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German Pages 296 Year 2014
Rainer Guldin Politische Landschaften
Edition Kulturwissenschaft | Band 48
Rainer Guldin (Dr. phil.) ist Dozent für Deutsche Sprache und Kultur an der kommunikationswissenschaftlichen Fakultät der Università della Svizzera Italiana in Lugano, Schweiz.
Rainer Guldin
Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität
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Inhalt
Einführung | 7 Land und Leute Zum Verhältnis von Landschaft und Identität | 21 Felsenburg der Freiheit Die Alpen als Wall und Wasserschloss | 41 Hoher Himmel, enges Tal Wandlungen des alpinen Diskurses | 67 Das Herz der Finsternis Metamorphosen des Waldes | 95 Silvanismus und Saharismus Überlegungen zum Landschaftsvergleich | 123 Limes Metaphern der territorialen Trennung | 149 Graben und Band Landschaften als Modelle | 171 Patchwork Zusammengesetzte Landschaften | 195 Luftwurzeln Landschaften des Exils und der Migration | 215 Vom body politic zum body geographic Zur Entstehung der nationalen Landschaftsmetapher | 243 Literatur | 277 Abbildungen | 291
Man sollte sich Landschaft nicht als einen Gegenstand vorstellen, den man sehen kann oder als einen Text, den man lesen kann, sondern als einen Prozess, durch den soziale und subjektive Identitäten geschaffen werden. W.J.T. M ITCHELL
Einführung »The national landscape was discovered through collaboration between painters, authors, travellers, and political debaters. It was a process which transformed everyday natural scenes into ›homelands‹, charged with history and national symbolism.« O RVAR L ÖFGREN , Landscapes and Mindscapes
G IPFELSTÜRMER Vom 21. bis zum 24. Juli 1938 gelang zwei deutschen und zwei österreichischen Kletterern die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand. Die aus Österreich stammenden Alpinisten Fritz Kasparek und Heinrich Harrer waren am 21. Juli um zwei Uhr morgens aufgebrochen. Auf ihrem Weg zum ersten Biwak wurden sie noch vor Mittag von zwei weiteren Österreichern, den Wienern Rudi Fraißl und Leo Brankowsky, eingeholt, die jedoch bald darauf wegen einer Steinschlagverletzung den Rückzug antreten mussten. Wegen des Auftauchens der dritten Seilschaft beschlossen die beiden ebenfalls anwesenden Deutschen Andreas Heckmair und Ludwig Vörg, wieder umzukehren. Kasparek und Harrer kletterten allein weiter. Am frühen Nachmittag richteten sie ein zweites Biwak ein, wo sie die Nacht verbrachten. Da nun das Feld durch den Verzicht der beiden anderen Österreicher wieder frei war, entschied das deutsche Team, am frühen Morgen des 22. Juli erneut in die Wand einzusteigen. Sie holten die weniger gut ausgerüsteten und deshalb nur langsam vorankommenden Kasparek und Harrer gegen Mittag ein und übernahmen die Führung. Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht zogen die vier weiter und schlugen am 23. Juni knapp unter dem Gipfel ein drittes Biwak auf. Nach einer stürmischen Nacht und einem letzten dramatischen Augenblick erreichte die Seilschaft um 15:30 Uhr den Eiger-Gipfel. Schon 1936, anlässlich der Olympischen Spiele in München, hatte Hitler den Erstbesteigern der Eiger-Nordwand eine Goldmedaille zugesichert. Im Sommer 1938 begrüßte die deutsche Propaganda daher euphorisch die Anwesenheit deutscher und österreichischer Seilschaften am Fuß des Eigers, wurde
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doch ein gemeinsamer, erfolgreicher Aufstieg als ein willkommenes Symbol für den am 12. März 1938 stattgefundenen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich betrachtet. Hitler und der Deutsche Alpenverein sandten die obligaten Glückwünsche. Seyß-Inquart wollte in den erfolgreichen Gipfelstürmern das gesamte neu erwachte deutsche Volk sehen. »Wir wissen«, schrieb er am 27. Juli 1938 im Völkischen Beobachter, »sie kämpften nicht nur für persönlichen Ruhm, sondern auch für Ruhm und Geltung ihrer deutschen Heimat. [Sie] nahmen bewusst als Vertreter eines großen Volkes den Kampf mit der Eiger-Nordwand auf.«1 In der deutschen Berichterstattung prädominierten militaristische Metaphern. Angriff. Kampf. Dreitägiges Ringen. Bezwingung. Die Eiger-Nordwand war »unter dem kühnen Angriff von vier deutschen [sic!] Bergsteigern gefallen.«2 In einem Buch zur Erstbegehung der Eiger-Nordwand, welches aus der Sicht der NSDAP verfasst wurde, schrieb Harrer euphorisch: »Wir haben die Nordwand durchklettert über den Gipfel hinaus bis zu unserem Führer.«3 Hitler empfing die vier Bergsteiger und lobte den Erfolg als emblematisch für den Anschluss Österreichs an Deutschland und als Beweis für die Überlegenheit der deutschen Herrenrasse. Dabei ging es vor allem um das symbolträchtige »Zusammengehen der beiden Seilschaften«.4 Die vier Alpinisten hatten ihr Schicksal, wie zuvor die beiden Staaten, an ein einziges Seil gebunden. Den deutlich besser ausgerüsteten Deutschen5 kam dabei eine klare Führungsrolle zu. Deutschland hatte Österreich überholt und einverleibt. Im Nachhinein legten Heckmair und Harrer den Zusammenschluss der beiden Seilschaften auf unterschiedliche Momente fest. Nach Heckmair erfolgte er deutlich früher, für Harrer erst auf der Höhe der Eiswulst. Auf deutliche Unterschiede, was den Entschluss, gemeinsam weiterzuziehen, angeht, stößt man auch in den zwei Berichten Heckmairs, die 1938 bzw. 1949 erschienen. »Wir drückten uns herzlich die Hände und von diesem Moment an waren wir nur noch eine Seilschaft«, schreibt er noch linientreu in der früheren Fassung. Ganz anders klingt es dann 1949: »Ich machte sie darauf aufmerksam, daß sie bei diesem Tempo wenig Chancen hätten, durchzukommen und riet ihnen zum sofortigen Rückzug. […] Sollten wir an ihnen vorbei und weiter stürmen 1 | Zitiert in Ch. Quast, Die Wand der Wände – Ein Vergleich der Presseberichterstattung zur Eiger-Nordwand-Durchsteigung 1938, Grin 2002, S. 34. 2 | Zitiert in ebd., S. 33. 3 | Zitiert in R. Amstädter, Spinne. Hitler kletterte mit, in: Eiger. Die vertikale Arena, hg. von D. Anker, Zürich 2008, S. 223-224. 4 | Ebd., S. 223. 5 | »Heckmair und Vörg hatten die beste und neueste Ausrüstung, zum Beispiel auch zwölfzackige Steigeisen, während Kasparek nur zehnzackige hatte – und Harrer gar keine« (A. Heckmair, Austiegsrisse. Die Durchsteigung 1938, in: Eiger. Die vertikale Arena, hg. von D. Anker, Zürich 2008, S. 228).
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und die Kameraden ihrem Schicksal überlassen. Vörg, der weitaus gutmütigere von uns beiden, fand das erlösende Wort. ›Es ist wohl das Beste, wir schließen uns zusammen und bilden eine Seilschaft.‹«6 1935 war ein erster Versuch gescheitert und die beiden Gipfelstürmer, Max Sedlmayr und Karl Mehringer, bis an die Knie im Schnee steckend erfroren. Ein Jahr später misslang auf tragische Art und Weise auch ein zweiter Anlauf. Willy Angerer, Anderl Hinterstoißer, Toni Kurz und Edi Rainer sahen sich zur Rückkehr gezwungen, nachdem einer von ihnen durch einen Steinschlag verletzt worden war. Beim Abseilen stürzte Hinterstoißer ab, Angerer wurde durch das Seil erhängt und Rainer erfror. Toni Kurz blieb eine ganze Nacht in einer Seilschlinge hängen. Dabei erfror ihm ein Arm. Am Tag darauf konnte man ihn zwar ein weiteres Stück abseilen, aber nicht bergen. Er starb an Erschöpfung vor den Augen seiner Retter. Diesem zweiten Versuch hat der deutsche Regisseur Philipp Stölzl den Spielfilm Nordwand gewidmet, der 2008 in die Kinos kam. Stölzl, der in einem Fernsehinterview7 von Nordwand als einem MetaBergfilm spricht, welcher sich bewusst von der Ästhetik einer Leni Riefenstahl und eines Arnold Fanck absetzen möchte, hat das Bergdrama in den politischen Kontext seiner Zeit gestellt und der Vereinnahmung des Geschehens durch die Berichterstattung der Nazipresse eine wichtige Rolle eingeräumt, welche über das rein Dokumentarische hinausgeht. So erscheint Kurz’ Freundin Luise, die sich eigentlich in Berchtesgaden befand, als dieser starb, im Film zusammen mit dem nazitreuen Journalisten Arau, mit dem sie als Photographin über die erwartete Erstbesteigung berichten soll. Dadurch, dass er gerade das gescheiterte Unternehmen zum Thema genommen hat, und nicht die triumphalische Erstbesteigung von 1938, gelingt es Stölzl, den Riss sichtbar zu machen, der jeder ideologischen Vereinnahmung von Natur, jeder vereinfachenden metaphorischen Vermengung von Landschaft und Politik zugrunde liegt. Das hier angeführte Beispiel verdeutlicht auf exemplarische Art und Weise den dieser Arbeit vorangestellten Leitsatz: Landschaften sind weder einfache Gegebenheiten, die es gilt durch objektivierende Verfahren einzufangen, noch kodierte Texte, die es interpretierend zu lesen gilt, sondern sozial relevante Prozesse kollektiver und subjektiver Identitätshervorbringung. Ihnen haftet somit etwas Dynamisches, Performatives an. Das Wort landscape – schreibt W.J.T. Mitchell programmatisch im Vorwort zur ersten Auflage des 1994 erschienenen Sammelbandes Landscape and Power – soll dabei nicht als Substantiv, sondern als Verb verstanden werden, was zwar auf Englisch einleuchtet, auf Deutsch aber nicht möglich ist: to landscape, Landschaften erzeugen, hervorbringen. »The aim of this book«, so Mitchell, »is to change ›landscape‹ from a noun to
6 | Zitiert in ebd., S. 235. 7 | www.arte.tv/de/Willkommen/Videos-auf-ARTE-TV/2151166,CmC=2193570.html.
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a verb.«8 Auch François Walter bestimmt Landschaften als spezifische Formen der kulturellen Praxis, die aus einem Vorstellungssystem bestehen, das über das rein Ideologische hinausgeht, Entwurfcharakter besitzt, den Gebrauch von Handlungswissen voraussetzt und ein komplexes Gebilde aus Erinnerungen, Verhaltensweisen und Empfindungen darstellt.9 Landschaftsmetaphern, und darum geht es vor allem in diesem Buch, operieren in politischen Diskursen als Projektionsdispositive kollektiver und subjektiver Identitäten, dadurch dass sie vielfältige Brücken zwischen Gesellschaft, Landschaft und Mensch erstellen. Damit geht eine radikale Akzentverschiebung einher. Landschaften, ob es sich dabei nun um bestimmte bildhafte Landschaftsvorstellungen oder um spezifische begehbare Landschaftsausschnitte handelt, sind keine einfachen Gegebenheiten, sondern das Ergebnis eines eingreifenden, verändernden, selegierenden und sinngebenden Vorganges, der wiederum historischen und kulturellen Kontingenzen unterworfen ist. Orvar Löfgren spricht in diesem Zusammenhang von einem Kristallisationsprozess.10 Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht somit nicht nur die Erfassung der einzelnen Bestandteile eines gewissen Landschaftskonzeptes und deren Bezug zueinander, sondern auch die Art und Weise, wie diese zustande gekommen sind, sich entwickelt und gewirkt haben. Diese realitätskonstituierende und -verändernde Dimension, die in jeglichem Entwurf von kollektiven und subjektiven Landschaftsbildern zum Einsatz kommt, geht gerade wegen der Statik und Geschichtslosigkeit, die Bildern natürlicher Umgebungen tendenziell innewohnt, oft verloren und muss daher immer wieder betont werden. Dabei kommt einer historisch ausgerichteten, interkulturellen und zugleich kritischen Metaphorologie von politischen Landschaftsbildern eine zentrale Rolle zu. Diese versucht, den jeweiligen Entstehungsprozess und die wesentlichen Entwicklungsmomente von kollektiven Landschaftsmetaphern zu erarbeiten, in einen interkulturellen Kontext zu stellen, und zugleich der ambivalenten Kraft von Metaphern Rechnung zu tragen. Metaphern ermöglichen zwar einen neuen Blickwinkel auf schon Bekanntes, indem sie innovative Beziehungen zwischen getrennten Realitätsbereichen aufzeigen. Durch diese Hervorhebung und Betonung werden aber immer auch bestimmte Dimensionen ausgeblendet, d.h. es geht um eine intentionale Setzung von Ähnlichkeiten unter Ausblendung von Unterschieden. Die einzelnen Landschaftsmetaphern müssen daher stets auf ihre innere Kohäsion und Konsistenz geprüft werden. Was würde dies für das hier vorgestellte Beispiel bedeuten? Auffallend ist 8 | W.J.T. Mitchell, Landscape and Power, Chicago und London 2002, S. 1. 9 | Vgl. F. Walter, Das alpine Gebirge: ein ästhetisches und ideologisches Konzept auf gesamteuropäischer Ebene, in: Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2004-2006, hg. von H. Bernd, Göttingen 2007, S. 213-236. 10 | Vgl. O. Löfgren, Landscapes and Mindscapes, in: Folk 31, 1989, S. 203.
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zuerst einmal, wie an entscheidenden Stellen der Nacherzählung durch die nazitreuen Medien soziopolitische Ereignisse durch eine metaphorische Vermengung von Landschaft und Gesellschaft naturalisiert werden. So bemüht z.B. die ideologische Narration der Eiger-Erstbesteigung implizit den folgereichen bonum-ex-malo-Topos, der in dieser Arbeit mehrmals zur Sprache kommt. Dieser besagt, dass es gerade die Unwirtlichkeit der natürlichen Umgebung und die daraus hervorgehende Notwendigkeit, sich im Kampf dagegen durchzusetzen, sind, welche dafür sorgen, dass die sich dabei herausbildenden Identitäten besonders widerstandsfähig und zäh sind. Die Stärke der Bergsteiger spiegelt die Härte der Felsen. Der Aufstieg bringt felsenfeste Menschen hervor. Die individuellen Bedürfnisse werden dabei dem kollektiven Wohl geopfert. Der durch das Ziel herausgeforderte Schulterschluss der vier Alpinisten kommt dem kollektivistischen Ideal der Nazis entgegen. Wichtig ist zudem die aufsteigende Bewegung, die Mensch und Landschaft zusätzlich aneinander bindet. Der Weg nach oben zum Gipfel hin, dem religiöse Konnotationen nicht abzusprechen sind – wobei hier die meditative Suche Gottes in ein militärisches Kampfmotiv umgedeutet wird –, wird als Weg zum Führer beschrieben. Dadurch wird zugleich ein erstes entscheidendes hierarchisches Moment eingeführt, eine wesentliche Ergänzung zum hervorgehobenen kameradschaftlichen Mythos einer im Kampf erreichten Gleichheit. Dieses Moment der Vertikalität scheint fast natürlich aus dem geographischen Setting und dem Eroberungsversuch des Berges hervorzugehen. Die Erstbesteigung des Eigers bemüht dieselbe göttliche Ikonographie, der man zu Beginn von Leni Riefenstahls Triumph des Willens begegnen kann. Diesmal aber ist es nicht der aus den Wolken herabsteigende Führer, sondern das zu ihm im Kampf sich emporringende Volk, welches im Mittelpunkt der Handlung steht. Ein weiteres zentrales Moment ist die schon erwähnte Verbindung zum Anschluss Österreichs an das Dritte Reich. In der ideologischen Nacherzählung wird der Einmarsch deutscher Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten in Österreich und die darauf folgende De-facto-Annexion des Landes in einen neuen Kontext gestellt, der es erlaubt, die Motive und Methoden des Zusammenschlusses mit dem schwächeren Staat durch das bevorstehende Ziel zu motivieren und anhand der technischen Überlegenheit des deutschen Teams zu begründen. Hier schließt sich ein weiteres bedeutsames Motiv der nationalsozialistischen Ideologie an: die enge Verbindung eines zutiefst archaischen und eines hochmodernen Aspektes, der Kampf gegen die elementaren Naturgewalten und der gleichzeitige Einsatz modernster Klettertechnik, der nackte sturmgepeitschte Fels, die technische Aufrüstung des deutschen Teams und der dadurch erzwungene endgültige Sieg in der Materialschlacht. Die Erzählung schmilzt alle diese Elemente in eine einheitliche Geschichte ein, bei der die Widersprüche ausgeblendet und kameradschaftliche Verbrüderung vor dem Hintergrund einer zutiefst hierarchischen Gesellschaft beschworen werden.
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I MAGINIERTE L ANDSCHAF TEN Ein zweiter theoretischer Ausgangspunkt dieser Arbeit ist Benedict Andersons Konzept der ›imagined communities‹11 im Zusammenhang mit der Herausbildung nationaler Gebilde im Laufe des 19. Jahrhunderts. Wie Philipp Sarasin festhält, definiert Anderson Nationen als vorgestellte politische Gemeinschaften, die begrenzt und souverän sind. Die eigentlichen Vorstellungsinhalte spielen in seiner Argumentation jedoch keine wesentliche Rolle. Dies hat zur Folge, dass Anderson nicht das Imaginäre untersucht, »sondern das Symbolische: die leeren symbolischen Formen und die Medien der Nation«12, in seinem Falle die Druckerzeugnisse, d.h. Bücher und Zeitungen. Dieser diskursiv-mediale Ansatz verhindert, dass landschaftliche Phänomene überhaupt erst in den Blickwinkel der Untersuchung geraten. Durch die Schaffung einer nationalen Sprache, die Erfindung einer Ursprungslegende und die Errichtung einer nationalen Erinnerungskultur wird die Erstellung eines homogenisierten Feldes der nationalen Zeit möglich. Diesem zeitlichen Feld entspricht dabei immer auch ein räumliches. »Dass eine durchgängige Grenze zur Schaffung eines einheitlichen Territoriums den nationalen Raum homogen macht, ist eine dazu parallele Bewegung.«13 Das Bemerkenswerte an diesem doppelten Prozess ist, dass die Konstitution einer Nation und einer Landschaft und die daraus resultierende Homogenisierung des abgegrenzten Raumes von einem formalen Standpunkt aus betrachtet weitgehend homolog ist. Anderson geht ebenfalls auf die Funktion von Grenzen bei der Errichtung nationaler Fiktionen ein. Er unterscheidet dabei zwischen territorialen Grenzen und Grenzen zwischen Klassen, Ethnien und Rassen. Bei der Herstellung von nationalen Landschaften werden nun genau diese Grenzen zugunsten der ersten aufgehoben. Die Einheit des nationalen Territoriums und die Landschaft, welche diese harmonisch verkörpert, lassen die inneren sozialen, kulturellen und politischen Spannungen und Konflikte verschwinden. Medien wiederum materialisieren diese Prozesse, was dazu führt, dass »die vorgestellte Welt sichtbar im Alltagsleben verwurzelt ist.«14 Anderson meint damit die Tatsache, dass dieselben Zeitungen von verschiedenen Menschen an unterschiedlichen Orten gelesen werden und sich diese parallelen Leseerfahrungen gegenseitig bestätigen. Nationale Landschaften besitzen aber, viel eher noch als geschriebene Worte, diese Funktion der alltäglichen Sichtbarkeit. So schreibt beispielsweise 11 | Vgl. B. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006. 12 | Ph. Sarasin, Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ›imagined communities‹, in: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 157. 13 | Ebd., S. 158. 14 | Ebd., S. 158.
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Elias Canetti über die Gipfel der Schweizer Berge, die in ihrer Zahl und Unterschiedlichkeit die mehrsprachige föderative Struktur des Lands darstellen, sie seien von überall her sichtbar. Gerade wegen ihrer Sichtbarkeit und Begehbarkeit kommen Landschaften eine Konkretheit und Evidenz zu, die Texten abgeht. Es ist nun auffallend, dass die Erfindung nationaler Formationen im europäischen Raum immer wieder auf bestimmte metaphorisch und metonymisch damit verknüpfte Landschaftstypologien zurückgeführt wurde, als ginge es dabei darum, dem doch eher im Abstrakten verbleibenden Entwurf kollektiv imaginierten Zusammenlebens eine natürliche landschaftliche Basis nachzuliefern. »Die Nation«, schreibt Walter, »sei lediglich als diskursive Formation anzusehen. Sie stelle eine narrative Form mit Textstrategien, metaphorischen Veränderungen und bildlichen Kunstgriffen dar. […] Was Anderson jedoch nicht bedenkt, ist die Möglichkeit, dass die Landschaft, für die er sich nicht sonderlich interessiert, gleichwohl eine solche Erscheinungsform der Nation sein könnte.«15 Arjun Appadurai16, der in seiner Darstellung möglicher Formen postnationaler Identitäten auf Andersons Begriff der ›imagined communities‹ zurückgreift, geht ebenfalls von der zentralen Bedeutung des Medialen gegenüber der landschaftlich-räumlichen Dimension aus. Dabei müsste aber auch bei der gegenwärtigen Überwindung und Auflösung des Nationalen – wie bei dessen Entstehung – nach der Funktion und dem möglichen Verbleib landschaftlicher Konzepte gefragt werden. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist dabei die Verbindung von Politik und Ästhetik. So spricht Jean-Yves Guiomar17 von der Nation als Gestalt einer weitgehend ästhetisierten Natur: Das Land als politische Einheit mit seinen territorialen Grenzen wird in der Vorstellung einer nationalen Landschaft zu einem ästhetischen Gebilde umgeformt. Gerade wegen des Ursprungs des europäischen Landschaftsbegriffs in der Malerei sind Nationallandschaften zuerst einmal Formen der Ästhetisierung von Natur.18 Über die Konstitution einer harmonischen, in sich stimmigen Landschaft gelingt es den einzelnen Nationen, sich als wohlproportioniertes zusammenhängendes Ganzes vorzustellen, um dann in einem zweiten Schritt diese erträumte Einheit auch gegen innere Widersprüche im Sozialen und Politischen durchzusetzen.
15 | Walter, Das alpine Gebirge, S. 222. 16 | Vgl. A. Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 2010. 17 | J.-Y. Guiomar, La nation entre l’histoire et la raison, Paris 1990. 18 | Vgl. dazu F. Walter, Lieux, paysages, espaces. Les perceptions de la montagne alpine du XVIIIe siècle à nos jours, in: Itinera, Fasc. 12, 1992, S. 24.
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Bei der Herausbildung nationaler Landschaften kommt eine Reihe diskursiver Mechanismen zum Zuge, denen man auch im breiteren Zusammenhang der Nationenbildung begegnen kann. So weist Wolfgang Kaschuba darauf hin, dass schon Benedict Anderson in Anlehnung an Max Weber ein Moment der Wiederverzauberung hervorhebt, das die »Profanisierung von Weltbildern im späten 18. und im 19. Jahrhundert« durch neue »mythische Qualitäten« zu überwinden trachtete. Kaschuba führt den raschen und universellen Erfolg nationaler Diskurse auf die rapide Verbreitung alltäglicher Formen der Praxis zurück. »Mein Eindruck ist, daß […] während des 19. Jahrhunderts […] Facetten der Alltagskultur allmählich eine gleichsam nationalistische Imprägnierung erfuhren [und] ideologische Konstruktion und kulturelle Praxis zu kollektiven wie individuellen Mustern ›nationalen Lebens‹ verschmolzen. […] Indem sich ›nationales Denken‹ so zu einer sozial und emotional gestaltbaren Praxis entwickelte, vermochte es tatsächlich ›Identität‹ zu stiften. Es entwarf feste politische und räumliche Horizonte […], die integrativ wirkten, da sie Sicherheit, Bindung und Gemeinschaft versprachen.«19 [Herv. d. Verf.]
Dazu bedurfte es »kultischer Elemente, um die nationale Teleologie wirksam werden zu lassen.«20 Diese kultischen Elemente der Wiederverzauberung, von denen Kaschuba spricht, waren für die Konstitution nationaler Landschaftsmetaphern von zentraler Bedeutung. Naturkult und Vaterlandskult konvergierten dabei in einem Moment der Ästhetisierung des Politischen, das vom »ideologische[n] Großhorizont der Nation […] auf kleinere, lebensweltliche Horizontausschnitte rückprojiziert wurde. Das große nationale Bekenntnis ließ sich in kleinen Alltagsgesten demonstrativ-bekenntnishaft nachvollziehen.«21 François Walter hat in einem kürzlich erschienenen Buch, das den provokativen Titel La Suisse. Au-delà du paysage – Die Schweiz. Jenseits der Landschaft – trägt, auf diese Verbindung in Zusammenhang mit der Herausbildung der Schweiz als nationales Gebilde im Laufe des 19. Jahrhunderts hingewiesen. Walter geht es in seinem Buch auch darum, auf den verbergenden Charakter landschaftlicher Zuweisungen hinzudeuten, verstellen doch nationale Landschaften oft erfolgreich den Blick auf andere wesentliche Momente einer Nation. Im Laufe dieses ästhetisierenden Prozesses wird auch die Bevölkerung in Analogie zur Landschaft als ein zusammenhängendes Ganzes gedacht, wodurch wesentliche soziokulturelle Elemente der Heterogenität ausgeschie19 | W. Kaschuba, Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ›nationaler‹ Alltagswelt, in: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, hg. von E. François, H. Siegrist und J. Vogel, Göttingen 1995, S. 292. 20 | Ebd., S. 292. 21 | Ebd., S. 293.
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den werden. Das für die zweite Nationalausstellung in Genf entworfene Village Suisse ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür. Dass die Suche nach nationalen Landschaften ein gesamteuropäisches Phänomen war, hat Anne-Marie Thiesse22 hervorgehoben. Thiesse geht dabei von einer Differenzthese aus, die besagt, dass die Wahl der jeweiligen nationalen Landschaft in Abgrenzung von anderen Nationen stattfand. So schreibt auch Orvar Löfgren: »In the same way as national identity is constructed through contrasts, the making of national scenery is profiled against the choices of national landscapes in other nations.«23 Bei der Wahl nationaler Landschaft geht es in der Regel um pittoreske Landschaften, in denen der Mensch und seine Arbeit nicht erscheinen. In dieser Landschaft gibt es zwar Spuren menschlicher Arbeit, diese verweisen aber weitgehend auf vorindustrielle Aktivitäten, auf Bauern, Hirten, Jäger. Die Landschaft, auch die national inspirierte, kommt in der Moderne weitgehend den Sehnsüchten einer verlorenen Welt entgegen, sie entschädigt für die wachsende Urbanisierung und Industrialisierung und deren verheerende Folgen, die gerade im 19. Jahrhundert besonders deutlich spürbar waren. Diese erfundene Landschaft steht für Tradition und Geschichte, für eine untergegangene Welt. In den Vorstellungen nationaler Landschaften wurden daher häufig jahrhundertelange kulturelle Traditionen eingearbeitet. Nationale Landschaften kombinierten oft stereotype Elemente, denen man auch in der Landschaftsmalerei der Zeit begegnen kann. »Die Ausarbeitung einer nationalen Landschaft ist […] ein kollektives Unterfangen, das sowohl von Dichtern und Schriftstellern, wie auch von Malern vorangetrieben wird: die landschaftliche Beschreibung nimmt einen wichtigen Platz in der Literatur des 19. Jahrhunderts ein. Alle wählen aus […] aufgrund einer kohärenten Ästhetik […]. Wie genau aber kann man die Landschaft bestimmen, die zugleich Emblem und Resümee einer Nation ist? Wie soll man zwischen Berg und Ebene, Meer, See oder Fluss, Wald oder Heide wählen, in Anbetracht der Tatsache, dass mehrere Länder über die ganze Palette oder wenigstens einen bedeutenden Teil davon verfügen? Dabei kommt oft ein Prinzip der Differentiation zum Zuge.« 24 [Übers. d. Verf.]
Auf dieses wichtige Moment in der Herausbildung nationaler Kulturen hat auch Kaschuba hingewiesen, der in diesem Zusammenhang ganz allgemein von einem »symbolischen Wettbewerb der Nationen« spricht, der weit über das rein Landschaftliche hinausgeht. Der enorme Erfolg symbolischer Formen der nationalen Selbstdarstellung gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat 22 | Vgl. A.-M. Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIe-XXe siècle, Paris 1999, S. 185-190. 23 | Löfgren, Landscapes and Mindscapes, S. 201. 24 | Thiesse, La création des identités nationales, S. 187.
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auch damit zu tun, dass »der europäische Diskurs der ›Vaterländer‹ ganz allgemein zu einer Konkurrenz nationaler Repräsentationsformen [führte], die das ›Eigene‹ formen und modellieren, indem sie es vom ›Anderen‹ abgrenzen, es dem ›Fremden‹ gegenüberstellen.«25 So entschied sich Norwegen, das erst 1905 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, für den schneeweißen, tief ausgeschnittenen Fjord, auch weil dieser sich deutlich von den weiten grasbewachsenen Ebenen des früheren dänischen und den grünen Wäldern des späteren schwedischen Machthabers absetzte. Ungarn, das ebenfalls über Berge und Hügel verfügt, entschied sich für die weite Ebene der Puszta, auch weil diese in deutlichstem Gegensatz zu den österreichischen Alpen steht, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zusammen mit der Donau als repräsentative Landschaften propagiert wurden.26 In literarischen Texten wurde die Puszta als grenzenloses kontinentales Meer und Ort der Freiheit besungen. In Russland, wo man zuerst versucht hatte, dem Alpenmodell zu entsprechen, setzte man in einem zweiten Moment ebenfalls bewusst auf die Weite der endlosen russischen Ebenen. Diese Hervorhebung landschaftlicher Eigenartigkeit spielt auch in dieser Arbeit eine wichtige Rolle. Die Wahl einer bestimmten nationalen Landschaft unterliegt aber nicht nur einem Prinzip der Differenz. Wie noch zu zeigen sein wird, geht die Wahl in vielen Fällen auf eine jahrhundertealte Tradition zurück, wobei die historische Tiefe ein weiteres wesentliches Argument für deren herausragende Bedeutung mitliefert. Dies gilt z.B. für den deutschen Wald oder die Schweizer Alpen, die schon um 1500 von Humanisten und Protestanten mit ähnlicher protonationaler Absicht verwendet wurden.
E INE M E TAPHOROLOGIE POLITISCHER L ANDSCHAF TEN François Walter hat 2004 mit Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (XVIe-XXe siècle) ein umfassendes Werk vorgelegt, in dem er den nationalen Landschaftsdiskurs zum ersten Mal in einen gesamteuropäischen Zusammenhang stellt.27 Dadurch werden erstaunliche Kontinuitäten und aufschlussreiche Brüche sichtbar. Der theoretische Schwerpunkt liegt dabei auf einer Integration des Politischen und Diskursiven mit einer Untersuchung ver25 | Kaschuba, Die Nation als Körper, S. 294. 26 | Vgl. R. Albert, La grande plaine hongroise, symbole national. Genèse d’un imaginaire XVIIIe-XXe siècles, in: R.-M. Lagrave, Villes et campagnes en Hongrie XVIe-XXe siècles, Budapest 1999, S. 11-35. Ungarns Aufwertung der Ebene gegenüber dem Gebirge ist auch als radikale Abgrenzung vom ästhetischen Modell der Alpen zu lesen (vgl. dazu Walter, Das alpine Gebirge, S. 227). 27 | F. Walter, Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (XVIe-XXe siècle), Paris 2004.
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schiedener Formen landschaftlicher Praxis. Walter kritisiert die Reduktion von Landschaften auf ein rein diskursives textuelles Phänomen und liegt damit in unmittelbarer Nähe zur theoretischen Position eines W.J.T. Mitchell, der ebenfalls auf die entscheidende Bedeutung eines produktiven Moments hinweist. Als weitere mögliche theoretisch fruchtbare Fragestellung erwähnt Walter den Versuch, »Landschaft als ein Gebilde aus Metaphern zu begreifen«,28 und verweist dabei auf Simon Schamas 1995 erschienenes Buch Landscape and Memory. Schamas Interesse gilt zwar landschaftlichen Metaphern, sein Ansatz ist aber weitgehend durch eine materielle Typologie bestimmt, bei der die politische Dimension keine wesentliche Rolle spielt. So beschäftigt er sich vor allem mit Holz, Wasser und Felsen und den damit verbundenen Landschaften, den Wäldern, den Gewässern und den Gebirgen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Versuch, die theoretischen Vorschläge Mitchells, Schamas und Walters aufzunehmen, miteinander zu kombinieren und weiterzudenken. So werden hier Landschaften zwar im Sinne Schamas als Gebilde von Metaphern verstanden, aber in einem eminent politischen Sinn gedeutet und auf ihre Fähigkeit hin befragt, subjektive und kollektive Identitäten hervorzubringen. Schamas Buch besteht aus vier Hauptteilen, die jeweilig einem bestimmten Material zugeordnet werden, und verläuft vom Holz über das Wasser zum Stein. Der vierte Teil führt die drei Elemente abschließend noch einmal zusammen. Der stofflichen Dreiteilung Schamas – die hier leicht umgestellt wurde, damit die Gesamterzählung vom Festen zum Flüssigen verläuft – wurde noch das Element der Luft hinzugefügt, welches nicht nur eine ganz andere Perspektive ermöglicht, sondern auch dazu dient, die Metaphern der Verhärtung und Verdichtung durch ein Konzept der Verzettelung und Auflösung infrage zu stellen. Der im Laufe des 20. und vor allem zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzogene Abschied von nationalen Landschaftskonzepten und die damit einhergehende Auflösung umfassender Gewissheiten wird durch das hier gewählte Narrativ ergänzt. Schließlich wurde auf den gesamteuropäischen, mehrere Jahrhunderte umfassenden Blick Walters verzichtet. Stattdessen wurde ein ganz spezifischer kultureller und zeitlicher Rahmen gewählt, um eine umfassendere systematische Aufarbeitung verschiedener Landschaftsmetaphern zu ermöglichen und so etwas wie eine Typologie politischer Landschaftsmetaphern zu erarbeiten.
Z UM A UFBAU DES B UCHES Das Buch besteht aus zehn Kapiteln, in denen ein dreifaches Ziel verfolgt wird: eine Rekonstruktion imaginärer politischer Landschaften innerhalb des deut28 | Walter, Das alpine Gebirge, S. 223.
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schen Sprachraums vom frühen 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, wobei eine ganze Reihe unterschiedlicher Varianten durchgespielt werden soll, nicht nur affirmative, sondern auch kritische Diskurse, die sich gegen nationale Verengungen und Vereinfachungen wenden; die Entwicklung einer möglichen Metaphorologie politischer Landschaften; und schließlich ein Versuch, Landschaften als kognitive Interpretationsmodelle soziopolitischer Zusammenhänge zu verstehen. Die einzelnen Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden, verfolgen in ihrer Abfolge aber eine ideologiekritische Narration, die auf zwei parallelen Ebenen vorangetrieben wird, zuerst einmal die schon im Zusammenhang mit Schama erwähnte Ebene der Materialität, die vom Harten und Festen zum Flüssigen, Ephemeren und Formlosen führt, von Gebirgen und Felsen über Wälder und Flüsse, hin zu boden- und wurzellosen Luftgebilden. Hinzu kommt die Frage nach der territorialen Eindeutigkeit und Integration der unterschiedlichen landschaftlichen Teile, aus denen nationale Landschaften trotz aller behaupteten Homogenität bestehen. Dieser zweite Aspekt, der den ersten ergänzt, bedingt einen Textverlauf, der von monolithisch einheitlichen zu mehrteiligen und schließlich zu grundsätzlich zusammengesetzten Landschaftstypen führt. Dadurch ergibt sich eine Kritik stabiler monolithischer Landschaftstypen allein schon aus der Abfolge der einzelnen Kapitel. Das erste Kapitel, Land und Leute: Zum Verhältnis von Landschaft und Identität entwickelt einen Teil der theoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit, die sich einem dynamischen und triadischen Verständnis von Landschaft verpflichtet fühlt, und rekonstruiert, kontrastiv dazu, anhand dreier Beispiele wesentliche Momente der deutschsprachigen Diskurse zur Formation und Bedeutung nationaler Landschaften, die weitgehend im Zeichen essentialistischer Zuschreibungen steht: Johann Jakob Scheuchzers Konzept des homo alpinus, Willy Hellpachs Begriff der ›Geopsyche‹ sowie Ewald Banses ›Seelenlandschaft‹ und die ideologische Konstruktion des Salzkammerguts als Sinnbild eines harmonisch-sozial versöhnten Österreichs. Die beiden folgenden Kapitel Felsenburg der Freiheit: Die Alpen als Wall und Wasserschloss und Hoher Himmel, enges Tal: Wandlungen des alpinen Diskurses sind der Bedeutung nationaler Landschaften in der Schweiz und deren Kritik gewidmet. Zwei komplementäre und konträre Metaphern bestimmen die Schweizer Tradition: die Alpen als schützendes Festungswerk und als multikultureller Mittelpunkt Europas. Die Vorstellung einer inselhaften, bunkerähnlichen Schweiz wurde aus Schweizer Perspektive mehrfach infrage gestellt. Zentrale kritische Metaphern in diesem Zusammenhang sind Enge, Erosion und Explosion. Das Herz der Finsternis: Metamorphosen des Waldes rekonstruiert die Bedeutung des deutschen Waldes anhand dreier verschiedener, miteinander ver-
Einführung
bundener Metaphern. Der Wald ist ein Kräftereservoir, eine Kathedrale und ein Sinnbild des Heeres. Das Kapitel Silvanismus und Saharismus: Überlegungen zum Landschaftsvergleich verfolgt ein zweifaches Ziel. Es leuchtet einen weiteren Aspekt des deutschen Waldes aus, der in verschiedenen historischen Kontexten der Wüste gegenübergestellt wurde. Darüber hinaus führt es von der ersten Kapitelgruppe, die einer einzigen einheitlichen Landschaft gewidmet ist, zu einer mehrteiligen Konzeption von Landschaft, die in den folgenden Kapiteln weitergedacht wird. Landschaftskonzeptionen werden oft im Vergleich von unterschiedlichen Landschaften entwickelt. Der Wald verweist auf die Wüste, der Berg auf das Meer. Dieser Gedanke wird in Limes: Metaphern der territorialen Trennung anhand der Vorstellung einer Nord-Süd- und einer Ost-West-Achse diskutiert. Die OstWest-Gegenüberstellung artikuliert nicht nur ein radikales kulturelles Gefälle, dem man auch bei der Nord-Süd-Achse begegnet, es wird zudem durch einen landschaftlichen Gegensatz ausgedrückt: denjenigen von Wald und Steppe. Im Kapitel Graben und Band: Landschaften als Modelle29 geht es einerseits um die Bedeutung von Flüssen – in diesem Falle den Vergleich von Rhein und Donau, der die Ost-West-Gegenüberstellung wieder aufnimmt –, andererseits soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Landschaften als Modelle verwendet werden. Das nächste Kapitel Patchwork: Zusammengesetzte Landschaften führt das Prinzip der landschaftlichen Fragmentierung und Auflösung weiter. Der heterogene Entwurf der Donaumonarchie als mehrteilige Landschaft am Fluss macht darauf aufmerksam, dass alle Landschaften, auch die monolithischen, letztlich zusammengesetzte und im Nachhinein harmonisierte Gebilde darstellen. Luftwurzeln: Landschaften des Exils und der Migration markiert einen radikalen Gegenentwurf zur Ausgangsposition, der in sich geschlossenen monolithischen Landschaft. Die Vorstellung einer bodenlosen und wurzellosen Existenz, die von den in urbanen Milieus lebenden Juden schon um 1900 verkörpert wurde, erweist sich im Zeitalter der Globalisierung als modellhafte zukunftsweisende Existenzform. In diesem verwandelten Kontext spielen transnationale diasporische Identitäten eine zentrale Rolle. Arjun Appadurai, der in seinem theoretischen Ansatz Anderson mit Bourdieu und Jameson verbindet, spricht von »postnational locations« und Identitäten, die sich nunmehr in räumlich deterritorialisierten Zusammenhängen herausbilden. Damit sind 29 | Dieses Kapitel ist die stark überarbeitete Fassung eines schon publizierten Textes: R. Guldin, Trennender Graben und verbindendes Band. Zur topografischen Ambivalenz von Flüssen, in: Die Erzählung der Landschaft, hg. von D.A. Binder, H. Konrad und E.G. Staudinger, Wien 2011, S. 19-33.
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zwar eindeutige homogene territoriale Zuordnungen nationaler Zugehörigkeit obsolet geworden. Diese sind aber noch lange nicht von der politischen Bühne abgetreten. Ganz im Gegenteil: Im Zeichen zunehmender Globalisierung kann man eine Rekrudeszenz geopolitischer Argumentationen feststellen. Man vergleiche dazu die Politik bestimmter europäischer Parteien, allen voran die französische Front National oder die italienische Lega padana. Durch die Einführung dieses letzten Kapitels soll auch versucht werden, eine theoretische Lücke zu schließen, auf die Jon Mathieu kürzlich hingewiesen hat. »Mit seinem politischen und gesamteuropäischen Ansatz zeigt Walter eindrücklich, wie die Beziehung zur Umwelt von Formen der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit geprägt wird […] Weniger ausführlich als die Entstehung und den Höhepunkt der national induzierten ›figures paysagères‹ behandelt Walter deren schnellen Abgang in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.«30 Das letzte Kapitel, Vom body politic zum body geographic. Zur Entstehung der nationalen Landschaftsmetapher, das unter Umständen auch zuerst gelesen werden kann, liefert einige weitere theoretische Überlegungen nach und schlägt eine Deutungsmöglichkeit vor, welche die politischen Landschaftsformen der Nation als eine Weiterentwicklung der um 1800 weitgehend obsolet gewordenen Körpermetapher des Staates versteht. Dabei dient die Metapher des Landschaftskörpers, die auch in der Anthropogeographie eines Friedrich Ratzel eine Rolle spielte, als theoretische Brücke. An dieser Stelle möchte ich noch all jenen danken, die an der Entstehung dieses Buches in irgendeiner Form beteiligt waren: Norbert Fischer, Jon Mathieu, Albrecht Lehmann, Barbara Piatti, Martin J. Eppler, Stefanie Krebs, Nicolas Berg, Benjamin Steininger, Stefan Zimmermann, Johannes Stückelberger, Reto Furer, Dirk Michael Hennrich, Miriam Volmert und Hansjörg Küster. Mein Dank geht auch an Nunzio F. Canova von der Bibliothek der Università della Svizzera Italiana in Lugano, Schweiz, und an die Studierenden des Kurses Cultura e scrittura tedesca an der Kommunikationswissenschaftlichen Fakultät für die anregenden und bereichernden Diskussionen: Maria Buser, Silvia Canova, Isabella Indino, Stéphanie Biollaz, Muharem Rusiti, Samuel Righetti, Cristina Morisoli, Carolina Brömmel, Davide Guzzetti, Nathalie Nussbaumer, Melanie Bader, Priscilla Frommann, Andreas Oster und Andrea Elena Heiniger. Lugano, Februar 2014
30 | J. Mathieu, Landschaftsgeschichte global, Wahrnehmung und Bedeutung von Bergen im Internationalen Austausch des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: SZG/RSH/RSS 60, 2010, Nr. 4, S. 413.
Land und Leute Zum Verhältnis von Landschaft und Identität
»Jede Rasse hat sich in einer bestimmten Landschaft gebildet, die nach Landform, Bewachsung und Klima die Menschenart so gestaltet hat, daß sie in dieser Landschaft ihre beste Entwicklung erreicht. Wandert diese Rasse in ein Gebiet ähnlicher Ausstattung, so wird sie […] nicht mehr ihre höchstmögliche Entfaltung erreichen.« EWALD B ANSE , Landschaft und Seele
In diesem Kapitel geht es um die Frage der Darstellungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Landschaft und Identität im Zeichen nationaler Diskurse vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dies soll anhand von drei ausgewählten Beispielen geleistet werden, bei denen eine Gleichsetzung von Land und Leuten angestrebt wird: Johann Jakob Scheuchzers Konzept des homo alpinus aus dem frühen 18. Jahrhundert und dessen Wiederaufnahme im frühen 20. Jahrhundert, Willy Hellpachs ›Geopsyche‹ und Ewald Banses ›Seelenlandschaft‹ und schließlich die im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgte Konstruktion der Steiermark als Sinnbild eines heterogenen, aber harmonisch versöhnten Österreichs. Damit sind zugleich die drei wesentlichen nationalen Landschaftsvorstellungen angesprochen, um die es in dieser Arbeit geht. Darüber hinaus soll die Spezifizität des deutschsprachigen Diskurses zum Verhältnis von Landschaft und Identität in Hinblick auf den gesamteuropäischen Kontext herausgearbeitet werden. Diese besteht wohl, besonders was die Tradition Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert angeht, in der Privilegierung des Bodens gegenüber anderen Komponenten, wie z.B. dem Klima und dem Wetter. Bevor die einzelnen Beispiele und deren Relevanz für das Verhältnis von Land und Leute diskutiert werden, möchte ich auf die Problematik dualer Ansätze eingehen und kurz so etwas wie eine theoretische Alternative skizzieren.
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F ÜR EINE INTERKULTURELLE TRIADISCHE L ANDSCHAF TSTHEORIE Landschaften sind von Kultur zu Kultur verschieden. So hat es nicht immer ›Landschaft‹ gegeben. Zu diesem Zweck hat Augustin Berque eine Reihe von Kriterien1 bestimmt, die erfüllt werden müssen, damit man überhaupt von so etwas wie ›Landschaft‹ sprechen kann: Man muss über ein oder mehrere Wörter verfügen, die Landschaft bedeuten; es braucht eine Literatur, die Landschaft beschreibt; hinzu kommen noch bildhafte Darstellungen von Landschaft und schließlich braucht man Anlagen und Parks, wo man lustwandeln kann. Man muss Landschaft beschreiben, abbilden und körperlich erleben können.2 Für die hier gewählte metaphorologische Perspektive sind besonders der zweite und dritte Punkt von Bedeutung. Was den interkulturellen Aspekt von Landschaft angeht, der aufgrund der hier getroffenen Auswahl deutschsprachiger Beispiel gezwungenermaßen zu kurz kommt, habe ich im Laufe der Arbeit, wo es möglich war, versucht, die nationalen Landschaftskonzepte einander gegenüberzustellen und aneinander zu testen. Das Hauptproblem bei jeder Diskussion des Verhältnisses von Landschaft und Identität ist die Versuchung einer dualistischen Perspektive, die einer gewissen Landschaft einen ebenso gestalteten Menschentypus zur Seite stellt, als ob die beiden Komponenten durch ein essentialistisches Gesetz der Konsubstantialität untrennbar aneinander gekettet wären. Dies gilt besonders für die nationalistisch inspirierten Diskurse, die im Laufe dieser Arbeit diskutiert werden. Land und Leute werden dabei simplifizierend ineinander gespiegelt. Schon die alliterative Wiederholung des Anfangsbuchstabens ist hier Programm. Die Gefahr eines einfachen Dualismus ergibt sich auch bei kritischen Diskursen, die auf die vereinfachende ideologische Verbrämung von Landschaft und Gesellschaft hinweisen, dabei aber die Komplexität des Verhältnisses unterschätzen. Einem Beispiel für diese zweite Form begegnet man in den marxistisch inspirierten Arbeiten von Denis Cosgrove und Stephen Daniels.3 Landschaft wird hier simplifizierend Geschichte gegenübergestellt. Problematisch ist vor allem das vereinfachende Verständnis von Landschaft als bloßes ideologisches Konstrukt.
1 | Vgl. A. Berque, Douter du paysage, in: Cinq propositions pour une théorie du paysage, hg. von A. Berque, Seyssel 1994, S. 16. 2 | Wenn man diese Kriterien rigoros einsetzt, ist der Begriff ›Landschaft‹ eigentlich nur im chinesischen und europäischen Kulturkreis aufzufinden. 3 | Vgl. dazu z.B. D. Cosgrove, Social Formation and Symbolic Landscape, London 1984 sowie D. Cosgrove/S. Daniels, (Hg.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments, Cambridge 1988.
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Claude Reichler4 schlägt anstelle einfacher Dualismen ein Prinzip der Triangulation vor, das auf die Arbeiten Augustin Berques zurückgeht.5 Reichler geht auf drei mögliche Perspektiven auf das Phänomen Landschaft ein und diskutiert, was diese unterschiedlichen Blickwinkel zugleich enthüllen und verhüllen. Die drei Momente definieren darüber hinaus unterschiedliche einander beeinflussende Diskursformen: eine naturwissenschaftliche geologischgeographische, eine soziokulturelle und eine phänomenologische subjektbezogene Perspektive. Dabei sind in diesem Zusammenhang vor allem die letzten beiden Perspektiven von Bedeutung: die kulturalistische und die phänomenologische Sicht von Landschaft. Die vor allem vom Visuellen abhängige kulturalistische Perspektive bestimmt Landschaft als Form der Verkünstlichung, die durch Herausbildung eines bedeutungsvollen Ausschnitts zustande kommt.6 Der Vorrang der Sichtbarkeit und des Blicks, der mangelnde Hinweis auf subjektive Formen der Wahrnehmung und des Erlebens von Landschaften und auf so etwas wie Eigenständigkeit von Natur sind die theoretischen Schwachstellen dieses Ansatzes. Die zweite Perspektive, die sich im Gegensatz zur ersten artikuliert, ist eine phänomenologische. Landschaft wird hier als umfassende körperliche Erfahrungen bestimmt.7 Natürliche Phänomene besitzen eine Appellstruktur, die durch Affekte, Erinnerungsmomente und die Einbildungskraft besetzt werden wollen. Natur ist nie vollständig Kultur und andererseits nie ganz objektivierbar. Obwohl gerade diese Dimension, wenn es um die Beziehung von Landschaft und Identität geht, von besonderer Relevanz ist, fehlt das Moment der geschichtlichen und gesellschaftlichen Prägung, d.h. die Vorstellung, dass Landschaft eine kulturgeschichtlich und geographisch allgemeinverbindliche Größe ist. Bei der dritten Perspektive, dem biologischphysikalischen Ansatz schließlich besteht das Problem in der verkürzenden Objektivierung. Landschaften sind nie einfach da. Landschaften sind immer Ausdruck von Beziehungen. Aus dieser dreifachen Kritik leitet Reichler die Notwendigkeit eines integrierten Ansatzes ab. Eine umfassende Landschaftstheorie müsste die biologisch-physikalische Seite von Natur, die kulturellen, geschichtlichen und subjektiven Momente integrieren. Natur, Gesellschaft und Individuum sind die drei miteinander interagierenden Spitzen eines Dreiecks. Dadurch würde 4 | Vgl. C. Reichler, Entdeckung einer Landschaft. Reisende, Schriftsteller, Künstler und ihre Alpen, Zürich 2005, S. 28-33. 5 | Vgl. dazu A. Berque, Médiance, de milieux en paysages, Paris 2000, La pensée paysagère, Paris 2008 sowie Cosmophanie et paysage moderne, in: Paysage et modernité(s), hg. von A. Begré und M. Collot, Bruxelles 2007, S. 42-65. 6 | S.u. Vom body politic zum body geographic. 7 | Zu einer Beschreibung der ganzkörperlichen Wahrnehmung von Landschaft vgl. Reichler, Entdeckung einer Landschaft, S. 106ff.
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die Privilegierung eines einziges Terminus oder einer Zweierbeziehung verhindert. Jeder Dualismus müsste sich der Perspektive des dritten Terminus stellen und könnte von dort her ausgehebelt werden. Augustin Berque hat für diese triadische Vorstellung den Begriff der médiance – Weltbezug, Weltverhältnis – geprägt, ein Neologismus, der für die Geographie das sein soll, was historicité – Geschichtlichkeit – für die Geschichte darstellt. Landschaft ist ein Verhältnis des natürlichen Raumes zum Menschen und dieser wiederum Teil eines bestimmten geschichtlichen und kulturell geprägten Kollektivs. Landschaften erschließen sich einer Person, korrespondieren mit kulturellen Schemata und rufen Gefühle der Zugehörigkeit hervor. Reichler entwickelt in seiner Beschreibung des Modells der Schweizer Alpen den Begriff der ›absoluten Landschaft‹.8 Die médiance der Schweizer Alpen bestimmt er als ein heroisches und pastorales Weltverhältnis, das zugleich ein Paradigma der Antimoderne artikuliert. Das Besondere an der médiance der Alpenlandschaft, der schlüssigen Beschreibung ihrer triadischen Struktur, ist, dass das Verhältnis der drei Ebenen – Gesellschaft, Natur und Individuum – in einem Idealstand der vollkommenen gegenseitigen Entsprechung zum Ausdruck kommt. Von daher ließe sich auch deren breite Wirkung im gesamteuropäischen Raum des industrialisierten und urbanisierten 19. und 20. Jahrhunderts erklären. Die Alpen stehen für den Mythos einer Gesellschaft außerhalb der Geschichte, einen ursprünglichen Zustand, der vom allgemeinen technischen und ökonomischen Wandel noch nicht berührt wurde. Und gerade diese Landschaft soll den modernen nationalen Staat repräsentieren und legitimieren. Ein ähnlicher Gegensatz lässt sich auch für die anderen hier beschriebenen nationalen Landschaften feststellen. Die Alpenlandschaft entsteht aus dem Zusammenhang von drei Elementen: dem Ideal der dörflichen Gemeinschaft, der unberührten Natur und dem Ich als Empfindung und Gefühl. Damit sind die drei Momente des Dreiecks angesprochen: Gesellschaft, Natur und Individuum. In dieser absoluten Landschaft fließen die Ebenen ineinander. Obwohl sie aus vielen verschiedenen Orten besteht, wird sie von einem einzigen Weltverhältnis bestimmt. Die verschiedensten Orte können dabei dieselbe médiance verkörpern: Der Thunersee, die Juratäler und das Saanetal stehen für die gesamten Alpen. In einer absoluten Landschaft kann zudem jede der drei Komponenten für sich in Anspruch nehmen, das Ganze der Landschaft zu widerspiegeln. Keiner der drei Ansatzpunkte – der phänomenologische, der gesellschaftlich-kulturelle oder biologisch-physikalische – hat den anderen gegenüber den Vorrang, »unter der Voraussetzung freilich, dass der jeweilige Ansatzpunkt offen für die anderen wie fürs Ganze ist.« Reichler nennt die absolute Landschaft auch eine fraktale Landschaft. Die einzelnen Seiten des gleichseitigen Dreiecks lassen sich nach 8 | Vgl. ebd., S. 135-180.
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gewissen Regeln unterteilen, wobei jeder Abschnitt wiederum unendlich viele neue Dreiecke bildet. Das fraktale Prinzip der Selbstähnlichkeit lässt sich anhand von Sanddünen veranschaulichen: Eine Sanddüne steht für die gesamte Sahara. »Das bedeutet demzufolge, dass ein Teil die gleiche Struktur haben kann wie das Ganze, dass das Ganze in einem Detail wahrgenommen werden kann und umgekehrt, und weiter, dass die Details das Ganze repräsentieren. Ein Detail hat nicht weniger Wert als ein x-beliebiges anderes oder als das Ganze.«9 Absolute Landschaften, wie die Schweizer Alpen, weisen daher eine extreme innere Kohärenz auf. Der Einklang der einzelnen Ebenen – die Einrichtungen der Menschen und die geographischen Gegebenheiten –, den Germaine de Staël an einer Stelle ihres 1810 fertiggestellten De L’Allemagne treffend in der Metapher des Echos10 eingefangen hatte, wird von Reichler für den Fall der Schweizer Alpen als Ideal angeführt. In einer absoluten Landschaft müssen alle drei Skalen vorhanden sein, miteinander verknüpft werden und in einer Beziehung der wechselseitigen Repräsentation zueinander stehen. Fehlt eine Seite, so leidet das Dreieck an Unausgewogenheit, »dann treten unvermeidlich die Charakteristika nicht in gleicher Reinheit [sic!] auf.«11 Damit scheint die Anpassung der einzelnen Ebenen aneinander zugleich so etwas wie ein theoretisches Ideal darzustellen. Reichler widmet der politischen Dimension der absoluten Landschaft ein ganzes Kapitel,12 worin er zeigt, wie entscheidend die soziale Dimension bei der Wahrnehmung einer Landschaft ist. Er führt neben befürwortenden, auch kritische Stimmen an. Auf eine davon möchte ich näher eingehen. Der venezianische Adelige Léopold de Curti beschreibt in seinen Lettres sur la Suisse aus dem Jahr 1797 die Landsgemeinde von Stans, an der er 1791 teilgenommen hatte.13 De Curtis Blick ist skeptisch, er trennt das Politische von der Landschaft und entzieht dadurch einer Rhetorik der Erhabenheit den Boden. Die drei Formen des Erhabenen, die Majestät der Berge, die Freiheit und die natürliche Beredsamkeit der Teilnehmer werden dadurch auseinandergesprengt. »Mit seiner Kritik legt de Curti letztlich die Axt an den Mythos der Alpen. Er dekonstruiert das in der Landschaft gründende Dreieck und lehnt es ab, sich auf den Sinn der médiance, des Weltverhältnisses, einzulassen [sic!], den die früheren Reisenden formuliert hatten.«14 Auch in anderen Reisebeschreibungen der Zeit wird die absolute Landschaft außer Kraft gesetzt. Dadurch dass 9 | Ebd., S. 171-2. 10 | Vgl. ebd., S. 215. 11 | Ebd., S. 181. 12 | Vgl. ebd., S. 181-219. 13 | Ebd., S. 198ff. 14 | Ebd., S. 203.
