kommt (Pichler 2012, S. 314). Mit Blick auf die Inszenierung des ‚Willens zur Macht‘ in JGB gälte es dahingehend zu betonen, dass sich die Schleife zwischen Objekt und Vollzug nicht zu einem Kreis schließt und es somit nie zu einer vollständigen ‚Deckung‘ kommt. Jeder Anschein einer schließenden ‚Deckung‘ erweist sich vielmehr selbst schon wieder als gewaltsam-perspektivischer Interpretationsanspruch, sodass das Moment der ‚Entsprechung‘ ausschließlich im Akt seiner eigenen Relativierung aufscheinen kann.33 Ähnlich
31 Müller-Lauters zweiter Erklärungsansatz, wonach Nietzsches Interpretation seinem eigenen, neuen Wahrheitskriterium der Machtsteigerung entspräche (Müller-Lauter 1974, S. 45–53), ist zumindest mit Blick auf die Inszenierung in JGB unplausibel, zumal hier von einem solchen Wahrheitskriterium keine Rede ist und in JGB 4 offen die ‚Falschheit‘ der ‚züchtenden‘ Sprache zugestanden wird. 32 Dies gälte wohlgemerkt auch für jeden anderen Versuch, ‚sie‘ terminologisch zu fixieren, inklusive meiner behelfsmäßigen Bezeichnung als ‚perspektivische Gewaltsamkeit des Interpretierens‘. 33 Van Tongeren spricht treffend von einer „contradictory dividedness of a knowing which enforces itself dogmatically and at the same time relativizes its own dogmatism“ (van Tongeren 2000, S. 168).
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wie für Hegel thetische Urteilsbestimmungen dem ‚Wahren‘ unangemessen bleiben müssen und es sich nur via negationis über Bewegungen des Setzens und Aufhebens solcher Bestimmungen anzeigen kann, lässt sich ‚das Perspektivische‘ hier nicht mehr direkt bestimmen, sondern nur noch im reflexiven Sich-alsperspektivisch-Erweisen solcher Bestimmungsversuche anzeigen. Anders als für Hegel scheint diese Reflexionsstruktur für Nietzsche jedoch kein diskursiv stabilisierbares, terminologisch fixierbares oder enzyklopädisch entfaltbares systematisches Potential mehr zu bergen:34 Während Hegel das zirkuläre Verhältnis von Inhalt und Methode am Ende der Logik gleichsam als Schlussstein setzt, lassen sich aus der Schleife des ‚Willens zur Macht‘ keine stabilen Begrifflichkeiten oder systematischen Ordnungsstrukturen mehr generieren, die nicht wieder in den Sog der Subversion zurückfielen. Die Inszenierung des ‚Willens zur Macht‘ in JGB suggeriert, dass sich solche Versuche, ‚das Perspektivische‘ durch seinen Selbstbezug auf einen positiven Begriff zu bringen, für Nietzsche nur noch als simulative ‚Vorspiele‘ ereignen können, die stets – und zwar auf jeder Reflexionsstufe aufs Neue – der sie als solche erweisenden Subversion bedürfen und damit immer wieder in die Schleife eintreten, ohne sie zu schließen…
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34 Abels Versuch, im Anschluss an Nietzsche aus dem Selbstbezug des Interpretierens eine Logik der Interpretation zu entwickeln, übersieht diese destabilisierende Wirkung, die jener Selbstbezug für Nietzsche impliziert (vgl. Abel 1984).
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From Natural History to Genealogy Although much of the material that became Jenseits von Gut und Böse [hereafter JGB] was culled from earlier notes – some as early as Spring/Fall 1881 – the final text was assembled and then published by C.G. Naumann in August 1886 (cf. KSA 14, pp. 345 f.). A single day short of one year thereafter, i.e., July 30th 1887, Nietzsche had sent to Naumann the manuscript for Zur Genealogie der Moral [hereafter GM], which was then published on November 12th 1887 (KSA 14, p. 377). On the reverse side of the title page of that new work, we see clearly how Nietzsche thought GM stood in relation to JGB: “Dem letztveröffentlichten ‘Jenseits von Gut und Böse’ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigeben” (KSA 14, p. 377).1 Scholars since then have seen little reason not to take Nietzsche at his word.2 Certain themes fall out, and the Genealogie is obviously more narrowly focused on the history of morality; but by and large the latter work is just such a completion and clarification of the former. This is especially true when it comes to the fifth chapter of JGB: “zur Naturgeschichte der Moral,” [hereafter NdM] which almost every scholar of Nietzsche considers to be a nascent form of what would be worked out in greater detail in GM. My suggestion here is that the two are not so closely related, and in fact that the form of Nietzsche’s presentations of traditional morality are inconsistent in a specific way. I argue that NdM considers the various types of moral perspectives – master, herd, et al. – to be real instantiations of real power drives within real people over a real time: it is Nietzsche’s job as a natural historian of morality to uncover and discern their typological developmental patterns. GM, on the other hand, is more considerate about the consequences of his own view of becoming and of the epistemological problems of trying to affix conceptual representations to such a world. Whereas NdM presumes a realist meta-historical framework in which to describe the history of moral development, GM’s remarks about the nature of interpretation and the writing of history precludes that same possibility. In keeping with these criticisms, his genealogical method dispenses with repre
1 Nietzsche stressed this further in a letter to Naumann that “diese Streitschrift in einer nothwendigen Beziehung zu ‘Jenseits von Gut und Böse’ steht, zu dessen Ergänzung und Verdeutlichung.” (Bf. an C.G. Naumann, 08.11.1887, KGB III/5, Bf. 946) 2 Two otherwise very fine accounts are Acampora/Ansell-Pearson 2011, p. 110–129 and Burnham 2007, p. 107–134. Both pay insufficient attention, in my opinion, to the historiographical form of this work.
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sentational realism, with uncovering and describing, and offers instead interpretation and construction. Thus even if Nietzsche’s basic view of morality did not much change between these works, I wish to suggest that the historiographical form by which he reaches his conclusions about morality shifts rather demonstrably. Said otherwise, between JGB and GM lies an important and unnoticed gap in terms of historiographical Inszenierung.
Natural History as Realist Typology From 1881–1883, Nietzsche read in translation W.H. Lecky’s History of European Morals (1869), whose very first chapter – “The Natural History of Morals” – was likely the inspiration for the last minute re-titling of Nietzsche’s chapter in JGB.3 In the years following, he read closely the historiographical reflections by Mainländer, Hartmann, Teichmüller, and Dühring. In 1885, precisely during the composition of JGB, Nietzsche cites a number of works on the development of morality, which he considered improvements over the historiography of the ‘English Utilitarians’: foremost among them W.H. Rolph’s Biologische Probleme (1881) and Jean-Marie Guyau’s Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction (1885) (cf. NL 1885, 35[34], KSA 11, pp. 523 f.).4 Common to these was the basic observation that all phenomena in the world are engaged in a process of change, and that moral phenomena – values, customs, and beliefs in the goodness or badness of actions and intentions – are so as well. The philosophical Schwerpunkt for each was to understand how best to ascribe causal relationships between historical events and the visions of morality that seemed to both shape and be shaped by them. Paul Rée’s Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877), for its virtues, insufficiently recognizes this historiographical problem within the history of moral valuation. In the composition year of JGB, Nietzsche complains that Rée “lacks entirely ‘the historical view and measure’ [‘der historische Blick und Takt’] which is the real and singular virtue that 19th Century German science holds over all older sciences” (NL 1885, 35[34], KSA 11, p. 525). Most influential to Nietzsche’s understanding of causation in history, read for the first time in that precise year – 1885 – was a relatively little-known criticism of realist ascriptions
3 The title as late as April 1886 was “Fingerzeige eines Moral=Psychologen”. See KGW IX/4, W I 8, p. 159. 4 Cf. Acampora/Ansell-Pearson 2011, p. 110. For a summary of Nietzsche’s reading of these and other sources during the composition of JGB see the discussions and accordant indices in Brobjer 2008.
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of causality: Maximilian Drossbach’s Über die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt (1884),5 whose direct influence concerns only one passage in JGB, but penetrates more deeply in GM.6 All this goes to show that while composing NdM Nietzsche examined closely not only historical works, but also reflections on the nature of historiographical explanations. For Nietzsche, the history of morality can be written neither as a merely speculative play of concepts (the Hegelians) nor the sum of ‘petit faits’ (the positivists). To remedy both errors, Nietzsche proposes to treat morality naturalistically and in terms of its genuine historicity. As he claims in the introductory section to NdM: was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, — und, vielleicht, Versuche die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, — (JGB 186, KSA 5, p. 105).
With bold letters, Nietzsche emphasizes that all this means NdM will prepare the way for a “T y p e n l e h r e der Moral” (JGB 186, KSA 5, p. 105). The reference to typology here should recall Nietzsche’s former colleagues Bachofen’s and Burckhardt’s (and ultimately Plutarch’s and Thucydides’) attempt to discern commonalities within history for the sake of explaining common effects by means of allegedly common causes. Beneath the welter of historical peculiarity and idiosyncrasy, to the careful natural historian similar and enduring patterns emerge. Not timeless metaphysical ideas, which Schopenhauer considered the only object that even remotely justifies historical study, but natural patterns of motivations, events, and cultural traits.7 For Bachofen, antiquity reveals a welter of cultural patterns – two among them were named Dionysian and Apollonian – that emerge typologically as cultural phases from out of the ground of the interaction between agrarian, matriarchal, and chthonic impulses.8 Linguistic and conceptual representations both fail to encapsulate the depth of feeling, the secret subterranean forces that compel history into its
5 In general, too little scholarship has appeared on Drossbach’s influence on Nietzsche. The exception is Schmidt 1988, which while very useful is focused more on the dynamics of power than on historiography. 6 Cf. the critique of the “I think” in JGB 16. 7 For Schopenhauer’s notoriously critical view on historiography, see his Die Welt als Wille und Vorstellung II, §36. 8 The basic contention of Bachofen’s Mutterrecht, published first in 1861. See Bachofen 1927, p. 87–181.
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given types, and so will the critical philologists who remain doggedly on the surface of mere words. Symbols and their interrelation in myths have greater power than logic or language, for Bachofen, to express this inner character of types. Die menschliche Sprache ist zu schwach, um alle Gedanken, die durch den Wechsel von Leben und Tod und die erhabenen Hoffnungen des Initiaten entstehen, vermitteln zu können. Nur das Symbol bringt die wahre Bedeutung zum Bewußtsein; Sprache kann nur erklären. Das Symbol bringt alle Seiten des menschlichen Geistes gleichzeitig zum Schwingen; Sprache kann auf einmal nur einen einzelnen Gedanken ausdrücken. Das Symbol reicht bis zu seinen tiefsten Wurzeln in den geheimsten Tiefen der Seele zurück; die Sprache streicht wie eine leichte Brise über die Oberfläche des Verstandes dahin. Das Symbol ist nach innen gerichtet; die Sprache nach außen. Nur das Symbol kann die unvereinbarsten Elemente zu einem einheitlichen Ausdruck zusammenfassen. Sprache besteht aus einer Aneinanderreihung von Einzelheiten; sie erklärt Schritt für Schritt, was in einem einzigen Augenblick auf unsere Seele einwirken muß, um uns nachhaltig zu berühren. Worte machen des Unendliche endlich, Symbole tragen den Geist über die begrenzte Welt des Werdens hinaus in die Welt des unbegrenzten Seins. (Bachofen 1927, p. 60 f.)
Concentrating Bachofen’s cultural insights upon historical agents, Burckhardt would advance: “And even where the individual develops, especially since the Greeks, we still deal for a long time essentially with types, e.g., the heroes, the lawgivers” (Burckhardt 1999 [1865–85], p. 6). Burckhardt’s own historiography accordingly proceeds from variations on the human type. “We, however, shall start out from the one point accessible to us, the one eternal center of all things – man, suffering, striving, doing, as he is and was and shall ever be” (Burckhardt 1979 [1868–85], p. 34). The one shows forth from the many, for Burckhardt, by means of careful empirical observation combined with intuition or ‘Anschauung’, which Nietzsche plainly references in the above passage. Burckhardt’s intuitive description of types traces not only their temporally-static common features, à la the phylogenetics of Linnaeus, but also the common developmental features of variegated exemplars. In both his rejection of a priori structures and his realism, Burckhardt follows his great teacher, Leopold von Ranke. But in his reliance on intuition about historical types – something of itself which instilled enmity between the historical schools of Basel and Berlin – Burckhardt followed his other master: Goethe, for whom the later-developed forms of a natural organism (as much as the later scenes of the dramatic character of classicism) are latent but nevertheless discernible to the trained observer (or dramaturge) in its very seed or ovum. A morphological typology, in the Goethian sense, reveals “the laws of transformation according to which nature produces one part through another and achieves
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the most diversified forms through the modification of a single organ” (Goethe 1961–1963, XVII, p. 22).9 Burckhardt’s historiography adopted this model openly. And Nietzsche’s historiography in NdM, I argue, is a ‘typology of morals’ in just this sense as well.10 While it is a ‘Naturgeschichte’ with respect to its naturalistic presuppositions, Nietzsche does not limit himself to natural phenomena that can be housed in bell jars or petri dishes. He is above all concerned with the psychological morphology of persons and peoples – a naturalist more like Karl Lamprecht than Alexander von Humboldt.11 Typological patterns of moral judgment emerge, like natural species that can be clearly demarcated by means of intuition in addition to preliminary empirical observation according to the inner development of a person’s or a people’s psyche. Individual moral judgments about particular good and bad traits do develop over time; but do so according to relatively regular processes that enable the historian to discern one set of dominant psychological facticities from another: ‘Urphaenomena’ in Goethe’s sense. Typology practiced in this way makes no claim to being a predictive science or to give immutable and non-transgressable laws. It is enough if the typological historian can recognize and articulate lucidly the outlines of personal or natural character. Nietzsche employs this method with his example of the “schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar,” who are “zum Siege und zur Verführung vorherbestimmte[] Räthselmenschen” (JGB 200, KSA 5, p. 121). And to that type Nietzsche is willing to admit Frederick II and Leonardo da Vinci as well (cf. JGB 200, KSA 5, p. 121). The historian is able to associate their individual and ‘vorherbestimmten’ actions precisely because “beide Typen gehören zu einander und entspringen den 9 For a dated, but still informative discussion of Nietzsche in the context of Schopenhauer, Burckhardt and Goethe, see Cassirer 1950, pp. 265–80. 10 There are, of course, several interpreters who maintain that typology was another pose of Nietzsche’s among many, that Nietzsche was a sort of ‘free spirit’ who experimented with any number of methodological forms, but never held any preferentially. I would respond by indicating the deafening silence from Nietzsche that would indicate his positions are mere ‘poses’ and how highly improbable it would be considering his friendships with major historians like Bachofen, Burckhardt, Overbeck, and Rée, and his cordial association with Hippolyte Taine. That Nietzsche could have spent twenty years corresponding with Burckhardt, convinced that his work was a ‘brother philosophy’, or working side by side with Overbeck and Rée, and never once mentioned to anyone that all of his references to typology – which last about 10 years – were just a pose, seems too extraordinary. 11 In a phrase Nietzsche might have approved, Lamprecht claims, “History in itself is nothing but applied psychology” (Lamprecht 1905, p. 16). Any similarity between Nietzsche’s use of psychological typology in historiography and that of Karl Lamprecht, though both were influenced in this regard by Burckhardt, appears accidental. Nietzsche never owned a book of Lamprecht’s and never mentions him in print.
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gleichen Ursachen” (JGB 200, KSA 5, p. 121). In other words, a “Moral-Psycholog,” i.e. the natural historian, “liest die gesammte Sternenschrift nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache” (JGB 196, KSA 5, p. 117). Cesare Borgia belongs to the type “Raubthier und […] Raubmenschen” (JGB 197, KSA 5, p. 117). A weak type of person, which comes “aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch einander wirft,” is a morphological result of “gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse” (JGB 200, KSA 5, p. 120). And just as Tacitus recognized the Jews as “ein Volk ‘geboren zur Sklaverei’” (JGB 195, KSA 5, 116), so does Nietzsche’s psychological typology read the symbolic language of the many moral stars in the European sky – in his most infamous type of the book – as expressions of a single overarching typological character: a ‘herd’ morality. “Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender ” (JGB 199, KSA 5, p. 119). This passage – JGB 199 – bears close examination, as it exemplifies what I suggest is the historiographical method in NdM. Looking around at “today’s Europe” initiates Nietzsche’s historical curiosity. Why is it that so many modern Europeans are so willing to submit their autonomy, their will to lead, their “art of commanding” to anything else that has the strength to lead, any “‘Thou shalt’” in the form of “a parent, teacher, the law, class prejudice, public opinion,” each according to its “strength, impatience, and tension”? Why was Napoleon, to use Nietzsche’s example, so easily able to sway the allegiance of millions? Asked typologically, given that there is a predominant constellation of humanity that is characterized above all by their willingness to obey, what are the common conditions of historical change sufficient to have brought about that state of affairs? Nietzsche’s instinct is to examine the natural psychological causes first: in Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich jetzt einem Jeden das Bedürfniss darnach angeboren ist, als eine A r t f o r m a l e n G e w i s s e n s , welches gebietet: “du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen”, kurz “du sollst” (JGB 199, KSA 5, p. 119).
That millennia-long process of instinct-inculcation has brought about a state of typologically common conditions sufficient to generate this herd type, a type of formal consciousness which has since become numerically dominant due to the ripeness of its “breeding ground.” Accordingly, what “der Heerde nützlich ist” is now accustomed to be judged “die eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden” (JGB 199, KSA 5, p. 120).
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Nietzsche’s critique of herd morality in NdM therefore depends upon a realist historiographical attribution of naturalistic causes for a typological phenomenon found in the present. Just as with the typological model of Burckhardt and Bachofen and added to the morphological model of Goethe, the developed phenomenon is something unquestionably real, there, given in the world. Its empirical qualities are open to naturalistic observation, with each expression of a moral norm counting as an instantiative symbol for that type out of which it derives. And when sufficient attention is paid, the changes that object undergoes gradually reveals to intuition the typological pattern of its development. Thus history for Burckhardt and Bachofen, and both biological organisms and theatrical constructs for Goethe, can be elucidated sufficiently by tracing the organic natural process by which a phenomenon grew to be what it has become today. So it is, too, for Nietzsche, with the history of moral types.
Genealogy as Representational Anti-Realism The general conclusions Nietzsche draws about the historical development of European morals are largely the same one year later in GM. The genesis of our terms ‘good and evil’, the basic problems with ‘herd morality’, the evolution of the meaning of truth – all are prominent in the later work. GM is thus an “Ergänzung und Verdeutlichung” in that respect at least. Nevertheless, I suggest here that the historiographical method by which Nietzsche came to these positions is in fact quite different in GM, and thus that Nietzsche himself – and those many scholars who have followed him – too superficially consider his meta-historical shift. To say it as concisely as possible, I think the difference between NdM and GM is that the latter is more genuinely ‘historical’ insofar as it embraces more fully the epistemological consequences of the “Versuch das Heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukürzen (in eine Art von scheinbaren Sein gleichsam zu übersetzen und mumisiren)” (NL 1885, 36[27], KSA 11, p. 562). NdM, as we saw, prescribes the historian the task of reading the symbols as well. But there the organic morphology by which contemporary morals are instantiated is an effectively realist description of a genuine and real pattern of development through which all moral phenomena develop. There is a sort of purposive – though assuredly not teleological – order discernable from the cause (the easilyinculcated instinct for obedience) to the effect (the contemporary dominance of the herd instinct). Because those signs are signs of something, the job of the natural historian of morality in JGB is to discern the real process by which morals become what they are – from instinct-inculcation to conscious instantiation in a
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people’s expressed morality – just as the careful observer of nature discerns the real organic process by which the seed proceeds to the flower. The famous methodological reflection at GM II 12 makes clear, however, that this historiographical ascription of real causes that lead morphologically to real effects is in fact an all-too-human trick of reason. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben —: sie machen irgend einen “Zweck” in der Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und — sind fertig. Der “Zweck im Rechte” ist aber zu allerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden: vielmehr giebt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen s e i n s o l l t e , — dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-StandeGekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird (GM II 12, KSA 5, p. 312).
In JGB, Nietzsche had discerned just such a power-dynamic as the motive force of the historical development of moral norms. “[M]ancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben” (JGB 187, KSA 5, p. 107), pressing upon otherwise meaningless actions and events an array of moral values. In the assignation of moral values, human beings are creators rather than discovers. We are “a n ’ s L ü g e n g e w ö h n t ” or “angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss” (JGB 192, KSA 5, p. 114).12 If the artistically arranged signs are often-enough enforced and made customary, humans forget that they were actually power-ascriptions. The consequence is little different than dreaming, “vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas ‘wirklich’ Erlebtes” (JGB 193, KSA 5, p. 114). Moral values like good and evil are not realist descriptions so much as anti-realist attributions of meaning to values that do not actually exist outside the mind of the moralist. Part of what differentiates types is the kind of moral designations they typically assign: the priestly types tend to declaim ferocity as evil, the warrior types esteem it a good. With modesty, humility, and chastity the case is reversed: warrior types view each as a lame cover for weakness, while priestly types consider each a virtue. Because this is what they really do – i.e., they really create anti-realist symbols – it falls to the natural historian of morals to first discover, then
12 I would like to thank Helmut Heit for emphasizing these passages during our discussion.
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delineate, codify, and ‘read the signs’ of morality as symbols for what various types of people really are doing when they ascribe moral value. This is the subtle but essential difference with Zur Genealogie der Moral. Morality itself is simply not the focus of Nietzsche’s critique in the above passage from GM II 12. Instead, the historians who claim to discover that or any other allegedly real determinate process in the past are considered there to be ‘naïve’ genealogists. Such processes of historiographical ascription are constructions – however meaningful – on the part of the historian, but not discoveries that were themselves ‘in’ the past waiting to be found. Nietzsche, following Drossbach, recognized there are no real ‘gleiche Ursachen’ out of which common types ‘entspringen’ and therefore could even in principle ‘zueinander gehören’ as a type.13 There is no single kernel that determines the meaning of either the phenomenon or, more interestingly, the historiographical attempt to explain that phenomenon by appeal to processes, whether teleological, positivistic, or – in his own case – typological. “(Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft [z. B.] wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.)” (GM II 13, KSA 5, p. 317). If nothing with a history can be defined, then historiographical interpretations, insofar as they too have an obvious history, cannot be defined. Nietzsche henceforth cannot provide a morphological typology of morality as the correct account, a real description which adequately describes the phenomenon of the development of herd morality or punishment, but only “eine Vorstellung davon […], wie unsicher, wie nachträglich, wie accidentiell ‘der Sinn’ der Strafe ist und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann” (GM II 13, KSA 5, p. 317).14 There is, on the contrary, no indication whatsoever that Nietzsche thought his historiographical explanation of the development of the types of moral valuation in NdM was merely ‘unsicher’ or ‘accidentiell’.
13 Drossbach’s main conclusion is that “die Erscheinungen und ihre Veränderung nur subjective Gemüthszustände sind, keine objective Existenz haben, daher nicht sinnlich wahrgenommen werden, und dass dagegen die Kraftwesenheiten sowie die Vorgänge unter denselben das Wirkliche und sinnlich Wahrgenommene sind.” (Drossbach 1884, p. 17) 14 Compare Drossbach, who criticizes morphological ascriptions in nearly the same words: “Die Zweckmässigkeit in der Bildung der Organismen soll nach der Ansicht angesehener Naturforscher ohne alle Einmischung von Intelligenz duch das blinde Walten von Naturgesetzen entstehen. – Eine solche Zweckmässigkeit ist aber nur eine scheinbare, keine wirkliche und es ist bei dieser Annahme nicht einmal das E n t s t e h e n e i n e r V o r s t e l l u n g d e r s e l b e n in uns zu begreifen.” (Drossbach 1884, p. 48)
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The shift in method is more than an innocent change of focus. Naïve moralists fail to consider that their descriptions are not of an eternally static world. Natural historians of morals are better insofar as they recognize the world described is ever-developing, that moral norms ‘are not’ so much as they ‘become what they are’ in terms of how various types construct them. The genealogists trump all by admitting ‘becoming’ not only of the world described but also of the one who describes. The very same historical processes at work in all natural phenomena are also at work in the drives that constitute the perspectival orientation of the historian towards the phenomena whose semiotic meaning his interpretation itself constructs. This ability, not to describe events and people as they really were, but to construct symbols that allow us to use and manipulate the world, is the genuinely human function. As Nietzsche summarizes Drossbach during the composition of JGB: Aber mit dieser erfundenen starren Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben. Dieser Zeichen-Apparat ist seine Überlegenheit, gerade dadurch, daß er sich von den Einzel-Thatsachen möglichst weit entfernt. Die Reduktion der Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine höchste Kraft. Geistigkeit als Vermögen, über eine ungeheure Menge von Thatsachen in Zeichen Herr zu sein. Diese geistige Welt, diese Zeichen-Welt ist lauter “Schein und Trug”, ebenso schon wie jedes “Erscheingungsding” (NL 1885, 34[131], KSA 11, 464).15
And Nietzsche echoes the same thought in his published version of GM: [D]ass alles Geschehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä l t i g e n , H e r r w e r d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige “Sinn” und “Zweck” nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss (GM II 12, KSA 5, p. 313 f.).
The continually re-interpretive act of making meaningful follows as a function from the character of the subject who interprets, and this in its turn shifts and transmogrifies according to an historical process necessarily.16
15 That this passage was a summary of Drossbach was noted first by Brobjer 2008, p. 227. For another summary of Drossbach, see also NL 1885–1886, 1[92], KSA 12, p. 33: “Was wir ‘Ursache’ und ‘Wirkung’ nennen, läßt den Kampf aus und entspricht folglich nicht dem Geschehen. Es ist consequent, die Zeit in Ursache und Wirkung zu leugnen.” The source of Nietzsche’s note is Drossbach 1884, p. 22. Cf. von Rahden 1999, pp. 370 f. 16 For literature ascribing a similar interpretive function to genealogy, see among others Born 2010, esp. pp. 11–48, and 195–201, and in general both Saar 2007 and Stegmaier 1994.
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The Will to Power, which earlier had been the summary watchword for why people hold the values they do, characterizes all natural phenomena in the world, including – what is new to GM – the interpretive orientation of the genealogist towards change in the world.17 This thought was so pervasive that Nietzsche even considered subtitling his once-conceived Will to Power book as “Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens. / (Vorrede über die drohende ‘Sinnlosigkeit’)” (NL 1885, 39[1], KSA 11, p. 619).18 Since to conceive becoming as striving is to admit its representational status, the interpretation of reality as a dynamic of competing power-wills is not a declaration of how things are external to us, but an admission of how the world is represented by a particular knowing subject.19 The historian accordingly no longer discerns a real world per se, but expresses the temporary, fluid, dynamic set of power-drives idiosyncratic to his or her perspectival orientation to the world:20 Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur A n z e i c h e n davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines “Dings”, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen (GM II 12, KSA 5, p. 314).
The ‘symbols’ referenced here are not of an inner development of a discernible type as they were in NdM, but dynamic drive-expressions which emerge in the act of historiographical judgment and interpretation. Punishment, for a particularly good example, is denied status as an historical ‘thing’ whose development an historian discovers. Punishment most definitely has a history, and therefore any predicates historians assign will fail to adequately define punishment as it really is outside the perspective of the individual historian. But in GM II 13, Nietzsche
17 An attempt to read the entirety of Nietzsche’s historiographical expression as an expression of Will to Power is Lipperheide 1999. 18 See also Schmidt 1988, p. 471. 19 See also Drossbach 1884, p. 48: “Eine solche Zweckmässigkeit ist aber nur eine scheinbare, keine wirkliche und es ist bei dieser Annahme nicht einmal das E n t s t e h e n e i n e r V o r s t e l l u n g d e r s e l b e n in uns zu begreifen.” See further the discussion at Drossbach 1884, p. 52. 20 Although it lies beyond the scope of this paper, I would argue that ‘Will to Power’ was intended to be a symbolic representation for something unrecognizable rather than a realist ontological description seems to be supported by passages like NL 1883–1884, 24[34], KSA 10, p. 663: “Es giebt keinen ‘Willen’: das ist nur eine vereinfachende Conception des Verstandes”. For similar readings, see Müller-Lauter 1999, pp. 73 ff; Stack 1983, pp. 292–8; Abel 2004, pp. 72–104; and Stegmaier 2000, pp. 41–69.
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does not proceed to concentrate on the development of punishment per se, its ‘Herkunft und Entstehung’, but instead the way historians of morality have affixed that concept over time in their constructions of its meaning. Punishment has meant ‘a means of rendering harmless’, of ‘paying of a debt to the creditor’, ‘a means of isolating a disturbance of balance’, a ‘means of inspiring fear’, a ‘rooting-out of degenerate elements’, ‘an aide memoire’, a ‘compromise with the natural state of revenge’, etc. (GM II 13, KSA 5, pp. 317 f.). It is in fact selfcontradictory to ask which of these is the ‘real’ meaning of punishment outside the historian’s interpretation, since it is only from within the head of the historian that the symbol ‘punishment’ is ascribed at all, in order to give some sense to an otherwise senseless effluvia as part of an eventual effort to gain power over it.21 Thus, in keeping with our differentiation from NdM, punishment is here treated as a contemporary symbolic designation that the historian applies to a range of phenomena, thereby bringing it into association with a range of other phenomena according to the aims of that particular historian. Nietzsche’s acknowledgement of the intrinsically historical character of historiographical judgment is illustrated well, too, by his famous Preface to GM. The historian who tries to understand what he has ‘just experienced’ by carefully listening to history of European morals is like a person
dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in’s Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt “was hat es da eigentlich geschlagen?” so reiben auch wir uns mitunter h i n t e r d r e i n die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten, “was haben wir da eigentlich erlebt? Mehr noch: wer s i n d wir eigentlich”? (GM Vorrede 1, KSA 5, p. 247).
The genealogical historian cannot realistically describe each individualized moment of the developmental process – cannot affix ‘the’ meaning of punishment – for two reasons that stand as consequences of the basic Heraclitean worldview. First, the object (event, person, etc.) which the historian attempts to describe is itself a sort of ‘harmonic reverberation’, a fluid dynamic of will-affects that resists conceptualization in static words or class concepts… typological or otherwise (cf. WS 119, KSA 2, p. 604). Each moment of history colors over and re-interprets the phenomenon in question, covers it in new clothing, as it were, so as to make the original as such unrecognizable. Second, the subjective side of the historian, the interpreter in addition to the interpreted, makes it impossible to affix what is un21 Compare Drossbach here as well, who criticizes realist ascriptions of causality en masse insofar as they think “dass die Erscheinungswelt sammt ihrer Causalkette der Erscheinungen eine wirkliche Existenz habe, denn sie ist nichts als unsere Vorstellung, besteht nur in unserer Subjectivität, ist abhängig von unserem Vorstellen.” (Drossbach 1884, p. 52)
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affixable precisely because at each moment the dynamic of subjective facticities which delimit her perspectival sphere of interpretation have themselves been caught up within that very same historical process. The historian fails to step into the same Heraclitean river twice not only because the river of history has changed, but because they themselves, every bit the natural phenomena as the river, are forever changing as well. Accordingly, the ear-rubbing historiographer must admit his description or explanation is not the description or explanation, but a temporary, subjective, and perspectival interpretation that follows necessarily from whatever momentary power-drives emerge in the act of his judgment. This precludes the possibility of realist typological description insofar as it denies the possibility of affixing the meaning of an object as it really is in the world outside the shifting perspectival construction of the historiographical judgment itself.
From Natural History to Genealogy Aside from the hermeneutical case about how to interpret the form of Nietzsche’s historical investigations of morality, there remain two important historical issues that require clarification. Why, if the characterization of NdM as a realist typology is correct, did Nietzsche retain a quintessentially Burckhardtian methodology so long after he had left Basel? Nietzsche resigned from Basel on May 2nd, 1879, but only published JGB in August 1886. Given the fluidity of Nietzsche’s historiographical forms, one might object, it seems unlike Nietzsche to stay loyal to a position for so long, no matter how fond of his Basler colleagues Nietzsche remained personally.22 This objection is satisfied, however, when we remember that portions of JGB were written substantially earlier, and reserved for publication until after the Zarathustra project was to have been completed. This is especially true of the chapter with which we are concerned, NdM (cf. KSA 14, pp. 358– 361). Section 193 can be traced back to the earliest inspiration, a combination of NL 1880, 7[37], KSA 9, p. 325 and NL 1881, 15[60], KSA 9, pp. 655 f. We know that section 190 was taken from notebook M III, 4; and that sections 192 and 194 were culled from notebook M III, 1, both of which were composed in the autumn of 1881. Given the proximity of the inspiration and, in the case of many sections, the composition of NdM to his time at Basel, and given the distance between those earliest fragments and the composition of GM, therefore, my claim that NdM
22 On the methodological shifts on Nietzsche’s historiographical methods, see Jensen 2013a generally, and specifically, Jensen 2013b.
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represents a method more closely inspired by his friend Burckhardt and of a different character than the several-years later composition of GM actually has a rather intuitive appeal. The second historical issue that presents itself concerns the requirement for evidence that Nietzsche knowingly and intentionally altered his view from the time of JGB to that of GM. Notwithstanding those mentioned above, several passages of NdM were indeed written shortly before the publication date of JGB.23 If the methodological change is as pervasive as I claim, then it would be odd if Nietzsche never actually mentioned this to anyone. Fortunately for our thesis, he did: seven months after the publication of JGB and five before GM, Nietzsche writes to his friend and fellow historian of Europan morality, Franz Overbeck, “At last my mistrust now turns to the question whether history is actually possible? What, then does one want to ascertain [feststellen]? – something, which in a moment of happening, does not itself ‘stand fast’ [‘feststand’]?“ (Bf. an Overbeck, 23.02.1887, KGB III/5, Bf. 804). Directly during the composition of GM, therefore, Nietzsche realized an essential fact about his own epistemology and ontology that would alter what he considered the possibilities and limitations of historical inquiry: namely, that conventional historiography, whether positivistic or teleological, or for that matter typological, has an intrinsic failing when it tries to describe a fixed object from the perspective of a fixed subject. The problem is that neither exists. Neither stands fast, and so neither can be ascertained. Both notions are only symbols for the genuine ‘Werden’ of reality. Accordingly, his former attempt to write a natural history of European morals as a sort of typological description of real traits, an attempt to read out of nature her common types of morphological development, was doomed to failure for the ontological and epistemological reasons to which Nietzsche himself had already subscribed but apparently failed to fully appreciate until the composition of GM. The fact that Nietzsche chose not to overtly promulgate his methodological shift in print can be explained by a range of potential motivations, the exact one of which would require undue speculation. Where NdM fails as the realist description of a real development, GM simultaneously denies the possibility of such a description even as it offers an account of the moral problems themselves in a way whose content is mostly consistent with NdM. Genealogy is not merely a rhetorical fiction nor simply a performative critique, but a ‘truthful’ historiography, which, while acknowledging that our 23 Other sections of NdM were admittedly composed four years later, drawn principally from two notebooks from 1885. Section 195 is a revision of notebook W I 1; section 203 is from W I 4; section 199 borrows heavily from W I 6; and section 202 compiles from W I 4 and W I 6. Section 200 is traced from N VII 1.
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judgments never adequate to the world, couples the meaningfulness of an historical judgment to a range of psychological factors that depend upon the intersubjective perspective of author and audience.24 The genealogical historian does not merely explicate the ‘symbol-language’ by which nature develops historically, as does the natural historian of morals; he proscribes that constructed set of symbols to nature as a way of communicating with and convincing a particular audience. Whereas a successful realist account of history depends on the correspondence between the interpretation provided and the actual state of affairs in the world – whether, for example, the priestly type really initiated a slave revolt in morality – the success of a representational anti-realist description rests on the extent to which it is found convincing, the extent to which it overcomes rival interpretations – whether, for example, the genealogist has succeeded in making popular the belief that the priests were responsible for having initiated a slave revolt in morality. In both cases, the moral valuation is said to be a consequence of the drives of the historical moralists under investigation. Only in the latter, anti-realist account, however, is it acknowledged that the depiction of those historical moralists as having constructed moral values as they did is itself an interpretation constructed by the historiographer rather than anything that ever came about in the world outside the historiographer’s mind. Thus, Zur Genealogie der Moral is not, contrary to nearly all interpreters and despite Nietzsche’s own attestation, a mere “Ergänzung und Verdeutlichung” of the “Naturgeschichte der Moral.” The historiographical method of the earlier work is best characterized as a realist description of a morphological typology. The later work is simply not this. Although many passages reach the same basic conclusions about moral norms, the methodological reflections in GM render impossible the same realist description utilized in NdM insofar as it relied on a presupposed meta-historical framework that was itself insufficiently reflective of the historiographical consequences of Nietzsche’s epistemology of becoming, insofar as it had tried to make something ‘stand fast’ which never can ‘stand fast’: the natural history of morals, and the historian who grafts meaning upon it.
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24 See Jensen 2013a, esp. Chp 5.
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Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart Wir, die wir eines andren Glaubens sind —, wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und WerthErniedrigung: wohin müssen w i r mit unsren Hoffnungen greifen? — Nach n e u e n P h i l o s o p h e n, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und „ewige Werthe“ umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf n e u e Bahnen zwingt. (JGB 203, KSA 5, S. 126)
Der Aphorismus Nr. 203 aus Jenseits von Gut und Böse, dessen Beginn ich hier zitiere, leitet vom fünften Hauptstück „Zur Naturgeschichte der Moral“ zum sechsten Hauptstück über, in dem Nietzsche wie an keinem andern Ort in seinem Werk seine Hoffnungen auf die Philosophie darlegt. Er verknüpft hier die Zukunft der Philosophie mit der Zukunft der Demokratie.1 Er scheint auf „n e u e [ ] P h i l o s o p h e n “ zu hoffen, weil er in der „demokratische[n] Bewegung“ den Niedergang des Menschen sieht (JGB 203, KSA 5, S. 126). Um diesen Niedergang aufzuhalten, müssten sie, scheint die Folgerung zu sein, „Befehlshaber“ und „Führer“ sein: Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen W i l l e n , als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher „Geschichte“ hiess, ein Ende zu machen — der Unsinn der „grössten Zahl“ ist nur seine letzte Form —: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor u n s e r n Augen schwebt: — darf ich es laut sagen, ihr 2 freien Geister? (JGB 203, KSA 5, S. 126)
1 Die Alternativen dieser Verknüpfung sichtet sehr klar Siemens 2008, bes. S. 242 f. 2 In der von Montinari wiedergegebenen „ersten Fassung“ von JGB 203 (vgl. KSA 14, S. 361), die Nietzsche im Notizbuch noch erheblich bearbeitet hat, nannte er die „Philosophen“ noch nicht und sprach hier auch noch nicht von „Befehlshabern“, wohl aber von „Führern“. Er hatte das Notat nachträglich für eine „Vorrede“ vorgesehen, und JGB 203 wurde dann in der Tat zu einer Art Vorrede für das sechste Hauptstück. Zu den vielfältigen Kontexten von JGB 203 in Nietzsches
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Das klingt, natürlich, für heutige Ohren so nationalsozialistisch, dass es sich von selbst zu erledigen scheint – und den Autor gleich mit.3 Aber Nietzsche war dezidierter Anti-Nationalist, Anti-Sozialist und Anti-Antisemit,4 er wendete sich an ,freie Geister‘, und „den Unsinn der ‚grössten Zahl‘“ (JGB 203, KSA 5, S. 126), bei Entscheidungen über Grundbedingungen des Lebens der Menschen auf der Erde sich auf Mehrheiten zu stützen, die in Wahlkämpfen um ganz andere Interessen zustandegekommen sein können, für die Entscheidungen also mehr oder weniger zufällig sind, nennt er nur die „letzte Form“ einer viel weiter und tiefer greifenden Desorientierung der modernen Gesellschaft, die er beobachten zu können glaubt und für die ihm die „demokratische Bewegung“ nur ein Anhaltspunkt ist. Doch auch wenn man ihn nicht nationalsozialistisch versteht, wird man fragen müssen, was ihn bewogen haben könnte, hier von „Befehlshabern“ und „Führer[n]“ zu sprechen. Das sechste Hauptstück ergänzt dann, vielleicht beruhigender, vielleicht noch befremdlicher, in JGB 211 „G e s e t z g e b e r “. Wie soll, wie kann man das in unserer Gegenwart verstehen? Ich versuche es mit Hilfe der Philosophie der Orientierung (vgl. Stegmaier 2008). Nietzsche spricht in JGB 203 betont von unserem „Glauben[]“ (JGB 203, KSA 5, S. 126); JGB 211 leitet er ein mit „Ich bestehe darauf, dass …“ (JGB 211, KSA 5, S.144). Er stellt sich, zunächst noch in einer imaginären Gemeinschaft mit andern, allein auf sich.5 Damit räumt er andern ihren Glauben, ihre Meinungen ein. Er befiehlt nicht, sondern lädt zum Meinungsaustausch ein, er verhält sich demokratisch auch in seiner Warnung vor der demokratischen Bewegung. Wir werden heute dennoch kaum mehr seiner Meinung sein, weder was „die demokratische Bewegung“ als „politische[] Organisation“, noch was den „Menschen“ überhaupt, noch was „die Philosophen“ betrifft (JGB 203, KSA 5, S. 126). Nach den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts werden Europäer die Demokratie, auch wenn ihr Fundament als brüchig erkannt ist und weittragende Entscheidungen in ihr schwierig werden, nach Kräften verteidigen und sie unterstützen, wo immer in der Welt sie gegen tyrannische Regimes erkämpft wird. Dass ,der Mensch‘ ver-
Werk, insbesondere im Nachlass, und der Verschränkung der Begriffe von Philosophie, Gesetzgebung und Züchtung darin vgl. Wotling 2008, S. 36–50. 3 Instruktiv ist hier der Bericht von Steilberg 1996, S. 213–224, über die auch von namhaften Gelehrten unterstützten publizistischen Angriffe auf (einen des Protofaschismus verdächtigten) Nietzsche und die besonnene Abwehr solcher Angriffe in den USA selbst während des Zweiten Weltkriegs. 4 Vgl. Ottmann 1999. Auch wenn, vor allem in populären Schriften und Medien, unverdrossen Gegenteiliges behauptet wird, verzichten wir auf neuerliche Belege. 5 Auch in JGB 203 sagt er schon „ich“ („Das Bild solcher Führer ist es, das vor u n s e r n Augen schwebt: — darf ich es laut sagen, ihr freien Geister?“; JGB 203, KSA 5, S. 126), doch noch in der imaginären Gemeinschaft der freien Geister.
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falle, sich verkleinere, vermittelmäßige, sich entwerte, klingt uns nach überholter Kulturkritik, und die Hoffnungen gerade auf die Philosophie scheinen völlig überzogen. Und auch Nietzsche betrachtete ja die „Demokratie“, wie er in Menschliches, Allzumenschliches geschrieben hatte, als „etwas Kommende[s]“, und das hieß wohl: als etwas unaufhaltsam Kommendes. Dass sie „möglichst Vielen U n a b h ä n g i g k e i t schaffen und verbürgen“ will, „Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs“, wie er dort schrieb (WS 293, KSA 2, S. 685), konnte nur in seinem Sinn sein, und die Hindernisse, die dem im 19. Jahrhundert noch entgegenzustehen schienen: dass „Besitzlose[]“ sich kaum eine unabhängige Meinung bilden, „eigentlich Reiche[]“ die öffentliche Meinung beliebig manipulieren und Parteien sie je nach den Interessen, die sie vertreten, verzerren können (WS 293, KSA 2, S. 685), halten wir heute wenn nicht für überwunden, so doch für überwindbar. Mit Nietzsche können wir nun freilich wissen, dass auch das nur ein guter Glaube ist, auf dem wir bestehen und um so mehr bestehen, je mehr er Gefahr läuft, enttäuscht zu werden. Dennoch werden wir darum nicht auf Philosophen als „Befehlshaber“, „Führer“ und „Gesetzgeber“ hoffen. Es sind weniger Nietzsches Vorbehalte gegen die Demokratie als seine Hoffnungen auf die Philosophie, die hier so befremden. Diese Hoffnungen sind von philosophischer Angst getrieben. In JGB 10 hat Nietzsche, fast nebenbei, zum ersten Mal in seinem veröffentlichten Werk, den „Nihilismus“ erwähnt; in JGB 203 spricht er nun aus, was der Nihilismus ihm zu fordern scheint: „Geister, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und ,ewige Werthe‘ umzuwerthen, umzukehren“. So schwer und vielfältig der Nihilismus, auch für Nietzsche selbst, zu deuten ist,6 im Kern bedeutet er unbestritten, dass mit dem
6 Vgl. Stegmaier 2011, S. 173–175 und Stegmaier 2012, S. 204–218 (mit Hinweisen auf die jüngere Literatur). Van Tongeren 2012 stellt die wichtigsten Texte Nietzsches zum Nihilismus in seinem veröffentlichten Werk und in seinen Notaten zusammen, wertet sie sorgfältig im Kontext von Nietzsches Denken aus, ordnet die Formen des Nihilismus, die Nietzsche in seinen Notaten verschiedentlich erwähnt, mit Hilfe der leitenden Unterscheidungen, mit denen Nietzsche in FW 370 seinen „dionysischen Pessimismus“ von Schopenhauers und Wagners „romantischem Pessismismus“ abzuheben sucht, in einer Kreuztabelle, stellt einige der wichtigsten späteren Interpretationen von Nietzsches Nihilismus (Heidegger, Vattimo, Müller-Lauter) dar und fragt dann, wie ein Leben im Nihilismus möglich sei. Seine – bewusst vorläufigen – Antworten sind: Dass wir uns, die wir überall noch in vielfältigen Arten von Glauben leben, im Sinn von FW 343 gar nicht vorstellen können, was das allmähliche Unglaubwürdigwerden des höchsten und bisher alle anderen tragenden Glaubens, des Glaubens an Gott, bedeuten wird, und es uns, solange wir einigermaßen bequem leben können, auch gar nicht vorstellen wollen (vgl. van Tongeren 2012, S. 178); dass wir gar nicht begreifen können, dass wir selbst – nach FW 125 – Gott getötet haben sollen (vgl. van Tongeren 2012, S. 181); dass beim grenzenlos möglichen Experimentieren mit
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„grössten neueren Ereigniss, — dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“ (FW 343, KSA 3, S. 573), die „{obersten Werthe}“, wie Nietzsche für sich notierte, „{sich entwerthen}“ (NL 1887, 9[35], KSA 12, S. 350; KGW IX/6, W II 1, S. 115).7 Die Menschen oder jedenfalls die Europäer haben danach alle Hoffnungen auf einen letzten Halt ihrer Orientierung verloren oder drohen ihn zu verlieren, wie Nietzsche es zuerst den „tollen Menschen“ in FW 125 hinausschreien ließ: Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? (FW 125, KSA 3, S. 481)
Hier wird eine Situation völliger Desorientierung beschrieben, und die Beschreibung bleibt beunruhigend. Desorientierung zwingt, aus ihr herauszukommen, man kann in ihr nicht leben. Wenn es aber die bisherige Philosophie war, die, wie Nietzsche in den vorausgehenden Hauptstücken von Jenseits von Gut und Böse dargelegt hat, im Verein mit dem Christentum die letzte Haltlosigkeit der Orientierung verdeckt hat,8 bedürfte es dann nicht tatsächlich einer „neue[n] Art von Philosophen“, um aus ihr herauszukommen, Philosophen, die dann nicht mehr auf scheinbar vorgegebene Werte verweisen, sondern sie notgedrungen selbst
Menschenmöglichkeiten nach dem Tod Gottes auch und gerade der Humanitäts-Glaube nicht vor dem Nihilismus rettet, weil er ihm nach Nietzsche selbst entspringt (vgl. van Tongeren 2012, S. 189); dass der Nihilismus vor das Paradox stellt, ihn noch gar nicht erreicht zu haben, solange man noch an ihm leidet, von ihm aber gar nichts wissen zu können, wenn man nicht an ihm leidet (vgl. van Tongeren 2012, S. 190); dass die Literatur ihn darum eher zeigen als die Philosophie ihn denken kann (vgl. van Tongeren 2012, S. 192); dass uns nichts anderes übrig bleibt, als das Leben als offenes Experiment zu begreifen und zu leben, so wie es Nietzsche vorgedacht und vorgelebt hat (vgl. van Tongeren 2012, S. 198–203). Jeffrey Metzger hat in dem von ihm herausgegebenen Aufsatzband (vgl. Metzger 2009) anglo-amerikanischen Nietzsche-Forschern die Frage nach dem „unheimlichsten aller Gäste“ (NL 1885–1886, 2[127], KSA 12, S.125) noch einmal dringend gestellt. Die versammelten Beiträge umkreisen sie jedoch nur, gehen ihr nicht auf den Grund, manche berühren sie kaum. 7 Dries 2008 sieht den Nihilismus in einem für Nietzsche unlösbaren Konflikt zwischen dem Glauben an Sein und dem Wissen vom Werden – weil er das Werden radikalisiert habe, die Sprache aber, die das feststellen solle, immer schon ein Sein voraussetze. Aber ein kritisches Philosophieren kann das wissen, und weil Nietzsche es gewusst hat, hat er versucht, eine entsprechende Sprache zu schaffen, die ,dionysische‘. 8 Nietzsche gebrauchte den Begriff Nihilismus zugleich für die Haltlosigkeit der bisherigen höchsten Werte und für die Verdeckung dieser Haltlosigkeit, die sie perpetuiert (vgl. v.a. das Lenzer Heide-Notat vom 10. Juni 1887 zum „europäischen Nihilismus“: NL 1886–1887, 5[71], KSA 12, S. 211–217). Wir behalten ihn hier um der Eindeutigkeit willen der Haltlosigkeit vor.
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„schaffen“ müssen? Hat es inzwischen solche Philosophen gegeben? Oder müssen wir weiter auf sie hoffen? Oder muss es sie gar nicht geben?