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man den Zusammenhang von Landschaft und Mensch aufkündigt, zerfällt die postulierte Einheit in Bruchstücke. Trotz dissonanter Stimmen wird man den Verdacht nicht los, dass der Begriff der absoluten Landschaft, so wie ihn Reichler umschreibt, letztlich keine kritische Sicht zulässt. Dasselbe gilt für Berques Begriff der médiance, der in einem weitgehend harmonisierenden Sinne ausgelegt wird. Aus der hier gewählten Perspektive einer kritischen politischen Metaphorologie von Landschaften stellt sich daher die Frage, ob der Begriff der absoluten Landschaft, so wie ihn Claude Reichler ausgearbeitet hat, nicht Gefahr läuft, vom rein Deskriptiven ins Affirmative zu kippen. Warum aber soll Landschaft dazu verwendet werden, so etwas wie innere Stimmigkeit vorzuexerzieren? Warum soll nicht das Offene und Fragmentarische gepflegt werden, gerade in Anbetracht der ideologischen Funktionen von Landschaft? Anstelle eines echoartigen Gleichklanges der unterschiedlichen Ebenen möchte ich hier daher den dissonanten Chor der Stimmen zum Ausdruck kommen lassen. Das triadische Konzept, welches Landschaft, Gesellschaft und Individuum als Spitzen eines Dreiecks versteht, soll hier dazu verwendet werden, die ideologische Gleichschaltung von Mensch, Gesellschaft und Natur zu sprengen. Obwohl die drei Standpunkte auch paarweise untersucht werden können, muss dabei stets das dritte ergänzende und vermittelnde Moment hinzugedacht werden. So ist das Verhältnis eines bestimmten historisch determinierbaren kollektiven und individuellen Subjekts zu einer als ideal definierten Landschaft nie ohne soziokulturelle Vermittlung denkbar. Aufgabe des dritten Moments ist es somit, einfache duale Entsprechungen zu hinterfragen und als ideologisch aufzulösen. Wie sich zeigen wird, kommt gerade im Zusammenhang der nationalen Diskurse, welche ein essentialistisches idealtypisches Verhältnis von kollektivem Subjekt und einer analog dazu gedachten Landschaft postulieren, dem dritten Moment eine heilsame ideologiekritische Funktion zu: Die duale Verengung kann dadurch in ihrer Konstruiertheit erst sichtbar gemacht und aufgelöst werden. Es soll also nicht nach dem einfachen Verhältnis von Land und Leuten gefragt werden, nach einfachen Analogien von einem gewissen Menschentypus und einer dazugehörenden Landschaft, sondern nach den soziokulturellen und historischen Voraussetzungen dieses Konstrukts. Um es mit W.J.T. Mitchell zu sagen: Es geht darum, zu zeigen, wie Landschaften dazu verwendet werden, soziale und subjektive Identitäten zu schaffen, und wie das Verhältnis von Landschaft und Gesellschaft wiederum auf das Individuum zurückschlägt. Landschaften sind in dieser Konzeption nicht Substantive, sondern Verben, nicht statische, in sich verharrende geschichtslose Gebilde, sondern dynamische Prozesse. Nach diesen einführenden Betrachtungen möchte ich nun auf die drei ausgewählten Beispiele eingehen.
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J OHANN J AKOB S CHEUCHZERS HOMO ALPINUS Im 16. und 17. Jahrhundert15 ging man im Allgemeinen davon aus, dass die Alpen einen monströsen Überrest der von Gott als Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen verordneten Sintflut darstellten, und die Menschen dort wie Tiere dahinvegetierten. Scheuchzer entwickelte im frühen 18. Jahrhundert konträr dazu eine Sintfluttheorie, die Mensch und Natur in einem neuen, positiv konnotierten Sinn zusammenschweißt. »Die Sintflut wiederholt die Schöpfung. Die seitdem vorhandenen Naturmängel sind keine Verschlechterungen, im Gegenteil: sie bringen – bonum-ex-malo – das Gute erst hervor.« Dadurch wird der Mensch »als solcher selbst mit in die Natur hineingenommen. Denn – so die Annahme – die Natur des Menschen ist zumindest teilweise das Produkt seiner natürlichen Umwelt.«16 Scheuchzers geoklimatische Theorie versuchte zugleich, eine Antwort auf die im 18. Jahrhundert umstrittene Frage zu geben, welchen Einfluss die Umwelt auf die Natur des Menschen hatte. Scheuchzers Ansatz kombiniert naturwissenschaftliche Neugier, patriotischen Impetus und Bibelfrömmigkeit. Er geht von der Vorstellung einer providentiellen Naturharmonie und einer damit zusammenhängenden Präformationstheorie aus, die besagt, dass Menschen so geformt sind, dass sie auf das Klima, in dem sie leben, bestens abgestimmt sind. Zugleich geht er aber davon aus, dass auch die klimatischen Aspekte, die geographische Lage, die Bodenbeschaffenheit, die Luft- und Lichtverhältnisse, ja sogar die Ernährung eine wesentliche Rolle spielen. In einem Sitzungsprotokoll aus dem Jahr 1701 fügt er noch die Luft und die Ernährung hinzu: »Nach dem Sündfluth war nur eine, des Noae, famille, und gleichwol haben alle von hihro herstammende nationes, so verschiedene Characteres, welche nach undersezung göttlicher kraft und providenz der lufft, speisen, climati, lebensart meistens zuzuschreiben sein.« In den Natur=Geschichten von 1707 hält er fest, dass die Sitten sich nach der Beschaffenheit des Leibes richten und dass diese »der Natur/oder Art der Länderen/welche wir Menschen bewohnen«17 entspricht. Die jeweilige natürliche Umgebung prägt somit die physische Konstitution – Hautfarbe, Leibeskräfte und Körpergröße –, die Sitten und Gebräuche, die moralischen Vorstellungen, aber auch die kognitiven Fähigkeiten und selbst das politische System, wobei sich die einzelnen Aspekte zu einem stimmigen widerspruchsfreien monoli15 | 1680 erschien Thomas Burnets Telluris Theoria Sacra, in der die Vorstellung entwickelt wurde, die Welt sei von Gott in schöner und regelmäßiger Form geschaffen worden. Diese habe sich aber durch die Sintflut zu ihrer heutigen hässlichen Form verändert. Dabei seien gerade Felsen und Berge die am stärksten deformierten Landschaftsformen. 16 | M. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung: Johann Jakob Scheuchzer (16721733), Epfendorf 2003, S. 275. 17 | Zitiert in ebd., S. 286.
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thischen Ganzen ordnen. Die Schweiz liegt zwischen Pol und Äquator auf dem gemäßigten Breitengrad und der Schweizer genießt aufgrund der gebirgigen Höhe die subtilste beste Luft aller europäischen Völker. Wie Kempe festhält, dienten die Charakterisierungen von verschiedenen Völkern aus unterschiedlichen Kontinenten letztlich »nur als Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund Scheuchzer […] eine Art Alpenanthropologie entfaltete, die den Titel trug: ›Von den Schweizerischen Leibs= und Gemüths Beschaffenheit/Lebensart/ Sitte/sc.‹ […] Mit der These der Völkergenese aufgrund von Klimaeinflüssen wurde der Mensch des Postdiluviums naturgeschichtlich historisiert und die Menschheitsgeschichte damit zugleich naturalisiert.«18 Scheuchzer umriss in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine soziokulturelle Gestalt, die später homo alpinus bezeichnet werden sollte. Der Alpenmensch, dessen Wesen sich aus der alpinen Natur ableiten ließ, wurde im Laufe des Jahrhunderts zu einer beliebten Projektionsfigur, die mit dem edlen Wilden aus Amerika in eins gesehen wurde. 1703 formulierte er die Kernthese zum homo alpinus helveticus, welche Land und Leute zusammenführte. »Die einwohner der alpen sein gesunde, starcke leuthe, als welche genießen eine reine luft, cristalllauters wasser, einfache mehlspeisen.«19 Scheuchzers Alpenanthropologie, welche die bonum-ex-malo-Denkfigur bemüht, geht von einer physikalischen Luftdrucktheorie aus. Die Alpen befinden sich genau im Mittelpunkt der gemäßigten europäischen Klimazone, dort wo die Luft am dünnsten ist und der geringe Außendruck die Zirkulation der Luftteilchen in den Blutbahnen am wenigsten behindert. Dies führt dazu, dass gerade in alpinen Regionen die allgemeine Zirkulation des Blutes und der übrigen Körpersäfte ungehindert und frei vonstattengehen kann und dass die unnützen und überflüssigen Teilchen problemlos ausgeschieden werden können. Aus diesem Grund besitzen die Schweizer gesunde, große und starke Körper und verfügen über einen hellen Verstand. Scheuchzer benützt seine Luftdrucktheorie auch zur Erklärung des Phänomens Heimweh. Er bezieht sich dabei indirekt auf die 1705 vom Rostocker Mediziner Georg Detharding formulierte Hypothese, dass die Luft der Schweizer Alpen grob und daher ungesund sei. Wenn nun Schweizer ihre Heimat verließen und in die Ebene abstiegen, litten sie unter der Krankheit Heimweh, weil sie sich nicht an die feinere, dünnere und gesündere Luft der Niederungen gewöhnen konnten. In Scheuchzers Vorstellung werden diese Zuschreibungen umgekehrt. Wenn Bergbewohner gezwungen waren, ihr angestamm18 | Ebd., S. 287-8. 19 | Zitiert in Th. Maissen, Die Bedeutung der Alpen für die Schweizergeschichte von Albrecht Bonstetten (ca. 1442/43-1504/05) bis Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733), in: Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, hg. von S. Boscani Leoni, Basel 2010, S. 174.
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tes Territorium zu verlassen und das Flachland aufzusuchen, so behinderte der höhere Luftdruck die Zirkulation des Blutes im Körperinnern. Die sich noch dort befindliche reinere und dünnere Luft der Höhen konnte den plötzlich angestiegenen Druckverhältnissen nicht standhalten. Der an Heimweh Erkrankte musste sofort wieder nach Hause zurückkehren, damit er nicht an den Folgen der veränderten Umgebung starb. Eine mögliche Zwischenlösung besteht für Scheuchzer darin, sofort einen höher gelegenen Ort, wie z.B. einen naheliegenden Berg oder einen Turm, aufzusuchen. Zum niedrigeren Luftdruck der gebirgigen Höhen gesellen sich der karge steinige Boden der Berge, welcher die Menschen zu strenger Arbeit zwingt, und die gesunde Ernährungsweise. Die Vitalität der Bergbewohner und ihre überdurchschnittliche Lebenserwartung haben mit dem regelmäßigen Konsum von Milchspeisen und Früchten zu tun. Die raue Gebirgsnatur bestimmt ebenfalls die moralische Grundhaltung. Die langen Arbeitstage lenken vom Laster ab und verhindern den Müßiggang und stärken dadurch Moral und Tugend. Der homo alpinus war mehr wild als zahm, sittsam, stark, fleißig, kämpferisch, gesund, geduldig und gutmütig. Kempe spricht von einer mehrstufigen isomorphen strukturellen Analogie zwischen den verschiedenen Ebenen: der deskriptiven, faktischen und der präskriptiven. Scheuchzer stellte das Verhältnis von Mensch und Natur auf die Basis einer umfassenden geoklimatischen Theorie und dies genau zu einem Zeitpunkt, als das Fremdbild der Schweiz sich langsam wandelte. Die immer noch schwer zugänglichen Alpen konnten dadurch zum Lebensraum eines mitten im Herzen Europas lebenden edlen Wilden werden. Scheuchzers Entwurf eines freiheitlichen Alpenwilden stellt somit eine wichtige Schnittstelle im europäischen, nationalistisch inspirierten landschaftlichen Diskurs dar. Ein letzter und in diesem Zusammenhang fundamentaler Aspekt ist Scheuchzers Bestimmung des Alpenraums als idealen Ort der Demokratie. Scheuchzers Ansatz, der eine naturhistorische mit einer naturtheologischen Komponente verbindet, begründet den »aufklärerischen Topos der sittsamen Republikaner in den Bergen.«20 Sein Verständnis von Politik fußte auf dem Naturrecht, so wie er es aus den Vorträgen des späteren Bürgermeisters von Zürich Johann Kaspar Escher kennengelernt hatte: Nach dem Sündenfall sahen sich die Menschen aufgrund ihrer natürlichen Verfasstheit dazu veranlasst, sich in politischen Gemeinschaften zu organisieren, die ursprünglich demokratisch ausgerichtet waren. Aus dieser Vorstellung einer ursprünglichen natürlichen Demokratie leitet Scheuchzer auch das Recht auf Widerstand ab. Diese Vorstellung übertrug er auf die Gebirgswelt der Schweiz. In den Gebirgskantonen der Schweiz ließ sich eine unmittelbare Nähe zum status naturalis nachweisen. Dadurch wurde ein Zirkelschluss hergestellt, der die Demokratie als natürliche 20 | Ebd., S. 173.
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Staatsform der Alpenregion bestimmte und die Schweiz wiederum zum Ideal eines demokratischen Naturstaates machte: »Zu Ury, Schweitz, Unterwalden, Zug, Glarus, Appenzell, Pündten, allwo die democratia regiret, hat das Volk, bey deme originaliter der höchste gewalt stehet, denselben beybehalten, und darvon am wenigsten übergehen. Da sizet die freyheit annoch auf dem thron: eine jede Gemeind ist frey, ganze länder und pündt, so aus jenen freyen gemeinden zusammengesezet werden, sind frey; ja ein und jeder Landsmann ist frey.«21 Die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit der Alpenbewohner, die ein Leben führen, das demjenigen kurz nach der Sintflut entspricht, artikuliert einen antiabsolutistischen antihöfischen Reformdiskurs: Einfachheit statt Geziertheit, Armut statt Luxus, Freiheit statt Repression. Die Demokratie ist die natürliche Staatsform der Alpen. Scheuchzer legt den Grundstock eines konfessionslosen gesamtschweizerischen Alpendiskurses, indem er die katholischen Hirten als Vertreter der Schweizer Lebensart über die reformierten Städte stellt. Die Alpen prägten für Scheuchzer nicht nur die Natur und den spezifischen Charakter der Schweizer, sondern auch die Einmaligkeit und Besonderheit von deren geschichtlicher Entwicklung. Im Gotthard erkennt er den überragenden Gipfel, das europäische Wasserschloss, als Geschenk Gottes: »ex alpibus salus patriae.«22 Das demokratische freiheitliche Konzept des homo alpinus helveticus wurde in den 1930er Jahren zur Artikulation problematischer rassenbezogener Diskurse benützt. Diese Anwendungsmöglichkeit liegt in der Natur eines Denkens, das Mensch und Landschaft kurzschließt. Georg Kreis23 hat dieses Phänomen anhand eines Aufsatzes des Zürcher Geographen Emil Egli, der im März 1939 in der Neuen Schweizer Rundschau publiziert wurde, untersucht. Egli hält darin fest, dass schon die frühesten Kulturformen auf Schweizerboden von alpiner Eigenart waren. Diese ist allerdings eine zweifache: »So ist im Alpenwall romanisches und germanisches Wesen ineinander tief verzahnt. Europäischer Süden und Norden sind dort wie klimatisch so auch rassisch verschmolzen. […] Vollzieht sich im jurassisch-alpinen Gebirgsraum der Schweiz […] die sprachlich-seelische Mischung ununterbrochen, so dämmt umgekehrt das Gebirge neuen Ein21 | Zitiert in Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung, S. 311. 22 | Vgl. dazu G.P. Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹ im Wandel der Zeiten. Das Bild der frühen Eidgenossen im Traditionsbewußtsein der Schweizer vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 2, Gesellschaft, Alltag, Geschichte, hg. von Historischer Verein der Fünf Orte, Redaktion H. Achermann, J. Brülisauer und P. Hoppe, Olten 1990. 23 | Vgl. G. Kreis, Der ›homo alpinus helveticus‹. Zum schweizerischen Rassendiskurs der 30er Jahre, in: Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität/La Suisse imaginée. Bricolages d’une identité nationale, hg. von G.P. Marchal und A. Mattioli, Zürich 1992, S. 175-190.
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fluss von aussen zurück. […] Für den Rassenforscher ist die Schweiz ein schwieriges Untersuchungsfeld, da logischerweise das Reinrassige zu Gunsten der Mischung zurücktritt. […] Was auf Schweizerboden tritt, wird umgewandelt. Es wird der Mischungsorder unterstellt. […] das Zuwandernde in der Schweiz [hat] sich einer Alpinisierung zu unterziehen […]. So wurde schon die germanische Rassensubstanz von der […] Vorbevölkerung eingeschmolzen. […] So ist die Schweiz naturgemäss nicht Konglomerat, sondern Organismus.« 24 [Herv. d. Verf.]
Egli geht es einerseits darum, eine Erklärung für die Schweizer Formel der Einheit in der Vielfalt und der Vielfalt in der Einheit zu finden, und andererseits darum, sich vom Rassenverständnis des Dritten Reichs abzugrenzen. Die Verbindung von Blut und Boden ist nicht eine endgültig festgelegte, sondern von Umweltfaktoren mitgeprägte. In den Schweizer Alpen vereinen sich dank der »konservierenden Wirkung des Gebirges«25 eine Mehrzahl von Kulturen, die dabei den verschiedenen Schichten geologischer Formation angeglichen werden. Eglis Darstellung schwankt zwischen dem Geologischen und organisch Gewachsenen, auch weil das felsige Gebirge den metaphorischen Kontext festlegt. Das Gebirge hat dabei eine doppelte Funktion: Es grenzt nach außen hin ab und fördert die innere Kohärenz. Diese wird in einem zweifachen soziokulturellen Sinne gelesen: Der Alpenwall schützt nicht nur vor militärischen Angriffen, sondern auch vor Migrationsbewegungen und er stellt die Integration des einmal auf Schweizer Boden Lebenden durch Einschmelzung sicher. Eglis Argumentation ist von einer unlösbaren Ambivalenz geprägt. Sie will sich vom nationalsozialistischen Konzept der reinen Rasse und dem ihr zugedachten Boden abwenden, verwendet dabei aber selbst ein Konzept, das Rasse und Boden in eins sieht.
W ILLY H ELLPACH : G EOPSYCHE Im dritten, dem Verhältnis von Boden und Seele gewidmeten Hauptteil seines mehrfach aufgelegten Werks Geopsyche: die Menschenseele unterm Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft untersucht Willy Hellpach die Bedeutung des Bodens für die Herausbildung von Habitus und Charakter. Hellpach definiert dabei Geopsyche als die Wechselbeziehung von Raum und Volk. Ich werde im Folgenden aus der Ausgabe von 1935 zitieren, verdeutlicht diese doch am besten, worum es bei der hier postulierten Verknüpfung von Mensch und Boden im Grunde genommen geht. Vergleicht man diese Ausgabe mit derje24 | Zitiert in Kreis, Der ›homo alpinus helveticus‹, S. 175-6 (vgl. dazu E. Egli, Ethnisches Bild der Schweiz, in: Neue Schweizer Rundschau, März 1939, S. 665-672). 25 | Zitiert in ebd., S. 175.
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nigen von 1911, die auch einen weniger dezidierten Titel trägt – Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter und Klima, Boden und Landschaft in ihrem Einfluss auf das Seelenleben –, so fällt die viel hypothetischere und vorsichtigere Herangehensweise auf. Geht Hellpach in der früheren Ausgabe noch kritisch auf Distanz zu Friedrich Ratzels Anthropogeographie, so verweist er zu Beginn des dritten Hauptteils der Ausgabe von 1935 programmatisch auf dessen Werk, welches entscheidend zu einem Verständnis der Bedeutung von Lebensraum und Landschaft für den Menschen und das Leben von Gemeinschaften beigetragen habe. Hellpach hält zwar einschränkend fest, dass Zugvögel periodisch zwischen Sesshaftigkeit und Unruhe abwechselten und dass Wandertrieb und Bleibetrieb auch beim Menschen Ureigenschaften darstellten, bestimmt dann aber das Verhältnis zum Boden als zentrales Kriterium des Menschseins. Damit ist, wie bei Scheuchzer, auch der Versuch gemeint, Körperbeschaffenheit und Charakter aus diesem Verhältnis abzuleiten. Signifikanterweise kippt Hellpachs Argumentation ganz am Ende der im Folgenden zitierten Passage ins Kriegerische. Der Boden ist grundsätzlich Besitz eines bestimmten Volkes. Die völkische Ideologie des Lebensraumes ist hier nicht zu verkennen. »Das Kernstück alles Lebensraumes ist der Boden, jedenfalls für den Menschen der ein gehendes und lagerndes Wesen ist […]. Wir sind erdbodengebundene Geschöpfe. Darum kann die Beschaffenheit des Bodens für uns nicht gleichgültig sein. Noch Nomadenvölker (die doch an sich schon die hominide Ausnahmeerscheinung [sic!] sind) bleiben in ihren Zugstraßen und Rastplätzen den Bodeneigenschaften verhaftet. Das normale Völkerschaftsdasein des Menschengeschlechts ist die Zugehörigkeit eines bestimmten Bodenareals zu einem Stamm, Clan, Volk […] und dessen Verteidigung, sobald es bestritten ist.«
Eine der Aufgaben der Wissenschaft für das 20. Jahrhundert sei, so Hellpach, die »Aufhellung der Bodenwesenhaftigkeit des Menschen.«26 So definiert er eine Reihe von ›tellurischen Elementareigenschaften‹: die Bodentemperatur, die Schwerkraft, die Erdzusammensetzung und die Bodenunruhe. Zu letzterer hält er fest: »Der Menschenorganismus ist auf Ruhestellung des Lebensbodens eingerichtet. Jede Störung dieser Voraussetzung erregt lebhaftes Mißbehagen.« Seekrankheit und lange Zufahrten führen zu krankhaften Stimmungen, die unter Umständen das Leibesseelenleben beeinflussen können. Hellpach verfolgt in seinem Buch eine zweifache Strategie, die zwischen wissenschaftlicher Differenzierung und ideologischer Zuordnung schwankt. Dies kommt auch im Kapitel zum Verhältnis von Raum und Volk zum Ausdruck. Der Boden wird gegenüber anderen labileren Kriterien als Hauptmerk26 | W. Hellpach, Geopsyche: die Menschenseele unterm Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Leipzig 1935, S. 187-8.
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mal bestimmt. »Da nun der Boden das stabilste Stück des Standortes ist, während die atmosphärische Lage, also das Klima im engeren Begriff, einem viel unbeständigeren Hin und Her unterliegt, eben dem ›Wetter‹ […] so hat es etwas Verlockendes, die standräumlichen Normungen und Umnormungen der Lebewesen aus Bodeneinflüssen herzuleiten. In einer Formel wie ›Blut und Boden‹ kommt das zum Ausdruck […].«27 Daraufhin hält er einschränkend fest, weder Tiere noch Menschen seien eindeutig mit ihrem Boden verkettet, zudem sei eine Deckung »völkischer Gautypen mit gleichartiger Bodenbeschaffenheit« noch nicht belegt worden. Es folgen jedoch wiederum einige Beispiele, die auf eine enge bis ins körperliche hineinreichende Beziehung von Mensch und Boden hinweisen. Otto Ammon habe darauf hingewiesen, dass selbst die Schädelmaße von im Badischen ansässigen Juden der Gaunorm entsprechen würden. Ein weiterer Beleg für den ›Bodenchemismus‹ seien die häufig anzutreffenden Kropfformationen bei Gebirgsbevölkerungen. »So darf es als theoretisch wahrscheinlich und durch einzelnen Tatbestände gestützt gelten, daß der Boden, auf dem wir leben, uns morphologisch und funktionell nach Erscheinung und Wesensart, mitgestalten hilft. […] Nach der psychophysischen Variationsseite hin wissen wir […] daß phänotypische Umformungen des Gesamthabitus […] an der seelischen Wesensart nicht spurlos vorübergehen können.«28 Besonders aufschlussreich ist der letzte Abschnitt, welcher der Bodenständigkeit gewidmet ist. Der Mensch ist ein zutiefst bodenständiges Wesen. Man kann zwar dabei nicht unbedingt von ›Bodenhörigkeit‹ sprechen, auch weil dies von Erfahrungen in der Biologie der Pflanzen und Tiere widerlegt wird, es ist aber auffallend, dass ein wiederholtes »Sichlosreißen oder Losgerissenwerden vo[m] Boden […] nachteilig wirkt.«29 Dies hat auch mit der Rassenzugehörigkeit zu tun. Die nordische Rasse hat sich zwar über die ganze Welt verteilt, ist aber gesundheitlich äußerst eng an ihr angestammtes Klima gebunden. Die mongolische Rasse hingegen ist überall anzutreffen und fühlt sich auch überall wohl. Die dazwischen liegende mediterrane Rasse hält zwar die Mitte, nähert sich aber eher der klimatischen Intoleranz der nordischen Rassen an. Trotz dieser Differenzierungen setzt sich zum Schluss wieder eine eindeutige ideologische Zuordnung durch, die durch einen biologistischen Vergleich eingeleitet wird. Jeder Gärtner und Züchter weiß, und jeder Erzieher müsste wissen, »daß vieles unruhiges Herumprobieren an den Lebensbedingungen von Organismen nicht günstig wirkt. Leben braucht ein Maß von Ruhe und Stetigkeit […]. Unaufhörlicher Ortswechsel […] dürfte psychophysisch auf die Dauer nachteilig sein. Die Zigeuner haben unseres Wissens kein Genie hervorgebracht, und etwa Dreiviertel aller großen Menschen kommen aus der sozialen 27 | Ebd., S. 195. 28 | Ebd., S. 197. 29 | Ebd., S. 198.
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Schicht der ›kleinen Leute‹, die ja zum allergrößten Teil durch Generationen ortsgebundene Leute zu sein pflegen.«30 Abbildung 1: Ewald Banse, Einige seelengeographische Räume
E WALD B ANSE : S EELENL ANDSCHAF T In Ewald Banses 1928 publiziertem Werk Landschaft und Seele wird der Versuch unternommen, ein weltweites System seelengeographischer Räume (Abb. 1) festzulegen, wobei Nordeuropa eine privilegierte Rolle zukommt. Banse benützt den Begriff des Seelenklimas, welches aus dem Zusammenfließen von vier Hauptströmungen hervorgeht: Landschaft, Klima, Rasse und Weltlage. Aus dem mehr oder weniger intensiven Bezug zur angestammten Landschaft konstruiert Banse ein hierarchisches System der Rassen. So können urwüchsigere Rassen, deren Geist und Gefühl weniger ausgebildet sind, problemlos auch 30 | Ebd., S. 199.
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in anderen Landschaften überleben. Dies gilt vor allem für die mongolische Rassengruppe, deren Gebiet für Banse erstaunlicherweise Mittelfrankreich, Süddeutschland, Norditalien, Russland, den größten Teil Asiens und Amerika von Grönland bis Patagonien umfasst. Der Sinn dieses eigenartigen Konstrukts ergibt sich aus der Bedeutung der ausgesparten Zone, die auf einer dem Buch beigegebenen Landkarte als »Abendland oder Germanisches Europa« (Abb. 2) bezeichnet wird.31 Die ungefähre Grenze verläuft von Bordeaux durch Südfrankreich, zerteilt die Schweiz den Alpenkamm entlang, erreicht die Donau in der Nähe der Grenze zu Tschechien und gelangt von dort nach Norden bis Südfinnland – auch die baltischen Staaten gehören dazu. Zu diesem Gebiet gehören ebenfalls Südschweden und Südnorwegen sowie Großbritannien. Diese aus Zentralasien stammende Rassengruppe ist an extreme landschaftliche Gegensätze gewöhnt. Ihre Existenz »zwischen weiten Ebenen und hohen Gebirgen, zwischen glühenden Sommern und eisigen Wintern« hat ihnen »für alle Landformen der Erde ausreichende Eignung mitgegeben […].«32 Abbildung 2: Ewald Banse, Abendland oder Germanisches Europa
31 | E. Banse, Landschaft und Seele. Neue Wege der Untersuchung und Gestaltung, München und Berlin 1928, S. 85. 32 | Ebd., S. 82.
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Ganz anders liegt der Fall bei der nordischen Rasse. Sie ist die »höchststehende von allen Rassen der Erde«33. Aus empfindlicheren Stoffen gebildet, unterhält sie ein enges hochkompliziertes Verhältnis zu ihrer landschaftlichen Umgebung, mit der sie tausend feine Fäden verbinden. »Sie hat sich im nördlichen und nordwestlichen Europa gebildet, im Umkreise der Nordsee, und ist an niedrige Landformen, weite Wasserflächen und gleichmäßigeres Klima gewöhnt. Es gibt aber auf der ganzen Erde kein einziges Gebiet, das mit jenem übereinstimmt. Hieraus folgt, daß die nordische Rasse nirgendwo sonst eine gleich hohe Entwicklung erreichen kann.«34 Die nordische Rasse hat aufgrund ihrer körperlichen und seelischen Konstitution ein nicht weiter hinterfragbares Anrecht auf das von ihr bewohnte Land. Hier findet man auch die ausgewogenste Landschaft und das gleichförmigste Klima. Andere Landschaften sind »gegensätzlicher, vernichtender als die Seele des nordischen Menschen (das feinste Werkzeug, das jemals ist gebaut worden) vertragen kann.«35 Der Mongole fügt sich der Natur, während der Nordländer diese leitet. Die Landschaft des germanischen Europa – und hier ist ein deutlicher Unterschied zum Konzept des homo alpinus festzustellen – besteht aus flachen, hügeligen und bergigen Gebieten, die sich in sanften gewellten langgezogenen Linien rund um die Ost- und Nordsee erstrecken. Der vorherrschende Landschaftstypus, besonders im Bereich der Ostsee – die Banse als germanischen Binnensee versteht – ist ein aus Ebenen und Hügeln bestehendes Tiefland, das sich in der Regel nicht stark über den Meeresspiegel erhebt. Wald und Heide herrschen vor, aber menschliche Pflege hat für das Entstehen »viele[r] zusammenhängende[r] Ackerbreiten« gesorgt. »Die Landschaft liegt in blauen und grünen Farben da, beruhigend und sehnsuchtsvoll, viermal im Jahre Abwechslung und damit seelische Belebung bringend. […] Der Boden spendet Unterhalt und darüber hinaus Wohlstand, wenn Fleiß und Verstand sich ihm widmen. Das Klima verläuft zwischen gemäßigten Grenzen und löst sich in vier Jahreszeiten wohltuend ab.«36 Die harten Winter zwingen zur Vorsorge und die langen Dämmerungen zu Nachdenken und Versonnenheit. Allein hier ist wahre besonnene Kreativität möglich. Andere Völker leiden aufgrund der mangelnden landschaftlichen und klimatischen Ausgewogenheit an Rastlosigkeit. »Die Raumtiefe und Vielgliedrigkeit, das Sehnsuchtsvolle und Besinnliche, das kernhaft Echte und Belebte der Landschaft spiegelt sich deutlich im nordischen Menschen wider.« Banses Darstellung anderer Landschaften verdeutlicht seine Vorstellung des idealen Verhältnisses von Mensch und Landschaft. Überwiegt im nordi33 34 35 36
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Ebd., S. 87-8. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 87.
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schen Europa ein Prinzip der Gleichmäßigkeit und Ausgewogenheit, das sich in der Landschaft und den dort lebenden Menschen verkörpert, so überwiegt in Hintereuropa – einer Zone, die grob gesprochen das Donaubecken und den nördlichen Balkan umfasst – Zerrissenheit und Dissonanz. Hintereuropa ist ein gesichtsloser Raum der Widersprüche, ein Kreis ohne innere Geschlossenheit. »Hintereuropa ist kein in sich gesammelter Seelenraum, sondern nur Lücke zwischen Seelenräumen. Seine Landschaft besteht aus Gebirgsketten und Hochflächen, zwischen und vor denen Hügelländer und weite Ebenen sich erstrecken. […] Heim der Kreuzungen […] in dem die auseinanderstrebenden Absichten den zusammenschließenden weit überlegen sind. Nichts ist hier einheitlich.« In diesem Gebiet haben sich »mehrere Rassen durcheinandergeschoben und damit die Gegensätze vervielfacht. […] so verklammern sich deren mannigfaltige und widerstrebende Eigenschaften mit den mannigfaltigen und widerstrebenden Eigenschaften des Landes.« Vergleicht man den hier beschriebenen Landschaftsausschnitt und die darin auszumachenden Kulturen mit dem ideologischen Konstrukt eines germanischen Europas, so kommt man unweigerlich zur selben Feststellung: Trotz der behaupteten Uniformität umfasst auch dieses Gebiet zahlreiche Kulturen und unterschiedliche Landschaften. In Banses Vorstellung sind Landschaft und Charakter Spiegelbilder voneinander, wobei ein formales Analogieprinzip die wechselseitige Beziehung bestimmt. Ist es im germanischen Europa Uniformität und Mäßigung, so ist Hintereuropa durch Differenz und Leidenschaftlichkeit beherrscht. Banse spricht von einer »Betonung des Äußerlichen bei tatsächlicher Verwahrlosung – Bastardartung also.«37 Der hier gegenüber anderen Seelenlandschaften eingesetzte Ausgrenzungsmechanismus – der weitgehend in einer Entmischung des Vermischten und einer Reduktion des Vielfältigen auf das Uniforme besteht – wird in einem zweiten Moment auch auf das Germanische Europa angewandt. Banse unterscheidet dabei drei konzentrische Gürtel: das reingermanische Kernland, das halbgermanische Randland und das ungermanische Fremdland. Das halbgermanische Randland ist eine Pufferzone und ein Filter. Es trägt Züge eines Grenz- und Übergangsgebietes. Das Kernland, das sich durch strenge rassische landschaftliche und klimatische Einheitlichkeit auszeichnet, umfasst Norddeutschland, Südskandinavien und die östlichen Teile Englands. »Eine Landform, ein Klima, eine Rasse – wo auf Erden findet man das noch einmal! Doch kein Gedanke daran, daß die Landschaft eintönig ist – sie ist mannigfaltig genug […]. Und fast überall in Haid und Moor, in Wald und Marsch tritt eine seltsame, krause, ja krumme Linie, aus der Vielheit der Erscheinungen hervor, eine Linie, die von gewaltiger Bewegtheit zeugt und der […] Landschaft 37 | Ebd., S. 88ff.
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[…] einen merkwürdigen Hintergrund von Übersinnlichkeit einräumt.«38 Trotz dieses Hinweises auf ein vergeistigtes spirituelles Element schlägt die Argumentation bei Banse, wie bei Hellpach, ins Kämpferische um, wobei hier noch ein sozialdarwinistisches Moment mitschwingt. »Jede Rasse hat das Klima, das sie verdient, und jedes Klima duldet auf die Dauer nur die Rasse, die in ihm ihr höchstmöglich Bestes findet und leistet. […] Rassen mit Anlage zur Weichlichkeit oder zu tatlosem Dahindämmern hätten in diesem Lebensraum einfach keinen Sinn. […] Im scharfen Seewind halten sich nur kräftige, abgehärtete Naturen, dem herben Boden ringt einzig hartnäckige Arbeit den Segen ab.«39
D IE E RFINDUNG DES S AL ZK AMMERGUTS In seinem Essay zur gesellschaftlichen Funktion imaginierter alpiner Räume beschreibt Thomas Hellmuth eindringlich, wie durch die Konstruktion eines abgeschlossenen Gebiets in der Steiermark zugleich eine zwingende harmonisierende Vision der damaligen ungleichen österreichischen Gesellschaft geschaffen wurde. Das Salzkammergut wurde um 1800 touristisch entdeckt. Parallel dazu fand dessen politisch-ideologische Vereinnahmung statt, »indem drei Gesellschaftsmodelle auf die Region übertragen wurden: das Modell einer bürgerlich-liberalen, einer österreichischen und proletarischen Gesellschaft.« Das erste Modell postulierte eine Gesellschaft von einander gleichgestellten Bürgern, in der es keine Standes- oder Klassenunterschiede mehr gab. In der alpinen Umgebung schien sich dieses Modell verwirklicht zu haben. Die Mittelschicht glaubte, »den angestrebten gesellschaftlichen Gleichklang, das ersehnte harmonische Ganze, in der Harmonie der Natur zu finden.« 40 In allen drei Fällen ging es darum, in einer als einträchtig definierten Natur, einem säkularisierten Paradies nach Befriedung und Verdrängung von ungelösten sozialen Widersprüchen und politischen Ungleichheiten zu suchen.41 38 | Ebd., S. 121-2. 39 | Ebd., S. 131. 40 | Th. Hellmuth, Die ›Erfindung‹ des Salzkammerguts. Imaginationen alpiner Räume und ihre gesellschaftlichen Funktionen, in: Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, hg. von J. Mathieu und S. Boscani Leoni, Bern 2005, S. 350. 41 | Auf diese ideologische Funktion von Landschaften verweist auch James E. Goehring. Es geht um die verborgene ›ideological agenda‹ von Landschaften. Meist wird dabei das ideale Bild einer ländlichen Welt beschworen, die eine stabile einheitliche fast egalitäre Gesellschaft darstellt, die wiederum die Härten der sozialen Ordnung verbirgt. Dadurch wird eine kulturelle und soziale Konstruktion naturalisiert, welche eine artifiziel-
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Gerade im Salzkammergut glaubte man, auf engstem Raum vereint, alle wichtigen Komponenten auffinden zu können: spektakuläre Gebirgskessel, schimmernde Seen, schwindelnde Höhen, imposante Gletscher, rauschende Bäche und lieblich lachende Gegenden. Die vorgestellte Landschaft verlor im Verhältnis zu den gängigen romantisierenden Beschreibungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts an Erhabenheit und Bedrohlichkeit, kamen solche Geschichten ja auch vermehrt einem breiten, vor allem touristisch interessierten Publikum entgegen. »Die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft – die Klassengesellschaft, politische Konflikte und die negativen Folgen der Leistungsgesellschaft – wurden während der Sommerfrische verdrängt. Gerade im Salzkammergut war der Bürger zuallererst ›Mensch‹, und diese Menschlichkeit definierte sich durch die Verbundenheit zur Natur. Diese musste freilich ihre Wildheit verlieren, sich gleichsam zu einer gezähmten Wildnis wandeln: leicht zugänglich und zugleich zivilisationsfern, vertraut und doch exotisch.« 42 Die harmonisierende Tendenz erfasst auch die Menschen des Salzkammerguts selbst, die dieser Vorstellung gemäß allesamt im Einklang mit der Natur leben. In einem Reisebericht aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Rede von schönen Physiognomien mit griechischen Umrissen und von kerngesunden Alpendirnen. Die in dieses landschaftliche Setting verlegte österreichische Monarchie – der Kaiser verbrachte regelmäßig den Sommer in Bad Ischl – gewann dadurch an Authentizität. Die Habsburgermonarchie erhielt »den Nimbus der Natürlichkeit. Sie verlor damit ihre kriegerische und demokratiefeindliche Komponente, wurde entpolitisiert und in Verbindung mit der Natur als Teil einer harmonischen, einer bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Im Salzkammergut blieben politische Gegensätze ausgeschlossen, in der künstlichen Natur verschmolzen Adel und Bürgertum zu einfachen ›Menschen‹.«43 Diese harmonisierende und naturalisierende Vision des Salzkammergutes diente auch dazu, die sozialdemokratischen Kräfte ins Ganze zu integrieren. Immer wieder wurden offensichtliche politische Differenzen zugunsten einer allgemeinen Verbundenheit mit der Heimat vergessen. Die auf das landschaftliche Konstrukt des Salzkammerguts von außen projizierte Vorstellung von Harmonie nistete sich im Laufe der Zeit auch in den Köpfen ein, selbst in denen der Einheimischen, die sich in diesem Fremdbild wiederfanden. In diesem Modell entsprechen die harmonisch miteinander vereinten le Welt repräsentiert, als ob diese eine gegebene und dadurch unveränderlich wäre (vgl. dazu James E. Goehring, The Dark Side of Landscape: Ideology and Power in the Christian Myth of the Desert, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies, Volume 33, Number 3, Herbst 2003, S. 437-451). 42 | Hellmuth, Die ›Erfindung‹ des Salzkammerguts, S. 351. 43 | Ebd., S. 353.
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unterschiedlichen Landschaftselemente den ebenso in eine natürliche Einheit eingeschmolzenen heterogenen Gesellschaftsschichten. Der Natur steht der einfache von all seinen sozialen Attributen entkleidete Mensch gegenüber: die »bürgerliche egalitäre Idealgesellschaft« wird »in der künstlichen Natur des Salzkammerguts symbolisiert.«44 Hellmuth verfolgt die Wirkung dieses Modells bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. In den 1950er Jahren wurde das Salzkammergut in direktem Zusammenhang mit den nostalgischen Sissi-Verfilmungen von Ernst Marischka gesehen. Einmal mehr ging es dabei um eine nicht weiter definierte ›Menschlichkeit‹ und um die ›Werte des Herzens‹, die als typische Wesensmerkmale der österreichischen Identität verstanden wurden. Sissis klassenübergreifender und -negierender Charakter ist ein Produkt ihrer engen Verbindung mit der natürlichen Umgebung, welche einen bürgerlichen Topos des 18. Jahrhunderts wieder aufnehmend den Zwängen der höfischen Etikette Wiens entgegengestellt wurde. »Zur österreichischen Identität gehören […] die nostalgische Erinnerung an die Habsburgermonarchie und der Stolz, in einem Land mit unverwechselbarer Natur zu leben. Beides verschmilzt im Salzkammergut zu einem Ganzen.«45 Die hier präsentierten Fallstudien dokumentieren wesentliche Momente der deutschsprachigen Landschaftsdiskurse vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dabei hat sich gezeigt, dass das Verhältnis von Land und Leuten für unterschiedliche politische Vorstellungen verwendet werden kann. Den verschiedenen Beispielen liegt jedoch der gemeinsame Gedanke einer Konsubstantialität von Individuum, Gesellschaft und Natur zugrunde. Im Gegensatz zu Claude Reichlers Konzept der absoluten Landschaft, bei der in jedem Detail das Ganze entdeckt werden kann und sich die einzelnen Elemente gegenseitig spiegeln, möchte ich im Folgenden nationale Landschaften als komplexe und in sich widersprüchliche Metaphernkonstellationen verstehen, die ihre je eigene Entstehungs- und Wirkungsgeschichte aufweisen. Es wird sich dabei zeigen, dass bestimmte metaphorische Vorstellungen über die Zeit hinweg projektiv wirksam waren und bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, wenn auch meist als Versatzstücke und in abgewandelter Form, virulent geblieben sind. Ein erstes Beispiel dafür liefert die in diesem Kapitel diskutierte Wiederaufnahme des homo alpinus in den 1930er Jahren innerhalb eines umdefinierten geologischen und rassentheoretischen Rahmens.
44 | Ebd., S. 354. 45 | Ebd., S. 359.
Felsenburg der Freiheit Die Alpen als Wall und Wasserschloss
»Der zweite Grund, warum ich Ihnen vom Gotthard aus spreche, ist der. Dieses harte, gebirgige Land liegt im Herzen Europas. Es ist […] ›das Wasserschloss Europas‹. In der Tat ist die Schweiz, von der aus Flüsse in alle vier Himmelsrichtungen fließen, und die, wie die vier Landessprachen eindringlich zeigen, aus den wichtigsten kulturellen Strömungen Europas hervorgegangen ist, durch und durch europäisch.« J EAN -PASCAL D ELAMURAZ zum Nationalfeiertag 1989
Der alpine Diskurs, so wie er sich vor allem in der Schweiz der frühen Neuzeit1 herausgebildet und im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts konsolidiert hat, umfasst zwei unterschiedliche, komplementäre politische Vorstellungen, die in zwei sich schon in der frühen Neuzeit herausbildenden Landschaftsmetaphern zum Ausdruck kommen. Die eine sieht in den Alpen einen trennenden schützenden Wall, eine uneinnehmbare, gottgegebene Festung der Freiheit, Nährboden eines rebellischen, freiheitsliebenden Menschenschlages und Heimat des homo alpinus helveticus. Verbunden damit ist die Metapher der von tobenden Wassermassen bedrohten Friedensinsel2 und des lichtspendenden 1 | »Die Anfänge des schweizerischen Nationalgefühls werden herkömmlich in den Jahrzehnten um 1500 geortet […].« (Th. Maissen, »Ein ›helvetisch Alpenvolk‹. Die Formulierung eines gesamteidgenössischen Selbstverständnisses in der Historiographie des 16. Jahrhunderts, in: Historiographie in Polen und in der Schweiz, hg. von Ch. Simon und K. Baczkowski, Krakau 1994, S. 69). Vgl. dazu auch Th. Maissen, Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio, in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von J. Helmrath, U. Muhlack und G. Walther, Göttingen 2002, S. 210-249. 2 | Zu Robert Durrers großem Votivbild in Ranft als einer kritisch-ironischen Lektüre der schweizerischen Friedensinsel vgl. G.P. Marchal, Die alpine Friedensinsel: Robert Durrers
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Leuchtturmes auf einsamer Klippe, die besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der beiden Weltkriege zum Einsatz kam.3 Berge trennen und verbinden zugleich. Dies gilt insbesondere für das Gotthardmassiv, welches bis ins 20. Jahrhundert hinein, und nicht nur aus Schweizer Sicht, als Herzstück der Alpen wahrgenommen wurde, und als Ort, an dem sich zwei geopolitische Achsen kreuzten: die über den Gotthardpass verlaufende Nord-Süd- und die Ost-West-Achse der Rhone und des Rheins. Diese Ambivalenz kommt in der zweiten Landschaftsmetapher, von der hier die Rede sein soll, zum Ausdruck. Diese Vorstellung zielt auf Integration und Versöhnung von Pluralität und bestimmt das Gotthardmassiv als Zentrum Europas, als geographischen Ursprungsort nicht nur schweizerischer, sondern auch europäischer Kulturen- und Sprachenvielfalt. Hier entspringen die vier Flüsse, die den vier in der Schweiz gesprochenen Sprachen entsprechen. Der Gotthard wird als lebenspendende mütterliche Frauenfigur verstanden, als mater fluviorum, Mutter der Flüsse. Damit stehen eine trotzige freiheitliche, unter Umständen aber auch isolationistische und defensive Rückzugsphantasie und eine die Integration verschiedener europäischer Sprachen und Kulturen anstrebende Vision nebeneinander. In beiden Visionen stehen die Alpen metonymisch für den einzelnen Schweizer, die gesamte Nation und dessen Geschichte. Wie noch zu zeigen sein wird, schließen sich die beiden Visionen keinesfalls aus, sondern gehen an spezifischen historischen Momenten bedeutsame Verbindungen ein. Zudem bestehen zwischen den beiden Metaphern Gemeinsamkeiten, besonders was die Vorstellung der Pluralität angeht. Der Wall dient nicht nur zur Abschreckung der äußeren Feinde, sondern auch zum Schutz der inneren kulturellen Vielfalt und des harmonischen Zusammenlebens der einzelnen Teile. Am Ende des Kapitels möchte ich noch kurz auf zwei weitere wichtige metaphorische Motive eingehen: das Verhältnis von Berg und Tal und die Bedeutung des einzelnen Berges in Bezug zur Gesamtheit des Gebirges. Die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem ist ein zentrales Motiv in der Konsgrosses Votivbild im Ranft und der schweizerische Alpenmythos, in: Quand la montagne aussi a une histoire: mélanges offerts à Jean-François Bergier, hg. von M. Körner und F. Walter, Bern und Stuttgart 1996, S. 29-39. Eine weitere Beziehung besteht zur Darstellung der Schweiz als lichtspendenden Leuchtturm. Der Turm steht auf dem Gotthardmassiv, dem Herzen Europas. Die Schweiz ist eine friedliche Felseninsel inmitten eines endlosen Meeres. Dabei entspricht der Lichtkranz der humanitären Aufgaben und Botschaften den vier unterschiedlichen Flüssen, die ja nicht nur die Schweiz belebend durchströmen, sondern auch einen Aufruf für Toleranz und Frieden darstellen. 3 | Die Metapher der glücklichen Insel ist auch für das Österreich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet worden (vgl. dazu Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 360).
Felsenburg der Freiheit
titution von politischen Landschaften, widerspiegelt es doch die metaphorische Beziehung des Einzelnen zur Kollektivität.
I M S CHUT Z DER B ERGE In dem vermutlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts4 entstandenen Ölgemälde Libertas Helvetiae (Abb. 3) aus unbekannter Hand ist eine Allegorie der Eidgenossenschaft abgebildet, welche die Alpenlandschaft als politische Metapher der frühen Schweiz verwendet. Im Hintergrund des Bildes türmen sich hoch aufschießende, zackig zerklüftete Bergspitzen. Keine realistischen Berge allerdings. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese als pyramidenähnlich aufgeschichtete Orgelpfeifen, Stalagmiten vergleichbar. Die Berge und die davor stehenden Menschen sind ähnlich gruppiert. Schräg darüber hinweg ziehen stürmische Wolken, angetrieben von heftig blasenden Winden in Form von pausbackigen Putten, die an den vier Ecken des Gemäldes angebracht sind. Der rötlich-gelb gefärbte Himmel könnte auf ein Segen verheißendes Morgenlicht verweisen, auf Sonnenaufgänge über unsichtbaren weißen Bergrücken. Die einzelnen Gipfel ordnen sich zu einem harmonischen Dreieck, dessen höchste Spitze sich in der Mitte befindet und den oberen Rand des Gemäldes berührt. Symmetrisch zueinander ordnen sich links und rechts davon weitere weitgehend identische Bergkuppen in vereinzelten Gruppen an. Die einzelnen im oberen Bereich voneinander getrennten Berge werden durch eine kontinuierliche Linie an deren Basis zusammengehalten und zur Einheit gefügt. Ein wesentliches Detail, auf das ich am Ende dieses Kapitels noch zu sprechen komme. Das Bergmassiv wirkt dabei wie eine hochgezogene Bühnendekoration. Im Vordergrund als horizontale, spiegelbildliche Verdoppelung der Berge ist ein Befestigungswall angebracht, dem ein Wassergraben vorgelagert ist. Dessen mittlere Spitze berührt den unteren Rand des Bildes. Berge und Festungswälle, Natur und Kultur treten dadurch in einen Dialog ein. »Hoc Natura Dedit«, dies, d.h. die Alpen, schenkte die Natur, steht in einem zum Dreieck angeordneten Schriftzug. Zwischen der schützenden Bergwand im Hintergrund und den Festungswällen im Vordergrund, die nach hinten abrupt abrechen, befinden sich verschiedene Figuren, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen: links die drei Schwörenden vom Rütli und in der Mitte unter der Statue 4 | Zur Frage der Datierung des im Solothurner Museum Blumenstein aufbewahrten Ölgemäldes vgl. Th. Maissen, Von wackeren alten Eidgenossen und souveränen Jungfrauen. Zu Datierung und Deutung der frühesten ›Helvetia‹-Darstellungen, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 56, 1999, Heft 1, S. 265-301 und Maissen, Bedeutung, S. 171.
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der ›Libertas‹, der Freiheit, welche von der direkt hinter ihr emporragenden höchsten Bergspitze überragt wird, eine Gruppe von zwölf bewaffneten, verbündeten Männern. Rechts davon, schließlich, befindet sich die Figur des Niklaus von Flüe, des echten Propheten. Abbildung 3: Libertas Helvetiae
Die Schweizerische Eidgenossenschaft wird als ein in sich geschlossener, zweifach gegen den Feind abgesicherter einheitlicher Raum präsentiert. Der bedrohlichen äußeren Weite steht die sichernde Enge eines ausgewogenen inneren Arrangements gegenüber. Auf der vertikalen Mittelachse, welche von der höchsten, den Himmel berührenden Spitze bis zum äußersten, dem Betrachter zugekehrten defensiven Posten reicht, stehen nacheinander die drei Schlüsselwörter »Natura«, »Libertas« und unterhalb der Statue der Freiheit, welche sich auf einer Säule, die ihrerseits auf einer Kugel ruht, befindet, »Concordia«, d.h. Einigkeit und Eintracht. Die vertikale, harmonische Abstimmung von Natur und Kultur, die nicht ohne expliziten Hinweis auf ein gottgewolltes Schicksal der Schweiz auskommt, wird durch eine zweite, horizontale Achse ergänzt, welche auf den inneren Einklang der disparaten Interessen der verschiedenen Kantone hinweist, auf die Einheit von Gesetzgebung, kriegerischer Bereitschaft und religiösem Glauben. »Quasi im Rücken«, schreibt Yvonne
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Boerlin-Brodbeck, »aber, gegen die Weite der Welt, die ferne Landschaft im Hintergrund, wird dieser dank der Concordia gefestigte Bund durch den Wall der Alpen beschützt: das Gebirge ersetzt die von Menschenhand gebauten Verteidigungswerke.«5 Dem von Norden her über das offen daliegende Mittelland eindringenden Feind soll somit ein Bild der steten zweifachen Wehrbereitschaft entgegentreten. Gleichzeitig verschließen die Berge am Horizont den Blick in die Tiefe und trennen noch wirksamer als die vorgelagerten Festungswälle die Schweiz vom Rest der Welt ab. Dadurch wird das Land tatsächlich zu einer Insel.6 Obwohl die Alpen topographisch gesehen letztlich bloß ein breites Band sind, das die Schweiz von Osten nach Südwesten durchläuft und in zwei Teil halbiert, einen nördlichen und einen südlichen, behauptet die hier angesprochene Mauermetapher, wie noch zu zeigen sein wird, den insularen Charakter des Landes. Es ist immer eine Kreismauer, welche rund um das ganze Land verläuft, als wäre es von einem tiefen Graben umgeben. Eine zweite Variante setzt verkürzend die Schweiz mit den Bergen selbst gleich, welche sich im Zentrum Europas schutzsuchend zusammendrängen: die Schweiz als Igel, Bunker und ultimative Festung. Diese Vorstellung kommt in der militärischen Konzeption des Reduit7 aus dem Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck, die wohl zugleich die Extremform dieser Sicht der Schweiz darstellt: Im Falle eines deutschen Angriffs hätten sich die gesamten Schweizer Truppen in die Befestigungsanlagen des Gotthards zurückgezogen. Ein Reduit oder eine Zitadelle ist der zusätzlich verstärkte Verteidigungsbau, der zum Rückzug für die Besatzung diente, falls der vorgelagerte Verteidigungswall vom Feind überwunden wurde. Es ist zugleich das Kernwerk, das im Inneren eines Verteidigungswalls liegt. Reduits gehören zu den stärksten Festungsanlagen und sollten eine hartnäckige letzte Verteidigung 5 | Y. Boerlin-Brodbeck, Alpenlandschaft als politische Metapher. Zu einer bisher wenig bekannten ›Libertas Helvetiae‹, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 55, 1998, S. 6. 6 | Ein erster Beleg für diese Metapher stammt aus dem späten 18. Jahrhundert. 1777 wird in einem Fest in Solothurn die Schweiz als unbewegte Felseninsel in einem wellenund sturmgepeitschten Meer dargestellt (vgl. dazu F. Walter, La Suisse comme île, in: Tour de France: eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann, hg. von A. Heinen und D. Hüser, Stuttgart 2008, S. 419-428). 7 | Die Debatte über die militärische Lösung des Reduits begann am 22. Juni 1940. Anlässlich des Rütli-Rapportes am 25. Juli 1940 informierte General Guisan sämtliche höhere Offiziere über den Plan, im Falle eines Angriffs der Achsenmächte die Verteidigung der Schweiz auf das Gebiet der Hochalpen mit den wichtigen Passübergängen, vor allem dem Gotthardmassiv, zu konzentrieren und alle Zufahrten zu den Bergen notfalls zu zerstören.
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ermöglichen. Die militärische Rückzugsbewegung bestätigt somit in der Realität die beschränkte Sicht der Schweiz als reines Bergland und führt zu einer territorialen Reduktion des Landes auf seinen letzten zentralen Kern. Das breite städte- und seenreiche, den Alpen vorgelagerte Mittelland wird dadurch kurzerhand aus der Welt geschafft. Politische Landschaftsmetaphern veranschaulichen zwar – oft auf sehr poetische Art und Weise – das abstrakte Konzept einer nationalen Einheit, tendieren dabei aber immer auch dazu, Komplexität zu reduzieren und mögliche innere Widersprüche zu eskamotieren. Der Vorstellung eines naturgegebenen, vor Angriff schützenden Alpenwalls, dem man den Rücken zukehrt, weil man von hier nicht mit einem Angriff zu rechnen hat, kann man nicht nur in Zeugnissen aus dem 16. und 17. Jahrhundert begegnen. Dieses Bild hat bis in die Gegenwart hinein weitergewirkt: In der Ferne prangt eine durchgängige Gipfelkette, die Abgrenzung und Schutz verspricht, teilweise umrahmt von Wolken. Oft ist es bloß die angedeutete zackige Linie stilisierter Bergumrisse, welche die entsprechenden Assoziationen hervorruft. So z.B. in einem Werbeprospekt zur Wahlkampagne der Lega dei Ticinesi aus dem Herbst 2011 (Abb. 4). »Für ein sicheres, freies und starkes Tessin!« lautet das kriegerische Motto. Gefahr droht nun vor allem von Süden her durch amorphe Flüchtlingsmassen und Grenzgänger aus dem benachbarten Italien. Abbildung 4: Für ein sicheres, freies und starkes Tessin!
Der Mythos einer Verteidigung der schweizerischen Unabhängigkeit dank ihrer Berge erfährt zwar vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts im Kontext der schweizerischen Bestrebungen um eine nationale Identität eine erste Konjunktur – die zweite erfolgt dann in den schwierigen 1930er und 1940er Jahren –, ist aber schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts weitgehend kodifiziert wor-
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den. Auf erste Textquellen, die das Bild der Alpen als starke Ringmauern verstehen, stößt man schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts. »[…] mindestens in der Textüberlieferung besass im 16. und frühen 17. Jahrhundert die Linie der ideologisch definierten Sicht der Alpen als Grenzwall, Festungs- und Identifikationsfaktor bereits eine relativ solide Tradition […].«8 Marchal erwähnt ein um 1490 auf Französisch verfasstes Gedicht, welches sich auf Psalm 125 bezieht und die Schweiz aus der Perspektive eines irdischen Jerusalems wahrnimmt. »In Ewigkeit wird nicht erschüttert, wer wohnet im Schweizerland […]. Wie die Berge es umschliessen, so umschliesst Gott sein Volk, heute und immerdar. Erstmals hier wurde die damals schon namhaft gemachte strategische Schutzfunktion der Alpen als Schutz Gottes religiös überhöht […].«9 Ganz anders in der Malerei. Erste Bilder der Schweizer Alpen als weiße Gebirgsbergkette am Horizont stammen zwar schon aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die topographische Wiedererkennbarkeit spielt dabei aber keine mit der Libertas Helvetiae vergleichbare Rolle, die in diesem Zusammenhang sicher eine Ausnahme darstellt. Es fehlt zudem jeglicher Hinweis auf die Verteidigungsfunktion der Gebirge. Diese verweisen eher auf die traditionelle Sicht der Alpen als Grenzgebiet und Tabuzone, als Wildnis und wüstenhafte, von Göttern bevölkerte Gegenwelt. In Caesars De Bello Gallico wird – neben Rhein und Genfersee – allein das Jura als gebirgige Grenze benannt. Im zweiten Abschnitt des ersten Buchs spricht Caesar interessanterweise auch von einem Gefühl der Beengtheit, das die tapferen Helvetier manchmal durchaus melancholisch stimmen könne. »Orgetorix, der mächtigste unter den Helvetiern, hatte die Macht an sich gerissen und das Volk dazu überredet, mit sämtlichen Truppen nach Gallien auszurücken, um Beute zu machen. […] Um so leichter überredet er sie dazu, da die Helvetier durch die geographische Lage von allen Seiten eingeengt sind. Auf der einen Seite durch den Rhein, der sehr breit und tief ist und der das Helvetierland von den Germanen trennt; auf der anderen Seite durch den sehr hohen Jura, der zwischen den Sequanern und den Helvetiern steht; von der dritten Seite vom Genfer See und der Rhône, die unsere Provinz von den Helvetiern trennt. Dadurch kam es, dass sie wenig weit umherziehen und weniger leicht mit den Nachbarn Krieg führen konnten; aus diesem Grund waren diese kampfeslustigen Menschen sehr bekümmert. Sie meinten, für die Größe ihres Volkes, den Kriegsruhm und den Ruhm ihrer Stärke, ein zu enges Land zu haben, das sich 240 Meilen in die Länge und 180 Meilen in die Breite erstreckte.«10
8 | Boerlin-Brodbeck, Alpenlandschaft, S. 7. 9 | Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 464-466. 10 | Gaius Iulius Caesar, Der Gallische Krieg, Stuttgart 1998, S. 3-4.