1 Nietzsches Enttäuschung über die Philosophie seiner Zeit Die Philosophie seiner Zeit hat Nietzsche früh verabschiedet, in großen Inszenierungen seiner „Loslösung“ von der Philosophie, die er zunächst für die größte der europäischen Tradition und deren letzte Konsequenz gehalten hat, die Philosophie Schopenhauers, der die Entwertung der obersten Werte schon erkannt, darauf aber noch einmal mit einer Metaphysik reagiert hatte. Mit seiner „unintelligenten Wuth auf Hegel“ und seinen „wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen“ (JGB 204, KSA 5, S. 130) aber hatte Schopenhauer zugleich die Philosophie seiner Zeit im Ganzen diskreditiert, auch für ihn, Nietzsche. Hatte er in Schopenhauer als Erzieher geschrieben, man dürfe sich nicht wundern, dass „jetzt kein grosser Feldherr und Staatsmann sich zu ihr [der Philosophie] bekennt“, wenn ihm, als er in seiner Jugend noch nach ihr gesucht haben mochte, nur „ein schwächliches Phantom unter dem Namen der Philosophie entgegenkam, jene gelehrtenhafte Katheder-Weisheit und Katheder-Vorsicht,“ die der Philosophie ihre „Würde“ genommen und zu einer „lächerlichen Sache“ gemacht habe (SE 8, KSA 1, S. 425 f.), nahm er das später nicht zurück. Wenn nicht lächerlich, so schien Nietzsche „Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute,“ etwas zu sein, das „Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht.“ (JGB 204, KSA 5, S. 131)
2 Nietzsches Erwartungen an die Philosophie seiner Zeit Schopenhauer und die „altgriechischen Meister“ (PHG 1, KSA 1, S. 807) hatten für Nietzsche das Maß der Philosophie gesetzt.9 Sie war danach nicht Wissenschaft und nicht Weisheit, die sich lehren und lernen lassen, sondern eine besondere Fähigkeit besonderer Persönlichkeiten zur Wahrnehmung, Begriffsfindung und
9 Zu Nietzsches wie immer vielfältigen Urteilen über die Philosophie vgl. zuletzt Schärf 2008 zum frühen Nietzsche und Skowron 2009 zum mittleren Nietzsche.
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Wertschätzung: „Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen“ (PHG 3, KSA 1, S. 816); während sich Wissenschaftler „auf alles Wißbare“ stürzten, beweise sich ein Philosoph durch die „Bändigung des unumschränkten Erkenntnißtriebes“ und das „Auswählen“ der „wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse“, kurz: durch „eine Gesetzgebung der Größe“ (PHG 3, KSA 1, S. 816 f.; NL 1872–1873, 19[218], KSA 7, S. 488). Er setzt, wie Nietzsche es selbst an Schopenhauer erfahren hatte, Maßstäbe. Habe ein solcher Philosoph erst gesehen, „wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben“, sei es an ihm, „mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die V e r b e s s e r u n g d e r a l s v e r ä n d e r l i c h e r k a n n t e n S e i t e d e r W e l t loszugehen.“ (WB 3, KSA 1, S. 445) Seine besondere Wahrnehmung der Welt, seine Gesetzgebung der Größe und sein Wille zur Veränderung stellten den Philosophen für Nietzsche, wie schon für Platon, an die „Spitze der gesammten Wissenspyramide“ (MA I 6, KSA 2, S. 27),10 und nur ein solcher Philosoph schien ihm in einer Zeit des kulturellen Niedergangs eine Gegenbewegung zu einer neuen Erhöhung der Kultur einleiten zu können. Auch nachdem er seine Hoffnungen auf Schopenhauers Philosophie und Richard Wagners Gesamtkunstwerk hatte fahren lassen, blieb er bei dieser „Aufgabe“,11 richtete sie nun aber neu aus: auf die Orientierung der nun rasch zusammenwachsenden Weltgesellschaft, nach aktuellen Begriffen der Globalisierung. Im „Z e i t a l t e r d e r V e r g l e i c h u n g “, das Wissenschaft und Technik heraufgeführt hatten und in dem die „originalen Volks-Culturen“ kein „abgeschlossenes“ Dasein mehr fristeten, sondern nun unter „verschiedenen Weltbetrachtungen, Kulturen und Sitten“ gewählt werden konnte, fiel an die „grossen Geister des nächsten Jahrhunderts“ die „ungeheure Aufgabe“, „die Erde als Ganzes ökonomisch [zu] verwalten“, ihr Schicksal nicht mehr dem Zufall zu überlassen, sondern eine „bewusste Gesammtregierung“ zu schaffen und dafür „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur,
10 Ulmer 1962 hat wie kein anderer gezeigt, wie von der „Gesetzgebung der Größe“ her Nietzsches Denken vom frühen bis zum späten Werk in systematischer Einheit gedacht werden kann, wie Nietzsche so zur „Aufgabe“ der Grundlegung einer neuen Kultur für eine neue Zeit fand und sich dadurch seinerseits als großer Philosoph erwies. Ulmer ging dabei allerdings noch von einer „Ontologie“ des Willens zur Macht aus, die erst im unvollendet gebliebenen gleichnamigen „Hauptwerk“ ihre angemessene Gestalt gefunden hätte. 11 Nietzsche hat von Anfang an der Philosophie und später sich selbst eine bestimmte „Aufgabe“ zugewiesen. Vgl. GT Vorwort, KSA 1, S. 24; GT 15, KSA 1, S. 99; DS 7, KSA 1, S. 195; HL 6, KSA 1, S. 287; SE 4, KSA 1, S. 375; SE 5, KSA 1, S. 382; SE 6, KSA 1, S. 384; usw. In JGB erscheint der Begriff „Aufgabe“ 28 Mal, dreimal davon gesperrt, darunter in JGB 203; der Aphorismus schließt mit ihm.
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als wissenschaftlichen Maassstab für ökumenische Ziele“ zu erwerben (MA 23–25, KSA 2, S. 44 f.).12 Der bloße Vergleich orientiert nicht, und wird die Vergleichsmasse immer mehr erweitert, desorientiert er. Die Arbeit der Wissenschaften fordert also, wie es Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung am Beispiel der Geschichtswissenschaft gezeigt hatte, neue Maßstäbe der Orientierung. Nietzsche nannte nun jedoch die Philosophen zunächst nicht mehr. Stattdessen warnte er vor „T y r a n n e n d e s G e i s t e s “, die glaubten, „alle Fragen mit Einer Antwort [] erledigen“ zu können wie ein „Räthsel“. (M 547, KSA 3, S. 317) Auch seinen Zarathustra setzte er nicht als solchen Tyrannen ein, sondern ließ ihn zuletzt die „höheren Menschen“ fragen: „wer soll der Erde Herr sein?“ (Za IV Nachtwandler, KSA 4, S. 399),13 und notierte für sich dazu, dies sei „der Refrain [s]einer praktischen Philosophie.“ (NL 1884, 25[247], KSA 11, S. 76) Er rechnete dabei, zu Recht, mit großen Zeiträumen, und schon deshalb konnte kein Einzelner die „Aufgabe“ bewältigen. In seinen Notaten ging er darum zum Plural „Herren der Erde“ über und stellte sich die berüchtigte Frage, wie „eine regierende Kaste zu züchten“ wäre. (vgl. NL 1884, 27[59], KSA 11, S. 289 mit NL 1885, 37[8], KSA 11, S. 582) Auch dabei dachte er jedoch nicht an eine abgeschlossene Gruppe oder einen Stand, sondern an Bedingungen, unter denen hinreichend viele Einzelne (dabei blieb er) Fähigkeiten heranbilden und weitergeben könnten, um der neuen Aufgabe einer Gesamtverwaltung der Erde standzuhalten. Im Zentrum stand für ihn dabei die „Entwicklung der Willens-kraft“ (NL 1885, 35[9], KSA 11, S. 512), die Kraft, ohne Halt in letzten Gründen, die nun nicht mehr zur Verfügung standen und für ganz unterschiedliche Kulturen auch kaum mehr zur Verfügung stehen würden, und im vorerst „vollständigen Mangel an Principien“ Entscheidungen von größter Reichweite zu treffen (NL 1885, 35[9], KSA 11, S. 511 f. und NL 1885, 35[47], KSA 11, S. 533). Da Philosophen damit noch am ehesten vertraut waren, richteten sich seine Erwartungen nun wieder auf sie, aber auf „zukünftige Philosophen“ (NL 1885, 40[12], KSA 11, S. 633). Er sprach nun auch wieder von „Gewaltmenschen“ und „Tyrannen“, doch wiederum nicht von brutalen Schlächtern, die wir heute damit assoziieren, sondern von „philos. Gewaltmenschen u. Künstler-Tyrannen“, die sich im Zug der „Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden“ und der Notwendigkeit, sie zu regieren, als neue „ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratien“ herausbilden sollten und sich „{Dank ihrem Übergewicht von Dauer
12 Ulmer 1983 zeigt den Zusammenhang des Problems der Gesamtverwaltung der Erde mit dem des Nihilismus auf; er ist von den zuvor genannten Voraussetzungen nicht abhängig. 13 Nietzsche fügte überraschenderweise die Frage in Zarathustras Interpretation des Mitternachts-Lieds ein. Vgl. Stegmaier 2013.
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Wollen, Wissen, Reichthum u. Geblüts-Vornehmheit Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen“, „um ‚am Menschen‘ {selbst} als Künstler zu gestalten“ (NL 1885–1886, 2[57], KSA 12, S. 87 f.; KGW IX/5, W I 8, S. 158). Eben diese Aufgabe, auch wenn wir sie so nicht formulieren würden, sehen wir zur Zeit anstehen und ihre Dringlichkeit wachsen.
3 Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie in Jenseits von Gut und Böse In Jenseits von Gut und Böse bleibt die Aufgabe, die Globalisierung zu meistern, im Hintergrund, kehrt jedoch in der Mitte des sechsten Hauptstücks wieder, als „Z w a n g zur grossen Politik“ im „Kampf um die Erd-Herrschaft“, auf den sich Europa im (damals) „nächste[n] Jahrhundert“ einstellen müsse (JGB 208, KSA 5, S. 140). Im Zug seiner umfassenden Metaphysik-, Moral- und Religionskritik bestimmt Nietzsche stattdessen die Aufgabe des Philosophen nun ganz vom Nihilismus her. Das Thema durchzieht das Aphorismen-Buch wie eine Naht, die nur manchmal sichtbar wird und es doch zusammenhält.14 Nietzsche sagt an keiner Stelle, was die „Philosophie der Zukunft“ enthalten wird, zu der Jenseits von Gut und Böse ein „Vorspiel“ sein soll; das überlässt er den Situationen der Zukunft.15 Erkennbar ist für ihn vorerst nicht mehr als eine,
14 Zur Interpretation von JGB im Ganzen vgl. van Tongeren 1999, Lampert 2001 (in engem Anschluss an Leo Strauss), Burnham 2007, Southwell 2009 und Acampora/Ansell-Pearson 2011. Alle vier Kommentare haben kaum Anstoß daran genommen, wie befremdlich Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie heute geworden sind, am wenigsten Lampert; Leo Strauss, dessen Satz „It is certainly not an overstatement to say that no one has ever spoken so greatly and so nobly of what a philosopher is as Nietzsche“ (Lampert 2001, S. 196) Lampert über seine Interpretation von JGB 211 setzte, machte ihm das Herrschaftsrecht der Philosophie ganz selbstverständlich. Southwell führte es unter den „Critical Themes“, die er nach seiner „Explanation and Summary of the Main Arguments“ durchgeht, nicht auf (vgl. Southwell 2009, S. 105 ff. und S. 14 ff.). 15 Vgl. zum Spektrum von Nietzsches Weisen, von „Zukunft“ zu sprechen, Müller Farguell 1998. Acampora/Ansell-Pearson suchen nach bestimmten Inhalten der „Philosophie der Zukunft“ und finden dann nur, dass die „eigentlichen“ Philosophen „anti-modern“ seien (Acampora/AnsellPearson 2011, S. 144). Nehamas 1988 suchte, aber fand keine durchgehende Argumentation in JGB und verfiel darum auf die (für ihn naheliegende) Interpretation, Nietzsche „erzähle“, was ihm eben so einfalle, ob es nun zusammenpasse oder nicht, und im sechsten Hauptstück erzähle er sich als den eigentlichen Philosophen (neben Sokrates) nicht in der Zukunft, sondern für die Zukunft. Das „M u s s “ in „M u s s es nicht solche Philosophen geben?“ am Ende von JGB 211 meine
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wie er in der Vorrede schreibt, „prachtvolle Spannung des Geistes“, die der „Kampf gegen Plato“ und gegen sein Erbe im Christentum geschaffen habe, und die „Aufgabe“ ist darum zunächst „das Wachsein selbst“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 12). Diese Spannung als einen „Nothstand“ zu erfahren, der dann nötigt, aus ihm herauszukommen, hindert „die demokratische Aufklärung“. Indem sie „mit Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens“ (JGB Vorrede, KSA 5, S.13) alles für alle verständlich und annehmbar zu machen sucht, nimmt sie den Problemen ihre Tiefe und Schärfe und entzieht denen, die sich ihnen aussetzen, das Gehör. So bleiben sie allein. Im ersten Hauptstück „Von den Vorurtheilen der Philosophen“ legt Nietzsche gezielt die Wertentscheidungen offen, die der Orientierung bisher scheinbaren Halt gegeben haben, insbesondere die für die Wissenschaften und die Philosophie bisher grundlegende Bevorzugung des Wahren vor dem Unwahren („Gesetzt, wir wollen Wahrheit: w a r u m n i c h t l i e b e r Unwahrheit?“ (JGB 1, KSA 5, S. 15); denn gerade „die falschesten Urtheile“ könnten ja „lebenfördernd“ sein (JGB 4, KSA 5, S. 18).16 Im zweiten Hauptstück „Der freie Geist“ erkundet Nietzsche gezielt Orientierungs-Alternativen. So könne man – gegen den demokratischen Druck, Konsens herzustellen, Dissens, Diskrepanz, Provokation riskieren (vgl. JGB 25 und JGB 30),17
die Bestätigung der Gegenwart (es muss sie geben, denn ich, Nietzsche, bin es ja schon). Eigentlicher Philosoph zu sein heißt dann schlicht „to think unusual thoughts and promote uncommon values“; passen sie in einem Charakter (dem des Erzählers) zusammen, wirke er damit befehlend und gesetzgebend – für sein eigenes Leben (Nehamas 1988, S. 65). Lampert 2001, S. 198 f., nannte eine solche „typically American fiction“ im Blick auf Nietzsche „perfectly ridiculous“. Für ihn kehrte in den „B e f e h l e n d e [ n ] u n d G e s e t z g e b e r [ n ] “ (JGB 211, KSA 5, S. 145) jedoch einfach Platons Einstufung des Philosophen in seiner Politeia wieder (vgl. Lampert 2001, S. 196 f.) und er formulierte sie nun in militärischer Sprache: „Nietzsche is a recruiter who conscripts his volunteers.“ (Lampert 2001, S. 181) Aber nicht nur die von Platon den Philosophen zugeschriebene Weisheit war für Nietzsche Teil des Nihilismus, er misstraute der Weisheit von Philosophen überhaupt – sobald sie ihr vertrauen (vgl. u.v.a. FW 359, KSA 3, S. 605 f. und dazu Stegmaier 2012, S. 181–191). 16 So erklärt Nietzsche den Titel des Aphorismen-Buchs: Wer „die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn“ könne, müsse „auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“ (JGB 4, KSA 5, S. 18) 17 „Geht lieber bei Seite! Flieht in’s Verborgene!“ (JGB 25, KSA 5, S. 42) – „Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind.“ (JGB 30, KSA 5, S. 48)
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Wahrheiten zunächst einmal als Irrtümer, Wahrscheinlichkeiten als Unwahrscheinlichkeiten betrachten18 und „gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen […] lernen“ (JGB 34, KSA 5, S. 52), die schöne Gelehrtentugend der „sanften feinen nachgebenden Gutartigkeit und Kunst des Leicht-nehmens“ zurückstellen, um sich durch „Härte und List günstigere Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und Philosophen“ zu schaffen (JGB 39, KSA 5, S. 56 f.), auf Veröffentlichungen für den – demokratischen – Buchmarkt verzichten (vgl. JGB 39), zum einen, um sich nicht an den Erwartungen der Öffentlichkeit zu orientieren, zum andern, um sich nicht vorzeitig selbst festzulegen, statt auf lehrbare Dogmen auf den Umgang mit Unterscheidungen setzen, bei dem es auf Größe, Tiefe und Feinheit ankommt:19 Größe im Mut, auch bisher fraglose, scheinbar unantastbare und vor allem die eigenen Wertscheidungen in Frage zu stellen, Tiefe im Unterlaufen von Unterscheidungen durch neue Unterscheidungen, Feinheit in der Unterscheidung von Unterscheidungen bis hin zu Nuancen des „Geschmacks“ (JGB 43, KSA 5, S. 60; vgl. Stegmaier 2012, S. 65).
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„Eine neue Gattung von Philosophen“, die sich darauf verstünde, könne man „V e r s u c h e r “ nennen. Sie wären „Philosophen der Zukunft“, nicht weil sie die Zukunft voraussagen könnten oder man sie für die Zukunft voraussagen könnte, sondern weil sie es in der Gegenwart mit neuen Orientierungen versuchen und damit vorerst unbekannt, ja unbemerkt bleiben. Doch auch der Name „Versucher“ sei „zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung“. Denn glaubt man, ein Versucher zu sein, setzt man schon wieder auf ein bekanntes Sein und straft sich Lügen (JGB 42, KSA 5, S. 59).20 Eine erste Orientierung für
18 „Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die I r r t h ü m l i c h k e i t der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann“ (JGB 34, KSA 5, S. 52). Vgl. dazu schon MA I 18: „Metaphysik handelt von den „Grundirrthümern der Menschen [], als wären es Grundwahrheiten.“ (MA I 18, KSA 2, S. 38 f.) 19 „Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen.“ (JGB 43, KSA 5, S. 60) 20 Zum vierfachen Sinn von „V e r s u c h e r “ (JGB 42, KSA 5, S. 59) vgl. Lampert 2001, S. 95 f. (experimenter, tempter, attempter, essayist/essayer). Acampora/Ansell-Pearson fügen die „new standard bearers of taste“ (Acampora/Ansell-Pearson 2011, S. 69 f.) hinzu. – In JGB 205 zieht Nietzsche dann die Konsequenz, Versuche mit dem eigenen Leben, d. h. sich zum Experiment zu machen („der rechte Philosoph […] risquirt s i c h beständig“; JGB 205, KSA 5, S. 133), als Philo
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solche „Philosophen der Zukunft“ könnten die ,freien Geister‘ sein, die freilich „s e h r freie Geister“ werden müssten, freiere, als man sie bisher gekannt hat (JGB 44, KSA 5, S. 60). Wenn es aber Notstände sind, die die Befreiung des Philosophierens von scheinbar vorgegebenem Halt erzwingen, kann ein Geist sie von einem bestimmten Punkt an nicht mehr wollen. Stattdessen müsse „die Gefährlichkeit seiner Lage erst in’s Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein ‚Geist‘ —) unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden“ (JGB 44, KSA 5, S. 61). Seine Versuche, sich auf die völlige Haltlosigkeit der Orientierung einzulassen, dürften seinen Lebenswillen nicht lähmen, sondern müssten ihn bis zum Unbedingten steigern, bis dahin, dass er eben dazu leben will, des Nihilismus Herr zu werden (vgl. JGB 44, KSA 5, S. 61).21 Ein solcher Geist wäre dankbar für jede Not, die ihm Halt entzieht (JGB 44). Nur aus einem solchen „Zwang“ heraus kann er „in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf n e u e Bahnen zwingt.“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) Sein Zwang geht wieder von einem Zwang, dem Zwang der gegenwärtigen Situation, aus. „Versucher“ dieser Art, die Knoten zu Zwängen knüpfen, könnten imstande sein, in der Situation des Nihilismus, der „schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ (JGB 203, KSA 5, S. 126), der Kontingenz aller Orientierung,22 zu „Befehlshabern“ und „Führern“ zu werden, indem sie der Orientierung von sich aus neuen Halt geben – für sich und andere. Kehren wir nun zum Aphorismus JGB 203 zurück, dessen Anfang wir eingangs zitiert haben. Ich versuche ihn in fünf Schritten zu verdeutlichen: (1.) Halt geben Ordnungen, die auf Dauer bestehen. Diese Dauer kann auch begrenzt sein, Ordnungen können Ordnungen auf Zeit sein. Räumt man, nach-
soph, wie Nietzsche es dann im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft empfiehlt, zum fröhlich verwegenen Versuchstier der menschlichen Orientierung zu werden. Vgl. Stegmaier 2012, S. 96. 21 Vgl. FW 285 und dazu Stegmaier 2012, S. 578–582. „Im höchsten Sinne“ gebraucht Nietzsche das Wort „Nihilismus“ laut Ulmer „für den Zustand des Menschen, der den Einblick in die Wurzel der ganzen bisherigen und zukünftigen Wertsetzung gewonnen hat und daraus die Möglichkeit und Kraft schöpft, neu und höhere Werte zu setzen.“ (Ulmer 1983, S. 67; Kursivierung WS) 22 Nimmt man wie Sommer an, Nietzsches Hoffnungen seien gewesen, alle „Kontingenz auszuschalten“ und „möglichst die Gesamtheit der (europäischen) Menschheit dem Diktat der Philosophie zu unterwerfen“, müsste man ihn tatsächlich unter „Pathologieverdacht“ stellen (Sommer 2007, S. 73). Der Pathologieverdacht, der in der Nietzsche-Forschung an vielen Stellen geäußert wurde, zieht jeweils eine Interpretationsgrenze. Aber es ist die Grenze des jeweiligen Interpreten.
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dem sie ihre scheinbar letzten metaphysischen Gründe verloren haben, ihre Kontingenz ein, kann man sehen, dass sie „abhängig von einem MenschenWillen“ (JGB 203, KSA 5, S. 126), von menschlichen Entscheidungen sind. (2.) Ordnungen halten sich, wenn die meisten sich in sie einfügen. Einfügung erfordert Disziplin, Disziplin Erziehung, in Nietzsches Sprache „Zucht und Züchtung“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) (die also keine oder nicht in erster Linie eine biologische ist, wie die Nationalsozialisten sie organisieren wollten). Diszipliniert eingehaltene Ordnungen garantieren gemeinsame Orientierungen, man kann sich aufeinander verlassen, sich aneinander orientieren. Wenn aber alle sich aneinander orientieren, können sich alle zusammen auch desorientieren, sie werden, so Nietzsche zuvor in JGB 199, zu „Menschenheerden“ (JGB 199, KSA 5, S. 119). (3.) Um dies überdeutlich zu machen, gebraucht er die Unterscheidung Gehorchen/Befehlen (vgl. Wotling 2010). Er erläutert sie soziologisch: Gehorsam sei, aus den genannten Gründen, „bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden“, und dadurch sei zugleich ein „Bedürfniss“ nach „Befehlenden“ entstanden, „Eltern, Lehrer, Gesetze, Standesvorurtheile, öffentliche Meinungen“. (JGB 199, KSA 5, S. 119) Wer in einer Situation ohne Orientierung ist und sie von einem andern erhält, nimmt sie alternativlos an, das heißt wie einen Befehl, und wer anderen in Notsituationen Orientierung geben kann, wird für sie zum ‚Führer‘. Er hat dann Macht über sie, eine Macht, die aus seiner – in dieser Situation – überlegenen Orientierung kommt, und diese Macht wird von denen, die Orientierung brauchen, nicht als böse betrachtet, sondern als hilfreich und gut geschätzt. Sie verlassen sich auf sie, um nicht verloren zu sein, aber nur so lange, bis sie sich wieder selbst orientieren können.23 (4.) Vorerst ist nicht abzusehen, was die Einsicht in den Nihilismus auslösen wird. Klar ist nur, dass das bloße Sich-aneinander-Halten dann nicht ausreichen wird. Nietzsches Sorge und Not ist darum, dass am Ende „die Befehlshaber und Unabhängigen“ „fehlen“ (JGB 199, KSA 5, S. 119), dass sie „ausbleiben oder missrathen und entarten“ (JGB 203, KSA 5, S. 127), ihre Macht missbrauchen könnten. Denn gerade demokratische Gesellschaften, die Macht
23 MA I 164 hatte Nietzsche „Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius“ abgewogen und vor dem „Aberglauben vom Genie“ gewarnt. Darin floss auch das Argument ein, dass „für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule verschaffen.“ (MA I 164, KSA 2, S.154; Kursivierung WS)
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überhaupt als böse verdächtigen,24 brauchen Führung, haben aber kaum mehr Maßstäbe für sie.25 (5.) Sie brauchen jedoch nicht einen Führer für alle Belange, sondern ganz unterschiedliche Führungspersönlichkeiten (‚leaders‘, wie man im Englischen noch sagen kann) für ganz unterschiedliche Belange und auch sie nur auf Zeit. Nietzsche hat von „Führern“ im Plural gesprochen, er bestand von Anfang an auf den Wettbewerb unter Führungspersönlichkeiten (CV 5, KSA 1, S. 783–796, bes. S. 789), und gerade die Demokratie organisiert einen Wettbewerb unter Führungspersönlichkeiten.26 Aber warum sollten diese Führer oder Führungspersönlichkeiten Philosophen sein? Man kann im Sinn Nietzsches hier denselben Schluss ziehen, den er für seinen Zarathustra gezogen hat:27 Wenn die Philosophie seit Platon über Jahrtausende hinweg den Nihilismus verdeckt hat, muss sie ihn auch aufdecken und „den Willen von Jahrtausenden auf n e u e Bahnen zwingen“ (JGB 203, KSA 5, S. 126) können. Instandsetzen könnte sie dazu aber nur eine überlegene Orientierung. Sie müsste (1.) den größeren Überblick haben, (2.) zum Handeln befähigen und (3.) zur Selbstkritik fähig sein. So könnte sie im Nihilismus auch anderen Orientierung geben – soweit sie das wollen. Eben das zeigt Nietzsche im sechsten Hauptstück „wir Gelehrten“, also ausgehend von den Gelehrten oder Wissenschaftlern, wie er selbst auch einer gewesen war.28 Er setzt bei der „Rangverschiebung [] zwischen Wissenschaft
24 Vgl. Burckhardt 1982, S. 239 und S. 260. Zu den historischen Kontexten von Burckhardts Satz, eigentlich eines Zitats von Friedrich Christoph Schlosser, siehe Gerhardt 1996, S. 71–76 und S. 104–111. – Macht erwecke, so Nietzsche in JGB 199, in „Befehlenden“ inzwischen ein so „schlechtes Gewissen“, dass sie „sich selbst erst eine Täuschung vor[]machen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur gehorchten“, und sich „als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen, zum Beispiel als ‚erste Diener ihres Volks‘ oder als ‚Werkzeuge des gemeinen Wohls‘.“ (JGB 199, KSA 5, S. 119 f.) Siehe dazu Bobbio 2008, S. 283 f. 25 Dieser Gesichtspunkt müsse, so schon Ulmer, „unbedingt bewahrt werden“: „Denn immer mehr wird es spürbar, daß es an Menschen fehlt, die imstande sind, die heutige Gesellschaft zu führen und der Weltlage gerecht zu werden.“ (Ulmer 1962, S. 72) 26 Die jüngste anglo-amerikanische Nietzsche-Forschung hat Nietzsche hier, in einem lebhaften Meinungsstreit, viel abgewinnen können. Vgl. den mehrfach zitierten repräsentativen Band Siemens/Roodt 2008. 27 „Zarathustra s c h u f diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn e r k e n n t .“ (EH Schicksal 3, KSA 6, S. 367) 28 Lampert hält den Titel für ironisch (vgl. Lampert 2001, S. 178 und S. 180), Acampora/AnsellPearson nennen ihn „intriguing“ (Acampora/Ansell-Pearson 2011, S. 132): Nietzsche spreche aus seiner eigenen Erfahrung als Gelehrter heraus.
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und Philosophie“ (JGB 204, KSA 5, S. 129) an, die zu seiner Zeit eintrat und bis heute anhält. Nur mit Hilfe der Wissenschaften könne „der Philosoph“ einen „Überblick“ (JGB 205, KSA 5, S. 132) über die Situation seiner Zeit gewinnen. Aber eben über der Einarbeitung in die Wissenschaften könne er ihn auch verlieren und nicht mehr zu einem „Gesammt-Werthurtheil“ kommen (JGB 205, KSA 5, S. 132).29 Seine Orientierung wird erst überlegen, wenn es ihm gelingt, die Wissenschaften als „Werkzeuge“ eben zur Klärung der Bedingungen der Orientierung zu nutzen (vgl. Jaspers 1932). Mit der „Entselbstung und Entpersönlichung“, die die Wissenschaft voraussetzt, der „‚Selbstlosigkeit‘“ im Dienst der Wahrheit (JGB 207, KSA 5, S.135; vgl. FW 345), die zur Moral des „wissenschaftlichen Menschen und idealen Gelehrten“ (JGB 205, KSA 5, S. 133) geworden ist, bieten sie sich selbst dazu an. Mit geradezu brutaler Drastik setzt Nietzsche dem Wissenschaftler als „sublimster Art des Sklaven“ den Philosophen als „cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur“ (JGB 207, KSA 5, S. 136) entgegen.30 Das ist eine „Werthschätzung“ (JGB 2, KSA 5, S. 16), die Umkehrung des Wertgegensatzes seiner Zeit. Aber Nietzsche belässt es nicht bei der Entgegensetzung, er gradualisiert sie. Er unterscheidet im Übergang von den Wissenschaftlern zu den „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n “ (JGB 211, KSA 5, S. 145) vier Typen und Stufen von Orientierenden: (1.) die schwachen Skeptiker, die bereit sind, alle Werte in Frage zu stellen, ohne zu neuen Wertentscheidungen fähig zu sein – Nietzsche stellt die Diagnose „Willenslähmung“ (JGB 208, KSA 5, S. 138); (2.) die starke „Skepsis der verwegenen Männlichkeit“, die bei aller Einsicht in die letzte Haltlosigkeit der Urteile urteils-, entscheidungs- und handlungsfähig
29 „Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in’s Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und ‚spezialisiren‘ lässt: so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, N i e d e r b l i c k kommt.“ (JGB 205, KSA 5, S. 132) 30 In WS 171 hatte er noch zurückhaltender formuliert. Dort schrieb er: „Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als ‚Angestellte‘ bezeichnen.“ (WS 171, KSA 2, S. 624 f.) Sie sind „um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, ‚um derentwillen die Wissenschaft da ist‘ — wenigstens scheint es ihnen selber so —: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie […] bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten.“ (WS 171, KSA 2, S. 625) Und dann formuliert er – schon hier – den Gegensatz des „Arbeiters des Geistes“ und des „P h i l o s o p h e n “ (WS 171, KSA 2, S. 626).
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bleibt – Friedrich der Große habe sie vor-, die „grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker“ hätten sie nachgelebt (JGB 209, KSA 5, S. 141); (3.) die „Kritiker“ unter den Philosophen, die für ihre Kritik schon „Werthmaasse“ voraussetzen und nach ihnen auch methodische Selbstkritik üben (JGB 210, KSA 5, S. 142 f.) – hier nennt Nietzsche das „edle[] Muster Kant’s und Hegel’s“ (JGB 211, KSA 5, S. 144);31 und schließlich (4.) die höchste Stufe derer, die selbst Wertmaße setzen, Orientierung geben, der „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n “ (JGB 211, KSA 5, S. 145).32 All dies können, wie die Beispiele zeigen, unterschiedliche Personen, werden aber mehr noch, wie Nietzsche hinzusetzt, „Stufen“ der „Erziehung“ des „wirklichen Philosophen“ (JGB 211, KSA 5, S. 144) sein, die, wie in Nietzsches eigenem Fall, vor allem eine Selbsterziehung sein wird.33 Der eine wird auf einer früheren, der andere auf einer späteren Stufe „stehen bleiben“ (JGB 211, KSA 5, S. 144)
31 Vgl. schon SE 7, KSA 1, S. 409 f.: „Ein Gelehrter kann nie ein Philosoph werden; denn selbst Kant vermochte es nicht, sondern blieb bis zum Ende trotz dem angebornen Drange seines Genius in einem gleichsam verpuppten Zustande. Wer da glaubt, dass ich mit diesem Worte Kanten Unrecht thue, weiss nicht, was ein Philosoph ist, nämlich nicht nur ein grosser Denker, sondern auch ein wirklicher Mensch; und wann wäre je aus einem Gelehrten ein wirklicher Mensch geworden? Wer zwischen sich und die Dinge Begriffe, Meinungen, Vergangenheiten, Bücher treten lässt, wer also, im weitesten Sinne, zur Historie geboren ist, wird die Dinge nie zum ersten Male sehen und nie selber ein solches erstmalig gesehenes Ding sein; beides gehört aber bei einem Philosophen in einander, weil er die meiste Belehrung aus sich nehmen muss und weil er sich selbst als Abbild und Abbreviatur der ganzen Welt dient.“ 32 Vgl. zum Sinn des „Gebens“ FW 301 aus dem IV. Buch der FW von 1882. Nietzsche geht hier weiterhin davon aus, dass „[d]ie hohen Menschen […] sich von den niederen dadurch [unterscheiden], dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören“ (FW 301, KSA 3, S.539). Sie würden so, ohne es recht zu merken, zu den „eigentliche[n] Dichter[n] und Fortdichter[n] des Lebens“, „die wirklich und immerfort Etwas m a c h e n , das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen.“ Die „Dichtung“ werde dann „fortwährend von den sogenannten practischen Menschen […] eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.“ So entstehe erst „die Welt, d i e d e n M e n s c h e n E t w a s a n g e h t “, und jene mehr Sehenden, Hörenden, Denkenden seien die „Gebenden und Schenkenden“ (FW 301, KSA 3, S. 542). Das Geben kann ganz ungewollt sein, der Wille zur Macht darin dem ‚Gebenden‘, ‚Schenkenden‘, ‚Schaffenden‘ selbst verborgen bleiben, die neue Orientierung erst in einem viel späteren Rückblick als solche erkannt und dann jemandem zugeschrieben werden. 33 Nietzsche spricht erkennbar von sich selbst, führt die ‚Arbeiten‘ an, mit denen er sich vor allem in seinen früheren Aphorismen-Büchern befasst hat: „er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und „freier Geist“ und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu k ö n n e n .“ (JGB 211, KSA 5, S. 144)
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müssen. Auch die „e i g e n t l i c h e n P h i l o s o p h e n “(JGB 211, KSA 5, S. 145) müssen also philosophische Arbeit leisten. Arbeit folgt einem vorgegebenen Programm, das abgearbeitet wird, ohne dass es in Frage gestellt würde, gehorcht in Nietzsches Worten also „Befehlen“. Sie setzt voraus, dass solche Befehlsprogramme geschaffen werden.34 Wer aber brauchbare Programme schaffen will, muss auch nach ihnen arbeiten können, wer die Orientierung ausrichten will, muss auch ihre Bedingungen kennen. Danach bestimmt sich die „Größe“ der „Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie“ (JGB 204, KSA 5, S. 131). In Jenseits von Gut und Böse noch weniger deutlich, gibt Nietzsche ‚groß‘ im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft (vgl. Stegmaier 2012, S. 169–171) über den (1.) quantitativen (mehr als anderes) und den (2.) qualitativen (bedeutsamer als anderes) hinaus einen (3.) dialektischen Sinn: Danach ist groß, was seinen Gegensatz einbeziehen und sich durch ihn steigern kann. So wird die „g r o s s e G e s u n d h e i t “ robuster durch Krankheiten, die sie übersteht, gewinnt der „g r o s s e E r n s t “ des Philosophierens neue Orientierungsalternativen durch die Fröhlichkeit, die die Wissenschaft ausschließt (FW 382, KSA 3, S. 635 f.), entscheidet die „grosse Entscheidung“ auch noch über die Maßstäbe der Entscheidung und macht dadurch „den Willen wieder frei“ (GM II 24, KSA 5, S. 336) usw. So steigert nach Nietzsche die Philosophie ihren Rang, indem sie die Wissenschaften, die ihren Vorrang bestreiten, zu ihrem ,Werkzeug‘ macht, und wird groß.35 Mit dem Begriff „G e s e t z g e b e r “ in JGB 211 geht Nietzsche von der soldatischen zur Rechtssprache über: Wird ein Befehl Einzelnen von Einzelnen für einzelne Handlungen gegeben, so ein Gesetz einer Gesellschaft im Ganzen von
34 Vgl. NL 1885, 34[195], KSA 11, S. 486 f. („Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen die Begriffe nicht mehr sich nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden“), und NL 1887, 9[48], KSA 12, S. 359 („das Feststellen zwischen ‚wahr‘ und ‚unwahr‘, das Feststellen überhaupt von Thatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischen Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, Wollen, wie es im Wesen der Philosophie liegt. Einen Sinn hineinlegen — diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch übrig, gesetzt daß kein Sinn darinliegt“), aber auch M 552 („wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von ,Wollen‘ und ,Schaffen‘ in den Wind blasen!“; M 552, KSA 3, S. 322 f.) 35 In JGB 213 spricht Nietzsche in diesem Zusammenhang von „grossen Verantwortungen“ und „grosse[r] Gerechtigkeit“ (JGB 213, KSA 5, S. 149). In einer Vorstufe zu JGB 211 nennt Nietzsche als Beispiele für „Gesetzgeber der Zukunft“ (NL 1884, 26[407], KSA 11, S. 258). Platon und Mohammed – die jedoch noch ein An-sich voraussetzten, das nur zu entdecken sei, bzw. einen Gott, der sich offenbare. Die neuen „Gesetzgeber“ müssen dagegen auf eigene Verantwortung handeln – und dabei wiederum Gesetze für eine solche Verantwortung geben.
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einer dazu berechtigten Instanz für allgemeine Handlungsweisen. Ein Befehl ordnet an, ein Gesetz legitimiert. Philosophie würde also dort Gesetz, wo sie als dazu berechtigte Instanz allgemeine Handlungsweisen legitimiert, und darüberhinaus im Einzelnen befehlen. Welche „Gesetze“ könnte sie „geben“ oder „schaffen“? Ein juridisches Grundgesetz, als Verfassung der Gesellschaft? Eine Legitimation eines solchen Grundgesetzes oder bestimmter positiver Gesetze? Ein moralisches Gesetz im Sinn Kants oder eine moralische Legitimierung von Gesetzen? Oder, über Recht und Moral hinaus, eine Grundverfassung der menschlichen Orientierung überhaupt? Das Letzte schien Nietzsche am nächsten zu liegen: ein Halt in der Haltlosigkeit, so dass man, ohne sie zu verdecken, aus eigener Kraft mit ihr leben kann. Aber was würde die Philosophie dazu berechtigen, zur Instanz der Legitimierung legitimieren? Zum Abschluss des sechsten Hauptstücks spricht Nietzsche vom „Recht auf Philosophie — das Wort im grossen Sinne genommen“. Er begründet dieses Recht dort mit der „Züchtung“ „des Philosophen“ durch „viele Geschlechter“ hindurch (JGB 213, KSA 5, S. 148). Wenn auch diese Züchtung nicht biologisch gemeint ist,36 was für ein Recht ist das dann?37
4 Das Recht der Philosophie in der Gegenwart Nietzsche hat den höchsten Anspruch an die Philosophie seit den alten Griechen gestellt und ihn erneut mit dem höchsten Pathos verbunden. Der Anspruch gipfelt darin, dass Philosophie allem übrigen seinen Sinn gebe oder seine Funktion zuweise, ohne Funktion von etwas anderem zu sein.38 Seit dem Tod Heideggers, 36 Vgl. JGB 213 („Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein“; JGB 213, KSA 5, S. 148) mit NL 1881, 15[17], KSA 9, S. 642 („In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an’s Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte.“). Danach geht es nicht um biologische oder anthropologische Vorgaben. 37 Nach Lampert liegt es in der Natur („nature“; Lampert 2001, S. 206). Acampora/AnsellPearson 2011, S. 145, haben das zu Recht bestritten, Nietzsche hat kein Naturrecht akzeptiert. Sie fragen jedoch ihrerseits nicht, woher dieses Recht kommen soll, was Philosophen zu diesem Recht berechtigt. 38 Vgl. Nietzsches Charakteristik einer „guten und gesunden Aristokratie“ in JGB 258: „Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich n i c h t als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen S i n n und höchste Rechtfertigung fühlt, — dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an
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der noch einmal auf den Vorrang der Philosophie vor den Wissenschaften pochte („Die Wissenschaft denkt nicht“; Heidegger 1954, S. 4), hat man ihren Anspruch und ihr Pathos von Generation zu Generation zurückgenommen, sich zugleich aber auch immer weniger vom Problem des Nihilismus beunruhigen lassen.39
dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren S e i n emporzuheben vermag“ (JGB 258, KSA 5, S. 206 f.). Darin ist leicht das Verhältnis wiederzuerkennen, in das Nietzsche die Philosophie zu den Wissenschaften setzt. 39 Sloterdijk 2008 hat Heidegger auch noch in das traditionelle Projekt einer ‚Menschenzüchtung‘ in der europäischen Philosophie einbezogen – als letzten. – Rorty 2008, der sich wie kaum jemand sonst die Aufgabe der Philosophie als solche zum Lebensthema machte, plädierte im Kapitel „Größe, Tiefe und Endlichkeit“ (Rorty 2008, S. 133–159) ausdrücklich dafür, die Philosophie solle auf alle Größe in universalistischen Ansprüchen, die sie in eine unhaltbare „geistige Höhe“ treibe, und romantische „tiefste Tiefen der menschlichen Seele“ verzichten (Rorty 2008, S. 144), stattdessen auf pragmatistischem Boden bleiben – und die Demokratie fördern. Man müsse solche „Reklamesprüche und PR-Maschen“ (Rorty 2008, S. 157) und überhaupt die Idee fahren lassen, „es gebe eine besondere Tätigkeit namens ‚Philosophieren‘“, die in der Kultur eine spezifische Rolle spielt (Rorty 2008, S. 155). Soweit sie eine Rolle gespielt hätte, sei sie ein „Übergangsgenre“ zwischen Religion und Literatur gewesen, an der sich Intellektuelle inzwischen orientierten (Rorty 2008, S. 160–185). Und Nietzsche sei einer von denen gewesen, die gegen den Platonismus und sein Dogma einer universalen Vernunft und gegen die (nicht näher umschriebene) „romantische Revolte“ dagegen (Rorty 2008, S. 153) angetreten, freilich noch in einem Anti-Platonismus steckengeblieben sei. So kann ihn Rorty als Bundesgenossen seiner eigenen Vorbilder, der amerikanischen Pragmatisten und der pragmatistischen Revisionisten der Analytischen Philosophie in Anspruch nehmen. Er habe die weltentwerfende Dichtung der wahrheitsfixierten Philosophie vorgeordnet und damit gegenüber Platon immerhin „das bessere Gedicht geschrieben“ (Rorty 2008, S. 207). Aber Rorty übergeht nicht nur Nietzsches Pathos; Nietzsche seinerseits wäre der alle Höhen und Tiefen zurücklassende Boden des Pragmatismus, auf den Rorty das Philosophieren bringen wollte, nicht mehr gangbar erschienen. Wenn er in einem Notat von 1884 schrieb: „Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich: man lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft“, mochte das Rortys Pragmatismus noch entgegenkommen. Aber er fuhr dann fort: „Es ist Alles glatt und gefährlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können.“ (NL 1884, 25[9], KSA 11, S. 12; zu Nietzsches Tauwind-Metapher vgl. Stegmaier 2012, S. 546–551) Der Nihilismus, von dem Rorty nicht spricht und der doch auch hinter seinem Relativismus und Polytheismus steht, schien Nietzsche mehr Philosophie mit höheren Höhen und tieferen Tiefen, nicht weniger zu erfordern, auch wenn er nicht mit ihr in einer „erlösenden Wahrheit“ zum Abschluss kommen wollte (Rorty 2008, S. 161). Und Rorty glaubte noch an erlösende Argumente, die jedem gleichermaßen plausibel zu machen seien (vgl. Rorty 2008, S. 182), Nietzsche nicht. Habermas, der Rorty gut kannte, beschrieb auch ihn als „von einem gewissen Pathos geprägt, denn die Deflationierung erhabener Begriffe und das understatement können durchaus ihr eigenes Pathos haben“, und von einem Glauben oder einer Hoffnung, die er selbst mit ihm – und Nietzsche teilte: „Fundamentale Weltsichten strukturieren Lebensformen.“ (Habermas 2011, S. 28 f.)
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Niemand, der heute ernstgenommen werden will, will die Menschheit höherzüchten, jedenfalls nicht durch Philosophie, und niemand scheint auf Philosophen als „Befehlende“ und „Gesetzgeber“ zu warten. Stattdessen will man die Philosophie möglichst verwissenschaftlichen, sie auf Funktionen der Analyse und Begründung beschränken. Die „Aufgabe“, die Nietzsche der Philosophie zuschrieb, scheint hoffnungslos überholt. Kann man, muss man Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie in der Gegenwart also abschreiben? Vielleicht doch nicht. Zunächst hat Nietzsche seinen pathetischen Ernst in der Sache bewusst durch Leichtigkeit in der schriftstellerischen Form gebrochen. Der fröhliche Grundton, auf den er seine Aphorismen-Bücher einstimmte, schlägt auf die Sache durch: in immer neuen Überraschungen seines Denkens, in seiner Bereitschaft, eigene Unterscheidungen wieder in Frage zu stellen, in seiner Kunst der Perspektivierung, in seiner Selbstdistanz und Selbstironie. So kann der Leser und vielleicht noch mehr die Leserin Nietzsches Pathos als solches beobachten, ohne es teilen zu müssen.40 Nietzsche führt seine Ansprüche an die Philosophie als seine Ansprüche vor, und erhebt sie auch nicht für sich selbst, jedenfalls noch nicht in Jenseits von Gut und Böse und in der Fröhlichen Wissenschaft. Aber mit welchem Recht erhebt er sie-dann – für die Philosophie? Zum „Recht auf Philosophie“ (Du droit à la philosophie) hat Jacques Derrida einige interessante Hinweise gegeben, anlässlich der Frage, welchen Ort Institutionen philosophischer Forschung und Lehre im Staat haben oder haben sollten (vgl. Derrida 2003[1990]). Derrida hat bekanntlich eng an Nietzsche angeschlossen, ihn aber gerade in diesem Punkt auffällig gemieden. Stattdessen hat er sich hier vorrangig mit Kant und Hegel, zuweilen auch mit Heidegger auseinandergesetzt. Selbst ihm scheint Nietzsche mit seinen übergroßen Ansprüchen an die Philosophie nicht geheuer gewesen zu sein. Und doch kam er ihm auch hier sehr nahe. Er arbeitete heraus, wie Kant für die Kritik der reinen Vernunft einen letztinstanzlichen Gerichtshof (tribunal de dernière instance) einsetzte, an dem die Vernunft alleine Richterin, also auch Richterin ihrer selbst sein sollte, und zugleich die Leser des gleichnamigen Buchs zu Richtern dieser Einsetzung bestellte (vgl. Kant, KrV, Vorrede A XXI), zu Richtern also des Autors Kant, in dem de facto jenes Tribunal bestand. Nietzsche blieb in genau diesem Rahmen. Philosophie, hatte er am Ende seines Schopenhauer als Erzieher geschrieben, müsse gänzlich unabhängig von staatlichen Institutionen sein, sie stelle selbst ein „höheres Tribunal“ dar, und dieses Tribunal bestehe nun aus einem Einzigen, Schopenhauer, „als dem Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“ (SE 8, KSA 1, S. 425). Nietzsche legiti-
40 Ähnliches kennen wir von Heidegger nicht.