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In seiner Gemeiner loblicher Eydgnoschafft, Stetten, Landen und Voelckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung, die 1547-1548 in Zürich publiziert wurde, fügt Johannes Stumpf zu den drei von Caesar genannten Schutzlinien als viertes Verteidigungselement noch das Alpengebirge hinzu. »Dem vierten anstoss aber lasst Cesar in der fäder, das sind aber die höchsten Alpgebirg«, welches die »Helvetier allenthalben [mit] natur starcken ringkmauern und landmarcken«11 umgibt. In einem weiteren Text aus dem Jahr 1557 bestimmt Hans Rudolf Manuel Gott als den Maurer, der das Land mit einer schützenden Mauer umschlossen hat.12 Und in einem Schweizer Volkslied aus 1584 werden die Alpen als gottgegebene natürliche Mauern bezeichnet. In Hans Rudolph Rebmanns 1606 posthum veröffentlichtem poetischem Gespräch zweier Berge ist die Rede von den bis an den Himmel reichenden Gebirgsketten, von denen aus jeder sich aus der Ferne nähernde Feind rechtzeitig ausgemacht werden könne, was zugleich ein neues Element zur hier untersuchten Gebirgsmetapher hinzu steuert: den überlegenen Blick aus der Höhe auf die Niederungen, den unendlichen panoramatischen Gipfelblick. Dieses Moment wird hier zwar noch weitgehend militärisch ausgelegt, wurde in der Folge aber aus schweizerischer wie nicht-schweizerischer Sicht im Sinne einer kulturellen Überlegenheit gedeutet. 1682 stellt Johann Jacob Haug gerade diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Beschreibung: Gott habe das Land und dessen Schätze durch das Festungswerk der Alpen geschützt, »treffliche Vormauern, Da ihr in Fried’ und Ruh könnt sicher fröhlich dauren Vor fremder Kriegs-Gefahr; die stärckste Cittadell Seynd eurer Berge Grund.«13 In den Monatlichen Gesprächen aus dem Jahr 1715 beschreibt Johann Heinrich Tschudi die Alpenlandschaft als Bestandteil einer schweizerischen Identität. Die Berge sind ihm ein Symbol der Freiheit. Sie schützen diese zugleich mit »festen Mauren und Forteressen«, mit »hohen und fast unüberwindlichen Bergen.«14 Auch im 15. Band der 1765 in Paris publizierten Encyclopédie wird das Bild des schützenden Alpenwalls wieder aufgenommen. Die Schweiz ist von ihren Nachbarn durch hohe Berge getrennt. Dasselbe gilt auch von einzelnen Kantonen, die ebenfalls durch Gebirgszüge voneinander abgeschottet sind. Die Berge stellen somit sowohl eine
11 | Zitiert in Maissen, Bedeutung, S. 164. 12 | Vgl. dazu ebd., S. 171-2. Hier findet man noch weitere Beispiele zur Metapher des Alpenwalls. 13 | Zitiert in ebd., S. 172. 14 | Zitiert in H. Böning, ›Arme Teufel an Klippen und Felsen‹ oder ›Felsenburg der Freiheit‹? Der deutsche Blick auf die Schweiz und die Alpen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, hg. von J. Mathieu und S. Boscani Leoni, Bern 2005, S. 177.
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äußere wie innere Grenze dar, die das Land einerseits schützt, andererseits aber auch zerteilt. Im frühen 19. Jahrhundert verfasste Johann Rudolf Wyss Rufst du mein Vaterland, ein Vaterlandslied für Schweizer Kanoniere. »Ja, wo der Alpen Kreis/ Dich nicht zu schützen weiss,/O Schweizerland!/Steh’n wir den Alpen gleich,/ Nie vor Gefahren bleich.«15 In einer späteren Fassung wurde »O Schweizerland!« durch »Wall dir von Gott« ersetzt und die Alpen damit zum gottgegebenen Gebirgswall hochstilisiert. Die Alpen werden dadurch mit dem gesamten Land gleichgesetzt. »Diese von der Hymne exemplarisch getragene und verbreitete Gewissheit hat sich – kräftig genährt durch die Verschonungserfahrung in zwei Weltkriegen und kulminierend in der Réduit-Idee – bis in die Mitte des 20. Jhs. fortgepflanzt.«16 In Wyss’ patriotischer Heroisierung des Alpenwalls wird den Schweizer Kriegern felsenhafte Standhaftigkeit und Unerschrockenheit attestiert, springen sie doch gerade dort ein, wo der Wall Lücken aufweist. Boerlin-Brodbeck spricht von einem »Sich-Aufgipfeln«17, was auf die Vertikalität der topographischen Metapher hinweist. Die Berge richten sich straff auf wie Soldaten in Achtungstellung.
M ATER FLUVIORUM Geht es bei der Metapher der Felsenburg vor allem um das Steinerne und Felsige, so kommt bei der Metapher des alpinen Wasserschlosses18 das Element Wasser hinzu, ein wichtiger landschaftlicher Zweiklang, der die Vorstellung des Widerstandes mit derjenigen eines fruchtbaren Ursprungs konjugiert. Dass der Gotthard und die aus ihm entspringenden vier Flüsse ein Topos mit gesamteuropäischer Ausstrahlung war, bezeugt eine dichte Passage aus Johann Wolfgang von Goethes Briefen aus der Schweiz. Am Ende seiner dritten Schweizerreise erreicht Goethe den Gotthard, dessen Gipfel für ihn Schlusspunkt der drei Reisen und zugleich symbolischer Fixpunkt des Zentrums und der Wasserscheide Europas darstellt. Am 13. November 1779 notiert er: »Aus einer kleinen geographischen Beschreibung werden Sie sehen, wie merkwürdig der Punkt ist, auf dem wir uns jetzt befinden. Der Gotthard ist zwar nicht das höchste Gebirg der Schweiz, und in Savoyen übertrifft ihn der Montblanc an Höhe um sehr vieles; doch 15 | Zitiert in Y. Boerlin-Brodbeck, ›Wall dir von Gott?‹ Alpenlandschaft als Legitimationsfaktor, in: Helvetia unterwegs. Schweizerische Eidgenossenschaft – Ideen und Realitäten, 14 Vorträge gehalten an der Universität Basel, Basel 1991, S. 29. 16 | Ebd., S. 29. 17 | Ebd., S. 30. 18 | Zum Folgenden Marchal, Die Alten Eidgenossen, S. 309-403.
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behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andere, weil die größten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen. Ja, wenn ich mich nicht irre, so hat mir Herr Wyttenbach zu Bern, der von dem höchsten Gipfel die Spitzen der übrigen Gebirge gesehen, erzählt, daß sich diese alle gleichsam gegen ihn zu neigen schienen. Die Gebirge von Schwyz und Unterwalden, gekettet an die von Uri, steigen von Mitternacht, von Morgen die Gebirge des Graubünder Landes, von Mittag die der italienischen Vogteien herauf, und von Abend drängt sich durch die Furka das doppelte Gebirg, welches Wallis einschließt, an ihn heran. Nicht weit vom Hause hier sind zwei kleine Seen, davon der eine den Tessin durch Schluchten und Täler nach Italien, der andere die Reuß nach dem Vierwaldstätter See ausgießt. Nicht fern von hier entspringt der Rhein und läuft gegen Morgen, und wenn man dann die Rhone dazu nimmt, die am Fuße der Furka entspringt, und dann nach Abend durch das Wallis läuft, so befindet man sich hier auf einem Kreuzpunkte, von dem aus Gebirge und Flüsse in alle vier Himmelsrichtungen auslaufen.«19
In Goethes dichter Beschreibung kommt die kreuzartige Vierteilung gleich zweimal vor: in den Gebirgen und den Flüssen, die sich dem Gotthard aus den vier Himmelsrichtungen nähern und anschmiegen, um sich vom ihm loszulösen und wegzufließen. Durch diese dynamisierende Darstellung scheint der Gotthard gleichsam ein- und auszuatmen. Eine der allerersten Schriften, die auf diese territoriale Dimension der Schweiz anspielt, ist Albrecht von Bonstettens20 Superioris Germaniae confederationis descriptio aus dem Jahr 1479.21 In einer anthropomorphen Vision wird hier den Alpen, und insbesondere dem Mons Rigenus, dem Rigi, den er in Mons Reginus, den königlichen Berg umwandelt, die Rolle eines Kreuzweges und zugleich des Herzens Europas zugewiesen. Um die Rigi herum sind in symmetrischer Aufteilung die acht eidgenössischen Orte gelagert: je zwei Orte für jede geographische Richtung.22 Bonstetten entwirft, ausgehend von den mittelalterlichen T-Karten, eine Einteilung Europas,
19 | J.W. von Goethe, Vermischte Schriften, Berlin und Darmstadt 1952, S. 746-7. 20 | »Bonstetten sieht die Eidgenossenschaft als um den Rigi gruppiertes Zentrum Europas, zugleich aber auch als Grenze zwischen deren Ostteil, der Alemania, und der Gallia im Westen.« (Maissen, Ein ›helvetisch Alpenvolk‹, S. 74) 21 | Vgl. dazu auch G.P. Marchal, Staat und Nation in der schweizerischen Geschichtskultur, in: Historiographie in Polen und in der Schweiz, hg. von K. Baczkowski und Ch. Simon, Krakau 1994, S. 116-7. 22 | Zürich und Zug im Norden, Uri und Unterwalden im Süden, Schwyz und Glarus im Osten und Luzern und Bern im Westen. »Diese Zentrierung auf die Rigi […] stellt den ersten Versuch dar, den Raum der Eidgenossenschaft geographisch zu strukturieren und in die europäische Geographie einzuordnen.« (Marchal, Staat und Nation, S. 116)
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»in welcher der vertikale Balken des T dem Rhein (und der Limmat) entspricht und Gallien von Germanien scheidet, während der horizontale Balken diese Gebiete von Italien abtrennt und naheliegenderweise mit den Alpen identifiziert wird. Die eidgenössischen Gebiete liegen […] derart am Schnittpunkt der verschiedenen Scheidelinien, dass Bonstetten sie als punctus divisionis Europae bezeichnet, den Trennpunkt des Kontinents. Das Zentrum der Eidgenossenschaft wiederum ist auch für Europa cor et punctus medius, ›das herz und der punkt des mittels‹: die Rigi. Dieser Berg erhält so dieselbe Position wie Jerusalem auf den mittelalterlichen mappae mundi.« 23
Die Schweiz liegt damit nicht mehr an der Peripherie des Reichs, sondern in dessen Mitte, am Schnittpunkt von zwei kreuzartig angeordneten Achsen. Wie in späteren Texten überschneiden sich schon hier die territoriale und die körperliche Metapher. Die beiden hier untersuchten landschaftlichen Metaphern repräsentieren zwar zwei unterschiedliche Perspektiven mit ihrer eigenen Entstehungsgeschichte. In gewissen Texten kommt es aber auch zu Überschneidungen, so z.B. in Heinrich Bullingers Anklage und Mahnrede aus dem Jahr 1528. Bullinger ruft die Eidgenossen der Zeit im Namen Gottes dazu auf, sich auf die Tugenden der Alten Eidgenossen wieder zu besinnen. Er weist auf die landschaftlichen Schönheiten und die Fruchtbarkeit des Landes hin und verbindet die beiden Metaphern zu einer Einheit. Das Alpengebirge ist zugleich paradiesische Quelle der Tugend und Ursprung einer Freiheit, die es nicht nur mit hervorgebracht hat, sondern auch schützt. »Die Luft ist bei euch besser und gesünder als bei allen anderen Völkern Europas. […] Aus eurem Land fließen wie aus dem Paradies die größten Ströme Europas, […]. Ich habe euch vor anderen Völkern durch den Rhein und das Gebirge geschützt, das euch wie starke Ringmauern umgibt und umschließt.«24 Früh schon wurde ebenfalls die Frage erörtert, wie die doch so verschiedenen Eidgenossen es geschafft hatten, zueinanderzuhalten. Johannes Stumpf 25 bestimmt das Gebiet der Eidgenossenschaft als höchstes Alpengebiet Europas. Die mannhaften und kriegstüchtigen Einwohner haben ihre ursprüngliche Heimat über die Jahrhunderte hinweg bewahrt und sind sich treu geblieben: »iren alten erdboden noch bewohnen […] auch ir alte mannheit, auch irer vorderen dapferkeit noch nie hingelegt haben.«26 Stumpf stellt sich die Frage, was die verschiedenen Völker seiner Heimat zusammenhalte und was deren Sonderstatus innerhalb des Deutschen Reichs rechtfertige. Das ewige und 23 | Maissen, Bedeutung, S. 162. Vgl. dazu auch Maissen, Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden, S. 224-5. 24 | Zitiert in Maissen, Bedeutung, S. 168. 25 | Vgl. dazu auch Maissen, Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden, S. 234ff. 26 | Zitiert in Maissen, Bedeutung, S. 165.
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freiheitliche Helvetien besitzt eindeutige geographische Grenzen und deren naturgemäße Bewohner, die Alpenvölker, sind schon seit undenklicher Zeit hier ansässig.27 Aufgrund dieser Tatsachen spielen innere Unterschiede keine wesentliche Rolle mehr. Ganz anders argumentiert Aegidius Tschudi in seinem Die vralt varhafftig Alpisch Rhetia sampt dem Tract der anderen Alpgebirgen aus dem Jahr 1538. Hier werden die Alpen nicht als integrierender territorialer Faktor betrachtet, sondern viel eher als Ort, an dem die verschiedensten Völker und Interessen aufeinanderstoßen.28 Trotz dieser Unterschiede betonen beide Autoren den völkerprägenden Charakter der alpinen Landschaft. Felix Hemmerli (1388/9-1458/61) berichtet, Karl der Große habe der Schweiz den Auftrag gegeben, die Alpen zu schützen. Dies wird zwar nur nebenbei erwähnt, ist aber für die nachfolgenden Entwicklungen von zentraler Bedeutung. Auch der These, auf dem Gotthard, den summae alpes, sei der Ursprung aller wichtigen Flüsse zu suchen, begegnet man zuerst im frühen 16. Jahrhundert. Caesar spricht in seiner Beschreibung des helvetischen Siedlungsgebietes von vier Gauen, von denen er jedoch nur zwei namentlich erwähnt, den pagum Tigurinum und Verbigenum. Heinrich Glarean verbindet in seiner Helvetiae Descriptio diese vier Gaue mit je einem Fluss: der Thur, der Limmat, der Reuss und der Aare.29 In De Alpibus commentarius von Josias Simler (1530-1576)30 werden die Alpen als göttliches Werk dargestellt, weil sie sieben Flüssen zum Leben verhelfen. In einem Reisebüchlein bestimmt Andreas Ruf den Gotthard als einen Brunnen, dessen Rohre kreuzförmig angeordnet seien, so dass ihm vier unterschiedliche Flüsse entspringen würden. Diese Vorstellung lässt sich mit der biblischen Beschreibung aus Genesis 2: 10-14 verbinden. Dort ist die Rede von vier Paradiesflüssen. Damit sind einige der wesentlichen Momente der späteren Vorstellung schon ausformuliert: die Zentralität des Gotthards, seine Rolle als Kreuzweg und Mittelpunkt des ganzen Kontinents, die Aufgabe der Schweiz, diesen zu beschützen, die Alpen als Quelle und die Kreuzform. Marchal deutet die Wasserschlossmetapher als eine Erweiterung der Felsenburgmetapher: »Die Alpen werden nicht mehr allein aus einer lokalen Pers27 | Es geht dabei darum, »die antike Überlieferung und die moderne Eidgenossenschaft in Übereinstimmung zu bringen. […] Die Eidgenossenschaft wird so nicht mehr bloß als confoederatio, als noch relativ junger und lockerer Landfriedensbund verstanden, sondern sie verfügt seit Jahrtausenden über ein Volk und ein Territorium – Helvetia. Diese Anfänge reichen […] weiter zurück als das römische Imperium und die Christianisierung […] und sie verschaffen dem eidgenössischen Bund Legitimität.« (Ebd., S. 231) Ein erster Hinweis auf das Land Helvetia, das von Alpen und Rhein begrenzt ist, findet sich 1489 bei Felix Schmid. 28 | Vgl. Maissen, Ein ›helvetisch Alpenvolk‹, S. 83 sowie Maissen, Bedeutung, S. 169. 29 | Vgl. ebd., S. 77. 30 | Vgl. dazu auch Maissen, Ein ›helvetisch Alpenvolk‹, S. 84.
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pektive wahrgenommen, als Festungen, die die Schweizer Bergbewohner beschützen; sie sind nun Teil eines geographischen Systems auf europäischem Niveau.«31 [Übers. d. Verf.] Im 18. Jahrhundert wurden diese Elemente von Johann Jakob Scheuchzer in seiner 1706-1708 publizierten Beschreibung der Naturgeschichten des Schweizerlandes wieder aufgenommen. Scheuchzer übernimmt Tschudis Ausführungen zur Bedeutung des Gotthards.32 Dieser hatte als erster die in Caesars De Bello Gallico erwähnten »summae Alpes« mit dem Gotthard identifiziert und als höchste Erhebung der Alpen verstanden. Hier, in unmittelbarer Nähe, so Tschudi, würden Flüsse entspringen, die kreuzförmig in alle vier Himmelsrichtungen abfließen. Scheuchzer, der auch Johann Stumpfs Vorstellung der Eidgenossenschaft als Alpenland und der Eidgenossen als Alpenvolk rezipierte, verteidigte den Gotthard als höchste Bergspitze Europas, was er aber nicht beweisen konnte. Die davon abgeleitete privilegierte Lage der Schweiz deutete er als Ausdruck eines göttlichen Schöpfungsplanes. Scheuchzer übernahm ebenfalls die Vorstellung des Gotthardmassivs als ein enormes Wasserschloss. Obwohl er von vier Sprachen spricht, erwähnt er insgesamt fünf Flüsse: den Tessin, die Reuß, den Rhein, die Rhone und die Aare.
D ER G EIST, DER VON DEN H ÖHEN WEHT Im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkt sich das Selbstverständnis der Schweizer als ein alpines Volk. Die Herausbildung neuer großformatiger Nationalstaaten im europäischen Raum ließen das Land immer mehr als bloßen Kleinstaat erscheinen, der zudem noch durch vier verschiedene Sprachzonen in seiner Integrität bedroht wurde. Im restlichen Europa setzte man konsequent auf eine einzige Nationalsprache und versuchte, die Macht des Staates zu zentralisieren. In der Schweiz leistete man sich den Luxus eines archaischen Föderalismus. Diese neue internationale Lage zwang die Schweiz zunehmend, ihre Identität als Nation neu zu definieren. Dies tat sie einmal mehr mit Bezug auf die Berglandschaft.
31 | G.P. Marchal, La naissance du mythe du Saint-Gothard ou la longue découverte de l’›homo alpinus helveticus‹ et de l’›Helvetia mater fluviorum‹ (XVIe siècle-1940), in: Itinera, Fasc. 12, 1992, S. 42. 32 | Vgl. dazu Ch. Sieber, »Enutritus sum in hac terra alpium« – Geographie, Geschichte, Bevölkerung, Sprache: Aegidius Tschudi (1505-1572) und die Erforschung der Alpen im 16. Jahrhundert, in: Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (16721733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, hg. von S. Boscani Leoni, Basel 2010, S. 215-233.
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Um 1900 wurden, was die geopolitische Bedeutung der Schweizer Alpen angeht, neue bedeutsame Akzente gesetzt. 1882 wurde der Gotthardtunnel eröffnet, wodurch dessen fundamentale Rolle als wesentliche europäische Verbindungsachse deutlich hervorgehoben wurde. Der Gotthard war ein monumentales Symbol des eidgenössischen Staatsgedankens. 1891 bei den Festspielen zur 600-jährigen Rütli-Feier wurde eine Allegorie der Freiheit präsentiert, die sich in die Einsamkeit der Berge zurückgezogen hatte. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Autoren aus der französischen Schweiz das Thema des Gotthardmythos in dieser Zeit vermehrt aufnahmen und im Sinne einer kulturellen und sprachlichen Aussöhnung auslegten. Die Schweiz war ein Sonderfall, ihre eminent europäische Funktion war die Vermittlung unterschiedlicher Sprachen und Kulturen nach innen und nach außen. Im 1914 publizierten Cités et pays suisses beschrieb der Schweizer Schriftsteller Gonzague de Reynold (1880-1970) den Gotthard in militärischen Metaphern: Eingangstor, hoher Wachturm inmitten einer Festung, Kriegsgaleere in stürmischer See.33 Die Schweiz ist eine Arche Noah, in der die Grundwerte Europas gerettet werden. Es geht darum, »dem Reich hier oben eine Insel zu retten, wenn die Flut der Urgewalten durch die Tiefen brandet.«34 Nach de Reynold stellte der Gotthard die wichtigste Grenze Europas dar, er war die schicksalsträchtige Wasserscheide, an der sich die gesamten Energien des Landes sammelten. »[…] so erschien de Reynold in der geographischen und geschichtlichen Konfiguration des Gotthards die Essenz der Schweiz, ihr Daseinsgrund und ihre europäische Aufgabe ausgedrückt. Die stille Wacht der Gotthardfestung, deren Stahl dem Felsenchaos sein Gesetz auferlege, wird zum Symbol von Ordnung und Beständigkeit […]. An ihm, von dem wie von einem Kreuz die Wege hinaus in alle Teile Europas strebten, erweise sich, wie sehr die Wirkkraft der Alpen, dieser Schöpferinnen von Einheit, stärker sei als alle anderen Einflüsse der Rassen und Religionen. […] Aus den Alpen erwuchs nicht mehr bloss das Heil des Vaterlandes, salus patriae, sondern nun immer mehr das Heil des Reiches der europäischen Völkergemeinschaft.« 35
Die Schweizer Alpen sind das Herzstück Europas, des Imperiums, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Aufgabe der Schweiz ist es, die großen Übergänge der Alpen und die Quellen der Flüsse zu bewachen. Es ist zwar ein Land mit vier Sprachen, aber mit einem einzigen Nationalbewusstsein, kein zufälliges Konglomerat, sondern eine Nation, welche durch ein geheimes 33 | Vgl. G. de Reynold, Cités et pays suisses, Lausanne 1914, S. 295 sowie Reichler, Entdeckung einer Landschaft, S. 259-278. 34 | Zitiert in Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 377. 35 | Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 120-1.
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Band zusammengehalten wird. In den Bannières flammées aus dem Jahr 1915 wird die Reduktion der Schweiz und der Schweizer auf ein felsiges Bergprinzip ins Extreme gesteigert: »Die Schweiz ist ein Felsen. Solider Grund, aber hart. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Alpen und Voralpen fast drei Viertel unseres Territoriums ausmachen. Die Schweizer sind Bergbewohner geblieben, als Erbschaft oder aufgrund der Umgebung.«36 [Übers. d. Verf.] Der in Lausanne geborene Schweizer Romanist Ernest Bovet (1870-1941) versuchte in dem 1909 publizierten Nationalité zu erklären, warum die Schweiz trotz aller Krisen überlebt hatte. Auch Bovet betrachtete die Berge als Festung. Die Stärke der Schweiz liegt vor allem im politischen Willen und demokratischen Ursprung ihrer Institutionen. Sie ist die erste bewusste Nation Europas. Hinzu kommt aber noch ein aus der Landschaft abgeleitetes subtiles Fluidum: »Eine geheimnisvolle Kraft hält uns seit 600 Jahren zusammen und hat uns unsere demokratischen Institutionen gegeben. Ein guter Geist wacht über unsere Freiheit […] schafft aus unseren verschiedenen Sprachen harmonischen Lobgesang auf das eine Ideal. Es ist der Geist, der von den Höhen weht, der Genius der Alpen und Gletscher […]. Der Berg war nicht zufällig Schutzwall der Hirten gegen die Ritter. Er war ihre Geburtsstätte selbst; sein aperer Boden, seine rauhen Himmel haben ihren Charakter geformt und seither hat immer der Berg unser inneres Leben bestimmt.« 37
Nach Bovet ist der Zusammenhang von Gebirgsnatur und Volkscharakter offensichtlich und hat nachhaltig die nationale Besonderheit der Schweiz geformt. Die Berge sind dabei generativer Urgrund und schützender Hort. Diese metaphorische Entsprechung wird zwar behauptet, aber nicht im Detail ausgeführt – abgesehen von den beiden Momenten des Himmels und des Bodens, denen beiden etwas Raues nachgesagt wird –, wohl auch, weil eine zusätzliche Präzisierung kritikanfälliger wäre. Geliefert wird hingegen eine Liste von Charaktereigenschaften: Ernsthaftigkeit, Pflichtbewusstsein, Einfachheit, Ehrlichkeit, Ausdauer, Findigkeit, Tatkraft, Neigung zu Widerstand, Unabhängigkeitsstreben. Diese unterhalten mit dem Himmel und den Bergen eine vage metaphorische Verbindung, die durch das gemeinsam gedachte Moment der authentischen Schroff heit zustande gebracht wird. Das Ursprüngliche ist in dieser Vorstellung stets unberührt, simpel, direkt, natürlich und gerade deswegen kräftig und beharrlich.
36 | Zitiert in F. Walter, La montagne des Suisses. Invention et usage d’une représentation paysagère (XVIIIe-XXe siècle), in: Études rurales, janvier-décembre 1991, 121-124, S. 99, aus Gonzague de Reynold, »En 1941 comme en 1291, La Suisse est devant son destin«, Genf 1941, S. 10. 37 | Zitiert in Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 123.
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Die Alpen sind nach Bovet der zentrale Referenzpunkt bei der Reflexion über den Schweizer Staat und dessen Rolle in der Welt. Die Alpen sind nach innen hin in Regionen unterteilt und nach außen hin den verschiedenen benachbarten Kulturen geöffnet. In ihnen kommt daher eine zweifache Kulturvielfalt zum Ausdruck. Da die Schweiz Ausgangspunkt der unterschiedlichen Gewässer und Kulturen ist, obliegt ihr die Aufgabe, das Gleichgewicht im Herzen Europas sicherzustellen und zwischen den verschiedenen Kulturen zu vermitteln. Die Schweiz ist viel mehr als ein Rassengemisch, es ist eine Nation mit einem eigenen Ideal. »Unsere Unabhängigkeit wurde geboren im Gebirge, und das Gebirge prägt noch immer unser ganzes Leben, gibt ihm seine Eigenart, seine Einheit.«38 Die Schweiz widerlegt den Rassenwahn. Nicht die verschiedenen Sprachen und Religionen machen die eigentliche Schweiz aus. Die Schweiz hat dank eines geheimnisvollen Bandes überdauert: der Geschichte. Der Schutzwall der Alpen ist eine glückliche Fügung, der tiefere Grund. Dennoch wird die Schweiz von den übermächtigen Nationalismen der anderen europäischen Länder bedroht. Im 1908 erschienenen Réflexions d’un homo alpinus schreibt er: Der Rasse halten wir die Nation entgegen, »dem Hass die Zivilisation, der blinden Natur die Gesinnung. Das ist mitten in der dinghaften Welt die glorreiche Schöpfung des Menschen; das ist in der Nacht der Zwänge der Weg, der hinaufsteigt ans Licht und zur Freiheit.«39 Auf den homo alpinus als Garant einer ursprünglichen, sich organisch aus der Landschaft ergebenden Demokratie bezieht sich 1937 auch der aus dem Tessin stammende Bundesrat Giuseppe Motta in einer Rede vor der Société des Nations. Die Schweiz ist ein Land, dessen grundlegende Einheit tief im alpinen Boden verwurzelt ist. Obwohl ein Volk und eine Nation der verschiedenen Sprachen, kommuniziert es durch und über die Berggipfel hinweg. »Der Mensch der Berge – der homo alpinus helveticus – ob Poet oder Schriftsteller oder einfacher Hotelportier, besitzt die gleiche souveräne Würde.«40 [Übers. d. Verf.]
P ÄSSE UND Q UELLEN Die Metapher des Gotthardmassivs spielte ebenfalls eine zentrale Rolle in der geistigen Landesverteidigung, die ab 1932 als Gegenbewegung zu den Totalitarismen der Zeit gedacht wurde und deren Ziel es war, schweizerische Werte und Bräuche zu stärken. In einer Botschaft des Schweizer Bundesrates vom
38 | Zitiert in Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 374. 39 | Zitiert in Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 122. 40 | Zitiert in Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 378.
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9. Dezember 1938, die zugleich die Vorstellung des Reduits vorwegnimmt, wird der Gotthard als Berg der Mitte beschworen: »Ein Blick auf die europäische Karte zeigt uns, dass der gewaltige Wall der Alpen an einer Stelle sich zurück- und zusammenzieht auf einen einzigen massigen […] Gebirgsstock: am Sankt Gotthard.«41 Der Gotthard repräsentiert die Schweiz, ihre Kultur und Tradition in einer Nussschale. In der 1939 gehaltenen Rede Das Land und seine Sendung des Schweizer Bundesrates Philipp Etter werden die beiden territorialen Metaphern des Walls und der Quelle kurzgeschlossen. »Nur an wenigen schmalen Pforten öffnet sich zu ebener Erde der Eingang in das Innere unseres Landes. Überall sonst führen die Ein- und Ausgänge der Schweiz über Berge. Im Süden und Osten über die Alpen, im Norden und Westen über den Jura. In diesem Rahmen bildet unser Land eine natürliche Einheit, deren Grenzen nicht von Menschenhand gezogen sind. Der göttliche Schöpfer selbst hat die Einheit dieses Landes geschaffen und es ummauert mit starken Wällen von Granit und hartem Kalkstein, damit es zugleich eine Festung sei, so gross und stark, wie sie nur der Herrgott selber bauen konnte, aber auch wieder gerade so gross, als es nötig ist, um auf diesen Festungswällen eines kleinen Landes eine grosse geistige Sendung zu verteidigen. […] Die Schweiz ist das Land der Pässe und der Quellen. Die Berge trennen und scheiden. Die Pässe verbinden und vermitteln. Die Quellen befruchten. Uns ward die Aufgabe, im Herzen des Abendlandes Wache zu stehen an den Pässen und an den Quellen. Die Berge, an denen die Völker Europas sich scheiden, die Pässe, die jene Völker verbinden, die Quellen der Ströme, die das wirtschaftliche und geistige Leben Europas befruchten, sollen frei bleiben, sollen in der Obhut eines freien Volkes stehen.« 42
Der Wall der Alpen legt sich um die Pässe und Quellen wie der Gürtel einer bewaffneten Rüstung. »In diesem granitenen Felsen verteidigte man die Essenz der Schweiz […]. Das Réduit schützte den Staat, nicht die Bevölkerung; aber mit dem Staat schützte es ›das nationale Erbe‹.«43 Es ging dabei vor allem darum, für Europa Hüterin am Gotthard zu sein. Damit verschmelzen die beiden hier diskutierten Grundmetaphern. Der Alpenwall dient dem Schutz des Wasserschlosses.
41 | Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesblatt Band 2, Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung, Schweizerisches Bundesarchiv, Bern 1938, S. 998-999. 42 | Ph. Etter, Reden an das Schweizer Volk: gehalten im Jahre 1939, Zürich 1939, S. 11-12. 43 | Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 397.
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Philipp Sarasin hat dieses Zitat eingehend kommentiert und kritisiert. Er spricht treffend von einer imaginären Geographie, die der landschaftlichen Metapher die territoriale Realität opfert, verschweigt sie doch die Schweiz der Städte – Basel, Genf, Lausanne und Lugano – vollkommen, und leugnet die Tatsache, dass der Weg zwischen der nördlichen Grenze und Zürich eigentlich ganz eben verläuft. Etters Argumentation, angetrieben vom Bild des Walls, deutet die Alpen als eine kontinuierliche Ringmauer, die nur durch wenige enge Türen begehbar ist. In einer weiteren Passage derselben Rede benützt Etter landschaftliche Unterschiede, um das politische Projekt der Schweiz zu umschreiben und verbindet dieses mit der Metapher des Leibes. Der Berg wird als Lebewesen verstanden und das Wasser der Quellen als weibliches befruchtendes Medium und als Symbol eines Verbrüderungsprozesses, einer männlich phantasierten Blutsbrüderschaft, die zugleich eine Opferung ist. Die Einführung der körperlichen Dimension stärkt die rhetorische Wirksamkeit der landschaftlichen Metapher und verleiht ihr etwas Lebendiges. Auf die Verbindung von Landschaft, Körper und Geschlecht werde ich im letzten Kapitel näher eingehen.44 »Das Rütli, auf dem der bündische, eidgenössische Gedanke seine erste gestaltende Kraft offenbarte, liegt zwischen Berg und See. Der Berg trägt die Pässe auf seinen Schultern, der See in seinen Wassern die Quelle. So wirken die Kräfte der Verbindung und der Befruchtung zusammen. Und zwischen Berg und See, am Morgarten, ward der Bund der Freiheit durch das Blut besiegelt.«45 In dieser Vision der Welt, so Sarasin, spiegle sich alles in allem.46 Auf jedes historische Zeichen antworte ein göttliches – und ein landschaftliches, möchte man hinzufügen. Diese innere Struktur multipler me44 | S.u. Vom body politic zum body geographic. 45 | Etter, Reden an das Schweizer Volk, S. 14-5. 46 | Sarasin verweist in seiner weiteren Analyse darauf, dass Guisan im Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 dieselben Metaphern wie Etter bemühte. »Der General sagte unter anderem, dass die Armee am Gotthard die ›Alpenübergänge‹ verteidigen werde, ›coûte que coûte‹ – koste es was es wolle. Er erhob also genau jenes das Abendland verbindende bewaffnete Wächteramt, von dem der Bundespräsident ein Jahr zuvor gesprochen hatte, zum strategischen Konzept. Dass die Armee dann am Gotthard vor allem die ›Pässe‹ beziehungsweise die Eisenbahntunnels zwischen Italien und Deutschland sicherte, war auch während des Krieges ein offenes Geheimnis. Und ebenfalls im Sinne einer wörtlich gelesenen Metapher Etters sagte nur sieben Tage nach dem Rütli-Rapport der damalige Bundespräsident Pilet-Golaz in seiner Radioansprache zum Nationalfeiertag von 1940, die Aufgabe der Armee bestehe darin ›Hüterin der Alpen zu sein‹ – nicht der Schweiz –, ›Festung und Schlussstein Europas zugleich‹.« (Ph. Sarasin, Metaphern der Ambivalenz. Philipp Etters »Reden an das Schweizervolk« von 1939 und die Politik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, in: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 189).
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taphorischer Korrespondenzen erschafft ein Ganzes, bei dem die einzelnen metaphorischen Verknüpfungen einander stützen und legitimieren. »[…] es ist keine neue Erkenntnis«, schreibt dazu Sarasin, »dass organizistische und religiöse Metaphern im Raum der politischen Sprache immer dann auftauchen, wenn die Naturwüchsigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse beschworen werden soll. […] die Vorstellung einer Korrespondenz von Boden, Klima, ›Blut‹ und politischem System seit Montesquieu zur Staatsdiskussion der Moderne gehört – auch wenn sich dieses Korrespondenzendenken im Laufe des 19. Jahrhunderts immer deutlicher an den rechten Rand des politischen Spektrums verschoben hat.«47
A CHSENKREUZ In Die Hauptstrukturlinien der Schweizer Alpen und ihre geopolitische Bedeutung (1934) weist der Schweizer Geograph und ETH-Professor Paul Niggli (1888-1953) auf die geopolitische Bedeutung der Alpen hin. Das Aar- und Gotthardmassiv ist die geographische und geologisch-strukturelle Voraussetzung für einen Staat, der sich von den Alpen bis zum Jura erstreckt, eine zusammenhängende Landschaft, welche die Urelemente der Eidgenossenschaft enthält und in welcher die Alpen die Dominante darstellen. Ausgehend vom Kernland und dem damit verbundenen Kernvolk der Eidgenossen hat »nach der Öffnung des [Gotthard]Passes wie vom Drehpunkt des alpinen Bogens aus [eine] aktive Stosskraft ins Vorland ausgestrahlt und zur Bildung der schweizerischen Nation geführt […].« Die aufeinander bezogene geographische und sprachliche Vielfalt des Landes besitzt eine natürliche Einheit, die vom Gotthard aus, quasi als Naturnotwendigkeit, gegeben ist. Die Tektonik der Alpen umschließt die wesentlichen Elemente: die unterschiedlichen Sprachgebiete und die beiden Achsen – den Gotthardpass und die Längsfurche der Rhone und des Rheins. Niggli nimmt hier implizit die aus der Tradition stammende Kreuzmetapher wieder auf. Dieselbe Metapher findet sich auch in einem fast gleichzeitig erschienenen Volksstück Georg Thürers – Das Spiel vom Sankt Gotthard (1935). Thürer bestimmt den Gotthard als Kernpunkt des Imperiums, als Ort, wo sich die beiden Achsen schneiden, die Nord-Süd-Achse des Reichs, die den Längsbalken des Schweizerkreuzes bildet und die Ost-West-Achse, die durch den Alpenwall gegeben ist. Die Kreuzmetapher integriert hier die ältere Metapher des Alpenwalls in ein komplexeres und vielseitigeres Gesamtkonzept. Suggeriert wird dadurch auch eine Verbindung zwischen dem weißen Kreuz der Schweizer Fahne und den sich auf dem Gotthard kreuzenden Achsen. Eine Verbindung, die allerdings nicht durch historische Tatsachen belegt werden kann. 47 | Ebd., S. 185.
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In seiner bundesrätlichen Botschaft des 9. Dezember 1938 verweist Philipp Etter auf die geistige Grundlage, aus der sich die Kraft eines organisch gewachsenen Staates ergibt. Dessen Sendung ist es, das Zusammenleben der europäischen Völker zu verwirklichen. Die Schweiz gehört zu drei großen Lebensräumen, dem deutschen, französischen und italienischen. Als Berg der Mitte verbindet und trennt der Gotthard zugleich diese drei unterschiedlichen Lebensräume. Als wesentliches Element der geistigen Landesverteidigung wird »die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen«48 herauf beschworen. Damit ist kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges der Höhepunkt dieses Diskurses erreicht, der die Alpen als Hort der Unverdorbenheit und Hochaltar der Freiheit bestimmt hatte. Abbildung 5: Höhenstrasse, Landi 1939
Der Reichtum der Schweiz, so Etter 1933, ergibt sich aus dem »Bestehen einer übersprachlichen und rassenverbindenden Völkerfamilie im Herzen Europas,
48 | Zitiert in Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 379 (vgl. dazu auch Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 127-8).
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in den Bergen, die den Rückgrat des europäischen Festlandes bilden.«49 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Symbolismus weitgehend in Vergessenheit geraten. Dennoch tauchen Versatzstücke davon immer wieder auf, wie die zu Anfang zitierte Rede von Bundesrat Delamuraz dokumentiert. In Krisenzeiten sind nationale Bilder besonders virulent und haben Konjunktur. Für die Schweiz waren dies die Zeit um 1500, in der das Land so etwas wie eine Identitätskrise durchmachte, das Ende des Ancien Régime, das 19. Jahrhundert und die Zeit um 1900 sowie die 1930-1940er Jahre.
D IE B ERGGIPFEL UND DAS G EBIRGE Abschließend möchte ich nun noch anhand einiger Beispiele auf die Bedeutung des einzelnen Berges in Bezug auf die Gesamtheit des Gebirges eingehen. Die Klärung und Veranschaulichung des Bezugs von Teil und Ganzem, Gemeinde und Nation, Individuum und Kollektivität ist besonders für ein Land wie die Schweiz wichtig, das sich als föderativ, dezentral, mehrsprachig und multikonfessionell versteht. Wie lassen sich die Einheit in der Vielheit und die Vielheit in der Einheit räumlich und landschaftlich veranschaulichen? Ein Versuch, dieses spezifische politische Verständnis sichtbar zu machen, war die für die Landesausstellung in Zürich 1939 erstellte 900 Meter lange Höhenstrasse (Abb. 5), welche die Fahnen von 3000 Gemeinden vereinte und so etwas wie das Rückgrat der Ausstellung darstellte. An der Landi, die in Zeiten der Bedrohung stattfand und Ausdruck der damaligen geistigen Landesverteidigung war, wurde ebenfalls das traditionsreiche Bild des Gotthards als Zentrum des Landes, dem vier Flüsse entsprangen, eingesetzt. Im Goldenen Buch der Landesausstellung wird der Gotthard als Brennpunkt des Landes (Abb. 6) und als Symbol von dessen Geschichte und geographischer Lage bezeichnet. Jonas Römer ist der politischen Relevanz des metaphorischen Verhältnisses von Teil und Ganzem in der Zeit zwischen 1815 und 1848 nachgegangen. Dass die Identifikation der Schweiz mit dem Alpenmassiv bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückreicht, ist hier schon aufgezeigt worden. Die Vergleiche verdichten sich allerdings im späten 18. Jahrhundert. So verweist Römer auf die starke Zunahme solcher Analogien um 1800 und den durch Johan Caspar Lavater 1767 geprägten »amalgamierenden Begriff ›Schweizeralpenland‹«,50 der das Historisch-Politische und Landschaftliche in einer Homologie zur De49 | Ph. Etter, Der Schweizer Staatsgedanke, in: Schweizer Rundschau 33, 1933/34, S. 2, zitiert in Marchal, Die ›Alten Eidgenossen‹, S. 378. 50 | J. Römer, Vielfalt und Einheit: das Alpenmotiv im politischen Diskurs der Schweiz zwischen 1815 und 1848, in: Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, hg. von J. Mathieu und S. Boscani Leoni, Bern 2005, S. 338.
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ckung bringt, die im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich großer Beliebtheit erfreute. Abbildung. 6: Der Gotthard ist der Brennpunkt unseres Landes, Landi 1939
In der Zeit zwischen 1815, dem Jahr, in dem die Schweiz ihre volle staatliche Souveränität zurückgewann, und dem 12. September 1848, an dem die neue Bundesverfassung verabschiedet wurde, war die Schweizerische Eidgenossenschaft ein lockerer Staatenbund, in dem die einzelnen Kantone große Selbständigkeit genossen. Gerade deswegen wurde die Frage nach der inneren Kohäsion dieses sprachlich, konfessionell und kulturell äußerst heterogenen Gebildes besonders heftig diskutiert. Römer zitiert aus den Eröffnungsreden der jeweiligen Tagsatzungspräsidenten, die im Namen der gesamten Schweiz sprachen und daher gezwungen waren, Vorstellungen zu aktivieren, die den Widerspruch zwischen dem losen Verbund unabhängiger Kantone überbrückten, ohne dabei auf den inzwischen diskreditierten Unitarismus der Helvetischen Republik
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(1798-1803) französischer Prägung zurückzugreifen. Hinweise auf geschichtliche und landschaftliche Motive eigneten sich daher besonders gut. »Die Alpen werden oft indirekt durch Begriffe wie ›Hochgebirge‹ oder ›Felsentrümmer‹ und Wendungen wie ›höchster Punkt Europas‹ oder ›Berge und Täler‹ evoziert. Umgekehrt steht der Begriff der Alpen pars pro toto fürs Gebirge, für die Urschweiz, die Gesamtschweiz oder die ›natürliche‹ Umwelt ›echter‹ Eidgenossen.«51 Damit ist die eine Seite erfasst: die Einheit. Wie aber lässt sich beides haben, den inneren Widerspruch, die ungelöste Gegensätzlichkeit und die gleichzeitige Harmonisierung in einem übergeordneten Gefüge? In einer Rede vom 1. Juli 1816 rekapituliert Hans von Reinhard die Geschichte der Schweiz als sukzessive Entfaltung eines inneren Kerns, in deren Verlauf sich die Urbevölkerung über das Territorium der Schweiz in vielen Rinnsalen ergießt. »Das ist das Volk, das in den innersten Hochgebirgen sich bildete, gleich den Alpen selbst sich in tausend Äste und Flächen ausdehnte, und nun den Raum einnimmt, den zwischen den drei grossen Nachbarstaaten die Natur ihm vorgezeichnet, und solches zum Hüter der Alpen-, Jura- und Rheinpässe bestimmt hat.«52 Die vielfältig durchfurchte Topographie der Schweiz, die Mannigfaltigkeit an Gebirgsketten, Hochebenen, Talschaften, Flüssen und Seen, welche das Gebiet mehrfach zerteilen, wird direkt auf die innere Zerklüftung der politischen Landschaft übertragen und zugleich als deren eigentlicher Ursprung bezeichnet. Der schweizerische Föderalismus ist somit ein Ergebnis der spezifischen segmentierten geographischen Lage des Landes. Die Metapher der Verästelung fügt dieser doch eher statischen Vorstellung noch etwas Dynamisches hinzu: die Schweiz wird als ein aus gleichen Wurzeln gewachsener Baum verstanden. Beide Bilder betonen das Hauptanliegen: die Verbindung von Vielheit und Einheit. »Die Natur des Schweizerlandes«, so Constantin Siegwart-Müller am 1. Juli 1844, »stellt das Bild der wundersamen Mannigfaltigkeit dar. Sie hat schon an und für sich die Völkerschaften der Schweiz geschieden durch Berge und Flüsse, als die natürlichen Marken der verschiedenen Stämme, hat jedem Stamme den eigenthümlichen Lebensberuf angewiesen, dem er sich ohne Zwang und Missbehagen nicht entziehen mag.«53 Interessanterweise wird der zentrale Gegensatz von Berg und Tal, der sich in mehreren Eröffnungsreden findet, als Garantie des Föderalismus betrachtet. Dessen Abschaffung käme einer Einebnung des Unterschiedes gleich, einer Vergewaltigung der natürlichen Ordnung. Man dürfe nicht erlauben, dass das »Streben nach Zentralität«, so Conrad Melchior Hirzel, alles verflache, »Berg und Thal ausebnen werde.«54
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Ebd., S. 340. Zitiert in ebd., S. 342-3. Zitiert in ebd., S. 343. Zitiert in ebd., S. 344.
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Das zweite Beispiel stammt von Elias Canetti, der zu Beginn auf einen scheinbaren Widerspruch hinweist und gleich die landschaftliche Lösung nachliefert. »Das patriotische Gefühl der Schweizer ist größer als das mancher Völker, unter denen nur eine Sprache gesprochen wird. Die Vielzahl der Sprachen, die Vielfalt der Kantone, ihre unterschiedliche soziale Struktur, der Gegensatz der Religionen, deren Kriege gegeneinander noch in historischer Erinnerung sind – nichts vermag dem nationalen Selbstbewußtsein der Schweizer ernsthaft Abbruch zu tun. Allerdings haben sie ein Massensymbol gemein, das ihnen allen jederzeit vor Augen steht und unerschütterlich ist wie das keines anderen Volkes: die Berge. Von überall sieht der Schweizer die Gipfel seiner Berge. Aber von manchen Punkten erscheint ihre Reihe vollständiger. […] In ihren Spitzen oben getrennt, hängen sie unten wie ein einziger, riesiger Körper zusammen. Sie sind ein Leib, und dieser Leib ist das Land selbst.« 55
Die einzelnen Gipfel stehen metaphorisch gesprochen für die unterschiedlichen Kantone und Gemeinden, aber auch für die verschiedenen Sprachen, Kulturen, Mentalitäten und Konfessionen. Wie der Schweizer Bundesrat Philipp Etter in seiner Rede schlägt auch Canetti eine metaphorische Brücke zwischen Nation, Gebirge und Leib und verbindet damit den body politic mit dem body geographic. Auf diesen Zusammenhang werde ich im letzten Kapitel näher eingehen.56 Abbildung 7: Für Berge, die ihre Bewohner ernähren
55 | E. Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 192-3. 56 | S.u. Vom body politic zum body geographic.
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Eine bildhafte Umsetzung dieser Vorstellung aus der unmittelbaren Gegenwart findet sich in einer Werbekampagne der schweizerischen Warenhauskette Coop, die in ihrem Pro-Montagna-Projekt (Abb. 7) für eine Unterstützung der Bergbevölkerung wirbt und zu diesem Zweck die in Bergregionen hergestellten Käsesorten zum Verkauf anbietet. Die dreieckigen Käsestücke stehen wie Berggipfel nebeneinander und suggerieren dadurch so etwas wie kulturelle Pluralität. »Berge, die ihre Bewohner ernähren«, lautet das mehrdeutige Motto. Insgesamt besteht das Sortiment aus elf verschiedenen Käsesorten. Die gemeinsame verbindende Basis, um die Metapher Canettis aufzugreifen, wird dabei von der Milch geliefert. Die mehrsprachig daherkommende Werbung ist aber eine Täuschung, stammen doch fast alle Käsesorten aus der deutschen und rätoromanischen Schweiz und nur eine aus dem französischen Teil des Landes. Das Sortiment umfasst keinen Tessiner Alpenkäse.
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Hoher Himmel, enges Tal Wandlungen des alpinen Diskurses
»[…] den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft […] sprengen auf die andere Seite, gegen Norden, damit wir italienische Luft direkt bekämen.« C ARL S PIT TELER in einem Brief vom 13. Oktober 1896
In diesem Kapitel möchte ich vor allem drei miteinander verbundenen Metaphern nachgehen, die sich in kritischer, provokativer Weise mit der nationalen Landschaft der Schweizer Alpen, so wie sie im vorhergehenden Kapitel dargelegt wurde, auseinandersetzen: Enge, Erosion und deren Steigerung, die Explosion. Der schützende gottgewollte Wall der Alpen, die helvetische Felsenburg der Freiheit wird in diesen Narrationen als beengendes Gefängnis verstanden, als Felsenkerker, in dem die Einheimischen zu ihrem eigenen Schaden eingesperrt sind. Wer sich mit Mauern umgibt, und sollten diese auch bloß schützende sein, wird schlussendlich zum Gefangenen seiner eigenen Schutzvorrichtungen. Er verschließt sich dem Fremden und muss bald alles von außen Kommende als beängstigend und bedrohlich erfahren. In diesem Zusammenhang geht es vor allem um eine Inversion gängiger Erwartungen: Die schützende Mauer wird zur Kerkerwand und das offene Tal zur gefängnisartigen Schlucht, aus der man nur noch in Gedanken entfliehen kann. Im Stück Ein neues Tellspiel aus dem Jahr 1923 lässt Jakob Bührer eine seiner Figuren über die Enge der Schweizer Bergwelt klagen und vom Meer träumen wie Hermann Burgers Wolfram Schöllkopf aus dem fast 60 Jahre später publizierten Roman Die Künstliche Mutter. »Muss ich mein Leben lang in diesen Steinen wohnen? […] Wo Menschen sind, ist Heimat, sollt ich meinen. Uns aber ist die engste Enge Heimat, und wer sie uns betritt, ist fremd, ja feind. […] Dies Tal ist mir zu klein, ich möchte unsere ganze Erde lieben! Die ganze Erde soll uns Heimat sein!«1 Bührer setzte sich zwar für die geistige Landesverteidigung der 1 | Jakob Bührer, Ein neues Tellspiel, hg. von W. Weber, Zürich 1987, S. 21, zitiert in Ch. Siegrist, Gefängnismauern oder Hort der Bewahrung? Jakob Bührers und Max Eduard
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Schweiz zur Zeit des Dritten Reichs ein und propagierte die Idee des Reduits, Inbegriff einer gesteigerten, nationalistisch inspirierten militärischen Version des Alpenwalls. Zugleich aber betonte er die damit verbundenen Gefahren einer kulturellen Erstarrung und begründete diese, wie später nach ihm Paul Nizon und Max Frisch, mit der landschaftlichen Enge der Berge. Innerhalb der allgemeinen Diskussion seiner Zeit, welche die Welt der Gebirge als Hort der Freiheit feierte, stellt er damit eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Auswege aus der Enge sind die Flucht, das selbstgewählte Exil oder die aktive Gegenwehr, die von der langsamen schleichenden Erosion bis hin zur plötzlichen zerstörenden Explosion reichen kann. Zersetzen oder Sprengen. Dabei geht es darum, die Vertikale2 in die Horizontale zu überführen und das Breite und Flache gegenüber der Enge und Höhe zu betonen. Der poetisch erhabene Tumult der schneebedeckten Gipfel wird provokativ in die prosaische Horizontalität der Ebene übersetzt. Eine weitere Strategie besteht darin, auf das Künstliche, Zerbrechliche des Gebirges hinzuweisen, jedenfalls, was dessen symbolische Bedeutung angeht. In dieser Vorstellung wird die Erhabenheit des Gebirges ins Spielzeugartige herunterdekliniert und die imposanten, den Horizont ausfüllenden Bergkulissen als hübsche Tapete entlarvt. Verkleinerung, Entzauberung, Absturz aufs Papier. Marchal spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einem Tapetenvaterland.3 Wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, werden diese verschiedenen Strategien innerhalb der Schweizer Literatur und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts einzeln oder kombiniert, in vielfacher und meist spielerischer Art und Weise eingesetzt. Dieses Kapitel soll darüber hinaus beispielhaft zeigen, in welcher Form nationale Landschaftsdiskurse von innen her infrage gestellt wurden und dies zu einer Zeit, als ihnen noch immer bedeutungsschwere kollektive Relevanz zukam. Gottfried Kellers, Carl Spittelers, Jakob Bührers und Robert Walsers kritische Bemerkungen stammen aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurden zum Teil in Zeiten nationaler Rekrudeszenz formuliert. Paul Nizons, Max Frischs, Friedrich Dürrenmatts, Hermann Burgers, Urs Widmers, Peter Fischlis, David Weiss’ und Roman Signers Arbeiten situieren sich schon jenseits der fundamentalen Wertekrise der
Liehburgs Alpenkonzept in ihren Tell-Dramen, in: Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität/La Suisse imaginée. Bricolages d’une identité nationale, hg. von G.P. Marchal und A. Mattioli, Zürich 1992, S. 329. 2 | »La Suisse«, schreibt dazu Anne-Marie Thiesse, »même si son territoire s’agrandit au début du XIXe siècle, reste bien mince entre de larges voisins: elle se fait haute, très haute. Le pays des Helvètes se représente tout en cimes prodigieuses et étincelantes.« (Thiesse, La création des identités nationales, S. 188). 3 | Vgl. dazu Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 474-479.
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1960er Jahre, die natürlich auch nicht vor der geheiligten nationalen Landschaft Halt machte.
I GEL UND B UNKER 1998 erhielt die Schweiz die Einladung, als Gastland an der 50. Frankfurter Buchmesse teilzunehmen. Die Teilnahme lief unter dem ambivalenten Motto »Hoher Himmel, enges Tal«, welches den Diskurs der Enge zwar aufnimmt, durch einen Hinweis auf die Weite des Himmels aber auch so etwas wie die Möglichkeit von Kreativität durchscheinen lässt. Suggeriert wird ein Gegensatz, der ein kulturelles Programm begründet. Die Enge der Landschaft lädt zum Phantasieflug ein, zum Blick in die Weiten des Himmels aus der Tiefe des Tals, zur Vision über die versammelten Gipfel hinweg oder zur Erfahrung der Weite der Hochgebirgslandschaft, wie sie z.B. in vielen Gemälden des in Österreich geborenen, aber in der Schweiz verstorbenen Malers Giovanni Segantini anzutreffen ist. In einer Fernsehsendung, die am 17. Oktober 1998 zur Zeit der Buchmesse im Schweizer Fernsehen DRS lief,4 nahm der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer zur kulturellen Lage der Schweiz in einem vereinten Europa kritisch Stellung. Für das Interview wurde ein äußerst symbolträchtiger Ort ausgewählt: ein verlassener Grenzbunker am Rhein in der Nähe von Rheinfelden,5 den man nur über eine wacklige Leiter erreichen konnte, Sinnbild für eine bestimmte Schweiz, für die Widmer im Interview zwei Metaphern bemüht: den Igel und den Bunker. Widmer, der damit einige zentrale Argumente aus Paul Nizons Diskurs in der Enge aufnimmt – auch Nizon spricht von einer »Igel-Psychose«, der »immerwährenden verdächtigen Angst«, die eigene Identität zu verlieren –,6 hebt den bäuerlichen Grundcharakter des Landes hervor und die Abwesenheit einer großen Kulturmetropole. Zürich nennt er bezeichnenderweise ein Weltdorf.
4 | S. Haupt und R. Zag, LiteraTour de Suisse. Porträts Schweizer SchriftstellerInnen: Urs Widmer, SF/DRS mit Medias-Res München 1998. 5 | Es handelt es sich dabei um einen der zahlreichen Bunker, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs den Rhein entlang gebaut wurden. Für diesen Hinweis danke ich den beiden Regisseuren des Fernsehfilmes, Sabine Haupt und Roland Zag. In einer E-Mail vom 30.1.2013 schreibt Zag dazu: »Der Bunker, auf dem Herr Widmer da sitzt und schreibt, wurde von mir gefunden und als möglicher Drehort gewählt, und zwar in der Nähe von Rheinfelden. Er war damals in Privatbesitz. Es war Herrn Widmer nicht so furchtbar recht, da rauf zu klettern (auch ich hatte Höhenangst…), aber er hats getan.« 6 | P. Nizon, Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst, Zürich und Köln 1973, S. 121.
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Die von Widmer verwendeten Metaphern des Bunkers und des Igels – Abwandlungen der Schweiz als sturmumtoster Insel – finden in einer Illustration zu Georg Kreis’ Beschreibung des Schweizer Chalets eine Entsprechung.7 Die für das Kapitel ausgewählte Abbildung, eine Postkarte von 1914/15, zeigt ein einsames Häuschen auf einem felsigen Pfeiler, umgeben von verschiedenfarbigen Sturmwolken, auf denen die Namen der Nachbarstaaten eingetragen sind. »Drohende Kriegswolken« steht am unteren Rand der Postkarte. Vor dem hölzernen Chalet befinden sich einige grasende Kühe sowie eine trachtentragende junge Frau mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. Während der Junge die linke Hand der Frau hält, klammert sich das Mädchen an deren Schürze. Die Frau hält die rechte Hand an die Stirn, als ob sie in die Ferne schauen wollte, wo sich ein gefährliches Unwetter zusammenzieht. Der üppig wachsende Grasteppich vor dem Chalet wird von einem hölzernen Hag umgeben, an dem zwei weitere Kühe stehen. Hinter dem Chalet ragen einigen Tannen in die Höhe. Die heile Welt des Chalets befindet sich direkt am Abgrund. Weiter unten befinden sich zwei Soldaten. Einer von ihnen trägt eine Schweizerfahne, der andere ein Gewehr. Das Bild liefert somit auch eine geschlechtsspezifische Deutung der Kriegssituation: Während Frauen und Kinder zu Hause verweilen, stehen die Männer schützend an der Front. Eine heile, wenn auch bedrohte Welt. Wie diese dualistische Vision, die simplifizierend ein heiles beschütztes Innen einem gefahrvollen Außen entgegenstellt, in ihr Gegenteil umgedeutet werden kann, sollen die nachfolgenden Überlegungen zeigen.
A K TENGEBIRGE Am 22. November 1990 hielt Friedrich Dürrenmatt eine Rede zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises an Václav Havel, die den skandalösen Titel Die Schweiz – ein Gefängnis trug. Dürrenmatt, der sich auf die Fichenaffäre der späten 1980er Jahre bezog,8 verwendet darin die Bergmetapher in einem deutlich ironischen Sinn. Die Felsenburg ist kein Hort der Freiheit mehr, sondern ein Gefängnis und der schützende Alpenwall ist zu einem papiernen Gebirge verkommen, das aus den Akten der sich frei glaubenden Gefängnisinsassen 7 | Vgl. G. Kreis, Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness, Zürich 2010, S. 204. Zur Geschichte des Schweizer Chalets vgl. ebd., S. 205-217. 8 | In den späten 1980er Jahren war allmählich ans Licht gekommen, dass die Schweizer Bundesbehörden und kantonalen Polizeibehörden ungefähr 900.000 Fichen angelegt hatten, was bei der damaligen Einwohnerzahl mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Erfasst worden waren vor allem linksstehende Politiker, die zur damaligen rechtmäßig gewählten Regierung gehörten.
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besteht. Die Schweizer haben sich in ein Gefängnis geflüchtet, weil »alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität.« Die Gefängnisverwaltung ließ Akten von jedem anlegen, »von dem sie vermutete, er fühle sich gefangen und nicht frei, und weil sie das bei vielen vermutete, legte sie einen Aktenberg an, der sich, je weiter man forschte, als ein ganzes Aktengebirge erwies, hinter jedem Aktenberg tauchte ein neuer auf. Aber weil das Aktengebirge nur im Fall verwendet werden sollte, wenn das Gefängnis angegriffen würde, und da es nie angegriffen wurde, fühlten sich die Wärter, als sie von den Akten erfuhren, die über sie erstellt worden waren, plötzlich als Gefangene und nicht frei, sie fühlten sich so, wie die Gefängnisverwaltung nicht wollte, dass sie sich fühlten. Um sich aber wieder frei fühlen zu können und als Wärter und nicht gefangen, verlangten die Gefangenen von der Gefängnisverwaltung Aufschluss darüber, wer die Akten angelegt hatte. Aber da das Aktengebirge so gewaltig ist, kam die Gefängnisverwaltung zum Entschluss, dass es sich selber angelegt hat. Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich. Die Furcht, im Gefängnis nicht sicher zu sein, hat das Aktengebirge hervorgebracht.« 9
TAPE TENL ANDSCHAF T In Gottfried Kellers 1874 fertiggestellter Novelle Das verlorene Lachen wird die Schweizer Alpenideologie anhand der Beschreibung einer wilden Stammtischrunde verulkt. Das herrliche Alpenpanorama ist in einem niedrigen dunklen Wirtshaus eingeschlossen. »Die Alpen,« schreibt dazu Marchal, »eingeklappt über einem miefigen Saal, in dem sich Beschränktheit und Missgunst breitmachen, die Schneegipfel vom Lampenruss verdüstert, das Land verschmutzt […] dieses Tapetenvaterland wird zum Inbegriff eines bornierten und selbstzufriedenen Patriotismus.«10 Die zusammenhängende Gebirgswelt samt erhabenen Schneespitzen, Wasserfällen, Seen und Tälern bedeckt alle vier Wände des Saales. Keller verwendet dabei eine doppelte parodistische Strategie: Entzauberung der natürlichen Landschaft durch Verwandlung in eine Tapete und Verkleinerung des Erhabenen. »Der Saal […], war gross, aber sehr niedrig und mehr dunkel als hell, und seltsam verziert. Denn der Wirt hatte aus einem grösseren Hause eine abgelegte Tapete gekauft und seinen Saal damit austapeziert. […] Da aber der Saal, für welchen dieses prächtige Tapetenwerk früher bestimmt gewesen, um die Hälfte höher war als der Raum, in wel9 | F. Dürrenmatt, Die Schweiz – ein Gefängnis, www.litart.ch/fd/fdrede.htm. 10 | Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 477-478.
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chen es jetzt verpflanzt worden, so hatte zugleich die Decke damit bekleidet werden können, als dass die gewaltigen Bergriesen, nämlich die Jungfrau, der Mönch, der Eiger und das Wetterhorn, das Schreck- und das Finsteraarhorn, sich in ihrer halben Höhe umbogen und ihre schneeigen Häupter an der Mitte der niedrigen Zimmerdecke zusammenstiessen, wo sie jedoch von Dunst und Lampenruss etwas verdüstert waren. An der Wand hingegen thronten die grünen Alpen mit roten und weissen Kühen besäet, weiter unten leuchteten die blauen Seen, Schiffe fuhren darauf mit bunten Wimpeln […].« 11
Eine photographische Umsetzung dieser verkleinernden und entzaubernden Vision findet sich auf einem Farbphoto von Peter Fischli und David Weiss aus dem Jahr 1985, das den ironischen Titel In den Bergen (Abb. 8) trägt. Eine unordentliche Bettlandschaft. Im Hintergrund drei aneinander gereihte Kissen: Eiger, Mönch und Jungfrau. Weiche Felsen, in die man sich bequem betten kann. Entdramatisiert, verkleinert, unheroisch alltäglich. Im Vordergrund befindet sich der sanfte Bergrücken eines Duvets. Dazwischen das blaue Rund eines Bergsees, in dem sich die hohen Gipfel erwartungsgemäß spiegeln. Miniaturhäuser in Gelb beleben die Landschaft. Ein Metalldraht verbindet die Ebene mit einer der Bergspitzen. Eine rote Gondel schnellt schaukelnd in die Höhe, dem Gipfel zu. Der mittlere Kissenberg wirft einen orangenen Schatten an ein ganz im Hintergrund aufgespanntes Leintuch. Das Erhabene wird zum Profanen heruntererodiert. Das nationale Pathos kippt ins Alltägliche. Abbildung 8: Peter Fischli und David Weiss, In den Bergen
11 | Zitiert in ebd., S. 478.
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E NGE In seinem Essay Schweizer Literaten: vom Diskurs in der Enge zur Schweiz als Gefängnis, das einige zentrale Momente eines kritischen literarischen Diskurses in der Schweiz der Nachkriegszeit nacherzählt, hat Marcel Schwander die von Paul Nizon beklagte Situation der frühen 1970er Jahre anhand einiger Stichworte zusammengefasst: Enge, Perspektivlosigkeit, Immobilismus, Unbehagen im Kleinstaat, Erlebnisarmut, Stoffschwierigkeiten.12 Die Felsenburg ist zum Gefängnis mutiert. 1977 wanderte Nizon nach Paris aus. Paul Nizons folgenreiches Buch Diskurs in der Enge. Aufsätze zur Schweizer Kunst erschien zum ersten Mal 1970. Im Vorwort zur ersten Ausgabe hält Nizon zu Beginn fest: »Was bedeutet ›Diskurs in der Enge‹? […] der Begriff Enge wird hier in doppelter Hinsicht für die Schweiz in Anspruch genommen. Er charakterisiert zunächst schlicht die naturbedingte Enge des Schauplatzes, aber er spielt darüber hinaus auch schon auf eine erstrangige Kulturbedingung der Schweiz an […].«13 Und weiter: »Zu den Grundbedingungen des Schweizer Künstlers gehört die ›Enge‹ und was sie bewirkt: die Flucht. Es ist die Flucht vor der Enge […] Anstrengungen, die Enge zu sprengen und in die ›Welt‹ zu gelangen […].«14 [Herv. d. Verf.] Nizon geht im Laufe des Buches nicht weiter auf das Verhältnis des Landschaftlichen und Kulturellen ein. Die kulturelle Enge führt er weder allein auf das geographische noch auf das politische Moment zurück. Er spricht wie nach ihm Urs Widmer von einem »grösstenteils bäurisch geprägte[n] Volk« und von »Verdorfung«.15 »Die Enge, um die es sich handelt, kann nicht nur mit quantitativen Begriffen erklärt werden. Es ist nicht schlechthin der Kleinstaat, der sie verursacht; es gibt schließlich Kleinstaaten, die weniger beengen, allerdings haben diese Staaten ganz andere städtische Zentren hervorgebracht. Nein, es ist eine spezifische, eine wahrhaft sonderfall-mäßige Enge, die hierzulande den Künstler aus dem Lande oder in die voreilige Vergeistigung treibt.«16 Nizon umschreibt die Schweizer Enge als eine Summe aus Ereignislosigkeit und kultureller Unterernährung und benutzt den bedeutungsschweren Begriff des Sonderfalls17 in einem höchst ironischen Sinne.
12 | M. Schwander, Schweizer Literaten: vom Diskurs in der Enge zur Schweiz als Gefängnis, in: Die Erfindung der Schweiz 1848-1998: Bildentwürfe einer Nation hg. von E.A. Kübler, Ch. Lang und Ph. Sarasin, Zürich 1998, S. 486-494. 13 | Nizon, Diskurs in der Enge, S. 5. 14 | Ebd., S. 45. 15 | Ebd., S. 14. 16 | Ebd., S. 45. 17 | Der Begriff, der sich unter anderem auf die Neutralität und territoriale Unversehrtheit der Schweiz bezieht, entstand zur Zeit der Gründung des Bundesstaates 1848 und
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Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang nationaler Landschaften ist Nizons Untersuchung von Ferdinand Hodlers Werk, den er zu Beginn des Kapitels, welches den programmatischen Titel Ferdinand Hodler: Die Überwindung der Enge, oder: Das Heroische als Stilprinzip trägt, als Inkarnation Wilhelm Tells deutet. Nizon stellt Hodler in eine Reihe mit den anderen kulturkritischen Schweizer Künstlern dieses Kapitels und widerspricht damit teilweise seiner eigenen These der Enge, hat sich diese doch immer wieder als schöpferische Herausforderung erwiesen. Nizon beginnt mit einer kurzen Bestandesaufnahme der traditionsmäßigen Bedeutung der Berge für die Schweizer Nationalkultur. »Die Berge – Tabu erster Ordnung – sie bedeuten dem Schweizer das Reservoir der ureigenen Kraft ebenso wie Gottes Thron; sie sind Hort der Freiheit, Réduit (Verkörperung der Widerstandsidee); alles in allem: der gottgewollte nationale Hochaltar. Und von den Bergen stammen gleich auch die Urschweizer ab, die alle heroischen Eigenschaften des Gebirgs in unsere Schweizer Art und Staatlichkeit tragen. Aber die Berge sind ja noch in anderer Hinsicht Schicksalsbedingungen des Schweizers. Sie sind die Kerkerwände unserer Enge, die natürlichen Mauern und Scheuklappen, die uns auf eine fragwürdige Vergangenheit festnageln, zäher als jedes Konservierungs-, ja Mumifizierungsmittel.«18
Diese Enge hat unter anderem auch eine gewisse heimelige Traulichkeit zur Folge, ein Sich-Kleinmachen und eine Tendenz zur Komprimierung. Ganz anders bei Hodler, dessen Werk von innen her gegen die Enge und den damit verbundenen Immobilismus anzugehen versucht. Stehen die Berge in der Tradition der Schweizer Nationallandschaft für eine ewigwährende gottgewollte Freiheit und für ein außerhalb jeglichen geschichtlichen Zusammenhangs sich ansiedelndes Gebiet – darin mit einer bestimmten Vision des deutschen Waldes verwandt, der man auch im Werk Wilhelm Heinrich Riehls19 begegnet –, so geht Hodler »beim Berg nicht vom Jenseitsbegriff und nicht vom unantastbaren Dogma aus. Er stellt die Berge hin als etwas vom Druck der Zeiten Erzeugtes, Gepresstes, Geschichtetes. Die für seine Bergbilder typischen (geologischen) Schichtungen bringen die Dimension der (Natur-)Geschichte zu Anschauung. Gestik und Mimik der Bergindividuen sind damit nicht länger mystische Erscheinungen, sondern Ausdruck einer freigelegten physikalischen Formation im Raum der Zeit. Allein schon in dieser (geschichtlichen) Schichtung bringt Hodler also das Zeitprinzip in sein Bild vom Berg. […] die als ›Geschichtszellen‹ hat in den letzten Jahren vielerorts wieder Konjunktur (vgl. dazu Th.S. Eberle und K. Imhof (Hg.), Sonderfall Schweiz, Zürich 2006). 18 | Nizon, Diskurs in der Enge, S. 69. 19 | S.u. Herz der Finsternis.
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lesbaren Brocken deuten überdies die Möglichkeit des Zerbröckelns an und damit wiederum einen Zeitprozess, wenn auch im destruktiven Sinne. Aber jetzt korrespondiert ja das ganze System des Bergleibs bei Hodler fast immer mit einem ähnlich gelagerten Wolkensystem […]. In seiner zellularen Existenz wird der Berg als gewissermassen in den himmlischen Reigen überführt. Dadurch gewinnt er Anschluss an den Kreislauf von Vergänglichkeit und Werden.« 20 [Herv. d. V.]
Das Starre wird durch das transitorische Prinzip einer zerfließenden wolkenhaften Reigen-Choreographie in einen kosmischen Gesamtzusammenhang überführt. Nizon spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozess der Verflüssigung.21 Dadurch werden die Schweizer »zu allegorischen Trägerfiguren eines kosmischen Weltgebäudes […]. Hodler ist kein Verklärer der Heimat, im Gegenteil. […] Er nimmt zwar erzheimatliche Stoffe, aber er entengt sie, indem er das ›Sonderfallmässige‹ aufbricht, um Aussicht zu gewinnen. Er ist tatsächlich der einzige Schweizer Künstler, der in seiner Zeit […] die Schweiz in seinem Werk sozusagen zum korrespondierenden Mitglied der Welt [macht]. Er machte die Heimat welt-ähnlich und weltfähig. In dieser Hinsicht ist er tatsächlich eine Art freiheitsstiftender Nationalheld, der Mauern der Enge und Barrikaden einreisst.« 22 [Herv. d. Verf.]
Paul Nizons höchst ambivalenter Deutung wäre zu entgegnen, dass die von ihm diagnostizierte kulturelle Enge der Schweiz durch die zaghaften Erosionen Hodlers nicht wirklich in ihren Grundlagen erschüttert wird, ginge es doch im Grunde genommen nicht darum, die Vorstellung einer unhistorischen Schweiz durch Anbindung an kosmische Zyklen infrage zu stellen. Dies kann allein durch eine grundsätzliche Öffnung auf andere Kulturen erreicht werden: also Überwindung der Statik nicht durch Einbindung in die geologische und kosmische Weltgeschichte, sondern durch radikale Historisierung und forcierten Dialog der Kulturen.
D ER B LICK AUS DER Z ISTERNE In seinem 1971 publizierten Wilhelm Tell für die Schule unternimmt Max Frisch eine parodistische Demontage der Tell-Legende.23 Frisch übersetzt dabei Paul Nizons Metapher der Enge ins Territoriale und Körperliche. Geßler ist ein me20 | Nizon, Diskurs in der Enge, S. 70-1. 21 | Vgl. ebd., S. 71. 22 | Ebd., S. 73-4. 23 | Für eine kritische Lektüre von Frischs Wilhelm Tell vgl. auch Reichler, Entdeckung einer Landschaft, S. 279-300.
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lancholischer höflicher dicklicher Ritter auf Dienstreise, ohne jeglichen Sinn für die ihn umgebende Landschaft. Er hat Kopfschmerzen wegen des sommerlichen Föhns, leidet an Gelbsucht und träumt davon, so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückzukehren. Tell ist ein verschlossener cholerischer Hirte, der im ganzen Buch nur einen einzigen, nicht gerade schmeichelhaften Satz los wird, in dem er auf seine geistige Beschränktheit hinweist. Die Eingeborenen sind humorlos und fremdenfeindlich. Sie verweigern jede Form der Kommunikation, besonders mit Fremden. Frisch hat die Geschichte in einen erzählerischen Teil aufgeteilt – in dem die von Schiller begründete Tell-Legende nacherzählt wird – und in dazugehörende Fußnoten, die systematisch auf historische Unstimmigkeiten hinweisen. Das Buch entstand im Umfeld der ersten Überfremdungsinitiative James Schwarzenbachs, die am 7. Juni 1970 nur knapp abgelehnt wurde. Die Initiative, die eine obere Grenze für Fremde einführen wollte, hatte das Land tief gespalten. Dies erklärt wohl auch Frischs Sarkasmus und Bitterkeit. Das Buch, das ganz aus der Perspektive des Fremden erzählt wird, beginnt mit Geßlers Ankunft in der Zentralschweiz. Das Gebirge »schien näher als nötig. […] die Berge zu beiden Seiten nahmen überhand. Oft wunderte er sich, daß es in dieser Gegend überhaupt einen Pfad gab. […] daß hier Menschen wohnen. […] Je enger die Täler, desto kränkbarer sind die Leute, das spürte der dickliche Ritter schon […].«24 Die Bergmauer in der Ferne wird ironisch umgedeutet. Anstatt die Bewohner zu schützen, verstellt sie den Blick auf den Rest der Welt. »Diese Berge, ringsum diese Berge!«25 Der Hinweis auf die Identität von Land und Leuten, wobei der geographischen Verengung die mentale entspricht, wird im Laufe des Kapitels mehrfach variiert. Der wortkarge, harte Schiffer, der Geßler nach Süden rudert, Richtung Flüelen, »tat, als habe er diese gräßlichen Felsen persönlich gemacht.«26 Geßler, der immer mehr den Eindruck hat, in die falsche Richtung zu fahren, schließt die Augen, »um wenigstens keine Berge zu sehen.«27 Als er an Land geht, fallen ihm ein Rudel Hütten auf, Zeugnis einer archaischen vorgeschichtlichen Lebensweise. Die Wahl des Wortes ›Rudel‹ soll zudem den Eindruck des Unzivilisierten verstärken. Die Bergbewohner leben vollkommen abseits der Geschichte und der europäischen kulturellen Austauschbewegungen. Einer der Einheimischen, der sich um die Pferde kümmert, hat einen Kropf, worauf Geßler fragt, ob es im Tal zu vielen Fällen von Inzucht gekommen sei. Die Schweizer werden als klein und kräftig beschrieben. »Sie hatten diese kurzen und dicken Hälse, diese stämmigen Hälse, diese kurzen und stämmigen Nacken, wenig Hinterkopf, eine niedrige 24 25 26 27
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M. Frisch, Wilhelm Tell für die Schule, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10.
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und kantige Stirn, darunter zwei Augen mit einem stechenden Blick. […] Sie hatten ein hartes Leben, aber sie waren stolz darauf. […] Die Männer trugen das Heu auf dem Kopf […] dann sah man nur ihre Beine, krumm vor Kraft der Waden.«28 Die Menschen sind gemäß der engen Landschaft, in der sie leben, untersetzt und gedrungen, robust und kantig wie Felsen. Frisch weist an mehreren Stellen auf ihr machoartiges Gehabe hin: »der Urner kratzte noch immer sein Brusthaar.«29 Das erste Gefühl der Enge bestätigt sich in den folgenden Tagen: »Als Ritter Konrad oder Grisler […] am anderen Morgen erwachte, an das niedrige Fenster trat, keinen Himmel erblickte, sondern nur Felsen und Tannen und Geröll, machte er sich Mut, indem er Milch trank. […] Die Leute, die in diesem Tal geboren waren, taten ihm leid; Sonne schien an den Felsen hochoben, das Tal aber lag im Schatten, und wenn er zum Himmel schaute, kam es ihm vor, als wäre er in eine Zisterne gefallen.«30 Hermann Burger spricht in seinem Roman Die Künstliche Mutter ebenfalls von einer »Gebirgstrichterschwermut«31. Die von Frisch durch wenige knappe Pinselstriche hingemalte Landschaft lässt das aus der Tradition stammende Bergmotiv in sein Gegenteil kippen. Die im Gebirge lebenden Menschen sind felsenhart, schweigsam und in sich gekehrt. Die geographische Enge verursacht eine kulturelle Verengung. Der doppelte Hinweis auf Kropf bildungen – die bei Frisch zudem noch mit der cholerischen Natur der Menschen zusammenhängen –, ihre Unfähigkeit zur Kommunikation und die angesprochenen Inzestphänomene verankern die Auswirkung der landschaftlichen Enge direkt im Körperlichen. Damit ist die auf Scheuchzer zurückgehende Vision des freiheitlichen gesunden homo alpinus helveticus definitiv in ihr Gegenteil verkehrt worden. In diesem Zusammenhang müsste kritisch angemerkt werden, dass Frisch sich bei seiner Beschreibung desselben einseitigen Metaphorisierungsprozesses bedient wie die Tradition, gegen die er pamphletistisch anschreibt: Land und Leute werden direkt aneinander gekoppelt, als würden sie vom selben Prinzip beseelt. Zudem war die Welt der Alpen zur Zeit Tells weltoffener, als Frisch es in seiner verkürzenden Darstellung gern haben möchte. Hervorzuheben hingegen wäre Frischs Versuch, anhand der Tell-Legende einen grundlegenderen Diskurs über das Verhältnis zum anderen anzubahnen. Geßler ist im Grunde genommen ein Wanderarbeiter, ein Gastarbeiter, wie es in den 1970er Jahren auch in der Schweiz immer noch hieß, ein euphemistischer Begriff, bei dem die Pflichten der Gastfreundschaft und die Gefahren der Ausbeutung heillos durcheinandergeraten. Als Vertreter von 28 29 30 31
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Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Ebd., S. 14. H. Burger, Die Künstliche Mutter, Zürich 1984, S. 180.
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König Rudolfs Erben ist Geßler dienstlich unterwegs und wünscht sich seinen Aufenthalt in Uri so kurz wie möglich. »Beamte für diese Waldstätte zu finden war eben schwierig; wer sich irgendwie auszeichnete […] ging lieber nach Innsbruck oder Zürich.«32 Das erste Kapitel legt den Ton für den Rest der Erzählung fest. Zwischen dem fremden Beamten und den Eingeborenen findet keine Kommunikation statt. Geßler sucht zwar höflicherweise den Dialog, stößt dabei aber auf Granit. Die Helvetier sind misstrauisch, kränkbar und wortkarg. Missverständnisse häufen sich auf Missverständnisse. Als der junge Rudenz während der Bootreise nach Süden einen Imbiss auspackt, Eier, Käse und Brot, und Geßler diesen wegen mangelnden Appetits ablehnt, wird dies als augenfällige Verachtung gedeutet. Die Urner sind unbeweglich und stur wie die sie umgebenden Berge. »Schon der fremde Schnitt eines Bartes mißfiel dem Bauern, denn in Uri trug man die Bärte anders und war im Recht.«33 Der Höhepunkt dieser sich kumulierenden Missverständnisse, die weitgehend auf den fehlenden interkulturellen Dialog zurückzuführen sind, koinzidiert signifikanterweise mit der Schlüsselstelle der Tell-Legende: dem Apfelschuss. Geßler will aus Gründen der Menschlichkeit verhindern, dass Tell auf den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes schießt. Er empfindet es als einen Scherz. Aber dieser sieht sich aufgrund des Gruppendruckes und der Möglichkeit einer öffentlichen Blamage gezwungen, den Versuch dennoch zu unternehmen, worauf Geßler den Pfeil von seiner zitternden Armbrust nimmt. »[…] dieser Urner wäre imstande gewesen und hätte auf den […] Apfel geschossen bloß um seiner Schützenehre willen.«34 Dieser peinliche Augenblick ist auch der Grund dafür, dass Tell Geßler folgt und ihn zum Schluss doch noch tötet. Im letzten Kapitel des Buches wird Geßlers Heimreise von Brunnen über die Hohle Gasse erzählt. Der Ritter ist müde und hungrig, er denkt an gebackenen Fisch, »als er plötzlich einen Schmerz empfand. Im ersten Augenblick kam ihm der stechende Schmerz beinahe vertraut vor […] er verstand nicht, was sich ereignet hatte, woher der Schmerz, warum immer diese Kuhglocken, woher das Blut an seiner Hand, Blut mit Tannennadeln. Obschon er mit offenen Augen lag, erkannte er die Berge schon nicht mehr, was ihn vermutlich erleichterte. Der Pfeil stak mitten in seiner ohnehin kranken Leber.«35 Geßler ist an einer unheilbaren Gelbsucht erkrankt. Die Schweizer haben einen schon dem Tode Geweihten getötet. Geßler ist nicht ein zu Recht hingerichteter fremdländischer Tyrann, sondern das tragische Opfer eines nicht zustande gekommenen Dialogs zwischen den Kulturen.
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Frisch, Wilhelm Tell, S. 26. Ebd., S. 20. Ebd., S. 74. Ebd., S. 91ff.
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Den Tell, der mit erhobener Hand aus dem Gebüsch getreten war, hat der Sterbende wohl kaum noch erkannt. Frisch beschreibt diesen als aufrecht und breitbeinig auftretenden Mann mit rötlichem Bart und nackten Knien, der eine Armbrust in der rechten Hand schwingt. Vergleicht man diese Beschreibung mit Hodlers berühmtem Wilhelm-Tell-Bild (Abb. 9) aus dem Jahr 1897 fallen die Ähnlichkeiten sofort ins Auge. Der rote Bart, die stämmigen Beine, die nackten Knie. Hodlers Bild steht in der Tradition des Alpenwalls, so wie sie im vorherigen Kapitel nachgezeichnet wurde. Er steht auf einer Anhöhe, die Rechte warnend und drohend erhoben, den gebieterischen Blick dem Zuschauer zugewendet. Links und rechts von ihm sind Wolken auszumachen, aus denen dunkle schroffe Felsen auftauchen. Durch das Wolkenportal hindurch sind blaue Streifen, die wohl weitere Gebirgsketten andeuten sollen, sichtbar und weit hinten rechts ein einsamer, ebenfalls blauer Gipfel, der sich aus dem Nebelmeer erhebt. Wilhelm Tell steht genau in der Lücke zwischen den beiden Felsbrocken und deckt schützend mit seinem eigenen felsenartigen Körper den Durchgang. Einer ähnlichen Vorstellung begegnet man in Johann Rudolf Wyss’ Rufst du mein Vaterland aus dem frühen 19. Jahrhundert.36 Das kultisch-sakrale Element ist durch den Bezug zur Bibel gegeben, einmal durch die numinose Präsenz der Wolken, die ja in der Bibel die Anwesenheit des Göttlichen markieren, andererseits durch die Verbindung des Wilhelm Tell mit dem Moses der Zehn Gebote. Ein mythischer Ort, den das Gemälde suggeriert, ist der Berg Sinai, wo Moses von Gott die heiligen Gesetzestafeln erhielt, bevor er sie ins Tal hinunterbrachte. Die durch den Felsspalt sichtbare Ferne der Niederungen im Hintergrund könnten somit als Hinweis auf das gelobte Land – in diesem Fall die Schweiz – gedeutet werden. Dass Tell als mit Moses verwandt gedacht werden muss, beweisen auch die beiden Hörner auf der Stirn.37 In der Figur des Moses von Hodler konvergieren somit unterschiedliche Momente: das Kriegerisch-Kämpferische, das Kultisch-Sakarale und die Tradition des Alpenwalls. Frischs Technik des Bildzitats erodiert die Standhaftigkeit des Mythos und lässt die Figur auf das Papier abstürzen. Die historische Realität wird brüchig und rissig. Hinter der Figur Tells tauchen Schicht für Schicht weitere Bedeutungsmomente auf. Ein Held auf tönernen Füßen.
36 | S.o. Felsenburg der Freiheit. 37 | Die Darstellung des Moses mit Hörnern in älteren christlichen Kunstwerken – wie z.B. in Michelangelos Skulptur in San Pietro in Vincoli – geht auf die Übersetzung des hebräischen Verbs qÝran in der Vulgata mit cornuta, gehörnt, statt coronata, strahlend, zurück. Diese Strahlen sind ein Zeichen des göttlichen Glanzes und haben den Israeliten Furcht eingeflößt.
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Abbildung 9: Ferdinand Hodler, Tell
E ROSION Peter Utz hat der kritischen Seite der Alpenrezeption in der Schweiz einige erhellende Seiten gewidmet. Utz spricht treffend von literarischen Erosionsformen des Alpenmassivs und dem Versuch, die papierene theatralische Qualität des alpinen Diskurses herauszuarbeiten: einer Strategie, der man besonders im Werk Robert Walsers, aber auch, wie schon gezeigt, in Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule begegnen kann. »Die literarische Kritik an der Alpenideologie ist eine Bildkritik.« Die erwähnten Autoren »lassen in die Risse des Alpenbildes ihren kritischen Sprachwitz einfliessen, um es mit eiskalter Ironie von innen her zu sprengen.«38 Zersetzen, zermürben, zerstören, in die Luft jagen, sprengen sind einige der wesentlichen Metaphern eines alpinen Gegendiskur38 | P. Utz, Alpen auf dem Papier. Literarische Erosionsformen des Alpenmassivs bei Robert Walser, in: Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität/La Suisse
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ses, der den Alpenwall durchlöchern, unterspülen und einstürzen lassen will. Metaphern also, die letztlich von der traditionellen Vorstellung der schützenden Mauer abhängig sind, und diese gerade in dem Moment bestätigen, in dem sie sie verabschieden. Wie schon gezeigt wurde, geht die Vorstellung des homo alpinus von einer engen Verbindung zwischen Land und Leuten aus, die im alpinen Diskurs verschiedenartig konjugiert worden ist. Johann Rudolf Wyss’ nationalistisch-militärisches Rufst du mein Vaterland postuliert eine Identität von Fels und soldatischem Körper anhand derer gemeinsamen Beständigkeit und Beharrlichkeit. Der homo alpinus ist in dieser Sicht der Urtyp »des Schweizers, verwachsen mit dem Urgestein.«39 Ein Schweizer Schriftsteller, der diese Verbindung weitergedacht hat, ist Ernst Zahn, der seine Figuren mit dem Berggestein gleichsetzt. »Berge werden zu Menschen, Menschen zu Berge. An seinen Höhepunkten verdichtet sich der Text zu Emblemen, welche die Einheit von Mensch und Natur als Bild stillegen.«40 Auch Jakob Christoph Heer schafft Charaktere, die mit der Landschaft verschmelzen: »menschgewordenes Gebirge.«41 Um solchen Versteinerungstendenzen entgegenzuwirken, bedarf es der korrosiven und explosiven Lösungen eines alpinen Gegendiskurses, der die festgefahrenen Stereotypen zu subvertieren versucht. Um eine vereinfachende Gegenüberstellung zweier Diskurse, eines affirmativen und eines kritischen, zu vermeiden, verweist Utz auf Beispiele einer ambivalenten Haltung: Heinrich Federer und Carl Spitteler. An beiden lässt sich »die Gespaltenheit des Alpendiskurses nachweisen.« Diese Gespaltenheit ist zudem in der spannungsvollen Gleichzeitigkeit der beiden wesentlichen Metaphern der Felsenburg und des Wasserschlosses angelegt. Eine ganz andere, weitaus zersetzendere Taktik verfolgt Robert Walser. Anstatt sich die Berge wegzuwünschen, benützt er die dünnen, durchscheinenden Bergvisionen der Massenkultur und Heimatliteratur, um sie »gegen das Licht seiner eigenen Texte«42 zu halten. Utz verwendet für seine Beschreibung von Walsers Schreibtechnik Metaphern, die einmal mehr das Flache, Horiimaginée. Bricolages d’une identité nationale, hg. von G.P. Marchal und A. Mattioli, Zürich 1992, S. 314. 39 | Ebd., S. 313. 40 | Ebd., S. 316. 41 | Jakob Christoph Heer, Der König der Bernina. Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge, Stuttgart 1912, S. 302, zitiert in Utz, Alpen auf dem Papier, S. 317. Utz weist auf weitere Elemente aus der Tradition hin: »Auftritte dieses Helden aus dem Licht der Bergwelt, ganz im Stile von Hodlers Tell, ›überstrahlt vom Abendglanze‹, fehlen nicht, sowenig wie das Lob der ›gesunden Volksluft‹ des Engadins gegenüber dem ›Lärm der Städte‹« (ebd., S. 317). 42 | Ebd., S. 319.
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zontale gegen das Vertikale ausspielen. »Die Hochgebirgsgipfel stürzen ab auf jenes Papier, auf dem sie entstanden sind. Auch der ›homo alpinus‹ überlebt diesen Absturz nicht. […] So wird die Verschmelzung von Berg und Mensch, die den ›homo alpinus‹ gezeugt hat, von Walser auf das Papier, den Text zurückgeführt […] flachgelegt.« Der alpine Diskurs wird »auf seine papierene Unterlage heruntererodiert.«43 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Bild von Robert Walsers Bruder Karl aus dem Jahr 1899, das zwar den verheißungsvollen Titel Aussicht auf die Alpen trägt, dem Betrachter aber einen Tannenwald samt abschüssiger Wiese vor Augen führt, auf dem eine träumende Figur hingebettet liegt. Das zart hingepinselte Alpenband verschwindet fast vollkommen im Hintergrund, knapp sichtbar noch über den dunklen Wipfeln der Nadelbäume. Hier wurde das klassische vertikale Schema der traditionellen Alpenbilder zugunsten einer horizontalen Linienführung aufgegeben. Die imposanten schneebedeckten Alpen schrumpfen zum gemalten »Glücksversprechen am Horizont«44 zur Kulisse und Tapetenlandschaft. In Robert Walsers Texten wird die Klischeehaftigkeit der theatralischen Alpenstaffage sichtbar gemacht. Walser »bricht die Monumentalität der Alpen konstruktiv zusammen. […] Den allgewaltigen Alpenmythos verkleinert [er] dadurch, dass er ihn an den Horizont schiebt oder ihn dorthin zurücklegt, wo er herkommt: aufs Papier.« 45
D IE K ÜNSTLICHE M UT TER In seinem zweiten, 1982 publizierten Roman Die Künstliche Mutter ist es dem Schweizer Schriftsteller Hermann Burger gelungen, anhand der skurrilen Geschichte seiner Hauptfigur, Wolfram Schöllkopf, Privatdozent für Glaziologe und deutsche Literatur an der ETU46, wesentliche Elemente des alpinen Mythos parodistisch zu verfremden. Dabei spielt das Landschaftliche eine zentrale Rolle. Burger hat in einer Vorlesung die Handlung des Buches zusammengefasst. »Ein Patient sucht Heilung von der Unterleibsmigräne im Stollenlabyrinth des Gotthards und explodiert nach vorzeitig abgebrochener Therapie wie eine Doppelrakete im Tessin.«47 Der Berg wird hier nicht erodiert oder in die Luft gesprengt, sondern von innen her zersetzt. Die Doppelrakete verweist auf die Verdoppelung des geheilten Patienten, wird dieser doch nach seiner 43 | Ebd., S. 320. 44 | Ebd., S. 321. 45 | Ebd., S. 324. 46 | Eigentlich ist damit die Zürcher ETH gemeint. 47 | H. Burger, Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt a.M., 1986, S. 105.
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Kur im Innern des Gotthards, der künstlichen Mutter, als zweifacher italianisierter Armando aus seiner Wiedergeburt hervorgehen. Schöllkopf, dessen rätselhafte Krankheit von der herkömmlichen Medizin als unheilbar befunden wird, leidet seit acht Jahren an spastischer Impotenz. Als ihm sein Lehrauftrag aufgrund einer Intrige an der ETU entzogen wird, versucht er sich dadurch umzubringen, dass er sich in die Haupthalle der ETU hinunterstürzt, aber ein Herzinfarkt hindert ihn daran. Heilung verspricht er sich als Kurgast in Göschenen im Gotthardmassiv, dem Wasserschloss Europas und Rückzugsgebiet der Schweizer Armee während des Zweiten Weltkrieges. Hier in der Stollenklinik, im Mutterschoß der Schweiz, wird eine einzigartige Therapieform angeboten. Da Schöllkopf kein Passierschein für das Fort Réduit ausgestellt und der Zugang in die unterirdische Klinik aus militärischen Gründen untersagt wird, sieht er sein Heil »in der vorübergehenden Eroberung der Alpenfestung […] in der punktuellen Zerstörung der Legende der Unbezwingbarkeit der Wiege der Eidgenossenschaft.«48 Man könnte sich »den Zutritt zum Experiment mit der künstlichen Mutter im Alleingang gegen die Genie- und Festungstruppen der Schweizer Armee« erobern. Es bedarf aber ironischerweise gar keiner militärischen Aktion, um in die Gotthardfestung zu gelangen, zudem stellt sich bald heraus, dass sich Schöllkopf einmal im Inneren gar nicht mehr auf schweizerischem Gebiet befindet. Zu seiner Überraschung ist das »innerbirgische Kurhaus«49 ein österreichisches Landeskrankenhaus und »der kaiserundköniglich-kakanische Fahrkasten ohne Liftboy«50 unterwegs. Denn es war »kein Landwehrkamarad«, der ihn mit heimeliger Begrüßung »in Empfang nahm, sondern sage und schreibe ein österreichischer Grenzzollwachbeamter«, ein »jägergrüner Austriagrenzer« voller »kakanischer Höflichkeit.«51 Schöllkopf, so stellt sich bald heraus, ist eigentlich über den falschen Eingang in die Auer-Aplanalpsche-Heilstollenklinik gelangt. Diese erreicht man in der Regel »über die offene Grenze des Autoverladzug-Gleisdreiecks bei Kilometer zwei, wo der orangegelbe Waggon der ÖBB von den Transitzügen abgekoppelt und von einem Rangiertraktor […] in den Favreschen Fehlberechnungstunnel geschoben«52 wird. Die Klinik ist eine »österreichische Kur-Enklave« und »im Vergleich zu den Mannschaftsräumen der Gotthardfestung geradezu kaiserfranzjosephlich ausgestattet.«53 Ein »kakanische[s] Grandhotel.«54 Damit ist ein erster entscheidender kultu48 49 50 51 52 53 54
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Burger, Künstliche Mutter, S. 95. Ebd., S. 77. Ebd., S. 204. Ebd., S. 129. Ebd., S. 130. Ebd., S. 159. Ebd., S. 160.
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reller Unterschied festgelegt. »Und alles Austria-Gebiet, von den Schwitzkammern bis zum Erdmittelpunkt. Typisch, auf eine derartige Nutzung unserer Alpen wären wir Schweizer wieder nie gekommen, wir gehen immer davon aus, daß in unserem Land von Staates wegen alles kerngesund ist, und haben nur die Abschreckung und Uneinnehmbarkeit im Kopf.«55 Indem Burger die österreichische Heilstollenklinik direkt ins Herz der Eigenossenschaft, in den Tabernakel des nationalen Bewusstseins platziert, vollzieht er einen blasphemischen Akt der Profanation. Der Kern Helvetiens ist eine fremdländische Enklave, deren Zweck dem Frieden dient. Hier wird nicht kämpferisch der Feind erwartet, sondern lebensbejahend Patienten auf den Weg zur Gesundheit verholfen. Der Buffetpächter Prohaska erzählt die Geschichte der Enklave, deren Existenz sämtliche helvetische Vorstellungen von gottgewollter Unbezwingbarkeit desavouieren. Gerade weil »die Urner Dickschädel nichts anderes als die Schöllenen im Kopf gehabt […] sei es den Habsburgern möglich gewesen, ihr kleines Granitreich in aller Ruhe zu befestigen«. Die Habsburgische Enklave liegt nicht nur tiefer und zentraler als das Reduit, sie ist auch lange vor diesem entstanden, ziemlich genau, so weiter Prohaska, zwischen 1218 und 1231. »Verzeihen, Herr Dozent bitte den Anspruch auf das Copyright: wir, die Österreicher, haben […] die Réduit-Strategie erfunden. Und als Anno 1291 auf dem Rütli die Schwurfinger zur Gründung der Eidgenossenschaft gen Himmel fuhren […] kam keiner der Verschwörer an diesem Rütli-Rapport auf den Gedanken, daß es im Untergrund eine Habsburger Enklave gebe. Und nie […] hat dieses granitene Duodezfürstentum Anlaß gegeben zu kriegerischen Auseinandersetzungen […].«56 Und weiter: »Aber dass der vermeintliche Feind klammheimlich im Innersten des Labyrinths hockte, dort wo heute die Goldreserven der Nationalbank verlocht sind, auf diese naheliegende Idee kam kein introvertierter Reisläufer.«57 Als Schöllkopf »ein Sgraffito der Streckenführung«58 der Heilklinik genauer studiert, wird ihm deren Lage in Bezug auf das Reduit deutlich: »Das ganze Schema war mit einer Legende […] versehen; eine Sternchenlinie deutete die Grenze der Enklave an, und jenseits, über uns, unter uns, hinter uns die militärischen Zeichen für die Bestückung des Forts Réduit: also wußte man im Ausland, wenn auch im neutral verbündeten, haargenau Bescheid über die Kampfkraft unserer Alpen.«59 Schöllkopf sinniert: »Und da legten uns die Habsburger mitten in unseren Hochmut ein Kuckucksei mit ihrer Enklave, welche noch älter ist als die alte Eidgenossenschaft, somit vom 55 56 57 58 59
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Ebd., S. 169. Ebd., S. 179-180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 182. Ebd., 184-5.
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Anciennitätsprinzip her schon nicht angefochten werden darf.«60 Auf die Frage hin, ob die Truppen von General Guisan nicht auf die Enklave gestoßen seien, erwidert Prohaska, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges sei ein Innsbrucker Forschungsteam von Ärzten im Inneren des Gotthards tätig gewesen, das von den Schweizern entdeckt wurde, man konnte ihnen aber nicht den Krieg erklären, auch weil »durch die innerbirgischen Scharmützel sämtliche Festungsanlagen an die Nazis verraten worden« wären. »Guisan mußte uns gewähren lassen. De jure, Herr Dozent, hatte der Führer den Gotthard erobert, ohne einen Schritt über die Grenze tun zu müssen. […] Mit der Besetzung Österreichs war ein Stück Gotthard in seiner Hand, das genügte ihm.«61 In Burgers ironischer Lesart des Reduit-Mythos kommentieren sich der kriegerische kollektive Rückzug der Schweizer Armee und der individuelle friedvolle Rückzug Schöllkopfs ins Innere des Gotthards62 gegenseitig. Seine Kur ist darüber hinaus eine bewusste radikale Potenzierung der typisch helvetischen räumlichen Enge, mit dem Ziel, sich von ihr endgültig zu befreien. Im Roman wird eine direkte Verbindung zwischen dem Gebäude der ETU – der »Alma Mater Polytechnica Helvetiae«63, der »Schreckensmutter«64 – und dem Gotthardmassiv konstruiert. Der männliche Gotthard wird zur künstlichen Mutter hybridisiert, der »Granitschoß der Helvetia«65 zum Uterus, zum »mammalisch[en] Matronengebirge«66, in dem die Hauptfigur wiedergeboren wird. Die Gender-Dimension, die schon im Zusammenhang mit Philipp Etters Rede angesprochen wurde, nimmt im Roman eine zentrale Rolle ein. »Die eigene Mutter«, so Hans Wysling, »erscheint ihm als Eismutter. Sie wird mit der kalten Sophie assoziiert, aber auch mit Helvetia, deren Hausberg der Gotthard ist […] das Schema will es, daß alles, was mit Helvetia und Vaterland zu tun hat, starr und unfruchtbar ist […]. Dem eidgenössischen Vaterland mit seiner kalten Forderung nach Durchhalten und Leistung steht dann die österreichische Enklave gegenüber, ein Mutterkontinent voller Wärme, voller
60 | Ebd., S. 181. 61 | Ebd., S. 182. 62 | Burger entdeckt zur Zeit der Niederschrift des Romans die Felsentherapie, die in Böckstein in der Nähe des österreichischen Badgastein angewendet wird und berichtet darüber in einem Beitrag zum Tages Anzeiger Magazin (vgl. H. Burger, Einfahrt in den Zauberberg, in: Tages Anzeiger Magazin, 7.11.1981, S. 15-24). 63 | Burger, Künstliche Mutter, S. 9. 64 | Ebd., S. 14. 65 | Ebd., S. 45. 66 | Ebd., S. 164.
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Verlockungen, voller schönster Frauen […] sie stehen gegen die moralisch-patriarchalischen Forderungen der Mutter.«67 Das Akademische und das Militärische werden anhand des Alpinen ineinander gespiegelt.68 Wysling verweist auf weitere metaphorische Verbindungen zwischen den weitverzweigten Gotthardfortifikationen des Reduits, den Bildungs-Kasematten der ETU und den Zahnrädern und Fahrplänen der SBB und der Schöllenenbahn. Suggeriert wird dadurch ein kulturelles Kontinuum von Militär, Wissen und Technik. Burgers Kritik wendet sich gegen die Durchsetzung der Schweizer Kultur im Allgemeinen mit den Ideologemen der Landesverteidigung und des Reduits, die 40 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch in Köpfen und Institutionen herumgeistern. Selbst Schöllkopf arbeitet in der Abteilung XIII, eine gemischte Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften. »Es gab ja in der Tat hochinteressante Parallelen zwischen dem Fort-Réduit im Gotthard und dem über und über rustizierten Semper-Gullschen Hochschulsackbahnhof, der auf einer Schanze der Stadt Zürich thronte: hier biß man auf Granit, dort würde man auf Granit beißen; hienieden ein undurchschaubares Labyrinth von Auditorien, Sammlungen, Zeichensälen […] dort […] ein nicht minder verwirrendes Carceri-System; der heilige Godehard war sozusagen die Natur gewordene ETU […] umgekehrt die Landeslehrstätte ein zum Polytechnikum aufgefächertes Gebirgsmassiv; in Göschenen wie hier herrschte permanente Geistesdämmerung […].« 69
Die ETU ist eine verkappte Festung, deren »Bildungskasematte[n] in mattem Basaltgrün« 70 in die Luft gesprengt werden sollten. An anderer Stelle ist die Rede von den »zwielichtigen Stollengänge[n] der Semperschen Polytechnikums-Festung«.71 Die ETU und das Gotthardmassiv verkörpern eine Welt, die mehr als renovierungsbedürftig geworden ist. So ist die ETU »eine außen wie innen erosionsbedrohte Alma Mater Helvetica«. »Die Baluster der Terrassenbrüstung waren derart angefressen, daß sie bei der leisesten Berührung heraus- und hinunterfielen […] und diese doppelt und dreifach armierte Kasematte auf dem Schanzenareal des ehemaligen Festungszentrums von Zürich sollte Schöllkopf […] nun noch einmal sprengen und von Grund auf erneuern.« 72 [Herv. d. Verf.] 67 | H. Wysling, Macht und Ohnmacht des Narziss. Hermann Burgers »Zauberberg«, in: Wagner – Nietzsche. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt a.M. 1993, S. 384-5. 68 | Vgl. ebd., S. 385. 69 | Burger, Künstliche Mutter, S. 14-5. 70 | Ebd., S. 13. 71 | Ebd., S. 11. 72 | Ebd., S. 24.
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Zu Beginn des Romans hält Schöllkopf eine Antrittsvorlesung über »Die Bedeutung der Gletscher in der Schweizer Gegenwartsliteratur«,73 was Misstrauen und Ablehnung im militärischen Teil der Abteilung hervorruft. »Die militärwissenschaftliche Hälfte der Abteilung XIII sah es ungern, daß die Gletscher als topographische Bestandteile des Réduit-Verteidigungskonzeptes der Schweizer-Armee von der jüngsten Literatur dieses Landes vereinnahmt und damit in ihrer erdgeschichtlich-strategischen Lage quasi ans Ausland, also an den Feind verraten wurden. Vom Milizhistoriographen Schädelin stammte der Satz: ›Die Gletscher sind unsere Gebirgsinfanterie […]‹«.74 An einer späteren Stelle wird die Militarisierung der Schweizer Berglandschaft wieder aufgenommen: »und immer waren die Berge, Gletscher und Lawinen auf unserer Seite.« 75 In seiner Vorlesung weist Schöllkopf darauf hin, dass »sich in der neueren Schweizer Literatur, welche sich in den sechziger Jahren behaglich am Jurasüdfuß eingerichtet habe, eine Tendenz abzeichne, die erstarrten Packeisfronten der Alpen von unten her zu schmelzen […]. Diese subversiven Literaten, so mochte es geheißen haben, unterwühlen nicht nur das Gesellschaftssystem, sondern rühren ans Heiligste: an die Naturabwehrkräfte, die Seine Eminenz, der Liebe Gott persönlich, nach dem ja das Zentrum unseres Zentralalpenmassivs, der Gotthard, benannt ist, anläßlich der Erschaffung von Himmel und Erde für die künftige Eidgenossenschaft reserviert hat, exklusiv, streng geheim und vertraulich.« 76
Hier klingen verschiedene landschaftliche Motive an, die im Laufe des Romans weiterentwickelt werden. Der Jurasüdfuß hat, wie alle anderen landschaftlichen Metaphern des Buches, eine doppelte Bedeutung. Geographisch gesprochen handelt es sich um den südlichen Rand des Juragebirges, ein zweisprachiges Gebiet, das den Übergang vom Jura ins Mittelland markiert und sich von Südwesten nach Nordosten erstreckt, von Genf über Neuenburg, Biel, Solothurn, Olten nach Aarau und Baden. Zugleich aber ist damit auch eine Gruppe junger Schweizer Autoren gemeint, die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren eine neue kritische Form der Literatur zu entwickeln versuchten. Zu ihnen gehörten unter anderem Otto F. Walter, Peter Bichsel und Jörg Steiner. Der Einsatz einer Metapher, welche den Übergang vom Gebirge in die Ebene betont, ist eine bewusste Absage an die Tradition des hochalpinen Diskurses, setzt sie doch auf Widerspruch und landschaftliche Hybridität.
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 181. Ebd., S. 11.
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Der zweite landschaftliche Hinweis betrifft das Packeis, das mit den Gegenüberstellungen Fels/Fluss, fest/fließend, kalt/warm verbunden ist, auf die ich im Folgenden noch eingehen werde. Darüber hinaus besteht eine direkte Verbindung zur Zürcher Jugendbewegung der frühen 1980er Jahre. Am 22. Dezember 1980 erschien im Spiegel ein Bericht aus Zürich unter dem Titel Das Packeis schmilzt. Warum Jugendrebellion gerade in der braven, friedlichen Schweiz?. »Als Eiswüste erscheint ihnen die Stadt. Das wahre Leben ist in diesem ›Grönland‹ abgefroren. Die ›Bewegung‹ versteht sich als ›Eisbrecher‹ (Titel ihrer Untergrundzeitung) – und wenn eine ihrer Straßen-›actions‹ gelingt, heißt es: ›Das Packeis schmilzt.‹« 77 Burger benützt die beiden Metaphern der Felsenfestung und des Wasserschlosses – das »Quellgebiet von Rhein, Rhone, Reuss und Tessin« 78 – mit einer klaren Werteverteilung, die auf die schon erwähnte Dualität von fest und flüssig zurückzuführen ist. »[…] jeder Patient [ist] eine vermummte Krankengeschichte, welche in den Gotthard mündete, gegenläufig zu den vier großen, auf dem Wasserschloß Europas entspringenden Flüssen.« 79 Im »euterwarmen Höhlenraum«80 des Berginneren wird das mentale Packeis des Patienten aufgetaut und die Körpersäfte ins Fließen gebracht: »[…] meine glaziale Gehirngfrörni [wurde] durchfeuchtet und durchglutet.«81 Und weiter: »Der durch die Schweißbildung und Kochsalzausscheidung in Bewegung geratene Säftestrom entsprach im kleinen der Quellsituation am Gotthard, dem Wasserschloß Europas […]. Am mächtigesten zog es mich mit den Schöllkopfschen Rheinbächen Richtung Amburgo, mit dem Ticino nach Lugano, was einem NordSüd-Konflikt meiner geheimsten Wünsche gleichkam.«82 Tatsächlich wird der teilgeheilte doppelte Armando am Ende des Buches ins Tessin fliehen. Zuvor aber muss noch eine weitere Kur bestanden werden, die den hohen geographischen Norden einbezieht und das Meer dem Berg gegenüberstellt. Da die Tunnelerfahrung nicht die erwartete Heilung herbeigeführt hat, wird eine heilende »Dünenblonde« 83 aus dem Norden einberufen. Dagmar Dom, die »Möwe Dagmar«,84 die Hoffnung aus Hamburg, arbeitet bei der ARD und ist auf der Durchreise in den Süden mit dem Hamburg/Altona-Milano-Express. In Göschenen will sie einen knapp zweistündigen Arbeitslunch einle77 | Das Packeis schmilzt. Warum Jugendrebellion gerade in der braven, friedlichen Schweiz?, in: Der Spiegel, 22.12.1980, www.spiegel.de/spiegel/print/d-14337607.html. 78 | Burger, Künstliche Mutter, S. 42. 79 | Ebd., S. 183. 80 | Ebd., S. 42. 81 | Ebd., S. 201-2. 82 | Ebd., S. 199. 83 | Ebd., S. 211. 84 | Ebd., S. 220.
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gen, um Schölldorf zu treffen: »eine Göttin der Gesundheit, die mich vorübergehend […] als ihren kranken Bruder aus der Schweiz adoptieren würde […].« 85 Die »binnenalsterblonde Weltweiblichkeit, die Primabionda aller Däninnen, Schwedinnen, Finninnen«.86 Der hansaisierte Armando, der Wahlhamburger, erschnuppert die gesundmachende Nordseebrise aus der Schwesterstadt Hamburg. Schöllkopf soll von der »HH-Stadt, von der Heilenden Hansestadt Hamburg gesundgebetet«87 werden. Nach der Begegnung mit der nordischen Dagmar Dom, die er in der Vorlesung auch als künstliche Schwester bezeichnet,88 fährt Schöllkopf mit einer Draisine in die Solaris Grotte hinunter, wo seine Wiedergeburt stattfindet. Die heilende Schwesterngrotte im Innern des Gotthards wird dabei zum Alsterhafen umgedeutet,89 womit die beiden Landschaften ineinander gespiegelt werden. Ganz am Ende, bevor Schöllkopf in seinem knallroten Alfaromeo in den Tessin fährt, wird die neue, durch die Erfahrung der österreichischen Enklave gewonnene Landschaftslehre noch einmal zusammengefasst: »das Zauberwort, das den San Gottardo seit je umflorte, heißt nicht Endstation, sondern Transit […]. Alle, die sich je mit diesem königlichen Gebirge einließen […] hatten immer nur ein Ziel: den Gotthard zu passieren, zu durchstoßen, hinter sich zu bringen. […] hinübergehen, durchgehen, auch in etwas übergehen. Nicht bleiben, verharren, festsitzen. Es gibt auf der ganzen Welt nur eine Institution, die den Gotthard als letzte Zufluchtsstätte mißbraucht: die Schweizer Armee. Darum erkläre ich: wir, die Transidealisten, sind das Heile, die Gebirgspreußen, das Krankengut.«
Es geht darum, die Lehre des Gletschers zu verstehen. »Bewege, verändere dich!«90
N IEDER MIT DEN A LPEN! Vom 5. Juni bis zum 30. August 1998 fand im Kunsthaus Zürich die Ausstellung Freie Sicht aufs Mittelmeer … Junge Schweizer Kunst statt. Im Vorwort zum Katalog von der Kuratorin Bice Curiger, das den programmatischen Titel Der erweiterte Horizont trägt und damit auf das hier erwähnte Moment der Enge anspielt, wird die Schweiz der Gegenwart nicht mehr als Insel, sondern, wie 85 86 87 88 89 90
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Ebd., S. 222. Ebd., S. 225. Ebd., S. 229. Vgl. Burger, Die allmähliche Verfertigung, S. 75. Vgl. Burger, Künstliche Mutter, S. 229. Ebd., S. 239.
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in Robert Walsers Vision, auf die ich zum Schluss noch eingehen werde, als grenzenloses Gebilde dargestellt. Das Gotthardmassiv ist ein Hindernis, das die künstlerische Phantasie jedoch jederzeit überspringen, durchlöchern oder einebnen kann. Die Einbildungskraft kann Berge versetzen. Curiger setzt die Metapher des Berges als Gegensatz zum Meer ein, dabei wird dieses zugleich mit der alternativen Welt einer grenzenlosen Kunst in eins gesehen. »Die Sicht vom Raumschiff auf die Schweiz erfasst keine Landesgrenzen. Auch der sehnsüchtig in die Ferne schweifende Blick des Erdenbürgers in den Himmel oder auf ein imaginiertes Meer überspringt massive ideelle wie materielle Hindernisse. Das Mediterrane als jahrhundertealte Wunschfixierung färbt nördlich des Alpenkamms die Dimension des Grenzenlosen, Unbezähmbaren mit lebensnaher Sinnlichkeit. […] Die Künstlerinnen und Künstler, die frei von Grenzen nichtalltägliche Blickrichtungen und Sichtweisen ausprobieren und anbieten, flüchten nicht vor der Realität. Sie erweitern den Horizont hin auf das akute Lebensumfeld und versetzen dabei Berge. Die Ausstellung Freie Sicht aufs Mittelmeer widmet sich der Fülle, dem Meer von unübersichtlich gewordener künstlerischer Produktion […].« 91
Auf weitere metaphorische Dimensionen der Ausstellung geht Juri Steiner ein.92 Der Slogan, der als Titel der Ausstellung gewählt wurde, geht auf die Jugendbewegung um das autonome Jugendzentrum Zürich – kurz AJZ – und die Demonstrationen des Sommers 1980 zurück. »Für den Ausstellungstitel war eine neue Metapher gesucht […]. Es schien erlaubt, den ersten Teil der Forderung ›Nieder mit den Alpen‹ wegzulassen. ›Freie Sicht aufs Mittelmeer‹ betont die horizontale Perspektive. Sie bietet Gelegenheit, den vertikalen Mythos ›Schweiz‹ flachzulegen.«93 Es geht dabei um eine »Grenzen perforierende Kunst.«94 Das »emphatische ›Nieder mit …‹«, schreibt dazu weiter Curiger, war »eine deutliche Ironisierung der 68er Rhetorik samt ihren Feindbildern […]. Wer nun auf den ersten Teil des Schlachtrufs verzichtet, könnte also behaupten, dass sich im kulturellen Zwischenraum wie durch einen Spalt hindurch der Blick aufs Meer geöffnet hat.«95
91 | B. Curiger, Der erweiterte Horizont, in: Freie Sicht aufs Mittelmeer, hg. von B. Curiger, Zürich 1998, S. 9. Curiger benützt hier Hermann Burgers vereinfachende Gegenüberstellung von einem kalten steifen Norden und einem gefühlvollen lockeren Süden, die selbst Teil eines traditionsreichen territorialen Denkens ist. 92 | J. Steiner, Wir Brückenbauer. Neapolitanische Technik und das metaphorische CH, in: Freie Sicht aufs Mittelmeer, hg. von B. Curiger, Zürich 1998, S. 17-23. 93 | Ebd., S. 18. 94 | Ebd., S. 17. 95 | Curiger, Der erweiterte Horizont, S. 10.
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Der Schweizer Künstler Roman Signer hat für die Vorstellung einer stark beschleunigten explosiven Erosion der bergigen Höhen in seiner Filmsequenz Vier Kisten aus dem Jahr 1985 eine passende Darstellung gefunden.96 Zu Beginn sieht man den Künstler in einer abendlichen Schneelandschaft in prekärem Gleichgewicht auf vier aufeinandergestapelten hellblauen Kistchen. Im Hintergrund kahles dunkles Gewächs. Eine trostlose winterliche Umgebung. Die einzelnen Kisten werden jedoch bald eine nach der anderen kurzerhand seitlich weggesprengt, wobei der Künstler es immer wieder schafft, wenigstens vorübergehend, festen Fuß auf der direkt darunterliegenden zu fassen. Das pyrotechnische Spektakel nimmt kein Ende, bis auch noch die letzte Kiste in die Luft fliegt und der Künstler sich auf dem Boden der Realität wiederfindet, wobei diese letzte Metapher eines gesicherten Grundes in einem parodistischen Sinne zu verstehen ist. Nach der durchlaufenen Erfahrung der Destabilisierung ist wohl kein Boden mehr sicher genug. Signers Inszenierung ist eine ironische Redimensionierung überhöhter Visionen. Sie praktiziert die Aufgabe eines festen privilegierten Standpunktes, der sich im Laufe der Operation zunehmend als brüchig und fragwürdig erweist. Eine weitere Spur hat die Schweizer Regisseurin Gertrud Pinkus in ihrer Verfilmung (1991) von Eveline Haslers dokumentarischem Roman Anna Göldin – letzte Hexe (1982) gelegt. Die Geschichte rekonstruiert die letzte Hexenverbrennung Europas im späten 18. Jahrhundert. Die Hauptfigur, die sich in der Gebirgslandschaft eingeengt fühlt, erhofft sich während eines Gewitters, dass der Blitz in die Berge einschlägt und diese spaltet, so dass der Blick auf das Meer frei wird.