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mierte Schopenhauer darin, Richter alles übrigen zu sein, und ein Philosoph wie Kant, der die Funktion der Philosophie so genau, so redlich und so bescheiden wie kein anderer beschränkt hat, autorisiert sich selbst als höchsten Gerichtshof der Vernunft, nimmt oder gibt sich, so Derrida, das „Privileg“, allem übrigen seine Ordnung oder seinen Sinn oder seine Funktion zu geben, ein Privileg, das Derrida nun seinerseits nutzen will, um neue, vom Staat zu tragende Institutionen der Philosophie zu legitimieren. Philosophie ist danach nicht auf Wissenschaft zu beschränken. Philosophen müssen zu solchen Autorisierungen, Privilegierungen und Legitimierungen auch nicht das Fach Philosophie als Disziplin studiert haben, in ihrem Philosophieren nicht durch eine Universität diszipliniert worden sein, sie müssen nicht einmal ‚wissenschaftlich‘ philosophieren, sich jedenfalls nicht ihre Standards von einer Wissenschaft vorgeben lassen – Nietzsche war kein Philosoph vom Fach, Wittgenstein auch nicht usw. Auch ihre Aufgaben, Themen, Inhalte lassen sich Philosophen nicht vorgeben oder vorschreiben; sie legen sie selbst fest, auch wenn sie wissen, dass vieles andere (persönliche Interessen, Institutionen, Kulturen, Epochen usw.) dabei mitspielen kann. Wenn nun im Wettbewerb der Philosophen und Philosophinnen jeder die Aufgaben, Themen, Inhalte der Philosophie auf seine Weise bestimmen kann, hat die Philosophie als solche nicht schon eine Aufgabe, ein Thema, einen Inhalt an sich, und in der Tat kann jede Philosophin, jeder Philosoph die Aufgabe, die andere der Philosophie, ihrer Philosophie, gestellt haben, in Frage stellen, so wie die Philosophie stets auch ihre eigenen Voraussetzungen in Frage stellen, sich selbst zum Problem machen konnte. Jede Philosophin, jeder Philosoph kann darin (mehr oder weniger) neu sein, dass sie, dass er die Philosophie neu versteht. Wenn aber die Philosophie auf einen essentialistischen, metaphysischen Begriff auch von sich selbst verzichtet, was bleibt dann anderes, um sie zu unterscheiden, als ihr Pathos, das Pathos ihrer Selbstprivilegierung? Denn bestritte man das Recht, das sie sich selbst gibt, bestritte man es wiederum aus diesem Recht. Nietzsche hat das Pathos seines Philosophierens in eindringlichen Bildern beschrieben und beansprucht, dass diese Beschreibung schon seine Definition sei: Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definirte eben das philosophische Pathos. (WA 1, KSA 6, S. 14)
In der Formel vom „P a t h o s d e r D i s t a n z “ (JGB 257, KSA 5, S. 205) hat er „Pathos“ auch als Begriff gebraucht, eben im Zusammenhang mit der „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“, die durch ein neues Bewusstsein der „Rangordnung“ unter den Menschen – und unter den Philosophen – denkbar werde. In dieser Rang-
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ordnung hätten unterschiedliche Ränge auch unterschiedliche Begriffe von sich und der Rangordnung im Ganzen; die „Distanz“ liegt eben darin, dass sie keine gemeinsamen Begriffe für sich und füreinander und für ihre Rangordnung haben. „Pathos“ ist Nietzsches Begriff dafür, dass alle Begriffe, wenn man ihnen philosophisch nachgeht, im Unbegreiflichen enden müssen, für das zuletzt Unbegreifliche am Begriff, das ihn nicht zunichte macht, sondern ihn im Gegenteil auch dann noch hält, wenn seine Bedeutung fraglich wird. Zuletzt, in Ecce homo, hat Nietzsche sein Philosophieren die „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ genannt und sich ausdrücklich „das Recht“ genommen, es so „zu verstehn“ (EH GT 3, KSA 6, S. 312). Das ‚Dionysische‘ wiederum ist ein anderer Begriff für die Fraglichkeit und Entscheidbarkeit aller Wertunterscheidungen in der Unterscheidung von Begriffen oder kurz: für den Nihilismus. Dass die Philosophie von ihm weiß, dass sie ihn über Jahrtausende verdeckt und nun für die Zukunft aufgedeckt hat, dass sie mit Begriffen, die der Orientierung Halt geben, im Bewusstsein ihrer Fraglichkeit, Entscheidbarkeit und Unbegreiflichkeit dieser Entscheidbarkeit, also ihrer Haltlosigkeit, arbeitet, dass sie dennoch mit ihnen arbeiten kann, darin liegt ihr Privileg. Rechtfertigt das die Rede von „Befehlenden“ und „Gesetzgebern“? In ihrem Pathos nimmt oder gibt sich Philosophie das Privileg, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten kann, sei es nur vorläufig nicht oder weil sie zeigen kann, dass sie gar nicht beantwortet werden können. Weil man aber jede Antwort wieder hinterfragen kann, endet nicht nur alle Philosophie, sondern auch alle Wissenschaft irgendwo in Fragen ohne Antwort, und wenn eine Wissenschaft an diesen Punkt kommt, sagt man, es werde ‚philosophisch‘. Die Philosophie hat generell darauf bestanden und die Wissenschaftsgeschichte hat detailliert gezeigt, dass auch Theorien und Methoden, Legitimierungsinstanzen und Legitimierungsstrategien entscheidbar sind. Ist hier einmal, so oder so, entschieden, wird die jeweilige Entscheidung, die jeweilige Entschiedenheit zum Gesetz, nach dem eine Wissenschaft bis auf weiteres arbeitet. Hat sie solche Entscheidungen fraglos von andern übernommen, wirken sie wie Befehle, hat sie sie selbst getroffen, wie Selbstverpflichtungen und als solche ebenfalls wie Befehle. Wenn, wie Nietzsche betont hat, der „Wille zum System“, zu einem Theorieaufbau, der vorgibt, auf ein vorgegebenes Prinzip begründet zu sein, einen „Mangel an Rechtschaffenheit“ beweist (GD Sprüche 26, KSA 6, S. 63), dann ist das Prinzip, das bleibt, der Wille zur Entscheidung über die Prinzipien aus eigener Verantwortung. Es ist das Pathos der eigenen Entscheidung, und die Wissenschaften, auch und gerade die Physik (mit Heisenberg) und die Mathematik (mit Gödel), sind sich im 20. Jahrhundert der Notwendigkeit solcher prinzipieller Entscheidungen deutlich bewusst geworden. Wird sie zum ,Gesetz‘, ist sie zum Gesetz geworden, ist die Philosophie, die es erkannt oder geschaffen hat, zum „Gesetzgeber“ geworden,
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ob das nun bemerkt und anerkannt wurde oder nicht.41 Den wie immer bekannten oder verborgenen „Gesetzgebern“ dieser Art bleibt zuletzt „das stolze Wissen um das Privilegium der V e r a n t wo r t l i c h k e i t “ (GM II 2, KSA 5, S. 293) – auch diese Formel aus Zur Genealogie der Moral kann man als Formulierung des philosophischen Pathos lesen. Nietzsche könnte mit seinem hohen Pathos, das er als solches erkennbar gemacht hat, tatsächlich erkennbar gemacht haben, was Philosophie eigentlich ist und immer noch ist.42
41 So war nach Heidegger auch der „Satz vom Widerspruch“, der Grundsatz der zweiwertigen Logik, in Nietzsches Sinn ein „Befehl“ (Heidegger 1961, Bd. 1, S. 606–616) – der aber erst als solcher erkannt wurde, als alternative Logiken denkbar geworden waren. „Die Bestandsicherung des menschlichen Lebens vollzieht sich demnach in einer Entscheidung darüber, was überhaupt als seiend gelten solle, was Sein heiße.“ (Heidegger 1961, Bd. 1, S. 609) Ihr „Grundakt“ sei eine „Perspektivengründung“ (Heidegger 1961, Bd. 1, S. 609). Darin spielten „Befehlen und Dichten“ zusammen, „Dichten“ so verstanden, dass im „grundlosen Gründen eines Grundes“ die „Freiheit“ „sich selbst das Gesetz ihres Wesens gibt“ (Heidegger 1961, Bd. 1, S. 610 f.). Das entspricht, in pathetischerer Formulierung, dem oben Gesagten. 42 Danach sind es die philosophischen Begriffe als solche, die sich aufgrund vielfältigster Erfahrungen und Deutungen des Lebens in Jahrtausenden gesammelt, verbunden und erneuert haben und in denen nun, nach Robert Musil, „das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen“ (Musil 1952, S. 458), jedenfalls für Philosophen. Nietzsche hat den Adler zu Zarathustras vornehmstem Tier erkoren, symbolisch für das Pathos, sich in erhabenen Abstraktionshöhen mit größtem Scharfblick über dem Alltag zu halten, immer auf Beute aus, von Zeit zu Zeit aber auch gezwungen zu landen, um das Erbeutete zu zerreißen, zu verzehren und zu verdauen (vgl. NL 1884, 28[14], KSA 11, S. 304). „Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit AdlersKrallen den Abgrund f a s s t : Der hat Muth.“ (Za IV Menschen 4, KSA 4, S. 358) Der Adler erhebt sich alleine in seine Höhen, aber nicht ohne Konkurrenten um sein Revier und seine Brut, als einer unter anderen Willen zur Macht. Der Adler wurde zum Wappentier von ‚Reichen‘ (Persisches, Ägyptisches, Heiliges Römisches, Deutsches, Österreichisches, Russisches, Napoleonisches Reich usw.), symbolisierte die machtvolle Herrschaft des Gesetzes, eines Gesetzes. Aber Nietzsche gab seinem Zarathustra auch die Schlange bei, die immer am Boden bleibt, es sei denn, der Adler trägt sie in die Höhe. Und zum Schluss ließ er ihn bei einem Löwen ankommen, der noch häufiger als der Adler zum Staatssymbol geworden war, aber bei einem lachenden Löwen. – Zum Erhabenen, das (oder der Selbsterhöhung, die) im philosophischen Pathos liegt, vgl. Ansell-Pearson 2008 zum frühen Nietzsche und Ansell-Pearson 2010, Abschnitt IV. („On the Sublimities of Philosophy“), S. 223–229, zum mittleren Nietzsche. – Siemens 2008b unterscheidet Typen von philosophischen Gesetzgebern bei Nietzsche (z. B. Schopenhauer, Wagner, Zarathustra) und verfolgt sie durch sein Werk hindurch. Gemeinsam sei ihnen, dass sie immer auch Selbstgesetzgeber sein müssten: „For Nietzsche, then, self-legislation is to be both the source of orientation and an unifying power in modernity.“ (Siemens 2008b, S. 197) – Djurić 1989 hat dargelegt, wie vom Pathos der Philosophie, das seit den Griechen bis zu Hegel ein Pathos des Staunens und ein Pathos für die Wahrheit war, bei Nietzsche, dessen Zeitalter die Überzeugung gewonnen hatte, „daß wir die Wahrheit nicht haben“ (NL 1880, 3[19], KSA 9, S. 52), das bloße Pathos zurückblieb. Wenn Nietzsche in einem späten Notat schließlich das „‚Wirken‘“ der Willen zur Macht aufeinander „ein Pathos“ nannte, das auch der Unterscheidung von Sein und Werden noch voraus
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Aber warum dann Hoffnungen auf sie? Sind Wissenschaftler auf Wahrheit fixiert, so wollen Philosophen, die es hier schwerer haben, auch wirken. Sie nutzen dazu, wie es wiederum Nietzsche vor- und ausgeführt hat, auch Maskenspiele, zuweilen schwer durchschaubare Kommunikationsstrategien. Sie wollen damit aber zu Einsichten bringen, z. B. über den Wert und Unwert der Wahrheit, und durch diese Einsichten wirken. Nietzsche hat sichtlich an die Wirkungskraft philosophischer Einsichten geglaubt, intensiv geglaubt (vgl. Conway 2008, S. 43). Sonst hätte er nicht von seiner Aufdeckung des Nihilismus eine die europäischen Gesellschaften über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufwühlende Krise erwarten können und auch nicht, dass ein Gedanke wie der der ewigen Wiederkehr des Gleichen „züchtend“ wirken könnte.43 Einsichten wirken aber nur durch ihre
gehe als „die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt …“ (NL 1888, 14[79], KSA 13, S. 259), versuchte er das Pathos auch inhaltlich zur Grundbestimmung seiner Philosophie oder seines Philosophierens zu machen. Djurić hat offengelassen, was das für Nietzsche, die Philosophie überhaupt und für die gegenwärtige Philosophie bedeutet. – Simon, der es sich, wie Friedrich Kaulbach, zum erklärten Ziel machte, „mit Kants Hilfe der Schreibart Nietzsches den Eindruck des Schrillen und Irrationalen zu nehmen“ (Simon 1992, S. 203), hat dann gezeigt, dass schon für Kant nach dem Fragwürdigwerden der Gesetze einer Natur an sich der Philosoph, der das bedachte, selbst zum „G e s e t z g e b e r “ werden musste (Simon 1992, S. 206). Während Kant jedoch noch eine allgemeingültige Gesetzlichkeit der Logik, des Rechts und der Natur vor Augen hatte, erweiterte Nietzsche zu seiner Zeit das philosophische Gesetzgeben zur „Setzung neuer Grundbegriffe um der weiteren Orientierung willen“ (Simon 1992, S. 216), das hieß für ihn: zur Kunst, Gedanken zu herrschenden Gedanken machen: „Philosophie wird so zur Kunst, aus dem eigenen beschränkten Horizont heraus Bestimmungen so zu formulieren, daß sie als wesentliche einleuchten. Im individuellen Stil, nicht mehr im ‚Sein‘, aber auch nicht mehr allein in allgemeinen Gesetzen der Logik liegt nun die Quelle von Notwendigkeit.“ (Simon 1992, S. 212) 43 In der Verkündigung der „Lehre der Wiederkunft“ hat Nietzsche einen Akt der „Gesetzgebung“ gesehen, zugleich aber gefragt: „Welchen Sinn hat es Gesetze zu geben?“ (NL 1883, 15[10], KSA 10, S. 481 f.). Wie komplex er sich die „Züchtung“ oder „Erziehung“ dachte, zeigen weitere Notate in demselben und dem folgenden Notizheft, auf die Siemens 2008b hingewiesen hat. Vgl. v.a. NL 1883, 15[19], KSA 10, S. 483 f. („Gesetze als Rückgrat – an ihnen arbeitend und fortschaffend“), NL 1883, 15[21], KSA 10, S. 485 („Herrschen? gräßlich! Ich will nicht meinen Typus aufnötigen. Mein Glück ist die Vielheit! / Problem! / Zum agon aufrufen!“), NL 1883, 15[58], KSA 10, S. 494 („Gesetz für Gesetzgeber“), NL 1883, 16[86], KSA 10, S. 530 („Forderung: das neue Gesetz muß erfüllbar sein — und aus der Erfüllung muß die Überwindung und das höhere Gesetz wachsen. Zarathustra giebt die Stellung zum Gesetz, indem er das ‚Gesetz der Gesetze‘, die Moral aufhebt. / Gesetze als Rückgrat. / an ihnen arbeiten und schaffen, indem man sie vollzieht. Bisheriger Sklavensinn vor dem Gesetze!“), NL 1883, 16[88], KSA 10, S. 531 („Die Rechte, die ich mir erobert habe, werde ich dem Anderen nicht geben: sondern er soll sie sich rauben! gleich mir — und mag sie nehmen und mir abzwingen! Insofern muß ein Gesetz da sein, welches von mir ausgeht, als ob es Alle zu meinem Ebenbilde machen wolle: damit der Einzelne sich im Widerspruch mit ihm entdecke und stärke.“ – „Wer ein Recht sich nimmt, wird dies Recht dem Anderen
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Kommunikation. Ob und wie sie wirken, hängt dann von den andern ab. Da Nietzsche seine Einsichten nicht für lehrbar, nicht für jedermann gleich nachvollziehbar hielt, musste er auch offen lassen, wie sie wirken, und wir wissen inzwischen, wie vielfältig sie gewirkt haben. Heißt das auch, dass Nietzsche mit der Abgründigkeit seiner Einsicht in den Nihilismus gewirkt hat, außer dass darüber viele Bücher geschrieben und Vorträge gehalten wurden, dass er mit ihr „Gesetzgeber“ wurde? Woran sollte man das festmachen? Und wenn die Weltkriege und Völkermorde des 20. Jahrhunderts Wirkungen dieser Einsicht waren, wie könnte man das ermessen? Nietzsche hat das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft damit eingeleitet, dass „das grösste neuere Ereigniss, — dass ‚Gott todt ist‘, […] viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler [ist], als dass auch nur seine Kunde schon angelangt heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten, was eigentlich sich damit begeben hat“ (FW 343, KSA 3, S. 573), und er hat den Aphorismus überschrieben „W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h h a t “. Seine Antwort ist dann: es ist die Heiterkeit einer Zwischenzeit, bis die Einsicht durchgedrungen ist, und diese Zwischenzeit lässt sich nicht terminieren. Nietzsche konnte nicht wissen, ob seine Einsicht durchdringen würde, und wenn ja, wie, in welcher gedämpften oder verzerrten oder entstellten Gestalt auch immer. Dies unterlag wiederum, das wusste er, der „schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ (JGB 203, KSA 5, S. 126). Und so wusste er, dass man auf die Philosophie, die Wirkung eines Philosophierens, immer nur hoffen kann.
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nicht geben — sondern ihm Gegner sein, indem er es sich nimmt: die Liebe des Vaters, der dem Sohn widerstrebt. / Der große Erzieher wie die Natur: er muß Hindernisse thürmen, damit sie überwunden werden.“). Nach Siemens bleibt diese Art von Gesetzgebung rätselhaft, besonders im Hinblick auf Demokratien, und die Rätselhaftigkeit sei der Grund, sie in eine unbestimmte Zukunft zu verlegen.
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Martin Endres
„Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!“ Nietzsches ‚subtiles‘ Schreiben in Jenseits von Gut und Böse O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen zu geben! — wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nichtwissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern — als seine Verfeinerung! Mag nämlich auch die S p r a c h e , hier wie anderwärts, nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt; mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt zu unserm unüberwindlichen „Fleisch und Blut“ gehört, uns Wissenden selbst die Worte im Munde umdrehen: hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser v e r e i n f a c h t e n , durch und durch künstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, — das Leben liebt! (JGB 24, KSA 5, S. 41 f.)
Die folgende Untersuchung geht von der Überlegung aus, dass das programmatisch im Titel thematisierte ‚Jenseits‘ von ‚Gut und Böse‘ bei Nietzsche auch in der sprachlichen Verfasstheit des Textes Ausdruck findet. Im Zentrum steht die Frage, wie ein solches ‚Jenseits‘ von Gegensätzen gedacht und sprachlich zur Darstellung gebracht werden kann, wenn sich Gegensätze unablässig in jedes Urteil, in jede begrifflich-propositionale Aussage über diesen angestrebten Status, über diesen gesuchten Ort des Denkens und Sprechens einzeichnen und dieses infizieren. Denn jede beanspruchte ‚Meta‘-Position, jede Vorstellung eines über, hinter oder unter führt lediglich dazu, die problematisierte Opposition auf einer nächst höheren Ebene zu wiederholen, indem sie dem unbestimmten ‚Jenseits‘ ein fragwürdig gewordenes ‚Diesseits‘ gegenüberstellt. Das Dilemma besteht folglich darin, dass die ‚Verwindung‘ eines auf Gegensätzen beruhenden Denkens und Sprechens nur in diesem selbst vollzogen werden kann, will es nicht hinter seinen selbst gesetzten Anspruch zurückfallen.
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Martin Endres
Diese den gesamten Band Jenseits von Gut und Böse prägende Spannung von Gegensätzlichkeit und ihrer sprachlichen Verwindung wird besonders in JGB 24 am Anfang des zweiten Hauptstücks „der freie Geist“ von Nietzsche thematisiert und zugleich im Modus eines selbstreflexiven und -bezüglichen Sprechens diskutiert. Die von Nietzsche im Verlauf seiner Argumentation gesetzte strukturelle Analogie von Denken und Sprechen angesichts ihrer beider ‚Verblendung‘ infolge von „Vereinfachung und Fälschung“ bzw. „muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen“ (JGB 24, KSA 5, S. 37) findet in dem meines Erachtens zentralen Satz des Paragraphen seinen Höhepunkt: „Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!“ Ich sehe darin eine Grundfigur von Nietzsches Schreiben realisiert, die nicht nur für das Verständnis von JGB 24 von zentraler Bedeutung ist, sondern für die ‚Textur‘ von Nietzsches Texten überhaupt. Ziel meiner Untersuchung ist es, in einer textnahen Lektüre des Paragraphen zu zeigen, dass Nietzsches Texte (insbesondere Jenseits von Gut und Böse) Ausdruck eines – im Wortsinn – ‚subtilen‘ bzw. ‚subtilisierenden‘ Schreibens sind; einem Schreiben, dem es angesichts der hohen syntaktischen und semantischen Komplexität der Rede, der ästhetisch-literarischen Darstellungsformen sowie quasi-dekonstruktiven Verfahrensweisen „hier wie anderwärts“ gelingt, in seinem Vollzug über die „Plumpheit“ einer urteilend-vereinfachenden Sprache „hinaus[zu]können“ – sozusagen nicht als ihr „Gegensatz, sondern als [ihre] Verfeinerung“ (JGB 24, KSA 5, S. 37). Bevor ich nun genauer auf die eben skizzierte sprachliche Verfasstheit von JGB 24 eingehe, möchte ich zunächst die Problemstellung schärfer konturieren, an der meine Untersuchung ihren Ausgang nimmt: die Frage nach der Gegensätzlichkeit sowie die Möglichkeit bzw. der Topos des im Titel angezeigten ‚Jenseits‘ derselben. Ich schließe in dieser Exposition direkt an die Ausführungen Wolfgang Müller-Lauters in Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie an und folge ihm darin, dass die Äußerungen Nietzsches „über das Bestehen von Gegensätzen“ auf den ersten Blick „selber von gegensätzlicher Art zu sein“ scheinen (Müller-Lauter 1971, S. 10). Zum einen betont Nietzsche die Notwendigkeit von Gegensätzen aufgrund ihrer grundsätzlichen Komplementarität und wechselseitigen Bedingtheit – d. h. die Abschaffung eines Gegensatzes würde zugleich den Verlust beider Seiten bedeuten, umgekehrt ist jede Profilierung und Stärkung der einen Seite mit einer entsprechenden Profilierung der anderen verbunden. Zum anderen gibt es für Nietzsche „keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes – u von da aus fälschlicherweise in die Dinge übertragen“ (W II 1, S. 74, Z. 2–4). Nun gründet dieser Widerspruch bekanntermaßen in der Unterscheidung Nietzsches zwischen logisch-scheinbaren und wirklichen Gegensätzen. Erstere gründen in der verfälschenden Abstraktion identifizierenden Denkens, dem Exis
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tenz ermöglichenden „Gleichmachen des an sich Ungleichen“ (Müller-Lauter 1971, S. 12). Die daraus erwachsenden ‚begrifflich‘-statischen Gegensätze der Logik zulasten des Konkreten sind jedoch der ‚Verschiedenheit‘ und ‚Entgegensetzung‘ der Dinge „nicht adäquat“ (KGW III/3, 7[110]). Letztere zeichnen sich für Nietzsche infolge ihrer absoluten Relationalität und Wechselbeziehung gerade durch Instabilität und Veränderlichkeit aus. Folglich ist es – um hier der Interpretation von JGB 24 vorzugreifen – für Nietzsche geboten, hier vielmehr nur von ‚Graden‘ der Verschiedenheit zu sprechen denn von klaren Oppositionen. So nachvollziehbar und plausibel diese Differenzierung zwischen ‚täuschend-verstellenden‘ und ‚wirklichen‘ Gegensätzen ist, so unterliegt auch sie selbst der begrifflichen Logik, die sie kritisiert: Die vollzogene Unterscheidung der Gegensätze wiederholt und affirmiert sich selbst als Gegensatz. Entsprechend möchte ich Müller-Lauters Frage, ob Nietzsche denn „überhaupt noch ernsthaft von Gegensätzen sprechen [könne], wenn er sie auf Gradverschiedenheiten reduziert“ (Müller-Lauter 1971, S. 16), modifizieren und nach dem Modus eines solchen Sprechens fragen: Wie kann – um es zugespitzt zu formulieren – das, was jenseits absoluter Gegensätze (wie Gut und Böse) gedacht werden soll, zur Darstellung kommen, wenn es dabei gerade die Logik des Jenseits verwinden muss? Oder anders gefragt: Wie ist eine Vermittlung, wie ist ein sprachlicher Ausdruck jenseits dieses Jenseits möglich? Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass dieses ‚Jenseits des Jenseits‘ bei Nietzsche weder eine Überwindung oder Aufhebung der Gegensätze benennt, noch eine Meta-Position des Sprechens anzeigt – ‚im Gegenteil‘: Das ‚Jenseits des Jenseits‘ ist das Diesseits eines philosophischen Schreibens, das sich nicht von außen oder in ‚Opposition zu‘ äußert, sondern in sich das andere seiner selbst artikuliert und verwindet. Wie für Nietzsche keine Überwindung des grammatischen Schematismus möglich ist, so ist auch die sogenannte ‚Verfeinerung‘ der Gegensätze allein innerhalb der durch sie gesetzten Logik denkbar. Wie sehr jedoch dieser Modus des Schreibens permanent Gefahr läuft, in einfache und damit verstellende Oppositionen zurückzufallen, bezeugt ein Notat Nietzsches aus dem Notizbuch M III 1: Sobald die Verfeinerung da ist, wird die frühere Stufe nicht mehr als Stufe, sondern als Gegensatz gefühlt. Es ist leichter, Gegensätze zu denken, als Grade. (KGW V/2, 11[115], S. 380)
Auch wenn das Notat selbst eine komplexe Sprachlichkeit darstellt, die eine eingehendere Analyse erfordern würde, erhalten wir hier einen entscheidenden Hinweis auf den besonderen sprachlichen Modus der ‚Verfeinerung‘. Nietzsche unterstreicht hier die Bedeutung des ‚Geschehens‘ und der ‚Prozessualität‘: Das Denken der ‚graduellen Verschiedenheit‘ ist – will es nicht die ‚Fiktion von
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Beständigem‘ und Begrifflichem durch sein ‚Gleich- und Festmachen‘ wiederholen – allein in seinem Vollzug möglich. Sobald es innehält und sich als abgeschlossen und (vollständig) realisiert begreift, d. h. die Verfeinerung als Verfeinerung, die Stufen als Stufen identifiziert, verkehrt es sich selbst in das, was es zu verwinden sucht: in seinen eigenen Gegensatz. In gleicher Weise würde ich mich selbst einer unangemessenen und nur äußerlichen Charakterisierung des Nietzscheschen Schreibens schuldig machen, würde meine Untersuchung das eben Behauptete nicht am Text, seiner besonderen ‚Textur‘ sowie seiner Sprachbewegung entwickeln und eben diese ins Zentrum stellen. Dabei laufe ich einerseits gleich zu Anfang meiner Lektüre Gefahr, gegen meine eigene methodische Maxime zu verstoßen und mich direkt der in JGB 24 geäußerten Kritik auszusetzen. Denn insofern ich nicht mit dem ersten Wort einsetze, und sozusagen nicht auf der ersten ‚Stufe‘ des Textes beginne, sondern mit dem Satz „Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!“, mag man auch mir ‚muthwillige Sprünge und Fehlschlüsse‘ vorwerfen, die Nietzsche dem oberflächlichen Denken zurechnet. Andererseits verstehe ich – wie bereits erwähnt – gerade diesen Satz als paradigmatisch für den gesamten Paragraphen und (und dies lässt sich an dieser Stelle nur behaupten) für Nietzsches Schreiben allgemein.
Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung! (JGB 24, KSA 5, S. 37)
Der Satz stellt im Kontext von JGB 24 einen Rückbezug auf den vorangehenden her. Ich möchte diese Referenz jedoch zunächst zurückstellen – zum einen, da sie sich ungleich komplexer gestaltet, als es eine schnelle Lektüre erwarten lässt, und zum anderen, weil der Satz meines Erachtens bereits für sich eine sprachliche Struktur artikuliert, die für das Verständnis des gesamten Paragraphen leitend sein kann. Nicht als sein Gegensatz, […] (JGB 24, KSA 5, S. 37)
Entscheidend ist, den Satz in seinem Verlauf, d. h. in seiner oben genannten Sprachbewegung zu lesen, um nicht in ein begriffliches Denken zu verfallen. Entsprechend möchte ich bereits nach den beiden ersten Worten innehalten: „Nicht als“. Der Satz beginnt mit einer Negation, genauer: mit der konkreten Negation eines noch nicht genannten ‚Etwas-als-Etwas‘. Doch bereits diese negative Bestimmung des Etwas-als-Etwas setzt eine Prädikation voraus bzw. beansprucht eine konsistente Identität dieses noch Unbestimmten und schließt damit direkt an die oben entworfene Problematik der begrifflich-logischen Abs
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traktion an, die Nietzsche als Grund der falschen Gegensätzlichkeit kennzeichnet. Umso sprechender ist nun, dass dieses Etwas-als-Etwas nicht an sich, sondern in Relation zu einem anderen bestimmt wird (das konsequenzlogisch ebenfalls als mit sich Identisches vorausgesetzt ist), und diese Relation gerade keinen Gegensatz darstellen soll: „Nicht als sein Gegensatz“. Weiterhin fällt auf, dass der Satz (auch nach dem Komma) in dieser Bestimmung kein eigenes Prädikat besitzt und dieses allein in der Reflexion auf den vorangehenden Satz erschlossen werden kann (‚sich erheben‘) – ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Entscheidender ist nun der weitere Verlauf des Satzes: Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung! (JGB 24, KSA 5, S. 37)
Die Aussage, dass das eine nicht als Gegensatz des anderen gedacht werden soll, realisiert nach dem Komma mit der Konjunktion ‚sondern‘ selbst eine GegensatzLogik: Der Satz entwirft den Erwartungshorizont, dass das, was nun folgt, als Gegensatz des Gegensatzes zu verstehen ist – und affirmiert und wiederholt gerade das, was er negieren will. Genau an dieser Stelle unterbricht der Satz mit einem Gedankenstrich. Dieses von Nietzsche bewusst gesetzte Satzzeichen hatte auch in der Interpunktionslehre des 19. Jahrhunderts hauptsächlich zwei bis heute erhaltene Funktionen, die hier von Bedeutung sind: Erstens markiert ein Gedankenstrich den Abbruch einer Rede, um das Verschweigen des Abschlusses eines Gedankens zu bezeichnen, und zweitens markiert er eine Pause im Lesen, um auf das Folgende aufmerksam zu machen und eine gewisse Spannung herbeizuführen. Auch Wojciech Simson spricht in seinen Beobachtungen zur Typographie in Nietzsches Vorreden von 86/87 von einer „gedanklichen Klimax“ infolge eines Gedankenstrichs kurz vor dem Satzende (Simson 1995, S. 214). Das Druckmanuskript von JGB 24 lässt sogar die Überlegung zu, ob Nietzsche den Gedankenstrich nicht erst nachträglich eingefügt hat (vgl. D 18, Bl. 16r; siehe Abb. 14). Die Laufweite der Zeile und der reguläre Wortabstand können so gelesen werden, dass Nietzsche zunächst „sondern als seine Verfeinerung“ in einem Zug geschrieben hat und erst danach das Interpunktionszeichen dazwischen setzte (vgl. D 18, Bl. 16r; siehe Abb. 14). Ich lese dieses graphisch markierte Innehalten im Fortgang der Äußerung als das entscheidende Moment des Satzes.1 Die Äußerung wiederholt nicht bruchlos die von ihr eigens thematisierte Gegensatz-Logik, sondern löst mit dem Gedan-
1 Betrachtet man den Satz unter metrisch-rhythmischen Gesichtspunkten, unterbricht der Gedankenstrich auch den ansonsten gleichmäßigen ‚Sprachfluss‘ von fünf Daktylen: ‚Nicht als sein Gegensatz, sondern (–) als seine Verfeinerung‘ = Xxx Xxx, Xx(|)x Xxx Xxx.
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kenstrich eine Reflexion auf die Problematik und Unangemessenheit solchen Sprechens aus. Entscheidend ist, dass der Satz danach nicht in einen anderen Modus der Rede wechselt, auch wenn ihm eine doppelte Bedeutung zukommt: „als seine Verfeinerung“ ist einerseits die Einlösung der syntaktischen Bezüge, die verzögert und offen gehalten wurden (nämlich die konkrete Nennung eines Gegensatzes des Gegensatzes). Andererseits bezeichnet und kommentiert „Verfeinerung“ als dieser Gegensatz vom letzten Wort her den gesamten Verlauf des Satzes: „Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung“ ist kein einfacher Gegensatz, sondern wurde seine (eigene) Verfeinerung. Das Verständnis des Satzes beschreibt damit exakt die von Nietzsche in M III 1 skizzierte Logik (vgl. KGW V/2, 11[115], S. 380): Ist die ‚Verfeinerung‘ (wörtlich wie satzlogisch) in der zweiten Satzhälfte ‚da‘ bzw. wird sie auf diese Satzhälfte reduziert und fixiert, erscheint die erste Satzhälfte als ihr Gegensatz. Die ‚Verfeinerung‘ als Verfeinerung, d. h. als Prozess und nicht als Begriff zu verstehen, erfordert folglich den immer wieder neu einsetzenden ‚Durchgang durch das Ganze‘. Der Satz ist seine eigene Bewegung, die jedoch weder – im Sinne eines spekulativen Satzes – zu seiner Aufhebung, noch zu einer nur paradoxen oder widersprüchlichen Ausstellung seiner Momente führt. Um diesen doppelten und dabei in sich verschränkten, „verknüpften“ und „verhäkelten“ (JGB 2, KSA 5, S. 17) Modus des Sprechens auf den Punkt zu bringen: Der Satz (als ganzer) ist seine Verfeinerung und zugleich ist er sie nicht, will man ihn als solche begrifflich festhalten. Es gilt nun jedoch zu klären, warum Nietzsche an dieser Stelle gerade das Wort ‚Verfeinerung‘ wählt, um diesen Vorgang zu bezeichnen – d. h. was es bedeutet, dass sich der Satz in seinem Verlauf ‚verfeinert‘. Das Wort ‚Verfeinerung‘ besitzt im Deutschen – und dies ist nach den bisherigen Beobachtungen nicht sonderlich überraschend – eine doppelte, wenn nicht gar ‚gegensätzliche‘ Bedeutung: Einerseits bezeichnet es eine kritische Ausdifferenzierung, Steigerung, Präzisierung, Schärfung, Konkretisierung und Sensibilisierung und wendet sich damit gegen alles Einfache, Rohe und Grobe. Andererseits wird darunter – durchaus negativ konnotiert – ein Abschleifen, ein Verdünnen verstanden, das bis zur Schwächung und Auflösung des Gegenstandes führen kann. Diese semantische Spannung findet sich auch im lateinischen subtiliare bzw. subtilis, insbesondere in der philosophischen Verwendung des Wortes. Die subtilitas zählt zum einen, wie beispielsweise für Cicero, als ‚differenzierte Genauigkeit‘ und ‚Scharfsinnigkeit‘ zur „rühmlichsten Eigenschaft der Philosophie“ (Meier-Oeser 1998, S. 563), durch die man für Thomas von Aquin bis ins „Innere der Dinge gelangt“ und die die „natürlichen Eigenschaften einer [zuvor] verborgenen [bzw. verstellten] Sache“ (Meier-Oeser 1998, S. 565) freizulegen vermag. Zum anderen hat subtilitas eine ironische, abwertende Bedeutung, insofern es zum Schlagwort
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der Scholastikkritik wurde und die ‚lächerliche Haarspalterei‘ bezeichnet, mit der man sich „exzessiv diskutierten, spitzfindigen, aber [letztlich] sinnlosen Fragen“ (Meier-Oeser 1998, S. 566) annahm. Noch bei Kant findet sich dieser Doppelsinn der Subtilität, die zwar grundsätzlich ‚notwendig‘ und ‚verdienstlich‘ ist, dort jedoch unnütz wird, wo das Resultat der Verfeinerung „in keinem Verhältnis zum ‚Aufwand von Verstandeskraft‘ mehr steht“ (Meier-Oeser 1998, S. 566). Und selbst in der Rhetorik wird ‚subtil‘ gegensätzlich konnotiert, insofern es zum einen in Form des genus subtile den ‚schlichten Stil‘ bezeichnet, der sich zur einfachen Belehrung eignet, und zum anderen als subtilitas die Scharfsinnigkeit des Redners benennt. Tatsächlich lässt sich auch in JGB das Wortfeld ‚Verfeinerung‘, ‚fein‘ und ‚Feinheit‘ nicht eindeutig auf einen Sinn hin interpretieren – und auch im Kontext von JGB 24 ist fraglich, ob ‚Verfeinerung‘ durchweg positiv konnotiert ist: Bereits in der einfachen Lesart, nämlich dass der „Wille zum Wissen“ die ‚Verfeinerung‘ des „Willens zum Nicht-wissen“ darstellt, wird nicht klar, ob dies positiv gegen die am Anfang des Paragraphen genannte ‚seltsame Vereinfachung und Fälschung‘ und das ‚oberflächliche‘ Denken formuliert wird, oder ob auch diese Ausdifferenzierung und Konkretisierung keine wirkliche Alternative zur ‚Plumpheit‘ des Gegensatzdenkens realisiert. Der Satz aus JGB 25 „Und habt Eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele!“ (JGB 25, KSA 5, S. 42) kann als Ausdruck dieser Ambivalenz gelesen werden.2 Angesichts ihrer ambivalenten Bedeutung ist die ‚Verfeinerung‘ und auch das von mir im Untertitel meiner Untersuchung so bezeichnete ‚subtile Schreiben‘ Nietzsches gerade nicht – was meine vorige Bestimmung als ‚paradigmatisch‘ nahezulegen schien – als Begriff, als eine fixier- und entsprechend wiederholbare sprachliche Figur zu verstehen, sondern bezeichnet einen besonderen Modus des Schreibens, der in der jeweiligen sprachlichen Thematisierung seines Gegenstandes einen je individuellen Ausdruck findet.
2 In diesem Zusammenhang möchte ich ganz bewusst – als Einschub zu meiner Lektüre – den Vorwurf der ‚Überinterpretation‘ provozieren: Was ich zu denken geben will ist die Relation von ‚Verfeinerung‘ und der im ersten Satz von JGB 24 genannten ‚Vereinfachung‘. Sieht man mit einer rein philologischen Brille auf die beiden Worte, fällt auf, dass sie sich in den ersten sieben Buchstaben allein in deren Anordnung unterscheiden. Um meine Überlegung abzukürzen: Auch ‚Vereinfachung‘ und ‚Verfeinerung‘ sind (in diesem Paragraphen) nicht einfach Gegenbegriffe, sondern lediglich voneinander ‚verschieden‘, anagrammatisch aufeinander beziehbar und auseinander ableitbar. Meiner Ansicht nach ist dies im Horizont der Äußerung in JGB 20 zu lesen, dass „die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen“ (JGB 20, KSA 5, S. 34).
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Der grundsätzliche Charakter dieses Schreibens lässt sich – will man ihn in dieser Weise ‚verallgemeinern‘ – mit den Worten Jean-Luc Nancys aus dessen Hegel-Lektüre beschreiben: Die Sprache wird in diesem Modus des Schreibens „kaum gesetzt“, sondern „subtilisiert […]. Sie ist aber nicht an einen anderen Ort oder über sich hinaus gegangen. Es ist, als habe sie sich in sich selbst subtilisiert, in der Evidenz ihres Daseins, ‚an der Form‘. [… D]ie Sprache subtilisiert sich im Medium ihrer selbst“ (Nancy 2011, S. 103). Diesem ‚subtilen‘ bzw. ‚subtilisierenden‘ Schreiben Nietzsches in JGB 24 möchte ich nun weiter nachgehen und auf den Satz zu sprechen kommen, auf den sich die Rede von der ‚Verfeinerung‘ direkt bezieht: Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! (JGB 24, KSA 5, S. 37)
Auf den ersten Blick lassen sich die beiden Sätze verkürzt wie folgt paraphrasieren: ‚Auf dem Willen zum Nicht-Wissen durfte sich der Wille zum Wissen erheben, wobei letzterer nicht als Gegensatz zu denken ist, sondern als dessen Verfeinerung‘. Bei genauer Hinsicht widersetzt sich der Satz jedoch in seiner Form dieser vereinfachenden Deutung und artikuliert gleich mehrere Momente, die eine derart eindeutige Referenz wenn nicht unterlaufen, so doch zumindest irritieren. Zunächst ist festzuhalten, dass der Satz aus zwei Teilen besteht: Der erste Teil formuliert eine propositionale Aussage – nämlich dass sich ‚erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit die Wissenschaft bisher erheben durfte‘. Die Frage, was ‚dieser‘ Grund ist, stelle ich erst einmal hinten an, ebenso die alles andere als unproblematische Verschränkung der Worte „erst“, „nunmehr“ und „bisher“ zu einer komplexen Chrono-Logie. Nehmen wir nun diese erste Aussage selbst als den ‚Grund‘ bzw. den Kern dieses Satzes, dann bleibt offen, warum überhaupt weitergesprochen wird. Meine These ist, dass die sich anschließende Ergänzung exakt der Logik folgt, die im nächsten Satz expressis verbis mit ‚Gegensatz‘ und ‚Verfeinerung‘ thematisiert wird und mithin gerade darin der Anlass für die Fortsetzung des Sprechens zu sehen ist. So bringt der zweite Satzteil dieses Verhältnis nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch formal zur Darstellung, und das in mehrfacher Hinsicht: Einmal betont er als chiastisches Gegenstück die im ersten Satzteil mit „Unwissenheit“ und „Wissenschaft“ aufgebaute Antithesis, d. h. er affirmiert diesen Gegensatz syntaktisch in Form eines ‚Gegensatzes‘. Dieses Gegenstück, das zugleich eine explikative Funktion besitzt (was im ersten Satzteil gesagt wurde, soll nun konkreter ausformuliert werden), vollzieht sich nun
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aber im Modus der Ausdifferenzierung und Präzisierung – sprich: im Modus inhaltlicher wie formaler ‚Verfeinerung‘. So würde man erwarten, dass der Satz sich in folgender Weise weiterentwickelt: ‚der Wille zum Wissen auf dem Grunde des Nicht-wissens‘. Wiederum genau an der Stelle aber, an der diese klare Opposition ausgesprochen werden soll, wechselt die Rede in einen anderen Modus: „auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens“. Bevor gesagt wird, worum es sich bei diesem Willen handelt, stellt ihn der Satz in eine besondere Relation: in die des Komparativs (‚gewaltiger‘). Der ‚Wille zum Wissen‘ erhebt sich folglich nicht auf seinem Gegensatz, sondern stellt lediglich einen ‚Steigerungsgrad‘ dieses Willens dar. Mit Blick auf den Chiasmus wird dieser in seinem Verlauf überschritten, insofern das durch ihn intendierte ‚zyklische Einholen‘ seines Anfangs vom Ende her in Form einer dialektischen Bewegung nun nicht mehr möglich ist. Erst jetzt, nachdem diese ‚Verfeinerung‘ innerhalb der explikativen Ausdifferenzierung der zweiten Satzhälfte angezeigt wurde, erfolgt die Nennung des ‚Grundes‘. Es ist nur konsequent, dass diese nicht in einem einfachen Gegenbegriff zu ‚Wissen‘ besteht. Könnte man hinter „Nicht-wissen“ noch einen solchen vermuten – oder anders formuliert: wird damit ein solcher Gegenbegriff kurz inszeniert –, ist diese klare Opposition spätestens mit der Ergänzung „zum Ungewissen, zum Unwahren“ unterlaufen. Der ohnehin nur ‚relationale‘ WillensGrund ist also noch nicht einmal einer, sondern eine ‚Trinität‘, deren Teile gleichwertig zueinander gedacht werden sollen. Wenn eben davon die Rede war, dass das Wort ‚Nicht-wissen‘ aus diesen drei Wörtern als ‚inszenierter Gegenbegriff‘ heraussteht, so gilt es auch diese Überlegung zu präzisieren: als Gegensatz zu ‚Wissen‘ hätte man eine alternative Schreibweise erwartet: ‚Nicht-Wissen‘ oder ‚Nichtwissen‘. Dass demgegenüber von „Nicht-wissen“ die Rede ist, kann – je nachdem, auf welche der beiden ‚regulären‘ Schreibweisen man sich bezieht – in zweierlei Hinsicht verstanden werden: einmal als der Verzicht, das ‚Wissen‘ (groß geschrieben) als Nomen zu wiederholen und damit als fixen Zustand bzw. bereits bekannten Begriff anzugeben, der durch ein Negations-Präfix mühelos in sein Gegenteil verkehrt werden kann; und zum anderen als Absage gegenüber der Vorstellung, dass das ‚Nichtwissen‘ tatsächlich als Gegenbegriff zu ‚Wissen‘ zu denken ist. Die Ambivalenz von „Nicht-wissen“ unterläuft ‚subtil‘ diese beiden Konzeptionen, hält beide gegeneinander und lässt doch keine von ihnen gelten. Die Irritation, die der Bindestrich bzw. das klein geschriebene ‚w‘ auslösen, ist – wie der Gedankenstrich im Satz darauf – die graphische Markierung für eine Unterbrechung und ein Innehalten der Rede im Wort, ohne dass damit der grammatische oder syntaktische Rahmen, in dem sich die Äußerung bewegt, verlassen oder überstiegen würde.
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Am Ende dieser Satzbewegung, die damit nicht einfach nur eine ‚Verfeinerung der Gegensätze‘ leistet, sondern zugleich auch die Relation von ‚Gegensatz‘ und ‚Verfeinerung‘ diskutiert und beide bis zuletzt zueinander in Spannung hält, eröffnet sich schließlich auch ein neuer Blick auf den bereits in seiner Komplexität analysierten Satz „Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung!“ – genauer: auf das Pronomen „sein“. Liest man die Passage in JGB 24 rein inhaltlich, soll der ‚Wille zum Wissen‘ als ‚Verfeinerung‘ des ‚Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren‘ gedacht werden. Der Satz jedoch, der diese beiden Seiten artikuliert, verkehrt diese Logik, insofern der ‚Wille zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren‘ formal die Verfeinerung des ‚Willens zum Wissen‘ darstellt. Ganz zu schweigen davon, dass auch das Pronomen „sein“ eine Irritation mit Blick auf die Möglichkeit einer klaren Zuordnung enthält: Grammatisch korrekt müsste sich der ‚Wille zum Wissen‘ auf dem ‚Willen zum Nicht-wissen‘ nicht als „sein“, sondern als ‚dessen‘ Gegensatz erheben. Durch diese wechselseitige Relativierung von Inhalt und Form wird letztlich auch die Vorstellung von einem „festen und granitnen Grunde“ in Frage gestellt. Ich greife in diesem Zusammenhang auf JGB 21 aus dem ersten Hauptstück aus, wo diese Infragestellung pointiert formuliert wird: [M]an soll sich der „Ursache“, der „Wirkung“ eben nur als reiner B e g r i f f e bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im „An-sich“ giebt es nichts von „Causal-Verbänden“, von „Nothwendigkeit“, von „psychologischer Unfreiheit“, da folgt nicht „die Wirkung auf die Ursache“, das regiert kein „Gesetz“. W i r sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Füreinander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben. (JGB 21, KSA 5, S. 36)
Mit dem Entzug des ‚festen Grundes‘ im Verlauf der Äußerung kommt Nietzsches Gedanke zur Darstellung, dass ‚Wissen‘ und ‚Nicht-wissen‘, ‚Wissenschaft‘ und ‚Unwissenheit‘ nicht in Opposition, sondern komplementär und in Wechselbeziehung zueinander gedacht werden müssen: Der Vermehrung des Wissens entspricht die Erhaltung, Transformation oder gar Vergrößerung unserer Unwissenheit, der ‚Wille zum Nicht-wissen‘ bedingt den ‚Willen zum Wissen‘ – und umgekehrt. Die ‚Fiktion‘ eines ‚Grundes‘ wird in JGB 24 – und das ist das Entscheidende – also nicht einfach negiert, was letztlich nur die erneute Erwartung eines ‚sondern‘ erzeugen würde. Vielmehr wird die Verwendung dieses Begriffs und die Inanspruchnahme des mit ihm verbundenen Denkens mit aller ‚Subtilität‘ in ihrer täuschenden Logik zur Darstellung gebracht. Entsprechend kann die Aussage, die sich direkt an das Wort ‚Verfeinerung‘ anschließt, auch als autoreferentieller
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Kommentar gelesen werden: Auch in Nietzsches Text kann „die S p r a c h e , hier wie anderwärts, nicht über ihre Plumpheit hinaus[]“ und fährt fort, „von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt“ – auch der Text unterliegt der „Tartüfferie der Moral“, die „dem Wissenden selbst die Worte im Mund“ (JGB 24, KSA 5, S. 41) umdreht. Dass ‚auch die Sprache‘ es nicht überwindet, von Gegensätzen zu reden – Nietzsche hat auch dieses ‚auch‘ im Druckmanuskript nachträglich eingefügt (vgl. D 18, 16r.; Abb. 14) – bedeutet im Umkehrschluss, dass das Denken in gleicher Weise unumgänglich davon betroffen ist. Doch Nietzsches Schreiben bleibt bei der Wiederholung und Affirmation dieser, wie es in JGB 20 heißt, „unbewussten Herrschaft und Führung“ (JGB 20, KSA 5, S. 34) grammatischer Funktionen nicht stehen, sondern realisiert über die ‚Subtilisierung‘ der Sprache ein Schreiben, das ein Denken, genauer: eine Bewegung eines Denkens einfordert, das „sich bei keiner Seite des Gegensatzes aufzuhalten vermag ohne deswegen den Gegensatz aufzuheben“ (Derrida 2003, S. 107). Ich möchte abschließend den Versuch unternehmen, eine Bestimmung der ‚Textur‘ bei Nietzsche zu skizzieren, die den gemachten Beobachtungen sowie dem vorgeführten methodischen Vorgehen meiner Lektüre Rechnung trägt. Die Wechselspannung zwischen ‚Gegensatz‘ und ‚Verfeinerung‘ hat sich wesentlich als eine Spannung zwischen Fixierung und Dynamisierung des Sprechens gezeigt – als eine Spannung, die ich auch für die spezifische ‚Textur‘ bei Nietzsche als zentral erachte. In der im weitesten Sinne verstandenen ‚Verfasstheit‘ seiner Texte, d. h. im konkreten und individuellen Zusammenhang der sprachlichen Zeichen, Wörter und Sätze bishin zu deren Materialität ist eine Struktur realisiert, die Gefahr läuft, begrifflich abstrahiert und auf Konsistenz hin paraphrasiert zu werden. Tatsächlich aber – und dies hoffe ich, gezeigt zu haben – wird diese Struktur missverstanden, fasst man sie in dieser Weise als etwas nur Statisches und Fixiertes auf. Vielmehr ist in diese Struktur eine Sprachbewegung, ein Prozess eingeschrieben, der sich seiner Identifizierung oder der Vorstellung einer restlosen Objektivierung widersetzt. Die ‚Textur‘ der Texte Nietzsches ist somit eine Struktur, die einen schrittweisen Nachvollzug ihrer Genese fordert – und umgekehrt formuliert: die Textur ist ein Prozess, der sich nach und nach als Struktur realisiert. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. An diesem Punkt wird nun auch das ‚Subtile‘ bzw. ‚Subtilisierende‘ noch einmal sprechend: Das lateinische subtilis geht etymologisch auf sub-tela zurück, wobei tela das ‚Gewebe‘ (vgl. Georges 1998, Bd. 2, Sp. 3039, s.v. tela), metonymisch verwendet sogar den ‚Webstuhl‘ bezeichnet und als Paronym aus dem griechischen techné entstanden ist (vgl. Doederlein 1841, S. 186 f.). Das ‚Subtile‘ bei Nietzsche kann somit als die ästhetische ‚Textur‘ seines Schreibens gedacht
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werden, die – auch hier gibt es keine adäquate Beschreibung ‚jenseits‘ der begrifflich-täuschenden, dialektischen Logik – einerseits als strukturelles Gewebe seinen Texten ‚zugrundeliegt‘ und diese ‚fundiert‘ (sub-tela), andererseits wiederum als Subtiles nur wahrnehmbar wird im ‚mimetischen Nachvollzug‘, den die Textur einfordert, d. h. im Prozess der ‚Subtilisierung‘.
Literaturverzeichnis Derrida, Jacques (2003): Bleibe. Wien: Passagen Verlag. Doederlein, Ludwig (1841): Handbuch der lateinischen Etymologie. Leipzig: Friedrich Christian Wilhelm Vogel. Georges, Karl Ernst (1998): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Meier-Oeser, Stephan (1998): „Subtilität“. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Basel: Schwabe, S. 563–567. Müller-Lauter, Wolfgang (1971): Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie. Berlin, New York: De Gruyter. Nancy, Jean-Luc (2011): Hegel. Die spekulative Anmerkung. Die Unruhe des Negativen. Zürich: diaphanes. Simson, Wojciech (1995): „Beobachtungen zur Typographie in Nietzsches Vorreden von 86/87“. In: Nietzsche-Studien 24, S. 204–222.