W ÄLDER UND F ELSEN Eine weitere Strategie, die thematisch zugleich zum nächsten Kapitel überleitet, verfolgt Robert Walser in seinem 1903 veröffentlichten Text Der Wald. Hier wird anhand eines kritischen, letztlich aber romantisierenden Landschaftsvergleichs das Starre und Vertikale der felsigen Bergnatur ins Bewegliche und Horizontale der Wälder übersetzt und dadurch implizit auch so etwas wie eine Kritik einengender nationaler Landschaftskonzeptionen angestrebt. Ganz zentral ist dabei die Vorstellung eines verbindenden, alle regionalen und nationalen Unterschiede überwindenden, lebendigen transnationalen Waldes, eine direkte Negation des unbeweglichen enggeschnürten Alpenwalls. Zu Beginn wird der Topos des endlosen Herkynischen Waldes in Form einer Bedrohung 96 | Vgl. dazu P. Bellasi u.a. (Hg.), Enigma Helvetia, arti, riti e miti della Svizzera moderna/The Arts, Rites and Myths of Modern Switzerland (Ausstellungskatalog, Museo Cantonale d’Arte, Lugano, 27.4.-17.8.2008), Mailand 2008, S. 342 und 347.
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eingeführt. Ein alter Lehrer berichtet davon, dass sich das mittlere Europa in Kürze in einen einzigen großen Wald verändern würde, wenn die Menschen nicht gegen das Wachsen des Waldes ankämpften. Dann würde der ungezügelte Wald bald als herrschendes Ganzes auftreten. »Das gab uns zu denken. Schon das ganze Deutschland allein als Wald, ununterbrochen von Städten und Menschenwohnungen […], dieser Gedanke war geheimnisvoll genug.«97 Die Bemerkung des alten Lehrers soll zwar intellektuelle Bedenken und Ängste vor irrationalen Kräften wecken, lässt aber bei seinen Schülern den Quell der Einbildungskraft sprudeln, ein Vorgang, der zugleich die eigentliche Bedeutung des Waldes als Ort der Phantasie, der Freiheit und Ungebundenheit antizipiert. In der Folge entwickelt Walser ein Bild der Schweiz, welches bewusst auf die Berge als zentrale nationale Landschaft verzichtet, ja diese sogar als störend und lebensfeindlich darstellt. »Unser Land ist voll rauschender Wälder. Das gibt, in Verbindung mit Flüssen, Seen und Bergzügen, eine liebe Heimat. Unsere Gegenden bezeichnen Wälder von verschiedener Art. […] Manchmal, sogar sehr oft, sind alle Arten Waldstücke zu einem großen Stück vereinigt. Aber sehr große Wälder haben wir nicht, denn wir haben zu häufige Unterbrechungen. Eine reizende Unterbrechung ist ein Fluß, eine wildere: Schluchten. Aber hängt nicht alles doch wieder zusammen? Unterbrechungen stören nur kleinwenig das Ganze, aber sie können doch das schöne, rauschende, rollende Ganze nicht wegnehmen. […] Wald herrscht also in unserem Land doch als ein breites, wohlwollendes, wollüstiges Ganzes.«
Nach dieser ersten Darstellung des schweizerischen Waldes führt Walser den Felsen als Kontrahenten des Baumes ein. Dabei spielt die spezifische Materialität der unterschiedlichen Landschafstypen eine wesentliche Rolle. Walser stellt explizit dem lebendigen atmenden Holz, das mit der Flüssigkeit des Wassers verwandt ist, die tote Starre des Steins gegenüber, und formuliert zugleich eine Gefahr: die Versteinerung, die Verwandlung des Beweglichen und Weichen ins Harte. »Waldlose Ebenen haben wir kaum; Seen ohne Waldränder sind ebenso fraglich, und Berge ohne die Lust des sie krönenden Waldes sind uns ein fast Fremdes. Freilich, wo die höchsten Berge anfangen, da hört selbstverständlich der Wald auf. Da, wo Fels ist, stirbt der Wald. Oder das, was, wenn tiefer und wärmer und breiter läge, Wald wäre, ist eben dann Fels. Fels, das ist toter, gestorbener, erdrückter Wald. Wald ist so holdes, reizendes Leben! Was Fels ist, das möchte gern das fressen, was so beweglich und reizend Wald ist. Der Fels starrt, der Wald lebt, er atmet, saugt, strömt, ist See, der tiefströmend 97 | R. Walser, Der Wald, in: Robert Walser. Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. von J. Greven, Erster Band, Fritz Kochers Aufsätze, Frankfurt a.M. 2002, S. 91.
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liegt, ist Fluß, der aufatmend fließt, ist Wesen, ist fast mehr Wesen als Element, denn er ist zu weich, um Element zu sein. Er ist weich! Weiches hat Aussicht, daß es hart wird. […] so wie nur Gutes schlimm werden kann […], so wird auch nur Weiches hart […]. Auf diese Weise, meine ich, haben unsere Wälder Aussicht, zu sterben, sich zu verwandeln, Fels zu werden, das zu werden, was sie ja wären, wenn sie höher und dünner lägen. Was breit liegt, das atmet in der Regel auch tief und ruhig […] Wälder schlafen, und so schön!« 98
Die Verwandlung des Hohen, Vertikalen und Trennenden ins Tiefe, Horizontale, Breite und Verbindende kulminiert ganz am Ende in der Vision einer einzigen ultimativen Heimat. »Wälder sind herrlich, und daß unser Land so voll Wald und Wälder ist, ist das nicht herrlich? Wäre es unsere Heimat, wenn es ein Land wäre, das ohne Wald läge? So läge es bloß, erstreckte sich bloß, wäre zum Messen, hätte gewiß auch seine Grenzen, aber lebte es? Und lebten wir in ihm, wie wir jetzt leben, da es voll Wald ist? Ein Wald ist ein Bild der Heimat, und Wälder sind Länder und die Länder sind eine Heimat.«99 Damit wird die anfängliche Bedrohung eines alles erobernden Waldes in ein utopisches Versprechen einer transnationalen Gemeinschaft umgewandelt.
98 | Ebd., S. 92ff. 99 | Ebd., S. 94.
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Das Herz der Finsternis Metamorphosen des Waldes
»Die deutschen Wälder sollen grünen, weil man aus ihnen das Papier herstellt, aus dem das deutsche Volk zusammengeklebt wird.« V ILÉM F LUSSER , Von der Freiheit des Migranten
M ISCHWALD In Albrecht Lehmanns 1999 veröffentlichtem Buch Von Menschen und Bäumen, das einer umfassenden Untersuchung der kulturellen und sozialen Bedeutung des Waldes in der deutschen Kultur1 gewidmet ist, trifft man auf eine Reihe von persönlichen Stellungnahmen. Darunter ist auch eine kürzere Beschreibung von Peter Märker, einem 57-jährigen Lehrer, die ich ausführlich zitieren möchte, steht sie doch am Ende einer langen historischen Entwicklung, deren Verlauf ich hier in den wesentlichen Punkten rekonstruieren möchte. Zudem ist es ein Beispiel für Mitchells Bestimmung von Landschaft als Prozess, durch den soziale und subjektive Identitäten geschaffen werden. Märker ist wahrscheinlich kurz vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren und daher auch bestens mit der propagandistischen Verbrämung des Waldes durch die Nazis vertraut. »Der Idealwald sieht bei mir so aus: Er steht auf einem Berg, er hat Mischwald, Eiche, Buche, also Laubbäume, dann auch ruhig ein paar Fichten dazwischen. Einen reinen Nadelwald […] finde ich trist, tot. Also, Mischwald müßte es schon sein. Und eine Wiese dazwischen, wo am Abend ein Reh dann rauftritt. – Also, eine Wiese oder eine Lichtung […]. Ein Bach muß durchfließen oder ein Bächlein. Es müssen also mehrere Faktoren zusammenkommen. Wenn ich auf einer Wanderung zu solch einer Landschaft komme, 1 | Zur Frage, ob man die Deutschen auch heute noch als Waldvolk betrachten kann, vgl. A. Lehmann, Der deutsche Wald, in: Deutsche Erinnerungsorte III, hg. von E. François und H. Schulze, München 2009, S. 195-200.
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halte ich an. Ich geh zum Bach runter. Ich wasch mir die Hände. Oder ich bleib einfach stehen und gucke. – Und wenn eine Bachstelze da auf einem Stein sitzt und trinkt, dann wär’s also noch viel schöner. – Da hätte man alles zusammen.« 2
Bei dieser Passage geht es wohl vor allem um eine Umdeutung einer gewissen Vorstellung von Landschaft, die mit der Erfahrung des Nazismus zusammenhängt. Der ideale Wald des Nazismus ist tendenziell ein Nadelwald aus Fichten, Kiefern und Tannen weitgehend ohne Unterholz. Ein sakraler, militarisierter und kollektiv wahrgenommener Wald. Stramm wie Soldaten stehen die Bäume nebeneinander. Märker betont kontrastive Momente, welche die Vergangenheit, wenn auch nur implizit, anklingen lassen. Die Hervorhebung des Vermischten – der Mischwald ist mitunter auch Teil eines europäischen Topos, der bis in die klassische Antike zurückreicht 3 – könnte auf ein multikulturelles Konzept der friedlichen Koexistenz verweisen. Es ist ein lebendiger Wald, voller Tiere, der durch einen hindurchfließenden Bach noch zusätzlich belebt und vielleicht auch symbolisch gereinigt wird. Dieses Moment wird im Verhalten des Wandernden, der sich, andächtig fast, die Hände wäscht, wieder aufgenommen. Obwohl es letztlich darum geht, durch eine radikal individualisierende Walderfahrung die eigene Liebe für den Wald, die persönliche gefühlsbetonte Walderfahrung, vor Ideologisierungen zu retten, wird dabei selbst wieder auf diskursive Versatzstücke – z.B. das an Disney-Filme gemahnende Reh – und eine unterschwellige Sakralisierung der Landschaft zurückgegriffen, die weitgehend aus der hier noch zu schildernden Tradition stammt. Die sehr dicht komponierte, ideale Waldlandschaft entwirft zudem eine ganz andere Subjektivität als das romantische, nationalistische, militaristische Konzept aus der deutschen Tradition. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist ein Essay von Volker und Werner Graf über die Ambivalenzen des deutschen Waldgefühls, welcher Märkers Entwurf eines Idealwaldes durch eine Reihe von weiteren Elementen ergänzt. Tatsächlich ist die ideologische Verbrämung des Waldes durch Nationalismus und Nazismus nur ein Teil eines vielschichtigen, widersprüchlichen Ganzen. Dies gilt ebenfalls für die Schweizer Alpen und andere Landschaften, welche durch nationalistische Ideologien in Beschlag genommen wurden. »Die Liebe zum Wald«, schreiben die beiden Autoren, »ist
2 | A. Lehmann, Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 62. Vgl. auch A. Lehmann, Vom deutschen Wald und seiner Wahrnehmung, in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 40-51. 3 | Vgl. M. Stadlober, Der Wald in Malerei und Graphik des Donaustils, Wien, Köln und Weimar 2006, S. 109.
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komplizierter zusammengesetzt.«4 Im Essay wird zu Beginn eine Holztafel am Waldlehrpfad auf dem Leutenberg bei Tuttlingen erwähnt. Darauf ist das »Auf bauschema des idealen Mischwaldes eingetragen«: Herrschende Oberschicht – die Baumkronen –, Kämpfende Mittelschicht – die Herzregion des Baumes zwischen Stamm und Krone –, Dienender Unterstand – die Baumstämme –, Strauchschicht und ganz unten Kräuter und Moose. Auf der Tafel sind sowohl Nadel- als auch Laubbäume abgebildet. Obwohl hier eigentlich die vertikale Struktur eines Waldes dargestellt werden soll und die Tatsache, dass die oberen Baumschichten deutlich mehr Licht als die unteren erhalten, ist die Nähe zu einem sozialen Modell gesellschaftlicher Hierarchie frappant. »Der hierarchische Auf bau wird als gleichsam natürlich dargestellt, noch unterstrichen durch die korrespondierenden Attribute ›herrschen‹ und ›dienen‹ […]. Der ›Unterstand‹ gehört in die Feudalordnung, der Überbau ist jedoch nach dem Schichtenmodell sortiert. […] Ganz unten, das wird ›Strauchschicht‹ genannt, wir assoziieren Strauchdieb, die legendären Räuber lauern im dunklen Wald den reichen Kaufleuten auf. Vom Lumpenproletariat bis zur herrschenden Klasse hat jeder seinen Platz, im Wald als Abbild der Gesellschaft.«5 Märkers zu Anfang des Kapitels erwähnter Mischwald betont, im Gegensatz zu diesem, auf den er vielleicht sogar eine indirekte Antwort ist, das demokratisch Gleichberechtigte und Gleichgestellte. Das Besondere an der Tafel ist, dass sie im Gegensatz zu vielen der hier untersuchten Verbindungen von Natur und Gesellschaft ein natürliches Setting verwendet, um soziale Ungleichheit zu legitimieren. Sowohl das Motiv des schweizerischen homo alpinus, wie das zu Beginn beschriebene österreichische Modell der Steiermark, betonen weitgehend gleichmachende Momente: Vor der Natur sind alle sozialen und kulturellen Unterschiede hinfällig. Dies hat damit zu tun, dass sich die nationalen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts in der Regel als demokratische Gebilde verstanden. Die beiden Autoren, denen es »um den utopischen Kern eines konservativen Motivs«6 geht, verweisen auf Kants Verwendung der Wald- und Baummetapher in einem pädagogischen Kontext. Auch bei Kant ist der Wald ein mögliches Abbild der Gesellschaft, allerdings im Sinne eines Ideals der gegenseitigen Erziehung, eines Wachstums in Freiheit und Gleichheit. Die Bäume in einem Walde, »dadurch, daß ein jeder dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht«, zwingen einander, »beides über sich zu suchen.« Dadurch bekommen sie »einen schönen geraden Wuchs«. Wachsen die Bäume hin-
4 | V. Graf und W. Graf, Werner, Auf dem Waldlehrpfad, in: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, hg. von B. Weyergraf, Berlin 1987, S. 75. 5 | Ebd., S. 74-5. 6 | Ebd., S. 76.
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gegen »von einander abgesondert«, so wachsen ihre Äste »krüppelig, schief, und krumm.«7 Obwohl dieser erweiternden Deutung des Phänomens Wald beizustimmen ist, muss hier doch festgehalten werden, dass dieser utopische Diskursstrang innerhalb nationaler Landschaftsdiskurse nicht nur weitgehend sekundär ist, sondern selbst Teil des Problems. Die beiden Momente lassen sich wohl kaum sauber voneinander trennen. Ganz im Gegenteil: Politisch konservative Diskurse ziehen ihre Stärke gerade aus diesen utopischen Momenten. Es ist zudem eine der zentralen Annahmen dieser Arbeit, dass die Ästhetisierung der Landschaft und die dadurch hervorgerufenen Gefühle – welche selbst einer ideologiekritischen Interpretation bedürfen – die ideologische Grundlage waren, auf der sich die Vorstellung nationaler Landschaften erst etablieren konnte.
D ER H ERK YNISCHE W ALD In diesem Kapitel möchte ich vor allem drei unterschiedliche, eng miteinander verbundene Metaphern des Waldes untersuchen: den Wald als exterritoriales Kräftereservoir, sakrale Lichtkathedrale und stehendes oder marschierendes Heer. Der deutsche Wald ist aber nicht nur Quelle, Kirche und Heer, sondern auch ein dichter, tiefer, alles verbindender und uniformierender Teppich, kein Flickenteppich wie die Landschaft Österreich-Ungarns, eher ein dunkler kompakter Ölfleck. Als solcher steht er für eine ursprüngliche, verlorengegangene Fülle und artikuliert auf ideelle Art und Weise den Wunsch, das kollektive Trauma der territorialen Zerrissenheit und Zersplitterung Deutschlands aufzuheben, eine mögliche nationale Einheit Deutschlands zu verwirklichen und die politische Uneinigkeit im Innern zu überwinden. Für die deutschen Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts stand der Herkynische Wald für all das, was sie als spezifisch deutsch empfanden. 1502 schrieb der deutsche Humanist und Schriftsteller Conrad Celtis (1459-1508) Norimberga, eine Geschichte und topographische Beschreibung der Stadt Nürnberg. Im ersten Kapitel beschreibt er sich als Deutscher, der mitten im Herkynischen Wald geboren wurde. Celtis, der Tacitus’ Germania 1497 herausgab, plante unter dem Titel Germania illustrata die Niederschrift einer umfassenden Übersicht aller deutschen Ländereien und Völkerschaften, die alle wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit zur Geschichte Deutschlands hätte versammeln sollen.
7 | Zitiert in ebd., S. 76, aus I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht, in: Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1975, S. 40.
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1500 gab er eine zweite Ausgabe von Tacitus’ Germania heraus und fügte dieser das dritte Kapitel seiner Norimberga über den Herkynischen Wald hinzu. In Celtis’ sechstem Kapitel der Germania generalis (1500) wird der Herkynische Wald8 als ein zusammenhängendes, ganz Deutschland überziehendes Gebiet beschrieben, ein dunkles vielarmiges amöbenhaftes Geschöpf, welches das gesamte Territorium umarmt und die verschiedenen Ländereien und die darin lebenden Völkerschaften verbindet. Julius Caesar, dem in diesem Zusammenhang eine vergleichbare Funktion wie bei der Bestimmung des helvetischen Territoriums zukommt, hält in De Bello Gallico fest, selbst eine 60-tägige Reise würde nicht ausreichen, um den Herkynischen Wald zu durchmessen.9 In seiner Germania fügte Tacitus noch ein weiteres Element hinzu, das in der Folge von wesentlicher Bedeutung sein wird: der deutsche Wald als Paradigma des Unzivilisierten und Gesunden ist das Gegenteil der korrupten und dekadenten römischen Zivilisation. Obwohl in antiken Quellen die Hercynia silva als ein Waldgebiet erwähnt wird, das sich über ganz Mitteleuropa erstreckte, ist das komplexe umfassende Bild der Germania generalis von Celtis selbst entworfen worden. Es handelt sich dabei um ein kohärentes, sich in einzelne Arme verzweigendes Waldgebiet, das in Richtung Norden bis an die Nord- und Ostsee reicht und dessen östliche Ausdehnung sich in zwei Linien aufteilt. Der Ursprung des Waldes wird am westlichen Rheinverlauf lokalisiert, an der Rheinbiegung bei Basel. Von dort erstreckt er sich bis zum Ural, an die Grenzen Europas. Celtis’ Beschreibung des Herkynischen Waldes will in schnellen Schritten und ohne innezuhalten durch die verschiedenen Teile führen, in einem Versuch, die unermessliche Weite des Waldes einzufangen. Der erste Arm führt von Südwestdeutschland nach Thüringen, der zweite nach Norden bis zur See und der dritte über das Voralpenland hinaus. »Der herkynische Wald aber und die Berge, die von den Alpen ihren Ausgang nehmen, erstrecken sich mit ihren Verzweigungen über das ganze Land und breiten ihre Arme gar bis zur untergehenden Sonne aus. […] Dieser Wald breitet sich über mannigfaltige Landschaften bald weit nach Norden hin aus, bald irrt er mit seinen baumreichen Bergen und Tälern nach Süden und Westen. […] Sobald aber der Wald die jenseits des Rheins gelegenen Landstriche verlassen hat, strebt er den unzähligen Volkstämmen germanischen Blutes zu, breitet sich über das Land der Schwaben, der wilden Chauken, der trunksüchtigen Sugambrer und das Gebiet der rauhen Algionen hinweg aus und gelangt zur Quelle des Rheins.«10
8 | Vgl. Stadlober, Der Wald, S. 131-145. 9 | Vgl. Caesar, Der Gallische Krieg, S. 170-1. 10 | G.M. Müller, Die ›Germania Generalis‹ des Conrad Celtis, Tübingen 2001, S. 101ff.
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Der Wald zieht an den Alpen vorbei und wirft dann »seine Arme wieder Richtung Norden und umschließt Schwaben, Franken und Thüringen. Er erfaßt die obnobischen Berge […] zieht sich zurück ins Sachsenland […] bis er mit seinen waldreichen Höhen und Tälern beinahe das deutsche Meer berührt.«11 Der Wald ist schon bei Celtis vor allem nach Osten hin zugleich ein Grenzwall, eine mit den Schweizer Alpen vergleichbare Bastion, die »das kampfeslustige Deutschland mitten in seinem Gebiet nährt« und »von allen Seiten mit einer gleichsam natürlichen Mauer«12 einschließt, eine Grenzmark, die zwischen den Völkern liegt.13 Das Wort ›Mark‹ steht dabei im Gegensatz zu ›Grenze‹, das auf das polnische granica zurückgeht und die gesamte Länge des polnisch-deutschen Grenzgebiets bezeichnet. Ist die Grenze eine Linie, so muss man sich die Mark als einen unwegsamen bewaldeten Raum vorstellen. Wald und Sicherheit finden im Begriff ›Schutzwald‹ zusammen – ein solcher hätte gegen das benachbarte Frankreich gepflanzt werden sollen.
K R ÄF TERESERVOIR In den 1812 publizierten Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm wurde der Wald14 als Ort der Erinnerung und Symbol einer vergessenen Volkskultur bestimmt. Der Wald war von der Aura eines verlorenen Ursprungs umgeben und barg, einem symbolischen Kräftereservoir alter Sitten und Gebräuche vergleichbar, die mündlichen Volkstraditionen in sich. Die Grimm’schen Wälder, in denen sich die Figuren verirrten, um daraus wieder weiser zurückzukehren, waren zwar selbst meist nicht verzaubert, in ihnen aber fanden vielfache Formen der Verzauberung statt, handelte es sich beim Wald doch um einen Ort, an dem gesellschaftliche Konventionen außer Kraft gesetzt waren. Wie Ursula Breymayer und Bernd Ulrich15 ausführen, repräsentierte der deutsche Wald ein Zwischenreich auf der Grenze von Fiktion und Realität, eine vom Alltag entrückte terra incognita und zugleich eine vertraute Heimat. Bei den 11 | Ebd., S. 104. 12 | Ebd., S. 105. 13 | Vgl. dazu K. Köstlin, Der ethnisierte Wald, in: Der Wald – ein deutscher Mythos?, hg, von A. Lehmann und K. Schriewer, Berlin 2000, S. 58. 14 | Zur Bedeutung des Waldes im Werk der Gebrüder Grimm vgl. auch R.P. Harrison, Forests. The Shadow of Civilization, Chicago und London 1993, S. 164-177 sowie J.D. Zipes, The Brothers Grimm. From Enchanted Forests to the Modern World, New York 2002. 15 | Vgl. U. Breymayer und B. Ulrich, ›Unter Bäumen‹: ein Zwischenreich. Die Deutschen und der Wald, in: Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 15-33.
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Gebrüdern Grimm, wie später bei Wilhelm Heinrich Riehl, war der Wald eine Quelle des natürlichen Rechts. 1820 schreibt Ernst Moritz Arndt, die Erhaltung des Waldes sei eine Voraussetzung für das Überleben des Volkes und die Pflege und Erhaltung der Waldforste eine heilige Pflicht im Sinne einer höheren Gesetzgebung. Dieser Gedankengang liegt ebenfalls Wilhelm Heinrich Riehls Vision des Waldes zugrunde, so wie er sie im ersten Band seiner 1854 veröffentlichten Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik darlegte. Für Riehl beginnt die menschliche Kultur damit, dass die Wälder gerodet wurden. »In der Urwildniß rodet der erste Siedler: er schafft den Gegensatz von Feld und Wald und hebt damit das Verhältniß von Land und Leuten über die Linie der uranfänglichen bestialischen Natürlichkeit. Nur wo Feld und Wald ist, da ist feste Siedelung, da bildet der Boden selbst die Basis organischer Gesellschaftszustände.«16 Obwohl Kultur gerade dadurch wächst, dass weiterer Wald gerodet wird, muss dafür gesorgt werden, dass dieser nicht restlos verschwindet, damit zwischen Feld und Wald so etwas wie ein Gleichgewicht besteht. Für Riehl ist der Wald die ursprüngliche, vorgeschichtliche Landschaftsform, ein Kräftereservoir und eine Quelle der Energie. Er garantiert einen direkten Kontakt zu Geschichte und Tradition und ist darüber hinaus ein exterritoriales Gebiet, in dem andere Gesetze bestimmend sind. »Der Deutsche Wald […] ist ein letztes verkörpertes Stück Mittelalter.«17 Und an anderer Stelle: »unserem Volksleben [sind] noch die Reste uranfänglicher Gesittung bewahrt […].«18 Der Wald stellt zudem »ein aristokratisches Element in der Bodenkultur dar.«19 Riehl unterscheidet zwischen früheren aristokratischen Formen des Waldes – womit Eichen- und Buchenstämme gemeint sind – und späteren proletarischen Formen – meist Nadelhölzer. Durch Rodung ganzer Waldflächen hat man nicht nur wertvollen Wald vernichtet, sondern auch eine künstliche Umwandlung des Waldes in Gang gebracht, welche die früheren Laubhölzer durch Nadelhölzer ersetzt hat. Dadurch artikuliert Riehl so etwas wie eine doppelte Kritik an der industrialisierten und urbanisierten Moderne, welche sich durch unkontrollierte Rodung nicht nur von den Quellen der Geschichte abschneidet, sondern auch zu einer schleichenden Proletarisierung der Gesellschaft führt. Der Wald ist das einzige große Besitztum, das allen gehört und jedem zugänglich ist. Im Gegensatz zu anderen Landschaften ist er noch nicht privatisiert, sondern kollektiver Besitz des Volkes. Man kann darin frei umherziehen, 16 | W.H. Riehl, Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 1, Land und Leute, Stuttgart und Tübingen 1854, S. 42. 17 | Ebd., S. 29. 18 | Ebd., S. 31. 19 | Ebd., S. 36.
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sich mit Holz eindecken und anderen materiellen wie ideellen Bedürfnissen nachgehen. Die Gütergemeinschaft des Waldes ist dabei eine echt altgermanische Institution. Deshalb hat sich der private Waldbesitz in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern erst relativ spät etabliert. Verwirklicht war diese ideale Waldgemeinschaft nur einmal in der Geschichte: im Urwald. Die Erhaltung eines solchen Freiraumes ist aus verschiedenen Gründen von Bedeutung. »Ein Volk, welches noch den offenen, gemeinheitlichen Wald neben dem im Privatbesitz angeschlossenen Felde besitzt, hat nicht bloß eine Gegenwart sondern auch noch eine Zukunft.« England, Frankreich und Italien haben ihre Wälder frühzeitig abgeholzt und besitzen deshalb keinen echten Wald mehr, aus diesem Grund findet man in diesen Ländern auch »ein schon halbwegs ausgelebtes Volksthum.« Riehl verwendet das Wort »ausgelebt« an mehreren Stellen. So ist auch Italien ein ausgelebtes Land, »weil sein Boden keine Wälder mehr trägt […]. Ein Volk muss absterben, wenn es nicht mehr zurückgreifen kann zu den Hintersassen in den Wäldern«, um sich bei ihnen »neue Kraft des natürlichen rohen Volksthumes zu holen.«20 Deutschland dagegen hat seine Berge noch nicht entwaldet, immer noch gibt es »ungeheure Waldstrecken als geschlossenes Ganzes«, wodurch »Land und Volk noch nicht ausgelebt und ausgetrocknet«21 sind. Es ist, als ob die Existenz eines echten Waldes die nötige erneuerbare Lebensenergie für ein Volk bereithält, welche sich dabei genauso wie der Wald immer wieder regenerieren kann. Der echte Wald ist dicht, zusammenhängend und erstreckt sich über größere Distanzen. »Die Wildnis ist das große ruhende Baarkapital.«22 In den USA wird die Gesellschaft durch »rohen Materialismus« zersetzt, da aber immer noch große bewaldete Flächen existieren, besteht auch weiterhin die Möglichkeit, »ein frischeres, kräftigeres Geschlecht für das rasch sich auslebende Küstenland«23 großzuziehen. Riehls deutscher Wald artikuliert einerseits ein nationales politisches Programm, andererseits eine Kritik der ungehemmten Industrialisierung und Urbanisierung der Moderne. Die Vorstellung, dass alles Waldland sukzessive in Ackerland verwandelt wird, ist »für die Phantasie jedes natürlichen Menschen etwas grauenhaft unheimliches; ganz besonders ist es aber dem germanischen Geiste zuwider«, der dadurch mit Freiheitsstreben und Natürlichkeit in eins gesehen wird. Und weiter: »In der Vernichtung des Gegensatzes von Feld und Wald nehmt ihr dem deutschen Volksthum ein Lebenselement. […] Auch wenn wir keines Holzes mehr bedürften, würden wir doch den Wald brauchen. Das deutsche Volk bedarf 20 21 22 23
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Ebd., S. 32. Ebd., S. 38. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29.
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des Waldes […]. Brauchen wir das dürre Holz nicht mehr um unseren äußeren Menschen zu erwärmen, dann wird das Geschlecht das Grüne, in Saft und Trieb stehende zur Erwärmung seines inwendigen Menschen um so nöthiger seyn.«24 Der Gegensatz von Feld und Wald wird weitgehend als ideeller gedacht. »Wald« steht einerseits für eine konkret existierende Landschaft, andererseits aber für jegliche Landschaft, die noch nicht durch Kultivierung und Bebauung gezähmt worden ist.25 Aus diesem Grund ist »auch der vereinzelte Waldbaum […] für sich noch Wald und hat Waldrecht«26 und alle anderen noch verbleibenden wilden Gebiete besitzen Waldcharakter. »Nicht bloß das Waldland, auch die Sanddünen, Moore, Heiden, die Felsen und Gletscherstriche, alle Wildniß und Wüstenei ist eine nothwendige Ergänzung zu dem cultivierten Feldland. Freuen wir uns, daß es noch so manche Wildniß in Deutschland gibt.«27 Auch Meeresküsten sind Garant für Vitalität, stete Erneuerung und ungehinderte Kraftentfaltung. Sie sind für Küstenbewohner das, was die Wälder für Binnenvölker sind. Da Deutschland über viel weniger Küste als England verfügt, braucht es auch umso mehr Wald als dieses. Wald und Meer stehen beide für eine heilige Freiheit: »[…] nirgends wirkt darum diese Heiligkeit der unberührten Natur ergreifender, als wo der Wald unmittelbar dem Meer entsteigt wo der Wogenschlag des brandenden Meeres mit den rauschenden Wipfeln der Bäume zu einem Hymnus zusammenbraust.« Riehl spricht vom heiligen Schweigen des deutschen Gebirgswaldes und der »Kirchenstille der Wildniß«.28 Wälder sind Orte der inneren Einkehr und der geistigen Erneuerung, hier kann man sich noch frei fühlen. »Der Wald allein läßt uns Culturmenschen noch den Traum einer von der Polizeiaufsicht unberührten persönlichen Freiheit genießen. Man kann da doch wenigstens noch in die Kreuz und Quere gehen nach eigenem Gelüste […].« Diese typisch germanische Waldfreiheit ist glücklicherweise fast überall noch gerettet worden. »Deutschland hat eine weit größere Zukunft der sozialen Freiheit als England, denn es hat sich den Wald gerettet.«29 Riehl verbindet mit der Vorstellung wilder ungezähmter Landstriche zudem auch so etwas wie eine vitale Pluralität von Lebensformen, die er dem geschliffenen uniformen Leben der industriellen und urbanen Moderne gegenüberstellt, deren Ziel es ist, die Wälder zu vertilgen. Wälder stellen einen 24 | Ebd., S. 30-1. 25 | Eine ähnliche Ansicht vertritt Ernst Jünger in seinem Essay Der Waldgang (s.u. Silvanismus und Saharismus). 26 | Riehl, Naturgeschichte, S. 29. 27 | Ebd., S. 31. 28 | Ebd., S. 35. 29 | Ebd., S. 34.
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»Quell […] unerschöpflicher Lebensfülle« dar. Die unterschiedlichen, ungezähmten exterritorialen Zonen garantieren landschaftliche Vielfalt und dadurch auch eine Mehrzahl von menschlichen Charaktertypen. Dass dies durch große Städte genauso, wenn nicht effizienter geleistet wird, übersieht er dabei geflissentlich. Riehl übersetzt den einfachen anfänglichen Dualismus von Feld und Wald, Kultur und Natur, in ein Lob der ursprünglichen natürlichen landschaftlichen Vielfalt und der dazugehörenden natürlichen Ungleichheit der Menschen. »Rottet den Wald aus, ebnet die Berge und sperrt die See ab, wenn ihr Gesellschaft in dem gleichgeschliffenen Universalismus der Geistesbildung nivellieren wollt. […] ein durchweg in Bildung abgeschliffenes, im Wohlstand gesättigtes Volk, ist ein todtes Volk.«30 Durch die Erfahrung des Waldes lassen sich eine ästhetische Erziehung des Volkes und eine Individualisierung der Gesellschaft erreichen, so als ob die natürliche Vielfalt, automatisch fast, eine vielfältige soziale Gemeinschaft aus den unterschiedlichsten Typen hervorbringe. »In der Individualisierung der Bodencultur«, so Riehl, ist die »wunderbar reiche Gliederung« der deutschen Gesellschaftszustände vorgebildet, sie ist die »natürlichste Wurzel«31 der deutschen Geisteskultur und Garant für deren Biegsamkeit, Vielseitigkeit und Empfänglichkeit. Die Landschaft Deutschlands im Gegensatz zu anderen Ländern Europas zeichnet sich durch eine große Vielfalt an ungezähmten landschaftlichen Formen aus und ist dadurch besonders geeignet, solch einer Entwicklung Vorschub zu leisten.
L ICHTK ATHEDR ALE Die zweite Waldmetapher, die mit der ersten direkt verbunden ist, sozusagen auf dieser aufsitzt, bestimmt den Wald als heiligen Ort der Einkehr und Selbsterkenntnis, als lichtdurchflutete Baumkathedrale. Die beiden Metaphern stützen und ergänzen einander dabei. Die militärische Metapher des Heers, auf die ich zum Schluss zu sprechen komme, wird an die ersten zwei durch gemeinsame strukturelle und inhaltliche Elemente angedockt. Hier spielen z.B. die vertikale Tendenz und die Entsprechung von Baum, Kirchenpfeiler und Soldat eine wichtige Rolle. In diesem Sinne ließe sich die deutsche Waldmetaphorik als ein mehrteiliger dynamischer Metapherncluster beschreiben, bei dem die einzelnen Termini über das zentrale Element Wald miteinander verbunden sind, zusätzlich aber noch weitere Beziehungen zueinander unterhalten. So tauschen nicht nur der Wald und die Kirche ihren Platz, sondern auch die Quelle und die Kirche oder die Kirche und das Heer, was eine Reihe
30 | Ebd., S. 31. 31 | Ebd., S. 37.
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von möglichen metaphorischen Permutationen ergibt. Diese diskursiven Strategien der gegenseitigen Übersetzung sollen im Folgenden untersucht werden. In diesem Zusammenhang ist die sakrale Waldikonographie einer Szene aus Fritz Langs 1924 entstandenem Film Die Nibelungen von besonderem Interesse (Abb. 10). Kurz vor seinem Kampf gegen den Drachen taucht Siegfried auf einem weißen Pferd zwischen hohen parallelen dichtgedrängten Bäumen auf, die wie die Kolonnen einer gotischen Kathedrale wirken. Licht dringt seitlich von oben in den sakralen Raum. Die Einstellung zeigt den Krieger in einem meditativen quasireligiösen Moment kurz vor der Schlacht. Abbildung 10: Siegfried in Fritz Langs Die Nibelungen
Generell ließe sich festhalten, dass bei der metaphorischen Verwendung von Landschaften zur Veranschaulichung von Nationen zwar meist eine einzige spezifische Landschaft verwendet wird – weil ihr dadurch eine umso stärkere integrative Wirkung zukommt –, diese in der Regel aber mehrfach metaphorisch kodiert wird. Die verschiedenen nationalen Landschaftsmetaphern kön-
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nen einander widersprechen oder ergänzen. Der Alpenwall und das Wasserschloss stehen zwar für unterschiedliche politische Aspekte: den defensiven isolationistischen Rückzug einerseits und die Öffnung auf sprachliche und kulturelle Pluralität andererseits. Sie werden aber zugleich miteinander verbunden: Der Wall dient auch dem Schutz der multikulturellen europäischen Bestimmung der Schweiz. Dasselbe gilt für die verschiedenen hier untersuchten Waldmetaphern und die beiden wesentlichen Metaphern zur Donaumonarchie – das völkerverbindende Band der Donau und die umfassende landschaftliche Liste.32 In der folgenden Passage aus dem 1918 erschienenen ersten Band von Der Untergang des Abendlandes vergleicht Oswald Spengler den Wald mit einem Dom. In seiner Beschreibung kommt ein Transformationsverfahren zum Zuge, welches im Nazi-Film Ewiger Wald, auf den ich hier noch näher eingehen werde, von zentraler Bedeutung ist. Hier zeigt sich, dass Metaphorisierungen projektive dynamische Vorgänge sind, die durch In-Bezug-Setzung fremder Wirklichkeiten neue Welten entwerfen, welche in einem zweiten Moment dazu dienen, spezifische Formen der individuellen und zugleich kollektiven Subjektivität zu umschreiben. Dies lässt sich besonders anschaulich im Falle der Bestimmung des deutschen Soldaten als Baum aufzeigen, der in einem wehrhaften Wald eingebunden und aufgehoben ist und dennoch verletzbar bleibt. Aber davon mehr später. »In dem Wälderhaften der Dome«, schreibt Spengler, »in der Verwandlung der Säulen […], die aus dem Boden wachsen und deren Äste und Linien sich über dem Scheitel im Unendlichen verteilen und verschlingen, während von den Riesenfenstern, welche die Wand aufgelöst haben, ein ungewisses Licht durch den Raum flutet, liegt die architektonische Verwirklichung eines Weltgefühls, das im Hochwald der nordischen Ebenen sein ursprünglichstes Symbol gefunden hat. Und zwar im Laubwalde mit dem geheimnisvollen Gewirr seiner Äste und dem Raunen der ewige bewegten Blättermassen über dem Haupte des Betrachters […]. Man denke wieder an die romanische Ornamentik und ihre tiefe Beziehung zum Sinn der Wälder. Der unendliche, einsame, dämmernde Wald ist die geheime Sehnsucht aller abendländischen Bauformen geblieben.« 33
Spengler bezieht sich hier auf eine spezifische Erfahrung, die man eigentlich eher mit hochgeschossenen gotischen Bauwerken und nordischen Tannenwäldern verbinden würde als mit romanischen Kirchen und dehnt diese zugleich auf die gesamte Architektur des Abendlandes aus. Kurz darauf aber wird diese 32 | S.u. Graben und Band und Patchwork. 33 | O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Düsseldorf 2007, S. 508-509.
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Definition anhand der ausgewählten Bäume wieder kulturell eingegrenzt. Was Spengler hier meint, ist eindeutig der nordeuropäische, wenn nicht gar der deutsche Wald: »Die Zypresse und Pinie [typische Vertreter der mediterranen Welt] wirken körperhaft, euklidisch […]. Die Eiche, Buche und Linde mit den irrenden Lichtflecken in ihren schattenerfüllten Räumen wirken körperlos, grenzlos, geistig. Der Stamm einer Zypresse findet in der klaren Säule [griechischen Ursprungs] ihrer Nadelmasse den vollkommenen Abschluß seiner senkrechten Tendenz; der einer Eiche wirkt wie ein unerfülltes rastloses Streben über den Wipfel hinaus.«34
K IRCHEN DER W ILDNIS Von 1470 bis 1520 bildet sich in der architektonischen Sakralkunst des süddeutschen Raumes eine neue Aufmerksamkeit für den Wald heraus, die dazu führt, dass vegetabile pflanzliche Formen den kirchlichen Raum zu überwuchern beginnen. Diese Tendenz zeigt sich besonders deutlich in den Lauben, Arkadengänge mit vielfacher Bedeutung, die sowohl außerhalb als auch innerhalb von Kirchen anzutreffen sind. Die einfachste Gestalt ist eine überdachte, meist gewölbte Halle auf Stützen – z.B. Baldachine über Nebenaltären und Kirchvorhallen. Arkadengänge können als Schutz gegen Wetter und Sonne dienen und fungieren als Tabernakel-Lauben über Seitenaltären. Unter Bäumen ist man geschützt. Die Laubenform ist eine Übergangszone, die Innen und Außen, Dunkel und Hell voneinander trennt, eine Zwischenwelt und ein abgesonderter intimer behüteter Ort der Ruhe. Das Wort ›Laube‹ geht auf das germanische louba, Schutzdach aus Rinde, zurück. Laube und Laub werden oft wegen der Laubengestalt von Ast- und Astlaubwerk miteinander verbunden, gehören aber etymologisch eigentlich nicht zusammen. Ab 1470 werden Lauben in verschiedenen Bereichen von der Malerei bis zum Kirchenmobiliar zu einem wichtigen Motiv. In Kirchen findet man Baldachine, die miteinander zu einem raumschaffenden Laubendach verwachsen sind. Weitere Gewächse als Zeichen des Heiligen und Lebendigen, eines übernatürlichen Wachsens und Blühens finden sich im Innern von Kirchen. Es entsteht ein Gewächsstil, der Kirchen in zauberhafte Gärten verwandelt. Oettinger spricht von einer Verschwisterung von Architektur und Gartenform, einem »Weg der Verpflanzlichung«. In den Kirchen gewinnt »alles Gemeißelte und Geschnitzte der Einrichtungsstücke ein wunderbares pflanzliches Leben«.35 Selbst der Fuß von Monstranzen gleicht einem Baumgebilde. Diese 34 | Ebd., S. 509. 35 | K. Oettinger, Laube, Garten und Wald. Zu einer Theorie der süddeutschen Sakralkunst 1470-1520, in: Festschrift für Hans Sedlmayr, München 1962, S. 214-5.
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Architektur ist »vegetabil: und zwar wachsen Pflanzen, Zweige und Blüten büschelig aus Zwickelansätzen und den Rippenkreuzungen, so als sprießten sie aus den Steinfugen.«36 Vergleichbare Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Interesse der deutschen Humanisten für den Herkynischen Wald verbunden werden müssen, finden sich in der Malerei.37 In der darstellenden Kunst des frühen 16. Jahrhunderts, besonders bei Albrecht Dürer, Lucas Cranach d.Ä. und Albrecht Altdorfer, wird eine völlig neue Entwicklungsstufe der europäischen Landschaftsmalerei erreicht. Der Wald ist eine subjektive Stimmungslandschaft, die nicht mehr bloß im Bildhintergrund vorhanden ist, sondern oft in die vorderste Bildzone geholt und bildflächenfüllend oder als Detail eingesetzt wird. Die Bilder sind zwar sachgetreu, aber nicht immer empirische Naturstudien, sondern auf schematisierte allegorische Grundformen zurückzuführen. Wichtig und neu ist die genaue Darstellung einzelner regionaler Baumtypen: Fichten, Kiefern, Linden und Buchen bei Dürer, Fichten, Tannen und Birken bei Lucas Cranach d.Ä.; Kiefern und Lärchen bei Altdorfer. Bei Altdorfer gewinnt der einzelne Baum und seine Beziehung zu anderen regionalen Baumarten an Bedeutung, so taucht z.B. die Lärche zusammen mit Birken und Eschen auf, was typisch für die Voralpenlandschaft ist. Altdorfer (1480-1538)38 brachte das Sujet des Waldes und die damit verbundenen Erfahrungen in die Malerei ein. Dadurch schuf er einen neuen Raum und eine neue Sprache. Ornamentales Blattwerk wurde zum strukturierenden Prinzip seiner Gemälde. Altdorfers Landschaften stellen zwar keine bestimmten Orte dar. Meist malte er fiktionale erfundene Landschaften, die aus Fragmenten regionaler Landschaften zu einem idealen Ganzen verschmolzen wurden. Diese zeigen aber deutsche Orte und Landschaften, was sich vor allem aufgrund der dargestellten Baumarten behaupten lässt. Bei Altdorfer steht der einzelne Baum metonymisch für den gesamten deutschen Wald. In seinen Wäldern kann man eine Anthropomorphisierung einzelner Bäume ausmachen sowie einen neuen Detailreichtum, der verschiedene Waldtypologien kombiniert: der literarische Topos des wilden Waldes, der Typus des locus amoenus oder der mystische Wald. Typisch für die deutsche Landschaftsmalerei der Zeit ist die Vorliebe für das Dickicht, den Hain und das Gehölz. Seine selbstähnlichen Wälder sind auch Orte des Kultes, Kirchen der Wildnis, wobei der Wald und die Kapelle einander ergänzen und bedingen. Die Bäume mit ihrer schier endlosen Blätterfülle beherrschen das Blickfeld. Altdorfer malt grüne Wälder in voller sommerlicher Blüte. Im Vordergrund sieht man oft Bäume, die die Stelle von menschlichen Figuren einnehmen, als wä36 | Ebd., S. 219. 37 | Vgl. dazu Stadlober, Der Wald, S. 139-145 und 224-287. 38 | Vgl. Ch.S. Wood, Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, London 1993.
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ren diese zu Bäumen geworden: anthropomorphe Bäume mit wilden Haaren und Gliedern, die wie zottige Waldleute aussehen. Der Wald selbst als Ort, der sich jenseits der Geschichte ansiedelt, wird hier zum Hauptsujet. Altdorfers Wälder wirken dicht verschlossen, unzugänglich. Auf diesen Gemälden fehlen die Menschen mit ihren alltäglichen Verrichtungen, es fehlen ebenfalls Tiere und die seltenen Gebäude sind praktisch unerkenntlich. Die Wälder liefern dabei nicht nur den Einrichtungsstoff für die Landschaftsgemälde, sondern auch deren formale und strukturelle Prinzipien. Daraus ergibt sich eine Art Feedback-Prozess, bei dem Wälder als Bilder wirken, die wiederum auf gesehene und erfahrene Wälder zurückwirken. Ein weiterer, in diesem Zusammenhang entscheidender Aspekt ist die direkte Verbindung zwischen dem dargestellten Wald und dem Land als politischer Entität, der man auch in den Texten der Humanisten begegnen kann. Diese haben jedoch den neuen selbstbewussten Stil der deutschen Maler nicht explizit erwähnt und kommentiert. Von besonderem Interesse für die hier untersuchte Metapher des sakralen Waldes ist das 1510 entstandene Bild Laubwald mit dem Heiligen Georg, welches eine Szene aus der Drachentöterlegende des Heiligen Georg zeigt. Altdorfer verkleinert einerseits das Ereignis und vergrößert das Landschaftliche. Er schafft ein dramatisches Close-up, indem er den Wald ins Innere des Gemäldes verlegt, sozusagen den Wald von innen her darstellt. Der dargestellte Wald ist eine monumentale Stimmungslandschaft, ein undurchdringliches Blätterdickicht, in dem Mensch und Tier sich aufzulösen scheinen. Die vorherrschende, sich verselbständigende Waldlandschaft ermöglicht keine Durchblicke und schließt sich dachartig über den Kämpfenden. »Ein homogener Gewächsteppich, ausgespannt zwischen zwei mächtigen Laubbäumen rechts und links, wuchert über dem natürlich klein dargestellten Heiligen. […] Der buschförmige Wuchs der Laubkronen verweist auf Buchen […]. Es handelt sich um den so genannten Hallenwald mit langen, säulenartigen Stammformen und dicht schließenden Laubkronen des Buchen-Eichen-Waldtyps, der in der Ebene und im unteren Bergland Mitteleuropas auf Sand- und auf Silikatböden wächst.«39 Altdorfer hat darüber hinaus dem Kampf mit dem Drachen, der sich in der Stadt Silena in Lybien abspielt, in einen spezifisch mitteleuropäischen Wald verlegt. In dem vergleichbaren 1502-1507 entstandenen Gemälde Heiliger Georg im Kampf gegen den Drachen des italienischen Malers Vittore Carpaccio findet der Kampf in einer wüstenhaften knochenübersäten Landschaft vor den Toren einer befestigten Stadt statt. Neben zwei Baumstümpfen sind noch ein vertrockneter, fast blattloser Baum und eine Reihe von palmenartigen Gewächsen sichtbar. Der Drache haust in der Legenda aurea in der Nähe der Stadtmauern in einem See. Dabei werden weder Wälder noch irgendwelche Grünzonen erwähnt. Die Wahl des Waldes als Handlungsort erfolgt somit völ39 | Stadlober, Der Wald, S. 244-5.
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lig unabhängig von der ikonologischen Tradition. »Die Farbpalette, in der das Grün dominiert, ist im Thema des Waldes begründet. […] Altdorfer verpflanzt den Ritter aus cappadocischem Geschlecht, der als Tugendheld Tapferkeit und die Nachfolge Christi« vertritt und um 1500 »in den Reichsstädten eine ganz besondere Verehrung erfuhr, in seine Heimat […]. Die Walddarstellung des Georgbildes […] holt ferner als Bedeutungslandschaft das Geschehen in den germanischen Wald, wie es der Wuchsbestand verdeutlicht. Der Gestaltungsmodus ist bewusst retrospektiv gewählt, was durchaus als nationale, historisch untermauerte Identifikation verstanden werden kann.«40 Auf die Übertragung wüstenhafter Landschaften in den Kontext des deutschen Waldes komme ich im nächsten Kapitel zu sprechen.
M ASSENSYMBOL W ALD Der locus classicus zur politischen Bedeutung des deutschen Waldes findet sich in Elias Canettis Masse und Macht. Canettis vielfach mit affirmativer Bewunderung zitierte Beschreibung bleibt in ihrer Absolutheit sicher problematisch, ist aber von einem metaphorologischen Standpunkt aus gesehen eindeutig mehr als bloß ein Bonmot41 und ist meines Wissens zudem nie genauer untersucht worden. Dass Canettis dichter metaphorischer Deutung des deutschen Waldes sehr genaue Beobachtungen zugrunde liegen, werden die nachfolgenden Ausführen verdeutlichen. Der Text arbeitet mit einer ganzen Reihe von metaphorischen Bezügen, die sowohl das kollektive wie auch das individuelle Moment berücksichtigen und diese beiden aufeinander beziehen. Der Wald wird als marschierendes Heer verstanden und die einzelnen Bäume als Soldaten. Canetti betont dabei folgende Elemente: das Rigide und Parallele der wie Soldaten aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und Zahl, die Sauberkeit und Abgegrenztheit der Bäume voneinander und die Betonung der Vertikalen. Damit wird zugleich eine strammstehende militärische Abteilung beschrieben. Um die Spezifizität dieser Vision zu verdeutlichen, führt Canetti einen interkulturellen landschaftlichen Vergleich ein. Dieser Wald unterscheidet sich vom »tropischen, wo Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinander wachsen. Im tropischen Wald verliert sich das Auge in der Nähe, es ist eine chaotische, ungegliederte Masse, auf eine bunteste Weise belebt, die jedes Gefühl von Regel und gleichmäßiger Wiederholung ausschließt.« Dieser Wald »hat seinen anschaulichen Rhythmus. Das Auge verliert sich, an sichtbaren Stämmen entlang, in eine immer gleiche Ferne.« Zu den schon erwähnten Momenten kommen also 40 | Ebd., S. 246. 41 | Vgl. z.B. Lehmann, Von Menschen und Bäumen, S. 11.
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noch Regelmäßigkeit und Wiederholung hinzu. Die vertikale und horizontale Ausrichtung ergänzen sich gegenseitig. In einem zweiten Moment geht Canetti auf die explizit militärische Dimension ein. »Der einzelne Baum aber ist größer als der einzelne Mensch und wächst immer weiter ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers. Die Rinden, die einem erst wie Panzer erscheinen möchten, gleichen im Walde, wo so viele Bäume derselben Art beisammen sind, mehr den Uniformen einer Heeresabteilung.« Canettis Text liefert neben der zweifachen Metaphorisierung von Soldat und Heeresabteilung auch so etwas wie eine psychologische und historische Erklärung nach, welche die zentrale Rolle des Gefühlsmäßigen hervorhebt. Dabei wird auf Erfahrungen aus der Kindheit und dem Alltag hingewiesen, was die Waldmetapher wiederum in der alltäglichen Praxis verankert. Canetti weist interessanterweise ebenfalls auf die Tatsache hin, dass das Gefühl für den Wald als Heer weitgehend ein unbewusstes ist. Ein letztes Element ist die gruppenpsychologische Deutung der Masse: der einzelne fühlt sich im Schutz der Gruppe sicher und stark. Der Wald »erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit Bäumen. […] Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne daß er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen. Was anderen am Heere kahl und öde erscheinen mochte, hatte für den Deutschen das Leben und Leuchten des Waldes. Er fürchtete sich da nicht; er fühlte sich beschützt, einer von diesen allen. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel. Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und an Stärke. Man soll die Wirkung dieser frühen Waldromantik auf den Deutschen nicht unterschätzen. In hundert Liedern und, Gedichten nahm er sie auf, und der Wald, der in ihnen vorkam, hieß oft ›deutsch‹.« 42
Canettis vielschichtige Deutung des deutschen Waldes erfasst somit nicht nur dessen vielfache metaphorische Dimensionen, sondern versucht auch, dessen identitätskonstituierende Rolle zu sondieren.
42 | Canetti, Masse und Macht, S. 190-1.
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B ÄUME UND S OLDATEN Etymologisch betrachtet stammt das Wort ›Wald‹ von »Büschel bzw. Laubwerk, Zweig […]. Daraus entstand durch Verallgemeinerung der Begriff Wald.« Man gelangte »genauso wie in seiner bildhaften Darstellung von der Detailsicht zur Ganzheit […].« Stadlober verweist zudem darauf, dass eine erste etymologische Verbindung von Mensch und Baum im altirischen folt, Haar, Haarschopf, angelegt ist. »Die ist besonders erwähnenswert hinsichtlich der Projektion des Menschen auf den Wald, die von den bildenden Künstlern zur Zeit des deutschen Humanismus vorgenommen wird.«43 Flechtenbewuchs von Nadelbäumen wird als Haar und Flechten allgemein als Baumbart bezeichnet. So steht in der Mitte von Albrecht Altdorfers Gemälde Die Landschaft mit Steg aus dem Jahr 1516 eine anthropomorph wirkende Trauerweide, die wie ein wachhaltender Naturgeist mit triefendem Haar wirkt.44 Im Raum nördlich der Alpen war zu Beginn des 16. Jahrhunderts »der bei den Germanen vertretene Glaube von einer besonders engen Verflechtung der Bäume mit dem Geschicke der Menschen noch deutlich spürbar, da man annahm, dass diese ursprünglich auf Bäumen gewachsen seien.« 45 Mit dem emotionalen Verhältnis von Baum und Soldat und der Bedeutung des Waldes als Projektionsfläche hat sich Benjamin Ziemann im Katalog zur Berliner Ausstellung vom 2. Dezember 2011 bis 4. März 2012 Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald beschäftigt.46 Einerseits hatte der Wald eine kollektive Schutzfunktion. Er sollte den einzelnen Soldaten an der Front beschützen. Darüber hinaus sollten die dichten Wälder in Grenzgebieten den möglichen Einmarsch des Feindes aufhalten.47 Andererseits standen der Wald als Ganzes und der einzelne Baum, wenn beschädigt, für den verletzten und sterbenden Soldaten. Der Wald war eine zweifache Projektionsfläche: der leidende zerstörte Wald an der Front und der noch intakte und daher zu schützende Wald zu Hause, in der deutschen Heimat.48 43 | Stadlober, Der Wald, S. 107. 44 | Ebd., S. 263. 45 | Ebd., 133. 46 | B. Ziemann, Wald-Gewalt. Wald und Krieg, in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 223-229. 47 | Gröning und Wolschke-Bulmahn, die sich mit der deutschen Eroberung des Ostens beschäftigt haben, erwähnen sogenannte »Kampfwälder«, d.h. Wälder an exponierten landschaftlichen Punkten, Kuppen, Höhenrücken, Graten und Küsten (vgl. G. Gröning und J. Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft, Teil III: Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landespflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den ›eingegliederten Ostgebieten‹, München 1987, S. 145). 48 | Vgl. dazu Lehmann, Von Menschen und Bäumen, S. 263-267 und 276-282.
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Hier müsste eine Brücke zu einem medialen Ereignis der 1980er Jahre geschlagen werden, dem ›Waldsterben‹ (Abb. 11), für das es im Französischen signifikanterweise kein eigenes Wort gibt. Auch hier werden der Wald als Ganzes und der einzelne verletzte und sterbende Baum als kollektive und zugleich individuelle Bedrohung erlebt. Auf die Vorstellung territorialer Versehrtheit im Zusammenhang mit organizistischen Landschaftsmetaphern komme ich noch zu einem späteren Zeitpunkt zu sprechen,49 auch um klarzustellen, dass es sich bei dieser traditionsreichen diskursiven Strategie um ein gesamteuropäisches Phänomen handelt. Abbildung 11: Der Wald stirbt
49 | S.u. Luftwurzeln.
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Die Empathie mit dem Wald als passives schutzloses Opfer des Krieges und das damit verbundene Mitleid stärkten das nationale Identifikationsgefühl. Es ging dabei darum, »aus der Kollektivsymbolik von Natur und Landschaft […] Kraft [zu] schöpfen.«50 Der Wald dient den Soldaten auch ganz konkret als Schutz, sind doch alle Unterstände in den Schützengräben aus Holz gezimmert. Die metaphorische Verknüpfung von Baum und Soldat operiert auf verschiedenen Ebenen. Die bis auf den Millimeter ausgerichteten Fichtenstämme sind wie in Reih und Glied stehende Soldaten eines Regiments. Die Liebe zum Baum wird zur Liebe für den Kameraden an der Front. Das Opfer ist zuerst einmal der durch Artillerie zerschmetterte Wald, dann aber auch der einzelne gefällte Baum und der hingemordete gefallene Soldat. Die Liebe für die Natur und für den Kameraden wird kurzgeschlossen. Ziemann erwähnt einen Auszug aus einer Schützengrabenzeitung aus dem Jahr 1916. Darin schreibt Heinrich Otto Oelke in einem Der gemordete Wald betitelten Text: »gebrochene Bäume […] die sterbenden Äste hoch gen Himmel strecken wie in ringender, hilfloser Verzweiflung und stummer ungeheurer Anklage.«51 Bei dieser anthropomorphisierenden Schilderung der gefallenen Bäume wirken die Äste wie zum Himmel ausgestreckte Arme. Ausgeblendet wird hier die Tatsache, dass im Positionskrieg die Gegner und die Bäume auf Feindesgebiet der gleichen Zerstörungswut ausgesetzt sind und dass der vom Krieg zerstörte Wald zudem sehr oft ein fremder Wald war. Der leidende oder gestorbene Baum lässt den Krieg als quasinatürliches schicksalhaftes Geschehen erscheinen. Der Wald in der Fremde und der Wald zu Hause artikulierten dabei dieselbe Liebe zur Natur. »In der Nutzung des Waldes als Metapher für die Destruktionskraft des Krieges konnten deutsche Soldaten auch fernab der Heimat auf ein zentrales Kollektivsymbol deutscher Identität zurückgreifen.«52 Während der Weimarer Republik wurde anlässlich der Feier zur zehnjährigen Wiederkehr des Kriegsbeginns am 2. August 1924 der Versuch unternommen, den Wald als nationales Kollektivsymbol durch den Bau eines Kriegsdenkmals zur Ehrung der Gefallenen zum Ausdruck zu bringen. Dieser Plan fand universellen Konsens. Auch in diesem Zusammenhang, wie im schon erwähnten Beispiel aus der Steiermark,53 setzte sich der hochpolitisierte landschaftliche Diskurs versöhnend über alle politischen Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten der Zeit hinweg. Dieses Denkmal, darin waren sich alle politischen Parteien der Zeit einig, konnte natürlich nur im deutschen Wald errichtet werden, der dabei selbst als Denkmal wirken sollte. Als Heili50 | Ziemann, Wald-Gewalt, S. 224. 51 | Zitiert in ebd., S. 224, aus H.O. Oehlke, Der gemordete Wald, in: Die Feldgraue. Illustrierte Kriegszeitschrift der 50. Infanterie-Division I (1916), Nr. 6, S. 12f. 52 | Ebd., S. 226. 53 | S.o. Land und Leute.
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ger Hain wurde ein Waldstück bei Bad Berka in Thüringen ausgewählt. Dort sollte ein überzeitliches germanisierendes Nationalsymbol als Gemeinschaft der Lebenden und der Toten errichtet werden. Wie bei Riehl wird der Wald als Urgrund und Kraftquelle des Volkes verstanden. In dieser dichten Metaphorisierung des Waldes als Energiequelle, Heer und Kirche in einem wird zudem der Tod im Krieg mit dem Leben und Sterben der Bäume in eins gesehen. Die Gefallenen sollen ewig im Gedächtnis der Nation weiterleben. Der Krieg wird dadurch zum wiederkehrenden Naturgesetz stilisiert. Der Reichsehrenhain sollte vor Augen führen, »dass der Baum, wenn seine Blätter fallen, noch Hoffnung hat und alles, was hinsinkt, seine Kraft ins All schickt. Hier rauschen die tiefen Quellen deutscher Art.«54 Walther Schoenichen, ein Biologe und früher deutscher Naturschützer, der 1932 als überzeugter Nationalsozialist der Partei beitrat, publizierte 1934 eine Photosammlung unter dem Titel Urwaldwildnis in deutschen Landen. Bilder vom Kampf des deutschen Menschen mit der Urlandschaft. Die einzelnen Photos sind mit einem Bildkommentar versehen. Die verschiedenen Bilder setzen einzelne Bäume oder Baumgruppen in einen eindeutig militärischen Zusammenhang. Der Wald ist eine Kampfzone und zugleich der Ort einer naturwüchsigen Menschlichkeit, die in der Kultur in dieser Form nicht mehr anzutreffen ist. Die Bäume gehorchen einem Gebot der Liebe und Treue. Sie helfen und unterstützen sich gegenseitig. Der in den Bildbeschreibungen angeschlagene Ton trieft von Sentimentalität: Zwei nebeneinander stehende Bäume, eine Fichte und ein Bergahorn, »vereinigen sich zu treuer Kameradschaft am nebelfeuchten Bergeshang.« Zwei ineinander verkeilte Bäume werden ebenfalls in diesem Sinne gedeutet, wobei noch ein geschlechtliches Motiv mitschwingt: »Stürzendes Eichenkoloß umfängt die Buche wie mit ausgebreiteten Armen.« Das Militärische steht direkt neben dem Kameradschaftlichen und landschaftlich Erhabenen. Wetterfichten werden als »kampfeshart« beschrieben und als »Vorposten des Waldes im Hochgebirge.« Eine »einsame Arve hält Wacht in erhabener Hochgebirgswelt.« Romantisierende Nebelschwaden »umwallen die Vorposten des Waldes an den Flanken des Gebirges.« Die harsche Umwelt härtet die menschenähnlichen Bäume ab, wobei der Kampf in und mit der Natur zugleich zum militärischen Gefecht mit imaginären Gegnern umfunktioniert wird: »Wind und Schneetreiben geben den Pionieren des Baumwuchses die Form.« Bäume kippen um und stürzen wie gefallene Soldaten: »Gezweig gefallenen Buchenstammes, wie im Todeskampfe verkrampft, sperrt den Weg.«55 54 | Zitiert in Ziemann, Wald-Gewalt, S. 228 aus E. Zweigert, in: Der Reichsehrenhain, Berlin 1931, S. 6. 55 | Vgl. dazu B. Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987, S. 280-1. Die neun dort abgebildeten Bilder und Textpassagen stammen aus Walter Schoenichen, Urwaldwildnis in deutschen Landen, Neudamm 1934, S. 27.
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E WIGER W ALD Aus propagandistischen Gründen wurde die Politisierung und Militarisierung des Waldes zur Zeit des Nationalsozialismus in den verschiedensten Zusammenhängen forciert. So wurden vielerorts Hakenkreuzwälder gezüchtet, von denen einige bis in die 1960er Jahre Bestand hatten.56 In Leni Riefenstahls Film Triumph des Willens über den Reichsparteitag der Nationalsozialistischen Partei 1934 in Nürnberg wirken die durch Straßen marschierenden Bataillone und die in der Luitpold-Arena versammelten SA- und SS-Männer wie kompakte Wälder. Es ist aber vor allem im 1936 produzierten Nazi-Propagandafilm Ewiger Wald, wo die ideologische Gleichschaltung von Wald, Heer und Kirche am deutlichsten zum Ausdruck kam. Der Film sollte der Erschaffung einer nationalen völkischen Identität dienen, vor allem aber der ideologischen Legitimation der wachsenden expansionistischen Ansprüche Nazideutschlands. Aus diesem Grund wurde wohl auch ein hochkarätiges Team aus der Nazi-Propagandamaschinerie zusammengestellt. Hanns Springer zeichnete zusammen mit Rolf von Sonjewski-Jamrowski, der 1934 schon Blut und Boden gedreht hatte, für die Regie verantwortlich. Der Kameramann Sepp Allgeier hatte 1934 mit Leni Riefenstahl an Triumph des Willens mitgearbeitet. Carl Maria Holzapfel verfasste das Drehbuch und veröffentlichte eine kurze Einführung zum Film, die im Juni 1934 unter dem Titel Wald und Volk in der Zeitschrift Licht-Bild-Bühne erschien. »Ohne Wald«, schreibt er dort im Sinne Riehls, »kann kein Volk leben, und Volk, das sich mit Schuld der Entwaldung belastet, geht zugrunde. Davon erzählen der Libanon, Phönizien, Syrien, erzählen die durch Jahrhunderte Waldverwüstung vernichteten Kulturwälder der Antike. Sühne war: Der Orient trocknete aus, weil mit den Wäldern die Quellen verschwanden, mit den Quellen die Flüsse, Syrien wurde Wüstenland. So ist heute Spanien verdorrt, Frankreich ohne Wald, Holland und Belgien kennen ihn nicht, und in England hat der Park ihn abgerissen.«57 Holzapfels Bemerkungen nehmen noch einen weiteren Topos auf: das komplementäre Verhältnis von Wald und Wüste, auf das ich im nächsten Kapitel ausführlicher zu sprechen komme.58 Dass er dabei die verheerenden kulturellen Folgen der Entwaldung einerseits in der Region des Mittleren Ostens und andererseits in Frankreich, Holland, Belgien und England festmacht, hat seine Gründe. Holzapfel meint damit das Herkunftsgebiet der Juden und das 56 | Vgl. dazu Lehmann, Von Menschen und Bäumen, S. 127-144. 57 | C.M. Holzapfel, Wald und Volk: Leitgedanken der Filmdichtung ›Ewiger Wald‹, in: Licht-Bild-Bühne, 8.6.1934, S. 203-4, zitiert in S. Wilke, »Verrottet, verkommen, von fremder Rasse durchsetzt«: The Colonial Trope as Subtext of the Nazi ›Kulturfilm‹ »Ewiger Wald« (1936), in: German Studies Review, vol. 24, n° 2, Mai 2001, S. 355-6. 58 | S.u. Silvanismus und Saharismus.
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Territorium der Feinde Deutschlands im Ersten Weltkrieg. »Europa ist krank, weil es das Gleichnis des Waldes nicht kennt von Gesundheit und Dauer, nicht nach ihm handelt.«59 Holzapfel deutet den deutschen Wald – und das metaphorisch damit verwachsene deutsche Volk – als Ort zyklischer Erneuerung und harmonischer Ausgeglichenheit, wodurch dessen organisch gewachsener, ewiger und zugleich friedlich versöhnlicher Charakter hervorgehoben werden soll. Auch die Germanen des Arminius kämpften einen Verteidigungskrieg gegen die römischen Invasoren. So schreibt Holzapfel in einem weiteren 1936 erschienenen Artikel: »Ein Volk aber, das seinen Gott sucht, hat nicht nur mit Mächten zu ringen, die in der Natur des eigenen Bodens wurzeln, auch mit jenen, die auf ewiger Wanderschaft sind […]. Für diesen Kampf war uns Deutschen der Wald von jeher ein Gleichnis, ohne daß wir schon heute auf dieses Warum mit einem klaren Darum zu antworten vermöchten. Vielleicht weil alles, was im Walde lebt, sich zuerst anzupassen versucht, ehe es zu den Waffen greift, vielleicht deshalb, weil alle Gesetze, die uns Menschen gestatten würden, besser zu leben, unmöglich erscheinende Gemeinschaften aufzubauen, im Walde verwirklicht sind.« 60
Nach einer hymnisch-heroischen Einführung erzählt der Film in chronologischer Reihenfolge von den Anfängen bis in die Gegenwart die Beziehung des deutschen Volkes zum Walde, wo dieses seinen Ursprung hat und immer noch hingehört. Dabei spielt ein Off-Sprecher, der unter anderem auch gedichtartige Texte rezitiert, eine wesentliche Rolle. Die einzelnen geographischen Regionen, in denen der Film gedreht wurde, werden in der Schlussfassung zu einer mythischen Gesamtvision der deutschen Landschaft eingeschmolzen. Der Film ist von starken anti-intellektuellen und antiurbanen Gefühlen getragen. Im Zusammenhang mit einer politischen Metaphorisierung des Waldes sind zwei Szenen, welche eine Sakralisierung und Militarisierung des Waldes durch die Mittel filmischer Überblendung erzielen, von besonderer Bedeutung. In beiden Fällen wird dadurch ein mehrfach wiederholtes metonymisches Ineinanderfließen des Waldes mit sozialen Gegebenheiten erreicht, ein mehrfaches Hin und Her von der einen in die andere Dimension. In der ersten Szene verwandeln sich die geschwungenen Bögen und schlanken Säulenreihen einer gotischen Kathedrale allmählich in die hochschießenden kahlen Stämme von Fichten, Tannen und Kiefern. Dabei fungieren das tiefhängende Laub und das gefilterte Sonnenlicht als eine Art Brücke zwischen den beiden Bereichen, schaffen sie doch einen Moment der visuellen 59 | Holzapfel, Wald und Volk, S. 203 (zitiert in Wilke, Verrottet, S. 356). 60 | Zitiert in Wilke, Verrottet, S. 355 aus C.M. Holzapfel, »Männer im Kampf um Gemeinschaft«, in: Kunst und Volk 6, Juni 1936, S. 203.
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Ununterscheidbarkeit zwischen kirchlichem Ornament und Blattwerk. Nachdem sich der Wald in eine Kirche zurückverwandelt hat, erscheint ein großflächiges Rosettenfenster, durch dessen Mitte die Sonne mit zunehmender Kraft strahlt. Dieses Bild wiederum wird durch eine Waldkulisse ersetzt, durch die morgendliche Lichtstrahlen dringen. Die Stimme im Off verdeutlicht die Verbindung und wendet sie ins Politische: »Volkes Blühte, Waldes Kraft/Formt deutscher Städte Ruhm und Macht […] Für die Dome, die da ragen/hoch, wie deiner Stämme Macht.«61 In der zweiten Szene, die mit einer Gruppe von Bäume pflanzenden preußischen Bauern aus dem 18. Jahrhundert einsetzt, werden die geometrisch aufgereihten Stämme mit den Leibern strammstehender Soldaten in eins gesehen. Einmal mehr wird die visuelle Analogie sprachlich untermauert. Der neue Wald, so der wachhabende Offizier mit Dreispitz und ausladendem gezwirbeltem Schnurrbart, solle dastehen, »akkurat wie Soldat an Soldat«, woraufhin die kleinen Bäumchen durch das Bild der gespreizten Beine von Soldaten überblendet wird. Der Übergang von Dimension zu Dimension wird hier gleich acht Mal nacheinander eingesetzt. Dabei verschiebt sich die Sicht von den Gewehrkolben und weißen Socken der Soldaten und den Laubbäumen zu einem Wald parallel angeordneter kahler Stämme, der jeglichen Unterholzes entbehrt, und den Reihen eines stehenden Heeres. Die erste und zweite Szene muss man schon allein aufgrund der formellen Analogie als verwandt verstehen. Damit fließen die drei Momente, das gotische Kirchenschiff, der vertikal ausgerichtete schmucklose Wald und das in Regimente angeordnete Heer ineinander, was zu einer dreifachen reziproken metaphorischen Beziehung führt: einer Sakralisierung und Militarisierung des Waldes, welcher zugleich für das deutsche Volk als Ganzes einsteht. Geschichte wird in Natur übersetzt und von dieser wieder ins Historische zurückübersetzt.
W ALDGEMEINSCHAF T Liefert der Film Ewiger Wald eine propagandistische Erklärung der Geschichte Deutschlands, so lassen sich anhand von zwei Tafeln aus einem 1938 publizierten nationalsozialistischen Unterrichtswerk, das Johannes Zechner in sein Essay zum Wald als nationalpolitische Projektionsfläche aufgenommen hat62, ein synchronisches hierarchisches Modell der gesellschaftlichen Schichtung und 61 | Zitiert in Holzapfel, Wald und Volk, S. 367. 62 | Vgl. J. Zechner, Von ›deutschen Eichen‹ und ›ewigen Wäldern‹. Der Wald als nationalpolitische Projektionsfläche, in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, Heft 1 und 2, So lebt die Waldgemeinschaft, 1938.
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eine diachronische Interpretation zu dessen Entstehung nachrekonstruieren. Die Titel der beiden Tafeln sind Programm: »Die Waldgemeinschaft ist eine geordnete Lebensgemeinschaft« und »Sieger bleibt der Wald (›Ewiger Wald‹).« Die erste Tafel zeigt einen wohlgeordneten mehrstufigen Wald, über dem eine strahlende Sonne scheint, die jedoch vor allem den Baumkronen zugutekommt. Auffallend ist dabei die pyramidale Struktur: Je weiter man in die Höhe gelangt, desto weniger Pflanzen trifft man an. Dazu wird auch eine dementsprechende Deutung mitgeliefert: »Die oberste Schicht wird nur von wenigen gebildet […]. Je weiter hinab, desto mehr Lebensgenossen sind in der Schicht versammelt.« Der mittlere Bildteil wird von zwei Textkolonnen eingerahmt. In der linken Kolonne werden die verschiedenen Pflanzenschichten eingeführt. Der Wald besteht aus unterschiedlichen »Lebensschichten«: die Schicht der Baumkronen und Stämme – junge und alte Laubbäume und Nadelbäume aller Art –, die Sträucherschicht, die Kräuterschicht – Jungwuchs der Bäume, Farne, Stauden und Blumen –, die Moosschicht und der Waldboden. In der rechten Kolonne wird der Wald durch die verwendete Terminologie als hierarchische Gemeinschaft gedeutet: »Die Lebensschichten im Naturwald, sind einander über und untergeordnet, je nach Größe […], Alter […], Ansprüchen und Fähigkeiten […].« Die fünfteilige Schichtung aus der linken Kolonne wird hier auf drei Momente reduziert. Die herrschende Schicht, die nur die höchsten Baumkronen umfasst – Kiefern, Eichen und Buchen –, die Mittelschicht, welche die Sträucherschicht und weniger hohen Bäume umfasst – z.B. die Fichte – und die beherrschten Schichten, welche die drei tiefsten Niveaus aus der linken Kolonne umfassen. Die zweite Tafel demonstriert, wie aus Heide und Wiese Wald entsteht. Dabei geht es um den »Kampf um Licht und Bodenraum.« Die sozialdarwinistische militärische Metapher, die hier zum Einsatz kommt, ergänzt den statischen Blickwinkel der ersten Tafel. »Nur wer höher wächst und tiefer greift, kann sich behaupten. […] Sobald die ersten Büsche und Bäume Fuß fassen und fruchten, hat der Wald gesiegt.« Die Entstehung des Waldes wird mit einem Eroberungskrieg verglichen, bei dem der Angreifer, der Wald – d.h. die Kiefern, Eichen, Buchen und Fichten –, die Vorherrschaft im umkämpften Gebiet erreicht. In einer zweiten Phase siegen jene Bäume, die am besten dem eroberten Lebensraum angepasst sind. »Nur wer sich ihrem Schatten fügt, hat unter ihnen dann noch Lebensrecht.« Die zugleich horizontal wie vertikal zu lesende Tafel führt vor, wie aus zwei qualitativ unterschiedlichen Ausgangssituationen jeweils vier ebenfalls hierarchisch angeordnete Waldformen entstehen können. Aus Heide und Parkheide können Kiefern-, Eichen- oder Buchenwälder entstehen, aus Wiese und Parkwald jedoch nur Eichen-, Buchen- und Fichtenwälder. Dies mag wohl damit zu tun haben, dass Heide und Parkheide eine Ursprünglichkeit anhaftet, die der überzüchteten Wiese und dem Parkwald abgeht. Der Wald als »mächtigste aller heimischen Lebensgemeinschaften und
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ihre Schlußform« setzt sich am Ende immer durch, er wird überall Herr der Lage, wobei auf der Tafel auch eine geographische Wertung mitläuft. Der Wald als explizit deutsche Landschaft ist an Mittel- und Westeuropa gebunden, d.h. weder im Osten noch im Süden anzutreffen. »Seine Stoßkraft beruht auf […] der Verschiedenheit seiner Glieder […] deren Langlebigkeit […] seiner Größe und […] seinem dichten Kronendach. Wo er einmal ist, da bleibt er. Er schützt das verlassene Land vor völliger Verwüstung. Im ewigen Kreislauf erhält und erneuert er sich aus sich selbst und verwandelt dabei den ausgebeuteten Kulturboden wieder in einen fruchtbaren Waldboden.«63
W ALDKRITIK Abschließend möchte ich noch kurz auf ein paar kritische Momente hinweisen. In der deutschen Kunst der Gegenwart ist der deutsche Wald als Schauplatz einer verdrängten Geschichte thematisiert worden. Zu erwähnen wären dabei vor allem die Arbeiten Arnulf Rainers, beispielsweise Eichen (Oaks) 1986, 36 Überzeichnungen von Kupferstichen aus dem 1801 in Paris erschienenen französischen Werk Histoire des chênes de l’Amérique, das sich gegen die Vorstellung der ›deutschen‹ Eiche wendet. »Die Verbindung von Botanika und Nationalismen im Verbalismus der ›deutschen Eiche‹«, schreibt dazu Rainer, »hat mich entsetzt und viel beschäftigt. Zu nah ist die Erinnerung an eine Zeit, in der man durch Kreuze und Eichenlaub deutsche Aggressionsheroik auszeichnete und demonstrierte. Dieser mein Zeichnungszyklus beschäftigt sich mit dem Laub der nicht-deutschen Eichen.«64 Ein weiteres Beispiel ist Anselm Kiefers 1976 entstandenes Gemälde Varus (Abb. 12), das den deutschen Wald als sich nach hinten verengenden Weg der Vernichtung zeigt. Der ausgebrannte, völlig karbonisierte Wald, mit Blutspuren in der Asche, ist ironischerweise dem römischen Feldherren Publius Quinctilius Varus gewidmet, dessen Legionen in der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahr 9 n.Chr. von Germanen vernichtend geschlagen wurden. Der in Schutt und Asche gelegte Wald könnte auch auf die kremierten Opfer des Holocausts bezogen werden. Einzelne weiß hingepinselte Namen von deutschen Philosophen und Schriftstellern – Martin Heidegger, Stefan George, Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin, Christian Dietrich Grabbe, Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Gottlieb Fichte –, die zum Teil despektierlich mit ihrem Vornamen angesprochen werden, verweisen auf den langen historischen Weg, 63 | Ebd., S. 233. 64 | Zitiert in Weyergraf, Waldungen, S. 247. Zur Bedeutung der Eiche in nationalistischen Diskursen vgl. A. Hürlimann, Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation, in: Ebd., S. 62-68.
Das Herz der Finsternis
von Hermann dem Cherusker über die Napoleonischen Kriege um 1800 bis hin zum Nationalsozialismus. Abbildung 12: Anselm Kiefer, Varus
Als letztes Beispiel möchte ich noch Herman Priganns Installation Die Falle aus dem Jahr 1987 erwähnen. Das Kunstwerk besteht aus einem Tarnnetz, Hartfaserplatten, Altblechen, Teer und einem Stahlrohr.65 Der Wald wird hier als Ort eines Hinterhaltes präsentiert, als Ort einer Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. »Der Wald als Versteck für den Angreifer und den Verteidiger – Ausgangspunkt eines Überfalls und Rückzugsort zum Überleben. Der Krieg im Wald – der Wald im Krieg. […] Der Wald, ein Tarnnetz in den Medien und in den Köpfen, in dem sich immer noch und wieder romantisierender Waldgeist verfängt.«66
65 | Vgl. dazu G. Bussmann, Hakenkreuze im deutschen Wald, Faschistisches als Thema der Neuen Malerei, in: Inszenierung der Macht, Ausstellungskatalog NGBK, Berlin 1987, S. 282. 66 | Zitiert in ebd., S. 282.
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Silvanismus und Saharismus Überlegungen zum Landschaftsvergleich
»Altdorfer transposed biblical profane episodes […] to leafy native settings.« CH.S. WOOD, Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape
Wenn es darum geht, die Prinzipien ästhetischer und politischer Landschaftskonstitution zu untersuchen, reicht es oft nicht aus, sich mit einer einzigen Landschaft zu beschäftigen, werden diese doch oft von anderen mehr oder weniger explizit mitgedachten Landschaftsformen mitgestaltet. Dabei kann es zu unterschiedlichen Beziehungsformen zwischen den einzelnen Landschaftstypen kommen. Es wird ein innerer Widerspruch konstruiert, indem eine Landschaft in zwei oder mehrere konträre Teile aufgespalten wird – wie das hier behandelte Beispiel aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell verdeutlicht –, oder es werden zwei Landschaften explizit gegeneinander ausgespielt, wobei die eine dazu dient, die Eigenschaften der anderen umso deutlicher herauszustreichen, so z.B. W.H. Riehls Gegenüberstellung von Wald und Feld. Gewisse Landschaften fordern ihr Gegenteil heraus, als wäre dies ihr untrennbarer Schatten, wie im Falle des Verhältnisses von Berg und Meer. Wie schon hervorgehoben, spielen landschaftliche Vergleiche im Konstituierungsprozess nationaler Landschaften eine besonders relevante Rolle.1 So forderte das äußerst erfolgreiche Modell der Schweizer Alpen immer wieder zu Abgrenzungen heraus, wie dies das hier diskutierte Beispiel des deutschen Mittelgebirges zeigt. Landschaftliche Unterschiede zwischen verschiedenen Nationen sind manchmal an verschiedene Epochen gebunden. So ist die aristokratische österreichische Version des Alpenraumes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine indirekte Antwort auf das erfolgreiche republikanische Modell der Schweizer Alpen aus dem 18. Jahrhundert.2
1 | Vgl. dazu auch Walter, Das alpine Gebirge, S. 225-228. 2 | S.u. Patchwork.
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Es gibt Landschaften, die sich grundsätzlich ausschließen und dadurch einen politisch relevanten Unterschied ausdrücken. So stehen sich im Ost-WestVerhältnis, auf das ich im nächsten Kapitel eingehen werde, die östliche Steppe und die westliche Rheinlandschaft gegenüber. Der Gegensatz von Rhein und Donau wiederum artikuliert zwei radikal verschiedene kulturelle Konzepte.3 Landschaften können darüber hinaus ineinander übersetzt werden. So wurde im frühen 16. Jahrhundert von verschiedenen deutschen Malern und Autoren die biblisch kodierte Wüste in den deutschen Wald übertragen. Damit bin ich zugleich beim zentralen Thema dieses Kapitels angelangt, den unterschiedlichen Formen des Verhältnisses von Wüste und Wald in der deutschen Geschichte. Zuvor aber möchte ich einige der hier erwähnten landschaftlichen Beziehungsformen kurz untersuchen.
W ALD UND F ELD In einem Brief, den Jacob Grimm am 18. April 1805 aus Paris an seinen Bruder Wilhelm schrieb,4 wird der Wald und die Gefühle der Unabhängigkeit und Freiheit, die dieser hervorruft, der einengenden Wirkung von Sitte und Gebrauch gegenübergestellt. Im Deutschen Wörterbuch verdoppelt sich diese Vorstellung im Gegensatz von Forst und Wald, dem disziplinierten übersichtlichen kultivierten Wald und der ursprünglichen Natur des romantisch freien, dunklen Märchenwaldes. Ein vergleichbarer Gegensatz, der sich allerdings auf zwei verschiedene Landschaftstypen bezieht, findet sich in Wilhelm Heinrich Riehls Land und Leute. Riehl entwickelt sein nationalistisch inspiriertes Waldkonzept in Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Feld‹. Nach Riehl, der sich dabei auf ein physiognomisches Konzept von Landschaft, das auf Alexander von Humboldt5 zurückgeht, bezieht, widerspiegeln Landschaften politische Arrangements und nationale Gesinnung wie ein Gesicht den Charakter und die Gefühle eines Menschen. »Will sich der Politiker den innigen Zusammenhang zwischen Land und Leuten verdeutlichen, so kann er gleich von der einfachsten, äußerlichen Betrachtung des Landes ausgehen. So ist der ganz triviale Gegensatz von Wald und Feld von größter Wichtigkeit für die sociale Ethnographie. In Deutschland besteht dieser Gegensatz noch in seiner ganzen Ausdehnung, wir haben noch
3 | S.u. Graben und Band. 4 | Vgl. dazu H. Ono, Waldsymbolik bei den Gebrüdern Grimm, in: Fabula 48, Heft 1/2, 2007, S. 74-84. 5 | Vgl. dazu G. Böhme, Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2002, S. 150-167.
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einen wirklichen Wald […].«6 Diese landschaftliche Gegenüberstellung ist für Riehl weitaus bedeutender als diejenige zwischen Berg- und Flachland. Dem Gegensatz von Wald und Feld kann man auch in anderen landschaftlichen Kontexten begegnen. In diesem Sinne ist es eine weitgehend ideelle Gegenüberstellung. Der Wald dient dem Schutz der ursprünglichen Volksitten. Er ist eine »wahrhaft großartige Schutzhege unserer eigensten volksthümlichen Gesittung.«7 Ein »mächtiger Schutzwall historischer Überlieferung«, der »schirmend bewahrt«.8 Und damit sind nicht nur die Traditionen gemeint, sondern auch die archäologischen Spuren früherer Lebensweisen. Der Wald reproduziert in seiner beschützenden Funktion die militärische Aufgabe der alten Dorfmauern, wodurch Natur und Kultur ineinander gespiegelt werden. Gräber und Opferstätte, aber auch Ringwälle sind »unter dem Schutze des Waldesdickichts«9 erhalten geblieben. In diesem vielfältigen Sinne »durchkreuzt« der Gegensatz von Wald und Feld stets »die natürliche Scheidung von Berg- und Flachland.«10
B ERG UND TAL Gegensätze zwischen verschiedenen Landschaftstypen dienen oft dazu, unterschiedliche politische Konzepte und damit zusammenhängende Formen von Identität zu entwickeln. Ein Beispiel dafür findet sich in der dritten Szene des dritten Aufzugs von Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Tell und sein Sohn Walther befinden sich auf einer Wiese bei Altdorf. In den Bühnenanweisungen wird ein Gegensatz zwischen dem feudalen Herrschaftsinstrument im Vordergrund und einem ideellen, weit entfernten Freiheitsraum suggeriert. »[…] Bäume, in der Tiefe der Hut auf einer Stange. Der Prospekt wird begrenzt durch den Bannberg, über welchem ein Schneegebirg emporragt.« In dieser spannungsvollen Umgebung und kurz bevor Tell sich weigert, Geßlers Hut auf der Stange demütig zu grüßen, fragt Walther den Vater, ob es überhaupt Länder ohne Berge gebe. »Tell: Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen, und immer tiefer steigt, den Strömen nach, gelangt man in ein großes ebnes Land, wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn. Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen. Das Korn wächst dort in langen schönen Auen, und wie ein Garten ist das Land zu schauen.« Der wild brausende Gebirgsstrom wird durch den Höhenunterschied und das flache Land ge6 | Riehl, Naturgeschichte, S. 25. 7 | Ebd., S. 35. 8 | Ebd., S. 39. 9 | Ebd., S. 40. 10 | Ebd., S. 35.
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zähmt, womit auch die Menschen gemeint sind, die in der weiten fruchtbaren Ebene leben. Tell spricht treffend von »unseren Höhen« und setzt damit eine Analogie von Mensch und Landschaft und zwar in einem doppelten Sinne. Die Bergbewohner entsprechen der Landschaft, in der sie leben, und verfügen in jeder Hinsicht frei darüber, allerdings ist ihre Existenz ein täglicher Kampf. »Walther: Ei Vater, warum steigen wir denn nicht geschwind hinab in dieses schöne Land, statt dass wir uns hier ängstigen und plagen? Tell: Das Land ist schön und gütig wie der Himmel, doch die’s bebauen, sie geniessen nicht den Segen, den sie pflanzen. […] Das Feld gehört dem Bischof und dem König. […] Es ist der eine, der sie schützt und nährt. […] Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walther: Vater, es wird mir eng im weiten Land, da wohn ich lieber unter den Lawinen. Tell: Ja wohl ist’s besser, Kind, die Gletscherberge im Rücken zu haben, als die bösen Menschen.«11
Schiller benutzt hier die Alpenwallmetapher in leicht abgewandelter Form, sind doch die den Rücken deckenden Berge eher bedrohlich als schützend. Berg und Tal stehen in dieser Passage für zwei dezidiert unterschiedliche Formen der soziopolitischen Organisation. Der geographischen Weite und Fruchtbarkeit der Ebene entspricht eine soziopolitisch enge Situation. Die Bewohner sind der absoluten Macht des Königs ausgeliefert und können einander nicht trauen, wobei nicht klar ist, ob und wie diese beiden Momente zusammenhängen. Die schwierige Lebenssituation in den Bergen wird nicht nur durch politische Freiheit wettgemacht, sondern bedingt auch Formen der Solidarität und gegenseitigen Hilfe, besonders im Falle von Umweltkatastrophen, wie z.B. Lawinen. Auf diesen Zusammenhang geht auch der 1943 entstandene Schweizer Bergfilm Bergführer Lorenz ein. Der Solidarität der Berggemeinde in schwierigen Zeiten wird die Beziehungslosigkeit der Stadt gegenübergestellt.
G EBIRGE UND M EER Landschaftsvergleiche können, wie das in der Folge näher diskutierte Verhältnis von Wüste und Wald zeigt, für völlig unterschiedliche politische Zwecke eingesetzt werden. Ein erstes Beispiel soll dies verdeutlichen. Im ikonographischen Kontext der Schweiz als gefährdeter Insel nimmt das Meer eine bedrohliche Form an, stellt es doch das flüssig zersetzende Prinzip dar, welches die steinerne Standhaftigkeit des Felsen unterhöhlen und zum Einsturz bringen kann. In diesem Zusammenhang ist ein Plakat Burkhard Mangolds (Abb. 13) aus dem Jahr 1919 von besonderem Interesse.12 11 | F. Schiller, Werke Band I: Dramen, Berlin und Darmstadt 1954, S. 1186-7. 12 | Vgl. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte, S. 250, Tafel V.
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Im oberen Teil des Bildes ist ein durchsichtiger, weiß schimmernder Kristall abgebildet, der die drei Schwörenden vom Rütli schützend umhüllt. Um diesen herum lagern weitere kleinere Kristalle als Teile eines kreisförmigen Festungswalls. Der Himmel ist von schwarzen Wolken verhangen und wird von roten Blitzen durchzuckt. Der untere Teil des Bildes, der leicht größer als der obere gehalten ist, was die Belagerungs- und Bedrohungsstimmung noch zusätzlich verstärkt, tobt ein entfesseltes, blutig rot schäumendes Meer. Die vertikale Ausrichtung der ganzen Komposition, die Aufteilung in einen höheren und einen tieferen Teil, wendet das vertikale Prinzip des Berges auf das Verhältnis zweier unterschiedlicher Landschaften an. Die Schrift, die das weiße, auf rotem Grund prangende Schweizer Kreuz von vier Seiten her schützend umstellt und dadurch die im oberen Bildteil eingesetzte alpine Festungsmetapher wiederholt, ist eine Einladung zur Standhaftigkeit. Das weiße Kreuz ließe sich zudem als stilisierte Wiederholung des kristallinen Arrangements im oberen Bildteil deuten. Das dreimal wiederholte Wort »einig« bezieht sich auf die drei Schwörenden innerhalb des kristallinen Festungswalls. Abbilung 13: Burkhard Mangold, Einig
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Mangold hat in seinem Plakat ein äußerst dichtes Sinnpaket geschnürt. Die Metapher der Felsenburg, die ein Gefühl der Härte und Widerstandsfähigkeit beschwört, wird hier durch die Verwendung des Kristallinen in einen ästhetisierenden Kontext übersetzt. Der Bergkristall steht für harmonische Schönheit und Fragilität. Die drei eingeschlossenen Figuren werden aus dem historischen Kontext direkt in einen weitgehend natürlichen übersetzt. Die mineralische Zeit ersetzt die historische und verleiht der Rütli-Feier einen Hauch von Ewigkeit. Ambivalent bleibt vor allem die Verwendung der Farbe Rot, die einmal als Metapher möglicher kommunistischer Bedrohung und einmal als Hintergrund des Schweizer Kreuzes dient. Der Vergleich von Berg und Meer13 ist in der Schweizer Literatur und Kunst aber auch mehrfach in einem kritischen Sinne eingesetzt worden. Das Meer ist dabei das andere des Berges, ein Ort der Sehnsucht und dies vor allem in seiner Abwesenheit. In dem 1982 publizierten Roman Die Künstliche Mutter von Hermann Burger wird der unheilbar kranke Wolfram Schöllkopf durch den Eingriff einer nordischen Helena aus Hamburg geheilt: Die Heilung für die Krankheit der Berge ist im entfernten Meer zu finden. In der Zürcher Kunsthaus-Ausstellung von 1998, Freie Sicht aufs Mittelmeer, kommt dieser Wunsch unverhohlen zum Ausdruck. Peter von Matt ist auf die Beziehung von Berg und Meer innerhalb der Schweizer Kultur und Literatur näher eingegangen. In einem Abschnitt, der den Titel Das Gegenbild Meer trägt, führt er die Sehnsucht nach dem Meer als Horizont einer anderen Freiheit im Wesentlichen auf die Binnenlage der Schweiz zurück. Dem müsste man jedoch noch die kontrastive Bedeutung des Landschaftsvergleichs zur Seite stellen: Die die Schweiz umstellenden Berge und die Prädominanz der Bergmetapher innerhalb ihrer Geschichte rufen gerade nach einem landschaftlichen Kontrapunkt. Von Matt zitiert eine Überlegung aus Max Frischs Tagebuch 1946-1949 zu Arnold Böcklins Gemälde Odysseus und Kalypso, die den hier angesprochenen Widerspruch auf den Punkt bringt. »Auf der Reise hierher habe ich dieses Bild, andere suchend, wieder gesehen, verblüfft, daß das Meer, Inhalt seiner Sehnsucht, fast nicht vorhanden ist. Nur in einem winzigen blauen Zwickelchen. In meiner
13 | Vgl. dazu auch F. Walter, Des mers australes aux hautes Alpes. Les conditions du savoir sur le monde et les hommes à la fin du 18e siècle, in: Quand la montagne aussi a une histoire: mélanges offerts à Jean-François Bergier, hg. von M. Körner und F. Walter, Bern und Stuttgart, 1996, S. 463-471. Die methodologisch vielversprechende Methode des Landschaftsvergleichs liegt ebenfalls dem von Walter mitherausgegebenen Sammelband zum Verhältnis von Meer und Gebirge in der europäischen Kultur zugrunde (vgl. A. Cabantous u.a. [Hg.], Mer et montagne dans la culture européenne [XVIe-XIXe siècle], Rennes 2011). Leider finden sich darin keine Beiträge zum hier behandelten theoretischen Zusammenhang von Landschaft und Nation.
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Erinnerung war es ein Bild voll Meer – gerade, weil das Meer nicht gezeigt wird.«14 Im Spielfilm Der Verdingbub des Schweizer Regisseurs Markus Imboden aus dem Jahr 2011, dessen Handlung im Emmental der 1950er Jahre spielt, wird dieser Kontrast effektvoll umgesetzt. Das zwölfjährige Waisenkind Max wird als Verdingbub an die Bauernfamilie Bösinger vermittelt. Er muss hart arbeiten und wird körperlich misshandelt. Die Flucht aus der engen bäuerlichen Welt gelingt ihm vorerst allein dank einer Handorgel, die er virtuos zu spielen vermag. Durch seine Lehrerin erfährt er, dass man auch in Argentinien für den Tango Handorgeln verwendet. Als ihm am Ende doch noch die Flucht gelingt, reist er daher über den Basler Rheinhafen an die Nordsee und von dort auf einem Schiff über den Atlantik nach Südamerika. Der Film ist durch voralpine Landschaften geprägt: waldige nebelverhangene Berge, abschüssige karge Felder und der Bauernhof der Bösinger, der eingepfercht in einem engen Trichter liegt. Ganz am Ende des Films öffnet sich der Blick plötzlich für einen Moment bloß auf die endlose, graugrün schimmernde, windgepeitschte Ebene des Ozeans, Ort einer ersten prekären Freiheit.
D IE A LPEN UND DAS M IT TELGEBIRGE Als in Portugal 1910 die Republik ausgerufen wurde, bezog man sich sowohl landschaftlich wie politisch auf die Schweiz, um die republikanischen Absichten unter Beweis zu stellen. Das äußerst erfolgreiche Modell der Schweizer Alpenlandschaft, das im Laufe seines Siegeszuges nicht nur den europäischen Raum, sondern weltweit vorbildhaft wurde, forderte darüber hinaus einige deutsche Autoren und Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einer national inspirierten Gegenwehr auf, die François Walter vor allem an den Gemälden C.D. Friedrichs und dem Werk Willy Hellpachs und Friedrich Ratzels festmacht. Hier wird nicht eine ganz andere Landschaft gewählt. Man verbleibt innerhalb derselben Landschaftstypologie, betont aber ganz andere Momente, welche das Menschliche in den Vordergrund rücken und eine Ästhetik des ausgewogenen richtigen Maßes betonen. Anstelle der erhabenen, aber menschenabweisenden Größe der alpinen Welt, vor der sich die Einwohner wie unbedeutende winzige Wesen ausmachen, wird hier auf die gewellte hügelige Mittelgebirgslandschaft Deutschlands zwischen dem Niederdeutschen im Norden und den Alpen im Süden gesetzt, in welcher der Mensch auf gleichem Fuß mit der ihn umgebenden Natur lebt. So schreibt dazu Friedrich Ratzel: »Wer 14 | Zitiert in P. von Matt, Bilderkult und Bildersturm. Eine Zeitreise durch die literarische und politische Schweiz, in: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München 2008, S. 53.
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eine Sammlung mittel- und westdeutscher Landschaften durchblättert, sieht überall dieselben milden Wellformen. […] Und der auf dem Rücken des Brockens Stehende hat wohl den Eindruck, auf einer flachen Wölbung zu stehen, bemerkt aber nichts vom ganzen übrigen Gebirge als diese hinauszitternden Wellenhöhen.«15 Dominiert im alpinen Modell die Dimension des Vertikalen, so geht es im Mittelgebirge um das Laterale. »In den Mittelgebirgen überwiegen die Breitendimensionen so sehr die der Höhe, daß das Heraufdämmern und Hereinragen des höheren Hintergrundes, ein Grundzug alpiner Landschaftsbilder, gar nicht vorkommt.«16 Diese Landschaft hat auch eine ganz andere Ikonographie hervorgebracht, in der die Menschen nicht verschwinden, sondern ihren eigenen, ihnen zukommenden Platz einnehmen.17 »Die hügelige, leicht bergige Landschaft«, schreibt Willy Hellpach, »ist nach allen Zeugnissen, vom Volkslied bis zur Stoffwahl der Malerei, lange Zeit die Landschaft schlechthin, d.h. die Natur, die überhaupt spezifische landschaftliche Wirkungen auslöste, gewesen. […] Das Entzücken vor einer lieblichen Hügel-Tal-Bach-Hain Szenerie ist viel, viel echter.«18 Hier, wie anderswo auch, versteigt sich das nationale Lob dazu, die eigene Landschaft als die Landschaft schlechthin wahrzunehmen. Der deutschnationale Diskurs betonte darüber hinaus den spezifisch deutschen Bezug zur Landschaft als absolut exemplarisch. So wurde den Slawen die Fähigkeit, sich richtig um das eigene das Land zu kümmern, abgesprochen, was wiederum zur Legitimierung der Eroberungspolitik im Osten diente.
W ÜSTE UND W ALD Der Gegensatz, dem ich im Folgenden näher nachgehen möchte, betrifft zwei Landschaften, die im Laufe der Geschichte Deutschlands in verschiedenen Zusammenhängen von wesentlicher Bedeutung waren, um eine kollektive nationale Identität zu definieren: die Wüste und der Wald.19 Dabei werden vier unterschiedliche, aber mehrfach aufeinander bezogene Beziehungsformen durchgespielt: die mittelalterliche Vision eines Wüstenwaldes, bei der die bei15 | F. Ratzel, Deutschland. Einführung in die Heimatkunde, Berlin und Leipzig 1898, S. 73ff. 16 | Ebd., S. 75. 17 | Vgl. dazu den Vortrag von François Walter »La montagne alpine comme modèle esthético-politique en Europe (XVIème-XXème siècles)«, gehalten am 6.5.2006 am Laboratorio di Storia delle Alpi in Mendrisio (Schweiz). 18 | W. Hellpach, Die geopsychischen Erscheinungen: Wetter, Klima und Landschaft in ihrem Einfluss auf das Seelenleben, Leipzig 1911, S. 295-6. 19 | Zum Verhältnis von Wald und Wüste und den unterschiedlichen symbolischen Zuschreibungen des mittelalterlichen Waldes vgl. Stadlober, Der Wald, S. 113ff.
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den Landschaften ineinander übergehen; die Übersetzung der Wüste und der darin lebenden frühen christlichen Einsiedler und Heiligen in den Kontext eines wiederentdeckten deutschen Waldes zu Beginn des 16. Jahrhunderts; die Formulierung eines radikalen Gegensatzes von Wald und Wüste im Werk Werner Sombarts zu Beginn des 20. Jahrhunderts; und schließlich Ernst Jüngers Engführung der beiden Landschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Verhältnis von Wald20 und Wüste hat innerhalb der europäischen Tradition eine lange Geschichte, die nicht nur für den deutschen Sprachraum von Bedeutung ist. Es sind zwei archetypische Landschaften des Westens, die sich gegenüberstehen, auseinander hervorgehen und ineinander übersetzt werden. Der französische Historiker Jacques Le Goff hat sich mit dem Verhältnis von Wald und Wüste innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition beschäftigt.21 Die Wüste ist eine geographische und eine symbolische Realität, die in der Bibel mit einem Prestige behaftet ist, welches der Stadt abgeht und dies trotz der Schwierigkeiten der langjährigen Wüstenreise, so wie sie im Exodus geschildert werden. Diese Situation hält an, auch nachdem die Juden weitgehend sesshaft geworden sind. Die Wüste ist im Alten Testament nicht so sehr ein Ort der Einsamkeit als ein ambivalenter, zugleich bitterer und süßer Ort der Prüfung und Wanderung. In der Genesis ist sie ein Ort der Verbannung und Strafe, die Negation des Gartens Eden. Im Exodus ist die Wüste Sinai ein Ort kollektiver Wanderschaft und steht für die Zeit, in der Gott sein Volk erzogen hat. Im Neuen Testament taucht eine neue Vorstellung der Wüste auf: Sie ist nun ein Ort des Rückzugs und der Einsamkeit, weniger ein Ort der Prüfung als ein Ort der Versuchung. Das Einsiedlerdasein in der Wüste wird im Laufe des Mittelalters zu einem spirituellen Verhaltensmodell. Die Wüste ist ein Refugium. Dort trifft man auf Gott oder den Teufel und erlebt eine zweite Taufe. Dies führt zu einer Vorstellung des Gleichgewichts zwischen der Wüste und der Stadt und zu einem Pendeln zwischen den beiden Erfahrungsmöglichkeiten. In Europa mit seinem milden Klima ohne große trockene wüstenhafte Gebiete fand man die Einsamkeit an einem Ort, der fast das landschaftliche Gegenteil der Wüste ist, im Wald. Im Mittelalter wurden Wald und Wüste aufgrund der verschiedenen topographischen Entsprechungen häufig miteinander verbunden. Der Wald, so Le Goff, war eine Art institutioneller Wüste. Aus diesem Grund spricht Le Goff von einem »désert-forêt«, einem Wüsten-Wald. Der Wald ist vom Neolithikum bis zum Ende des Mittelalters ein Ort, in dem man sich verirren, aber auch wiederfinden kann, ein Ort der Angst und Sühne, zugleich aber auch die unentbehrliche wirtschaftliche Ergänzung und Verlängerung des Feldes. Es ist dabei vor allem der wilde von gefährlichen Tieren 20 | Zur Bedeutung des Waldes im Mittelalter vgl. auch Harrison, Forests, S. 61-81. 21 | J. Le Goff, Le désert-forêt dans l’Occident médiéval, in: L’imaginaire médiéval, Paris 1985, S. 59-75.
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bewohnte Wald, der mit der Wüste als Ort der Entbehrung gleichgesetzt wurde. Der mittelalterliche Wald, der wesentlich ausgedehnter als heute und auch durch viel weniger Lichtungen aufgelockert war, diente einerseits als kulturelle Grenze, andererseits als Fluchtort für heidnische Kulte und marginalisierte randständige Existenzen. Er war zwar dicht und undurchsichtig, wurde dabei aber nicht als reine Wildnis oder Ort der absoluten Einsamkeit wahrgenommen. Der Einsiedler blieb letztlich immer in Kontakt mit der Kultur. Auch im germanisch-skandinavischen und keltischen Kulturkreis wurde der Wald als Refugium und Ort der Bewährung verstanden. Es war ein von Fabelwesen, Wilden, Satyrn, Hexen und Dämonen bewohnter exterritorialer Ort der Abgeschiedenheit, ein Lebensraum für Heilige und Fromme. Hier war ein herbes, fast paradiesisches Leben möglich. In seiner Klag der wilden holzleut über die ungetreuen welt, das Hans Sachs22 1530 schrieb, wird die Korruption der Städte und Höfe der Unschuld der wilden Waldmenschen gegenübergestellt. Sachs setzt dabei den Wilden Mann selbst als Ankläger ein, der die Gesellschaft seiner Zeit aus seiner Abseitsposition scharf kritisiert. Der Wald und die damit verbundene Wüste sind Orte der Unverfälschtheit und Erkenntnis, wo sich Menschen aufhalten, die sich dorthin zurückgezogen haben, um den verdorbenen Sitten ihrer Zeit zu entkommen. Waldflucht ist eine Rückkehr zu den besseren Ursprüngen. So schreibt Hans Sachs in seinem Gedicht: »Seit nun die Welt ist so vertrogn,/mit untreu, list ganz überzogn,/so seien wir gangen daraus,/halten im wilden walde haus.« Einsiedlern vergleichbar haben die Waldleute beschlossen, der korrupten Welt ihrer Zeit den Rücken zu kehren, um außerhalb der Gesellschaft die fundamentale Unschuld der Anfänge, das einfache Leben Adams und Evas im Garten Eden zu suchen. Sie leben in einer kargen Höhle, ernähren sich von wilden Früchten und Wurzeln und trinken klares Wasser. Sie besitzen nichts, was man ihnen nehmen könnte. Freiheit von materiellen Dingen und sozialen Zwängen steht hier der Knechtschaft der Städte gegenüber. Im Wald wird zudem dank echt gelebter christlicher Demut eine brüderliche Liebe ohne Konflikte möglich. Dieses einsiedlerhafte einfache Leben, Modell einer klassenlosen Gesellschaft, wird von Sachs mit der Wüste verbunden, Wüste und Wald gehen dabei ineinander über: »also wir in der wüsten sint,/gebären kint und kindes kint./einig und brüderlich wir leben,/kein zank ist sich bei uns begebn;/ ein jedes tut, als es dan wolt […].« In Sachs’ millenaristischer Vorstellung haben die Waldleute sich in die Wald-Wüste zurückgezogen, um dort auszuharren, bis sich die von den paradiesischen Ursprüngen abgefallene Gesellschaft verändert, bis Frömmigkeit und Treue wieder Einzug halten: »das jederman wirt treu und frum,/das stat hat armut und einfall,/den wöll wir wider aus dem walt/ und wonen bei der menschen schar.«23 22 | Vgl. Stadlober, Der Wald, S. 134-138. 23 | H. Sachs, Dichtungen. Zweiter Theil. Sprachgedichte, Leipzig 1885, S. 44-48.
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Mit dieser Vision einer anderen, besseren Welt wurde ein proto-nationalistisches Programm assoziiert, das den protestantischen deutschsprachigen Norden dem katholischen Süden gegenüberstellte. »[…] die deutschen Humanisten ernannten den Wald zum Markenzeichen der Nation.«24 Der von Hans Sachs beschriebene Ethos des spirituellen Rückzugs in die Einsamkeit deutscher Wälder ist unter anderem durch die Schriften des deutschen Humanisten Conrad Celtis25 inspiriert, der für die unverdorbenen Kinder des Nordens, die auf Luxus, Alkohol und materielle Ambitionen verzichteten, nach historischen Spuren in der Vergangenheit suchte. Es handelt sich dabei nicht um einen nostalgischen Archaismus und Primitivismus, sondern um die Suche nach einer deutschen Vergangenheit, welche die gegenwärtige Lage erklären könnte. Celtis’ Vision Deutschlands wiederum ist ganz entscheidend von Tacitus’ Beschreibung der Germanen beeinflusst. In Tacitus’ Germania entdeckte er Belege für einen früheren deutschen Charakter. Dessen Gegenüberstellung des dekadenten Roms seiner Zeit und der herben noblen Germanen wurde im Zeichen der Reformation auf das Verhältnis des protestantischen Norden zum katholischen Süden angewandt. Tacitus’ »rediscovery came at a crucial time […]. Popular patriotism was then linked to a hostile rivalry with Italy which made finding a noble German past all the more important. […] The nascent humanist movement had its own insecurities and a national inferiority complex in comparison to both the heritage and the ongoing studies in Italy. […] All of these emotions were stirred at a time of German political and cultural self-assertion […]. The drive toward national unity and identity thus led to a study not only of German history but also a descriptive geography of the German cities, rivers and natural resources.« 26
In Gemälden des frühen 16. Jahrhunderts wurde die enge Beziehung von Wald und Wüste im Sinne eines Übersetzungsvorganges gedeutet. Der deutsche Wald wurde radikal aufgewertet und im Sinne eines neu erwachten nationalen Bewusstseins gedeutet. »So werden Heilige im Wald dargestellt, die nach der Legende in der Wüste lebten. Das bedeutet: der Einsiedler ist den Menschen entrückt, aber nicht dem Leben. Er ist allein, aber um ihn ist kraftvolles, Wachstum, Werden und Vergehen.«27 Auf den Bildern des deutschen Malers Albrecht Altdorfer28 tauchen Waldleute und Satyrfamilien auf. Auf einem 1507 gemalten 24 | Stadlober, Der Wald, S. 133. 25 | Vgl. ebd., S. 132-3. 26 | L. Silver, Forest Primeval: Albrecht Altdorfer and the German Wilderness Landscape, in: Simiolus 13, n. 1, 1983, S. 15. 27 | I. Nowald, Wie Maler den Wald gesehen, in: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, hg. von B. Weyergraf, Berlin 1987, S. 99. 28 | Vgl. Silver, Forest Primeval, S. 4-43.
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Bild steht die abgebildete bewaffnete Satyrfamilie in feindlich wirkender, waldiger Umgebung für ein neues heroisches Ideal und zugleich für eine Kritik der Gesellschaft seiner Zeit. Altdorfer, so Larry Silver, »has ›Teutonized‹ his images after the model of the mythic German past.«29 Ein weiteres Bild aus dem Jahr 1512 zeigt den alttestamentarischen Samson, der mit einem Löwen kämpft. Der zwei Jahre früher entstandene schon erwähnte Heilige Georg (Abb. 14), eine Mischung aus Wildem Mann und Ritter, kämpft mit dem Drachen inmitten eines riesigen Waldes, der die Szene von allen Seiten umgibt, ein undurchdringliches Dickicht, welches das eigentliche Sujet des Bildes ist. Selbst der Held trägt Spuren seiner Umgebung: »[…] a luxuriant plumed helmet which echoes the feathery foliage […]. St. George seems to dissolve within the details of the forest and to merge visually with the natural setting.«30 Wie schon aufgezeigt, steht hinter Altdorfers Darstellung des Drachentöters ein landschaftlicher Übersetzungsvorgang von der Wüste in den Wald. Dies wird besonders deutlich, wenn man andere bildhafte Zeugnisse der Zeit zum Vergleich herbeizieht, z.B. Paolo Uccellos Hl. Georg im Kampf mit dem Drachen (1456). Abbildung 14: Albrecht Altdorfer, Laubwald mit dem Heiligen Georg
29 | Ebd., S. 18. 30 | Ebd., S. 23.
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Die magisch-religiöse Atmosphäre von Altdorfers Wäldern und die darin vorkommenden menschlichen Figuren sind nicht vom Gegensatz zwischen Waldmensch und höfischem Ritter inspiriert, sie dokumentieren den archaischen Ursprung der germanischen Vorfahren und deren fast symbiotisches Verhältnis zum Wald. Man findet signifikanterweise keine Jagdszenen bei Altdorfer. Für ihn war der Wald, den er nicht aus erster Hand, sondern vor allem im Spiegel des höfischen Lebens kannte, vor allem ein ideelles Refugium vor dem alltäglichen Leben, eine Welt außerhalb der Welt. Altdorfers idealisierende Walddarstellungen wendeten sich an die herrschende soziale und intellektuelle Klasse seiner Zeit. Sie führten die ritterlichen Ideale der höfischen Aristokratie um Maximilian I. mit den religiösen, humanistischen und proto-nationalistischen Vorstellungen eines Celtis zusammen. Beide propagierten ein gemeinsames Ideal germanischer Tapferkeit und Stärke. Altdorfer verlagert in seinen Bildern die religiöse Meditation heiliger Einsiedler, die in der christlichen Tradition in wüstenhafte Gebiete angesiedelt worden waren, in dichte nordeuropäische Wälder und verleiht dem Ganzen eine proto-nationalistische Färbung. »Wilderness imagery by Altdorfer contains a large number of religious participants. These include individual hermits who have retreated into the wilderness – here defined in German terms, as forest rather than a desert of the Bible – in order to find true spirituality.«31 Die Heiligen Christophorus, Franziskus, Georg, Hieronymus und Johannes der Täufer werden in eine deutsche Landschaft versetzt und von deutschen Tannen eingerahmt, eine Strategie, die sich auch in den thematisch vergleichbaren, im frühen 16. Jahrhundert entstandenen Arbeiten von Dürer und Cranach beobachten lässt. »Each of these works features the same emphasis on the Germanic forest wilderness (rather than the biblical desert) as a proper site for saintly withdrawal.«32 Wie James Goehring ausführt, ist die Wüste dabei nicht so sehr eine Landschaft. Sie wird viel eher als ein allgemeines Sinnbild für asketischen Rückzug gedeutet. »In the spiritual and literary world of the anonymous author of The Lives of Jura Fathers […] Romanus’s journey into the forested wilderness of the Jura mountains […] corresponded perfectly with the journey of the fourth-century Egyptian ascetics into the desert.« Diese Entsprechung gilt auch für die Vegetation. »The dense fir beneath which he found protection at the edge of the isolated meadow served to equate him with the hermit Paul who found shelter in the remote desert beneath a palm tree.«33 Geht es im hier besprochenen Beispiel des Verhältnisses von Wüste und Wald um einen Prozess der Appropriation durch Übersetzung, so steht im
31 | Ebd., S. 28ff. 32 | Ebd., S. 33. 33 | Goehring, The Dark Side of Landscape, S. 446.
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nachfolgenden Fall die Vorstellung eines radikalen unversöhnbaren Gegensatzes im Mittelpunkt.
S AND UND S UMPF 1911 erschien die erste Ausgabe von Werner Sombarts erfolgreichem Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben, das bis 1928 sechs weitere Male aufgelegt und in tausenden von Exemplaren verkauft wurde.34 Sombart versucht darin, nicht nur die anthropologische Eigenart der Juden zu ergründen, sondern auch die umwälzenden Entwicklungen der kapitalistischen und urbanen Moderne zu erfassen, die für ihn aufs Engste mit dem jüdischen Wesen verbunden waren. Die dynamisierenden Kapital- und Warenflüsse, die zentrale Bedeutung des Geldes und die starke Urbanisierungs- und Industrialisierungstendenz, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu vielfachen Formen der Entwurzelung und des Nomadismus geführt hatten, gehen dabei mit der Figur des rastlosen Juden und seiner spezifischen anthropologischen Eigenart eine direkte Verbindung ein. Der Jude verkörpert als Charaktertypus mit seinem bindungslosen Kosmopolitismus und seiner mangelnden sozialen und politischen Zugehörigkeit den Typus des modernen Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Sombart entwickelt einen Gegensatz zwischen der jüdisch inspirierten städtischen Moderne und der ländlich-bäuerlichen Welt traditioneller stabiler Werte, die damals zum Teil noch nebeneinander existierten, und bindet diese wiederum an zwei spezifische archetypische Landschaften zurück: die Wüste und den Wald. Diese Gegenüberstellung, die nicht ohne eine ganze Reihe von metaphorischen Kurzschlüssen operiert, wird ausführlich im 14. Kapitel, das den programmatischen Titel Das Schicksal des jüdischen Volkes trägt, behandelt. Sombart postuliert dabei eine vollkommene Übereinstimmung von Land und Mensch, deren ursprüngliche landschaftliche Prägung bis in die Gegenwart hinein wirksam bleibt. Die Juden, denen Sombart eine ausgesprochene anthropologische Homogenität und Stabilität attestiert, um sie pauschal als geschlossene Gruppe über Jahrtausende hinweg behandeln zu können, sind grundsätzlich ein orientalisches Volk, das durch die glühende Sonne und die trocken-heiße Luft der Wüste »ausgekocht«35 wurde. Aus der geographischen und klimatischen Konformation der Wüste und den dadurch gegebenen Lebensformen werden sukzessive, 34 | Vgl. dazu F. Lenger, Werner Sombarts »Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911)« – Inhalt, Kontext und zeitgenössische Rezeption, in: Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, hg. von N. Berg, Leipzig 2011, S. 239-254. 35 | W. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, München und Leipzig 1928, S. 404.