Enrico Müller
Geist und Liebe zur Maske Zu Aphorismus JGB 40 und Nietzsches Personenbegriff Nach einem Diktum Kierkegaards erfahren alle Begriffe im Verlaufe der Geschichte Veränderungen, mitunter starke Veränderungen bis hin zur völligen Deformation oder Verkehrung ihres Ausgangssinns, behalten dabei aber immer „eine Art Heimweh nach ihrem Ursprungsort“ (Kierkegaard 1929, S. 3). Für den Begriff der Person scheint dies in besonderer Weise zu gelten, und das Heimweh des Begriffs scheint, um das Bild Kierkegaards aufzunehmen, im Werk Nietzsches in besonderer Weise wieder aufzubrechen. Steht persona der Ursprungsbedeutung nach, analog zum griechischen prosopon, für das maskierte Antlitz und davon ausgehend die Schauspielermaske, so wandelt sich diese Ausgangssemantik im römischen Sprachgebrauch des Alltags einerseits zum verkleideten Menschen bis hin zum Sich-Versteller und Betrüger, andererseits und eher funktional zu demjenigen, der innerhalb eines sozialen Ensembles oder eines institutionellen Gefüges eine bestimmte Position innehat, eine Rolle spielt.1 Erst in der christlichen Tradition wachsen dem persona-Begriff dann in jahrhundertelanger Langsamkeit jene uns vertrauten Bedeutungen der Individualität und Persönlichkeit zu, die dann in der frühen Aufklärung endgültig zum Konzept der intellektuellen, emotionalen und moralischen Selbständigkeit und Identität des Individuums avancieren. Die semantische Entwicklung ist erstaunlich: Historisch bewegt sich der Begriff der persona ebenso vom Akzidentellen auf das Substanzielle zu, wie von Vielheit auf Einheit und vom Betrügerisch-Täuschenden zum Verbindlichen persönlicher Integrität – die bloße Maske avanciert zum moralischen und epistemischen Gegenspieler des wahren Selbst. Eben darin bestehen der eigentümliche Reiz und die interpretative Leistungsfähigkeit eines Wiedergewinns des antiken persona-Begriffs: Denn dieser bildet die vorgängige Einheit der in der Moderne plausibel gewordenen Differenz von Rolle versus Person, von theatralischer Maskierung und persönlicher Authentizität. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass für Nietzsches thematischen, performativen und auktorialen Umgang mit der Maske, also für seinen philosophischen Gebrauch der Maskensemantik im Ganzen, die Orientierung an dieser 1 Philosophisch nachhaltig relevant wird der Begriff erstmals in der ciceronischen Rollentheorie, nach der der Mensch gleichzeitig vier personae in sich vereint: sein Vernunft- (1) und Charakterwesen (2), seine soziale Konstitution qua Milieu (3) und seine biographischen, vornehmlich der Karriere des cursus honorum verpflichteten Entscheidungen (4).
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vorgängigen Einheit der Differenz von Beginn an maßgeblich war und bis zuletzt blieb. Folgt man dieser Sichtweise, dann etabliert Nietzsche mit dem antimetaphysischen Sprachspiel der Maske unter anderem auch einen Personenbegriff, der in gezielter Reflexion auf das antike persona-Konzept von vornherein am wechselnden Rollenverhalten des Individuums orientiert ist. Wenn dem so ist, kann es nicht mehr darum gehen, ein ,Ich‘ als einheitsstiftende Leistung hinsichtlich unserer Begriffe, Erfahrungen und Gefühle jenseits der kulturellen, sozialen, institutionellen und biographischen Kontexte ausfindig machen zu wollen. Die Persönlichkeit einer Person ließe sich dann eher in ihrer kontextuell wechselnden Maskenwahl und dem zugehörigen Maskenspiel verorten. Zeigen ließe sie sich in ihrer Geistigkeit und Moralität nur noch dann, wenn man jenseits von intellektuellen Standpunkten qua Überzeugungen und moralischen Standpunkten qua Prinzipien die Übergängigkeit und Flüssigkeit des Rollenverhaltens selbst in den Blick nimmt. Der Gewinn des Geistes jenseits eines Denkens von Gegenständen, eines Denkens als notwendig persönliche Reflexion auf die vermeintliche Gegenständlichkeit der Gegenstände bildet ein, vielleicht auch das Hauptthema von Jenseits von Gut und Böse. Vor allem dessen zweites Hauptstück über den „freie[n] Geist“ zeigt und praktiziert den derartig reflexiv gewordenen „freie[n] Geist“ als ein sich wandelndes und in seiner Wandlung fortwährend radikalisierendes, ‚jenseitiges‘ Rollenverhalten im notwendig diesseitigen Theater unserer Vorstellungen und Wertschätzungen. Im Aphorismus 40 des Hauptstücks schließlich wird ein solches ‚tiefes‘ Rollenverhalten beschrieben als Liebe zur Maske, dann als ebenso paradox wie unvermeidlich ausgewiesen und in Szene gesetzt. Diesem Zusammenhang dienen die folgenden Ausführungen.
Zur Kompositionsform im II. Buch von JGB: die Maskeraden des freien Geistes In einem Brief an Georg Brandes hat Nietzsche für Jenseits von Gut und Böse an einer ebenso prominenten wie auslegungsbedürftigen Stelle die „lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität“ geltend gemacht. Sein antisystematisches Schreiben wollte er zunächst nicht mit einem „Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien“ (Bf. an Georg Brandes, 08.01.1888, KGB III/5, Bf. 974) verwechselt wissen. Es scheint Nietzsche, mit anderen Worten, also vornehmlich nicht darum gegangen zu sein, die ,harte‘ Begriffs-Sprache der Wissenschaft lediglich mit einem ,weicheren‘, eher literarischen Sprachspiel, etwa dem des aphoristischen Schreibens, zu konterkarieren
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oder zu provozieren. Über die Abgrenzung von unverbundenen pointierten Einzelbeobachtungen hinaus könnte der angeführte und zunächst durchaus paradoxe Anspruch einer ‚Logik der philosophischen Sensibilität‘ durchaus programmatischer Natur sein. Steht nämlich die Logik im Dienst der Sensibilität und ihr nicht mehr als spontane und formende Primärfähigkeit der Vernunft asymmetrisch gegenüber, dann sind die Begriffe des Logischen wie des Sinnlichen gleichermaßen in Bewegung gebracht.2 Eine Logik der Sensibilität, die bei Nietzsche mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Logisierung derselben mehr meint, würde dann eher noch einer Rhythmik der Reflexion folgen. Von ihr aus würden sich folgerichtig weniger Fragen nach der hierarchischen Ordnung, der binären Binnendifferenzierung oder kategorialen Strukturierung eines Textes mehr aufwerfen, als vielmehr solche nach der kompositorischen Verknüpfung von Gedanken, nach dem Arrangement einer Gedankenfolge oder, wie in unserem Fall, den internen Knoten und Verbindungspunkten eines Textgewebes. Nicht-Hierarchisierbarkeit von Bedeutungen, wie sie in den Nietzschelektüren Paul de Mans und Jacques Derridas seinerzeit paradigmatisch demonstriert worden ist (vgl. Derrida 2007), hätte dann auch nicht notwendigerweise eine vollständige Dezentrierung aller bedeutungstragenden Elemente zur Folge3 – vielmehr wäre mit ihr überhaupt erst eine Tür geöffnet zu neuen Diskursformationen und ihnen entsprechenden, alternativen Kohärenzkriterien, von denen aus die metaphysische Struktur der indoeuropäischen Satzgrammatik prozedural in den Blick genommen werden kann. Mit einem dergestalt demonstrativ sprachkritisch verfahrenden Schreiben wäre eine Situation eröffnet, in der ‚die Logik‘ ihrerseits von den neuen Sensibilitäten her bestimmt und folgerichtig auch verändert würde. Nietzsches Schriften nach dem Zarathustra, seine genealogische Praxis einerseits also in Verbindung mit neuen Schreibformen bzw. der eigenständigen und eigenwilligen Veränderung bestehender schriftstellerischer Formen (Aphorismus, Erzählung, Streitschrift, Fabel)4 andererseits schafft, wie es scheint, gezielt eine ebensolche Situation – sie zeigt und zelebriert jene Grenzen, an denen Wissenschaft und Kunst, Metapher und Begriff, diskursive und narrative Logik, Form und Inhalt in
2 ‚Spontanität‘ des Verstandes versus ‚Rezeptivität‘ der Sinnlichkeit ist hierbei lediglich die transzendentalphilosophisch aktualisierte Version einer die europäische Philosophie seit Parmenides fundierenden asymmetrischen Grundunterscheidung. Nietzsches diesbezügliche Generalkritik und Rekonstruktion dieser Unterscheidung findet sich bereits in der Fragment gebliebenen Studie „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“. Vgl. etwa PHG 10, KSA 1, S. 843 ff. sowie dazu Müller 2005, S. 151–158. 3 Zur reichen Diskussion dieses Problems vgl. zuletzt Detering 2010, S. 13–24. 4 Zur Verschiedenheit der schriftstellerischen Formen Nietzsches insgesamt vgl. Stegmaier 2012, S. 7 ff.
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ihrem wechselseitigen Bezug und ihrer wechselseitigen Angewiesenheit aufeinander sichtbar werden. Es empfiehlt sich, vor diesem Hintergrund den nachfolgend zu deutenden Aphorismus darum zunächst wenigstens ansatzweise aus seiner kompositorischen Verknüpfung mit den anderen Aphorismen des zweiten Hauptstückes von JGB „der freie Geist“ heraus zu verstehen. In diesem werden die Bedingungen der Möglichkeit der Freiwerdung des Geistes insofern thematisiert, als das Wovon der Freiheit, mithin die Befreiung einerseits, und das Wozu und Wofür derselben andererseits in Frage stehen. Es geht in ihm weniger um abziehbare Bestimmungen bzw. Kriterien geistiger Freiheit, sondern vielmehr darum, dem Denken nach seiner, immer wieder neu zu erbringenden, Loslösung von den „Vorurteilen der Philosophen“ (also dem Thema des ersten Hauptstücks), das ganze Ausmaß dieser Befreiung aufzubereiten. Das Hauptstück korrespondiert im Übrigen werkbiographisch mit jenen nahezu zeitgleichen neuen Vorreden zu Menschliches, Allzumenschliches, in denen der Gewinn geistiger Freiheit noch als das Produkt eines teils emanzipativen, teils experimentellen Existenzvollzugs reflektiert wird. Die eigene Fähigkeit zur „unbedingten Verschiedenheit des Blicks“ (MA I Vorrede 1, KSA 1, S. 13) wird unter Zuhilfenahme eines Narrativs, das von passionsgeschichtlichen Elementen geprägt ist, noch ganz auf jene „Geschichte der grossen Loslösung“ (MA I Vorrede 1, KSA 1, S. 14) hin ausgelegt, der sie sich als ihre Ermöglichungsbedingung verdankt (vgl. dazu zuletzt Pichler 2012). Die Vorläufigkeit und der notwendige Täuschungscharakter neu ,gewonnener‘ Perspektiven werden dabei nicht nur in Rechnung gestellt – sie gehören vielmehr bereits unmittelbar in die Logik des Loslösungsmotivs. Das zweite Hauptstück scheint nun auch von dieser Motivkonstellation Abschied zu nehmen oder aber dieselbe nochmals zu radikalisieren: Die biographischen, religiösen, kulturellen und hermeneutischen Loslösungsprozesse verlieren jetzt nicht nur ihre konstitutive Funktion, sondern bilden ein retardierendes Moment – ‚an seinen eigenen Loslösungen hängen zu bleiben‘ wird nun zur Gefahr sich formierender Geistigkeit. Das Pathos des schmerzhaften Gewinns neuer, vermeintlich eigener Perspektiven erfährt hier seine Zurechtweisung durch die vollständige Öffnung des Geistes auf die Zukunft hin. Unabhängigkeit heißt nun auch und vor allem, den persönlichen Preis zu vergessen, den man für die neue Freiheit bezahlt hat. Offenkundig flankieren und stabilisieren die Aphorismen in dieser Absicht einander wechselseitig. Seinen Ausgangspunkt nimmt das zweite Hauptstück bei der „sancta simplicitas“,5 jener „Vereinfachung und Verfälschung“ (JGB 24), in
5 Für die folgende Überblicksskizze werden in Klammern lediglich die jeweiligen AphorismenNummern aus dem zweiten Hauptstück angegeben.
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welcher der Mensch aufgrund der Oberflächlichkeit des wissenschaftlichen Denkens und der Plumpheit der Sprache notwendigerweise lebt – und zwar recht gut lebt. Seinen Endpunkt wiederum findet das Hauptstück bekanntlich bei jenen kommenden Geistern, die jenseits ideologischer Modernismen durch Feinheit und Verborgenheit gegen die allseitige, schon normal gewordene Nivellierung andenken, sich der Gemeinheit und Gemeinsamkeit des Verstehens in die „tiefste mitternächtlichste mittäglichste Einsamkeit“ (JGB 44) entziehen. Thematisch erscheint dieser Umlauf zyklisch, insofern der Mensch zunächst als gegebene und im Sinne des Humanismus scheinbar schon ausgemessene Größe das Aphorismengefüge eröffnet und es als Pflanze ‚Mensch‘ oder Species ‚Mensch‘, nunmehr aber jeweils in vielsagenden Anführungszeichen und damit in Form einer neuen Frage, wieder beschließt. Linear wiederum im Sinne einer Diskursivität des gedanklichen Voranschreitens funktioniert das zweite Buch im Sinne sukzessiver Deplausibilisierung – der Geist demonstriert seine Freiheit, indem er sich und seine Leser von bestimmten Fragestellungen befreit. Nietzsches Buch zum freien Geist erinnert darin an Hegels Phänomenologie des Geistes, insofern hier wie da Formationen des Geistes durchlaufen, zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und auf ein neues, noch nie da gewesenes Philosophieren zulaufen. Während jedoch bei Hegel eine flüssige, aber teleologische Logik der Selbstvervollkommnung die Sichtung des Geistes bestimmt, inszeniert Nietzsche ein Geistestheater mit wechselnden Maskeraden, falschen und mehr oder weniger echten Kulissen, glaubwürdigen und unglaubwürdigen Schauspielern. Es sind eben Sensibilitäten, mit denen Nietzsche die Gestaltungen des Geistes evaluiert – nicht im Hinblick auf ihren Anteil an der Wahrheit, sondern in ihrem Umgang mit dem Schein bzw. den Stufen des Scheins.6 Tritt aber das Scheintheater an Stelle der wahren Welt, dann gibt es eben nur noch Schauspieler, dann ist das Problem des Menschen das des Schauspielers und folgerichtig geht es in einer solchen Phänomenologie des Geistes dann darum, gute Schauspieler von schlechten zu unterscheiden. Das Thema der Maske trifft unter solchen Voraussetzungen die Modi des geistigen Existierens selbst. Nach dem bereits angeführten Auftakt warnt der Autor vor Martyrien, Lehren, Idealen, also ideologischer Schauspielerei und rät demgegenüber zur eigenen „Maske und Feinheit“, auf dass man nicht verwechselt werde (JGB 25). Daraufhin wird die angestrebte Auserlesenheit ebendort angesiedelt, wo man die „Regel ‚Mensch‘ vergessen darf“ (JGB 26). Das Verstanden-Werden-Wollen findet sich nun zugunsten der „Feinheit der Interpretation“ und wird sogar auf Kosten der Freunde, jener vermeintlich Nächsten also, die glauben, aufgrund persönlicher Kenntnis
6 Zur Problematik des Scheins bei Nietzsche siehe Simon 1986.
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heraus ein privilegiertes Verständnis zu besitzen, geopfert (JGB 27). Von da an treten in Form einer sublimen seligierenden Gegenlehre geistiger Freiheit die ‚tempi des Stils‘ (vgl. JGB 28), die Lust am Labyrinthischen, die „Kunst der Nuance“ (JGB 31) und die „Selbstüberwindung der Moral“ als „Probirstein[] der Seele“ (JGB 32) in Erscheinung (vgl. JGB 28–32). Der Habitus eines dergestalt freien Geistes, der offenbar nicht mehr gelehrt, sondern eben nur gezüchtet werden kann, wertet zunächst implizit um, indem er den Verführungen des Mitleids in der Moral und der ,interesselosen Anschauungʻ in der Kunst nicht mehr erliegt (JGB 33), von der Irrtümlichkeit der Welt, vom Recht auf schlechten Charakter und vom Vorrang des Scheins vor der Wahrheit ausgeht (JGB 34), damit den europäischen Begriff der Humanität als Ganzes in Frage stellt (JGB 35) und ihm effektvoll die hypothetische Gegenlehre vom geistigen „Willen zur Macht“ im Sinne eines Denkens als Verhalten von Trieben zueinander entgegenhält (JGB 36).7 Nachdem die ohnehin im Konjunktiv gehaltene Lehre durch eine ironische Konterkarikatur des Zwanges „populär zu reden“ (JGB 37) und ein Beispiel für die retrospektive Nicht-Unterscheidbarkeit von Text und Interpretation (JGB 38) sofort ihre freigeistige Einschränkung erfährt, tritt von Aphorismus 39 an wieder und von nun an bis zum Ende der Philosoph als Kommender, als Hoffnung, d. h. als eine Möglichkeit der Zukunft ins Zentrum des Textgewebes. Gleich eingangs wird deutlich gemacht, dass „Härte und List“ demgemäß eher zu den „günstigeren Bedingungen“ eines unabhängigen Geistes gehören als „sanfte“ und „nachgebende Gutartigkeit“ (JGB 39). Um die genannte Härte ihrerseits nicht misszuverstehen, wird sie im Aphorismus 40 als eine Maske nahegelegt, die erst von der „Feinheit [… der] Scham“ (JGB 40) und der Tiefe des Geistes ihren Sinn erhält – diesem Zusammenhang gilt das folgende Kapitel. Die Herausarbeitung des Zarten, Feinen, Gefährdeten und Nuancierten des Geistes – ein Sub-Thema bzw. Sprachspiel, das das zweite Hauptstück konsequent durchläuft – wird nun auf ihre andere Seite, die notwendige Härte des Befehlenden gewendet. Das sublime Bedürfnis nach der Maske und die Fähigkeit zum Befehlen erfahren ihre Explikation jetzt im Paradox, nachdem nur derjenige „sich zu bewahren weiß“, der sich nicht nur von seinen Idealen, seinen Freunden, seinen Tugenden loslöst, sondern eben auch von diesen seinen Loslösungen (JGB 41) – der sich, mit den Worten des Aphorismus, eben in seinen Loslösungen zu bewahren weiß. Wir sind nun offenkundig im Bereich einer ausgesprochen fordernden Hoch-Ethik des Erkennenden, einer superrogativen Moral für Moralisten und Immoralisten angelangt. Der nicht ungefährliche Name einer solchen Gattung von Philosophen der Zukunft ist wohl der eines „Ver
7 Zum Inszenierungscharakter des Willens zur Macht in JGB siehe den Beitrag von Jakob Dellinger in diesem Band.
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suchers“, wobei auch ein solcher Name nach Nietzsche selbst nur ein „Versuch“ bleiben kann und, wenn man wolle, nur darin eine „Versuchung“ darstellt (JGB 42). Die Umstellung der „Wahrheit“ vom „Gemeingut“ einer in allgemein geltenden Begriffen abgefassten Dogmatik auf die eigene individuelle Urteilskraft schafft für solche Versucher ein neues philosophisches Pathos (vgl. JGB 43). Die im Aphorismus 43 entworfene Logik der Distinktion, der Differenz und der Exklusivität ist dann von Vornherein an Wahrheiten anderer Natur orientiert: Sie hält „Abgründe für die Tiefen“, „Zartheiten und Schauder für die Feinen“ und „alles Seltene für die Seltenen“ bereit und verzichtet somit auf das Einander-Verstehen in allgemeinen Begriffen (JGB 43). Der eingangs angeführte Aphorismus 44 beschließt Nietzsches phänomenologische Auslotung freier Geistigkeit mit einer energischen Abgrenzung von jeglicher sich emanzipatorisch oder aufklärerisch gerierenden Freigeisterei. Den nivellierenden Kräften des moralisch Guten, begrifflich Allgemeinen und philosophisch Idealen wird das unter „Druck und Zwang“ sich bildende „Feine und Verwegene“ (JGB 43) des allein-stehenden und mitteilungsunwilligen Geistes entgegengehalten. Der Geist selbst, auch der freie, steht zuletzt seinerseits in Anführungszeichen und wird nunmehr als „Erfindungs- und Verstellungskraft“ (JGB 43) charakterisiert – formal wird er eben damit als Regisseur und Maskenspieler (in) seiner eigenen Inszenierung ausgewiesen.
JGB 40: Die ‚Feinheit der Scham‘ und die Liebe zur Maske8 Die demonstrative und selbstbezügliche Inszenierung geistiger Freiheit, die im Sinn zu haben scheint, den Menschen selbst jenseits des Humanismus als ein ergebnisoffenes Projekt neu und damit u.a. eben auch jenseits von Gut und Böse denken zu wollen, soll den Hintergrund der nun folgenden, textnahen Interpretation unseres Aphorismus abgeben. Der Aphorismus 40 beginnt ebenso berühmt wie schwer zugänglich: „Alles, was tief ist, liebt die Maske“. Er fährt nicht minder anspruchsvoll fort: „die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichnis.“ Schon hier, im Auftakt, sind bereits maßgebliche Aspekte dessen, was sich mit dem konventionellen Begriff der Maske in theatralischem oder kulturwissenschaftlichem Kontext verbindet, außer Kraft gesetzt. Das Bild der komischen und tragischen Maske
8 Die direkten Zitate dieses Abschnittes stammen, wenn nicht anders ausgewiesen, aus JGB 40, KSA 5, S. 57 f.
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des klassischen Theaters bzw. all jener Masken, die in Festakt und Ritus innerhalb unterschiedlicher Kulturen eine bestimmte jeweils anlassgebundene Situation, Konstellation oder Figuration anzeigen, funktioniert nicht und soll offenbar auch nicht funktionieren. Anstelle der supponierten Unterscheidung von Maskierung und Selbst, mithin vom wahren bzw. natürlichen Sein jenseits des rituellen oder kulturellen Scheins, wird hier lediglich die Liebe zur Entsubjektivierung oder wie auch immer gearteten Verwandlung und Verstellung des Maskenträgers betont. Unterstellt man, dass Nietzsche in seiner Formulierung vom „Hass auf Bild und Gleichniss“ am klassischen rhetorischen Begriff metaphorischer Übertragung orientiert bleibt,9 um ebendiesen Begriff zur Disposition zu stellen („Hass“), hieße dies, dass es hier eben darum geht, die fixe Relation zwischen dem Signifikant qua Maske und dem Signifikat qua Maskenträger aufzubrechen und als kontingent zu unterstellen. Die Maske wird dann von Vornherein zum Zeichen, das in kein Verhältnis mehr eingespannt ist.10 In diese hergestellte Nicht- bzw. Unverhältnismäßigkeit trägt Nietzsche seine Folgefrage ein, eine Frage, deren ‚Fragwürdigkeit‘ und Extremität ihrerseits sofort eingeräumt wird: Ob „nicht erst der G e g e n s a t z die rechte Verkleidung sei[], in der die Scham eines Gottes einherginge?“ Gott als der oder das Allertiefste würde demnach aus Scham zur Oberflächlichkeit der Maske greifen. Unter den Bedingungen der Scham schafft die Maskierung als Kenntlichmachung eine Oberfläche des Verstehens, hinter der die Tiefe als eine unverständliche ge- und bewahrt werden kann. Ein Gott wiederum, der verkleidet als sein Gegensatz, also vielleicht als Mensch unter den Menschen weilt, lässt – man ahnt es – mannigfaltige Bezüge sowohl zur griechischen Mythologie als auch zum Christentum zu und damit zunächst die Zuordnung offen. Doch vor allem die bekannte lutherische Übersetzung des zweiten Gebots (2. Mose 20) „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen usw.“ scheint eindeutig den intertextuellen Hintergrund für jenen „Hass auf Bild und Gleichnis“ anzugeben, mit dem Nietzsche seinen Aphorismus eröffnet hat. Die thematische Brisanz der Bezugnahme steigert sich dramatisch, wenn man dieselbe zu jenem schöpfungsgeschichtlichen Akt ins Verhältnis setzt, der dieses Verbot einerseits ermöglicht und andererseits konterkariert: Denn biblisch voraus geht dem Bildnisverbot der Gottesmonolog in Buch Moses 1, 26: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei “ usw. Die Ebenbildlichkeit des Menschen zu jenem Gott, von dem er sich als imago dei gleichzeitig
9 Zur poetologischen Ausgangsbestimmung der Metapher vgl. Aristoteles: De arte poetica 1457a–b. Grundlegend für die Thematik bleibt Haverkamp 1996. 10 Zum nach nachmetaphysischen Zeichenbegriff vgl. Simon 1989.
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weder Bild noch Gleichnis machen darf, scheint daher das Ausgangsparadox zu sein, in dem Nietzsches Maskenspiel von nun an angesiedelt ist. Der Hinweis auf mögliche Mystiker, die seine Frage schon vor ihm „gewagt“ hätten, bestätigt diese Richtung mit Nachdruck.11 Der Gott Nietzsches wird zwar aus einem biblischen Paradox gewonnen, tritt von nun an jedoch weder als Gott der Rache, der ultimativen Forderungen noch als Gott der Vergebung in Erscheinung. Im Aphorismus begegnet er dem Leser nur an dessen Beginn und nur in der spekulativen Gestalt eines Gottes der Scham. Der Begriff der Scham wurde in der jüngeren Vergangenheit der Nietzsche-Forschung nicht zu Unrecht häufiger, zuletzt von Paul van Tongeren, als Schlüsselbegriff einer möglichen praktischen, ethisch bzw. diätetisch ausgerichteten Linie des Philosophierens Nietzsches ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ob dabei von einer generellen Hermeneutik der Scham im Werk Nietzsches die Rede sein kann, die Scham selbst in Gestalt eines „praktischen Vorverständnisses der Welt“ (vgl. van Tongeren 2007, S. 147–154) tatsächlich generalisierbar ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Für Nietzsche hat sich der Begriff nach unserer Meinung vornehmlich aufgrund seiner Herkunft aus dem Griechischen angeboten und hierbei wiederum durch seinen spezifischen Gebrauch in der griechischen Archaik besondere Attraktivität gewonnen.12 Im semantischen Spektrum der aidos überlagern sich die ästhetische, die moralische und nicht zuletzt auch die religiöse Weltwahrnehmung auf eine Weise, die für eine Gesellschaft, die es gewohnt ist, ethische und ästhetische Kategorien zu disziplinieren, voneinander abzugrenzen oder sogar gegeneinander auszuspielen, nur noch unzureichend rekonstruierbar ist.13 Scham impliziert ebenso Scheu im Sinne von Ehrfurcht und Achtung wie auch Abscheu. Sie kann Schonung und Verzeihung signalisieren, aber auch die unmittelbaren, ,instinktiven‘ Abwehrreflexe gegenüber dem Schandhaften, Schäbigen und Unangemessenen anzeigen. Bei all dem ist das Schamverhalten als distinguierende Form der Zurückhaltung und Selbstkontrolle eher situativ wirksam als normativ formulierbar, eher interindividuell praktikabel als überindividu-
11 Dass sich in den Werken Meister Eckhardts, Jakob Böhmes sowie des Angelus Silesius Reflexionen zu Hauf finden lassen, die das Gott-Mensch-Verhältnis vom Paradox der Ebenbildlichkeit zum bildlosen Gott aus umkreisen, sei hier lediglich angeführt. Nietzsches diesbezügliche Fragestellung im Aphorismus ist offenkundig rhetorisch und dient lediglich der Verortung. 12 NL 1883, 7[161], KSA 10, S. 295 bietet Nietzsches eigene Definition des hellenischen aidosBegriffs: „Aidos ist die Regung und Scheu, nicht Götter, Menschen und ewige Gesetze zu verletzen: also der Instinkt der Ehrfurcht als habituell bei dem Guten. Eine Art Ekel vor der Verletzung des Ehrwürdigen. […] Es ist die Verletzung des Aidos ein schrecklicher Anblick für den, welcher an Aidos gewöhnt ist.“ 13 Vgl. dazu das Stichwort ‚aidos‘ in: Passow 1841–1857, S. 53.
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ell funktionalisierbar. Sie bestimmt und nuanciert das Handeln oder Nicht-Handeln ausgehend vom eigenen Wertgefühl, einem Wertgefühl, das sich seinerseits im Agon mit anderen zu bewahren, zu behaupten oder zu vergrößern bestrebt ist. Vor allem sind die Gesetze der Scham ungeschrieben und demgegenüber in die sozialen Praktiken unreflektiert und unmittelbar eingezeichnet. Für ein Verständnis gerade des späten ‚Immoralismus‘ bei Nietzsche, der ja, wenn er sein Denken überhaupt noch im Medium des Moralischen reflektiert, eine ‚Moral für Moralisten‘ erwägt, ein „P a t h o s d e r D i s t a n z “ (JGB 257, KSA 5, S. 205) und eine souveräne Individualität kultiviert, ist eine Orientierung am altgriechischen Gebrauch des Aidos-Begriffs ausgesprochen hilfreich. Durch sie nämlich ist zurückverwiesen auf die vormoralische Frühgeschichte des Verantwortungs-Begriffs selbst, eine Geschichte, die in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral dann ganz aus der Perspektive sich etablierender und dadurch disziplinierender Rechtsnormen geschrieben wird. Mit der Scham lässt sich ein individualisierendes Gegengewicht gegen den normierenden und universalisierenden Charakter der Moral gewinnen, in dem nach Nietzsche die Probleme der europäischen Kultur kulminieren müssen. Oder anders: Ist die Genealogie der Moral als Kulturgeschichte der spezifisch europäischen Moralität und Vernünftigkeit verfasst, so bietet Jenseits von Gut und Böse in Übereinstimmung mit dem Titel unter anderem eine „Naturgeschichte der Moral“ einerseits und mit dem neunten Hauptstück „Was ist vornehm?“ andererseits eine distinguierende Tugendethik jenseits des Allgemeinen. Der Scham kommt gewissermaßen die Vermittlungsfunktion zwischen Naturund Kulturgeschichte der Moral zu. Für die griechische Kultur etwa hatte Erich R. Dodds gezeigt, wie das Entstehen einer Verantwortungsethik auf einer Schuldkultur basiert, die gewisse Unterschiede nicht mehr machen kann und machen will, die in einer Schamkultur noch eingespielt waren.14 Reflexe davon sind hier noch bei den Reaktionen von Gesprächspartnern des Sokrates der platonischen Dialoge spürbar: Sokrates behandelt dort alle wechselnden Gegenüber gemäß seiner Maxime des logon didonai mehr oder minder gleich, indem er sie einem, gleichermaßen gemeinsamen wie allgemeinen Begriff des Sich-VerantwortenMüssens unterwirft. Eben diese unterschiedslose Praxis seines neuen Diskurses, seiner Art und Weise des Herantretens, Fragens und Intervenierens bringt ihm nicht selten den Vorwurf der Schamlosigkeit ein. Wenn man sich Nietzsches Umgang mit der griechischen Tradition ansieht, dann wird schnell deutlich, wie genau er den Übergang von der griechischen Archaik in die Klassik hinein als
14 Siehe dazu Dodds 1951 und darin vor allem den Beitrag „From Shame-Culture to GuiltCulture“.
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umfassenden Kulturwandel beobachtet hat, seine Wertungen von Beginn an von Seiten der Archaik aus vornimmt und damit hinter den von Sokrates und Platon gewonnenen allgemeinen Begriff der Moral und der Vernunft zurückzutreten versucht.15 Nietzsches Gott der Scham wäre, das Phänomen der Scham in der wie eben skizzierten Weise vorausgesetzt, dann ein Wesen, das sich eine Menschenmaske aufsetzt und sich den Menschen gleich macht, um sie nicht zu beschämen. Der Autor gibt nach einem enorm fordernden Auftakt nun selbst Beispiele und Merkmale einer, wenn man so will, Phänomenologie der Scham an – und stellt sofort heraus, dass es sich hierbei um „Vorgänge zarter Art handelt“: „es giebt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln: damit trübt man dessen Gedächtniss“. In einer hier entworfenen Ethik der Scham geht es offenbar nicht um das Demonstrative der Ausübung einer Moral oder wenigstens um das Zeigen der eigenen Moralität. Eher noch ist das Gegenteil davon angestrebt: die, wenn es nötig ist, drastische Invisibilisierung der eigenen Moralität, das Verschleiern und Nicht-sehen-Lassen einer Handlung oder aber eines Handlungsimpetus zugunsten einer falschen Fährte. Die Maske macht dann die subtilen Zusammenhänge „durch eine Grobheit“ gezielt „unkenntlich“. Sie bietet dem Anderen – Nietzsche geht hier noch von Dritten qua „Augenzeugen“ aus16 – eine Oberfläche zur Identifikation bzw. für die Zuschreibung konkreter Eigenschaften, Tugenden etc. an, um selbst solchen Eigenschaften gegenüber frei bleiben zu können, zu Ihnen Distanz zu wahren.17 Kaum gewinnen die Ausführungen durch Beispiele und Anbindung an lebensweltliche Konkretion an Stabilität, da radikalisiert Nietzsche die Mitteilung
15 Ausführlicher dazu Müller 2012. 16 Zur Bedeutung des Dritten für den Aufbau des moralischen Felds vgl. Bedorf 2003. 17 Von diesem Zusammenhang her erschließt sich auch das Problem des Umgangs mit Freunden aus dem vorhergehenden Aphorismus 27 (KSA 5, S. 45 f.) des zweiten Hauptstücks, der von den Schwierigkeiten verstanden zu werden handelt. Zuletzt ist dort von der Option die Rede, den Freunden einen Spielraum des Missverstehens zuzugestehen – oder „sie ganz abzuschaffen“. Das vermeintliche „Recht auf Bequemlichkeit“ der Freunde, sich nämlich den Freund von den gemeinsamen biographischen Erlebnissen her zurechtzulegen und dergestalt einfühlungshermeneutisch verständnisvoll zu sein, scheint Nietzsche hier vordergründig mit der Aufkündigung der Freundschaft zu beantworten. ‚Abschaffen‘ aber könnte auch einfach bedeuten: sich durch den Gebrauch einer Maske der Zudringlichkeit des Festgelegt-Werdens entziehen. Wenn Selbstreferenz durch Fremdreferenz hergestellt wird, dann schützt vor solchen Identifikationen der eigenen Person nur noch die persona der Maske. Es geht dann auch nicht mehr um die Täuschung der Anderen, sondern um die Einnahme einer Distanz zu deren fortgesetzten Festlegungsversuchen, um einen Zwischenraum also, in dem man sich unerkannt und nur insofern ‚frei‘ bewegen kann.
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erneut. Augenzeugen und Mitwisser als die, wie eben noch angeführt, am moralischen Schauspiel beteiligten Beobachter und unmittelbar Betroffenen desselben, treten jetzt aus dem Umkreis der weiteren Erwägungen zurück. Der Scham geht es, so will es der Autor nun, mitunter auch darum, „das eigene Gedächtnis“ als den „einzigen Mitwisser“ zu trüben – zumindest gibt es ‚manchen‘, der sich ‚darauf versteht‘. Das Maskenspiel der Scham wird damit ins Vorstellen und Handeln der Person selbst, mithin ins Individuum selbst eingezeichnet. Das öffentliche Moralschauspiel wird dergestalt internalisiert, dass die Vorstellungen des Subjekts von sich selbst nun zu Masken eines Illusionstheaters werden, derer sich die Scham zu bedienen versucht – und: „die Scham ist erfinderisch“. Von nun an, so scheint es, verwandelt sich Nietzsches Phänomenologie der Scham in eine quasianalytische Psychologie, die auch noch jenseits des Intentionalen und Absichtsvollen angesiedelt ist. Scham schafft jetzt Masken für die dividuen im Individuum, gleichermaßen für und gegen das Individuum, und ist in ihrer erfinderischen „Arglist“ listiger als das Bewusstsein selbst.18 Das Individuum zerfällt damit in eine ihm selbst nicht mehr transparente Ökonomie der Rollenmaskeraden – den Übergang von einer Rolle in die andere wiederum organisiert die Scham als in Begriffen Nietzsches gleichermaßen ‚physiologische‘ wie ,psychologische‘ Praxis. Inneres und Äußeres teilen nun kein Subjekt mehr von den Objekten der Welt, vielmehr gibt es ein Äußeres innerhalb der Subjektivität als Maske und ein Inneres derselben, für das Nietzsche Worte wie ‚das Zarte‘, ‚das Feine‘, ‚das Tiefe‘ anbietet. Es geht von nun an, mit anderen Worten, um Menschen, die sich fortwährend vor sich selbst maskieren. Auch hier sei die diesbezügliche lebensweltliche Illustration Nietzsches angeführt: „Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und verletzliches zu verbergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch’s Leben rollt: die Feinheit seiner Scham will es so.“ ,Illustrationen‘ wie diese versagen sich einer allgemein zustimmungsfähigen Aufzählung von Beispielen, sie appellieren an das eigene Schamgefühl und sind darum vielleicht nur noch individuell zu konkretisieren. Man denke hier vielleicht an jenen Jean Paul, der, immer feister werdend, Jahr für Jahr von seinem Hund begleitet jeden Morgen vor die Stadt hinauszieht, sich im immer gleichen Wirtshaus taglang von der immer gleichen Wirtin umsorgen lässt, um sich in dergestalt vollständiger Verbiederung dann endlich den zwanghaften Subtilitäten seiner reichen Phantasie und Empfindsamkeit überlassen zu können. Oder, in einem ganz anderen Sinn, an Kant, der ursprünglich voller Esprit und Kommunikationsfreude, in den Jahren der Arbeit an der Kritik der reinen Vernunft zunehmend seine
18 Zur Produktivität unbewusster Vorgänge nach Nietzsche vgl. Gödde 2002.
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Lebenswelt durchzuritualisieren begann und dabei zu jenem Ensemble von Masken erstarrte, nach dem man schlussendlich, je nach Position seines obligatorischen Spaziergangs, die Uhr stellen konnte. Personen also, die sich, ohne es zu bemerken und zu ,wollen‘, hinter einer Fassade verstecken und damit gleichsam depersonalisieren, um ebendort ungestört ihrem Eigensinn und ihren Eigenmächtigkeiten nachzugehen. Um solche Maskierungen vor der Zudringlichkeit des Verstanden- und Erkannt-Werden-Wollens vonseiten anderer einerseits, aber auch um die Maskierung seiner selbst als Schutz gegen jede Festlegung durch Selbsterkenntnis andererseits, scheint es Nietzsche zu gehen. An Beispielen wie diesen wird zumindest zweierlei deutlich: Scham als Verzicht auf die Ausübung von Handlungen, auf die Aktualisierung von ,eigenen‘ Möglichkeiten und Tugenden, steht ganz und gar im Dienste jener Freiheit des Geistes, die Nietzsche im zweiten Hauptstück von JGB auszumessen versucht und möglich machen will. Angestrebt ist dabei ersichtlich nicht die Freilegung intellektueller Kompetenzen, sondern eine Diätetik des Geistes, der sich auch die Person als vermeintlich synthetische und synthetisierende Einheit des Bewusstseins und Erlebens zu opfern hat. Die „Arglist hinter […der] Maske“ der Scham ist folgerichtig nur das eine Moment – ihr anderes ist die „Güte in der List“. Güte wäre dann der ethische Hinter- und Untergrund, von dem aus die Scham das Bewusstsein überlistet. Erneut sind es die Fragilität und die Gefährdung der Existenz, bei denen der Aphorismus ansetzt. „Einem Menschen, der Tiefe in der Scham“ hat, so Nietzsche, dem „begegnen seine Schicksale und zarten Entscheidungen“ auf Wegen, von denen auch die Vertrautesten und Nächsten nichts mehr wissen dürfen. Die „Lebensgefahr“ und auch die „wieder eroberte Lebens-Sicherheit“ müssen den Freunden verborgen bleiben, gerade weil es die Gefahren und Sicherheiten sind, die der Existenz ihre Grenzen ziehen, und sie damit zu definieren drohen. Der Aphorismus wird im letzten Drittel geradezu von einem Stakkato existentieller Subtilitäten beherrscht, die samt und sonders in der Sorge kulminieren, von irgendjemandem einschließlich seiner selbst auf irgendetwas festgelegt zu werden. Das Fließende und Übergängige der Masken wird jetzt zur ultima ratio, zur letzten Lebensmöglichkeit jener Wenigen, die wir als freie Geister anzunehmen haben. Das Reden avanciert unter solchen Vorzeichen zum Mittel des „Schweigen[s] und Verschweigen[s]“, jede kommunikative Geste wird ihrerseits als „Ausflucht vor Mittheilung“ interpretiert.19 19 Der freie Geist unseres Aphorismus scheint zunächst wenig zu tun zu haben mit jenem souveränen Individuum, das seine Individualität eben darin bezeugt, souverän seine Rollen zu spielen und auf diese Weise jedem das Seine geben und gleichzeitig Distanz wahren zu können. Andererseits könnte ebendies die Kehrseite der hier präsentierten Medaille sein: die Distanz wird hier, im Aphorismus 40, nicht auf die Souveränität ihrer Ausübung, sondern mit Nachdruck auf
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Die damit versammelten Momente einer Diätetik der Maske werden zum Ende des Aphorismus in einer für Nietzsches späte Aphoristik bezeichnenden Weise zu einer Abfolge von Bestimmungen gebündelt und auf den Anfang zurückbezogen. Jene Liebe zur Maske, die den Auftakt des Aphorismus bildet, wird nun quasidefinitorisch (und damit aphoristisch im ursprünglichen, griechischen Sinn des Wortes) nach drei Hinsichten ausformuliert: 1.) ‚Der Verborgene will und fördert die Maske in den Herzen und Köpfen der Freunde‘, 2.) „Jeder tiefe Geist braucht eine Maske“, sowie 3.) oder in Nietzsches Worten: „mehr noch“: „um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske“. Die Elemente sind damit in eine Ordnung überführt, die auch die Richtung der Vertiefung, der wortwörtlichen Radikalisierung der Maskenpraxis anzeigt: gebrauchen – brauchen – wachsen. Man gebraucht Masken, um sich vordergründig kenntlich zu machen, damit man hintergründig unkenntlich bleibt. In einem solchen Gebrauch der Maske wird zunehmend deutlich, dass er das unfreiwillige Produkt eines Bedürfnisses, einer Not zur Maske ist. Man gebraucht dieselbe nur darum, weil man sie braucht. Die vermeintliche Distanzierungskunst des Maskengebrauchs wird bestimmt durch die Ökonomie der Scham. Wer keine Maske mehr hätte, dem bliebe nichts anderes übrig, als der zu sein, der er wirklich ist – ,authentisch‘ würde man heute sagen – also einem ,Selbstkonzept‘ zu folgen und folgerichtig derselbe zu bleiben. Er wäre eben dann und eben darin nach Nietzsche kein freier Geist mehr. Zuletzt, so steigert Nietzsche dann eher beiläufig, wächst die Maske um jeden tiefen Geist ohnehin und zwar „Dank der beständig falschen, nämlich f l a c h e n Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. –“ (und endet mit einem seiner berühmten Gedankenstriche). Der finale Gedankenstrich signalisiert hier freilich keine interpretationsbedürftige Offenheit, sondern macht den selbstprozessierenden Charakter des Aphorismus (1) und des reflexiven Umgangs mit lebens- und überlebensnotwendigen Masken (2) ebenso offenbar wie die sich in der Selbstbezüglichkeit überhaupt erst erschaffende Dimension der Freiheit des Geistes im Ganzen (3). Die flachen Auslegungsprozesse sind unvermeidlich, sind sie doch das Korrelat jener „sancta simplicitas“, in der der Mensch lebt und von der das Hauptstück zum „freien Geist“ seinen Ausgang nimmt. Die Oberfläche der ‚Lebens-Zeichen‘ wiederum wird überhaupt erst dann zum problematischen Relief, wenn die Auslegungsprozesse und -prozeduren selbst thematisch und damit in ihrem vereinfachenden Charakter sichtbar gemacht werden. So ,liebt‘ man aus ,Tiefe‘ jene Masken, die nur dadurch entstehen
das ihr innewohnende Pathos ausgelegt, mehr also auf ihre leidvolle Ereignishaftigkeit als die aus ihr resultierenden Fähigkeiten. Im Folgeaphorismus wird dieselbe fragile Freiheit zur Probe „dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist“ (JGB 41, KSA 5, S. 58).
Geist und Liebe zur Maske
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bzw. immer schon da sind, dass bzw. weil man sie ,braucht‘, ,fördert‘ und in Gestalt von ,Lebens-Zeichen‘ seinen Nächsten zur ,flachen Auslegung‘ gibt.
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Marco Brusotti
„der schreckliche Grundtext homo natura“: Texturen des Natürlichen im Aphorismus 230 von Jenseits von Gut und Böse In der Einleitung zu Ludwig Binswangers Traum und Existenz stellt der junge Michel Foucault die „Anthropologie“ dem „psychologischen Positivismus“ gegenüber, „der glaubt, den Bedeutungsgehalt des Menschen im reduktiven Begriff eines homo natura ausschöpfen zu können“ (Foucault 2001, S. 108). Foucault, 1954 ein Endzwanziger, erwähnt Nietzsche nicht, der Name kommt in diesem frühen Text nirgendwo vor. Offenbar schließt die Einleitung stillschweigend an Binswanger an. Dieser schreibt Freuds Psychoanalyse die Grundabsicht zu, den homo natura wieder ans Licht zu bringen, und sieht auch bei Nietzsche ein verwandtes Bestreben.1 Binswanger, der Freuds Ansatz als reduktionistisch und biologistisch versteht, will der Psychoanalyse eine an Heidegger orientierte existenzielle Analytik zur Seite stellen. In ähnliche Richtung bewegen sich auch die Überlegungen des jungen Foucault, der mit dem Stichwort homo natura jedoch weniger die Psychoanalyse als die experimentelle Psychologie verbindet. Bei Nietzsche wiederum steht „der schreckliche Grundtext homo natura“ (JGB 230, KSA 4, S. 169) nicht für einen „reduktiven Begriff“, der den „Bedeutungsgehalt des Menschen“ (Foucault 2001, S. 108) nicht ausschöpfen kann. Statt den homo natura durch einen anderen Aspekt zu ergänzen, will Nietzsche gerade diesen ‚ewigen Grundtext‘ freilegen, aber in einer Art, die von der Naivität des von Foucault abgelehnten „psychologischen Positivismus“ weit entfernt ist.
1 Zur Idee des homo natura vgl. Binswanger 1947, S. 159–189. Der Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse über den „ewigen Grundtext homo natura“ (JGB 230) wird hier nirgends erwähnt, Nietzsche jedoch öfter genannt. Eine kurze Anmerkung deutet einen Unterschied zwischen dem homo natura bei Nietzsche und bei Freud an (vgl. Binswanger 1947, S. 166, Anm. 2), und im Text geht Binswanger u.a. auf den homo natura bei Nietzsche und Klages ein (vgl. Binswanger 1947, S. 168 ff.). Binswanger bezieht sich dabei auf Klages 1926 und auf einen einschlägigen Beitrag Löwiths (vgl. Löwith 1927). Foucault verwendet den Ausdruck homo natura dann auch in seiner „Einführung in Kants Anthropologie“. Zum Stichwort homo natura vgl. Riedel 1996. Diese Untersuchung wurde durch das Forschungsprojekt ‚Nietzsche: Edition und Rezeption‘ (PRIN 2009, MIUR, Italien) gefördert.
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Marco Brusotti
1 Zur „Naturgeschichte des freien Geistes“ 1879 schreibt Heinrich Köselitz an Nietzsche, dass „selbst der redlichste Philosoph […] z. B., wenn er eine Naturgeschichte des Genie’s schreibt, ganz ungeniert sich hinmalt“ (Bf. von Heinrich Köselitz an Nietzsche, 18.07.1879, KGB II/7.3, Bf. 1213a). Jenseits von Gut und Böse sieht in jeder großen Philosophie ein Selbstporträt des jeweiligen Philosophen, und zwar ein unbewusstes (vgl. JGB 6). Auch und erst recht die „Naturgeschichte des freien Geistes“ (W I 8, S. 173) bzw. „des höheren Menschen“ (W I 8, S. 174) ist ein, wenn auch nicht ganz uneingestandenes, Selbstporträt. Das Wort ‚Naturgeschichte‘ kommt in Jenseits von Gut und Böse ein einziges Mal vor; in der Überschrift des fünften Hauptstücks „zur Naturgeschichte der Moral“. Titelentwürfe und Gliederungsversuche zeigen jedoch, dass Nietzsche während der komplexen Textgenese immer wieder an die ‚Naturgeschichte‘ als an das übergreifende Thema dachte. Für das Wort zog er unterschiedliche Verwendungen in Betracht, bevor es seinen endgültigen Einsatz fand – im Titel eines ‚Hauptstücks‘, das zunächst anders heißen sollte: „Zur Moral-Psychologie“ (W I 8, S. 174) bzw. einfach „Moral-Psychologie“ (W I 8, S. 173), „Fingerzeige eines MoralPsychologen“ oder auch „Selbstgespräch eines Psychologen“ (W I 8, S. 174).2 Erst in einem späten Werkplan wurde die Überschrift „Fingerzeige eines Moral-Psychologen“ gestrichen und durch „Zur Naturgeschichte der Moral“ (W I 8, S. 159) ersetzt.3 Wohl auch deshalb lassen sich sämtliche Aphorismen des fünften Hauptstücks zwar mit Naturgeschichtlichem verbinden, aber oft nicht in höherem Maß als der Inhalt anderer Kapitel. Darüber hinaus hängen viele Aphorismen nicht nur dieses Hauptstücks mit etwas Speziellerem zusammen als einer Naturgeschichte von Moral schlechthin. Zuerst hatte Nietzsche vor allem die „Naturgeschichte“ jeweils des höheren Menschen, des freien Geistes oder auch des Gelehrten im Blick. So taucht für das Hauptstück, das in der endgültigen Fassung einfach „wir Gelehrten“ heißt, die Variante „Zur Naturgeschichte des Gelehrten“ (N VII 2, S. 78; KSA 12, 1[187]) auf. Wichtiger ist
2 Diese Titel für das moralpsychologische Hauptstück kommen in Plänen „Zur Naturgeschichte des höheren Menschen“ (W I 8, S. 173 f.) vor. Möglicherweise hatte Nietzsche (auch) stilistische Bedenken, das Wort „Naturgeschichte“ zugleich im Titel eines Hauptstücks und in dem des ganzen Werkes zu verwenden. 3 Auf derselben Seite wird „Selbstgespräche eines Psychologen“ (W I 8, S. 159) auch als Werktitel in Erwägung gezogen. In einem Plan mit dem Titel Jenseits von Gut und Böse ersetzt „Fingerzeige eines Moral-Psycholo“ die Kapitelüberschrift „von den Vorurtheilen der Europäer“ (W I 8, S. 160). Dass eine Naturgeschichte bzw. Psychologie der Moral die Vorurteile der Europäer bloßlegt, entspricht dem Inhalt des endgültigen fünften Hauptstücks.