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durch eine Reihe von Analogieschlüssen, die wesentlichen rassenmäßigen Eigenschaften abgeleitet: das Nomadische, der Intellektualismus, der Hang zum Verstandesmäßigen und Abstrakten, die Zielstrebigkeit, die Flexibilität, die Anpassungsfähigkeit, aber auch die List und die Verschlagenheit. Schon die zu biblischen Zeiten in der Wüste umherirrenden Beduinenstämme, welche raubend und brandschatzend in das Land Kanaan eingebrochen waren, lebten weitgehend als Parasiten der Ackerbau treibenden lokalen Bevölkerung, den Wucherern und Bankiers der Gegenwart vergleichbar. Die Diaspora und das jahrhundertelange Exil haben diese Grundeinstellung nicht korrigiert oder gar zunichte gemacht. Ganz im Gegenteil: Sie haben die Wüsten- und Nomadeninstinkte der Juden wiederbelebt und gestärkt. »[…] der ursprünglich den Hebräern im Blute steckende Nomadismus und Saharismus (wenn man dieses symbolische Wort gebrauchen darf, um Wüstenhaftigkeit zu bezeichnen) wird im weiteren Verlauf der jüdischen Geschichte durch Anpassung oder Auslese erhalten und immer weiter gezüchtet.«36 Geschichte und Evolution gehen dabei ineinander über. Das Exil hat eine Auslese all jener Individuen gefördert, bei denen der nomadische Instinkt primär war und all jene abgedrängt, die noch Träger bodenständiger Tendenzen waren. Körperkonstitution und Lebensweise bedingen einander: »In die Fremde gingen immer diejenigen, in denen das alte Nomadenblut noch am stärksten pochte, und dadurch, dass sie in die Fremde gingen, wurde dieses Blut wieder ganz rege und durchströmte nun wieder ihr ganzes Wesen.«37 Durch diesen langen Prozess der Auslese hat sich die ursprüngliche nomadische Wandertendenz als vorherrschend und normal etabliert. Die Juden sind somit ein »ewiges Wüsten-Wandervolk durch Anpassung oder Auslese.«38 Damit der Kreis sich schließt, und der herdentreibende Hirte aus biblischer Zeit mit dem gewieften Kaufmann aus den urbanen Milieus des frühen 20. Jahrhunderts in eins gesehen werden kann, sind noch einige weitere verbindende Elemente vonnöten. Die umherirrenden Juden der Gegenwart hat es nie aufs Land getrieben, sondern in die Städte, denen Sombart etwas zutiefst Wüstenhaftes nachsagt. Diese Ähnlichkeit von Wüste und Stadt wird nur kurz angetippt und nicht weiter ausgeführt. Was die beiden Orte verbindet, abgesehen von der nomadisierenden Tendenz, die sie ihren Bewohnern aufzwingen, ist letztlich vor allem ihre Distanz zur bäuerlichen Welt. »Städtebewohner wurden sie […], Städtebewohner sind sie bis auf den heutigen Tag geblieben. […] Die Großstadt aber ist die unmittelbare Fortsetzung der Wüste – sie steht der dampfenden Scholle ebenso fern wie diese und zwingt ihren Bewohnern
36 | Ebd., S. 408. 37 | Ebd., S. 411. 38 | Ebd., S. 409.
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ein nomadisierendes Leben auf wie diese.«39 Dass auch dieser Vergleich hinkt, muss wohl nicht ausdrücklich hervorgehoben werden. Zu Wüste und Wanderung – die Alliteration suggeriert wohl eine verborgene Gemeinsamkeit, die auch in Riehls Land und Leute intendiert war – kommen neben dem Leben in urbanen Kontexten noch zwei weitere Momente hinzu: das Geld und das »Ghettoschicksal«, wie es Sombart verharmlosend nennt, dadurch den damit zusammenhängenden sozialen Zwang unterschlagend. Ein paar Seiten später liefert er die Erklärung nach, welche das Schicksalsmäßige einmal mehr am unabänderlichen Charakter der Juden selbst festmacht. Die Juden sind dem Ghetto anheimgefallen, weil sie ihrer Natur nach dazu neigten. Dem Geld, wie dem Juden auch, fehlt die Konkretheit ländlicher Betätigung, er ist flüchtig und wurzelt nirgends in fruchtbarer Erde, ist nur als Masse da, wie eine Herde. Wer sich mit Geld abgibt, gelangt gezwungenermaßen zu einer quantitativen, abstrakten Auffassung der Welt. »[…] in dem Gelde vereinigten sich gleichsam die beiden Faktoren, aus denen sich das jüdische Wesen zusammensetzt […]: Wüste und Wanderung, Saharismus und Nomadismus.«40 Auch hier, wie im folgenden Falle, beleben und verstärken die neu hinzukommenden Aspekte bloß das schon vorhandene Substrat, ohne es in seinem Wesen umzugestalten. Durch ihr Ghettoleben haben die Juden zu neuen Charaktereigenschaften gefunden, einer »Neigung zu kleinen Betrügereien, Aufdringlichkeit, Würdelosigkeit, Taktlosigkeit.« Dass es Juden gab, die nicht in Ghettos wohnten und dieser Existenzweise mit Spott und Kritik begegneten, veranlasst Sombart zu folgender Überlegung: Das Ghetto hat »die wirklichen Grundzüge des jüdischen Wesens stärker und einseitiger […] ausbilden helfen. […] Auch hier ist nur deutlicher herausgekommen, was längst im Wesen, im Blute geruht hatte.«41 Sombarts Text operiert vor allem mit organischen Metaphern und einer ganzen Reihe von übereilten unreflektierten Analogieschlüssen, welche die unausweichliche Zwanghaftigkeit des ganzen Prozesses sicherstellen sollen. Die erste absolute Gleichsetzung von Landschaft und Mensch propagiert sich echoartig durch die Jahrhunderte, und gewinnt durch das Hinzukommen neuer assoziativ angebundener Elemente an zusätzlicher Dynamik. Genauso unaufhaltsam überfluten die unfassbaren überallhin eindringenden und versickernden Juden die ganze Erde. Wie schon bei dem kurzen Hinweis auf die im Ghetto erlernten Eigenschaften, rückt hier das Bedrohliche und Beängstigende des Jüdischen, so wie es Sombart sorgfältig herauspräpariert hat, besonders in den Vordergrund. Sombart spricht von den Juden als einem rastlosen Ameisenhaufen, der nicht zu Ruhe kommen kann. Die jüdischen Wanderungen 39 | Ebd., S. 415. 40 | Ebd., S. 426. 41 | Ebd., S. 432-3.
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werden als Abfluss und Entleerung beschrieben. Die Diaspora ergießt sich in die zwei Auffangbecken der Pyrenäenhalbinsel und Russland-Polen, das sich zu einem Reservoir jüdischer Bevölkerungsschichten entwickelt. Von dort aus verbreiten sie sich sporenhaft in einem Prozess der Zerstäubung. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts stattfindenden Massenauswanderungen von Osteuropa in die USA vergleicht Sombart mit der Explosion eines wieder aktiv gewordenen Vulkans. Abbildung 15: Juden sind in deutschen Wäldern unerwünscht
Wüste und Wald (vgl. Abb. 15) sind nicht so sehr spezifische Landschaften mit einem klar ausgearbeiteten Repertoire von Eigenschaften. Sie stellen zwei grundsätzlich verschiedene, sich gegenseitig ausschließende landschaftliche Prinzipien dar, die ebenso unterschiedliche Menschentypen hervorbringen. Die relevanten Attribute werden dabei stark reduziert und immer als Gegensatzpaare eingeführt. Sombarts Walddarstellung geht weitgehend auf romantische Vorstellungen aus dem deutschen Sprachraum zurück. Sein karges,
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völlig uninspiriertes Wüstenbild hingegen lebt von wenigen klischeeartigen Momenten. Dies hat seine Bewandtnis, liegen doch die Sympathien des Autors trotz mehrfach inszeniertem Zweifel und häufigen Hinweisen auf die Unabdingbarkeit von Genauigkeit deutlich auf Seiten des arisch-nordischen Menschen. Sombarts Text ist eine Propagandaschrift, die sich in Objektivität kleidet. Die aus dem südöstlichen Mittelmeerraum stammenden Juden sind ein trockenes und heißes, rastlos von Oase zu Oase umherirrendes Volk. Ihnen stehen die nasskalten, sesshaften, bäuerlichen Bevölkerungen des Nordens gegenüber, die ebenfalls ganz aus den spezifischen klimatischen Bedingungen ihrer Umgebung hervorgegangen sind. Die charakterlichen Eigenschaften der nordischen Völker haben sich im Laufe der Zeit zwar abgeschwächt, sind aber immer noch ausschlaggebend. Sombart stellt die beiden landschaftlichen Prinzipien als die Kontrahenten eines über Jahrhunderte hinweg währenden kosmisch anmutenden Kulturkampfes dar. Das Trockene und Heiße gegen das Nasse und Kalte. Der Süden gegen den Norden. Die sesshaften gegen die nomadischen Völker. Aus dieser ersten landschaftlich geprägten Gegenüberstellung werden noch weitere abgeleitet. Das Hirtendasein der nomadischen Juden, so weiter Sombart kategorisch, habe niemals das Verrichten schwerer körperlicher Arbeit verlangt. Schwerpunkt sei hier vor allem »die bedenkende, disponierende, organisierende Arbeit« gewesen. Es geht damit also nicht um körperliche Anstrengung, sondern um die Herausbildung geistiger Fähigkeiten. Aus diesem Grund wurden die Juden nicht zu Bauern oder Handwerkern, das heißt zu Werkschöpfern, sondern zu geistigen Arbeitern. Aus dem Gegensatz körperlich/geistig ergeben sich die weiteren Oppositionen von abstrakt und konkret, intellektuell und sinnlich sowie verstandes- und gefühlsmäßig. Die den Juden wegen ihrer landschaftlich-klimatischen Urprägung nicht mehr zugänglichen Momente werden ihren Kontrahenten zugeschlagen, den innig mit der Natur und der Scholle verbundenen, konkreten, sinnlich-gefühlsmäßigen Ariern. »[…] auch jene besondere Geistigheit, die wir bei den Juden fanden, führt schließlich in die Wüste – Sand- oder Steinwüste – zurück. ›Abstrakt‹, ›rational‹ sehen wir sie veranlagt, mit ausgeprägtem Sinn für begrifflich-diskursive Erfassung der Dinge; mit einem Mangel an sinnlicher Anschaulichkeit und empfindungsmäßiger Beziehung zur Welt. Wüste und Wald, Norden und Süden! Die scharfen Konturen heißer, trockener Länder, die grellen Sonnenflecke neben den tiefen Schlagschatten, die hellen Sternennächte, die erstarrte Natur: alles dies lässt sich wohl bildlich in das eine Wort des ›Abstrakten‹ zusammenfassen, dem das ›konkrete‹ Wesen alles Nordens, wo das Wasser reichlich fließt, gegenübertritt. […] Lassen sich hier nicht Zusammenhänge denken zwischen dem abstrakt-verstandeshaften Wesen der Juden und dem anschauend-verträumten Sinn des nordischen Menschen? Ist es ein Zufall, dass Astronomie und Zählkunst in
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den heißen Ländern […] entstanden sind […]? Wie sollte so leicht in einer nebligen nordischen Landschaft dem Bauern hinter dem Pflug oder Jäger im Walde die abstrakte Vorstellung von Zahl in seinem Geiste aufsteigen?« 42
Die Zahl ist metaphorisch mit dem Geld, dem Zählen und Kalkulieren verbunden. Damit ist eine Brücke zum gefühlslos berechnenden jüdischen Spekulanten der urbanisierten und industrialisierten Moderne geschlagen. Die traditionalistische abgesicherte, behäbige, umfriedete Existenz des nordischen Ackerbauers, der in eine nebelhaft-mystische Naturumgebung eingebunden ist und in den zyklischen Ablauf der Jahreszeiten, den Kreislauf von Sähen und Ernten, ist die Grundlage eines ausgeprägten Sinnes »für das Lebendige, Organische, Gewachsene«, das sich aus der »toten Natur des Orients« nicht entwickeln kann. »Wie denn ebenso wie die Wüste (der Süden) die Stadt, weil sie den Menschen von der dampfenden Scholle abdrängt und ihn loslöst von dem Zusammenleben mit den Tieren und den Pflanzen – organisch-gewachsenen Gebilden –, in ihm das eigene Miterleben des Lebendigen, das allein das ›Verständnis‹ für die organische Natur vermittelt, verkümmert und zerstört.« 43 Das Leben in der Wüste fördert im Gegenzug dazu die Fähigkeiten des Verstandes, das Spionieren, Spähen, Erkunden. Dadurch lässt sich die ausgesprochene Anpassungsfähigkeit der Juden erklären, ihre Mobilität und Flexibilität, wesentliche Eigenschaften jedes Nomaden zwar, aber auch des in Städten lebenden Menschen der Gegenwart. »Sind nicht auch die beiden Gegensätze der Zielstrebigkeit und Werkfreudigkeit auf die Gegensätze von Nomadismus und Siedlertum zurückzuführen?«44 In der Verbindung dieser beiden Momente sieht Sombart den Ursprung des Kapitalismus. Die »schicksalsschwere Verirrung der Juden in die nordischen Länder«45 und ihr Zusammenwirken mit den arbeitsamen nordischen Völkern hat die Welt radikal verändert. Wald und Wüste sind anthropologische Konstanten. Die nordischen Völker, die Arier saßen »in feuchten Wäldern zwischen Sümpfen, zwischen Nebeln, in Eis und Schnee und Regen […]. Auch als diese Stämme noch nicht völlig zur Sesshaftigkeit gelangt waren […] erscheinen sie uns doch schon gleichsam mit dem Boden verwachsen. Ganz hat der Ackerbau nie gefehlt. […] auch dort, wo wir uns jene nordischen Völker als ›Nomaden‹ vorstellen, ist das Bild ganz und gar ein anderes als das, das wir uns von einem Beduinenstamme machen und empfinden wir sie bodenständiger selbst als ein Ackerbauvolk
42 43 44 45
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Ebd., S. 421-2. Ebd., S. 421-2. Ebd., S. 423. Ebd., S. 424.
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in einem Oasenlande. Jene sind immer Siedler, auch wenn sie Viehzucht treiben; diese immer Bodenfremde, auch wenn sie Ackerbauer sind.« 46
Auch dort, wo den Juden der Zugang zur Landwirtschaft nicht verwehrt wurde, hat sich immer nur ein »verschwindend kleiner Teil […] mit dem Landbau abgegeben«.47 Und weiter: »Wüste und Wald sind die großen Kontraste, um die alle Wesenheit der Länder wie der Menschen, die sie bewohnen, herumgelagert ist. Der Wald gibt dem Norden sein Gepräge; genauer: der nordische Wald, in dem die Bäche murmeln, in dem der Nebel um die Stämme quirlt, in dem die Kröte ›im feuchten Moos und triefenden Gestein‹ haust […], in dem im Sommer die Vögel singen.«48 Das Wüstenhafte hat nicht nur Einzug in die Städte des Nordens gehalten, sondern bedroht auch die äußersten Grenzen Europas. In Süditalien hat »längst der Wüstencharakter eingesetzt […] wer jemals in einen südlichen Wald getreten ist, weiß, dass er nicht mehr als den Namen mit unseren nordischen Wäldern gemein hat. […] Der süditalienische Wald ist klangvoll, von reinem Licht und Blau durchschimmert […] elastisch und nervig […]. Während unser nordischer Wald lieblich und gespenstisch, traulich und schreckhaft in einem ist. Wüste und Wald, Sand und Sumpf: das sind die großen Gegensätze, die […] alle anderen für das Menschendasein […] so entscheidenden Bedingungen schaffen: hier ist gleichsam das Symbol der Natur die Fata morgana, dort der Nebelstreif.« 49
Wie Banse und Hellpach verbindet Sombart mit dem Wald auch so etwas wie ein ideales Verhältnis von Mensch und Natur, das in anderen landschaftlichen Umgebungen nicht möglich ist. So spricht er im Zusammenhang mit den Waldbewohnern des Nordens von »zarten Banden der Freundschaft und Liebe« und von einem daraus resultierenden »Verwachsensein mit Baum und Strauch, mit Land und Wiese, mit Wild und Vögeln.«50
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Ebd., S. 417-8. Ebd., S. 414. Ebd., S. 416. Ebd., S. 417. Ebd., S. 418.
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W ALDGANG In seinem Essay Waldgänger ohne Wald geht H.-D. Kittsteiner51 der politischen Metaphorik des deutschen Waldes nach. Dabei untersucht er zwei Werke Ernst Jüngers: die autobiographischen, 1928 erschienenen Kriegserinnerungen Das Wäldchen 13. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918 und der 1951 publizierte Essay Der Waldgang. Der erste Wald liegt nicht in Deutschland, sondern auf feindlichem Gebiet, an der Westfront. Es ist ein ausgebombter zerstörter Wald, »ein versteinerter Wald wie auf Bildern Max Ernsts, doch er liegt nicht stumm und geheimnisvoll da […]. Nur insofern ist es überhaupt noch ein deutscher Wald, ›weil hier die richtigen Männer stehen.‹« Die deutschen Truppen werden durch das Artilleriefeuer der britischen Einheiten aus dem Wald vertrieben. Die deutsche Artillerie zerschlägt, was noch übrigbleibt. Diesem Bild der absoluten Zerstörung setzt Jünger, fast 25 Jahre später, eine aus dem Wald als Ort der Unversehrtheit entwickelte Vision des allgemeinen kulturellen und politischen Widerstandes entgegen, ein Widerstand im Zeichen des Buchstabens W: »Das könnte dann etwa heißen: Wir, Wachsam, Waffen, Wölfe, Widerstand. Es könnte auch heißen: Waldgänger.«52 Der Waldgänger ist vereinzelt und heimatlos geworden, hat sich aber ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit bewahrt und ist entschlossen, Widerstand zu leisten. »Der Widerstand des Waldgängers ist absolut […].«53 Wie bei Sombart ist die Berufung auf die Walderfahrung mit einer Kritik an der Moderne und dem »wachsende[n] Automatismus« verbunden. »Der Einzelne steht nicht mehr in der Gesellschaft wie ein Baum im Walde, sondern er gleicht dem Passagier in einem sich schnell bewegenden Fahrzeug […].«54 Die widerstrebige Bewegung des Waldgängers verweigert sich der Gegenwart, welche Jünger in den Bildern des Schiffes, des Meeres und der Wüste einfängt, und dadurch gleich mehrere metaphorische Stränge aus der deutschen Tradition aneinanderkoppelt.55 Der Nachkriegsmensch Jüngers, und damit ist nicht nur der Deutsche gemeint, ist durch die Kräfte der Zeit auf das Meer und weit in die Wüste hinausgetrieben worden, dadurch lebt er in zwei konträren Welten, auf dem Schiff und in dem Wald. Katastrophen, und damit meint Jünger wohl auch den Zweiten Weltkrieg, prüfen, ob Menschen und Völker »noch original gegründet sind, ob wenigstens noch ein Wurzelstrang unmittelbar das Erdreich 51 | H.-D. Kittsteiner, Waldgänger ohne Wald, in: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, hg. von B. Weyergraf, Berlin 1987, S. 113-120. 52 | Ebd., S. 113-4. 53 | E. Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 142012, S. 66. 54 | Ebd., S. 30-1. 55 | Vgl. dazu N. Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007.
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aufschließt.«56 Man lebt in der Bewegung, auf dem Schiffe. »Wäre es also möglich, zugleich auf dem Schiff zu verbleiben und sich die eigene Entscheidung vorzubehalten – das heißt, die Wurzeln nicht nur zu wahren, sondern auch zu stärken, die noch dem Urgrund verhaftet sind?«57 Und weiter: »Weil das Bewegte die Augen ködert, bleibt den meisten der Schiffsgäste verborgen, daß sie zugleich in einem anderen Reiche weilen, in dem vollkommene Ruhe herrscht. […] Das zweite Reich ist Hafen, ist Heimat, ist Freude und Sicherheit, die jeder in sich trägt. Wir nennen es den Wald.«58 Wie bei Carl Schmitt stehen sich hier Wald und Meer, ein abgeschlossenes Leben in der Tradition und das mobile unstabile Leben der Moderne gegenüber. Meer und Wüste werden dabei einander angenähert. Die Welt der Zivilisation ist eine wüstenhafte Welt leerer maskenhafter Beziehungen: »Auch heute ist der Mensch durch starke Mächte weit in die Wüste und ihre Maskenwelt hinausgeführt.«59 Die nordamerikanische Zivilisation der ersten Nachkriegsjahre hat eine Meerwüste hervorgebracht, deren Gegenpol man allein noch im Wald finden kann. »Und zwar soll hier der Mensch auf dem Schiff an dem im Wald sein Maß nehmen – das heißt: der Mensch der Zivilisation, der Mensch der Bewegung und der historischen Erscheinung an seinem ruhenden und überzeitlichen Wesen, das sich in der Geschichte darstellt und abwandelt.« Ruhelose Moderne. Jünger schlägt als Kur einen initiatorischen Wald(durch)gang vor, der den Menschen wieder seiner überzeitlichen archaischen Bestimmung zuführt. »Wir sahen die große Erfahrung des Waldes in der Begegnung mit dem eigenen Ich, dem unverletzbaren Kerne, dem Wesen, aus dem sich die zeitliche und individuelle Erscheinung speist.«60 Der unmittelbare Kontakt mit dem eigenen individuellen Kern ist dadurch möglich, dass die Waldlandschaft als unveränderte phantasiert wird. Der Gegensatz Schiff/Wald hat universellen Charakter. »Das Schiff bedeutet das zeitliche, der Wald das überzeitliche Sein.«61 »Der Waldgang […] wird an jedem Punkte der Erde möglich sein.«62 »Die Lehre vom Wald ist uralt wie die menschliche Geschichte, ja älter als diese. […] In diesem Sinne kommt es auf das Wort Wald nicht an. […] das gleiche wird an anderen Orten gesucht – in Höhlen, in Labyrinthen, in Wüsten […].«63 Der verallgemeinerte Wald ist über56 | Jünger, Der Waldgang, S. 27. 57 | Ebd., S. 31. 58 | Ebd., S. 36-7. 59 | Ebd., S. 37. 60 | Zitiert in Kittsteiner, Waldgänger ohne Wald, S. 118 (E. Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 1986, S. 57ff.). 61 | Jünger, Der Waldgang, S. 39. 62 | Ebd., S. 42. 63 | Ebd., S. 48-9.
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all und nirgends. In der Einöde und der Stadt. Im Wald selbst, besser gesagt, in dem, was noch von ihm übriggeblieben ist, aber auch anderswo und im Innern des Menschen selbst. »Wald ist in diesem Sinne natürlich überall: er kann auch in einem Großstadtviertel sein.«64 Jünger verweist auch auf die christliche Tradition der sich in die Wüste zurückziehenden Einsiedler. Der Wald wird mit der Wüste als Ort des Rückzugs und der Selbst- und Sinnsuche gleichgesetzt. Die Wüste aber, wenn man sie mit dem Meer und dem Schiff verbindet, ist zugleich das, was dem Wald am meisten widerspricht. Der Kernpunkt des »modernen Leidens, [ist] die große Leere, die Nietzsche als das Wachsen der Wüste bezeichnet hat. Die Wüste wächst: das ist das Schauspiel der Zivilisation mit ihren entleerten Beziehungen. […] ›Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.‹«65 Das Schiff ist dabei nicht nur der Ort der Rastlosigkeit, sondern auch der Gefahr und Unfreiheit. So spricht Jünger in diesem Zusammenhang auch von der Titanic und der Galeere. »Auch hier sind wir, institutionell gesehen, noch auf dem Schiff, noch in Bewegung; die Ruhe ist im Wald.«66 Jünger konstruiert zwei sich widersprechende und überschneidende Bildketten: Industriestadt – Nomadismus – Trockenheit – Tod – Schiff – Meer – Wüste einerseits und Ruhe – lebensspendende Feuchtigkeit – Leben – Wald andererseits. Er bemüht dabei weitgehend dieselben Gegensätze wie Sombart. Den Menschen der Moderne, der dazu verurteilt ist, unbeständig auf dem Schiff zu leben und in der Trockenheit der Wüste umherzuziehen, dürstet es nach den Quellen des Beständigen. Ist die Wüste der Ort der absoluten bedrohlichen Kontingenz, so ermöglicht das Heiligtum Wald einen Zugang zu den erfrischenden Ursprüngen: »Das ist die Ursache seines Durstes, der in der Wüste wächst […] der Durst nach den ihr überlegenen Ordnungen.«67 Der Mensch, der auf dem schaukelnden unstabilen Schiff unterwegs ist – Jünger nennt ihn auch den Menschen der Zivilisation, der Bewegung und der historischen Entscheidung –, soll sich an dem in Ruhe im Wald verweilenden überzeitlichen Menschen ein Beispiel nehmen. »Die ökonomischen Theorien gelten ›auf dem Schiffe‹, während das ruhende und unveränderliche Eigentum im Walde liegt, als Fruchtgrund, der stets neue Ernten bringt.«68 Im Gegensatz zu Sombart hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die industrielle und urbane Moderne so weit durchgesetzt, dass der Wald und die damit verbundene bäuerliche Lebensart keine wahre Alternative mehr darstellt. Sie war es auch zur Zeit Sombarts eigentlich nicht mehr. Aus diesem Grund erhebt Jünger den Wald auch zu einem unhistorischen mythischen und uni64 65 66 67 68
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Ebd., S. 57. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 92-3. Ebd., S. 88.
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versellen Prinzip. Es ist nicht mehr der konkret begehbare Wald Riehls, der hier aufgerufen wird – obwohl man auch in diesem immer noch so etwas wie einen ursprünglichen Kontakt zum allgemein Menschlichen finden kann, den Zugang zu den Quellen, und dies trotz systematischer Nutzbarmachung –, sondern eine abstrakte Vorstellung davon. »Der große Strom […] kann nicht versiegt sein – er fließt tief unterirdisch fort. Der Mensch wird ihn entdecken, wenn er in sich geht und damit schafft er einen der Punkte, an denen in der Wüste Oasen möglich sind. [Und] wenn auch nicht in der Wüste, so doch in einer verkümmerten Zone, wie einer Industriestadt […].«69 Der Wald ist so, wie es eine jahrhundertealte deutsche Tradition will, zugleich heimlich als auch unheimlich, ein Ort der Sicherheit und der Bedrohung. Der Wald ist »das große Todeshaus, der Sitz vernichtender Gefahr.« Der Waldgang ist »in erster Linie Todesgang. Er führt an den Tod heran – ja, wenn es sein muß, durch ihn hindurch.« Jünger verweist zudem auf den Gegensatz von Wald und Forst, den man schon bei den Gebrüdern Grimm findet: »Der alte Wald mag nun zum Forst geworden sein, zur ökonomischen Kultur. Doch immer noch ist in ihm das verirrte Kind.«70 Im Wald trifft man auf sich selbst. Der Wald steht für einen Lebenshort, der sich in seiner Überwindung, seiner Überschreitung erschließt. »Hier ruht der Überfluß der Welt.«71 Und weiter: »Der Waldgang ist zu jeder Stunde und an jedem Ort zu verwirklichen […].«72 Jüngers Waldgang ist eine verspätete konservative Kritik an der Gesamtheit der Kultur der Moderne, die sich verschiedener Versatzstücke aus der deutschen Kultur bedient. In der folgenden Passage schwingen Riehls Verteidigung des deutschen Waldes und Sombarts Lob des Silvanismus eindeutig mit. Die Zivilisation der Moderne basiert auf Beschleunigung und Fragmentierung, sie kappt die Wurzel der Tradition und verdammt zu seelenlosem Nomadismus auf endloser See: »Man sieht, wie Äcker, die durch dreißig Geschlechter Besitzer und Pächter nährten, zerstückelt werden auf eine Weise, die alle darben läßt. Man sieht den Kahlschlag von Wäldern, die durch Jahrtausende Holz brachten.«73 Die individuelle introspektive Dimension wird am Ende des Buches durch eine kollektive ergänzt, was zugleich die ideologische Grundlage des gesamten Projektes und seine tiefe Verwurzelung in einer ganz bestimmten deutschen Tradition aufzeigt. »Wo sich ein Volk zum Waldgang rüstet, muß es zur furcht-
69 70 71 72 73
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Ebd., S. 61-2. Ebd., S. 51ff. Ebd., S. 53. Ebd., S. 74. Ebd., S. 86.
Silvanismus und Saharismus
baren Macht werden.«74 Bemüht wird auch der Mythos des reinen Defensivkrieges. »Eine Macht, die den Schwerpunkt auf den Waldgang legt, weist nach, daß keine Absicht zum Angriffskrieg besteht.«75 Jünger spricht von einer »heiligen Schicht«, in der man verwurzelt ist, aus der man seine Kraft und einen Sinn für Tradition schöpft und die einen auch als Mitglied einer bestimmten Nation definiert. Jeder Besitz von Gütern sei fragwürdig, wenn diese nicht in dieser Schicht verwurzelt seien.76 Ob Jünger damit auf die wurzellosen Juden anspielen will, sei hier dahingestellt. Jedenfalls, so weiter Jünger, lohne es sich immer wieder dafür zu kämpfen. Dazu gehöre, schließlich, auch das Vaterland, das man im Herzen trage. »Die Worte bewegen sich mit dem Schiffe; der Ort des Wortes ist der Wald. Das Wort ruht unter den Worten wie Goldgrund unter einem frühen Bild.«77 Der Wald ist hier wie schon bei Riehl ein Ort, an dem der direkte Kontakt mit einer vorgeschichtlichen ewigen Welt möglich wird. Waldvergessenheit ist die Diagnose für die kulturelle und politische Misere des zweigeteilten Deutschlands. So verbindet sich in Jüngers Vision die persönliche Läuterung mit einem nationalistischen Ideal. Einmal mehr dient der Wald als politische Metapher in Zeiten der Spaltung. »Was seinen Ort betrifft, so ist Wald überall. Wald ist in den Einöden wie in den Städten, wo der Waldgänger verborgen oder unter der Maske von Berufen lebt. Wald ist in der Wüste und im maquis. Wald ist im Vaterlande wie auf jedem anderen Boden, auf dem der Widerstand sich führen läßt. Wald ist vor allem im Hinterland des Feindes selbst. […] Er führt den kleinen Krieg entlang der Schienenstränge und Nachschubstraßen, bedroht die Brücken, Kabel und Depots.« 78
Jünger vereinnahmt in dieser weltweiten heldenhaften Partisanentheorie des Waldes selbst den antideutschen französischen Widerstand des Zweiten Weltkrieges. Seine sakrale und militärische Momente betonende Waldtheorie kann aber ihren nationalistischen Ursprung nicht verbergen.
74 | Ebd., S. 77. 75 | Ebd., S. 78. 76 | Vgl. ebd., S. 88. 77 | Ebd., S. 93. 78 | Zitiert in Kittsteiner, Waldgänger ohne Wald, S. 119 (E. Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 1986, S. 75ff.).
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Limes Metaphern der territorialen Trennung
»Östlich der Elbe beginnt die asiatische Steppe.« K ONRAD A DENAUER
In diesem Kapitel geht es nicht um einen spezifischen Landschaftstypus, sondern um territoriale Diskurse, die mit einfachen geographischen Gegenüberstellungen operieren und daraus Grundlegendes über Land und Leute und deren Verhältnis ableiten. Dabei lassen sich innerhalb der europäischen Tradition zwei Grundtypologien unterscheiden. Eine auf der Nord-Süd-Achse angeordnete Dreiteilung, welche den zwei Extrempositionen die mittlere ideale – weil gemäßigte und ausgewogene – Lage entgegensetzt und eine duale Perspektive, welche anhand einer klaren Trennung von Norden und Süden, Osten und Westen immer auch so etwas wie ein kulturelles Gefälle artikuliert. Innerhalb des deutschen Sprachraums hat diese letztere Argumentationslinie einerseits zu einer zweifachen Lesart des Ost/West-Gegensatzes geführt und andererseits zu einem kompensatorischen Diskurs, der die technische und historische Unterlegenheit des Südens – in diesem Fall Österreichs – gegenüber dem preußischen Norden wettzumachen versuchte.1 Der Ost/West-Gegensatz wurde mit unterschiedlichen Vorzeichen belegt: einmal als nationalistisch inspirierte Gegenüberstellung von römischer und germanischer Welt, wobei der Feind und Besetzer aus dem Süden und Westen kam. Zuerst waren es die Römer, welche den Westen des Landes kolonisierten und romanisierten, später, zur Zeit der Reformation, saß der religiöse Gegner in Rom und zur Zeit der Französischen Revolution und der Armee Napoleons kam der Feind aus dem benachbarten Frankreich. Die zweite Lesart des West/Ost-Gegensatzes, die zwar auch auf eine lange Tradition zurückblicken kann, sich aber vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildete, konjungierte den Kontrast als deutsch-slawi1 | Vgl. dazu C. Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000.
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schen Gegensatz. Hier spielte Deutschland die erobernde kolonisierende Rolle. In diesem Diskurs ging es nicht nur darum, den Osten vom Westen durch klare, von Norden nach Süden verlaufende Linien zu trennen, sondern auch darum, den Übergang von der einen in die andere Zone durch zusätzliche Trennungen, die zur Erschaffung von Übergangs- und Pufferzonen führten, zu gestalten. Im Folgenden werde ich vor allem auf die zweifache Lesart des Ost/WestGegensatzes eingehen. Obwohl in diesen Diskursen das rein Landschaftliche eine deutlich untergeordnete Rolle spielt, tauchen in gewissen Fällen landschaftliche Momente wieder auf, so spielt z.B. die östliche Steppe und ihre meist implizit mitgedachte Gegnerschaft zum deutschen Wald eine wichtige Rolle. Bevor ich auf das Hauptthema des Kapitels eingehe, möchte ich noch einige der erwähnten territorialen Momente kurz untersuchen.
V OM K LIMA ZUM B ODEN François Walter hat in Les figures paysagères de la nation die europäische Geschichte der nationalen Stereotypen und die sich daraus entwickelnden Klimatheorien detailliert nachgezeichnet.2 Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind das Werk des spanischen Arztes Juan Huarte (1530-1592) und die 1576 veröffentlichten Les six livres de la République von Jean Bodin (15301596), dem berühmtesten Theoretiker des klimatischen Determinismus. Huarte, der sich dabei auf Galen und Hippokrates bezieht, geht von einer Dreiteilung aus, wobei die in der mittleren gemäßigten Zone lebenden Menschen – in diesem Fall die Spanier – von den besonders günstigen klimatischen Bedingungen profitierten. Im Gegensatz zu den Menschen, die in den kalten Gegenden des Nordens oder den brütend heißen Zonen des Südens leben, sind die Spanier ein vorsichtiges und vernünftiges Volk. Die im Norden lebenden Deutschen und Engländer leiden unter der exzessiven Feuchtigkeit und Kälte, was nicht nur ihr Gehirn beeinflusst, sondern auch für ihre weiße Haut und ihre blonden Haare verantwortlich ist. Der klimatische Determinismus operiert mit einfachen Gegensätzen, monokausalen Argumentationen und einem Denken, das Klima, physische Konstitution und Denkweise kurzschließt. Die Feuchtigkeit des Nordens dehnt die Glieder und führt zu großen Menschen mit einem ausgeprägten Gedächtnis, aber wenig Verstand. Im Gegensatz dazu sind die Spanier dunkelhaarig und eher klein. Ihre warmen und trockenen Gehirne verfügen über ein schlechtes Gedächtnis, sind aber besonders geeignet für scharfsinnige philosophische und theologische Spekulation. Feuchtigkeit
2 | Vgl. Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 35-67.
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und Kälte dehnen und vergrößern, während Trockenheit und Wärme zusammenziehen und verkleinern. Jean Bodin unterscheidet ebenfalls zwischen drei klimatischen Zonen, die sich vom Äquator bis zum Nordpol ausdehnen. Das Neue an seinem Ansatz ist, dass er drei gleich breite, je 30 Breitengrade umfassende Gürtel definiert, einen extrem heißen, einen gemäßigten und einen übermäßig kalten. Auch Bodin gibt der mittleren, klimatisch ausgeglichenen Zone, in der er signifikanterweise die französische Kultur ansiedelt, eindeutig den Vorzug. Die dort lebenden Menschen zeichnen sich durch Heiterkeit und Leichtigkeit aus. Das Klima wirkt sich zudem direkt auf die politische Konstitution aus: bei den Völkern des Nordens wird durch Macht, bei den Völkern der gemäßigten Zonen durch Gerechtigkeit geherrscht; die Menschen des Nordens interessieren sich für Arbeit und die mechanischen Künste, die Menschen der mittleren Region hingegen für Handel, Verhandlungen und die Entwicklung von Gesetzen und Regierungsformen. Eine radikale Wandlung dieses Musters, welches letztlich den Norden dem Süden unterordnete, findet im Werk Montesquieus statt, der in seiner klimatischen Argumentation, die den Norden als Land der Freiheit definiert – und dadurch einen Paradigmenwechsel darstellt –, nicht nur auf eine wissenschaftliche Erklärung zurückgreift, sondern diese auch mit einer umfassenden politischen Interpretation versieht. Montesquieu sieht in der Entsprechung von Kälte und Tüchtigkeit auch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. Pierre Bourdieu, der die metaphorischen Grundlagen dieses Diskurses im Detail untersucht hat, spricht von einem ins Mythische abgleitenden Diskurs, der auf einer simplifizierenden Rhetorik der Wissenschaftlichkeit basiert, von einem »effet Montesquieu«.3 Grundlage von Montesquieus Überlegungen ist John Arburthnots (16671735) Essay Concerning the Effects of Air on Human Bodies aus dem Jahr 1733. Darin untersucht der schottische Arzt, Mathematiker und Schriftsteller den Einfluss der Luft auf die Körperfasern. Kalte Luft führt dazu, dass sich die äußeren Fasern der Körperextremitäten zusammenziehen. Dies begünstigt die rasche Rückkehr des Blutes zum Herzen, verstärkt die Kraft der einzelnen Fasern und reduziert deren Länge. Warme Luft dagegen führt zu einer Schwächung und Verlängerung der Fasern. Daraus leitet Montesquieu eine auch aufs Geschlecht bezogene duale Vision ab, die den freiheitlichen christlichen und männlichen Norden dem unfreien muslimischen weiblichen Süden gegenüberstellt. Kälte steht nunmehr für Kraft und Wärme für Schwäche. Montesquieu spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes relâcher – lockern, loslassen, nachgeben – und lâche – feig, schlaff, lax –, wodurch die klimatischen 3 | Vgl. P. Bourdieu, Le nord et le midi: Contribution à une analyse de l’effet Montesquieu, in: Actes de la recherche en sciences sociales, vol. 35, November 1980, S. 21-25.
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Auswirkungen auf den Körper direkt in eine moralische Haltung umgesetzt werden. Dem despotisch regierten, passiven Süden, der sich der Imagination und Eifersucht hingibt, steht die lebhafte agile intellektuelle Aktivität des Nordens gegenüber. Das Netz der Beziehungen beruht auf einer beschränkten Anzahl von Oppositionen. Die Männer des Nordens sind angespannt wie Metallfedern, während die effeminierten Männer des Südens sich unterwerfen lassen, weil sie selbst unfähig sind zu beherrschen. Es waren vor allem deutsche Denker aus dem späten 18. Jahrhundert, welche die in Montesquieu kulminierende, weitgehend französische Klimatheorie infrage stellten, wobei neben theoretischen auch nationalistische Gründe eine wesentliche Rolle spielten. Die französische Klimatheorie wurde aus deutscher Sicht abgelehnt, auch weil sie dazu diente, die französische Vorherrschaft zu legitimieren.4 Obwohl Montesquieu eine ganze Reihe von bestimmenden Faktoren nannte, neben der Luft die Temperatur und die unterschiedliche Bodenkonstitution, war das entscheidende Moment dennoch das Klima. Dabei schwankte man zwischen einem klimatischen Determinismus und einem moralischen Idealismus. Eine wichtige Rolle bei der Ablösung vom klimatischen Paradigma spielte Johann Gottfried Herder, der zwar eine äußerst schwankende Position in Bezug auf die Klimatheorie bezog, aber Entscheidendes zu deren Ablösung beitrug. Neben klimatischen Faktoren, so Herder, musste man auch kulturelle Faktoren in Betracht ziehen. Jede Nation kann sich unabhängig vom Klima verbessern. »Das Klima zwingt nicht, sondern es neigt.«5 Der Einfluss eines bestimmten Klimas, das Herder als ein kohärentes, in sich stimmiges und organisches Ganzes versteht, kann sich zudem je nach der historischen Epoche stärker oder schwächer gestalten. Dies gilt auch auf der individuellen Ebene, denn Menschen reagieren auf klimatische Einflüsse grundlegend anders. Herder weist zudem darauf hin, dass viele Aspekte nicht gebührend behandelt worden waren: die Bedeutung der Jahreszeiten, das Verhältnis von Land und Meer, die Natur der Berge und der Ebenen, die Rolle der Winde und schließlich die Bedeutung der Vererbung und des Blutes. Anstelle eines einfachen Determinismus setzt er ein vielschichtiges Ensemble von Ursachen. Durch die Betonung der Vererbung bahnt er, ohne es zu wollen, den Weg für die Erklärung des nationalen Charakters anhand der Rasse, wie dies im Laufe des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Seiten her unternommen wurde. Ein Spezifikum des deutschsprachigen Diskurses – vor allem wie er in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert geführt wurde – ist dessen Abwendung vom Klimatischen zugunsten einer Betonung des Bodenhaften und Bodenständigen. Auf 4 | Vgl. G.-L. Fink, De Bouhours à Herder: La théorie française des climats et sa réception outre-Rhin, in: Recherches Germaniques, n° 15, 1985, ebd., S. 37. 5 | Zitiert in ebd., S. 56.
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dieses Moment bin ich schon im ersten Kapitel im Zusammenhang mit dem Werk Willy Hellpachs und Ewald Banses eingegangen.6 Eine wichtige Etappe auf dem Weg dorthin stellt Friedrich Ratzels Anthropogeographie dar.
D EUTSCHL ANDS M IT TELL AGE In seinem 1898 publizierten Werk Deutschland. Einführung in die Heimatkunde postuliert Friedrich Ratzel zu Beginn eine Entsprechung von Volk und Boden, die nicht nur so etwas wie eine wesenshafte Konsubstantialität der beiden Teile voraussetzt, sondern auch auf eine hartnäckige historische Kontinuität hindeutet. Geographie und Geschichte gehen eine grundsätzliche Verbindung ein: Ein Volk ist immer dann am gesündesten, wenn es auf dem ihm angestammten Boden über Jahrhunderte hinweg leben durfte. Die »Sitze der Deutschen [sind] nicht gar viel anders als zu der Zeit, wo Tacitus ihnen Weichsel und Rhein zu Grenzen gab, und wo sie für die späten Römer zwischen Alpen und Nordsee saßen. Es liegt etwas Großes, Beherzigenswertes in dieser Bodenständigkeit, die nach allen Ausbreitungen in die alte Schwerpunktslage zurückkehrt.« 7 Im 25. Kapitel, das den Titel Einige Betrachtungen über den Einfluß des deutschen Bodens auf die deutsche Geschichte trägt, versucht Ratzel aufgrund geopolitischer Überlegungen die Vergangenheit und Gegenwart Deutschland zu rekonstruieren. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten wie Frankreich und Russland, die beide über Meeresgrenzen sowohl im Norden als auch im Süden verfügen, hat Deutschland nur im Norden das Meer als Grenze. Damit wird auf eine Lücke hingedeutet und auf eine geopolitische Schwäche, die nach ergänzender Kompensation verlangt. Deutschland ist ein unfertiges Land: als »Machtgebiet am spätesten und als Völkergebiet nicht ›fertig‹ geworden […].«8 Die unfertige geschwächte geopolitische Lage Deutschlands, dessen historisch bedingte Fragmentierung und Zerrissenheit, und die Vorstellung der verspäteten Nation, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme, gehören zusammen. Deutschlands zentrale Mittellage in Europa ist Ausdruck von Kraft, aber auch von Schwäche. Die Grenzen nach Norden und Süden sind durch das Meer und die Alpen gegeben. Ganz anders sieht es mit den Grenzen nach Osten aus. Die wichtigste Eigenschaft Mitteleuropas, ist »weniger scharf im Osten als auf allen anderen Seiten begrenzt zu sein.«9 Und weiter: »Von allen großen Ländern Europas ist das Deutsche Reich das am wenigsten natürlich abgesonderte 6 7 8 9
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S.o. Land und Leute. Ratzel, Deutschland, S. 4-5. Ebd., S. 215. Ebd., S. 7.
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und abgegrenzte.«10 Seine Staatsgrenzen sind zu lang. »Österreich ist ähnlich schlecht mit Grenzen von der Natur ausgestattet«, was auch die tiefe geopolitische Nähe der beiden Länder erklärt. »Die älteren Grenzen Deutschlands tragen dagegen alle die Merkmale der zerfahrnen, zersplitterten, verlustreichen Entwicklung. […] Die größten Mängel der deutschen Grenze sind auch leider die unverbesserlichsten: der böhmische Keil und der polnische Bogen, beide mit Millionen slawischer Bewohner gegen Deutschland vorschwellend.«11 Der Osten ist nicht nur ein offener zu erobernder Raum, sondern auch eine bevölkerungsreiche Zone, die den Westen demographisch zu überfluten droht. Das deutsche Gebiet ist nicht nur von unsicheren Grenzen umgeben, sondern ist auch von einer Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet, allen voran den Unterschied von Tiefland im Norden und Hochland im Süden. Das Land ist nach Norden hin offen und nach Süden hin abgeschlossen. Ratzel spricht vom Auseinanderfallen »Nord- und Süddeutschlands. Hie Süddeutschland, Alpen und Mittelmeer, hie Norddeutschland, Ostsee-Länder und Ozean! In einer Zeit der Raumschwierigkeiten bedeutete es Auseinanderzerrung bis zur Zerreißung.«12 Die geopolitische Trennung Nord- und Süddeutschlands ist Folge einer mangelnden territorialen Integration. Die Raumaufgaben des Nordens gestalten sich ganz anders als diejenigen des Südens. Im Norden droht östlich und westlich ein grenzenloses Tiefland. Ratzel spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »auffallenden Nordwestlücke«13 in der Gestalt Deutschlands. Den Grund für Deutschlands »ungesicherte Raumbeherrschung«14 sieht Ratzel zwar in einer Kombination aus Territorium und Geschichte, er räumt aber dabei der geopolitischen Lage eine weitaus größere Bedeutung ein. Zum Gegensatz von Nord und Süd gesellt sich derjenige von Hoch- und Tiefland. »Das ist nicht bloß der Gegensatz der Höhe und der Formen. Die nach Norden offene Lage des Tieflandes am Meer, die nach Süden geschlossene Lage des Hochlands vor den Alpen sind ebenso wichtig.« In ihnen liegt der tiefste und dauerndste Unterschied zwischen Nord und Süd. Das weitläufige Gebiet Mitteleuropas, und Ratzel rechnet auch Deutschland dazu, weist einen engen Zusammenhang mit dem flachen Tiefland des Ostens auf, was dessen bedeutenden Einfluss auf die Mitte Europas erklärt. Deutschland trägt die Spuren dieses Zusammenhanges am deutlichsten: »dieses Tiefland zeigt auch in seiner Westhälfte Übereinstimmendes.«15 Diese ostwestlichen Unterschiede werden durch den Nord-Süd-Gegensatz noch zusätzlich 10 11 12 13 14 15
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Ebd., S. 302. Ebd., S. 303. Ebd., S. 216. Ebd., S. 217. Ebd., S. 218. Ebd., S. 220.
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durchkreuzt und geschwächt. Die spezifisch prekäre und teilweise offene Lage Deutschlands ist das Ergebnis eines Rückzugs aus einer vormaligen größeren Ausbreitung. Ratzel denkt dabei an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das sich zwischen Mittelmeer, Nord- und Ostsee erstreckte. Ursache für diesen Rückzug war die kulturelle Schwäche der deutschen Südwanderer, die sich gegen ihre Konkurrenten nicht behaupten konnten. »Deutschland stand zwischen Nord und Süd inmitten von zwei Interessenkreisen, die so fern voneinander lagen, daß sie nicht zugleich und mit gleicher Kraft vom Mittelpunkt aus zu beherrschen waren.«16 Ratzel rekonstruiert das Verhältnis von Volk und Boden als Resultat militärischer Eroberungszüge. Die frühesten geschichtlichen Bewegungen der Deutschen – wobei ›Deutsch‹ vereinfachend als Sammelbegriff unterschiedlicher germanischer Stämme herhalten muss – richteten sich zuerst nach Süden und Westen. Diese Bewegungen wurden von den Römern gestoppt und verwandelten sich dadurch in eine nördliche und östliche Bewegung. Die Römer ihrerseits versuchten nicht die Alpen zu überqueren, sondern zogen diesen entlang nach Westen und drehten dann nördlich von ihnen wieder nach Osten. »In dieser Verwandlung einer südnördlichen Bewegung in eine westöstliche liegt die größte geschichtliche Bedeutung der Alpen für Deutschland.«17 Deutschland wurde durch die Romanisierung und spätere Christianisierung in zwei geteilt, eine westliche und eine östliche Hälfte. »Damit erhebt sich ein westliches Deutschland, bevölkerter, blühender, in der Kultur reifer […] über ein östliches, das erst zu erschließen, zu erobern, für das Christentum zu gewinnen ist.«18 Der reich entwickelte Westen überragt den noch unfertigen Osten. Ein offener Raum, den es zu erobern gilt. Im Gegensatz zu Frankreich, das sein Wachstum als Nation deutlich früher abgeschlossen hat, und dies auch, weil es fast auf allen Seiten natürliche Grenzen hatte, bleibt Deutschland nach Osten hin offen: »das Deutschtum selbst schwankt vor und zurück und wird […] bis heute dort nicht fertig.«19 Diese radikale geopolitische Trennung liegt den nun folgenden Überlegungen zu einem in sich gespaltenen Deutschland zugrunde.
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Ebd., S. 215. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225.
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D IE DREIFACHE TRENNUNG Im dritten Kapitel von Die verspätete Nation, welches den Titel Nicht Staat, sondern Volk. Der römische Komplex trägt, entwirft Helmuth Plessner aus der spezifischen geopolitischen Lage Deutschlands dessen Geschichte in der Moderne. Im Zentrum dieser Argumentation steht ein einfacher territorialer Dualismus, welcher den Osten und Norden des Landes dem Westen und Süden gegenüberstellt. Obwohl die Ost-West-Achse im Mittelpunkt steht, muss auch ein Nord-Süd-Gegensatz mitgedacht werden. Plessner hält einleitend fest, dass drei europäische Länder nicht an der Staatenbildung des 17. Jahrhunderts teilgenommen haben: Spanien, Italien und Deutschland. Im »entscheidenden Zeitraum war das Schicksal gegen sie. […] Deutschland zerfiel in den Glaubenskämpfen, in dem Gegeneinander der Fürsten und der Kaisermacht. […] So bekam das Wort Volk […] einen besonderen Ton.«20 Dieses Wort nahm bei den drei erwähnten Ländern jedoch eine grundlegend andere Bedeutung an. Das deutsche Volk, so weiter Plessner, sei zwar real, aber nicht sichtbar. »Sein Wesen ist Einheit und schöpferischer Grund, bewegter Einklang im Bilde des Organismus. […] Schärfer als die romanischen Analoga drückt [dies] einen Protest aus gegen die politische Daseinsform der Deutschen durch Jahrhunderte des Partikularismus und der halben Lösungen gegen die innere religiöse Gebrochenheit, die ihr geistiges Leben auch noch jenseits des religiösen Bereichs entzweit hat.«21 Plessner spricht hier die fragmentierte Situation der politischen Landschaft Deutschlands an, die bis weit ins 19. Jahrhundert bestimmend war, und nennt eine erste radikale Trennung entlang religiöser Linien, die er unmittelbar an die römische Vergangenheit zurückbindet und deren Bedeutung weit über das rein Religiöse hinausreicht. Dieses vorgestellte deutsche Volk, das an ein ganz bestimmtes Gebiet gebunden ist, konstituiert sich weitgehend im Gegensatz zum Römischen »in allen seinen Abwandlungen. Rom erscheint […] als Gegenspieler des deutschen Volkes […].« Das heutige Gebiet Deutschlands wurde zum Teil romanisiert und später auch von der römisch-katholischen Kirche christianisiert. Dies gilt vor allem für den Süden und das Rheinland. Ein weiterer Teil wurde zwar nie von den Römern erobert und kolonisiert, teilweise aber dennoch christianisiert. »Von dieser Romanisierung hat sich ein Teil des Volkes in der Reformation befreit. […] Zweifellos meldet sich in dieser Feindschaft gegen das Römische nicht nur das unglückliche Bewußtsein der Deutschen […], es meldet sich darin ebenso sehr die reale Geschichte selbst. Östlich der Elbe liegt Kolonisationsgebiet. […] Deutschland tendiert 20 | H. Plessner, Die verspätete Nation, Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1974, S. 52. 21 | Ebd., S. 53.
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geistig nach Westen, seine Achse ist der Rhein, während seine politischen Möglichkeiten nach Osten weisen. Östlich der Elbe hat sich Preußens Geschichte entschieden, liegt Berlin. An diesem Auseinandertreten politischer und kultureller Blickrichtung leidet Deutschland.«
Die »Rheinlinie findet ihre historische Ergänzung in der Donaulinie. Köln und Mainz hängen kulturell enger mit Wien zusammen als mit Preußisch-Berlin. Diese Linie entspricht zugleich der Trennung in Gebiete mit vorwiegend katholischer und evangelischer Bevölkerung. Und sie folgt bedeutsamerweise der Richtung des Limes, der alten römischen Reichsgrenze.«22 Plessner suggeriert somit eine Entsprechung zwischen dem römischen Limes und der konfessionellen Grenze, welche den katholischen vom protestantischen Teil Deutschlands trennt. Dabei setzt er aber auch Zeichen, welche dieser klaren Gegenüberstellung ihre Absolutheit nehmen. So verweist er z.B. darauf, dass die Trennung in katholische und protestantische Gebiete allein aufgrund einer zahlenmäßigen Betrachtung zustande kommt. Denn bei genauerem Hinschauen wird hinter dieser klaren zahlenmäßigen Trennung zugleich so etwas wie eine grundsätzliche konfessionelle Durchmischung sichtbar. Auch was die Entsprechung der beiden Trennlinien angeht, kann man von verschiedenen Momenten der Überschneidung sprechen. So liegen jenseits des Limes Gebiete, die zwar nicht romanisiert, aber dennoch christianisiert wurden, und erst in einem zweiten Moment zur Zeit der Reformation gegen das römischkatholische Erbe antraten. Aus dieser doch eher vorsichtigen theoretischen Vorlage, die eine Entsprechung zwischen dem Limes und der konfessionellen Grenze von Katholiken und Protestanten suggeriert, hat Angelo Bolaffi, der Plessners Buch an verschiedenen Stellen zitiert, eine zugleich territoriale, staatliche und auf das einzelne Individuum bezogene Vision entwickelt, die die ursprüngliche Spaltung Deutschlands in das Herz eines jeden Deutschen und in die historische Gegenwart hineinträgt und zugleich eine Lösung dafür vorschlägt. Dabei spielt eine implizite, nicht weiter diskutierte metaphorische Verknüpfung von Land, Nation und Individuum eine zentrale Rolle. Allen drei wird dieselbe innere konstitutionelle Zerrissenheit attestiert. Das zuerst 1993 in Italien unter dem Titel Il sogno tedesco. La nuova Germania e la coscienza europea – Der deutsche Traum. Das neue Deutschland und das europäische Bewusstsein – erschienene Buch wurde 1995 in einer deutschen Übersetzung herausgebracht, deren Titel explizit auf die Ambivalenzen hinweist, die ich hier untersuchen möchte: Die schrecklichen Deutschen: Eine merkwürdige Liebeserklärung. Das Buch ist eine Reflexion über die Rolle des neuen wiedervereinten Deutschlands vor dem geschichtlichen Hintergrund der letzten hundert Jahre. 22 | Ebd., S. 54-5.
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Bolaffi attestiert Deutschland ein doppeltes Gefühl der Unsicherheit: das Fehlen eines Selbstbewusstseins und einer sicheren geographischen Lage. »Daher sein unruhiger Charakter, die ständige Versuchung, auf geopolitische Wanderschaft zu gehen, immer auf der Suche nach der eigenen Identität.«23 Diese Unruhe hat einen grundlegend irrationalen wilden Charakter der ›deutschen Seele‹ zur Folge. Schuld daran ist vor allem die schicksalhafte Mittellage Deutschlands. Deutschland ist die Quintessenz der europäischen Konflikte, das Schlachtfeld Europas, wo sich jahrhundertelang nicht nur die Heere, sondern auch die Kulturen stets gegenüberstanden. Bolaffi zitiert dazu eine Passage aus dem 1991 erschienenen Buch von Louis Dumont L’idéologie allemande. »Deutschland und die Seele eines jeden Deutschen sind das Schlachtfeld Europas. Das Deutschtum ist ein Abgrund. Ständig geteilt, von cuius regio, eius religio des Westfälischen Friedens bis zum ›Europäischen Bürgerkrieg.‹«24 Bolaffi, dem es darum geht, einen Weg aus dem verhängnisvollen unabwendbaren Schicksal Deutschlands zu finden, widerspricht diesem Urteil nicht, sondern sucht nach einer anderen deutschen Geschichte. Das andere Deutschland ist das liberale kosmopolitische Deutschland, das Land der Aufklärer, das »niemals den Verlockungen eines Lichts, das aus dem Osten kommen sollte, nachgegeben hat, sondern das im Gegenteil immer nach Westen geblickt hat«.25 Bolaffis Rettungsversuch, der darin besteht, dem autoritären östlichen das liberale westliche Deutschland gegenüberzustellen und daraus so etwas wie eine zweite Chance für das Land abzuleiten, endet in einem problematischen theoretischen Dualismus und einer vereinfachenden Gleichsetzung von Land und Leuten: eine merkwürdige Liebeserklärung. Die Ängste, welche die Auflösung der internationalen Nachkriegsordnung und die damit einhergehende Wiedervereinigung Deutschlands mit sich brachten, sollen in Bolaffis Vorstellung durch einen Hinweis auf die zivilisierende Wirkung der Rheinrepublik Konrad Adenauers gelindert werden. In der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Mauerfall haben die Deutschen die einmalige historische Chance gehabt, den tiefsitzenden preußisch-protestantischen Militarismus Bismarcks und die damit einhergehenden Schrecken des asiatischen Despotismus endgültig abzulegen. Die Mittellage Deutschlands, der eigentliche Geburtsfehler des Landes, war ein verhängnisvoller Irrtum, der für die allgemeine deutsche Tendenz zum Übermaß, zu Starrsinn und Übertreibung verantwortlich war. Die fast 30-jährige Aufspaltung des Landes hat jedoch die Grundlage für eine kulturelle und politische Wiedergeburt gelegt. 23 | A. Bolaffi, Die schrecklichen Deutschen. Eine merkwürdige Liebeserklärung, Berlin 1995, S. 17. 24 | Zitiert in ebd., S. 18, aus L. Dumont, L’idéologie allemande, Paris 1991, S. 88. 25 | Bolaffi, Die schrecklichen Deutschen, S. 19.