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jedoch, dass in der Phase, in der das ‚Hauptstück‘ zur Moralpsychologie noch anders hieß, „Zur Naturgeschichte des freien Geistes“ bzw. „Zur Naturgeschichte des höheren Menschen“ nicht lediglich als Überschriften eines ‚Hauptstücks‘ in Frage kamen, sondern immer wieder auch als Werktitel, mithin als mögliche Alternative zu Jenseits von Gut und Böse. In diesen Plänen stand die „Naturgeschichte“ also für das Ganze, das werdende Buch wurde (auch) als naturgeschichtliche Abhandlung konzipiert, und z. B. „was ist vornehm?“ bildete einen Abschnitt dieser „Naturgeschichte“ (W I 8, S. 173)4. Nietzsche wollte etwas wie eine Naturgeschichte seiner selbst schreiben: Es ging zuallererst um eine Naturgeschichte des Freigeistes Nietzsche, des höheren Menschen Nietzsche, wenn auch nicht nur des „Herrn Nietzsche“ (FW Vorrede 2, KSA 3, S. 347). Dieses auto-naturgeschichtliche Vorhaben weist bereits auf die nächste Veröffentlichung nach Jenseits von Gut und Böse voraus, auf die Vorreden von 1886–1887 für die neue Ausgabe seiner Schriften. Auch der Vorreden-Zyklus könnte den Titel „Zur Naturgeschichte des freien Geistes“ tragen. Für diese Vorreden oder für Ecce homo wurden in der Forschung die heterogensten Bezeichnungen vorgeschlagen; denn ‚Autobiographie‘ scheint vielen nicht adäquat. Anders als z. B. der Ausdruck ‚Genealogie‘, den Nietzsche nur äußerst selten gebraucht und nie in diesem Kontext, ist ‚Naturgeschichte des freien Geistes‘ eine von ihm beinahe ‚autorisierte‘ Benennung.5
2 Homo natura Die Frage „W a s in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘?“, die „Frage nach den Ursachen dieses Willens“, sei nicht die letzte; eine „noch gründlichere[]“ Frage sei die „nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: w a r u m n i c h t l i e b e r Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?“ (JGB 1) In Jenseits von Gut und Böse erklärt gleich der erste Aphorismus dieses „Problem vom Werthe der Wahrheit“ zur Grundfrage, die „noch nie bisher gestellt“, ja „g e w a g t “ (JGB 1, KSA 5, S. 15) worden sei. Die im zweiten Aphorismus (und eigentlich spätestens in Menschliches, Allzumenschliches) avancierte Annahme, „der Wille zur Wahrheit“ sei „aus dem Willen zur Täuschung“ (JGB 2, KSA 5, S. 16) entstanden, stellt eher eine Antwort auf die „Frage nach den Ursachen“ als auf die Frage „nach dem Werthe“ (JGB 1) dar. Aber auch die genetische Annahme 4 Vgl. auch W I 8, S. 174; vgl. KSA 12, 2[41], und KSA 122[43]. Wiederum bilden „Zur Naturgeschichte des höheren Menschen“ und „Was ist vornehm?“ in einem anderen Plan die einzigen zwei Abschnitte der „Selbstgespräche eines Psychologen“ (W I 8, S. 159, vgl. KSA 12, 2[51]). 5 Die Ausdrücke ‚Naturgeschichte‘ und ‚Genealogie‘ kommen vergleichbar selten vor. Siehe dazu Brusotti 2013.
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stellt, insofern sie einer metaphysischen Grundthese widerspricht, nämlich der wechselseitigen Unableitbarkeit der Wertgegensätze, einen Beitrag zur Wertfrage dar. Für Nietzsche sind die zwei Fragen also weder identisch noch beziehungslos: Die eine bereitet vielmehr die andere vor. Die Aphorismen JGB 229 und JGB 230 aus dem siebten Hauptstück „unsere Tugenden“ bieten zuallererst eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen: Dem „Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen hin will“ (JGB 229, KSA 5, S. 167), wirkt beim Erkennenden „eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks“ (JGB 230) entgegen. Damit stellt sich der Aphorismus JGB 230 der Grundfrage einer Naturgeschichte des freien Geistes. In diesem Kontext schlägt Nietzsche vor, den Menschen – und implizit den Erkennenden – als homo natura aufzufassen bzw. in die Natur „zurück[zu]übersetzen“ (JGB 230). Der Aphorismus sei hier vollständig zitiert: Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem „Grundwillen des Geistes“ gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke „der Geist“ genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück „Aussenwelt“ willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer „Erfahrungen“, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, – auf Wachsthum also; bestimmter noch, auf das G e f ü h l des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner „Verdauungskraft“, im Bilde geredet – und wirklich gleicht „der Geist“ am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so und so n i c h t steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner
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Sicherheit darin, – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! – D i e s e m Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche – denn jede Oberfläche ist ein Mantel – wirkt jener sublime Hang des Erkennenden e n t g e g e n , der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen w i l l : als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen „es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes“: – mögen die Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine „ausschweifende Redlichkeit“ nachsagte, nachraunte, nachrühmte, – uns freien, s e h r freien Geistern: – und so klingt vielleicht wirklich einmal unser – Nachruhm? Einstweilen – denn es hat Zeit bis dahin – möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und -Franzen aufzuputzen: unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der a n d e r e n Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: „du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!“ – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine A u f g a b e – wer wollte das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: „warum überhaupt Erkenntniss?“ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort… (JGB 230)
Textgenetisch kommen in diesem Aphorismus zwei Reflexionsstränge zusammen: einerseits ein Versuch, den ‚Geist‘ der Volkspsychologie zu naturalisieren, andrerseits das Programm, den Menschen in die Natur zurückzuübersetzen, mitsamt der Frage, wer der Erkennende sei, der sich so etwas vornehme, und was ihn dazu bewege. Diese zwei Reflexionsstränge waren zunächst selbständig. Die jeweiligen Aufzeichnungen entstanden unabhängig voneinander, wurden separat bearbeitet und erst spät zusammengeführt. Im Folgenden werden zuerst die Bearbeitungsphasen von Nietzsches Naturalisierungs-Versuch behandelt und anschließend diejenigen des anderen Reflexionsstranges.
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3 Die „geistigen Instinkte“ Eine erste ‚Vorstufe‘6 des Aphorismus zählt die „geistigen Instinkte“ auf, von 1 bis 4 durchnummeriert: 1) Wille zur Unwissenheit, 2) zum Getäuscht-Werden, 3) zum Täuschen, und 4) zur Vereinfachung. Allerdings erklärt Nietzsche sofort, dass im Letzteren „1) u. 3) combinirt“ bzw. „der Erste u〈nd〉 der Dritte einbegriffen“ (N VII 1, S. 106; siehe auch Abb. 1a/b) sind.7 Schon in der ersten Fassung werden einige Zahlzeichen gestrichen, und die Abschrift (W I 6, S. 33 und 35; siehe auch Abb. 8a/b) kommt ganz ohne Nummerierung aus. In der ersten Fassung heißt jedes aufgezählte Glied ‚Wille‘; diese terminologische Homogenität wird in der Abschrift durchbrochen. ‚Wille‘ ist für Nietzsche nur eine façon de parler. Dem entspricht auch die terminologische Vielfalt des endgültigen Aphorismus (Wille,
6 Im Nachbericht zur siebenten Abteilung (KGW VII 4/2, S. 632) wird diese Aufzeichnung (N VII 1, S. 21) als ‚Vorstufe‘ von JGB 230 bezeichnet. Im vorliegenden Beitrag wird ‚Vorstufe‘ nur als façon de parler (und ‚Fragment‘ nie) verwendet; denn systematisch kohärent lassen sich ‚Fragmente‘, ‚Vorstufen‘ und ‚Reinschriften’ nicht voneinander unterscheiden. Mit dieser rein konventionellen Unterscheidung ging Montinaris gravierende editorische Entscheidung einher, ‚Vorstufen‘ (von Aphorismen, aber auch von ‚Fragmenten‘) und ‚Reinschriften‘ nicht zusammen mit den ‚Fragmenten‘ in den Text-, sondern in den Nachberichtbänden der KGW zu publizieren. Nach Montinaris Vorstellung sollte der Leser anhand von „Beschreibung und Inhaltsverzeichnis der Manuskripte“ (Nachberichtsband KGW VII/4.2, S. 559 ff.) die jeweils in den Bänden der ‚nachgelassenen Fragmente‘, in den Nachberichtsbänden und im Briefwechsel publizierten Notate kollationieren. Dies geschah jedoch nur äußerst selten (eine Ausnahme ist Brusotti 1997 mit seinem genetischen Ansatz), nicht nur weil wesentliche ‚Nachberichtsbände‘ noch heute fehlen (so auch der Apparat der KGW zu JGB). Wer die äußerst komplexe Textgenese des Aphorismus in allen Einzelheiten verfolgen will, sei auf die fotografische Reproduktion und auf die äußerst differenzierte Transkription in Abteilung IX der KGW verwiesen. (Einige der in meinem Beitrag behandelten Aufzeichnungen sind als Faksimile bzw. in diplomatischer Edition am Ende des Bandes abgedruckt.) Aufmerksamen Augen wird nicht entgehen, dass ich mir zugunsten von Exposition und Lesbarkeit manche Freiheit nehme: In den Zitaten isoliere ich manchmal eine Textschicht und sehe von in anderer Tinte durchgeführten Korrekturen, auch von Streichungen, ab, manchmal wiederum liste ich unterschiedliche Textschichten hintereinander auf. Es handelt sich selbstverständlich nicht um editorische Entscheidungen, sondern nur um meine Art, den Text zu kommentieren. KGW IX löst Abkürzungen nur dort auf, wo die Herausgeber diese Lesehilfe für nötig erachten. Ich tue es durchgängig: Die Auflösungen (unter „〈“ „〉“) sind natürlich Konjekturen und stammen von der KSA oder von mir. In meinem Text werden die Arbeitsprozesse also nur schemenhaft und selektiv wiedergegeben – im Dienst der Argumentation. Hier ist weder eine detaillierte Strukturanalyse des Aphorismus noch eine irgendwie erschöpfende textgenetische Rekonstruktion zu leisten, und ich kann nur auf einige von Nietzsches Fragen und Thesen eingehen. 7 Vs JGB 230 in N VII 1, S. 105–106. Die zwei im Text zitierten Varianten sind jeweils die (im Korrekturvorgang durchgestrichene) Grundschicht und die (dann ebenfalls durchgestrichene) Korrektur in schwarzer Tinte. Später wurde das ganze Notat durchgestrichen.
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Bereitwilligkeit, Trieb, Instinkt, Hang usw.). Im Prozess des Schreibens wird die Enumeration also progressiv aufgeweicht. Auch in weniger schematischer Form bleibt die Aufzählung jedoch bis zuletzt als solche erkennbar.8 Beim Überarbeiten des Diktats (vgl. W I 6, S. 33 und S. 35) stellt Nietzsche die Liste um, und diese findet damit ihre definitive Ordnung. Der in der ersten Niederschrift als letzter genannte „Wille[] der Vereinfachung“ (W I 6, S. 33; Abb. 8a/b) macht jetzt den Anfang, die anderen drei „Bedürfnisse“ schließen sich in unveränderter Reihenfolge an: Wille zur Unwissenheit, Wille, sich täuschen zu lassen, und schließlich Wille zum Täuschen. Die „geistigen Instinkte“, die „dieselben“ sind „wie die organischen“ (N VII 1, S. 106; Abb. 1a/b), werden in der Abschrift zu ‚Bedürfnissen des Geistes‘, und diese sind auch hier keine anderen als beim Organischen überhaupt. Der Aufzählung geht nämlich folgende Bemerkung voraus: „Unser Geist will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herren fühlen: seine Bedürfnisse hierin dieselben, welche die Physiologen für jedes organische Wesen aufstellen.“ (W I 6, S. 33; Abb. 8a/b) An diesem ersten Satz bringt Nietzsche gründliche Verbesserungen an. A) Er distanziert sich offen vom Ausdruck ‚Geist‘: „Das befehlerische Etwas, das vom Volke ‚der Geist‘ genannt wird“, heißt eben nur beim Volk so; und was dieses ‚Geist‘ nennt, erklärt Nietzsche kurz darauf mit einem Zarathustra-Zitat (deshalb die Anführungszeichen), „ist ein Magen“ (W I 6, S. 33).9 B) Nietzsche, der sich noch im endgültigen Aphorismus auf die Physiologen beruft, setzt statt „jedes organische Wesen“ „alles, was lebt u wächst u sich vermehrt“ (W I 6, S. 33). Gemeint ist, dass alles Lebendige wachsen und sich
8 In der Abschrift (W I 6, S. 33) ist nicht mehr von Willen, sondern von „Bereitwilligkeit“ (zum Täuschen) die Rede; der Nachtrag bezeichnet letztere allerdings als „Wille zum Schein, zur Maske u zum Mantel, zur ‚Oberfläche‘“ (W I 6, S. 33). Nach der Überarbeitung wird wiederum der erste ‚Wille‘ zu einem ‚Hang‘; und das nun hinzugefügte letzte Glied der Aufzählung, der grausame Hang des Erkennenden, wird ebenfalls nicht explizit als ‚Wille‘ bezeichnet. Im endgültigen Aphorismus JGB 230 bleibt es bei diesen Entscheidungen. Hier heißt auch der zweite „Trieb des Geistes“ nicht mehr ‚Wille‘, sondern eben „Trieb“ oder „Entschluss“. 9 „Denn wahrlich, meine Brüder, der Geist ist ein Magen!“ (Za III Tafeln, KSA 4, S. 258) Während die erste Fassung sich diese schlichte Gleichsetzung zu eigen macht – „‚der Geist ist ein Magen‘“ (W I 6, S. 33) –, verzichtet der Aphorismus auf das Zitat, um sich weit vorsichtiger auszudrücken: „und wirklich gleicht ‚der Geist‘ am meisten noch einem Magen“ (JGB 230) Die Anführungszeichen betonen nun noch einmal, dass ‚der Geist‘ nur ein sogenannter ist, eben nur für das ‚Volk‘. Dieser ‚Geist‘ in Anführungszeichen ist „auf Einverleibung neuer ‚Erfahrungen‘“ aus; und dass er „im Bilde geredet“ über eine „‚Verdauungskraft‘“ (ebenfalls in Anführungszeichen) verfügt, wird hier seltsamerweise als Grund angeführt, weshalb er „wirklich“ einem Magen gleicht (JGB 230; meine Hervorhebungen).
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vermehren und wie der sogenannte ‚Geist‘ „in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herren fühlen“ (W I 6, S. 33) wolle. Die „Absicht“ gehe „auf Wachsthum […]: bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Macht.“ (W I 6, S. 33; ähnlich schon in N VII 1, S. 106 und S. 105) Nietzsche knüpft damit an die Überlegungen der Mörgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft an, in denen ‚Gefühl der Macht‘ der Grundbegriff war, während ‚Wille zur Macht‘ nur sporadisch vorkam. Jenseits von Gut und Böse betont den ‚Willen‘, aber nicht nur zum Wachstum und zur Macht(steigerung), sondern auch und insbesondere zum entsprechenden Gefühl. Die Bemerkung, dass die Absicht auf Wachstum geht, bezieht sich zuerst nur auf den „Willen der Vereinfachung“, in der Abschrift heißt es allerdings, dass demselben „Gefühle“ auch der „Wille zur Unwissenheit“ dient (W I 6, S. 33; Abb. 8a/b). Im Laufe der Textgenese verlagert sich der Akzent von den einzelnen „Instinkten“ auf den „Geist“ und auf dessen „Grundwillen“. Die Erläuterung jeder der vier ‚Willensformen‘ trägt auf jeweils eigene Weise zu der These bei, der ‚Grundwille des Geistes‘ sei eher einer zur Täuschung als einer zur Wahrheit.10 Die Aufzählung ist mit dem vierten Glied abgeschlossen: „Endlich gehört hierher eine nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen“ (W I 6, S. 33 und W I 6, S. S. 35). Diesem „Endlich“ zum Trotz fügt Nietzsche später noch „eine Art Grausamkeit“ hinzu, einen „sublime[n] Hang des Erkennenden“, der dem „Wille[n] zum Schein“ entgegenwirkt (W I 6, S. 35). Was dieser Nachtrag noch nicht erklärt: Nur die ersten vier Glieder bilden den „Grundwillen des Geistes“, dem die Grausamkeit des Erkennenden entgegenwirkt. (Deshalb behält noch der endgültige Aphorismus jenes „Endlich“ bei.) Die Aufzeichnung schließt mit einem Imperativ: Jeder, „der in der Zucht der Erkenntniß sein Auge gehärtet hat“, „muss“ diese „Art Grausamkeit“ „bei sich anerkennen“ (W I 6, S. 35).11
10 Der Aphorismus JGB 230 differenziert jedoch viel weiter als JGB 2: Er löst u.a. die Zweideutigkeit im Ausdruck „Willen zur Täuschung“ (JGB 2, KSA 5, S. 16) auf, indem er Willen, andere zu täuschen, und Willen, sich täuschen zu lassen, unterscheidet; beide gehören zu den vier repräsentativ aufgezählten Komponenten im „Grundwillen des Geistes“. Auf die komplexe Erläuterung dieses Grundwillens kann mein kurzer Beitrag nicht eingehen. Einige der Gedanken, die hier zusammenwirken, hatten ihre erste Formulierung spätestens in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung gefunden: so die Reflexionen über die „Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen“, und über die scheinbar entgegengesetzte, aber eigentlich komplementäre „Zufriedenheit […] mit dem abschliessenden Horizonte“, die den Grenzen jener „aneignenden Kraft“ gemäß ist (JGB 230; vgl. insbes. HL 1). 11 Am oberen linken Rand der Abschrift notiert Nietzsche später: „Fortsetzungen von 2. freie Geister.“ (Vs JGB 230: W I 6, S. 33) Das zweite Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse heißt „der
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4 Die furchtbare Naturtatsache Mensch Im langen Schlussteil kommentiert der Aphorismus JGB 230 die Haltung des Erkennenden und dessen Entscheidung, sich die eigene ‚Grausamkeit‘ einzugestehen. Dieser Kommentar fehlt in den bisher zitierten Notaten. Nietzsche verwendet dafür eine Aufzeichnung, deren erste Fassung mit „Das Problem ‚Mensch‘“ zusammenhängt; dieser skizzenhafte Werkentwurf will die „Rangordnung der Menschen“ daran messen, „wie sehr sie die Kraft haben, die furchtbare Naturthatsache M.〈ensch〉 zu ertragen“ (N VII 1, S. 20; vgl. KSA 11, 34[240]) und – wie das abschließende „trotzdem“ andeutet – nicht nur zu „ertragen“. Den Menschen als „furchtbare Naturthatsache“ auffassen heißt, ihn in die Natur zurückübersetzt haben. Der Erkennende muss „über die vielen falschen Deutungen u〈nd〉 Nebensinne Herr […] werden, welche die Eitelkeit der M.〈enschen〉 über u.〈nd〉 neben den Natur-Text „Mensch“ gekritzelt u〈nd〉 geschmiert hat“ (N VII 1, S. 21; siehe auch Abb. 2a/b).12 „Natur-Text ‚Mensch‘“ klingt ähnlich wie „Naturthatsache M.〈ensch〉“; dann aber setzt Nietzsche „homo natura“ ein und wandelt, vielleicht um die Wiederholung „Natur“/“natura“ zu vermeiden, „Natur-Text“ in „Grund-Text“ (N VII 1, S. 21) ab.13 Der Natur- bzw. Grundtext ‚Mensch‘, der durch falsche Deutungen und Nebensinne unlesbar geworden ist, erinnert an einen anderen Text, diesmal wirklich an ein Buch, und zwar an ein heiliges. Ein Aphorismus der Morgenröthe hatte dem Christentum einen mangelnden „Sinn für Redlichkeit und Gerechtigkeit“ attestiert: Als „Philologe“ prangerte Nietzsche die „unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung“ an; insbesondere das „unerhörte philologische Possenspiel um das alte Testament“ (M 84, KSA 3, S. 79), als in den ersten Jahrhunderten der neuen Zeitrechnung „überall […] im alten Testament
freie Geist“. Zu den möglichen ‚Fortsetzungen‘ kann auch das siebente Hauptstück „unsere Tugenden“ gezählt werden, das den Aphorismus enthält. ‚Unsere Tugenden‘ sind nämlich diejenigen der freien Geister, genauer: die von Nietzsche selbst und seinen „freien, s e h r freien Geistern“ (JGB 230; vgl. JGB Vorrede), die zugleich mehr sind als nur freie Geister. Warum soll das Notat zum Komplex ‚freie Geister‘ gehören? Insofern der Nachtrag, und erst der Nachtrag, dem Grundwillen des Geistes die sublimierte Grausamkeit des Erkennenden entgegenstellt. Erst spät kommt also der thematische Bogen zustande, der die zwei Reflexionsstränge verbindet. Am Anfang spielte die Grausamkeit nämlich auch in dem anderen Reflexionsstrang kaum eine Rolle. Obwohl die „Naturthatsache M.〈ensch〉“ eine „furchtbare“ (N VII 1, S. 20) ist, wurde der homo natura nicht explizit als grausam bezeichnet. Die erste Fassung spielte nur beiläufig auf die Grausamkeit an (und gerade diese Anspielung wurde in dem Aphorismus nicht übernommen). 12 Vgl. auch KSA 14, S. 366. Die ganze Aufzeichnung ist durchgestrichen, oben links hat Nietzsche angemerkt: „Schluß.“ (N VII 1, S. 21; Abb. 2a/b). Gemeint ist wahrscheinlich, dass diese Aufzeichnung zum Schlussteil von JGB 230 werden soll. 13 KSA 14, S. 366 teilt diese Korrektur nicht mit.
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von Christus und nur von Christus die Rede sein“ sollte, offenbarte eine veritable „Wuth der Auslegung und Unterschiebung“ (M 84, KSA 3, S. 80). Dieser Umgang mit dem Text wird im Aphorismus JGB 230 zum Gleichnis: Nicht anders als das Alte Testament ist auch der ‚Grundtext‘ Mensch unlesbar geworden, nämlich durch die vielfachen Irrtümer metaphysischer Anthropologie und insbesondere durch die Illusion einer höheren, ‚übernatürlichen‘ Abkunft des Menschen („du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Abkunft“; W I 6, S. 17; siehe auch Abb. 7a/b). Während der Abfassung schwankt Nietzsche eigentlich zwischen zwei Bildern: A) Neben den Text, an den Rand oder auf die gegenüberliegende Seite, wird ein handschriftlicher Kommentar hingekritzelt; B) der Text wird (auch) physisch überdeckt, durch Gekritzel und Schmierereien unleserlich bis unsichtbar gemacht, ‚übermalt‘. Die Metaphern können einander ergänzen, und in der ersten ‚Vorstufe‘ stehen die „Nebensinne“ ‚neben‘ und ‚über‘ dem Grundtext. In der Abschrift sind „die vielen falschen Deutungen und Nebensinne“ zuerst lediglich „neben dem Grund-Text ‚homo natura‘ gekritzelt“ (W I 6, S. 17); dann aber korrigiert Nietzsche dahingehend, dass sie „über den Grundtext ‚homo natura‘ gekritzelt u. geschmiert wurden“ (W I 6, S. 17; Abb. 7a/b). Dieser Grundtext wird nicht nur willkürlich kommentiert, sondern regelrecht ‚übermalt‘: Nun heißt es nämlich, „daß dieß Alles nur {Putz Plunder u Goldstaub} einer unbewußten {menschlichen} Eitelkeit {ist}, u.〈nd〉 daß auch unter dieser schmeichlerischen {Farbe u〈nd〉} Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder herauserkannt werden muß.“ (W I 6, S. 16; vereinfachte Lesart erstellt von M.Br.; vgl. W I 6, S. 17; Abb. 7a/b)14 Der homo natura als ‚ewiger‘ Grundtext, der nietzscheanische Philosoph als Philologe, der ihn endlich wiederherstellt bzw. aus einer verdorbenen Übertragung in den Originaltext zurückübersetzt: Dieser Komplex sich überlagernder und teilweise durchkreuzender Gleichnisse enthält eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen einem ewigen Grundtext und dessen schwärmerischen Deutungen. Beim Alten Testament sind die pneumatischen Lektüren offenkundig willkürlich, und dies ganz abgesehen von der Frage, ob und wie die entsprechende Passage ‚richtig‘ zu lesen sei. Auch die Asymmetrie, die zwischen der ‚NaturTatsache‘ bzw. dem ‚Natur-Text‘ ‚Mensch‘ und dessen übernatürlicher Auslegung besteht, darf nicht überinterpretiert werden, d. h. nicht so, als ob Nietzsche sich selbst für einen Leser hielte, der zu einem ‚ewigen Grundtext‘ einen deutungsfreien Zugang gewinnen könne. Die Metaphorik des Aphorismus mag irreführen,
14 Diese Ausführungen ersetzen den erwähnten Hinweis auf die ‚wissende‘ Eitelkeit der freien Geister.
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aber dass die ‚Rückübersetzung‘ nicht interpretativ ist, wird hier nirgendwo behauptet. Warum aber ist der „Grundtext“ ‚ewig‘?15 Wie im Aphorismus JGB 230 den homo natura einen ‚schrecklichen‘ und ‚ewigen‘ Grundtext, so nennt Nietzsche andernorts den ‚homo religiosus‘ einen „furchtbaren und ewigen Typus“ (JGB 47, KSA 5, S. 68): Obwohl dem Wandel nicht entzogen, sind beide, der Mensch im Allgemeinen und der religiöse im Besonderen, überkulturelle Erscheinungen. Vielleicht hat „ewiger Grundtext“ eine ähnliche Bedeutung wie „Ur-Faktum“ in einem anderen Aphorismus: Dass „‚Ausbeutung‘“ „in’s Wesen des Lebendigen [gehört], als organische Grundfunktion“, als „eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist“, nennt Nietzsche „das U r - F a k t u m aller Geschichte“ (JGB 259, KSA 5, S. 208). Dahingehend wurde im Nachlass auch die Frage nach dem homo natura beantwortet, obwohl nur in Anführungszeichen: „Homo natura. Der ‚Wille zur Macht.‘“ (W I 8, S. 85; vgl. KSA 12, 2[131]). Jenseits von Gut und Böse löst das Rätsel des homo natura nicht auf, insbesondere nicht durch das Schlagwort ‚Wille zur Macht‘, deutet jedoch, diesmal ohne Anführungszeichen, in eine ähnliche Richtung: auf die Metamorphosen der Grausamkeit. Ist die ‚Ewigkeit‘ dabei nur eine Hyperbel dafür, dass die Natur gegenüber der Kultur einen relativ festen Rahmen bildet (‚relativ‘, weil eigentlich alles im Werden ist)? Oder wird ein metaphysischer Anspruch erhoben, der sich auf die Lehre vom Willen zur Macht bezieht? Im letzteren Fall ließe sich dieser Text etwa mit dem Aphorismus JGB 22 kaum vereinbaren, demzufolge auch der Wille zur Macht „nur Interpretation“ ist: Dies sei sogar „um so besser“ (JGB 22, KSA 5, S. 37), wohl weil dann auch die gängige Auffassung (der Naturgesetze) sich als bloß interpretativ herausstelle. Jene metaphysische Lesart des Aphorismus JGB 230 drängt sich nicht auf: Die sich teilweise durchkreuzenden Gleichnisse stehen für die vielfachen Irrtümer metaphysischer Anthropologie und für die heterogenen Verfahren zu deren Beseitigung, nicht für das Ideal eines den ‚ewigen Grundtext‘ deutungsfrei herauserkennenden Lesers.
5 Der Erkennende als homo natura In der erwähnten ersten Skizze geht es hauptsächlich um die Naturgeschichte des freien Geistes selbst. Den Menschen in die Natur zurückzuübersetzen ist „eine
15 Dieses Attribut fehlt noch in der Abschrift. In der ersten ‚Vorstufe‘ fehlt auch ‚schrecklich‘; aber „die furchtbare Naturthatsache M.〈ensch〉“ (N VII 1, S. 20) bedeutet Ähnliches wie „der schreckliche Grundtext homo natura“ (W I 6, S. 16).
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harte {schlimme} u. beinahe grausame Aufgabe“ (N VII 1, S. 21; Abb. 2a/b; vgl. auch KSA 14, S. 366): Wie lässt sich nun erklären, dass jemand, und zwar Nietzsche selbst,16 diese undankbare Aufgabe auf sich nimmt? Auch darin sieht der Philosoph ein naturgeschichtliches Problem, ja das Problem der Naturgeschichte des freien Geistes: Wie lässt sich der Erkennende selbst in die Natur zurückübersetzen? Wie lässt er sich als homo natura auffassen? Wie wird sein Erkennen und Handeln dann verständlich? Das allgemeinere Problem – der Mensch als homo natura – führt zu einem spezifischeren; von der Naturgeschichte des Menschen überhaupt gelangt der Erkennende zur Naturgeschichte seiner selbst: Er wird für sich selbst zu einem „Problem“. „Ein solcher Mensch ist ein Problem.“ (N VII 1, S. 21) Nietzsche ergänzt: „{, eine solche Arbeit, eine solche Aufgabe – das alles} ist ein Problem.“ (N VII 1, S. 21; Abb. 2a/b) Der Erkennende selbst kann nicht unbedingt nachvollziehen, warum er jene „beinahe grausame Aufgabe“ auf sich nimmt: Der naheliegende Schluss, er tue es eben, weil er grausam sei, wird vorerst nicht gezogen – die Aufgabe ist ja auch nur „beinahe“ grausam. Hat die Aufzeichnung die naturgeschichtliche Frage eigentlich beantwortet? Nietzsche lässt es im Unklaren. Explizit wird keine Lösung vorgeschlagen, „Problem“ ist das Schlusswort – und mit diesem Wort sollte vielleicht nicht nur diese Aufzeichnung enden: Am oberen Rand notiert Nietzsche später: „Schluß“ (N VII 1, S. 21; Abb. 2a/b). Der Erkennende, der sich selbst in die Natur zurückübersetzt, muss sogar auf das Wort ‚Redlichkeit‘ verzichten; auch dieses Lieblingswort der Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft gehört nämlich zu den schwärmerischen Deutungen, über die er Herr werden möchte. Hinter Ausdrücken wie ‚Redlichkeit‘ steht die Eitelkeit, und er versagt sich diese Selbstbezeichnungen, allerdings wiederum aus Eitelkeit. Diese These vertreten die frühen Bearbeitungsstufen, und zwar jeweils etwas anders,17 und auch die Abschrift hält daran fest: Und warum arbeitet er in dieser Absicht? Zumal er nicht die schönen Worte Liebe zur Wahrheit, Redlichkeit, Aufopferung für die Erkenntniß und dergleichen vorbringen dürfte: denn er hat sich selber gezeigt daß dieß Alles nur Plunder und Prunkworte einer unbe=wußten Eitelkeit sind, – und er versagt sich solche geringe Befriedigungen um seiner wissenden Eitelkeit willen. Und nochmals gefragt: Wa=rum? (W I 6, S. 17; vgl. hier die Korrekturen sowie auch die Abschrift in W I 6, S. 16.; Abb. 7a/b)
16 Im ersten Satz hat Nietzsche Folgendes nachgetragen: „Den M. {dergestalt, wie ich es thue – homo natura –} zurückübersetzen in die Natur“ (N VII 1, S. 21; Lesart erstellt von M.B.) Der Nachtrag wurde in die Endfassung nicht aufgenommen. 17 Vgl. in N VII 1, S. 21, die erste Niederschrift und die verbesserte Fassung sowie Abb. 2a/b.
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Die Eitelkeit ist demnach der Antrieb auch der freien Geister; die Eitelkeit, obwohl eine eigentümliche, ‚wissende‘, bewegt sie dazu, selbst auf das Wort ‚Redlichkeit‘ zu verzichten. Ist dieses Eingeständnis nicht die gesuchte naturgeschichtliche Erklärung? Eigentlich spräche einiges dafür, aber der Gegensatz zwischen der „unbewußten Eitelkeit“ der Metaphysiker und der „wissenden Eitelkeit“ der freien bzw. starken Geister fällt dem Überarbeiten zum Opfer. Die erstgenannte Eitelkeit erwähnt der Aphorismus noch, die andere aber nicht mehr. Nietzsche macht offenbar einen Rückzieher, wahrscheinlich weil er seit jeher auf dem Gegensatz zwischen der Eitelkeit der ‚Schwachen‘ und dem Stolz der ‚Starken‘ insistiert.18 Auf jeden Fall sieht er in der wissenden Eitelkeit der Erkennenden von Anfang an nicht wirklich eine Lösung; er stellt nämlich die Frage gleich wieder: „Und nochmals gefragt: Warum?“ (W I 6, S. 17; Abb. 7a/b)19 Eine Reihe Nachträge versucht, diese Schlussfrage zu verdeutlichen und/oder zu beantworten. „Was sind ‚freie Geister?‘“, „Warum Erkenntniß?“, „Problem der Wahrheit“ (W I 6, S. 17; Abb. 7a/b): Diese Fragen notiert Nietzsche im Nachhinein bzw. in anderer Tinte am oberen Rand der Aufzeichnung. Auf ähnliche Weise formulieren sukzessiv durchgestrichene Nachträge jenes „Warum?“ aus: „Was will – ‚ein freier Geist‘?“ Warum „Erkenntniß? Was will ein starker Geist?“ (W I 6, S. 17; Abb. 7a/b) Der alternative Versuch, mit einer Gegenfrage („Warum nicht Erkenntniß?“20) zu antworten, bleibt gleichsam liegen. In ähnlichem Sinn heißt es auf der gegenüberliegenden Seite: „Wir wissen es selber nicht“ bzw. „wir selber wissen es nicht“; oder auch: „und, gesetzt daß wir bereits geantwortet haben, wer wird mit unserer Antwort zufrieden sein?“ (W I 6, S. 16) Gemeinsam haben diese Ansätze, dass sie um eine Antwort auf die Frage herumkommen, sei es durch das Eingeständnis, dass sie keine haben, sei es im Gegenteil durch die Erklärung, man habe doch eine Antwort, die Nietzsche dem Leser jedoch nicht preisgibt. Letztere Strategie variiert dann auch der endgültige Aphorismus. Im Manuskript W I 6 jedoch setzt sich einstweilig eine andere Lösung durch: die Überleitung zur nächsten Aufzeichnung. Nietzsche hatte letztere zuerst selbständig notiert und erstellte den Zusammenhang erst bei der Bearbeitung. Das zweite Notat ist eine ‚Vorstufe‘ des Aphorismus JGB 229, die Reihenfolge ist also im Vergleich zu der in Jenseits von Gut und Böse (und schon im Druckmanu-
18 Zum Gegensatz von Stolz und Eitelkeit bei Nietzsche vgl. Brusotti 1994 und Müller-Lauter 1999. 19 So in der Abschrift (W I 6, S. 16, S. 17), aber ähnlich schon in der ersten Fassung (N VII 1, S. 21). 20 „und daß, in vielen Fällen, bei ihm die Antwort auf jene Frage lauten darf: Warum nicht Erkenntniß?“ (W I 6, S. 16).
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skript21) umgekehrt. Nietzsche probiert unterschiedliche Ansätze einer Überleitung aus, miteinander konkurrierende Versuche, die Frage ‚Warum Erkenntnis?‘ zu beantworten: Der freie, starke Geist begreife zunächst, dass er etwas „hinzugelernt“ habe bzw. dass er etwas könne, „was nur Wenige können“: Er halte „den Anblick vieler schlimmen Dinge“ aus. Dank einer kleinen Änderung schließt sich die nächste Aufzeichnung lückenlos an: Wer als Erkennender {Insofern er nämlich} erkannt hat, daß in und neben allem Wachsthum zugleich das {ein} Gesetz des Zugrundegehens waltet{,} und daß {dergestalt um des Schaffens selber willen beständig ein}unerbittlich{ste} Auflösen und Vernichten um des Schaffens selber willen {fortwährend} noth thut: der muß {so muß es dem M. dem freien Geiste möglich sein} eine Art Freude {Billigung u Genuß} an diesem Anblicke hin{zu}zulernen {zu erwerben}, um ihn auszuhalten – oder {aber} er taugt fürderhin nicht mehr zur Erkenntniß. Das heißt {: der freie Geist} er muß einer verfeinerten Grausam=keit fähig sein und sich zu ihr mit entschlossenem Herzen ausbilden. (W I 6, S. 17; Abb. 7a/b und W I 6, S. 19)
Grausamkeit, wenn auch eine verfeinerte, sei also um des Wachstums und des Schaffens willen nötig, weil letztere von Auflösen und Vernichten nicht zu trennen seien: Der Erkennende müsse diesen Anblick ertragen, ja daran irgendwie seine Freude haben, und nicht nur als Zuschauer; denn der Schaffende müsse „die Grausamkeit mit der Hand und That und nicht blos mit den ‚Augen des Geistes‘ kennen“ (W I 6, S. 19). Die Verfeinerung und „Vergeistigung der Grausamkeit“ (W I 6, S. 19), auf der „höhere Kultur“ überhaupt basiert, ist also alles andere als harmlos. Die Aufzeichnung geht dann zu einer speziellen Form über, zur „gegen sich selber gewendeten Grausamkeit“ (W I 6, S. 19), und kommt anschließend auf den Erkennenden und seine „Grausamkeit gegen den {jenen} Grund=Willen des Gei=stes“ (W I 6, S. 21) zurück. Durch diese nicht zuletzt, aber nicht nur gegen einen selbst gerichtete Grausamkeit wird der Naturhistoriker selbst naturgeschichtlich erklärt – und damit ist die Schlussfrage der früheren Aufzeichnung beantwortet. So sieht es nach dem geschilderten Korrekturvorgang aus. Jenseits von Gut und Böse geht jedoch einen anderen Weg als dieses Notizheft. Nietzsche kehrt nämlich die Reihenfolge der beiden Texte (im Druckmanuskript die Aphorismen 233 und 234, im Buch JGB 229 und JGB 230) um. Was hat dies inhaltlich zu bedeuten? Bevor diese Frage im letzten Abschnitt des vorliegenden Beitrags angegangen wird, sei ein Exkurs über „Die letzte Tugend“ (N VII 2, S. 14) vorausgeschickt.
21 Das Druckmanuskript von Jenseits von Gut und Böse ist im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt (Signatur: GSA 71/26; Mette-Signatur: D 18).
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6 Die Redlichkeit der freien Geister: JGB 227 Die Redlichkeit ist noch in Jenseits von Gut und Böse die Tugend der „freien Geister“, „die allein uns übrig blieb“, „unsre Tugend […], von der wir nicht loskönnen“ (JGB 227, KSA 5, S. 162).22 Wenn andere ihnen eine „ausschweifende Redlichkeit“ (JGB 230) zuschreiben, sind diese freien Geister jedoch zurückhaltend: Gehört das Wort ‚Redlichkeit‘ selbst nicht zu den vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen, die den Grundtext homo natura überlagern? Der Erkennende muss sich auch vor seinem Lieblingswort hüten, vom homo natura noch diese letzte ‚schwärmerische Deutung‘ fernhalten. Statt sich als ‚redlich‘ zu preisen, soll er sich die eigene ‚Grausamkeit‘ eingestehen. Darin besteht im Wesentlichen seine Selbstübersetzung in die Natur. Der Aphorismus JGB 227 ist im Ganzen etwas vorsichtiger: Ob ein Namenwechsel hier angebracht sei, wird lediglich als Frage in den Raum gestellt. Dürfen diese „freien Geister“ die ihnen einzig verbliebene Tugend ‚Redlichkeit‘ nennen? Sollen sie dem, was sie auszeichnet, nicht besser einen anderen Namen geben? („unsere Tugenden“, so der Titel des siebten Hauptstücks, dürfen sie ‚Tugenden‘ heißen? Darf hier überhaupt von ‚Tugend‘ oder von ‚Redlichkeit‘ die Rede sein?) Auch die Redlichkeit gehört zu den ‚umgetauften‘ ‚bösen‘ Trieben; soll man sie dann nicht lieber noch einmal umtaufen? Die freien Geister, heißt es abschließend, dürfen „aus Redlichkeit“ nicht „zu Heiligen und Langweiligen“ (JGB 227, KSA 5, S. 163) werden. Auch Nietzsches damals letztes Aphorismen-Buch hatte ‚uns‘ davor gewarnt, „zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden“ und „gerade mit unserer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu gerathen“. Dem Problem, wie man diesen „R ü c k f a l l “ „in die Moral“ (FW 107, KSA 3, S. 465) vermeiden kann, hatte sich also schon Die fröhliche Wissenschaft gestellt. Bezeichnenderweise gleichsam im letzten Augenblick: Erst nach der Fahnenkorrektur hatte Nietzsche das zweite und das dritte ‚Buch‘ jeweils mit einem neuen Schluss versehen. Er wollte nämlich einen neuen Akzent setzen und markieren, dass mit der Fröhlichen Wissenschaft seine „Freigeisterei“ zu einem Abschluss gekommen war und danach eine neue Phase beginnen sollte. „U n s e r e l e t z t e D a n k b a r k e i t g e g e n d i e K u n s t “ (FW 107), der letzte Aphorismus des zweiten ‚Buches‘, wurde beträchtlich erweitert. ‚Wir‘ müssen aus uns selber ein „ästhetisches Phänomen“ machen, heißt es schon im ersten Teil, und, so die neue Fortsetzung, „aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen“, und zwar jeweils über den „N a r r e n “ und über
22 Vgl. auch die ‚Vorstufe‘ (N VII 2, S. 13 f.; siehe auch KSA 14, S. 365).
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den „H e l d e n “, „der in unsrer Leidenschaft der Erkenntnis steckt“ (FW 107, KSA 3, S. 464); nur so können wir den lebensverneinenden Folgen unserer Redlichkeit ausweichen. Nur indem wir von ihr gelegentlich Abstand gewinnen, nur durch die „Kunst“, auch durch diejenige, über den „Narren“ in uns zu lachen, können ‚wir‘ „auch ü b e r der Moral stehen“; nur so entgehen ‚wir‘ der Gefahr, gerade mit unserer „reizbaren Redlichkeit“, um ihrer „überstrengen Anforderungen“ willen, „in die Moral“ zurückzufallen (FW 107, KSA 3, S. 465). Im späteren Aphorismus JGB 227 betrachtet Nietzsche die eigene Redlichkeit nicht ‚aus einer künstlerischen Ferne her‘ und insofern nicht von dem Standpunkt einer ihr fremden Potenz aus, sondern richtet auf sie gleichsam einen naturgeschichtlichen Blick.23 Diese naturgeschichtliche Betrachtung scheint hier, wäre man versucht zu sagen, ein Anliegen der Redlichkeit selbst. Blickt diese naturgeschichtlich auf sich selbst? Der Aphorismus JGB 230 findet derlei Ausdrucksweisen problematisch: Die eigene ‚Tugend‘ in die Natur zurückzuübersetzen scheint hier darauf hinauszulaufen, auf das Wort ‚Redlichkeit‘ zu verzichten. Allerdings lässt sich Nietzsche eine Hintertür offen: ‚Wir‘ halten uns heute zurück und sehen am besten davon ab, unsere eigene „ausschweifende Redlichkeit“ zu preisen, aber „s o “ klingt vielleicht „wirklich einmal unser – Nachruhm“: in einer Zukunft, in der Verwechslungen mit der herkömmlichen Moral nicht mehr naheliegen. Der Aphorismus JGB 227 verbietet den freien Geistern nicht geradeheraus, sich als ‚redlich‘ zu bezeichnen; ihnen bleibt demnach allerdings unbekannt, was diese ihre Tugend eigentlich ist. „unsere Tugenden“, so der Titel des siebten ‚Hauptstücks‘, sind sie nicht doch eine einzige, „die allein uns übrig blieb“, die Redlichkeit nämlich? Die Antwort ist, dass diese selbst plural ist. Das Wort ‚Redlichkeit‘ steht für ein Mannigfaltiges und letztlich Unbenennbares; dieser umgetaufte ‚böse‘ Trieb ist selbst keine Einheit, und mit ihm können alle denkbaren Triebe, kann alle mögliche „Teufelei“ (JGB 227, KSA 5, S. 162), zusammenwirken.24 „Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist h e i s s e n will, der uns führt? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen?“ (JGB 227, KSA 5, S. 163) Diese „Sache der Namen“ – die Entscheidung zwischen moralischem und ‚naturgeschichtlichem‘ Vokabular – ist keine Nebensache. Im
23 Zum Aphorismus JGB 227 und zu einem Vergleich mit FW 127 vgl. Brusotti 1997, S. 673 ff., zum Korrekturbogen sowie zur endgültigen Fassung des Aphorismus FW 107 vgl. Brusotti 1997, S. 438 ff. 24 Die ‚Vorstufe‘ zählt dazu u.a. noch explizit „unsere Grausamkeit“ (N VII 2, S. 13; vgl. auch KSA 14, S. 365). Den „Willen zur Macht“ erwähnen sowohl die ‚Vorstufe‘ wie auch die endgültige Fassung.
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Gegenteil, es kommt letztlich gerade darauf an, wie die ‚freien Geister‘ sich selbst verstehen, welchen Namen sie der eigenen ‚Tugend‘ geben, wie sie sich selbst kennzeichnen. Strenggenommen wissen sie allerdings nicht einmal, wie sie (bzw. „der Geist […], der [sie] führt“; JGB 227, KSA 5, S. 163) wirklich heißen wollen. Können sie sich dann wirklich in die Natur zurückübersetzen, wenn sie so wenig von sich wissen? Sie scheinen sich auf jeden Fall darüber im Klaren, wie sie nicht heißen wollen. Mit der Aufforderung, dafür zu sorgen, dass unsere Redlichkeit „nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsere Dummheit werde“ und der bereits angeführten Ermahnung, „aus Redlichkeit“ nicht „zu Heiligen und Langweiligen“ (JGB 227, KSA 5, S. 163) zu werden, schließt der Aphorismus. Bei aller Unwissenheit über sich selbst können (und müssen) die freien Geister sich davor hüten, ihre ‚Redlichkeit‘ moralisch zu deuten. Der Aphorismus JGB 230 verlangt im Grunde nichts Weiteres: Sie müssen „vor dem Menschen“ „mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten OdysseusOhren“ (JGB 230) stehen, taub gegen die metaphysischen Sirenengesänge einer übernatürlichen Herkunft: des Menschen überhaupt, aber auch der eigenen Tugenden; und gerade dort, wo die Erkennenden sich selbst in die Natur zurückübersetzen müssen, wird ihnen diese Unerschrockenheit in besonderem Maße abverlangt. Sie müssen metaphysische und moralische Selbstauslegungen abwehren, und den Menschen in die Natur zurückübersetzen heißt eben dies. Die Aufgabe beinhaltet einfach, „dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der a n d e r e n Natur steht“ (JGB 230). Worum es dagegen nicht geht, ist introspektive Selbsterkenntnis; von dieser darf naturgeschichtliche Menschenkenntnis nicht abhängen; auch die Naturgeschichte des freien Geistes ist keine auf introspektiver Selbsterkenntnis basierende Autobiographie. Nietzsche und seine freien Geister brauchen also auch laut dem Aphorismus JGB 230 kein weitergehendes Wissen, als ihnen der Aphorismus JGB 227 zuschreibt.
7 Der Schluss von JGB 230 „Warum wir“ – endet der Aphorismus JGB 230 – „sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: ‚warum überhaupt Erkenntniss?‘ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort…“ (JGB 230) Als? Eine Antwort, vielleicht nicht die endgültige, aber immerhin eine, will Nietzsche doch gefunden haben. Welche er meint, lässt er jedoch im Dunkeln. Theoretisch könnte der Schluss nach vorne weisen – auf den Anfang des nächsten Aphorismus: „Das Lernen verwandelt uns“ (JGB 231). Wol-
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len freie Geister also aus diesem Grund erkennen? Um sich selbst zu verwandeln? (Obwohl es, wie Nietzsche gleich hinzufügt, „im Grunde von uns, ganz ‚da unten‘“, „etwas Unbelehrbares“ (JGB 231, KSA 5, S. 170) und Unwandelbares gibt.) Darf man den Schluss des Aphorismus JGB 230 so deuten? Diese Lesart lässt sich zwar nicht ganz ausschließen, wäre aber sehr spekulativ. Es gibt eine lectio facilior: Die Frage wurde doch bereits beantwortet, in JGB 229 und in JGB 230 selbst. Das heißt: Nietzsche findet „keine bessere Antwort“ als den Hinweis, dass die Grausamkeit den Erkennenden treibt, dass er sie gegen sich selbst richtet, gegen den „Grundwillen“ seines Geistes. Dahingehend wird das Problem im Notizheft W I 6 gelöst. Die These, „daß das tief und gründlich Nehmen selber eine Art Widerspruch und Grausamkeit gegen den {jenen} Grund=Willen des Gei=stes, welcher zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, daß also auch in den geistigsten Thätigkeiten der Mensch als Künstler {u. Verklärer} der Grausamkeit waltet“ (W I 6, S. 21; Abb. 2a/b; Vs zu JGB 229), erklärt im Notizheft auch, warum der Erkennende sich die seltsame Aufgabe vornimmt, den metaphysischen Menschen in den homo natura zurückzuübersetzen.25 Im Druckmanuskript und dann im Buch ist die Reihenfolge der Aphorismen umgekehrt: Wenn die Aufgabe einer Zurückübersetzung des Menschen in die Natur vorgeschlagen und die Frage nach der Motivation des Erkennenden gestellt wird, ist die Grausamkeit bereits ausführlich erläutert worden. Trotzdem hätte der Schluss des Aphorismus noch einmal in aller Deutlichkeit auf sie eingehen können. Nietzsche zieht es jedoch vor, anders zu verfahren als im Manuskript W I 6. Dass er die These inhaltlich fallengelassen hat, ist ausgeschlossen: Es gibt in seinen Augen ‚keine bessere Antwort‘ auf die naturgeschichtliche Frage als den Hinweis, dass der Erkennende die eigene Grausamkeit gegen sich selbst, gegen den Grundwillen seines Geistes, richtet. Warum wird dem Leser also die explizite Auflösung des Rätsels vorenthalten? Dass der Aphorismus JGB 230 davon absieht, die naturgeschichtliche Frage noch einmal klar zu beantworten, hängt wohl auch damit zusammen, dass Nietzsche an der Neuigkeit von Fragen und Aufgaben wesentlich gelegen ist. Der Hinweis auf die Grausamkeit ist eigentlich eine Antwort auf die am Anfang des Buches gestellte Frage „W a s in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘?“ (JGB 1), die „Frage nach den Ursachen dieses Willens“ (JGB 1), eine Frage, vor der ‚wir‘ „lange Halt machten“ (JGB 1). Dann aber, erklärt Nietzsche, blieben ‚wir‘ vor 25 Mit dieser These bricht die Vorstufe ab. Später wird nur noch ein Satz nachgetragen: Er kündigt eine „Erläuterung“ des „Grundwillen[s] des Geistes“ an (W I 6, S. 21; d.i. Vs JGB 229). In Jenseits von Gut und Böse (d. h.: schon im Druckmanuskript) ‚rutscht‘ dieser Satz an den Anfang des nächsten Aphorismus, und dieser, JGB 230, liefert gleich die versprochene „Erläuterung“.
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einer anderen, gründlicheren, „ganz und gar stehen“, vor der Frage „nach dem W e r t h e dieses Willens“ (JGB 1, KSA 5, S. 15).26 Diese wird nicht nur in Jenseits von Gut und Böse als ein von Nietzsche zum ersten Mal gewagtes, noch ungelöstes Grundproblem eingeführt (vgl. FW 344); und auf den Hinweis, dass er sich damit auf unbetretenes Terrain wagt, kommt es Nietzsche kaum weniger an als auf die Antwort selbst. Der erste Aphorismus beantwortet keine der beiden Fragen; aber die propädeutische Frage nach den Ursachen wird anders als die Grundfrage nach dem Wert nicht als noch unbeantwortet hingestellt. Auf ähnliche Weise wird das Problem, wer der Erkennende sei, der den homo natura aufdecken wolle, und was ihn dabei antreibe, im Aphorismus JGB 230 nicht für noch ungelöst erklärt. Im Gegenteil. Nicht nur auf die Frage, warum „wir“ die „seltsame und tolle Aufgabe“ wählten, den Menschen in die Natur zurückzuübersetzen, will Nietzsche eine Antwort gefunden haben, sondern auch auf die allgemeiner formulierte „warum überhaupt Erkenntniss?“ (JGB 230). Aber diese Antwort wird hier nicht gerade ausbuchstabiert. Schon in den frühen Stufen der Textgenese war die Tendenz sehr ausgeprägt, nicht mit einem positiven Vorschlag zu schließen, sondern mit dem Problem oder in fragender Form. In Jenseits von Gut und Böse hätte Nietzsche den fragenden Schluss durch einen thetischen ersetzen können, den Hinweis auf das Problem durch die Lösung. Er zog es zeitweilig auch in Erwägung, als er in W I 6 die ‚Vorstufe‘ mit der darauffolgenden Aufzeichnung verband, machte diese Entscheidung jedoch wieder rückgängig. Im Nachlass trägt die „Naturgeschichte des freien Geistes“ den Untertitel „Gedanken und Gedankenstriche“ (W I 7, S. 78). Nicht anders als Letztere wirken die drei Punkte am Ende des Aphorismus.
26 Die ‚Vorstufen‘ des Aphorismus JGB 230 zeigen vielfache thematische Verbindungen zum ersten Aphorismus. Über die Aufgabe, den Menschen in die Natur zurückzuübersetzen, heißt es z. B.: „Wer an ihr {nämlich} arbeitet, hat sich selber ebenso zum Gegner als seine Mitmenschen {: er hat in sich selber auch den Oedipus, der vor der Sphinx dieser Aufgabe Fragen stellt. er hat den Abgrund neben sich.} Und warum arbeite{st} er du in dieser Absicht?“ (W I 6, S. 17; vereinfachte Lesart erstellt von M.Br.) Die Sphinx ist hier die Aufgabe, den Menschen in die Natur zu übersetzen, im Aphorismus JGB 1 wiederum das „Problem vom Werthe der Wahrheit“. Nietzsche weiß hier zuletzt nicht mehr, wer die Sphinx ist, ob letzteres oder ‚wir‘ selbst: „Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx?“ (JGB 1, KSA 5, S. 15) Wer trat vor wen hin wie Ödipus vor die Sphinx? Jenes Problem vor ‚uns‘? Oder war es umgekehrt (vgl. JGB 1)? Auch in der zitierten Vorstufe spielt Nietzsche mit den Rollen: Ödipus stellt hier Fragen, nicht die Sphinx. (Davon abgesehen wird im Text der Fragende selbst zum Problem.) Der Aphorismus JGB 230 behält als einzige Anspielung auf Ödipus die „unerschrocknen Oedipus-Augen“, die neben den „verklebten Odysseus-Ohren“ den Erkennenden auszeichnen.
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Marco Brusotti
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„Wanderer, wer bist du?“ Überlegungen zu Maske und Dialog, Figur und dem Vornehmen in Jenseits von Gut und Böse 278 – Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an’s Licht gekommen – was suchte es da unten? –, mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, – erhole dich! Und wer du auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! – „Zur Erholung? Zur Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich bitte – –“ Was? Was? sprich es aus! – „Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!“ …. (JGB 278, KSA 5, S. 229)
Walter Kaufmann hat 1982 in den Nietzsche-Studien darauf aufmerksam gemacht, dass ein zentrales Problemfeld der Texte Nietzsches noch wenig erschlossen sei, welches er mit dem Verweis auf Rolle, Schauspieler und das Schauspielerische umreißt. Vor allem Wort und Konzept von ‚Maske‘ verdienten besonderes Augenmerk (vgl. Kaufmann 1982, S. 111). Zuvor hatte sich schon Achim Fürstenthal direkt mit „Maske und Scham bei Nietzsche“ beschäftigt (vgl. Fürstenthal 1940), Bertram hat ihr 1918 ein Kapitel seines umstrittenen Buches Nietzsche. Versuch einer Mythologie gewidmet und verschiedene Arbeiten der fünfziger und siebziger Jahre hielten vor allem die jeweils anders ausgestaltete Hypothese der ‚Masken Nietzsches‘ einer Untersuchung wert.1 Neuere Monographien und Abhandlungen fehlen natürlich nicht2, doch zeigen die unterschiedlich fokussierten Ansätze vor allem eins, nämlich das vielgestaltige, höchst facettenreiche Spektrum, das die Masken-Problematik in den Schriften Nietzsches aufweist. Die vorliegende Untersuchung hat sich das Ziel gesetzt, einen einzelnen Aphorismus von JGB zu erschließen und eine Fokussierung auf die genannte Problematik vorzunehmen. Die Themen, die in JGB 278 verhandelt werden, sind ungeachtet des vergleichsweise wenige Zeilen umfassenden Abschnittes hochkomplex und in mehreren Bedeutungsebenen dem Text eingeschrieben, sodass ich den von ihnen eröffneten Raum kaum werde durchmessen können. Hinzu
1 Darunter u.a. Carlsson 1958, Alderman 1972, Williams 1978. Eine willkommene Ausnahme stellt Vattimo 1974 dar. 2 Hier ist vor allem die Arbeit von Vivarelli 1998 hervorzuheben.
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kommen die im Aphorismus selbst nicht eindeutig konturierten Figuren, mehrdeutig auslegbare Metaphern und nur angedeutete, aber nicht argumentativ diskutierte Problemfelder, die die potentielle Offenheit des Abschnittes garantieren und jede Interpretation auf eine unabgeschlossene Positionierung verweisen. Um diesen Schichtungen dennoch gerecht zu werden, entschied ich mich für ein Vorgehen, das am ehesten mit ineinander gesetzten Schachteln verschiedener Größe verglichen werden kann. Ich beginne mit der kleinsten Schachtel, also zuallererst damit, mir den Aphorismus 278 anzusehen. Hernach soll sich die Perspektive öffnen auf das neunte Hauptstück von JGB, innerhalb dessen sich der Aphorismus situiert, um eine Deutung derjenigen Aspekte zu versuchen, die mit der Binnensicht nicht erfasst werden konnten. Hierbei sind die Bezüge zum Motiv des ,Vornehmen‘ ebenso zu klären, wie die Verknüpfung der Maskenthematik mit der Ehrfurcht, die später anhand des Wanderermotivs fokussiert werden. Die Argumentation wird an manchen Stellen mit Verweisen auf andere Teile von JGB, im Falle des Wanderer-Motivs noch auf weitere Schriften Nietzsches zu durchbrechen sein. Anhand dieses Vorgehens soll der Aphorismus möglichst präzise und textnah erschlossen werden, wobei, um im Bilde zu bleiben, mit jeder größeren Schachtel, die ich öffne, neue Spielräume in den Blick und somit infrage kommen, die die Interpretation bereichern sollen. Durch oben genannte Komplexität von JGB 278 ist dessen Auslegung in vielfachen, eventuell einander ausschließenden Ansätzen nicht nur möglich, sondern sogar erforderlich. Einige bereits publizierte Deutungen werde ich in Kapitel 4 kurz diskutieren und meine eigene anfügen, die freilich ohne den Anspruch auftritt, letztgültige und abschließende Interpretation zu sein.
1 „Wanderer, wer bist du?“ I: Close Reading3 Zunächst fällt auf, dass dieser Aphorismus mit einem Strich beginnt. Dem Bedeutung tragenden Text ist ein Gedankenstrich vorangestellt, als hätte sich vor dem Beginn der Rede etwas ereignet, das gleichzeitig voraus-gesetzt ist und vorausgesetzt wird. Der Gedankenstrich verweist auf eine Leerstelle der Rede, auf das, was nicht gesagt oder erklärt wird. Gleichzeitig erhält das Tempo des Textes schon am Anfang eine Pause, die wie ein Atemholen das Lesen stocken lässt und
3 Wenn nicht anders ausgewiesen, stammen die direkten Zitate dieses Abschnittes aus JGB 278, KSA 5, S. 229.
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den Lesefluss künstlich unterbricht.4 Wenn wir weiter lesen, wird das, was sich vorher ereignet hat, deutlich: „Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn“. Der Gedankenstrich verweist folglich auf das Beobachten, auf den Blick des Sprechenden. Die genannte Leerstelle ist das Sehen, das als physischer Akt stumm vor sich geht und erst danach in Worte gefasst wird: „ich sehe dich deines Weges gehn“. Mit diesem primär nicht-semantischen Graphem wird eine vorsprachliche Dimension eingeholt – die der Physis, die einen hohen Stellenwert sowohl im vorliegenden Aphorismus als auch generell bei Nietzsche einnimmt. Der Aphorismus ist dialogisch gestaltet. Die Rede derjenigen Figur, die zuerst spricht, steht ohne Anführungszeichen, die des Wanderers hingegen ist als wörtliche Rede markiert. Aus diesem Grund changiert die erste Figur zwischen den Positionen 1. des (nach Genette homodiegetischen) Ich-Erzählers, der am Geschehen teilnimmt, wobei die Autor-Position weder ein- noch ausgeschlossen ist und 2. des Dialogpartners, der keine Erzählerfunktion innehat. Dies hat zur Folge, dass nicht eindeutig festzulegen ist, wann der Erzähler/Dialogpartner das Wort tatsächlich an den Wanderer richtet: Zunächst scheint es, als würde er den aus der Ferne herankommenden Wanderer beobachten und zu sich selbst reden. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch das Präsens im Satzteil „ich sehe dich deines Weges gehn“, welches letztlich nichts anderes heißt als: Ich sehe, wie du gerade deines Weges gehst. Infolgedessen könnte die Figur eine Funktion innehaben, in der sie noch nicht als Dialogpartner auftritt. In einer ersten Lese-Variante also sieht der Erzähler einen Wanderer in der Ferne „[s]eines Weges gehn“ und sieht, wie dieser aus der Ferne auf ihn zukommt. Der Weg, auf dem der Wanderer geht, führt offenbar direkt zum Erzähler hin und wahrscheinlich an ihm vorbei. Derart wird eine Bewegung mitgeteilt, die zwei sich in einer bestimmten Entfernung voneinander befindliche Punkte aufeinander bezieht. Die gegebene Distanz zwischen ihnen wird umso kleiner, je weiter der Wanderer auf seinem Weg fortschreitet. Außerdem besteht zwischen beiden ‚Punkten‘ ein wichtiger Unterschied: der des Statischen (Erzähler) zum sich in einer gerichteten Bewegung befindlichen Wanderer. Zusätzlich enthält uns der Text all jene Satzzeichen vor, mittels derer eine später einsetzende, an den Wanderer gerichtete Rede eindeutig
4 Ein ähnlicher Effekt ist in JGB 277 zu bemerken, der dem Wanderer-Aphorismus direkt vorangeht. Dieser beginnt ebenso mit einem Gedankenstrich und nennt es die „Melancholie alles F e r t i g e n “, dass im Prozess eines Tuns Dinge erlernt würden, die zum Gelingen desselben schlechterdings notwendig gewesen wären. Sofern das Tun darauf ausgerichtet war, irgend worin „fertig“ zu werden und als abgeschlossenes „Haus“ zu fungieren, gerät es in Konflikt mit der eigenen Unzulänglichkeit. Der Gedankenstrich markiert hier sehr raffiniert das der melancholischen Erkenntnis vorgängige, ‚fertig gewordene Tun‘ und der Aphorismus selber ist folglich schon Zeichen und Ausdruck des „Zu spät!“ (vgl. JGB 277, KSA 5, S. 228 f.).
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gekennzeichnet wäre. Demnach bleibt unentschieden, wann sich beide tatsächlich begegnen, wann der Wanderer bei dem ihn Ansprechenden ankommt. Und genauso unklar bleibt, was jener von dem Gesagten hört bzw. worauf sich seine spätere Reaktion bezieht. Demgegenüber ist eine zweite Lese-Variante von dem Verständnis geprägt, ab dem ersten Wort des Aphorismus sei die Rede auch direkt an den Wanderer gerichtet, wodurch die ihn ansprechende Figur allein als Dialogpartner, nicht aber als Erzähler in Betracht kommt. Auch kann keine Bewegung angenommen werden: Beide Figuren stehen seit Beginn des Gespräches beieinander. Zwar mögen diese Überlegungen als bloße textanalytische Feinheit erscheinen, dennoch werden zu einem gewissen Grade die Möglichkeiten von Interpretation davon beeinflusst, ob eine Aufspaltung der Figur in den Dialogpartner und den Erzähler vorgenommen wird. Der erste Satz, „Wanderer, wer bist du?“, trägt in sich eine Zuschreibung im Ansprechen: Der Angesprochene wird als „Wanderer“ und, wie wir gerade gesehen haben, als ‚Wandernder‘ bezeichnet. Mithin ist es eine Frage, die sich partiell selbst zu beantworten scheint: ‚Du bist ein Wanderer‘ – Wer bist du? Ein Wanderer. Auf diese erste, in sich schon zwiespältige Frage folgt eine Beschreibung dieses ‚Wanderers‘, wobei der Satzteil „Ich sehe dich deines Weges gehn“ einen Blick von außen markiert und im Folgenden das Gesehene expliziert wird. Die Struktur dieser Beschreibung ist eine zweifach negative (ohne Hohn, ohne Liebe) und eine vierfach positive („mit unerrathbaren Augen […], mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift“; Hervorhebungen C.S.). Auffällig ist, dass die positive Beschreibung anhand der Physis vorgenommen wird, wobei verschiedene äußere Körperteile als Konkretion dienen (Augen, Brust, Lippe, Hand). Zusätzlich sind diese metaphorisch überformt. Die erstere, negative Beschreibung hingegen enthält zwei abstrakte Begriffe, die mit Emotionen bzw. innerer Haltung verknüpft sind: Weder Hohn noch Liebe seien dem Wanderer zu eigen. Einzig den Augen ist es vorbehalten, anhand einer weiteren Metapher präzisiert zu werden: Die „unerrathbaren Augen“ werden in einem Vergleich gefasst, sie seien „feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an’s Licht gekommen – was suchte es da unten? –“. Ein Senkblei wird zur Ermittlung der Wassertiefe an einer bestimmten Stelle ins Wasser hinab gelassen. Zieht man es, analog zur Metapher, „ungesättigt“ wieder empor, so kann es nicht auf den Meeresgrund gestoßen sein. Was in der Metapher des Senkbleis ebenso mitschwingt, sind Assoziationen einer bleiernen Schwere und des immer erneut vergeblichen (‚ungesättigten‘) Suchens, das sich im Festgelegtsein des Senkbleis auf seine Aufgabe, ‚irgendwo auf den Grund zu kommen‘, zeigt. Die „Brust, die nicht seufzt“ kann vielerlei bedeuten, sodass es geboten erscheint, nach produktiven Einschränkungen der Interpretation zu suchen. Ein-
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gerahmt wird sie von den unerratbaren Augen und der ihren Ekel verbergenden Lippe. Die deutlich Tränen mitführende Wortwahl („feucht und traurig“ im Zusammenhang mit den Augen) ist der einzige Anhaltspunkt, um die emotionale Gestimmtheit des Wanderers zu erfassen. Zu bedenken ist allerdings, dass uns die Beschreibung desselben nur durch den Erzähler/Dialogpartner zukommt, der sowohl beschreibt als auch wertet, was er sieht. Ein Grund für diese (vermutete) Traurigkeit kann möglicherweise, ich werde später darauf zurückkommen, in Verbindung mit der Metapher des Senkbleis und den Spezifika der WandererFigur gebracht werden. Nun lässt sich die nicht seufzende Brust auch auf eine inhaltliche Ebene bringen mit der „Lippe, die ihren Ekel verbirgt“. Hier ist deutlich, dass der Ekel existiert, aber anderen (oder sich selbst) nicht gezeigt wird. All dies stärkt die Vermutung, der Wanderer hätte zwar durchaus Anlass zum Seufzen, verberge dies aber, um sich nicht preiszugeben. Die Rede von der „Hand, die nur noch langsam greift“ impliziert, dass dieselbe vorher ‚schneller‘ gegriffen habe. Eine Hand greift, um ‚etwas‘ zu nehmen, zu ergreifen und in ihren Besitz zu bringen. So unspezifisch dies im Text steht, so klar ist doch, dass das Gegriffene begehrt oder zumindest gewollt worden ist. Langsam zu greifen, kann bedeuten, dass das zu Greifende sorgsamer ausgewählt wird, weil im Greifen noch abgewägt und geprüft werden kann, was ein schnelles Greifen sofort in seinen Besitz nimmt. An dieser Stelle habe ich kurz die dritte ‚Schachtel‘ mit den Bezügen zu JGB geöffnet – denn die Assoziation zu Tempo und Sorgfältigkeit des Greifens kommt von JGB 199: Dort wird das moralische Bedürfnis des ‚du sollst!‘ beschrieben, wie es ungeduldig und „wenig wählerisch“ (JGB 199, KSA 5, S. 119) zugreift. Es gibt in JGB einige Stellen, die Auge bzw. Blick und Hand bzw. Greifen in Zusammenhang bringen mit ihrem Tempo, mit der Schnelligkeit oder Langsamkeit ihres Tuns.5 Nicht zuletzt reiht sich hierin „das Genie des Herzens“ ein, „das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt“ (JGB 295, KSA 5, S. 237). Die ganze Beschreibung des Wanderers ist ein einziger Satz, der nun mit einem Doppelpunkt auf zwei Fragen hingeleitet wird. Durch die Wiederholung der ersten Frage wird der – freilich nicht so recht gelingen wollende – Versuch, sie auf irgendeine Art zu beantworten, nochmals und weiterführend unternommen. Denn analog zur Charakterisierung des Angesprochenen als Wanderer führt nun die Beschreibung des Gesehenen direkt auf die Frage nach der Identität hin: „wer bist du?“. Folgerichtig lautet diesmal die Antwort: Du bist nicht Hohn, nicht
5 So z. B. in JGB 213: „das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt ….“ (JGB 213, KSA 5, S. 149) und JGB 256: „Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand“ (JGB 256, KSA 5, S. 201).
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Liebe; du bist „unerrathbare[] Augen“ und Brust, Lippe und Hand. Die zweite Frage, die mit einer Minuskel beginnt, folglich den Satz noch weiterführt und eng zur gegebenen Beschreibung zugehörig ist, lautet „was thatest du?“. Diese Abwandlung der vorausgehenden Frage ist nicht nur deshalb notwendig, weil selbst auf deren Wiederholung keine Antwort folgt.6 ‚Wer jemand ist‘, wird – nach dem Bezug zum Leib – nun auch in Zusammenhang gebracht mit dem, was er tat. Diese Verschiebung des Akzents vom ‚Sein‘ zum ‚Tun‘ scheint mir bedeutsam, sodass ein erläuternder Verweis auf die Genealogie der Moral gestattet sei: „Es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.“ (GM I 13, KSA 5, S. 279) Nach Werner Hamacher, der im Essay Echolos diesen Aspekt zuspitzt, ist das Subjekt somit nicht mehr als „die Figur, zu der ein Akt […] entstellt ist.“ (Hamacher 2003, S. 8) Fokussiert man die Problematik von JGB 278 aus diesem Kontext heraus, ist es kein Zufall, dass das ‚Sein‘ des Wanderers unbestimmbar bleibt und die Frage nach einem ‚Sein‘ in der Form „wer bist du?“ nicht beantwortet werden kann. Hingegen scheint, mit Hamacher, eine zeitweilige Bestimmung des Befragten über das mit ihm in Verbindung stehende Tun möglich. Dies ist nicht zuletzt aus der Bezeichnung des Gegenübers als „Wanderer“ ersichtlich, d. h. als jemand, der zu Fuß große Strecken zurücklegt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Erzähler/Dialogpartner dreimal den Versuch unternimmt, den ihm Entgegenkommenden in seiner Identität zu bestimmen: Zunächst durch die Bezeichnung „Wanderer“, dann mittels der metaphorisch überformten Beschreibung des Wanderers, wobei der Leib-Bezug betont wird und zuletzt, indem die Frage „wer bist du?“ durch die ihr folgende Frage „was thatest du?“ überlagert und somit eine Fokussierung des Tuns statt des ‚Seins‘ erreicht wird. Wenn diese Annahmen richtig sind, verhandelt der Abschnitt auf engstem Raum gleichzeitig das Scheitern der Identitätsfrage und das Ringen um eine adäquate Möglichkeit, einem Anderen zu begegnen. Ein Indiz dafür könnte die wenig später folgende Relativierung der eingangs gestellten und nochmals wiederholten Identitätsfrage sein: „Und wer du auch sein magst“. Jetzt ist es dem Fragenden nicht mehr wichtig, zu erfahren ‚wer der Wanderer ist‘ und es gleicht einem Einsehen in die Unmöglichkeit einer Beantwortung dieser Frage, wenn sie sich auf diese Weise selbst zurücknimmt.
6 Es bleibt zu fragen, ob der Text als solcher überhaupt eine Möglichkeit der Antwort zulässt: Nach keiner der Fragen „wer bist du?“ wird ein Raum zum Antworten gegeben. Dieser hätte wenigstens mit einem Gedankenstrich gekennzeichnet werden können. So entsteht der Eindruck, der Wanderer bekäme im Text und im entscheidenden Moment der Fragen gar nicht erst die Chance, ‚zu Wort zu kommen‘.
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Schon mit den beiden Fragen wurde die Ebene der Beschreibung verlassen. Trotzdem erwächst das Folgende aus der Beobachtung, die sich selbst nicht mehr thematisiert: „Ruhe dich hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann“, also unabhängig davon, wer jemand ist. Vor allem aber ist das Angebot unabhängig davon, ob die Frage „wer bist du?“ tatsächlich beantwortet wird. Es bleibt unbenannt, weshalb dem Wanderer eine Gelegenheit zu Rast und Ruhe angeboten wird, als wäre dies offensichtlich und resultiere aus der Beobachtung des Wandernden. Weiter heißt es: „– erhole dich! Und wer du auch sein magst: was gefällt dir jetzt?“. Zur Erholung bedarf es etwas, das Ausruhen braucht ein Hilfsmittel, eine Unterstützung: „Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! – “. Dabei liegt eine nicht gering zu schätzende Klugheit in den beiden Fragen, die die Art der angebotenen Erholung vom Wanderer erfahren wollen – zeugen sie doch von der Intuition, keinesfalls wissen zu können, was dem Wanderer ‚jetzt gefallen könne‘. Zwar wird der Ort als „gastfreundlich für Jedermann“ gepriesen, doch ist dies offenbar nicht gleichbedeutend mit der Vorstellung, ein auf Jeden gleichermaßen passendes Mittel sofort anbieten zu können. Es bleibt fraglich, ob der in seiner statischen Position verharrende Erzähler/ Dialogpartner überhaupt etwas haben könne, was dem Wanderer zur Erholung dienlich wäre. Der die lange Rede beschließende Gedankenstrich markiert eine Pause, woraufhin der Wanderer zum ersten Mal selbst zu Wort kommt. Er zögert, seine Bitte vorzubringen und nennt den anderen einen „Neugierige[n]“. Dies kann durchaus im Sinne einer Bekräftigung und Weiterführung des oben genannten Versuchs der (immer nur vorläufigen) Zuschreibung von Identität durch Handlungen gelesen werden: Durch das Veräußern der Beobachtungen in der Rede, mindestens aber mit dem Anbieten einer Erholung, kann der andere ihn als ‚den Neugierigen‘ begreifen und seine Identität seinerseits in einer Benennung zeitweise festlegen. Deshalb ist für diesen Aphorismus die Dialogform geradezu zwingend: In der Begegnung mit einem anderen wird die Personalisierung notwendig, ist man gezwungen, konkret zu werden, sich festzulegen und festlegen zu lassen, Masken zu tragen, eine ‚Rolle‘ zu spielen. In diesem Sinne begünstigt gerade der Dialog die Masken-Problematik. Ab der Rede des Wanderers ist die stilistische Struktur die einer Verzögerung: Das doppelte Wiederholen der Worte „Zur Erholung?“, das Abbrechen der Rede, die diese Pause markierenden Gedankenstriche, mit denen nonverbal aber wortwörtlich ‚um Worte gerungen wird‘, das wiederholte Nachhaken des Fragenden – all das hat die Funktion, den Dialog einerseits plastisch auszukleiden und andererseits, die Situation dramaturgisch zur Pointe hinzutreiben: Der Wanderer wünscht „Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!“. Dies mag überraschen, war doch von „Maske“ bislang keine Rede – nun wird sogar eine „zweite Maske“ ins
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Spiel gebracht. Die Präzisierung lässt die Suche nach einer ‚ersten Maske‘ nicht nur zu, sie fordert im Gegenteil gerade dazu heraus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Masken-Problematik. Wenn es Sinn haben soll, dass sich der Wanderer eine „zweite Maske“ erbittet, dann nur, wenn ihm auch schon die ‚erste Maske‘ zu eigen ist. Es könnte sich dabei mindestens um zweierlei handeln: Einmal scheint der Wanderer, den Beschreibungen seiner „Brust“ und „Lippe“ zufolge, etwas den Augen anderer verheimlichen zu wollen. Traurigkeit und Ekel könnten demnach als hinter einer Maske verborgen begriffen werden. Diese allerdings hindert den Erzähler/Dialogpartner nicht daran, das Verborgene dennoch wahrzunehmen: Augen, Brust, Lippe und Hand verraten den Wanderer. Zweitens ließe sich der „Wanderer“ selbst als Maske und Figurentypus auffassen. Wie später im Kapitel 3 ausführlicher dargelegt wird, ist der „Wanderer“ in den Schriften Nietzsches eine durchaus präsente und mehrfach wiederkehrende Figur. Diese Ansicht scheint auch durch die Intuition bisheriger Interpreten belegt zu sein, die die Figur des „Wanderer[s]“ als eine, als die ‚erste‘ Maske begreifen.7 Das Ende des 278. Aphorismus markieren vier ‚Gedanken-Punkte‘, mit denen dem Leser die Aufgabe der Interpretation des Aphorismus – vor allem die Interpretation der Masken – überantwortet wird. Ich führe die meine mit einem Blick auf das neunte Hauptstück „was ist vornehm?“ fort.
2 „Wanderer, wer bist du?“ II: Bezüge innerhalb des neunten Hauptstücks Die im ersten Durchwandern des Aphorismus offen gebliebenen Fragen betreffen vor allem die Figur des Wanderers, dessen Verhältnis zu dem ‚Neugierigen‘ und mögliche Deutungen der so unvermittelt ins Spiel gebrachten Masken. Dem methodischen Vorgehen, Antworten im umgebenden Hauptstück zu suchen, liegt die Annahme zugrunde, ein einzelner Aphorismus aus JGB sei dem ihn einschließenden, durch die Titelüberschrift thematisch determinierten Hauptstück in einer Art verbunden, die nicht unberücksichtigt bleiben darf.8 Für den vorliegenden
7 Vgl. z. B. Lampert 2001, S. 279: „Already masked as a mere Wanderer who surely wants to be asked who he is and what he’s done, why does the wanderer need a second mask?“; vgl. ferner Southwell 2009, S. 99. 8 Den hinterlassenen Konzeptionsentwürfen von JGB ist an mindestens drei Stellen zu entnehmen, dass ein eigenes Kapitel zur Maske geplant war und dieses stets in unmittelbarer Nähe, vor oder nach einem Kapitel zum Vornehmen eingereiht werden sollte: N VII 2, S. 9 und 78; KSA 12, 1
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Aphorismus ist dieses Vorgehen von einiger Wichtigkeit: Ist doch die Frage damit verbunden, wie das Auftreten des Wanderers im Kontext des Vornehmen ausgelegt werden kann.9 Anders gesagt, lässt sich die ungewöhnliche Konstellation ‚Wanderer – Masken‘ besonders produktiv erschließen, wenn sie in einen Zusammenhang mit dem Vornehmen gestellt wird. Paul van Tongeren betonte 1989 in seiner lehrreichen Studie zu Jenseits von Gut und Böse das Konzept einer jedem vornehmen Menschen grundlegenden, spannungsvollen „Vielfachheit, die in ihm vereinigt ist“ (van Tongeren 1989, S. 158). Unter Rückgriff besonders auf das neunte Hauptstück zeichnet er den „Philosoph[en] als ‚in sich gegenstreitige Vielheit‘“ (van Tongeren 1989, S. 222) nach, der „Ehrfurcht vor (der nichtidentifizierbaren Vielheit in) sich“ (van Tongeren 1989, S. 228) habe und belegt anhand zahlreicher Zitate einen direkten Zusammenhang mit der Masken-Problematik. Diese Hinweise aufnehmend, beschränke ich mich, um die angedeuteten Bezüge zu erläutern, auf drei Aspekte aus dem neunten Hauptstück. „Was ist vornehm?“, so fragt dessen Titel und mit gleichlautender Frage beginnt der Aphorismus Nummer 287. Geht man davon aus, dass alle hier eingeordneten Aphorismen mehr oder weniger explizit dieselbe Frage umkreisen, mag ein Abschnitt, der sie direkt zu beantworten sucht, von übergeordneter Wichtigkeit erscheinen. Es seien nicht die „immer vieldeutig[en], immer unergründlich [en]“ Handlungen und auch nicht künstlerische oder wissenschaftliche Werke, woran man „den vornehmen Menschen“ (JGB 287, KSA 5, S. 232 f.) erkenne. Sondern ein Glaube besonderer Art: „irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat […]. – D i e v o r n e h m e S e e l e h a t E h r f u r c h t v o r s i c h . –“ (JGB 287, KSA 5, S. 233). Nun markiert „E h r f u r c h t “ wiederum einen Punkt, an dem Interpretation und Konkretion erst beginnen. Mit einer für diese Untersuchung aufschlussreichen Zusammenschau von Ehrfurcht und Maske bietet sich Aphorismus 270 an. Jedem, der „tief gelitten“ habe, sei es ein Bedürfnis, eine Distanz zu wahren vor der Zudringlichkeit und dem anmaßenden Mitleid anderer, die nicht und weil sie nicht „Seinesgleichen im Schmerz“ (JGB 270, KSA 5, S. 225) sind. Um das Trennende des Leidens und die Einzigartigkeit des Erlebten (die „vielen fernen entsetzlichen Welten“) aufrechtzuerhalten, seien „alle Formen von Verkleidung nöthig“ (JGB 270, KSA 5, S. 225). Als Beispiele
[187], S. 52 und KSA 12, 1[229], S. 61. Der Untersuchung Beat Röllins zufolge, war JGB 278 für das geplante Masken-Kapitel vorgesehen und ist nach dessen Auflösung in das neunte Hauptstück eingegliedert worden (vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Band). 9 Eine ähnliche Intuition äußert Lampert 2001, S. 279 f. Dann aber gerät seine Deutung der „second mask“ zu einer mit keinem Beleg gesicherten Gabe des „master of masks“ und somit zur Mutmaßung einer religiösen Wiederbelebung: „The wanderer completes his wandering speaking theologically in celebration of Dionysos and Ariadne“ (Lampert 2001, S. 280).
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dieser für Leidende geeigneten Verkleidungen werden der „Epicureismus“, Heiterkeit und – provozierend – Wissenschaftlichkeit genannt, „weil sie um ihretwillen missverstanden werden“ (JGB 270, KSA 5, S. 226). Der Effekt beruhe auf dem Missverständnis, dass man die so ihre Erfahrungen Verkleidenden künftig für oberflächlich halte. Der Aphorismus schließt mit dem Fazit: „Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ‚vor der Maske‘ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.“ (JGB 270, KSA 5, S. 226) Als zwei wesentliche Aspekte des Vornehmen können demnach allgemein ‚Ehrfurcht vor sich‘ und konkret ‚Ehrfurcht vor der Maske‘ angesehen werden. In der Zusammenschau des Wanderer-Aphorismus mit JGB 270 drängt sich nun eine Interpretation auf, derzufolge der Erzähler/Dialogpartner keinerlei Spürsinn jener „feineren Menschlichkeit“ beweist: Vom Wanderer bezeichnenderweise ‚Neugieriger‘ genannt, trat er diesem mit seinen Worten zu nahe, beließ ihm nicht ehrfürchtig seine Maske und trieb „an falscher Stelle Psychologie und Neugierde“ (JGB 270, KSA 5, S. 226). Wenn zu Beginn von JGB 270 der „geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat“ (JGB 270, KSA 5, S. 225) die Erfahrung von tief trennendem Schmerz benennt, so mag man an den Wanderer erinnert sein, dessen „Lippe“ den Ekel wohlweislich „verbirgt“ (JGB 278). Diese Interpretation macht ihre Position dann am stärksten, wenn sie annimmt, jedes Wort des (damit eindeutig festgelegten) Dialogpartners würde direkt an den Wanderer gerichtet und jedes auch von ihm gehört: Denn nur mit dem ganzen Ausmaß an Zudringlichkeit, d. h. nur wenn schon das erste fragende „wer bist du?“ als Teil des Dialogs gilt, ist eine von Ambivalenzen freie Deutung möglich. Ich werde später auf Interpretationsbeispiele dieser Art zurückkommen. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass gerade die den Wanderer charakterisierende Bewegung dafür verantwortlich ist, Distanzen kontinuierlich schwinden zu lassen. Indem dieser ‚seines Weges geht‘, wird der Abstand zum statischen Bezugspunkt des Erzählers/Dialogpartners kleiner, schrumpft auf ein Minimum zusammen, bis beide aufeinander treffen und danach im Fortgehen eine neue Distanz hergestellt wird. Auch dem Wanderer ist somit etwas von der Qualität zu eigen, einem anderen ‚nahe zu treten‘. Auch er mag den an seinem Weg Stehenden gesehen haben und geht doch weiter auf diesen zu. In seinem Gehen liegt die Provokation einer Begegnung. In seinem Weg selbst liegt noch die Unnachgiebigkeit einer einmal eingeschlagenen Richtung, die unweigerlich zum anderen hin führt. Was dieses ‚nahe treten‘ von jenem offensichtlichen ‚zu nahe Treten‘ des ‚Neugierigen‘ unterscheidet, sind die an den Wanderer gerichteten Worte, die am Schluss eine Einladung artikulieren, den Wanderer zu einer Entgegnung und Positionierung zwingend. Eine gewisse Zudringlichkeit der Rede liegt somit – wenn nicht unbedingt in der Beschreibung des Wanderers, die ihm, wie gezeigt
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worden ist und je nach dem angenommenen Zeitpunkt des Aufeinandertreffens, auch nicht zu Ohren kommen kann – zumindest im Aufnötigen einer Entscheidung, für oder gegen das Angebot zur Erholung. Für die hier untersuchte Thematik lohnt sich der Verweis auf einen weiteren Abschnitt aus dem neunten Hauptstück. In JGB 289 markiert das Wort ‚Maske‘ das Ende des Gedankenganges eines Einsiedlers, der die Möglichkeit bezweifelt, ein Philosoph könne „‚letzte und eigentliche‘ Meinungen“10 haben. Selbst philosophische Schriften seien am wenigsten dazu geeignet, solche Meinungen auszudrücken, denn, so lautet die provokante Frage, „schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?“11 Grund für diese Skepsis ist der fundamentale Verdacht, dass beim Philosophen „hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse – eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder ‚Begründung‘.“ Der Aphorismus schließt mit den Worten: „Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.“12 Nun ist das Verbergen und Verstecken nur in einer exoterischen Lesart eine absichtsvolle Geste der Heimlichtuerei, während die Höhlen-Metapher auf einen Akt der Unfreiwilligkeit und Unwillkürlichkeit hinzudeuten scheint:13 Der Philosoph kann gar nicht anders, als mit der einen niedergelegten Meinung eine andere zu verbergen, wenn „hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse“, wenn also bei ihm verschiedenste Meinungen hinter- und voreinander und nebeneinander notwendig zusammentreffen. Indem der EinsiedlerPhilosoph als auf diese Weise reich, vielfältig und „umfänglich“ entworfen wird, kann kein Versuch, eine „‚letzte und eigentliche‘ Meinung[]“ fest zu stellen, fruchten. Dies ist die Höhle hinter den Höhlen, der Abgrund unter den Gründen, die „Welt über einer Oberfläche“, dies ist nicht zuletzt die Maske vor den Masken.
10 Wenn nicht anders ausgewiesen, stammen die direkten Zitate dieses Abschnittes aus JGB 289, KSA 5, S. 234. 11 Für Walter Kaufmann ist dies „eine Feststellung, die wenigstens teilweise durch ein Wortspiel inspiriert wurde“ (Kaufmann 1982, S. 128). Meiner Ansicht nach sollen sowohl Wortspiel, rhetorische Frage als auch die finale Struktur des Satzes provozieren: Man schreibt nun nicht gerade Bücher ‚um zu verbergen‘ – aber man verbirgt, indem man Bücher schreibt. Nicht die Absicht, zu verbergen, ist hier maßgeblich, sondern die Unumgänglichkeit, dass stets Etwas verborgen bleiben müsse, nämlich die Philosophie aus der ‚tieferen Höhle‘. 12 Dass hier eine dezidiert sprachkritische Reflexion vorliegt, könnte mit Daniela Langer entwickelt werden. Siehe vor allem das Kapitel über „Sprachreflexionen, Schreibpraxis und Subjektkritik bei Friedrich Nietzsche“ in: Langer 2005, S. 39–89. 13 Vgl. auch JGB 40, wo mit der Maske ein hoher Grad an Unfreiwilligkeit verbunden ist. Siehe dazu Kap. 5 des vorliegenden Aufsatzes.
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JGB 289 endet mit diesem Wort – Maske – und legt, wie schon der WandererAphorismus, dadurch ein doppeltes Gewicht auf es, dass es vorher keinerlei Erwähnung fand. Es scheint sich in die genannte Metaphernfolge der Höhlen und Abgründe als Ausdruck notwendig variabler Positionen einzugliedern. Obgleich ein Singularwort, ist doch eine Vielzahl gemeint: Wenn „jedes Wort auch eine Maske“ ist, gibt es so viele Masken wie Worte. Hierdurch aber wird die Frage aufgeworfen, ob nicht ebenso das „Senkblei“ des Wanderers in diesem Kontext gedeutet werden kann: Genanntes Instrument soll auf einen Grund stoßen, findet aber keinen festen; keinen, auf den eine „‚eigentliche und letzte‘ Meinung[]“ zu gründen wäre. So muss es immer weiter „ungesättigt“ die Tiefen durchmessen – auch hier mag es also den „Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder ‚Begründung‘“ geben. Inwieweit verändert sich damit aber der Blick auf die „zweite Maske“, die der Wanderer verlangt? Bevor ich dieser Frage nachgehen kann, soll zunächst die Figur des Wanderers verortet werden.
3 Zur Wanderer-Figur Wie oben bereits angedeutet, ist der „Wanderer“ eine in Nietzsches Texten keineswegs unbekannte Figur, weshalb sie innerhalb der diesbezüglichen intertextuellen Verweisebenen an Umrissschärfe gewinnen dürfte. Diese zu berücksichtigen, macht vor allem dann Sinn, wenn, wie in JGB 278, der Wanderer als den Aphorismus zwar dominierende, aber für eine klärende Interpretation eher ungenügend konturierte Figur auftritt. Im gesamten Buch JGB erscheint die WandererFigur nur dies eine Mal. Ein mit ihr verwandter Begriff, die ‚Wanderschaft‘ hingegen ist Thema im Zweiten Hauptstück, Aphorismus 44, folglich in Verbindung mit dem ‚freien Geist‘ und sie begleitet einen Lobgesang auf die Unabhängigkeit. In JGB 260 begibt sich jemand auf eine „Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen“ (JGB 260, KSA 5, S. 208). Hier mag die unternommene Wanderung Garant dafür sein, möglichst viele dieser ‚Moralen‘ abschreiten zu können. Zwar klingt das Wanderer-Motiv bereits in den ersten veröffentlichten Schriften an, so z. B. in den Unzeitgemäßen Betrachtungen III und IV, doch wird der „Wanderer“ erst mit Menschliches, Allzumenschliches zu einem eigenständigen Figurentypus und löst sich im Zuge dessen von einem eher metaphorischen Gebrauch des Wanderer-Motivs ab. Danach begegnen wir ihm vor allem in der Fröhlichen Wissenschaft und dem Zarathustra. Mit ihm werden in einem Wort gleichsam als Konzentrat und Verallgemeinerung bestimmte Vorstellungen und Assoziationen aufgerufen, was einer die Kommunikation abkürzenden Funktion gleichkommt: Der „Wanderer“ ist nicht irgendwer.
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An dieser Stelle können seine Charakteristika bzw. weitere Wanderer-Motive nicht im Detail und nicht übergreifend diskutiert werden.14 Es muss genügen, knapp die ambivalente Anlage dieser Figur zu skizzieren, die sowohl eine Seite des Aufbruchs, der „Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit“ (MA I 638, KSA 2, S. 363) umfasst, als auch das Erleben von Erschöpfung und „einen grimmigen Rückblick […] für das Schönste, das mich nicht halten konnte“ (FW 309, KSA 3, S. 546). Die Ambivalenz des Wanderers wird in MA 638 schon deutlich angesprochen („sein Herz wird des Wanderns müde“; MA I 638, KSA 2, S. 363) – indessen überwiegt ein durchaus vergnügter Grundton an Beginn und Ende des Aphorismus: Eignen doch dem Wanderer zuletzt „die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind“ (MA I 638, KSA 2, S. 363). Diesen Überlegungen war der Gedanke vorangestellt worden, dass, wer die „Freiheit der Vernunft“ auskoste, sich nur als Wanderer fühlen könne: ohne letztes Ziel und ohne allzufeste Beständigkeit, getragen von jener bereits zitierten „Freude“ an dem „Wechsel und der Vergänglichkeit“ (MA 638, KSA 2, S. 362 f.). Was hier allgemein anklingt, wird in FW 380 anhand der „europäischen Moralität“ gewissermaßen konkret ausgeführt: Um diese überhaupt in den Blick zu bekommen, müsse man Wanderer sein und „eine Stellung ausserhalb“ einnehmen können (FW 380, KSA 3, S. 632 f.). Der Wanderer garantiert also mit seiner Fähigkeit, feste Standpunkte verlassen und diese ‚von außen‘ in Augenschein nehmen zu können, ein unabhängigeres Urteil des Erkennenden. Demgegenüber hat Claus Zittel darauf aufmerksam gemacht, dass besonders in der früheren Ausprägung15 des Wanderer-Motivs bei Nietzsche der „Verlust der mythischen bzw. religiösen Bindungen“ (Zittel 1995, S. 203) thematisiert ist und die mit ihm zusammenfallenden Momente der Einsamkeit, Ziellosigkeit und Kontingenz zunächst problematisiert werden. In der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung ist es Wagner, der „[w]ie ein Wanderer durch die Nacht geht, mit schwerer Bürde und auf das Tiefste ermüdet […]“ (UB IV, KSA 1, S. 441). Sowohl FW 309, FW 378 als auch JGB 278 thematisieren ausdrücklich diesen Moment der Ermüdung des Wanderers.
14 Dies ist zuletzt von Stegmaier kenntnisreich unternommen worden: Stegmaier 2012, insbesondere Kap. 18, S. 539. Hier wird vor allem ausführlich die Facette des Wanderers als Sinnbild des von festen Standpunkten sich loslösenden Philosophen und freien Geistes entwickelt. Die u.a. in FW 309, FW 378 und JGB 278 thematisierte Kehrseite der Wanderer-Figur, ihr gelegentlicher Drang zum „Wahren und Gewissen“ bzw. die Erschöpfung werden hingegen nur kurz erwähnt (vgl. Stegmaier 2012, S. 571 und S. 594). Siehe auch: Zittel 1995 und Iwawaki-Riebel 2004. 15 Vor allem in: PHG, KSA 1, S. 808 f. und 833; UB III, KSA 1, S. 406; UB IV, KSA 1, S. 441.
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Besonders drastisch (und geradezu szenisch) beginnt FW 309: „Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte.“ (FW 309, KSA 3, S. 545). Dann reflektiert er seine Wanderschaft als unfreiwilliges Getriebenwerden: „Ich möchte ausruhen, aber er [= der Hang und Drang zum Wahren; C.S.] lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen! […] Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss“ (FW 309, KSA 3, S. 545 f.). Dieser Aphorismus ist sehr komplex16, weshalb ich mich darauf beschränke, hinzuweisen auf die darin geleistete Verbindung der Wanderer-Figur mit Tränen, Müdigkeit des Fußes und dem Wunsch zu verweilen, um sich auszuruhen. Gewissermaßen eine Außenperspektive auf den Wanderer bietet FW 378, worin die „Freigebigen und Reichen des Geistes“ (FW 378, KSA 3, S. 631) mit Brunnen verglichen werden. Diese müssten nun auch dulden, dass „erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und großes Elend in uns werfen“ (FW 378, KSA 3, S. 631). Bemerkenswert ist tatsächlich die Nennung des Wanderers in einer Reihe – neben der Zeit, Vögeln und Knaben, die ebenso wie er Unrat in den Brunnen werfen – diesmal aber gleichsam als Objekt einer Überlegung, statt wie bislang als handelndes Subjekt. Hier scheint eine Position noch ‚außerhalb‘ des Wanderers fokussiert zu werden, die dessen zeitweiliges Elend nicht nur zu erkennen vermag, sondern ihm in den Momenten der Rast, freigebig und reich als Brunnen, dasselbe abnimmt. In beiden Aphorismen aus der Fröhlichen Wissenschaft ist mit der WandererFigur eindeutig eine Perspektive auf die Beschwerlichkeit des Weges verknüpft worden, auf ein Schwinden der Kräfte und auf das darauf folgende Bedürfnis, irgendwo auszuruhen. Aus diesem Blickwinkel scheint es, als sei geradezu eine Bedingung der Möglichkeit, weiterzugehen und damit das Wanderer-Leben weiterzuführen, die erholende Rast. Seit Menschliches, Allzumenschliches und Also sprach Zarathustra ist der Wanderer zudem ein Typus, der dem Leser im Dialog begegnet. Das Gespräch mit seinem ‚Schatten‘ gehört hierher, aber auch der Schatten Zarathustras, der sich selbst einen Wanderer nennt. All diese Aspekte trägt der „Wanderer“ im Gepäck, wenn er in JGB 278 ‚seines Weges geht‘. Insofern kann er als eine komplementäre Ergänzung der Thematik
16 Dass in FW 309 gerade ein „Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen“ die treibende Kraft aller „Losreissungen“ des Wanderers genannt wird, ist ein sehr interessanter Aspekt und verdiente eine genauere Untersuchung. Verbindet man doch mit dem Wanderer eher das Gegenteil, nämlich den Drang, das als wahr und wirklich Geglaubte im immer erneuten Fortwandern ‚ins Ungewisse‘ zu relativieren.
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des Wanderns in JGB angesehen werden, gleichsam als der Moment der Erschöpfung, wobei Ausruhen und Rast notwendig werden. Dies zumindest legt die Frage des Erzählers/Dialogpartners nahe: „Was dient dir zur Erholung?“ Wie gezeigt worden ist, ist in der Fröhlichen Wissenschaft diese bestimmte Facette bereits vorgeprägt und sie klingt nun in JGB 278 wieder an. Dort ist sie in der genannten Frage präsent, ganz unabhängig von jeder Interpretation: unabhängig von einer positiven oder negativen Bewertung der Erholung anbietenden Geste und unabhängig auch davon, ob der Wanderer-Figur dieses Bedürfnis nach Rast zugesprochen wird oder nicht.
4 Spielarten der Interpretation Der neuralgische Punkt jeder Interpretation des vorliegenden Aphorismus scheint darin zu bestehen, die Interaktion des Wanderers mit dem Dialogpartner zu deuten. Soweit ich es überblicke, sind sich die Forscher relativ einig darin, das Verhältnis der beiden aufeinander treffenden Figuren als eines zu verstehen, das von der Zudringlichkeit des Fragenden und einer ablehnenden Reaktion des Wanderers gekennzeichnet ist. Ich liste die aussagekräftigsten Beispiele auf: Hier kreuzt irgendein Mensch den Weg eines erschöpften Wanderers und erkennt ihn als solchen; er überlädt ihn mit Verständnis und Mitgefühl, bedrängt ihn mit Fragen, zieht so den Fremden unwillkürlich in die menschlich-allzumenschliche „Tyrannei der Intimität“ (Braatz 1988, S. 263). Der Vornehme wird sich hinter (ungreifbaren und wechselnden) Masken verbergen, um zu vermeiden, daß er mit einer ihm aufgenötigten Maske identifiziert wird. Alle Formen von Verhüllung sind anzuwenden, „um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen“ zu schützen […], und wenn etwa die Maske mitleidiges Verständnis hervorruft, so ist sie durch eine zweite Maske zu verhüllen: […] (van Tongeren 1989, S. 237). „Wanderer, who are you?“ […] has to be asked by someone who is very inquisitive about the Wanderer. […] The inquirer is sympathetic, offering recreation to a wanderer who he thinks must need it. Rather than accept the offer, the Wanderer remarks on the questioner’s inquisitiveness, forcing him to ask again what he can give the Wanderer (Lampert 2001, S. 279). The wanderer […] is encountered, with „inscrutable eyes“ like a plumb-lead, he has returned without satisfaction from the deep. We wish to help, to offer conventional hospitality and rest. This is rebuffed as a kind of intrusion (along with the many questions: who are you? What did you find?). The wanderer does ask for „one more mask! a second mask!“ The mask is to defend him from just such questions and offers of help (Burnham 2007, S. 210).
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Wie aus den angeführten Beispielen bereits ablesbar ist, soll die vom Wanderer erbetene „zweite Maske“ ihm dazu dienen, sich vor den neugierigen Fragen zu schützen. Dies wird z. B. von Gareth Southwell direkt artikuliert: „A genuine relief would be another mask that would allow him not to have to answer such questions!“ (Southwell 2009, S. 99) Das Verlangen einer ‚zweiten Maske‘ wird als unmittelbare Reaktion auf den Fragenden interpretiert, nicht als Antwort auf dessen Frage. Eine Erklärung hierfür mag in der Wortwahl liegen: „Zur Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich bitte […]“ (JGB 278, KSA 5, S. 229; Hervorhebung C.S.). Wenn das ‚aber‘ in seiner adversativen Bedeutung interpretiert wird – im Sinne eines ‚nicht dies, aber jenes‘ – ist die Reaktion des Wanderers als Ablehnung zu verstehen: Nicht die ihm angebotene Erholung, sondern eine „zweite Maske“ bittet er sich aus. Diese Lesevariante stünde dann auch im Einklang mit JGB 270. Es ist ein interessantes Detail, dass die Interpreten eher geneigt sind, die Partei des Wanderers als die des Erzählers/Dialogpartners zu ergreifen. Sogar die manchmal noch übliche Identifikation des Personalpronomens ‚ich‘ mit der Position oder Person Friedrich Nietzsches wird im Fall von JGB 278 umgekehrt und es ist nicht der ‚Neugierige‘, der ‚Ich-Erzähler‘, mit dem Nietzsche identifiziert wird: „In this case, the figure [= der Wanderer, C.S.] would seem to be Nietzsche himself, imagining that he is being questioned by an ‚inquisitive man‘.“ (Southwell 2009, S. 99) An verschiedenen Punkten bleiben die bisherigen Interpretationen allerdings unbefriedigend: Zunächst fällt auf, dass zwar die „zweite Maske“ rasch als Schutz vor der Zudringlichkeit des Fragenden gedeutet wird – doch sind mögliche Erklärungen der ‚ersten Maske‘ wenig zufriedenstellend oder fehlen ganz. Die von van Tongeren vorgeschlagene (und oben bereits zitierte) Logik ‚wenn eine Maske nicht genügt, muss eben noch eine zweite her‘ ist zwar ein Versuch, das Problem anzugehen, vermag jedoch nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen.17 Wenn es dem Aphorismus allein um die Thematik des ‚Schutzes vor Zudringlichkeit‘ zu tun wäre, würde sicherlich der Verweis auf ‚eine Maske‘ genügt haben. Nun sind wir aber mit mindestens zwei oder gar mehreren Masken konfrontiert. Dies kann vielleicht bedeuten, ganz im Sinne der Interpretation von Maske als täuschendem Mittel, dass der Wanderer etwas nicht mehr nur vor Anderen verbergen möchte – sondern auch vor sich selbst. Deshalb, so könnte
17 Ähnlich argumentiert Southwell: „What would such a man desire? ‚A second mask!‘ he replies. In other words, the image of the dispassionate philosopher is only a mask, an exaggerated attitude which allows him to do his work – but which also causes curiosity from others. A genuine relief would be another mask that would allow him not to have to answer such questions!“ (Southwell 2009, S. 99)
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man argumentieren, müsste diese „zweite Maske“ auch von einer fremden Person an ihn gegeben werden. Was aber zu verbergen (zu ‚maskieren‘) wäre, kennt der Wanderer von sich zu gut und es bereitet ihm solchen Verdruss, dass er es auch einmal möchte vergessen können. Es wäre in der vom Erzähler/Dialogpartner gegebenen Beschreibung der Wanderer-Figur zu finden: Dass ein Wanderer „sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen“ (MA I 638, KSA 2, S. 363) dürfe, ist wohl Ursache seiner Traurigkeit (das Senkblei, das in ‚jeder Tiefe‘ einen Grund sucht) und so mag den Wanderer ein Ekel erfasst haben an dem, was er sah und ‚erwanderte‘, ein Ekel vielleicht auch an ihm selbst. Dieser Wanderer erinnert an denjenigen aus FW 309, der seinen „müden, verwundeten Fuß“ beklagt und „ausruhen“ möchte (FW 309, KSA 3, S. 545 f.). Die erbetene „zweite Maske“ gerät in dieser Variante zu einem Mittel der Selbsttäuschung, das der Wanderer wählt, um für eine Weile von sich absehen und sich ‚von sich selbst‘ erholen zu können. Hierfür aber wäre eine konsequente Umdeutung des Dialoges zwischen Wanderer und dem „Neugierige[n]“ vonnöten. Schon Fritz Mauthner hat darauf hingewiesen, dass der Konjunktion ‚aber‘ nicht in jedem Fall eine eindeutig entgegensetzende grammatische Funktion zukommt. Die Opposition ‚nicht Erholung, sondern eine zweite Maske‘ müsste es sich demnach gefallen lassen, nicht die einzige Lesevariante zu bleiben. Einerseits könnte, mit Mauthner, das „Aber gieb mir“ auch im Wortsinn eines ‚Und gieb mir‘ verstanden werden.18 Andererseits verträgt selbst das adversative ‚aber‘ eine andere Spielart der Interpretation: Dieses könnte sich auch als den Ausruf „Oh du Neugieriger, was sprichst du da!“ (JGB 278, KSA 5, S. 229) opponierend erweisen. Dies könnte so verstanden werden, als wäre damit in etwa gesagt: Du Neugieriger weißt offenbar nicht, wovon du sprichst – aber da du schon sprichst, da du mir etwas ‚zur Erholung‘ anbietest, gib mir: „Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!“ (JGB 278, KSA 5, S. 229) Es kommt offensichtlich darauf an, in welche Richtung das ‚aber‘ gewendet wird. Keinesfalls ist es in seiner Bedeutung auf eine bestimmte Entgegensetzung fixiert: So entspreche, nach Mauthner, nicht den zur Mitteilung logischer Verhältnisse im Denken „völlig ungeeigneten“ Konjunktionen selbst ein feststehender Sinn, sondern: „In den Gedankenverhältnissen liegt der Sinn, und fast jedes Gedankenverhältnis läßt sich in jede dieser Konjunktionen hineinlegen.“ (Mauthner 1967, S. 194)
18 Vgl. Mauthner: „Endlich aber (ich hätte auch sagen können: und endlich) wird ‚aber‘ namentlich in Nachahmungen homerischer Sprache vollständig gleichwertig mit ‚und‘ behandelt, wie wenn z. B. Goethe sagt: ‚Also sprach sie und steckte die Ringe nebeneinander, aber der Bräutigam sprach.‘“ (Mauthner 1923, S. 195).
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Die Tatsache, dass voneinander so verschiedene Möglichkeiten der Interpretation plausibel gemacht werden können, liegt meines Erachtens auch in der dialogischen Struktur von JGB 278 begründet. Hier wird eine Besonderheit der Dialogform wichtig: Nietzsche hat keine Didaskalien notiert. Durch die fehlenden Regieanweisungen – alternativ könnte auch die kommentierende Rede eines Erzählers für mehr Klarheit sorgen, aber auch diese fehlt – wird eine Eindeutigkeit von Dialog-Interpretation noch einmal mehr unmöglich gemacht. So liegt die Antwort irgendwo zwischen allen Variationsmöglichkeiten von Stimmung, Emotion und Ausdruck einer wörtlichen Rede. Dies könnte zusätzlich – und im Hinblick auf das streitbar zu interpretierende Wörtchen ‚aber‘ – mit Mauthner bekräftigt werden, der feststellt, „daß der Ton für das Verständnis wichtiger ist als der Gebrauch der Konjunktionen.“ (Mauthner 1967, S. 193) Wenn nun die erbetene „zweite Maske“ nicht mehr nur eine Abwehr der zudringlichen Fragen des Erzählers/Dialogpartners bedeutet, wird der Aphorismus aus seinem um (Selbst-)Täuschung und (Selbst-)Schutz kreisenden Gleichgewicht gebracht. Was danach in den Fokus rückt, sind die Problematiken von Masken und Identität.
5 Anmerkungen zur Maske Wenn eingangs erwähnt wurde, in welch vielfältiger Fokussierung die MaskenProblematik bei Nietzsche untersucht wird, so muss diese Äußerung nun unter einem Gesichtspunkt wieder eingeschränkt werden. Es ist auffallend, dass Maske zumeist im Hinblick darauf beschrieben wird, dass sie grundsätzlich etwas ‚Eigentliches‘ maskiere, das (vor anderen) zu verbergen sei. Als exemplarisch hierfür seien die Ausführungen von Kurt Braatz diskutiert, die er im Hinblick auf Nietzsche unternimmt: Die Maske herrscht, wo immer das Individuum mit anderen oder mit sich selber kommuniziert: soweit Mitteilen und Verstehen, Welt- und Selbstbewußtsein an Logik, Sprache, Symbolik gebunden sind – also an Maskierungen des Seienden –, kann auch am Ende nur wieder „Maske“ stehen. (Braatz 1988, S. 130)
Die ‚Maskierungen des Seienden‘ aber setzen eben dieses ‚Seiende‘ voraus, das in den Texten Nietzsches schon in ein Tun und Werden transformiert wurde: „Es giebt kein Sein hinter dem Thun, Wirken, Werden“ (GM I 13, KSA 5, S. 279). Es gibt also auch kein ‚Seiendes‘ hinter der Maske. Zwar kann die Bewegung, etwas vor anderen zu verbergen, problemlos als Möglichkeit von Maskierung beschrieben werden. Jedoch nurmehr unter der Voraussetzung, dass das zu Verbergende eben nicht gleichzeitig als etwas ‚Eigentliches‘, ‚Wirklicheres‘ oder ‚Wahreres‘ gedacht
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werde. Wenn Braatz formuliert: „Kommunikation ist Fiktion: Der Mensch kommt im Verkehr niemals als er selber in Betracht, sondern im wesentlichen als Abziehbild des Mediums, das er gewählt hat“ (Braatz 1988, S. 130), so gestehe ich ihm alles zu, außer, dass dem Menschen ein Modus zukommen könnte, in dem er ‚er selber‘ ist. Es gibt einige Hinweise darauf, dass Nietzsche das Fehlen eines ‚Seienden‘ in Bezug auf Personalität mit Worten wie personae oder Masken zu thematisieren versucht hat. Auch die in JGB 12 genannte Formulierung der „‚Seele als SubjektsVielheit‘“ (JGB 12, KSA 5, S. 27), die den Glauben an eine unteilbare, ewige Seele ablösen solle, zählt darunter.19 Wenn van Tongeren im Hinblick auf das neunte Hauptstück die vornehme Natur als „in sich gegenstreitige Vielheit“ entwickelt, beweist sie gerade darin ihr Vornehmes, dass sie diese Vielheit zulässt und sich selbst nicht auf ein normiertes ‚Seiendes‘ reduziert (vgl. van Tongeren 1989, S. 230). ‚Ehrfurcht vor der Maske‘ zu haben, kann somit – neben der Ehrfurcht vor der Maske anderer, die man laut JGB 270 in ihrer Schutzfunktion zu respektieren habe – auch die Ehrfurcht vor den eigenen Masken und Vielheiten bedeuten. Mit dieser ‚Selbst‘-Achtung müsse man „dafür sorgen, daß man sich in der Vielheit ‚zu bewahren‘ weiß“ (van Tongeren 1989, S. 230). Um der Dimension des eigenen Tuns und Werdens in der Vielheit gerecht zu werden und nicht zuletzt um sie überhaupt ‚denken zu können‘, müsste dann auch die sprachliche Reflexion angepasst werden. In den Texten Nietzsches lassen sich diesbezüglich einige Versuche finden, vor allem über die Pluralbildung oder den ‚intendierten Plural‘ bei der Maske (vgl. JGB 278, JGB 289). Die nachfolgende Aufzeichnung aus dem in der KSA veröffentlichten Nachlass ist dahingehend besonders aufschlussreich: Man ist reicher als man denkt, man trägt das Zeug zu mehreren Personen im Leibe, man hält für „Charakter“, was nur zur „Person“, zu Einer unserer Masken, gehört. […] Das Christentum hat darin Recht: man kann sich einen neuen Menschen anziehen: freilich, dann noch einen neueren. (NL 1884–1885, KSA 11, 26[370])20
19 Vorgeschlagen wird zudem die „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB 12, KSA 5, S. 27), womit das Ansinnen unterstrichen wird, diese Bezeichnungen sollten zukünftig das Wort von der Seelen-Einheit in der Wissenschaft ersetzen. Lesenswert in diesem Zusammenhang ist das Kapitel „‚das Subjekt als Vielheit‘: Pluralität und Perspektivismus“ in: Langer 2005, S. 78–89. 20 Hier liegt eine Anspielung auf die Bibel aus dem Paulusbrief an die Epheser 4, 22–24 vor: „Leget von euch ab den alten Menschen mit seinem vorigen Wandel, der durch trügerische Lüste sich verderbt. Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts Und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.“
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Bezeichnend ist die Wortwahl „anziehen“ statt des bezüglich der Gesichtsmaske gebräuchlichen Verbs ‚aufsetzen‘. Zusätzlich bringt der Verweis auf viele „Personen im Leibe“ (NL 1884–1885, KSA 11, 26[370]; Hervorhebung C.S.) Masken in Zusammenhang mit einer Verfasstheit menschlicher Existenz jenseits des unteilbaren und geistig gedachten Individuums. Ganz offensichtlich geht es Nietzsche auch in den aus JGB zitierten Stellen nicht primär um eine Maske des Gesichts. Dies scheint deswegen einer Hervorhebung wert, weil sich ein Verständnis von Maske im strikt metaphorischen Sinne der Täuschung und Verstellung durchgesetzt hat. Dieser Prozess ist vor allem anhand einschlägiger Redewendungen ablesbar (z. B. jemanden ‚entlarven‘, jemandem ‚die Maske vom Gesicht reißen‘). Dabei ist ein Zusammenhang mit der Reduktion von Maske auf die Gesichtsmaske deutlich. Gerda Baumbach hat sich in ihrem Aufsatz „Seid gegrüsst, Maske!“ (vgl. Baumbach 2010) mit der ‚Maskenproblematik in der Neuzeit‘ auseinandergesetzt und konstatiert:
Dieses (negativ wertende) Verständnis ergibt sich aus der neuzeitlichen Konstruktion des homo clausus, des abgeschlossenen Individuums mit einem Inneren und einem Äußeren, wobei das Innere als das wahre Selbst gilt, das sich im Äußeren objektiviere. Von daher wird Maske vorzugsweise als Verdeckung des Gesichts verstanden, da das Innere an erster Stelle im Gesicht, besonders über die Augen, zum Ausdruck komme. Mit der Ausprägung derartig innegeleiteter, defensiver Masken […] entsteht die metaphorische Maske ebenso wie die Maskenmetaphorik im Zeichen von Verstellung, Heuchelei und Täuschung. (Baumbach 2010, S. 106 f.)
Diesem Modell kulturell vorgängig aber sei die offensive, reale, materielle, gesamtkörperliche bzw. leibliche Maske mit deutlich überindividuellen Zügen im Sinne großer Verallgemeinerungen. Indem nun in JGB 278 ein Zusammenhang zwischen der Wanderer-Figur und Masken hergestellt wird, erscheint zunächst die gesamtkörperliche Dimension betont: Das wandernde Gehen, als ausdauernde Bewegung v.a. der Beine, ist wesentliches Merkmal des Wanderers und mit dem Benennen von Augen, Brust, Mund und Hand wird auf dessen leibliche Verfasstheit Bezug genommen. Zieht man weitere Masken-Aphorismen aus JGB heran, wird dieses Bild verstärkt: Der Terminus „Verkleidung“ aus JGB 270 schließt wie selbstverständlich Kleid und Kleidung ein und damit bleibt die am Ende genannte Maske begrifflich nicht auf das Gesicht beschränkt. Ferner die Überlegungen zu Platon in JGB 190, der „den ganzen Sokrates […] in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten“ (JGB 190, KSA 5, S. 111; Hervorhebung C.S.) variiert habe. Und nicht zuletzt ‚umwächst‘ die Maske in JGB 40 jeden Menschen tiefen Geistes. Dass in den Texten Nietzsches ein sehr differenzierender Umgang mit Maske und Maskenmetapher vorliegt, hat auch Simone Haag hervorgehoben. Nach Haag
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sei gerade „Nietzsches Philosophie der Perspektive, der Interpretation und des Versuches“ Bedingung dafür, die umfangreichen Spektren von Begriffen wie ‚Maske‘, ‚Schauspiel‘, ‚Rolle‘, ‚Oberfläche‘ oder ‚Schein‘ auszuloten. Es wird nicht nur der negativ gewerteten Täuschung Platz eingeräumt, „sondern Nietzsche betont zunehmend die Potentialität und sogar Notwendigkeit der Maskerade“ (Haag 2009, S. 151). Nun muss nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen zwischen dem in Nietzsches Texten aufzufindenden Verständnis von Maske in ihrer gesamtkörperlichen, nicht auf das Gesicht beschränkten Dimension und dem ebenfalls artikulierten Wohlwollen, das dem scheinhaften, täuschenden, den Wechsel und die Vielheit forcierenden Charakter der Masken entgegengebracht wird. Bemerkenswert ist, dass beides zusammentrifft. Welche anderen Sichtweisen auf die Masken könnten der Metapher einer absichtlich und böswillig täuschenden Maskierung hinzuzufügen sein? Relativ offensichtlich ist, dass Nietzsche die absichtliche Täuschung, das Missverständnis und Missverstehen umgewertet hat in die Vorsicht einer (selbst-)schützenden Handlung, die vor allem in JGB 40 ihren Ausdruck findet. Jedoch betont derselbe Aphorismus zusätzlich einen Moment der Unfreiwilligkeit, Unwillkürlichkeit und Unverfügbarkeit von Maske: „um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske“ (JGB 40, KSA 5, S. 58). Auch gegen dessen Willen und selbst gegen sein Wissen. Hier ist Maske nicht allein eine bewusst gewählte, willentliche Geste des Schutzes, sondern auch ein Zufall des Missverstehens, ein notwendiges, ungewolltes ‚Aneinander-vorbei‘. Sie entzieht sich dem Einfluss desjenigen, um den sie wächst. Und sie wächst durch falsche „Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens“ (JGB 40, KSA 5, S. 58). Damit gehört sie zu dem, um den sie wächst, ist sogar unwiderruflich ein Teil von ihm (da sie Auslegung seiner ‚Worte, Schritte, Lebens-Zeichen‘ ist) und ist doch nicht von ihm verantwortet. Noch das Wort „fortwährend“ vermittelt eine unablässige Bewegung der Masken, die unkontrollierbar ist – gleichsam ihr ‚Morphing‘, um einen Begriff aus der Filmsprache zu entlehnen, also das beständige Ineinander-Übergehen einer Maske in eine nächste. Der bereits oben zitierte Aphorismus JGB 289 fächert das Bedeutungsspektrum noch weiter auf. Wenn hier Masken im Plural intendiert sind und ähnlich den Höhlen, Abgründen und Welten sich voreinander, ineinander, hinter- oder nebeneinander schachteln, sind weder „eigentliche und letzte Meinungen“ noch ist ein ‚eigentliches und letztes Seiendes‘ möglich. Masken stehen dabei zudem im Zusammenhang mit der Variabilität von Meinungen, Positionen und Positionierungen. So besehen, könnte der „Wanderer“ auch als der perfekte ‚Maskenträger‘ gedeutet werden – ist er doch an stets wechselnden Perspektiven interessiert, z. B. auf seiner Wanderung durch ‚europäische Moralitäten‘. Eine
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Gemeinsamkeit der Konzepte ‚Wanderer‘ und ‚Masken‘ wäre demnach das ihnen eingeschriebene Nicht-Festgestellte, die „Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit“ (MA I 638, KSA 2, S. 363). Um den Bedeutungsspielraum von Maske in JGB 278 noch ein weiteres Mal aufzubrechen, soll nun die KGW IX hinzugezogen werden. Demnach beginnt eine der im Notizbuch vermerkten Aufzeichnungen, die später zu diesem Aphorismus führten, mit der Frage „Wer bist du?“. „Wanderer“ wurde erst in einem nächsten Schritt eingefügt (vgl. N VII 2, S. 124; siehe Abb. 6a/b). Das Notat endet mit einer nochmaligen Wiederholung der Frage und einer über die aufgeschlagene Doppelseite verteilten Antwort: „Ich weiß es nicht. Vielleicht Ödipus. Vielleicht die Sphinx. Laß mich gehen! – “ (N VII 2, S. 123 f.; siehe Abb. 5a/b und Abb. 6a/b). Diese Sätze wurden in die veröffentlichte Fassung nicht aufgenommen. Nun ist auffallend, dass auch die gesamte Masken-Problematik erst bei der Überarbeitung eines auf der oberen Seitenhälfte notierten, zur Wanderer-Thematik zugehörigen Absatzes hinzugefügt wurde: „Was brauchst du noch? Zur Erholung eine Maske.“ (N VII 2, S. 124; siehe Abb. 6a/b) Durch die Zusammenfassung der in KGW IX gemachten Beobachtungen wird ein interessanter Aspekt des Überarbeitungsprozesses ersichtlich: Gerade die Antwort auf die Frage ‚Wer bist du?‘ wird für die Veröffentlichung suspendiert. Aus den in einem späteren Schritt vorgenommenen Veränderungen der Abschnitte und ihrer Zusammenfassung in einen Aphorismus resultiert einerseits das Weglassen der beiden möglichen Zuschreibungen bzw. Identitäten (‚Vielleicht Ödipus. Vielleicht die Sphinx‘). Andererseits wird nun die Nennung einer ‚zweiten Maske‘ an das Ende des Aphorismus gesetzt. Gleichzeitig wird die Figur, die bislang ohne konkrete Zuschreibung nur mit dem ‚du‘ angesprochen wurde, nun ‚Wanderer‘ genannt und damit eine ‚erste Maske‘ etabliert. Dies alles geschieht im Umkreisen der Problematik von Identität: ‚Wer bist du?‘. Diese Frage erhält in der Druckfassung keine den Erwartungen gemäße Antwort mehr – es wird nun nicht einmal eine so vage Antwort vom Typ ‚Vielleicht Ödipus. Vielleicht die Sphinx‘ angeboten. Dadurch findet eine Verschiebung der Identitäts-Problematik zu den Masken statt – was nicht gleichbedeutend ist mit der Beantwortung der Frage ‚Wer bist du?‘, sondern sich gerade der Möglichkeit einer eingrenzenden Antwort entzieht.
6 Ein Selbstgespräch. Oder: Wann kommt der Wanderer an? Ich gebe noch einmal drei Punkte aus meinen vorangegangenen Überlegungen zum Close-Reading von JGB 278 zu bedenken:
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1.) Das Präsens in „ich sehe dich deines Weges gehn“ (JGB 278, KSA 5, S. 229) legt die Vermutung nahe, der Wanderer sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht beim Erzähler/Dialogpartner angekommen. 2.) Fehlende Anführungszeichen lassen den Beginn der an den Wanderer gerichteten Rede uneindeutig werden. 3.) Die Formulierung „Und wer du auch sein magst“ kann als Relativierung der Frage „wer bist du?“ gelesen werden (JGB 278, KSA 5, S. 229). Gemäß Punkt 1 und 2 ist nicht eindeutig festzulegen, wann das Gespräch der beiden beginnt: Der Wanderer könnte zu jedem beliebigen Augenblick der Rede bei dem anderen ankommen. Spielt man verschiedene Varianten durch, so erscheint diejenige am interessantesten, die den Dialog am weitesten hinauszögert. Ich verlagere also das Aufeinandertreffen beider und somit den Beginn der verbalen Kommunikation an den äußersten Rand der Rede: Es muss nur noch garantiert sein, dass der Wanderer eine sinnvolle Antwort gibt. Die ersten an ihn gerichteten Worte wären demnach: „Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an!“, worauf der Wanderer auch sofort antwortet. Der gesamte vorangehende Abschnitt könnte somit als eine Art ‚Selbstgespräch‘ des Erzählers/Dialogpartners gelten, dessen Identität und Intention dem Leser unbekannt bleiben. Darin werden Beobachtungen und Überlegungen artikuliert, die allerdings nicht mehr an den Wanderer als Zuhörer adressiert sind. Durch diesen interpretatorischen Kunstgriff, der sich aus dem Text heraus rechtfertigt, verlagert der Aphorismus erneut sein Gleichgewicht und kreist in der Folge um die Eigendynamik eines Selbstgesprächs. Drei Effekte sind bemerkenswert: Dem (vielleicht vorrangig exoterisch angelegten) Konflikt zwischen Wanderer und dem ihn Ansprechenden wird seine dominierende Position entzogen. Hierdurch können nun andere Schichten freigelegt werden. Die Worte verfehlen plötzlich den Wanderer und vor allem der Satz „wer bist du?“ verlangt nicht mehr seine Antwort. Im Gegenteil wird gerade das Misslingen der Frage „wer bist du?“ vorgeführt (vgl. JGB 278, KSA 5, S. 229). Indem von der Zuschreibung („Wanderer“) über die Beschreibung (anhand der Physis) zur veränderten Fokussierung (Tun statt Sein) dreimal der Versuch einer eindeutigen Festlegung misslingt, folgt darauf die Relativierung der unwichtig gewordenen Frage und ihre Umwandlung in die Form: „wer du auch sein magst“ (JGB 278, KSA 5, S. 229). Das ‚Selbstgespräch‘ verhandelt zuletzt das Problem des Sprechens über Identität, insofern als der Erzähler/Dialogpartner sich Fragen über den herannahenden Wanderer stellt, die er selbst zu beantworten versucht und anschließend in ihrer Unmöglichkeit, sie eindeutig und einfach zu beantworten, erkennt. Als nächstes zeigt sich ihm die Unmöglichkeit, eine Frage der Art „wer bist du?“ überhaupt sinnvoll an jemanden zu stellen: Sie wird in die Formulierung „wer du auch sein magst“
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zurückgenommen (vgl. JGB 278, KSA 5, S. 229). Somit könnte noch das Anbieten der Erholung einer Modifikation des Ansinnens gleichkommen, wenigstens etwas über den Wanderer zu erfahren und herauszufinden, ‚was diesem jetzt gefalle‘. Als weitere Intention gerät daraufhin in den Fokus, dass der Erzähler/Dialogpartner etwas für den Wanderer tun möchte. Ich habe eingangs die Frage offen gelassen, ob der so grundsätzlich vom Wanderer verschiedene Erzähler/Dialogpartner überhaupt etwas zur Erholung des Wanderers bereit halten könnte. Formuliert er doch eindeutig „was ich habe, biete ich dir an“ (JGB 278, KSA 5, S. 229) und sagt damit, dass er nichts anbieten könne, was er nicht habe – sollte der Wanderer also etwas wünschen, das er nicht aufbieten kann, müsste er ihn folglich ohne „Erholung“ weiterziehen lassen. Tatsächlich gibt der Aphorismus genau darüber keine abschließende Erklärung: Nachdem der Wanderer „Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!“ (JGB 278, KSA 5, S. 229) fordert, entlassen die schon erwähnten Gedankenpunkte den Leser in die eigene Reflexion. Kein Wort davon, wie der ‚Neugierige‘ auf diesen ungewöhnlichen Wunsch reagiert und ob er ihm entsprechen kann. An diesem Punkt weicht der Aphorismus einer dramatischen Klärung aus und lässt einen (in seiner emotionalen Färbung stark von der Lesart abhängigen) Konflikt ins Leere gleiten. An dessen Stelle geraten Masken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Betrachten wir JGB 278 ohne diesen mehr und mehr entleerten ‚Handlungsstrang‘, mögen andere Aspekte und das dynamische Verhandeln derselben hervortreten. Dieses Verhandeln dessen, was ich das ‚Sprechen über Identität‘ genannt habe, nimmt seinen Anfang im Selbstgespräch des Erzählers/Dialogpartners und tritt dann in das kurze Gespräch mit dem Wanderer über. Wenn die Frage des Erzählers/Dialogpartners „wer bist du?“ anfangs noch Auskunft über eine einzige Identität zu erhalten hoffte, wird demgegenüber am Ende des Aphorismus die Pluralität von Masken ins Spiel gebracht. Es ist nicht gesagt, dass der Wanderer bei dieser ‚zweiten Maske‘ stehen bleiben werde, er könnte auch weiterhin „Eine Maske mehr!“ für sich reklamieren (vgl. JGB 278, KSA 5, S. 229). Wie ich zu zeigen versucht habe, kann die Wanderer-Figur prinzipiell als sich im Problemfeld der Masken bewegend beschrieben werden: Positionen und Perspektiven zu wechseln, sich nirgendwo endgültig fest-stellen zu lassen, immer wieder aufzubrechen und die ‚Höhlen hinter den Höhlen‘ aufzusuchen – dies mag der Wanderer-Figur wesentlich sein. Sie beweist ihre Vornehmheit, indem sie sich nicht mehr als auf eine (Seelen-)Einheit festgelegte Personalität äußert, sondern sich in ihren „eignen Masken und Vielfältigkeiten“ (JGB 190, KSA 5, S. 111) bewahrt.
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„ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!“: Synästhetische Lektüre von Jenseits von Gut und Böse 296 Seit geraumer Zeit finden Nietzsches Vorankündigungen, Einleitungen und Vorworte die ihnen gebührende Aufmerksamkeit, darunter jene, die sich als hochreflexive Selbstentwürfe und Leseanleitungen interpretieren lassen. Wenig oder kaum Beachtung galt bisher hingegen seinen Abschlüssen, Endsequenzen und Klauseln, ob als stilistisches Mittel im einzelnen Aphorismus oder als Selbstkommentar, der den übrigen, häufiger untersuchten Paratexten Nietzsches in nichts nachsteht. Die Schlusspassagen und die Aphorismen am Ende der von Nietzsche publizierten Werke kündigen häufig offen oder versteckt die nächste Schrift an und bilden dergestalt den Auftakt zu einem neuen Anfang, dessen Analyse unvollständig bleibt, solange er nicht berücksichtigt wird. Zu bedenken wäre, dass Nietzsches bekannteste Vorreden z.T. erst lange nach den Werken entstanden sind und also in Wahrheit auf ebensolche Weise Nachträge sind, wie gewisse Schlüsse Vorreden. Durch fortwährenden Selbstkommentar, häufig genau datiert, entsteht eine rekursive Struktur der Selbstverzeitlichung, die Nietzsches Werkpolitik1 ausgesprochen modern erscheinen lässt. Das Werk kann nur im Nachvollzug seiner zeitlichen Entfaltung aufgenommen werden, die aber immer wieder durch Rekursionen aufgehoben wird, die ihrerseits unter simulatio-Verdacht stehen. Beim 296. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse – ein Buch, das als „Vorspiel“ apostrophiert ist und wiederum von der Genealogie der Moral erläutert werden soll – zeigt sich diese Strategie auf exemplarische Weise. Er kann sowohl als Einleitung wie als Abschluss des Hauptstücks, in dem er steht, aber auch des gesamten Werks gelesen werden, also sowohl unter seiner einleitend-vorbereitenden als auch seiner resümierend-abschließenden Perspektive. Er mag als Selbstkommentar und Leseanleitung Nietzsches gelten, aber auch als ironische Distanzierung vom Werk, das den literarischen Anspruch des aphoristischen Genres selbst zu Wort kommen lässt. Dieser Eindruck wird durch die Entstehungsgeschichte von Jenseits von Gut und Böse bestätigt2: Nietzsche verschob JGB 296 1 Zum Begriff der Werkpolitik vgl. Martus 2007: die Selbstverzeitlichung zählt zu einer ihrer wichtigsten Strategien. 2 Für Details siehe Beat Röllins Beitrag in diesem Band, dem ich die folgenden Informationen verdanke.
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während der Erstellung des Druckmanuskripts mehrfach und wechselte dabei auch die Position, die aber immer eine Anfangs- oder Endposition war. Kurz vor Drucklegung entschied Nietzsche, das gesamte Werk mit ihm zu beschließen; gegenüber dem Verleger spricht er ausdrücklich vom „Schluß des Buches“ (KGB III/3, Bf. 708). Der „Nachgesang“, der den Titel „Aus hohen Bergen“ trägt und mit dem die Druckfassung dann endgültig endet, ist ein allerletzter Nachtrag nach Druckbeginn. Nietzsche treibt das Spiel der Vorwörter und Nachträge auf die Spitze – der Begriff des Vorspiels deutet durchaus eine ludische Dimension der „Philosophie der Zukunft“ an. Als Nachgesang ist „Aus hohen Bergen“ nämlich streng genommen kein Schluss – obwohl Nietzsche ihn als solchen verstanden wissen will – sondern eine Ergänzung, die das Buch wieder öffnet. Die Frage, ob es sich um einen Nachtrag zum neunten Hauptstück oder aber des gesamten Werks handelt, wird vom Druckmanuskript beantwortet (vgl. D 18, Bl. 104r; siehe Abb. 20). Nietzsche fügt am Ende mit Bleistift eine Druckanweisung hinzu: „NB Drei Sternchen drunter!“ (D 18, Bl. 104r; siehe Abb. 20)3 Der Nachgesang wird dadurch vom letzten Hauptstück abgesetzt und auf das gesamte Buch beziehbar. Die wichtigen Verbindungen des Nachgesangs zu JGB 296 stärken so auch dessen Status als reflexiver Schluss des gesamten Textes, als aphoristisches Äquivalent zum Nach-Gesang. Seiner herausgehobenen, von Nietzsche beabsichtigen und von Entstehung und Komposition des Textes bekräftigten Stellung muss die Lektüre gerecht werden. Sie soll den Beziehungsreichtum entdecken, der sich aus einer Perspektive auf Nietzsches Werke von ihrem jeweiligen Ende her ergibt, das zugleich ein Anfang ist. Die folgende Lektüre lässt sich von der These leiten, dass insbesondere der enorme rhetorische Ehrgeiz, den Nietzsche (im Folgenden verstanden als impliziter Autor von JGB 296) hier an den Tag legt, in engem Zusammenhang mit der exponierten Position steht. Bei JGB 296 handelt es sich um eine seiner dichtesten poetologischen Stellungnahmen überhaupt, die auch das Verhältnis der Poetologie zu ihrer Philosophie thematisiert. Abbildung 21 gibt den Aphorismus im Wortlaut und im Satzspiegel der Originalausgabe wieder (vgl. Nietzsche 1886, S. 266).4 Nietzsche variiert in seinem Aphorismus die Topoi der Unmöglichkeit direkter Gedankenübertragung und der Unsagbarkeit als Versuch einer Selbstkritik, der die Bedingungen der schriftstellerischen Existenz reflektiert. „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr“ (Schiller 2004, S. 313), hieß das
3 Ich danke Axel Pichler für die Bereitstellung des Druckmanuskripts. Auch die Lesart wurde zuerst von ihm vorgeschlagen. 4 Siehe dazu die Abb. 21.
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bei Schiller, und mit diesem „ach“ hebt der Aphorismus denn auch an. Nietzsches originelle Abwandlung eines alten Themas besteht darin, den Verlust nicht mehr allein im Austausch mit anderen zu verorten, sondern in der Begegnung des Autors mit seinen eigenen Hervorbringungen: „ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken“5 ist der kürzeste Ausdruck dieser Selbstbegegnung. Die Gedanken werden in der Anrede und namentlich in den darauf folgenden Sätzen personifiziert, der nach Quintilian höchsten Steigerung versinnlichenderer Metaphorik (vgl. etwa Lausberg §559c, S. 287). Sie begegnen uns nicht als sie selbst, sondern verkleidet. Selbst ihre „Neuheit“ war offensichtlich eine Kostümierung. Das Schreiben und das Malen bilden dabei kein Gegensatzpaar, wie man zunächst annehmen könnte, sondern stehen im Verhältnis der Zuspitzung. Malen ist die klimaktische Steigerung des Schreibens und enthüllt sein Wesen. In der Evokation des Schreibens und Malens ist freilich kraft der von Nietzsche gewählten Lautgestalt auch die dritte und eigentlich grundlegende menschliche Ausdrucksform enthalten, nämlich das Sprechen. Sie verrät sich sogleich in der eindringlichen Alliteration der ge-schriebenen, ge-malten Ge-danken genauso wie in ihrer rhythmischen Kadenz, auf die noch einzugehen sein wird. Der Aphorismus scheint uns keine Hoffnungen auf einen Ertrag unserer exegetischen Bemühungen zu machen. Allerdings entschädigt er mit einem synästhetischen Feuerwerk, das seinesgleichen sucht. Bleiben wir zunächst beim Malen. Im Unterschied zu einer dominanten philosophischen und linguistischen Tradition, die die Schrift als Notation von Laut und Hauch auffasst und damit als unter den Bedingungen der sinnlichen Existenz des Menschen größtmögliche Annäherung an den Geist und seine mentalen Repräsentationsformen, betont Nietzsche ihren ikonischen, bildkünstlerischen Charakter wie vor ihm nur in der Epoche der Frühromantik (und ihrer Faszination von Arabesken und Hieroglyphen). Nietzsche spielt sowohl auf die Schriftkritik im Phaidros, in dem die Schrift zum ersten Mal mit der Malerei verglichen wurde, als auch auf die beherrschende ästhetische Diskussion der Moderne an, die ausgehend von Lessings Laokoon Sprachkunst allgemein und im Gegensatz zur Malerei den an die Zeit gebundenen Künsten zugeschlagen hatte. Das ergibt eine einigermaßen verwickelte Gemengelage, die typisch für Nietzsches Allusionsartistik ist. Bei Platon wurde die Schrift u.a. deshalb kritisiert, weil sie, hierin eben der Malerei ähnlich, Gegenstände schafft und – in der rezeptionshistorisch maßgeblichen Übersetzung Schleiermachers – „ihre Ausgeburten […] als lebend“ (Platon 1984, S. 115) hinstelle. So entsteht die Illusion, dass sie für alle dieselbe Botschaft enthalte, während es laut Sokrates doch darauf ankommen müsste, aus
5 Nachfolgende ungekennzeichnete Zitate beziehen sich immer auf JGB 296, KSA 5, S. 239 f.
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der eigenen Erinnerung anstatt aus der fremden, bloß kontingent fixierten zu schöpfen.6 Für Lessing wiederum war es geradezu die Leistung der an Sprache und Schrift geknüpften Dichtkunst, der Räumlichkeit der natürlichen Zeichen zu entkommen, indem sie sich auf die Abfolge diskreter Einheiten anstatt auf flächige Anordnungen spezialisierte, die es ihr freilich letztlich doch noch zu inkorporieren gelang.7 In JGB 296 wird der traditionelle Gegensatz verräumlichender und chronologisierender Künste aufgegeben. Synästhetische Reflexion und synästhetische Praxis bedingen einander. Aus der Unvermeidlichkeit der Ikonizität der Schrift zieht Nietzsche einen temporalen Schluss. Das Problem des Schreibens liegt nicht so sehr in der Vergegenständlichung und Verlebendigung der Gedanken an sich, mit der Nietzsche bewusst einsetzt, sondern in ihrer Festlegung auf eine einzige bestimmte Zeit. Der Aphorismus belehrt uns nicht darüber, dass es dem Autor prinzipiell unmöglich wäre, seine Gedanken darzustellen. Nur ist der Spatz in der Hand in diesem Falle die Mühe kaum wert, weil er zur falschen Zeit ins Netz geht. Die Verewigung der Schrift durch ihre vergegenständlichenden Eigenschaften betrifft den falschen Moment. Dieser Zusammenhang wird durch die Einführung einer temporalen Dimension auf der Ebene der nun eben nicht mehr statisch zu denkenden Bildlichkeit umgesetzt. Die Verwendung der Farbadjektive ist dabei noch hintergründiger als der verwirrende Gegensatz zwischen der Buntheit der jungen, ursprünglichen Gedanken und ihrer Kolorierung in „fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths“. Je später der Ausdruck, desto wichtiger werden Schattierung und Nuancierung. Gelb und Braun sind Nietzsches Farben der Reife und Süße, der Erntezeit, des Honigs, aber auch des Niedergangs. Wir denken dabei an seine Lyrik, etwa das berühmte Venedig-Gedicht, aber auch an den Zarathustra. Gelb und Braun sind ferner die beiden Farbtöne, die Nietzsche aufgrund der philologischen Befunde im Aphorismus über die „Farbenblindheit der Denker“ in der Morgenröthe hervorgehoben hat (vgl. M 426, KSA 3, S. 261 f.). Blind für die Farben Blau und Grün8, so Nietzsche, machten die Griechen diesen Mangel durch eine „Be
6 Die stereotype Auffassung von Platons Schriftkritik übersieht allerdings nicht nur die dialogische Situation, in der sie vorgebracht wird, sondern v.a. die Tatsache, dass nicht die Schrift an sich, sondern die naive Erwartungshaltung ihr gegenüber kritisiert wird. Ihre Gegenständlichkeit suggeriert aber nur die Stabilität und Konsistenz der Bedeutungen; auch für Platons Sokrates muss sie von jedem individuell aufgenommen werden. Vgl. auch schon Wieland 1982. 7 Vgl. zu diesem Gesamtkomplex Wellbery 1984. 8 Der tatsächliche Farbreichtum der antiken Kunst wird erst in den letzten Jahren entdeckt. Das 19. Jahrhundert war noch stark von Winckelmanns marmorweißer Antikevorstellung geprägt. Neben Schwarz und Weiß galten lediglich Gelb und Rot (in der sog. Vierfarbenmalerei) als echt
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reicherung der Natur“ wett, weil er ihnen erlaubte, „Harmonien der Farben i n d i e D i n g e h i n e i n“ zu sehen. Jeder Denker male „seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, a l s e s g i e b t “ und sei blind gegen gewisse Farben (M 426, KSA 3, S. 261 f.). Die Einschränkung der Griechen auf zunächst wenige Farben habe eine Entwicklung zum Genuss an immer größerer Differenzierung in späteren Epochen erst möglich gemacht; und dieses gleichsam phylogenetische Entwicklungsmodell von der „theilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden“ (M 426, KSA 3, S. 262) wird offenbar ontogenetisch heute noch von ausgewählten Einzelnen nachgelebt. In JGB 296 taucht das Attribut „bunt“ ein zweites Mal auf. Es bezieht sich bei der ersten Nennung gar nicht auf die Farbvielfalt, die ja bei jenen viel größer ist, die den chinesischen Pinsel führen. Von der Buntheit der Nuance muss eine Buntheit unterschieden werden, die mit weniger Farbtönen auskommt, dafür aber durch die Verbindung größerer Gegensätze ein weiteres Farbspektrum abdeckt. Die Übertreibung der Farbschattierung führt in Wahrheit in die Abschaffung der Farbe, wie bei der Farbstichigkeit alter Sepiadrucke, die in der Tat ihre Abbildungen in das Braun und Gelb der unwiederholbaren Vergangenheit tauchen. Das reichere Sehen aus der Morgenröthe ist in JGB 296 der Einsicht gewichen, dass weniger, aber kräftigere Farben, die von dem Sehenden erst erzeugt werden, dem Sehen eine Qualität verleihen, die keine Kunst der Welt mehr hervorzubringen vermag, die allzu stark zu differenzieren gelernt hat. Kunsthistoriker mögen sich an die Evolution der Farbgebung vom Trecento zum Cinquecento erinnert fühlen (oder überhaupt an das Verhältnis der Renaissance zu ihrem Nachleben). Nuancierung ist aus der Perspektive von JGB 296 jedenfalls ein Niedergangssymptom.9 Nietzsche trägt in der Wahl seiner Metaphern dick auf, um dem Leser diese Pointe buchstäblich vor Augen zu führen. Alles ist „welk“, „spät“ oder „müde und mürbe“. Auch der Geruchssinn ist, im Wort „verriechen“, temporal gezeichnet. Der Tastsinn äußert sich in den „Zärtlichkeiten“, die mit der jungen Boshaftigkeit und ihren „Stacheln“ kontrastiert werden, die schärfere Empfindungen auslösten.10 Selbst das Chinamotiv gehört zur Semantik der Spätzeit; China ist bei
antik, wobei Nietzsches Braun in diesem Zusammenhang auch eher eine Art von Ocker bezeichnen dürfte. Vgl. das Lemma „Farben“ im Neuen Pauly. 9 Das ironische „wehe mir! ich bin eine nuance“ (EH FW 4, KSA 6, S. 362) aus Ecce homo wäre somit doppelt kodiert, als Eingeständnis eigener Dekadenz, die von anderer Art als jene Wagners ist. 10 Neben den traditionellen fünf Sinnen werden in der heutigen Physiologie weitere universal verbreitete Sinne angenommen: der Temperatursinn, der Gleichgewichtssinn, die Empfindung des eigenen Körpers, das Schmerzempfinden. Zumindest die letzten beiden sind auch in Nietzsches Werk und in JGB 296 schon präsent.
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Nietzsche häufiges Spätzeit- und Dekadenzmotiv und Wohnstätte der letzten Menschen (vgl. Benne 2002). Im Frühjahr 1884 notiert sich Nietzsche zur chinesischen Malerei sie sei „Beschreibung ohne Perspektiven“, bei ihr sei alles „lauter Vordergrund und alles überfüllt“ (NL 1884, 25[164], KSA 11, S. 57)11. Nietzsche weist damit die „Wissenschaftlichkeit oder Photographie“ vermeintlicher Objektivität zurück, die aus der Kunst das Persönliche – und das ist ja das Perspektivische – zu entfernen sucht. In dieser Flucht „vor sich“ sieht Nietzsche „ein modernes Mißverständnis“ kantisch-schopenhauerischer Prägung. Nicht von ungefähr taucht Kant in Jenseits von Gut und Böse an prominenter Stelle als „der grosse Chinese von Königsberg“ (JGB 210, KSA 5, S. 144) auf. Das Malen mit chinesischem Pinsel – hier ist der logo- und kalligraphische Charakter der chinesischen Schrift mindestens mitgemeint – beschreibt den Effekt bzw. das Missverständnis der Schrift als Ausdruck der Entpersonalisierung des Denkens, die im Gegensatz zur umso schwieriger darzustellenden persönlichen Philosophie steht. Malen repräsentiert nach dieser Deutung das Unpersönliche der eigenen Gedanken als ihr spätestes Stadium – weil das Schreiben dazu verführt, den fixierten Worten einen objektivierbaren Sinn zu unterstellen, der unabhängig von Autor oder Leser ist. Die eigentlichen, die kaum greifbaren „schlimmen Gedanken“ bilden den Gegenpol, weil der Begriff des Gedankens sich nicht in den geschriebenen und gemalten Gedanken erschöpft. Er erstreckt sich auf das Sprechen des Gedankens, durch das der Leser ihn erst zu seinem Eigentum macht. Nietzsche zeigt deshalb in JGB 296 noch deutlicher als anderswo, dass Schreiben nicht nur ein Malen oder gar Abmalen ist. Mit einem selbst für seine Verhältnisse ungeheuren Aufwand setzt er die Rede über die „gemalten Gedanken“ in Sprachmusik um. Da wären zuerst die auffälligen, in ihrer Fülle fast peinlichen Alliterationen zu nennen, die den Sätzen eine Art lautmalerischen Firnis verleihen: „was eben welk werden will“ – „malen“ und „Mandarinen“ – „Gewitter und gelbe späte Gefühle“ – „Vögel, die sich müde flogen und verflogen“ – „mit der Hand haschen“ – „lange leben“ – „müde und mürbe“ usf. Bei der Lautmalerei handelt es sich um die synästhetische Paradedisziplin schlechthin (die ihr Pendant in den sog. Klangfarben hat); sie verstärkt das über das Malen Gesagte. Wie mit dem Pinsel getupfte Farbwiederholungen und Farbzitate, einschließlich kleiner und kleinster Variationen, verkörpern die Alliterationen Nuancen, die in der Summe eine gewisse stilistische Einförmigkeit verbreiten, die das anaphorisch wiederholte „Ach“ unterstreicht.
11 Ich danke Jakob Dellinger für den Hinweis auf diese Stelle und die Anregung, sie mit der Personalisierung der Gedanken zusammenzudenken.
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Durch das Mittel der Wiederholung gelingt es Nietzsche indes, die Lautmalerei mit einer ganz anderen Dimension zusammenzuführen. Da Wiederholung Chronologie voraussetzt, stellt sich die Dimension der Temporalität von selber ein. Das artistische Wirkungsmittel dieser Dimension im Raum der Schrift ist der Rhythmus. Aufgrund seiner bauenden, architektonischen Eigenschaften – schon in der Tragödienschrift gehörte er ja in die Sphäre des Apollinischen (vgl. Günther 2008) – ist der Rhythmus, der die Zeit verräumlicht, von eminent synästhetischer Potenz12. In keinem anderen Bereich entwickelt Nietzsche größeren artistischen Ehrgeiz. Erst diese suggestivste aller sprachkünstlerischen Techniken macht die einzigartige Sogwirkung seiner Prosa aus. Seine Texte sollten wie jene der antiken Autoren unabhängig von ihrem Gehalt als sprechmusikalische Kunstwerke genossen werden können. Die größte Herausforderung bestand aber nicht allein darin, die quantitierenden Prinzipien des antiken Rhythmus, zu deren wesentlichen Mitentdeckern Nietzsche zählte, auf die barbarischen akzentuierenden Verhältnisse der deutschen Sprache zu überführen, sondern überhaupt eine Kunst des Prosarhythmus zu entwickeln, der sich am antiken messen konnte (vgl. Benne 2011). Die Lösung liegt in einem Bündel verschiedener Instrumente, die den zeitökonomischen Reichtum der klassischen Sprachen kompensieren sollen. Nietzsches Prosa zielt weniger stark auf Rhythmisierung durch Akzentuierung, wie es im Deutschen ja fast gar nicht anders geht, sondern zusätzlich durch markierte Pausen, langsamer und schneller zu lesende Passagen. Die Hervorhebungen (Sperrungen) sind möglicherweise langsamer, nicht dynamischer zu lesen. Die Verwendung der Satzzeichen folgt nicht nur grammatischen, sondern auch rhythmischen Gesetzen. Die große Zahl von Nietzsches Satzzeichen allein, die Art und Weise, wie immer wieder der Punkt hinausgezögert wird, namentlich der Wechsel der Parenthesen, spricht dafür, dass sie auch Takte einteilen. Nietzsches Halbgeviertstriche sind nicht in erster Linie semantisch aufgeladene Gedankenstriche. Vielmehr handelt es sich um Pausenzeichen – so ist auch die charakteristische Doppelung wie etwa am Ende von JGB 296 zu erklären: sie zeigt eine doppelte Pause an, die das Folgende feierlich vorbereitet. Die Forschung zu Nietzsches Prosastil steckt noch in den Kinderschuhen; gar nicht erst begonnen hat sie im Bereich der Rhythmisierung am konkreten Beispiel und der Frage, inwieweit Nietzsche seine Prosa bewusst metrisierte. Am Beispiel von JGB 296 lässt sich zeigen, wie dringend Aufmerksamkeit gegenüber diesem Aspekt geboten wäre, den Nietzsches Schriften selbst immer wieder als zentrales Anliegen herausstellen. Sie beklagen etwa, dass „der Deutsche“ zwar die Bedeu-
12 Vgl. Meschonnics 1982 allzu wenig beachtete Studie, die zeigt, wie der Begriff des Rhythmus selbst auf schriftliche Texte und etwa den typographischen Raum anwendbar ist.
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tung von „Vers, Bild, Rhythmus und Reim“ in der Lyrik anerkenne, aber die Vorstellung, „an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule“ zu arbeiten ins „Fabelland“ verweise; deutsche Prosa sei nur improvisiert, eine Art „Stegreifdichtung“ (WS 95, KSA 2, S. 595). Daraus folgt, dass Vers und Rhythmus zu Nietzsches eigenem prosakünstlerischen Anspruch gehören, der nicht nur allgemein zu behaupten, sondern in exemplarischen Lektüren aufzuspüren wäre. Wenn dies bisher nicht geschehen ist, liegt das wohl nicht nur an der traditionellen philosophischen Ignoranz gegenüber formkünstlerischeren Mitteln, die als reine Ornamente angeblich nur die Sicht auf die wahre philosophische Aussage verstellen. Es liegt auch nicht am linguistischen Desinteresse gegenüber suprasegmentalen Phänomenen oder an der rapide schwindenden metrischen Grundlagenbildung. Vielmehr scheint ein grundlegendes Missverständnis über die Metrisierung schon der antiken Kunstprosa zu bestehen, das in die moderne Literatur verlängert wurde. Es besagt, dass Verse in der Prosa als schlimmer Fehler streng untersagt waren; folglich müsse man sich gar nicht erst auf mögliche Metrisierungen einlassen. Dieses Missverständnis beruht auf einer Verwechslung von strenger Versifizierung und rhythmischer Metrisierung. Die Rhythmisierung der Rede gehörte zu den wichtigsten Elementen der klassischen Rhetoriklehren. Auf dem Weg in die Moderne, die ohnehin von der Schulrhetorik Abschied nahm, geriet sie nur wegen der Sprachspezifik des Rhythmus in Vergessenheit. Im dritten Buch von Ciceros De oratore, dessen längster und gewichtigster Abschnitt dem rhythmischen Sprechen gewidmet ist, stellt Cicero richtig, dass nur das unbeabsichtigte Sprechen in festen Versen (das im quantitierenden System schneller als im akzentuierenden unterlaufen kann) als Fehler gilt. Fehlerhaft ist indes auch die völlig ungebundene Rede, durch die sich allenfalls der Laie auszeichnet. Cicero argumentiert für einen Thema und Situation entsprechenden rhythmischen Wohlklang „et astricto et soluto“, der zwischen Bindung und Nicht-Bindung einen Mittelweg findet (De or. 3.175, S. 556)13 Nur jenen Rednern, die nicht bloß auf klare und angemessene Wortwahl vertrauen, sondern ihre Rede nach Takten einteilen und bis zu einem gewissen Grad versifizieren, ist Erfolg beschieden. (De or. 3.53, S. 478 f. sowie 3.195 f., S. 568 f.)
13 Antje Wessels bestätigt diesen Befund anhand von Ciceros Orator. Der Prosarhythmus ist eine „Kunst vermeintlicher Absichtslosigkeit“ (Wessels 2012, S. 10). Nicht die Verwendung bekannter Metren an sich, sondern ihre regelmäßige Wiederholung ist das Problem. De oratore wiederum ist auch eine Quelle für rhetorische Synästhesie. Vgl. die synästhetischen Beschreibungen zum Redeschmuck, bei der u.a. besonders die Vielfalt der Farben hervorgehoben wird (De or. 3.96 ff., S. 506 ff.).
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Einen besonders wichtigen Platz nahmen im antiken Prosarhythmus die Periodenschlüsse, die Klauseln ein. Vieles spricht dafür, dass Nietzsche sich ihrer regelmäßig bediente. Cicero empfiehlt für die Klauseln eine Kombination aus zwei bis drei Füßen, etwa den Wechsel von Trochäus und Daktylus (De or. 3.192 ff., S. 566 ff.)14. Dies entspricht nun exakt der Wahl, die Nietzsche für den Schluss von JGB 296 getroffen hat. Auf die beiden letzten Pausenzeichen – die Doppelung kündigt auch im rhythmischen Sinne etwas Gewichtiges15 an – folgt mit den „s c h l i m m e n Gedanken!“ die Abfolge eines Daktylus und eines Trochäus ('xxx’xx). In der Erstausgabe ist dieser Schluss zusätzlich topologisch hervorgehoben: er steht auf seiner eigenen Zeile (siehe Abb. 21). Spätere Ausgaben haben diesen bewusst dramatisierenden Effekt leider missachtet, so auch die heute am meisten benutzte (vgl. JGB 296, KSA 5, S. 240). Metrisch gesehen handelt es sich hier um eine der verbreitetsten Klauseln, den sog. cursus planus.16 Streng genommen stellt er zugleich einen adonischen Vers dar, wie er zuerst durch die sapphische Odenstrophe popularisiert wurde. Dieser entsteht auch als Abschluss eines Hexameters, wenn nach dem vierten Versfuß eine Diärese eingefügt wird, die nach ihrer Verwendung in der bukolischen Dichtung (etwa bei Vergil) unter der Bezeichnung bukolische Diärese bekannt wurde. Betrachten wir die Stelle in JGB 296 daraufhin genauer, erweist sich der Adonäus der „s c h l i m m e n Gedanken“ in der Tat als Abstraktion und Verkürzung eines größeren rhythmischen Zusammenhangs, der zu Beginn eingeführt wird und dessen Zentrum und Essenz er gewissermaßen darstellt. Der Anfang des Aphorismus lässt sich unschwer hexametrisch lesen, wenn auch im Sinne des „et astricto et soluto“. Aus dem Hexameter des ersten Satzes, der auf die „geschriebenen und gemalten Gedanken“ zuläuft, wird am Ende nach der durch die Pause stark markierten Diärese ein Adonäus, der das heroisch-epische Versmaß konterkariert.17 In einem jener kleinformatigen Notizhefte, in denen Nietzsche erste Einfälle festhielt, finden sich über knapp anderthalb Seiten die wenigen erhaltenen Entwürfe des Aphorismus (vgl. N VII 2, S. 57 f.; siehe Abb. 4a/b sowie Abb. 3a/b). Der Plural ist hier angebracht, weil die Aufzeichnungen, wie Faksimile und Tran
14 Vgl. ferner die klassische Studie von Schmid 1959. 15 Klauseln werden langsam und feierlich gesprochen, so steigern sie die Wirkung des Abschlusses beträchtlich. 16 Die schon seit der Spätantike fest etablierten Klauseln haben auch in der deutschen Kunstprosa eine lange Tradition und wurden in fließendem Übergang zunehmend akzentuierend interpretiert. (Vgl. schon Kayser 1946, S. 264 ff.). 17 Christian Wollek hat mir als Reaktion auf meinen Vortrag eine eigene metrische Analyse vorgeschlagen, in der der letzte Satz ab „Einsamkeit“ als Hexameter gelesen wird, der in den adonischen Vers mündet.
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skription beweisen, doppelt ansetzen, eindeutig sind zwei verschiedene Blöcke erkennbar. Der erste Block besteht anscheinend aus vorläufig bloß aneinander gereihten Gedanken und Bildern, die Motive der Vergänglichkeit umkreisen (N VII 2, S. S. 58; siehe Abb. 3a/b). Der zweite Block (ab Zeile 17, N VII 2, S. 58; Abb. 3a/b sowie N VII 2, S. 57 Abb. 4a/b – Nietzsche setzte die rechte Seite auf der linken unteren Seite fort) fängt noch einmal von vorn an, jetzt schon mit dem Satz, der auch am Beginn von JGB 296 stehen wird: „ach, was seid ihr doch, ihr geschriebenen Gedanken“. Erst mit den Einfügungen, die an den entsprechenden Stellen darüber notiert sind, ergibt sich dann: „ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen u. gemalten Gedanken“. Die im Vergleich zum ersten Block gesteigerte musikalische Durchformung macht sich nicht nur durch die konsequentere Alliteration bemerkbar, sondern v.a. durch die stärkere Rhythmisierung als Effekt der Einschübe, die den daktylischen Charakter des Textes betonen. Auch die Tatsache, dass aus dem ausbuchstabierten „sehen“ des Manuskripts das synkopierte „sehn“ des Druckmanuskripts sowie der Druckfassung wird, ist nur metrisch erklärbar. Diese Effekte sind mindestens genauso wichtig wie die semantische Spezifizierung der Gedanken als „meine“. Wo Nietzsche mit Lauten malt, musiziert er zugleich mit der rhythmischen Struktur der sprachlichen Bilder im Medium der Schrift. Schon in den Entwürfen gibt es ein Motiv, das beide graphisch voneinander abgesetzten Blöcke verbindet: die Vergänglichkeit. Sie ist die temporale Dimension des Verlusts. Aus dieser Perspektive ergibt sich sogar eine semantische Motivation der rhythmischen Gestaltung des gedruckten Aphorismus. Er beginnt hexametrisch, d. h. mit dem heroischen Versmaß der Archaik, gleichsam aus dem Morgen der Kultur – um in einer adonischen Kadenz zu enden, die gewöhnlich mit der melancholischen Trauer um Verlust und Vergänglichkeit der Schönheit verbunden wird.18 Es sei dabei betont, dass diese Deutung nicht zwingend erforderlich ist, um die zeitökonomische Artistik der rhythmischen Gestaltung ästhetisch zu genießen. Auch erschöpft sie sie nicht. Die Frage etwa des konkreten Tempos der Rezitation – für Nietzsche eine der wichtigsten – bleibt davon unberührt. Die Sprachmusik des Prosarhythmus bleibt auch ohne Rücksicht auf das semiotische Gebilde bestehen. Sie wird erst vom Leser mit dem rechten Gehör ausgestaltet. Indes gibt es einen weiteren Grund, den Rhythmus als Kunst der Zeitökonomie auf das Thema der Vergänglichkeit anzuwenden, als rhythmische Formu
18 Die mythologische Grundlage ist die periodische Klage der Aphrodite, wenn Adonis gerade nicht bei ihr weilt. In seinem faszinierenden Buch über Hölderlins „Hälfte des Lebens“, im wesentlichen eine Analyse von Hölderlins Verwendung des Adonäus, hat Winfried Menninghaus besonders auf die Bedeutung des Adonäus für das Besingen verblichener Schönheit Wert gelegt (vgl. Menninghaus 2005).
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lierung von Gedanken, die damit buchstäblich eine eigene Zeit annehmen. Er hängt zusammen mit dem, was der Aphorismus selbst über die Gedanken weiß, nämlich dass sie nicht „unsterblich“ sind. In der Geste dessen, der das gerade Geschriebene noch einmal durchsieht und das Ergebnis mit seiner Erinnerung und seinen Absichten vergleicht, inszeniert Nietzsche die Klage über die Vergänglichkeit der Schönheit als ihre Feier – in einer Prosa, die alle Register traditioneller sprachlicher Schönheit zieht. Allein daran ist ablesbar, dass der Aphorismus nicht einfach als nachgereichte Interpretationsanleitung gemeint ist. Nietzsche reflektiert ja zunächst nicht die Schwierigkeit des Lesens, sondern des Schreibens. Weil dessen Resultate nur einen schwachen Abglanz der entscheidenden „plötzlichen Funken“ geben, rät Nietzsche explizit von jedem quasi-genealogischen Zugriff ab. Keiner noch so divinatorischen Begabung wird es gelingen, die eigentliche Herkunft der geschriebenen und gemalten Gedanken zu erraten, denn diese ist ja hinter den Nuancen verborgen. Im Nachlass von 1882 befindet sich ein Heft mit Sentenzen, die bereits weit ausgearbeitet und durchformuliert sind. Sie sind mit unterschiedlichen Titelvarianten überschrieben, von denen eine lautet „‚Jenseits von gut und böse.‘ Sentenzen-Buch.“ (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 53) Tatsächlich hat Nietzsche diese Sentenzen später für JGB, aber auch für den Zarathustra ausgeschlachtet. Eine von ihnen lautet folgendermaßen: Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei. (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 89)
Der thematische Zusammenhang zu JGB 296 ist sogleich ersichtlich. Erstaunlicherweise trägt auch diese Sentenz die Nummer 296. An einen Zufall mag man kaum glauben, andererseits ist JGB 296 für die Druckfassung mehrmals verschoben und neu nummeriert worden. Die beiden folgenden Sentenzen sind laut Kommentar in „Vom Lesen und Schreiben“ im ersten Teil des Zarathustra eingegangen (Za I, KSA 4, S. 48 ff.; vgl. KSA 14, S. 672). Als hasard objectif also gelingt es der Sentenz 296, den Aphorismus 296 von JGB zu beleuchten. Nietzsche hat sie wohl nur deshalb nicht veröffentlicht oder ebenfalls im entsprechenden Abschnitt aus Zarathustra verwendet, weil sie sozusagen das Betriebsgeheimnis ausplaudert. Gegen die bloße Schriftstellerei setzt Nietzsche eine neue Art des Schreibens, die genau das zu erreichen versucht, was jener misslingt. Die Synästhesie von JGB 296 dient zur Kompensation dessen, was sich eigentlich nicht schreiben lässt. In der Lautgestalt wird das nur Malerische überwunden ohne dass es – siehe Rhythmus – verschwindet. Um die Lautgestalt zu erschließen,
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muss man den Text aber vortragen und dadurch nicht nur in die Zeitlichkeit überführen, sondern sich auch persönlich aneignen. Von daher Nietzsches ständiger Appell ans Ohr seiner Leser, von daher auch die Thematisierung von Tempo und Stil und der Anspruch, die deutsche Prosa in neue Gefilde geführt zu haben. Der Ausdruck „Musik hinter den Worten“ ist ihre kürzeste Definition. Bezogen auf JGB 296 lässt sich nun erst der Witz des performativen Selbstwiderspruchs erkennen, mit dem Nietzsche die Musik hinter den Worten zelebriert und die schillernde Beredsamkeit vorwegnimmt, mit der Hofmannsthal im berühmten Ein Brief die (moderne) Unmöglichkeit beschrieb, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ (Hofmannsthal 1959, S. 11). Der Umstand, dass wir die „Wunder“ der „Einsamkeit“ nicht an ihrem „Morgen“ zu Gesicht bekommen, heißt nicht zwangsläufig, dass die Beschäftigung mit ihnen zu einem späteren, schriftlich fixierten Zeitpunkt vergebens ist. Das träfe nur dann zu, wenn sie als „Wahrheiten“ wahrgenommen werden. Nur unter der Perspektive, dass die Gedanken als „unsterblich“ aufgefasst werden, sind und bleiben sie „langweilig“. Sie „sehn“ unsterblich aus – aber die trügerische Einschränkung auf den Gesichtssinn ist das eigentliche Problem. Im Gegensatz dazu steht das Begreifen der Gedanken in ihrer zeitlichen Bedingtheit. Sie können dann weder Wahrheiten noch unsterblich, d. h. unabhängig gültig von Zeit und Raum sein, dafür aber sind sie auch nicht länger nur „herzbrechend rechtschaffen“. Die schlimmen Gedanken sind nicht sichtbar, weil sie nicht fixierbar sind, aber die rhythmische Artistik, mit der dies in der Schrift vorgetragen wird, lässt die Hintertür zu ihnen offen, indem sie in der Verzeitlichung die Objektivierungstendenz der Schrift aufhebt und an ein persönliches Erleben rückbindet. Ein zentrales Wort, das sich schon in den erhaltenen Aufzeichnungen findet, lautet „Nachmittag“ (N VII 2, S. 57; siehe auch Abb. 4a/b). Es ist die erste spezifische temporale Angabe dieser Aufzeichnungen, die freilich durch ihre Unspezifik charakterisiert ist: wann der Nachmittag beginnt oder endet ist notorisch schwer zu bestimmen. Festgelegt ist er lediglich dadurch, dass er auf den Scheitelpunkt des Tages folgt und gleichsam sein Ende einleitet, doch kommt er noch vor Dämmerung und Abend und bleibt auf den Mittag bezogen. Der Nachmittag der Gedanken wird durch das Bild der Vögel verstärkt, „die sich müde flogen und verflogen“.19 Die Kombination der zahlreichen Faktoren lässt es denkbar erscheinen, dass Nietzsche sich hier mit seiner eigenen Gegenversion auf eine der einschlägigsten Kurzbestimmungen des philosophischen Schreibens bezieht, näm
19 In den handschriftlichen Notizen finden sich auch noch „Schmetterlinge“ und „Eidechsen“, die aber durchgestrichen und ohnehin nur nachträglich eingefügt worden sind. Die Vögel, von Anfang an präsent, bleiben allein übrig (N VII 2, S. 57 f.)
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lich auf Hegels im Nachhinein verfasste Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie.20 Wäre dies der Fall, so wären in JGB 296 nicht nur Platon und Kant präsent, sondern eine kompakte philosophische Anti-Ahnengalerie, nicht unähnlich dem Abschnitt „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ aus der Götzen-Dämmerung (GD Fabel, KSA 6, S. 80 f.). Hegel entwickelt hier den Gedanken, dass „die Philosophie immer zu spät“ komme, weil die begriffliche Arbeit den vollendeten „Bildungsprozeß“ der Wirklichkeit voraussetze: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Hegel 1996, S. 28) Selbst wenn die These vom Bezug auf Hegel nicht stichhaltig wäre, wirft der Vergleich mit Nietzsche Licht auf die Besonderheit des Aphorismus. Eine Gegenversion ist JGB 296 nicht nur aufgrund äußerer Abweichungen, sondern weil er diametral entgegengesetzte Schlussfolgerungen zieht. Zunächst wissen wir nicht, welcher Art die Vögel sind, um die es in JGB 296 geht. Um Zarathustras Adler, der einem Pendant zu Hegels Eule der Minerva noch am nächsten gekommen wäre (vgl. FW Scherz 53, KSA 3, S. 365), augenscheinlich nicht. Die Vögel als personifizierende Allegorie sind dabei durchaus kein Einzelfall in Nietzsches Werk. In der Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches von 1886 – also in unmittelbarer Nähe zu Jenseits von Gut und Böse – bescheinigt Nietzsche seinen Schriften, „Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel“ zu enthalten, die erläutert werden als „unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten“ (MA I Vorrede, KSA 2, S. 13). Im Zarathustra, aber auch an anderen Stellen, sind Vögel, die sich nicht einfangen lassen, Symbole des freien Geistes als Gegensatz zum „Geist der Schwere“: ein Lied könne er davon singen, so Zarathustra, wohin seine „Feindschaft“ sich „flog und verflog“ (Za III Schwere 1, KSA 4, S. 241). Auffällig ist die figurale Übereinstimmung der Wortverbindung: JGB 296 ist ebenfalls die Rede von Vögeln, die sich müde „flogen und verflogen“21. Es gibt dann mindestens drei Arten von Vögeln bzw. Gedanken: jene die sich einfach fangen lassen, jene bei denen man sich die Mühe machen muss, Fallen zu stellen und jene, die selbst den Fallen ausweichen. Die nur geschriebenen Gedanken gehören zum ersten Typ, enthalten aber auch „Schlingen und Netze“ insofern sie in der Schrift die Schrift selbst transzendieren; sie leiten schließlich zu jenen
20 Dieser Vorschlag wurde in der Diskussion von verschiedenen Seiten (zuerst von Enrico Müller) gemacht. 21 Eine weitere Perspektive auf das Vogelmotiv ergibt sich aus der von Claus Zittel an mehreren einschlägigen Stellen vermuteten Anspielung Nietzsches auf das Taubenschlaggleichnis in Platons Theaitetos (vgl. Zittel 2000, S. 48 ff.).
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über, die sich gar nicht mehr festsetzen lassen. Deren Heimat ist laut Zarathustra das Lied. So erklärt sich auch der eigentliche Abschluss von Jenseits von Gut und Böse: der „Nachgesang“ führt die aufsteigende Linie fort, die von der nur gemalten Schrift über die rhythmisierte Prosa zum Gesang führt, der „aus fernster Vogel-Schau“ (JGB Nachgesang, KSA 5, S. 241) Themen und Motive von JGB 296 aufgreift und mit der Preisung „Oh Lebens Mittag!“ einsetzt – um schließlich, der Titel „Aus hohen Bergen“ hatte es schon angedeutet, den „Gast der Gäste“, Zarathustra selbst, anzukündigen. Mit diesem Rückgang auf den Mittag, vom Nachmittag des letzten Aphorismus herkommend, wird aber auch dessen Unabwendbarkeit zurückgenommen – ebenso wie die Unabwendbarkeit von Hegels Dämmerung, deren Monochromatik nur die fortgeschrittene Entwicklungsstufe der Nuancierung der chinesischen Malerei des Nachmittags von JGB 296 darstellt. Die Eule der Minerva ist nicht die einzig mögliche Form der Philosophie, aus Nietzsches Sicht sogar eine, die sich zu ihrem Schaden ganz der Zwangsläufigkeit der begrifflichen Reduktion ergibt und sich deshalb mit rechtschaffenen Wahrheiten statt schlimmer Gedanken begnügen muss. „Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!“ (JGB Nachgesang, KSA 5, S. 243) – die Sehnsucht nach dem Morgen und dem Ursprung aus JGB 296 und „Aus hohen Bergen“ kann allein von einer Philosophie eingelöst werden, die sich selbst von ihrem „Grau in Grau“ verabschiedet, und der Weg dahin führt zurück über den Mittag. Das Hegel-Zitat bricht gewöhnlich mit dem Flug der Minerva ab. Doch erst seine Fortsetzung und damit der Schluss von Hegels Vorrede lassen die ganze Tragweite von Nietzsches Alternative erkennen. Hegel schreibt: Doch es ist Zeit, dieses Vorwort zu schließen; als Vorwort kam ihm ohnehin nur zu, äußerlich und subjektiv von dem Standpunkt der Schrift, der es vorangeschickt ist, zu sprechen. Soll philosophisch von einem Inhalte gesprochen werden, so verträgt er nur eine wissenschaftliche, objektive Behandlung, wie denn auch dem Verfasser Widerrede anderer Art als eine wissenschaftliche Abhandlung der Sache selbst nur für ein subjektives Nachwort und beliebige Versicherung gelten und ihm gleichgültig sein muß. (Hegel 1996, S. 28)
Der Kontrast zu Nietzsche könnte schärfer nicht sein. Wo Hegel die Vorrede halb überflüssig erscheint, ließ sich bei Nietzsche eine Proliferation von Vor- und Nachworten feststellen. Diese Rekursivität hebt einerseits die strikte Linearität des Eulenflugs auf. Die Philosophie und mit ihr die „Gestalt des Lebens“ lässt sich – kontra Hegel – durchaus „verjüngen“, indem sie sich selbst immer wieder kommentiert. Vom Nachmittag der Gedanken in JGB 296 führt der direkte Weg nicht in die Dämmerung, sondern in den Mittag des Nachgesangs, der nur zeitlich ein Nach-Gesang ist, und als Gesang in seiner Eigenzeit das Nach außer Kraft setzt. „’s ist Zeit! ’s ist Zeit!“ (JGB Nachgesang, KSA 5, S. 240) lautet seine wieder-
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kehrende Botschaft: er definiert selbst die Zeit statt sich ihr zu unterwerfen. Der Bezug auf Hegel wird hier durch die Verwendung der grauen Farbe („des Gletschers Grau“ bzw. „des Abgrunds grausten Fernen“) noch plausibler. Andererseits widerspricht Nietzsches rekursive Verwendung von Vor- und Nachworten, in welcher Form sie auch gestaltet sein mögen, aufs Nachdrücklichste auch Hegels zweiter Hauptthese, wonach die Schrift nicht nur für sich allein zu sprechen habe, sondern jedes Nachwort als „subjektives“ abzulehnen ist, da es ihr nur „äußerlich“ sei. Nietzsche hingegen lässt die (letztlich cartesianische) Trennung nach innen und außen auch im Bereich des Textes nicht mehr zu. Dieser enthält schon immer seine eigene Philologie, die vom Leser zu entdecken ist, die aber auch Netze und Fallstricke bereit hält. Insbesondere aber lässt sich der Text nicht mehr auf die von Hegel avisierte Weise von seiner Subjektivität trennen, selbst nach dem Tod des Subjekts und der Subjektphilosophie, an der Nietzsche selbst ja nicht ganz unschuldig ist. Der Schlüsselbegriff in Nietzsches oben zitierter Nachlass-Sentenz lautete: Person. Das Persönliche wird für Nietzsche zur nicht hintergehbaren Voraussetzung menschlichen Denkens und Handelns überhaupt, zum Ursprung der Perspektiven, Interpretationen, Stile. So ist der Begriff der Person Ursache für die auf der Oberfläche von Texten zu beobachtenden Unterschiede in Ton oder Tempo. So erklärt sich die Personifizierung der Gedanken, die Nietzsche in JGB 296 von Anfang an vornimmt. Ihre Verlebendigung soll nicht auf Nietzsche als empirische Person verweisen, sondern auf das Persönliche als Bedingung seines Denkens. Auch und gerade nach der Abschaffung des Individuums als durchaus dividierbarer Kontur der Machtquanten sowie des Subjekts als Funktionsstelle im Gefüge der Metaphysik kann, bzw. muss diese Rolle erhalten bleiben. Jenseits von Gut und Böse beginnt im ersten Hauptstück mit einer Kritik am Subjektbegriff, an „Seele“ und „Wahrheit“. Es ist zugleich dasjenige Werk Nietzsches, in dem der Begriff der Person und der personae im Sinne des Maskenmotivs sowie des Persönlichen ihre deutlichste Kontur gewinnen. Eine Person ist dabei offenbar jene Instanz, die souverän über die Zeit verfügt, im Unterschied zum Subjekt (wörtlich das Unterliegende bzw. der Untertan), dessen Position und Funktion von Grammatik und Metaphysik auch temporal immer schon vorbestimmt sind. In der Artistik der Temporalität, wie sie die Musik und die synästhetische Formgebung in der rhythmisierten Sprache garantiert, stellt Nietzsche eine Verbindung zur Temporalität des Persönlichen her und beschreibt zugleich die temporale Fluidität der Persönlichkeit, die jedem statischen Subjektbegriff zuwiderläuft. Allein durch die rhythmische Formgebung macht sich der Mensch zum Herrn der Zeit, deren Sklave er sonst ist. Nur im adonischen Vers kann Nietzsche überhaupt noch Macht über seine „s c h l i m m e n Gedanken“ ausüben, sind sie überhaupt „seine“ schlimmen Gedanken. Der Über-
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gang zum Singen des Nachgesangs ist eine fortwährende Steigerung des Rhythmischen als erneuter Verflüssigung und damit Wiedergewinnung der gemalten und fixierten Gedanken auch in dem Sinne, dass sie nun auf eine persönliche Quelle zurückgeführt werden müssen, die sie temporalisiert und damit erst eigentlich wieder verlebendigt oder, mit Hegel, verjüngt hat. Aus dem Funken der Inspiration und dem Blitz der epiphanischen Erkenntnis werden das Gewitter und die Ruhe nach dem Sturm. Doch mithilfe des Rhythmisierens steigt JGB 296 aus der vorgegebenen Zeit aus und schafft einen eigenen Augenblick mit eigener temporaler Struktur. Das Problem der Unmöglichkeit, mittels Schrift als reiner Repräsentation zu kommunizieren, verbindet Nietzsche auf diese Weise mit der Aporie des Augenblicks, der im Moment seiner Fixierung bereits vergangen ist. Die synästhetische Textur des Denkens erlaubt ein immer wieder neues eigenes Erleben von Augenblicken (und jeder Aphorismus ist ein solcher Augenblick). So ist am Ende der Verlust seiner Herkunft zu verschmerzen, weil jeder erlebte Augenblick ein neuer Ursprung ist. Die geschriebenen und gemalten Gedanken Nietzsches, d. h. die Schrift – sie lässt sich am Ende retten, wenn sie nicht als Kode im Sinne einer Bedeutungstransmission missverstanden, sondern als Spur der Person aufgefasst wird. Dann wäre das Thema von JGB 296 nicht Kritik, sondern im Gegenteil Feier der Schrift. Die Person als Ausdruck dessen, „was nicht geschrieben werden kann“ (NL 1882, 3[1], KSA 10, S. 89), muss nicht unbedingt einheitsstiftend im Sinne des Subjekts sein. Das Persönlichste ist der Person selbst ein Rätsel – auch Nietzsche muss sich als „Nietzsche“ erraten. Für den Autor von JGB 296 ist zumindest die Erinnerung an die schlimmen Gedanken noch präsent. Die Schrift wird ihm zum Mittel, sie, nachdem sie vergangen sind, erneut zu evozieren und nach ihrer persönlichen Basis zu fragen.22 Die Schrift kann dies leisten, weil sie nicht länger mit der Aufgabe überfrachtet ist, schon selbst die Antwort zu sein. Das aber verlangt nach einem anderen, immer wieder neu zu erlernenden Umgang mit ihr. Jedes Werk, jeder Aphorismus bildet sein eigenes Idiom heraus, das wie eine Fremdsprache
22 In einem Brief an Josef Viktor Widmann vom 02.04.1888 hebt Nietzsche gerade für JGB den Ehrgeiz auf einen ganz eigenen Stil hervor. Jede Schrift schaffe „das Gesetz ihres Stils“ (KGB III/5, Bf. 985). In diesem Sinne ist unbedingt Rüdiger Görner zuzustimmen, der aus einer anderen Richtung zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt und Nietzsche in diesem Zusammenhang in eine Tradition der Stilauffassung stellt, die in der deutschen Literatur mit Johann Georg Hamann beginnt: „Im Stil verwirklicht sich die Eigenheit des Ichs; im Stil gewinnt das Ich seine spezifische sprachliche Gestalt; durch seinen Stil ‚hat‘ es sich und wird zum (partiellen) Eigner der Sprache.“ (Görner 2000, S. 180 f.) Das Ich darf hier naturgemäß nicht mit dem Begriff des Subjekts vertauscht werden. Die Hamann-Verbindung ist auch systematisch plausibel, da Hamann mit seiner Metakritik am Anfang einer neuen Konzeption von Sprache stand, die sie als bloßes Transportmedium von Bedeutungen infrage stellte.
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zu studieren wäre, von der wir noch nicht einmal wissen, ob ihre Schriftzeichen auch Laute transportieren23. Nietzsches Schrift als komplexe Notation von Rhythmen lesen zu lernen24 könnte ein erster, aber wichtiger Schritt sein, um dem Verwelken seiner Gedanken als geschriebenen und gemalten zuvorzukommen.
Literaturverzeichnis Benne, Christian (2002): „Orientalismus? Fontane, Nietzsche und die ‚gelbe Gefahr‘“. In: Arcadia 37:2, S. 217–246. Benne, Christian (2011): „Good cop, bad cop. Von der Wissenschaft des Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft“. In: Helmut Heit/Günter Abel/Marco Brusotti (Hrsg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Berlin, New York: De Gruyter, S. 187–212. Cicero, Marcus Tullius (1976): De oratore. Lateinisch/Deutsch. 2. Aufl. Hrsg. u. übers. v. Harald Merklin. Stuttgart: Reclam. [=De or.] Görner, Rüdiger (2000): Nietzsches Kunst. Annäherung an einen Denkartisten. Frankfurt am Main: Insel. Günther, Friederike Felicitas (2008): Rhythmus beim frühen Nietzsche. Berlin, New York: De Gruyter. Hegel, G.W.F. (1996): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hofmannsthal, Hugo von (1959): „Ein Brief“. In: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Frankfurt am Main: Fischer, S. 7–20. Kayser, Wolfgang (1946): Das sprachliche Kunstwerk. Bern: Francke. Lausberg, Heinrich (2008): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 4. Aufl. Stuttgart: Steiner. Martus, Steffen (2007): Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York: De Gruyter. Menninghaus, Winfried (2005): Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Meschonnic, Henri (1982): Critique du Rythme. Anthropologie historique du langage. Paris: Verdier. Nisbet, Robin (1990): „Cola and Clausulae in Cicero’s Speeches“. In: E.M. Craik (Hrsg.): „Owls to Athens“. Essays on Classical Subjects Presented to Sir Kenneth Dover. Oxford: Clarendon, S. 349–359. Platon (1984): Werke. In der Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Bd. I.1. Berlin: Akademie.
23 Inwieweit die chinesische Schrift, die ja eben keine Laute kodiert, für Nietzsches Überlegungen in JGB 296 eine Rolle gespielt hat, ist ungewiss. 24 Das gilt gerade für seinen Prosarhythmus. Wie freilich Nisbet 1990, S. 359 anmerkt, ist schon das Verständnis für den antiken Prosarhythmus, trotz seiner überragenden Bedeutung für die Kultur der Rhetorik, noch immer unterentwickelt. Hier ist noch echte Grundlagenforschung vonnöten.
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Christian Benne
Schiller, Friedrich (2004): Sämtliche Werke. Hrsg. v. Peter-André Alt, Albert Meier, Wolfgang Riedel. Bd. I. München: dtv. Schmid, Walter (1959): Über die klassische Theorie und Praxis des antiken Prosarhythmus: Stuttgart: Steiner. Wessels, Antje (2012): Formen der Sprache: Sprache der Form. Zu Ciceros Theorie des Prosarhythmus. Unveröffentl. Vortragsmanuskript. Wellbery, David E. (1984): Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge: Cambrigde University Press. Wieland, Wolfgang (1982): Platon und die Formen des Wissens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zittel, Claus (2000): Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Würzburg: Königshausen und Neumann.
Personenregister Abbey, Ruth 88, 104 Abel, Günter 16, 44, 139, 142, 185, 186, 199, 203, 321 Acampora, Christa Davis 77, 85, 125, 142, 189, 190, 203, 212, 214, 217, 221, 228 Adorno, Theodor W. 27 Alderman, Harold 279, 303 Anderson, Lanier R. 127, 142, 171, 185 Andreas-Salomé, Lou 30, 31, 94, 104, 137 Ansell-Pearson, Keith 77, 85, 105, 125, 142, 164, 186, 189, 190, 203, 212, 214, 217, 221, 226, 228 Bachofen, Johann Jakob 10, 191 ff., 195, 203 Bacon, Francis 7, 97 ff., 104 f. Balmer, Hans Peter 93, 104 Bataille, Georges 2, 15 Baumbach, Gerda 298, 303 Bedorf, Thomas 253, 257 Behler, Ernst 16, 44 Benjamin, Walter 27 Benne, Christian 13, 19, 25, 28, 44, 121, 130 f., 142, 177, 185, 310 f., 321 Binswanger, Ludwig 259, 278 Birbaumer, Ulf 303 Birnbacher, Dieter 186 Blanchot, Maurice 15 Bloch, Ernst 124 f., 142 Bobbio, Paolo Diego 217, 229 Boerner, Peter 204 Borges, Jorge Luis 71, 248 Born, Marcus Andreas 5, 15, 26, 31, 41, 44, 125, 142, 169, 170, 185 Bornmann, Fritz 25 f., 44 Braatz, Kurt 293, 296 f., 303 Bremer, Kai 18, 44 Brobjer, Thomas 141 f., 190, 198, 204 Brotbeck, Stefan 28, 44 Brusotti, Marco 12, 44, 185 f., 261, 264, 271, 274, 278, 321 Burckhardt, Jakob 10, 70, 191 ff., 195, 201 f., 204, 217, 229 Burnham, Douglas 39, 40, 44, 125, 134, 142, 175 f., 185, 189, 204, 212, 229, 293, 303
Campioni, Giuliano 142 Carlsson, Anni 279, 303 Cassirer, Ernst 193, 204 Caysa, Volker 46 Cicero, Marcus Tullius 79, 204, 236, 243, 312 f., 321 f. Clark, Maudemarie 92, 104, 126 f., 142, 168, 185 f. Colli, Giorgio IX, 3, 18, 20, 129 Constâncio, João 9, 44, 147 f., 163 f., 177 Conway, Daniel 227, 229 Croce, Benedetto 107, 122
D’Iorio, Paolo 130, 142 Danto, Arthur C. 16, 44 De la Torre, Alfredo Rocha 44, 185 De Man, Paul 3, 15, 44, 245 Dellinger, Jakob V, 9, 16, 36, 157, 165, 167, 169 ff., 177, 181, 186, 248, 310 Denant, Céline 24, 44 Derrida, Jacques 2 f., 14 f., 17, 21, 44, 143, 149, 164, 184, 186, 223 f., 229, 241 f., 245, 257 Detering, Heinrich 245, 257 Di Palma, Guido 303 Djurić, Mihailo 226 f., 229, 257 Dodds, Erich R. 252, 257 Doederlein, Ludwig 241 f. Donnellan, Brendan 93, 104 Dries, Manuel 208, 229 Drossbach, Maximilian 191, 197 ff., 204
Eigler, Günter 143 Endres, Martin 11 f., 16, 44, 177 f., 186
Faber, Marion 93, 104 Fietz, Rudolf 25 f., 44 Fornari, Maria Christina 18, 44, 142 Foucault, Michel 126, 204, 259, 278 Franco, Paul 90, 104 Frank, Manfred 23, 44 Fricke, Harald 14, 99, 100 f., 103, 110 Frisé, Adolf 229 Fronterotta, Francesco 142
324
Personenregister
Gabriel, Gottfried 242 Gadamer, Hans-Georg 8, 109 f., 113, 122 Ganz, Peter 229 Gemes, Ken 143 Georg, Jutta 44, 116, 122, 185 f., 257 Georges, Karl Ernst 241 f. Gerhardt, Volker IX, 16, 45 f., 143, 217, 229 f. Giuriato, Davide 18 f., 45 Godel, Rainer 111, 122 Gödde, Günter 254, 257 Gödel, Kurt 225 Görner, Rüdiger 320 f. Goethe, Johann Wolfgang von 10, 96, 192 f., 195, 204, 295 Gray, Richard T. 97, 105 Greiner, Bernhard 89, 105 Groddeck, Wolfram 18, 45, 138, 142 Gröschner, Alexander 229 Gründer, Karlfried 242 Günther, Friederike Felicitas 311, 321
Jäger, Ludwig 29, 45 Janaway, Christopher 92, 105, 164 Jaspers, Karl 88, 105, 218, 229 Jensen, Anthony 10, 143, 201, 203 f.
Haag, Simone 298 f., 303 Haase, Marie-Luise X, 20, 131, 142 Habermas, Jürgen 2, 5, 14, 222, 229 Hamacher, Werner 14, 44, 257, 284, 303 Häntzschel-Schlotke, Hiltrud 89, 105 Hartmann, Eduard von 79, 85, 190 Hatab, Lawrence 127 f., 143 Haverkamp, Anselm 250, 257 Hegel, G.W.F. 8, 123 ff., 133, 136, 141 ff., 185, 191, 209, 219, 223, 226, 238, 247, 317 ff., 320 f. Heidegger, Martin 1 f., 14, 16, 45, 110, 126, 165, 207, 221 ff., 226, 229, 259 Heit, Helmut 8 f., 44, 136, 143, 185 f., 196, 321 Heller, Lisa 143 Herold, Norbert 230 Higgins, Kathleen M. 45, 229 Hoffmann, David Marc 86 Hofmannsthal, Hugo von 316, 321 Horstmann, Rolf-Peter 32, 45, 164 Hüttler, Michael 303 Hussain, Nadeem 127, 143
Iwawaki-Riebel, Toyomi 291, 303
Kammer, Stephan 22, 45 Kant, Immanuel 36, 40, 110, 121 f., 126, 153, 156 f., 160, 162 f., 170, 219, 221, 223 f., 227, 237, 254, 271, 310, 317 Kaufmann, Walter 88 f., 99, 105, 280, 289, 303 Kayser, Wolfgang 313 Kierkegaard, Sören 255, 257 Kittler, Friedrich 44 Klages, Ludwig 271, 290 Knoche, Michael 142 Koegel, Fritz 85 Kofman, Sarah 2, 15 Kohlenbach, Michael X, 18, 45, 131, 142 Kripke, Saul 149, 163 Krummel, Richard Frank 76, 84 f.
Lampert, Laurence 39 f., 45, 77, 85, 125 f., 143, 176, 186, 212 f., 214, 217, 221, 229, 286 f., 293, 303 Lamprecht, Karl 193, 204 Langer, Daniela 15, 32, 45, 289, 297, 303 Lausberg, Heinrich 307, 321 Leiter, Brian 96, 105 Leuenberger, Michael 85 Lichtenberg, Georg Christoph 7, 36, 96 f., 105 Linz, Erika 45 Lipperheide, Christian 199, 204 Löwith, Karl 259, 278 Lomax, J. Harvey 77, 85 Lossi, Annamaria 7 f., 111, 122 Loukidelis, Nikolaos 36, 45, 107, 121 f., 204 Lüdeke, Roger 22, 45
Magnus, Bernd 15 f., 45 Marsden, Jill 87 f., 105 Martinez, Matias 35, 45 Martus, Steffen 305, 321 Mauthner, Fritz 295 f., 303 Mautner, Franz 87, 105 Mayer Branco, Maria João 44, 164 Meier-Oeser, Stephan 236 f., 244
325
Personenregister
Menninghaus, Winfried 314, 321 Meschonnic, Henri 311, 321 Metzger, Jeffrey 208, 229 Michelet, Karl Ludwig 143 Mileur, Jean-Pierre 15 f., 44 Montinari, Mazzino VII, 3, 18 f., 20, 45, 69, 129 ff., 135 ff., 143, 205, 264 Moore, Gregory 165, 186 Müller, Enrico 12, 245, 253, 257, 317 Müller-Buck, Renate 142 Müller Farguell, Roger W. 212, 229 Müller-Lauter, Wolfgang VII, 16, 18 f., 45, 126, 139, 143, 183 f., 186, 199, 204, 207, 232 f., 242, 271, 278 Musil, Robert 226, 229
Nancy, Jean-Luc 238, 242 Nehamas, Alexander 1, 14 f., 30, 35, 45, 91, 105, 212 f., 229 Neumann, Gerhard 97 f., 103, 105 Nisbet, Robin 321
Oliver, Kelly 93, 105 Orsucci, Andrea 142 Ottmann, Henning 44, 46, 206, 229 Overbeck, Franz 47, 50, 71 f., 74 f., 78, 80, 85, 88, 193, 202
Ritschl, Friedrich 70, 85 Ritter, Joachim 242 Röllin, Beat X, 6, 16, 18, 46, 52, 57, 60, 131, 135, 143, 167, 179, 186, 287, 305 Röttgers, Kurt 303 Rohde, Erwin 71 f., 85, 140 Roodt, Vasti 217, 228 ff. Rorty, Richard 24, 46, 222, 229 Roux, Wilhelm 138 f., 143, 165 Rupschus, Andreas 172, 186
Saar, Martin 198, 204 Sandbothe, Mike 229 Schaberg, William H. 75, 85, 90, 105 Schacht, Richard 126, 143, 171, 178, 186 Schaeder, Hans Heinrich 257 Schärf, Christian 221, 229 Scheffel, Michael 35, 45 Scheier, Claus-Artur 73, 85 Schiemann, Gregor 141, 143 Schiller, Friedrich 306 f., 322 Schmid, Walter 313, 322 Schmidt, Rüdiger 191, 199, 204 Schmitz-Emans, Monika 303 Schnädelbach, Herbert 135, 155 Schopenhauer, Arthur 9 f., 83, 94, 141, 145–164, 168, 170, 176 f., 191, 193, 207, 209 f., 223 f., 226, 310 Schubert, Corinna 12 f., 31, 34, 37, 46 Schulte, Joachim 143, 229 Schwarzwald, Konstanze 46 Sedlaczek, Markus 229 Shapshay, Sandra 157, 160, 164 Siemens, Hermann 29, 46, 205, 217, 226 ff., Simon, Josef 27, 46, 143, 227, 230, 247, 250, 257 Simonis, Linda 23, 46 Simson, Wojciech 30, 235, 242 Skowron, Michael 209, 230 Sloterdijk, Peter 222, 230 Solomon, Robert C. 24, 229 Sommer, Andreas Urs V, 6 f., 82, 85, 186, 215, 230 Southwell, Gareth 81, 85, 212, 230, 286, 294, 303 Spicker, Friedemann 97, 105 Stack, George J. 168, 187, 199, 204
Pasley, Malcolm 303 Passow, Franz 251, 257 Patzer, Andreas 85 Pautrat, Bernard 2, 15 Pichler, Axel 5, 15 f., 24, 26 f., 29, 44 f., 132 f., 143, 167, 177 f., 184, 186, 246, 257, 306 Platon 111, 123 ff., 127 f., 132, 141, 143, 210, 213, 217, 220, 222, 252 f., 298, 307 f., 317, 321 Porter, James I. 176, 186
Rahden, Wolfert von 198, 204 Reckermann, Alfons 15, 46 Rée, Paul 7, 94 f., 105, 190, 193 Renzi, Luca 19, 21, 26, 46 Reuß, Roland 18 f., 46 Richardson, John 143, 168, 186 Riebe, Thomas X Riedel, Wolfgang 259, 278, 322
326
Personenregister
Stegmaier, Werner 10 f., 15, 19 f., 28, 30 f., 46, 87, 91, 99, 102, 105, 108, 113, 122, 131 ff., 143, 148 f., 164, 172, 186, 198 f., 204, 206 f., 211, 213 ff., 220, 222, 230, 245, 257, 291, 303 Stern, Martin 45, 142 Stewart, Stanely 15 f., 45 Stockmar, René X, 60, 131, 143 Strauss, Leo 71, 77, 85 f., 110, 122, 126, 212 Strong, Tracy 84, 86
Vickers, Brian 99, 105 Vivarelli, Vivetta 279, 303
Weber, Jürgen 142 Wellbery, David E. 308, 322 Welshon, Rex 165, 187 Wessels, Antje 312, 322 Widmann, Josef Viktor 6, 74, 79, 81, 86, 320 Wieland, Wolfgang 308, 322 Wilcox, John T. 92 f., 105 Williams, William David 279, 303 Wirth, Uwe 18, 26, 44, 46 Wittgenstein, Ludwig 124, 143, 224 Wolf, Burkhardt 44 Wolf, Werner 27, 46 Wotling, Patrick 206, 216, 230
Tanner, Michael 72, 84, 86 Thüring, Hubert 22, 46 Tongeren, Paul van 19, 26, 29 f., 37, 40, 46, 125, 143, 178, 180, 182 ff., 187, 207 f., 212, 230, 251, 257, 287, 293 f., 297, 303 Treiber, Hubert 94, 105
Ulbricht, Justus 142 Ulmer, Karl 210 f., 215, 217, 230
Vattimo, Gianni 207, 279, 303 Vesey, Godfrey 86
Zanetti, Sandro 18 f., 45 Zibis, Alexander-Maria 183, 187 Ziegler, Ernst 229 Zittel, Claus 15, 17, 31, 44, 46, 116, 119, 122, 185 f., 257, 291, 303, 317, 322
Abbildungen
328
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 1 a: Transkription N VII 1, S. 106 (KGW IX/1).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 1 b: N VII 1, S. 106.
329
330
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 2 a: Transkription N VII 1, S. 21 (KGW IX/1).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 2 b: N VII 1, S. 21.
331
332
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 3 a: Transkription N VII 2, S. 58 (KGW IX/2).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 3 b: N VII 2, S. 58.
333
334
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 4 a: Transkription N VII 2, S. 57 (KGW IX/2).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 4 b: N VII 2, S. 57.
335
336
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 5 a: Transkription N VII 2, S. 123 (KGW IX/2).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 5 b: N VII 2, S. 123.
337
338
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 6 a: Transkription N VII 2, S. 124 (KGW IX/2).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 6 b: N VII 2, S. 124.
339
340
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 7 a: Transkription W I 6, S. 17 (KGW IX/4).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 7 b: W I 6, S. 17.
341
342
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 8 a: Transkription W I 6, S. 33 (KGW IX/4).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 8 b: W I 6, S. 33.
343
344
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 9 a: Transkription W I 7, S. 49 (KGW IX/4).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 9 b: W I 7, S. 49.
345
346
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 10 a: Transkription W I 8, S. 266 (KGW IX/4).
Hefte aus dem Nachlass 1885–1888
Abb. 10 b: W I 8, S. 266.
347
348
Druckmanuskript D 18
Abb. 11: DM JGB Vorrede/JGB 1, D 18, 1r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv]. Abb. 12: DM JGB 13. D 18, 10r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
Druckmanuskript D 18
Abb. 13: DM JGB 22. D 18, 14r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
Abb. 14: DM JGB 24. D 18, 16r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
349
350
Druckmanuskript D 18
Abb. 15: Auszug DM JGB 36. D 18, 22r. [= GSA 71/26, Goethe und Schiller-Archiv].
Abb. 16: Auszug DM JGB 186. D 18, 46r. [= GSA 71/26, Goethe und Schiller-Archiv].
Abb. 17: DM JGB 246. D 18, 82r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
Abb. 18: DM JGB 285. D 18, 100r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
Druckmanuskript D 18
351
Abb. 19: Titelblatt „Neuntes Hauptstück“. D 18, 88r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
Abb. 20: DM JGB 296. D 18, 104r. [= GSA 71/26, Goethe- und Schiller-Archiv].
352
Erstausgabe JGB
Abb. 21: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Leipzig: C.G. Naumann 1886, Ausschnitt S. 266. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo. Digitalisat_anzeigen&a_id=10084]