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»Konrad Adenauer, dem katholischen Rosen- und Italienliebhaber, gelang es, die Deutschen von ihrer Vergangenheit zu befreien und Deutschland von seiner Geographie. Mit ihm begann eine ›andere deutsche Geschichte‹, sie ging in umgekehrte Richtung als jene, die Bismarck 1871 begonnen hatte. […] Der ehemalige Oberbürgermeister von Köln […] der ›römischsten‹ der deutschen Städte […] hat das erstaunliche Werk vollbracht, Deutschland zu ›verwestlichen‹, indem er ein für allemal seiner fatalen Neigung zum ewigen Wandern zwischen Ost und West […] ein Ende setzte.« 26
Dies wurde möglich dank der Aufspaltung des Landes in einen westlichen und einen östlichen Teil: »Die Teilung Deutschlands war […] zur Voraussetzung geworden für die politisch-geistige Verwestlichung der Gebiete diesseits der Elbe […]. Auf diese Weise befreite Adenauer die Deutschen von der Verantwortung, Deutsche zu sein.«27 Im zweiten Teil seines Buches – »Von Lessing bis Hitler« – rekonstruiert Bolaffi den spezifisch deutschen Weg, die Abwendung von den kosmopolitischen Idealen der Aufklärung des 18. und die Hinwendung zum extremen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Bolaffi spricht in diesem Zusammenhang von einem germanozentrischen Bazillus, der eine verhängnisvolle polemische Entfernung des Landes von den Werten des Westens zur Folge hatte. Besonders interessant im hier behandelten Zusammenhang ist der Abschnitt Das protestantische Reich. Hier führt Bolaffi Plessners Verbindung des römischen Limes mit der konfessionellen Grenze von Katholiken und Protestanten ein und fügt ihr die Trennung in eine westliche kapitalistische und eine östliche kommunistischste Welt hinzu. Dadurch ergeben sich zwei vierteilige Entsprechungsreihen und so etwas wie eine zweifache Geschichte Deutschlands, auf der Grenze von Zivilisation und Barbarei: westlich-römisch-katholisch-kapitalistisch und östlich-germanisch-protestantisch-kommunistisch. Dass es dabei immer wieder Überschneidungen und Vermischungen gegeben hat und dass die gesamte Geschichte Deutschland wohl kaum auf einen so einfachen Dualismus zurückgeführt werden kann, wird von Bolaffi leider nirgends angesprochen. Das Schlüsselwort ist dabei Protest, die eigentliche Erbsünde Deutschlands, die direkt aus ihrer territorialen Lage hervorzugehen scheint. »Der protestantische Geist Luthers ist das eigentliche Geheimnis der deutschen Ideologie: seine Autoritätsgläubigkeit, sein erbarmungsloser Moralismus, seine absolute Geringschätzung der irdischen Güter, seine ausgesprochene Intoleranz und seine Feindschaft gegen die Idee des Kompromisses haben den deutschen Geist von Grund auf geformt.«28 Der lutherische Protestantismus 26 | Ebd., S. 58-9. 27 | Ebd., S. 64. 28 | Ebd., S. 98.
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ist in dieser Sicht nur eine Variante einer allgemeinen deutschen Haltung, der polemischen Beziehung Deutschlands zur Welt, der Haltung des Protests. Deutschland ist das protestierende Reich an sich. »Deutschland hat nur ›eine‹ Aufgabe und hat sie auch früher und immer gehabt. Es ist sein ›Protestantismus‹, – nicht bloß die Formel dieses Protestantismus, wie sie sich unter Luther entwickelt hat –, sondern sein ständiger Protestantismus, sein ›ewiger Protest‹, erst gegen die römische Welt schon unter Arminius, gegen alles, was vom alten Rom auf das neue Rom übergegangen ist und gegen alle die Völker, die von Rom seine Formel und sein Element übernommen haben, gegen die Erben Roms und gegen alles, was dieses Erbe ausmachte.‹ […] Berlin gegen Rom also. Die geistige Auseinandersetzung Deutschlands mit Europa. […] Der Limes wurde zu einer Art geistigem und kulturellem Grenzwall, unsichtbar, aber sehr hoch, dazu bestimmt, auch in den kommenden Jahrhunderten Konsequenzen größten Ausmaßes zu haben, etwa für die Reformation. Es ist in der Tat kein Zufall, daß der Limes zur Demarkationslinie wurde, welche die Gebiete unter der Einflußsphäre des Protestantismus von jenen trennte, die dem römischen Katholizismus treu geblieben waren.«
Deutschland selbst wurde »durch den eigenen Protest durchschnitten und zweigeteilt [zum] Schauplatz der geistigen und religiösen Auseinandersetzungen […] vor allem zwischen den katholischen und den protestantischen Deutschen. Deutschland war nie ein Monolith, allenfalls ein Janus.« Deutschland wurde zum »Schlachtfeld der europäischen Bürgerkriege […], angefangen mit dem Dreißigjährigen bis hin zum Kalten Krieg, der den Limes noch einmal zu einer Demarkationslinie von größter geopolitischer Bedeutung werden ließ: zur Grenze zwischen Ost und West.«29 In der folgenden Passage, die ich abschließend zitieren möchte, wird die janusartige territoriale Konstitution Deutschlands mit der geistigen Identität des Landes und indirekt auch derjenigen jedes einzelnen Deutschen wie schon in der zuvor zitierten Passage Dumonts kurzgeschlossen. »Andererseits war historisch gerade diese ›Zweideutigkeit‹ der wahre Grund für die Schwäche der politischen und geistigen deutschen Identität. […] Aus der Instabilität der geographischen Identität der deutschen Nation […] wurde eine Instabilität der geistigen deutschen Identität. […] Die Geschichte Deutschlands ist in der Tat seine Geographie. Ferdinand Braudel sprach im Hinblick auf die deutsche Situation gern von ›déterminisme géopolitique‹. Und diese geographische Unsicherheit ist ihrerseits zum Ursprung einer ›Identitätsneurose‹ geworden.« 30
29 | Ebd., S. 100ff. 30 | Ebd., S. 102ff.
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Damit wird aus der spezifischen janusartigen Logik des deutschen body geographic nicht nur die Funktionsweise seines body politic, sondern, so scheint es wenigstens, auch die psychische Konstitution des einzelnen Bürgers abgeleitet. Die Metaphern des landschaftlichen und nationalen Körpers und die psychische Konstitution werden übereinander kopiert. Dabei enthält das Problem zugleich dessen Lösung. Der barbarische östliche germanische Teil, der sich seit der Reformation immer wieder mächtig zu Wort gemeldet hatte, wird durch den zivilisierten westlichen römischen am Ende doch noch geheilt und erlöst. Die Identitätsneurose wird – auch im deutschen Menschen selbst – dadurch gelöst, dass die ursprüngliche Spaltung in einer letztlichen Versöhnung aufgehoben wird, bei welcher der wilde Teil am Ende vom römisch-katholischen, wenn auch verspätet, doch noch kolonisiert und christianisiert wird. Damit werden – symbolisch wenigstens – die Reformation und deren entfremdende Folgen rückgängig gemacht und die Gebiete jenseits der Elbe der römischen westlichen Welt zugeführt.
D ER O STEN ALS WÜSTENHAF TE S TEPPE In den einleitenden Bemerkungen zu Das ›Prinzip Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raumes31 haben die Herausgeber einige der wichtigsten Aspekte dieses höchst ambivalenten symbolischen Raumes festgehalten. Der Osten steht für Licht und Erlösung, aber auch für Geheimnis und Barbarei, es ist ein Ort der Verheißung, des Überflusses, des Rausches und der Ekstase, aber auch der Bedrohung durch das Irrationale, der Garten Eden und zugleich die Hölle. Aus dem Osten droht, so Joseph Goebbels, der ›Ansturm der Steppe‹.32 Der Osten ist aber auch ein Ort der Kolonisation, Lebensraum für die deutsche Bevölkerung. Als ein diskursiv hervorgebrachter Raum ist der ›Osten‹ zwar geographisch lokalisierbar, aber als Prinzip nahezu allgegenwärtig. Da er nicht nur räumliche Assoziationen evoziert, sollte er nicht allein als Raumkategorie bestimmt werden. Als Raumparadigma steht er zugleich für Leere und unendliche Weite. Er verkörpert ein exterritoriales Prinzip der Ursprünglichkeit eines noch nicht durch die Zivilisation verdorbenen Raumes, eines reinen Kampf-, Erprobungs- und Gründungsraumes. Die spezifisch damit assoziierte Landschaft ist meist die Steppe, welche für eine bedrohliche Leere und die Möglichkeit, verschlungen und vernichtet, aber auch erneuert und verändert zu werden, einsteht: Neuschaffung und Vernichtung in einem. Die Steppe ist ein unbeherrschbarer Raum, der durch seine Weite bedrohlich 31 | G. Gebhard, O. Geisler und S. Schröter (Hg.), Das ›Prinzip Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raumes, Bielefeld 2010, S. 9-20. 32 | Vgl. ebd., S. 16.
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wirkt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Flutmetapher. Der Osten ist eine Quelle unüberschaubarer, potenziell feindlicher Menschenmassen. Die östliche Flut droht, überkommene Ordnungen wegzuspülen. Diese aus dem Osten heranrollenden gefährlichen Fluten verlangen nach einem Bollwerk, nach Eindämmung und Schutz. Auch in dieser Hinsicht ist der Osten ein ambivalenter Raum: Seine Leere ist unbeherrschbar und die aus ihm hervordrängenden Massen überwältigend. Benno Nietzel33 hat die spezifische Bedeutung des Ostens für die deutsche geopolitische Tradition aufgearbeitet. Unter den Nazis wird der Osten vor allem zur strukturlosen Tabula rasa. Diese Vorstellung hat aber eine längere Vorgeschichte: Die deutschen Ostsiedlungen im Mittelalter, der kulturelle und militärische Wettkampf zwischen Deutschen und Slawen, die Vorstellung der Deutschen als Kulturbinger, die Ostsiedlungen als grundsätzlich deutscher Boden, den man einfach nur zurückzuerobern brauchte, sind einige Elemente dieser Tradition. In dieser Vorstellung waren die Landschaften östlich der Elbe vor den spätantiken Völkerwanderungen schon von einer urgermanischen Bevölkerung bewohnt gewesen, die diesem Raum unwiderruflich ihren Stempel aufgeprägt hatten. So schreibt z.B. 1862 der deutsche Historiker und politische Publizist Heinrich von Treitschke (1834-1896) in Das deutsche Ordensland Preußen: »Es weht ein Zauber über jenem Boden, den das edelste deutsche Blut gedüngt hat im Kampfe für den deutschen Namen und die reinsten Güter der Menschheit.«34 Die im Osten versprengten deutschsprachigen Minderheiten hatten das Land nicht nur besiedelt, sondern ihm auch einen eindeutig deutschen Charakter verliehen. Diese Siedlungstätigkeit im Osten Europas hatte zudem über das von Deutschen bewohnte Territorium hinaus gewirkt. Albrecht Penck spricht in diesem Zusammenhang von deutschem Volks- und Kulturboden.35 Dieser spezifisch deutsche Kulturboden zeichnet sich durch eine besonders sorgfältige Anbauweise, Pflege und Bewirtschaftung des Bodens aus und umfasst ein Gebiet, das weit über das Territorium Deutschlands hinausreicht und neben Österreich die gesamte deutsche Schweiz, ElsassLothringen, Tschechien, das Südtirol, Teile von Slowenien, Ungarn, Polen, die Slowakei und Rumäniens umfasst: Ein landschaftlicher Diskurs, der imperiale Ansprüche verbirgt. Die östliche Grenze ist eine hin und her wogende Linie, an der sich das deutsche Wesen immer wieder zu bewähren hatte. Man hatte sich den Osten 33 | B. Nietzel, Im Bann des Raums. Der ›Osten‹ im deutschen Blick vom 19. Jahrhundert bis 1945, in: Das ›Prinzip Osten‹. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raumes, hg. von G. Gunther, O. Geisler und S. Schröter, Bielefeld 2010, S. 21-49. 34 | Zitiert in ebd., S. 26, aus Heinrich von Treitschke, Das deutsche Ordensland Preußen, in: Preußische Jahrbücher 10, 1862, S. 95f. 35 | Vgl. ebd., S. 36.
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als monolithischen Block vorgestellt, war aber auf eine verwirrende unordentliche Mischung unterschiedlicher Völker gestoßen, die nach einem ordnenden Eingriff verlangte. »So erscheint der Ostraum einerseits als bereits von Deutschen tief durchdrungen. Auf der anderen Seite erscheint der Osten gleichzeitig als eine weiße tabula rasa, die keinerlei Strukturen aufweist und sich als beliebig gestaltbar darstellt.«36 Dies bestätigt zugleich die Vorstellung einer deutschen Vormachtstellung und die Notwendigkeit einer zivilisatorischen Mission im Osten.
D AS G ESAMTDEUTSCHE Ein Versuch, diese Grenze terminologisch wenigstens in den Griff zu bekommen, unternahm der 1878 in Wien geborene Historiker Heinrich von Srbik.37 Srbik entwickelte als Alternative zu den historischen Begriffen ›kleindeutsch‹ und ›großdeutsch‹ – welche ein von den Preußen und Hohenzollern bzw. von Österreich und den Habsburgern geführtes Deutschland umschrieben – den Begriff des ›Gesamtdeutschen‹, auf der Grenze von nationalen und übernationalen Vorstellungen. ›Gesamtdeutschland‹ ist zuerst einmal nicht so sehr ein politischer oder historischer als ein ethnischer und kultureller Begriff, umfasst er doch alle, die in Mitteleuropa Deutsch sprachen. Die gesamtdeutsche Vorstellung hat zwei Seiten: eine rein deutsche und eine mitteleuropäische. Der rein deutsche Aspekt steht im Widerspruch zum Pluralismus und der formlosen Vielheit der verschiedenen Formen des Deutschen, insbesondere zu dem historischen Gegensatz von Preußen und Österreich, für die Srbik, dem ein kultureller Pluralismus unter deutscher Vorherrschaft vorschwebte, einen gemeinsamen Nenner suchte. Diesen fand er im Ethnischen. In Srbiks Vorstellung ersetzte das Volk – die ethnische Gruppe – die Nation. Der zweite Aspekt des Begriffs ›gesamtdeutsch‹ hat mit der Beziehung von Nation und übernationalem Ideal zu tun. Für Srbik war Mitteleuropa eine uneinheitliche, aber äußerst weit gedachte Region, die im Norden von der Ostsee, im Süden von der Adria, im Westen vom Rhein und seinen Zuflüssen und im Osten von einer Linie begrenzt war, die ungefähr von Riga nach Odessa verlief. Ein riesiges Gebiet also, das nicht nur Deutschland, sondern auch Teile der baltischen Republiken, Polen, Rumänien und Teile der heutigen Ukraine umfasste. Der westliche Teil dieses Gebiets war nach Srbik einheitlich deutsch, während der östliche Rand, der zwischen einer geraden Linie, die von Danzig 36 | Ebd., S. 36. 37 | Vgl. dazu R.J. Ross, Heinrich Ritter von Srbik and »Gesamtdeutsch« History, in: The Review of Politics, vol. 31, n° 1, Januar 1969, S. 88-107 und C. Magris, Donau. Biographie eines Flusses, München 1988, S. 32-34.
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nach Triest verlief, und der schon erwähnten östlichen Grenze Mitteleuropas zu liegen kam, eine Übergangszone unterschiedlicher nationaler Gruppen darstellte. Abgesehen von den Deutschen im Westen war keine der anderen Gruppen homogen. Das Deutsche avancierte dadurch zu einem gemeinsamen übernationalen Nenner. Daraus leitete Srbik die historische Mission der deutschen Kultur ab, die darin bestand, die unterschiedlichen Völkerschaften zu vereinigen. Auffallend an diesen territorialen Abgrenzungen ist die Tatsache, dass allein die beiden östlichen Grenzen willkürlich gezogene Linien darstellen, während die anderen Grenzverläufe weitgehend als natürlich wahrgenommen werden und auch den damaligen nationalen Grenzlinien entsprechen und dies, obwohl Sbrik an anderer Stelle auf die Abwesenheit einer festen westlichen Grenze hinweist.38 Srbik schneidet aus dem europäischen Raum seiner Zeit ein weites, von vielen Völkern bewohntes Gebiet aus und zerteilt es anhand zweier gerader Linien in zwei Teile. Die westliche Grenze respektiert weitgehend historisch zustande gekommene geopolitische Tatsachen, die östliche hingegen markiert einen offenen – unter Umständen noch zu erweiternden – territorialen Anspruch. Die zweite mittlere, ebenso willkürlich gezogene Linie trennt das rein deutsche Mutterland von einer vagen Pufferzone, Schutz vor östlichen Eroberungswünschen – Srbik spricht vom »vorgeschobene[n] Keil des Westslawentums«39 – und zugleich Tor für weitere deutsche Kolonisationsversuche. Eine »Übergangs- und Mischzone zwischen dem eigentlichen Mitteleuropa […] und dem unzweifelhaften Osteuropa ein ›Zwischeneuropa‹, das etwa durch die Linien Danzig-Triest und Riga-Odessa bestimmt ist und durch das Streudeutschtum für uns gekennzeichnet ist.«40 Eine vergleichbare territoriale Trennung findet sich bei Willy Hellpach, der sich dabei auf das Werk des deutschen Eugenikers Hans Friedrich Karl Günthers (1891-1968) bezieht. Der »ostische Meridian«, wie ihn Hellpach nennt, trennt Europa messerscharf in zwei völlig verschiedene Teile. Er verläuft vom Nordkap über Görlitz bis nach Triest und stellt das dar, was Hellpach eine »opographische« Grenze nennt, ein Neologismus der vom griechischen ops, Gesicht, kommt. Östlich von dieser Linie leben slawische und sarmatische Völkerschaften.41 In Österreich in der deutschen Geschichte entwickelt Srbik seine Vision Gesamtdeutschlands als Synthese und »Verbindung bisher getrennter deutscher
38 | H. von Srbik, Mitteleuropa. Das Problem und die Versuche seiner Lösung in der deutschen Geschichte, Weimar 1937, S. 5. 39 | Ebd., S. 4. 40 | Ebd., S. 6. 41 | Vgl. Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 121.
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Lebensströme.«42 Die organische Metapher weiterdenkend spricht Srbik von einer »Blutsverbundenheit über die staatlichen Grenzen hinaus.«43 Und weiter: »Österreich hat aus dem Mutterboden Altdeutschlands unschätzbare physische und geistige Kraft gesogen, es hat aber auch sehr Bedeutsames für die Entfaltung gesamtdeutschen Blutes, Raumes und Geistes geleistet. Das deutsche Blut war das Staatsbildende und es war das schöpferische Element auch in kulturellem Gebiete; es war der bedeutsamste Einschlag auch in den Mischungen, die österreichisches Deutschtum mit anderem Blute einging.« Damit ist das Konzept Gesamtdeutschlands auch biologisch abgesichert: gemischt zwar, aber mit einer dominanten deutschen Grundierung. Srbik, der sich von den Vorstellungen der Geopolitik distanziert, stellt der Logik geographischer Räume die Tat des Menschen gegenüber. So kritisiert er das Konzept des durch die Donau hervorgebrachten und zusammengehaltenen Raums der Doppelmonarchie, stellt diese doch den Sonderweg dar, der Österreich »zum ostmitteleuropäischen Eigenstaat im ›Donauraum‹ werden«44 ließ. Diese »kulturelle Sonderung« steht der »gesamtdeutschen Kulturverbundenheit« diametral entgegen. Dies führt Srbik zu einer Kritik jeder Form von reinem geographischen Determinismus. »[…] eine Art von Prädestinationslehre der Gebirge und Ebenen, Stromläufe und Grenzbastionen [vergisst] die Tatsache, daß Österreich erst zum auf sich gestellten Donaustaat geworden ist, daß hier im Verlaufe einer sehr wechselvollen Entwicklung verschiedene politische Räume mit eigener Natur zu einem staatlichen Donauraum-Gebilde zusammengeschlossen worden sind, und daß die Eigenart dieser Räume und der politischen Willenstendenzen in ihnen keineswegs nur durch eine natürliche Gravitation nach der verbindenden Donau hin bestimmt war.« 45
Dennoch beschwört er kurz darauf das Bild der großen geographischen Einheit Österreich-Ungarns weitgehend in militärischen Landschaftsmetaphern, die eine natürliche innere Kohärenz von geographischen und politischen Gegebenheiten nahelegen. Diese Einheit ist zusammengesetzt »aus drei großen, wieder in sich einheitlichen geographischen Elementen, den Ostalpenländern, dem böhmischen Massiv und den ungarischen Tiefländern, sie alle durch Gebirgswälle nach außen abgeschlossen und gegen das Wiener Becken zu geöffnet, geschützt von den mächtigen natürlichen Festungen Bosnien, Sieben-
42 43 44 45
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H. von Srbik, Österreich in der deutschen Geschichte, München 1939, S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8-9. Ebd., S. 10.
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bürgen, Böhmen und Tirol […] verbunden durch die große Verkehrsader der Donau.«46
D ER S TEPPENGEIST In Die Geopolitik der Literatur untersucht Niels Werber47 das Verhältnis von Meer, Wüste und Steppe als landschaftliche Gegenspieler eines bäuerlichen Deutschlands. Den wohl bepflanzten Ländereien des zivilisierten Westens steht die asiatische Steppe, die »meerhafte Weite der eurasischen Tiefebene«48 gegenüber. Dieser landschaftliche Gegensatz wird mit einem ethnisch-kulturellen verknüpft. So hat Walther Darré, Reichsführer der deutschen Bauernschaft, in 1933-1934 geführten Reden das Germanisch-Bäuerliche dem JüdischNomadischen entgegengesetzt.49 Werber findet Spuren dieses Diskurses auch in Gustav Freytags Roman Soll und Haben aus dem Jahr 1855. Polen wird dort als eine Wüste, ein unbegrenzter kulturloser Raum beschrieben: eine slawische Sahara. Juden und Slawen werden damit als Völkerschaft in eins gesehen und kurzerhand derselben Landschaft zugeschrieben. Auch Walther Darré vergleicht die Slawen mit parasitären Nomadenvölkern und stellt der germanischen Verwurzelung das slawisch-jüdische Nomadentum gegenüber. Adolf Hitler bemühte 1937 ebenfalls die Metapher der Wüste, als es darum ging, die weiten Ebenen des Ostens zu beschreiben. Obwohl dort Millionen von Menschen ansässig sind, wird das Gebiet als offener, leerer Raum wahrgenommen. Das östliche Mitteleuropa ist eine Wüste, hier beginnt die asiatische Steppe. Der Osten wird darüber hinaus mit dem amerikanischen wilden Westen gleichgesetzt, seine Einwohner gleichen über das weite Gebiet verteilten nomadischen Indianerstämmen. Da die Bevölkerung des Ostens weitgehend aus einem heterogenen Konglomerat verschiedenster Nationalitäten und unterschiedlichster Völker besteht, kann man sie wie Indianer behandeln und von ihren angestammten Gründen vertreiben. Die Eroberung des Ostens gleicht somit der früheren Eroberung Amerikas, von der sie metonymisch auch den zweifelhaften Eroberungs- und Kolonisierungscharakter übernimmt. Polen und Russland sind Deutschlands ›Frontier‹. Wie die indianischen Stämme der nordamerikanischen Prärie haben auch die weitgehend als nomadisch wahrgenommenen Völkerschaften des Ostens sich den Raum eigentlich nie angeeignet und können deshalb von den erobernden Kolonisatoren leicht hinweggefegt 46 | Ebd., S. 10. 47 | Werber, Die Geopolitik der Literatur. 48 | Zitiert in ebd., S. 160, aus L. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948, S. 85. 49 | Ebd., S. 149.
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werden. Der kriegerische Wind wird sie wegblasen wie dürres Gebüsch. Sie sind wurzellos, denn auch sie, wie die Juden, haben keine organische Verbindung mit dem Boden. Damit wird der Weg für die sesshaften kolonisierenden Bauern aus dem germanischen Westen geöffnet. Durch deutsche Bauernhöfe soll der Osten erobert werden, um ihn in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Durch die »Transformation der polnischen Wüste in blühende Landschaften« haben »die ›Indianer‹ der polnischen Steppe dann freilich nichts mehr zu suchen«.50 Die Verwendung der Metapher des Stammes für die slawische Bevölkerung des Ostens ermöglicht nicht nur eine Verbindung mit dem Nomadischen und Jüdischen, sondern hebt auch das Heterogene, Chaotische und Flüssige hervor, das der stabilen geordneten Homogenität des Germanischen gegenübersteht. Die deutschen Siedlungen sind Inseln im polnischen Meer und die deutschen Eroberer des Ostens haben, wie es in Freytags Soll und Haben heißt, »aus verkommenen oder zertrümmerten Stämmen […] dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine lebendige Macht geschaffen«, einen Staat, der jedoch trotz drohenden Kriegen »nicht wieder in die Trümmer zerschlagen« wird, »aus denen er herausgewachsen« ist. [Herv. d. Verf.]51 Als ein zutiefst bäuerliches Volk neigen die Deutschen52 zur innigen Pflege des Landes. Durch ihre Bemühungen versuchen sie, das Land in einen Garten zu verwandeln. Kein Volk der Welt, schreibt Heinrich Friedrich Wiepking-Jürgensmann (1891-1973), deutscher Landschaftsarchitekt und Hochschullehrer, sei pflanzenhafter mit einer lebensbejahenden und schönen Umwelt verwurzelt als das germanische.53 Der hochstehende deutsche Mensch zeichne sich durch sein harmonisches Verhältnis zur Natur und seine hohe Naturverbundenheit aus. Bei anderen Völkern stoße man oft auf ein Unvermögen, auf die Umwelt schützend und pflegend einzugehen, ja sogar auf eine Haltung, die durch Raubbau und Verwüstung charakterisiert sei. Besonders bei Juden und Slawen könne man stets ein Zuviel oder ein Zuwenig im Umgang mit Landschaft feststellen: parasitäre Raubnutzung einerseits und beziehungsloses nomadisches Umherschweifen andererseits. Das nicht vorhandene Landschaftsgefühl bei anderen Völkern rechtfertigt deren Vertreibung zum Zwecke einer Umgestaltung der vernachlässigten oder beschädigten Umwelt. Die Folge dieses exzessiven Umgangs mit Landschaft, so Wiepking-Jürgensmann, seien verwüstete Raublandschaften und kahle öde Steppen. Dabei bestehe zudem die Gefahr, dass diese Landschaft invasionsartig aus dem Osten in den Westen übergreifen könnte. Die austrocknenden Winterwinde würden ungehindert in den Westen hinein wehen und dadurch die Steppe weiter50 51 52 53
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Ebd., S. 165. Zitiert in ebd., S. 162, aus G. Freytag, Soll und Haben, München 1953, S. 523. Gröning und Wolschke-Bulmahn, Die Liebe zur Landschaft, S. 125-156. Vgl. ebd., S. 122.
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tragen. Wiepking-Jürgensmann vergleicht die Landschaft mit einem Gesicht. Er verwendet diese Metapher aber nicht nur, um auf die innere Harmonie der Teile, sondern vor allem auf die dort hinterlassenen Schadensspuren hinzuweisen. Die Morde und Grausamkeiten der osteuropäischen Völker seien messerscharf in die Fratzen ihrer Landschaften eingefurcht.54 Dies erfordere eine umfassende vollkommene Umgestaltung der sterilen Halden und der ekligen Gewässer des Ostens, wenn nicht eine erstmalige Gestaltung.55 G. Gröning und J. Wolschke-Bulmahn bemerken zurecht, dass Wiepking-Jürgensmann in seinen kritischen Bemerkungen verschweigt, dass viele der hier kritisierten Ostgebiete bis 1914 zum deutschen Reich gehörten, womit die vom ihm bemängelte Verödung und der beklagte Raubbau nicht einfach auf den Eingriff fremder Völker zurückzuführen seien. Wiepking-Jürgensmanns propagandistische Kampfschrift Gegen den Steppengeist, auf die ich hier zum Schluss noch eingehen möchte, wurde 1942 in der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps veröffentlicht.56 »Es gibt nichts Kennzeichnenderes für ein Volk als die Landschaft, die es sich schuf, in der es arbeitet und wohnt. An der Landschaft erkennen wir des Volkes ganzes Wesen bis in die letzten Ausstrahlungen seiner Seele, all seiner Gefühle hinein. Messerscharf trennen sich in der Landschaft die Geister und Kräfte menschlicher Rassen. Eine Kulturlandschaft ist ein Erzeugnis […] unendlich wahrhaftiger und zutreffender als geschriebene Geschichte […]. Hat ein Volk seine alte, arteigene Wesenslandschaft verloren, so ist seine Geschichte nicht mehr von Bedeutung. Das Volk hat geschichtlich nichts mehr zu sagen […]. Landschaft ist Geschichte, und Geschichte ist Landschaft.«
Nach dieser lapidaren Gleichsetzung von Volk und Landschaft, die jeweils als monolithische Blöcke aufgefasst werden, bestimmt Wiepking-Jürgensmann zwei grundsätzliche Haltungen Landschaft gegenüber. Es gibt tätige und lässige Völker, Bodenpfleger und Bodenräuber. »Deutschland kämpft seit zwei Jahrtausenden einen erbitterten Kampf gegen echte Räubervölker, gegen die Völker der Steppe. […] Der Geist der Steppe, die Raubgier ist jedoch weit ins Land gezogen […]. Heuschreckengleich überfielen die Völker der Steppe sengend und mordend die grünen Länder der Steppenumrandung. […] In den östlichen Gebieten sind oft mitunter mehr als die Hälfte der Landflächen 54 | Vgl. ebd., S. 130. 55 | Vgl. ebd., S. 134-5. 56 | H. Wiepking-Jürgensmann, Gegen den Steppengeist, in: Die Liebe zur Landschaft Teil III: Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landespflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges in den ›eingegliederten Ostgebieten‹, hg. von G. Gröning und J. Wolschke-Bulmahn, München 1987, S. 229-236, aus Das Schwarze Korps, Folge 42.
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›begrabene‹, ehemals beste Mütterböden, die durch Zuschwemmungen und Aufwehungen eingedeckt wurden.« In dieser öden unfruchtbaren chaotischen Welt spielt das ordnende und heilende Prinzip des Waldes einmal mehr eine zentrale Rolle, zum einen als mythische Ursprungslandschaft, dann aber auch als mögliches Gegengift. Die »Urlandschaft des Waldes«, schreibt Wiepking-Jürgensmann, bildete sich nach der Eiszeit heraus. »Es bestand eine festgefügte Ordnung, eine Einheit von Boden, Klima und Pflanzendecke. In dieses natürliche Gefüge griff der Mensch ein und schuf sich seine Kulturlandschaft.«57 Durch Rodung, Brand und Weidegang des Viehs wurde der Wald langsam aber stets gelichtet. Dieser kulturstiftende Eingriff in das natürliche Milieu geriet jedoch außer Rand und Band, als Völkerschaften das Gebiet besetzten, denen jeder Sinn für pflegende Nachhaltigkeit abging. Ziel der deutschen (Rück-)Eroberer ist es, die alten guten Mütterböden wieder nach oben zu befördern und schützende Grenzwälder gegen den Steppenwind anzulegen.
57 | Ebd., S. 230ff.
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Graben und Band Landschaften als Modelle
»Auf meiner Landkarte sind Täler Orte, an denen sich der Fortschritt ausdehnt und dann stagniert. […] Täler auf meiner Landkarte sind Lager, Konserven von Informationen. Traditionell konservativ. Auf meiner Landkarte läuft der Fortschritt bergauf, damit er in den engsten Tälern erhalten bleibt.« V ILÉM F LUSSER , Vogelflüge
Landschaften können in ihrer jeweilig anderen topographischen Ausgestaltung, den Bewegungsvektoren, die sie definieren, und dem metaphorischen Horizont, den sie dadurch eröffnen, als Modelle verwendet werden, anhand derer differenzierte Aussagen über unterschiedliche soziale Zusammenhänge gemacht werden können. In diesem Kapitel sollen Beispiele für diese spezifische Funktion von Landschaften angeführt werden. Dabei möchte ich die drei zentralen Landschaftstypen der vorliegenden Arbeit in diesem Sinne näher untersuchen: den Berg, den Wald und den Fluss. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die topographische Ambivalenz von Flüssen, die anhand der unterschiedlichen Konnotationen des Rheins und der Donau aufgeschlüsselt werden soll. Anfangen möchte ich mit Vilém Flussers Verwendung von Landschaften als Modelle der Kommunikations- und Informationstheorie.
T ÄLER , E BENEN UND B ERGSPIT ZEN In der Essaysammlung Vogelflüge benutzt Vilém Flusser das Tal, sein Verhältnis zur Ebene und seine Zwischenlage auf dem Weg vom Flachland zur Bergspitze, um daraus ein Modell der Kommunikation zu entwickeln, das zugleich eine Beschreibung des jeweiligen sozialen Zusammenhaltes ist. Flusser setzt den Landschaftsvergleich ein, um unterschiedliche Konzepte zu veranschaulichen. »Täler sind gegliedert. Sie sind eng und von Hindernissen umgeben,
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die nur wenige und schwierige Durchgänge zulassen. […] Nicht weil die Täler ›klein‹ sind, sondern weil sie gegliedert sind, eignen sie sich nicht für die Massenkultur. Folglich ist der massenbildende Fortschritt in der Ebene dazu bestimmt, in den Tälern artikuliert (›humanisiert‹) zu werden.« Die einzelnen Täler bilden zwar in sich geschlossene Universen mit eigener Flora und Fauna, eigenen Sitten und Gebräuchen, sie sind aber über die allen zugängliche Ebene miteinander verbunden, wie die Speichen eines Rades durch die zentrale Nabe. Täler isolieren sich nicht vom Rest der Welt, sondern beheimaten, weil sie auf Umwegen miteinander in Verbindung stehen. »Das unterscheidet wahrscheinlich die Kulturen, die im Gewebe (Netz) enger Täler sprießen, von den Kulturen der Ebenen; sie sind ›konföderativ‹ und nicht ›föderal‹ wie jene. So unterscheiden sich z.B. die griechische, jüdische, tibetische, die Toltekenund Inkakultur von der römischen, mesopotamischen, Maya-, Hindu- und Chipchakultur. Folglich ist die ›Zivilisation‹ der Ebene dazu bestimmt, in den Tälern kultiviert zu werden.« Aus diesem Grunde sind Täler keine Orte des Rückzugs und des Stillstands, wie man in der Regel annimmt, sondern Orte, wo Informationen kontinuierlich umgeschrieben und neu strukturiert werden. »Für die Kommunikationsforschung sind Täler Orte, in denen der Diskurs der Ebene zum Dialog wird. Deswegen sind Täler Orte der Dichter und Denker, von Heraklit bis zu Nietzsche […].« In Flussers Kommunikologie sind Dialog und Diskurs zwei fundamentale Kommunikationsformen, die einander voraussetzen. Werden im kleinen überschaubaren Raum des Dialogs neue Informationen hergestellt, so werden diese im Diskurs gesammelt, auf bewahrt und von dort aus weitergegeben. Dialoge kommen ohne die Informationen, die der Diskurs bereitstellt, nicht aus, und der Diskurs würde ohne den steten Zufluss von neuen Informationen aus den vielen verschiedenen Dialogen letztlich verkümmern. Steht das Verhältnis von Tal und Ebene für zwei untrennbare, sich gegenseitig hervorbringende Formen der Kommunikation, so entwickelt Flusser an einem weiteren landschaftlichen Unterschied das Verhältnis von Redundanz, Geräusch und neuer Information. Die aus den prosaischen Ebenen stammenden Propheten durchwandern Täler, um auf Bergspitzen zu gelangen. Auf ihrer Rückkehr ruhen sie sich nicht im Tal aus, sondern ziehen zielstrebig weiter, um in der Ebene von ihrer einzigartigen poetischen Gipfelerfahrung zu berichten. Dieses Deutungsmodell ist unter anderem auch eine Aktualisierung und Umdeutung der biblischen Parabel von Moses, der auf den Gipfel des Bergs Sinai pilgerte, um dort die Gesetzestafeln der Zehn Gebote entgegenzunehmen. »Für die Propheten ist das Tal die Verbindung (Kanal) zwischen der Ebene und dem Gipfel, zwischen dem Gipfel und der Ebene: eine ambivalente Verbindung. Beim Aufstieg ist das Tal die Verbindung zwischen Redundanz und Geräusch; beim Abstieg zwischen dem Geräusch und einer neuen Information. Beim Aufstieg Verbindung zwischen entfrem-
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deter Massengesellschaft und Einsamkeit; beim Abstieg zwischen der Einsamkeit und einem Engagement. So ist das Tal auf der Landkarte, die vom Berggipfel aus projiziert wurde, kein Damm mehr, sondern die Mitte des Weges.«1
M E TAPHORIK DES M ONTANEN Anhand der Metaphorik des Montanen2 lässt sich so etwas wie eine Topographie des Geistes definieren, die ebenfalls politisch gedeutet werden kann. Die sakrale Bedeutung von Gebirgen hat weitgehend religiösen Ursprung und anthropologische Wurzeln im Homo erectus, dessen aufrechter Gang eine vertikale Aufteilung in ein Oben und Unten bestimmt. Betont die Ebene das Horizontale, die Flucht in die Weite, so steht der Berg für das Hohe, Aufsteigende. Der weit entfernte, oft wolkenumspielte Gipfel definiert ein schwer erreichbares Ziel der Vergeistigung oder einen Ort der Macht. Berge trennen zwar in eine höhere und eine tiefere Dimension, sind aber zugleich auch materielle Vermittlung zwischen den beiden Ebenen. Aufgrund geomorphologischer Gesetze ist der Sockel meist breiter als die Spitze, was den Bergen eine nach oben führende Lineatur verleiht und sie zu Medien des Aufstiegs, des Überstiegs, der Transgression und Transzendenz prädestiniert. Berge ragen auf und definieren dadurch unterschiedliche Schichten der Sakralität. Berge begrenzen aber auch den Blick und führen zur Bildung symbolischer Lebensräume, die durch Gebirgsmauern abgeschottet und geschützt werden, wie im Falle der Schweizer Vorstellung des Alpenwalls. Bergketten definieren ein Davor und ein Dahinter, ein bekanntes vertrautes Leben und ein unbekanntes hinter hohen Bergen. Sie markieren Grenzen im physischen Raum des Horizontalen. Hartmut Böhme spricht in diesem Zusammenhang von Bergen als »Raumriegel«. Die Vertikalität von Bergen definiert zwei grundlegende Bewegungsvektoren, auf die auch Flusser in seiner informationstheoretischen Deutung von Ebene und Bergspitze eingeht: Aufstieg und Abstieg. Vom Profanen ins Sakrale und zurück. Nebeldecken wirken als symbolische Trennungsmomente. Der Blick aus der Tiefe steht dem Gipfelblick, dem schweifenden Überblick gegenüber. Im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema sind besonders abgestufte Höhenlagen, die zugleich verschiedene Welten definieren, von Bedeutung. Joseph Anton Kochs Landschaftsbild Schmadribachfall, das um 1794 entstand und in verschiedenen Fassungen vorliegt, ist eine Darstellung des
1 | V. Flusser, Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur, München 2000, S. 20-1. 2 | Vgl. zum Folgenden H. Böhme, Berg, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von R. Konersmann, Darmstadt 2011, S. 49-63.
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hinteren Lauterbrunnentals im Berner Oberland.3 Auf diesem Gemälde sind die vier verschiedenen landschaftlichen Lagen besonders deutlich herausgearbeitet: Auf ferne wolkenumzogene Schneegebirge folgt eine tiefer liegende breite kahle hellbraune und steil abfallende Felsenlandschaft, die durch einen zentralen und verschiedene kleinere Wasserfälle belebt wird – das Schmelzwasser aus den höheren Gletscherregionen –, darunter befindet sich ein dichter dunkelgrüner Nadelwald, in dessen Mitte der Bach und der Bodennebel weiß aufleuchten, gefolgt vom eigentlichen Lebensraum menschlicher Tätigkeiten – ein Hirte mit seiner Herde, der jedoch von einem immer noch reißenden Bergbach umspielt wird. Die absteigende Dynamik wird durch das wild fallende und strömende Wasser und die zerzausten Wolkenbänke zum Ausdruck gebracht. Das Bild leitet von wilden menschenleeren schneeigen Höhen in von Menschen benutzte Natur über oder umgekehrt aus der alltäglichen Welt in die unzugänglichen sakralen Höhen. Zu Beginn seines Wilhelm Tell 4 führt Schiller ein mit Kochs Gemälde verwandtes dreistufiges, vertikal ausgerichtetes Landschaftsmodell ein und lässt dazu drei typische Vertreter der alpinen Gesellschaft auftreten: einen Fischerknaben, einen Hirten und einen Alpenjäger. In den Bühnenanweisungen wird auf die drei damit verbundenen landschaftlichen Momente hingewiesen: den See, die Bucht und die Hütte des Fischerknaben, darüber die grünen Matten, die Dörfer und Höfe und noch höher gelegen die wolkenumkränzten Bergspitzen und jenseits davon die unbewohnten Eisgebirge. Lebt der Fischer noch direkt am Wasser und der Hirte im jahreszeitlichen Rhythmus zwischen Alpwiesen und Gehöften, so ist der Alpenjäger ganz allein in seiner dramatischen stürmischen Welt. Er schreitet mutig über gefährliche Pfade, unter seinen Füßen das Nebelmeer. Durch die Risse in der Wolkendecke kann er die Städte nicht mehr erkennen, nur noch das Grün der tiefer liegenden Felder. Diese Figur geht auf Scheuchzers Vision des Gemsjägers zurück, so wie er ihn aus mündlichen Berichten und eigenen Beobachtungen zusammengebastelt hatte. Diese Figur, die Scheuchzer in den 1706 publizierten Natur=Geschichten (Abb. 16) beschrieb, verkörpert wohl wie keine andere das Ideal des homo alpinus. »Als gewissermaßen ideale anthropohelvetische Figur charakterisierten den Gemsjäger die Eigenschaften Zähigkeit, Mut, Stärke, Ausdauer, Tapferkeit und Kaltblütigkeit sowie jene unbedingte Autonomie, die die Grundlage der später vielzitierten ursprünglichen Freiheit der helvetischen Gesellschaft bildete.«5 Die vertikale Logik der Landschaft suggeriert eine par3 | Vgl. dazu Y. Boerlin-Brodbeck, Die »Entdeckung« der Alpen in der Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts, in: »Landschaft« und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, hg. von H. Wunderlich, Heidelberg 1995, S. 253-4. 4 | Schiller, Dramen, S. 1135. 5 | Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung, S. 298.
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allele Wertskala, die in den eisigen Höhen ihr Maximum erreicht, wobei sich hier die Freiheit des Einzelnen und die Feindlichkeit der natürlichen Umgebung gegenseitig ergänzen. Der Fischer sitzt im Kahn und singt von einem Knaben, der in lustvolle Träume versinkt, und der Hirte auf dem Berge stimmt eine melancholische Klage an, weil der Sommer vorbei ist. Der auf der Höhe des Felsen stehende Alpenjäger jedoch singt von den Freuden und Gefahren der Jagd. Im nachfolgenden Dialog mit den anderen zwei Figuren ist auch die Rede von der List der Tiere, welche die Gefahr schon aus der Ferne wittern. Damit wird eine weitere Eigenschaft des homo alpinus, auf die schon Scheuchzer verwiesen hatte, ins Spiel gebracht: Gewitztheit und Klugheit. Abbildung 16: Johann Jakob Scheuchzer, Alpennatur und Alpenmenschen
Eine vergleichbare perspektivisch nach oben gerichtete Sichtweise findet sich in Schillers Bühnenanweisung zur dritten Szene des dritten Aufzugs: »Wiese
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bei Altdorf. Im Vordergrund Bäume, in der Tiefe der Hut auf einer Stange. Der Prospekt wird begrenzt durch den Bannberg, über welchem ein Schneegebirge emporragt.«6 Und in der zweiten Szene des zweiten Aufzugs: »Den Prospekt schließen hohe Berge, hinter welchen noch höhere Eisgebirge ragen. Es ist völlig Nacht auf der Szene, nur der See und die weißen Gletscher leuchten im Mondlicht.« 7 Die Eisgebirge stehen für eine vierte, ideale, von Menschen nicht bewohnte und nur schwer zugängliche Landschaft, die zugleich die Ursprünglichkeit der natürlichen Gesetze und der daraus hervorgehenden sozialen Strukturen symbolisiert und deren Dauerhaftigkeit garantiert.
W ALDLICHTUNGEN Geht es bei Bergen vor allem, aber nicht nur, um den vertikalen Gegensatz von oben und unten, so ist bei Wäldern eine weitgehend horizontale räumliche Aufteilung konstitutiv, die durch die Gegenüberstellung von innerer Tiefe und äußerem Rand bestimmt wird. Der Waldrand ist eine liminale Zone des Übergangs, eine Grenze zwischen der kultivierten Landschaft und der Wildnis. Hier treffen zwei Welten aufeinander. Dieser Unterschied wird in Stichen und Gemälden aus dem 16. Jahrhundert thematisiert. Die Figuren befinden sich oft unter dichtbelaubten Bäumen, deren Äste in die kultivierten Felder hinausragen. Diese Welt definiert verschiedene Bewegungsvektoren: sich an der Grenze aufhalten, zwischen den beiden Bereichen hin und her pendeln, in die zunehmende Dunkelheit des Waldes eintauchen, eindringen, der finsteren Mitte zustreben und sich darin verirren. Hinzu kommt die Vorstellung von inneren Schneisen und Lücken, gerodete Flächen, welche die Dunkelheit und Dichte durch plötzliche Inseln des Lichts auflockern. Lichtungen. Bei Wäldern spielt zudem eine vertikale Dimension mit, die in einer anthropomorphisierten Vision des Baumes ihre Entsprechung findet. Robert Pogue Harrison, der sich dabei auf Giambattista Vicos Scienza Nuova aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezieht, bestimmt in Forests. The Shadow of Civilization den Wald als Gegenspieler der Stadt. Wälder sind im Westen das andere der Zivilisation, ihr Schatten und ihr Ursprung: »forests represent an opaque mirror of the civilization that exists in relation to them.«8 Sie stehen für ein Prinzip der Exterritorialität und gleichen darin dem Gebirge. Der einsame Gipfelgang und das Eintauchen in die dunklen Tiefen des Waldes haben einiges Gemeinsam. Harrison hebt dabei zwei topographische Motive hervor: den Waldrand und die Waldlichtung. »A sylvan fringe of darkness de6 | Schiller, Dramen, S. 1185. 7 | Ebd., S. 1163. 8 | Harrison, Forests, S. 108.
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fined the limits of […] cultivation, the margins of […] cities […] in the religions, mythologies, and literature of the West, the forest appears as a place where the logic of distinction goes astray.«9 Und weiter: »This extreme edge, where opposing laws strive against one another and where the more primordial one wins out, is the boundary at which the city meets the forest.«10 Das Schaffen von Lichtungen diente zur Herstellung einer Öffnung im Walddach, durch die eine Kommunikation mit den Göttern möglich wurde, und zur Versammlung der Gruppe, die sich sonst in den Wäldern verirrt hätte. »To burn out a clearing in the forest and to claim it as the sacred ground of the family […] was the original deed of appropriation that first opened the space to civil society.«11
Z UR TOPOGR APHISCHEN A MBIVALENZ VON F LÜSSEN Elias Canetti, der in dieser Arbeit an mehreren Stellen zu Wort kommt, hat Landschaften verwendet, um über politische Zusammenhänge zu reflektieren. Neben dem Wald, den Bergen und dem Meer findet man in Masse und Macht auch ein kurzes Kapitel zum Fluss. Für Canetti ist der grundlegende Charakter des Flusses durch seine Gerichtetheit gegeben, seine »Entschlossenheit aufs Meer hin« und die Tatsache, dass er sich im Laufe seines Dahinströmens durch Zuflüsse kontinuierlich erweitert. Im Gegensatz zum Wald und zum Gebirge, denen etwas Abgeschlossenes, Endgültiges anhaftet, besitzt der Fluss immer etwas Vorläufiges und zugleich Langsames. »Die Flüsse sind besonders ein Symbol für die Zeit […]. Es fehlt dem Flusse […] die Universalität des Meeres. Aber dafür ist seine Richtung auf die Spitze getrieben, und da immer mehr nachkommt, ist sie sozusagen von Anfang an da, eine Richtung, die unerschöpflich scheint und die man in ihrer Herkunft vielleicht noch ernster nimmt als in ihrem Ziel.«12 In einer weiteren Passage spielt Canetti auf eine wichtige Eigenschaft von Flüssen an, die im Falle des völkerverbindenden Charakters der Donau, auf die ich in diesem Kapitel eingehen werde, von besonderer Bedeutung ist. »Die Gleichheit der Tropfen ist im Flusse selbstverständlich, aber er trägt allerhand sehr Unterschiedliches mit, und was er trägt, ist für sein Aussehen bestimmender und wichtiger als etwa die Lasten des Meeres, die auf seiner riesigen Oberfläche verschwinden.«13 Wenn man die hier vorgeschlagene Perspektive des Topographischen als Ausgangspunkt der Betrachtung wählt, kann man Flüsse grundsätzlich zwei9 | Ebd., S. ix-x. 10 | Ebd., S. 3. 11 | Ebd., S. 6. 12 | Canetti, Masse und Macht, S. 91. 13 | Ebd., S. 92.
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fach sehen, je nachdem, ob man sich dabei auf das Trennende oder Verbindende bezieht.14 Der Flussverlauf verknüpft nicht nur Anfang und Ende und Mündung, was Anlass zu zahlreichen mythenbildenden Interpretationen war, auch die einzelnen vom Fluss berührten Gebiete werden durch den Strom, Perlen vergleichbar, aufgefädelt und so zusammengeführt. Zwei Richtungen mit entsprechenden metaphorischen Konnotationen sind dadurch gegeben: flussaufwärts und flussabwärts. Die beiden Bewegungsvektoren scheinen sich auszuschließen, weisen aber bei näherer Betrachtung eine grundlegende Verwandtschaft auf, die mit einem schöpferischen Traum zu tun hat: dem Traum, den richtigen Weg wiederzufinden. Mehr noch: Die beiden Richtungen verneinen sich und gehen doch stets ineinander über. Wer den Weg zur Flussmündung verfolgt, legt unwillentlich den Weg zur Quelle zurück. »Er hat zum Schöpfungsmoment zurückgefunden und den langen Weg zurückgelegt, der zum Ursprung des Wassers führt. Auf den existentiell erfahrenen Abstieg folgt somit eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Flusslaufes […], man kann dem Fluss auf seinem Weg zum Meer nicht folgen, ohne zugleich den Wunsch zu hegen, an seine Quelle zurückzukehren.«15 [Übers. d. Verf.] Wer den Fluss in seinem Weg zum Meer begleitet, verfolgt »die gute Richtung«, wie Gaston Bachelard in seinem L’eau et les rêves zu Beginn festhält: »die Richtung des fließenden Wassers, des Wassers, welches das Leben anderswohin führt.«16 [Übers. d. Verf.] Dem natürlichen Dahinfließen des Stromes wird eine Art moralischer Überlegenheit attestiert und daraus ein Bild der Reifung abgeleitet: Der Fluss wird wie eine Person an der Quelle gezeugt, wächst und wird breiter auf seinem Weg zum Meer, in dem er sich wieder auflöst. Ein Flusslauf ist immer »auch so etwas wie ein Lebenslauf«17 und das endlose Strömen der Fluten ein Zeichen des unaufhaltsamen Vergehens der Zeit. Aus diesem Grund kann die Suche nach der Mündung für einen impliziten Todeswunsch stehen, ein Verlangen nach endgültiger Fusion in der mütterlichen Matrix, im Wahnsinn und Vergessen, wie dies z.B. in Rimbauds Gedicht Le bateau ivre oder Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes zum Ausdruck kommt. 14 | Vgl. dazu J.F. Bergier (Hg.), Montagnes, fleuves, forêts dans l’histoire. Barrières ou lignes de convergence?/Berge, Flüsse, Wälder in der Geschichte. Hindernisse oder Begegnungsräume ?, St. Katharinen 1989. 15 | C. Foucart, Le fleuve: trésor aux multiples mystères, in: Le fleuve et ses métamorphoses, Actes du Colloque International tenu à l’Université de Lyon 13.-15. Mai 1992, hg. von F. Piquet, Paris 1993, S. 379. 16 | G. Bachelard, L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1993, S. 15. 17 | B. Setzwein, Die Donau. Eine literarische Flußreise von der Quelle bis Budapest, Stuttgart 2004, S. 7.
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Wer sich dem Strömen des Flusses hingibt, vollzieht auch eine unweigerliche Abstiegsbewegung, bei der es um Verlust und Verrat geht, begibt er sich doch auf eine Reise, die vom reinen, unvermischten Quell hinab in die Niederungen des Promisken führt. Die beiden Richtungen können ebenfalls in einem epistemologischen Sinne gelesen werden, wie dies Michel Serres18 tut. Wer sich flussabwärts bewegt, verfolgt den abgenutzten, abfallenden bekannten Weg bis zur Mündung, Richtung Synthese und Einheit. Wer hingegen flussaufwärts denkt, erlebt wiederholten mehrfachen Zweifel, trifft auf vielfältige Bifurkationen wie bei einem siebenarmigen Kerzenständer oder einem sich verzweigenden Netzwerk von feinsten Kapillaren. Jede Suche nach der Quelle ist eine Suche nach den unverfälschten Ursprüngen, ein initiatorischer Aufstieg ins Geheime und Verborgene. Wer zur Quelle will, um den Ursprung der Dinge zu ergründen, kann nicht mit dem Strom, sondern muss gegen ihn schwimmen. Simone Vierne19 beschreibt diese Rückkehr als Suche nach einer unbekannten Vaterschaft und setzt sie somit von der mütterlichen Mündung des Meeres ab. Der Held, der den Wasserlauf hinaufsteigt, ist durch den unvernünftigen Wunsch beseelt, den Einfluss nicht nur zu verneinen, sondern umzudrehen, um dadurch Zugang zur Unendlichkeit zu erlangen. Die Suche nach den Quellen kann auch für eine symbolische Suche nach den allerersten mythischen Anfängen der Zivilisation stehen. Dies gilt z.B. für die sagenumwobenen Anfänge des Nils, die schon in Herodots Historien eine Rolle spielen. Der Ausspruch fontes Nili quaerere – sich auf die Suche nach den Quellen des Nils machen – stand in der Antike für ein unmögliches Unterfangen.20 In seiner Biographie der Donau weist Claudio Magris darauf hin, dass die Frage nach der Quelle auch für die Donau bedeutsam ist,21 war es doch lange Zeit nicht ausgemacht, wo sie eigentlich entsprang, darin dem Nil verwandt. Die Donau entsteht nach allgemeiner Meinung wenig östlich von Donaueschingen aus dem Zusammenfluss der Breg und der Brigach, die wiederum aus dem Donaubach in Donaueschingen und dem größeren Quellfluss Breg an der Martinskapelle bei Furtwangen hervorgehen. Magris deutet diese doppelte Herkunft in einem dekonstruktivistischen Sinne: Die Donau fließt in die Brigach, d.h. in einen Nebenfluss von sich selbst. Hinzu kommt noch ein 18 | Vgl. dazu M. Serres, Genesis, Ann Arbor 1995, S. 17. 19 | Vgl. S. Vierne, ›Remonter ou descendre le fleuve?‹ De Jules Verne à Le Clézio, in: Le fleuve et ses métamorphoses, Actes du Colloque International tenu à l’Université de Lyon 13.-15. Mai 1992, hg. von F. Piquet, Paris 1993, S. 385-389. 20 | Vgl. dazu S. Schama, Landscape and Memory, New York 1996 (dt. Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München 1996), S. 374ff. 21 | Zur umstrittenen Quelle der Donau vgl. Magris, Donau, S. 18ff.
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Flüsschen aus Bad Dürnheim, die stille Musel. In Immendingen, 20 bis 30 Kilometer flussabwärts verschwindet die Donau zum Teil und taucht 40 Kilometer südlich wieder auf und trägt nun den Namen Aach. Diese wiederum ergießt sich in den Bodensee und stellt damit einen Zufluss des Rheins dar. Die Donau ist somit, wenn auch nur teilweise, ein Zufluss des Rheins. Diese vervielfältigende, eindeutige Zuordnungen verneinende Strategie dient Magris in der Folge dazu, die mitteleuropäische Lebensart zu beschreiben. Eine Welt, die sozusagen in der Luft schwebt und kein festes Fundament kennt. Rückt das Trennende von Flüssen in den Vordergrund, erscheinen sie als Kluft, als Furche und Graben, welche die Gebiete, die sie durchlaufen, durchschneiden und voneinander trennen. Diese trennende Tendenz wird durch spezifische Geländeformationen wie Stromschnellen, Cañons oder Sumpfstreifen noch zusätzlich verstärkt. In diesem Zusammenhang weist Lucien Febvre in seinem 1922 zuerst erschienenen La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire auf ein grundsätzliches theoretisches Vorurteil hin. Da Nationalstaaten oft als Individuen beschrieben werden, liegt es nahe, nach deren Grenzen zu fragen, deren geometrisch definierbaren Formen. Selbst heute noch werden Staaten zuerst einmal durch ihre Grenzen zu anderen politischen Gebilden definiert. Bergketten und Flüsse spielen dabei eine wesentliche Rolle. »Ihre Bedeutung ist nicht vorübergehend und relativ. Es sind nicht einfach Demarkationen, sondern ›natürliche‹ Grenzen. Im Wort ›natürlich‹ ist eine ganze Geschichtsphilosophie zusammengefasst. Wer von natürlichen Grenzen spricht, meint prädestinierte Grenzen – ein Ideal, das es gilt zu erobern und zu verwirklichen. Zwischen den Grenzen und den natürlichen Grenzen gibt es oft einen irritierenden Unterschied. Er wird verschwinden. Er muss verschwinden. […] Es ist erstaunlich, feststellen zu müssen, dass praktisch alle Begriffe der physischen Geographie einmal durch die Vorstellung der Grenze bedingt waren. Berge waren nichts anderes als schwer zu bezwingende hohe ›Ketten‹, die sich zwischen die einzelnen Länder lagerten, wie göttlich gewollte Mauern. Einfaches Hindernis oder Mauer, Berge wurden nie als solche studiert; es waren Grenzen und nicht eigenständige Regionen.« 22 [Übers. d. Verf.]
Dasselbe gilt weitgehend für Flüsse, die seit der Antike zusammen mit den Bergmassiven den Staaten ihre natürlichen Grenzen aufzuerlegen schienen.23
22 | L. Febvre, La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire, Paris 1949, S. 359ff. 23 | Vgl. dazu H.-D. Schultz, ›Natürliche Grenzen‹ als politisches Programm, in: Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i.Br., hg. von C. Honegger u.a., 1998, Teil 1, S. 328-343.
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»Man muss nur den Beginn des ersten Buches von Caesars Kommentaren nachschlagen, Flüsse werden immer als Grenzen angeführt: ›Gallos ab Aquitanis Garumna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit.‹ Und was die Germanen angeht, so weiß man, dass es diejenigen sind, die ›trans Rhenum incolunt‹, eine berühmte Behauptung, die in der Vergangenheit viel Blut fließen ließ […].« 24 [Übers. d. Verf.]
Der erste Eindruck, der sich einem darbietet, wenn man einem Fluss begegnet, ist tatsächlich der eines Hindernisses: Flüsse legen sich quer. Ihre Breite steht dabei nicht so sehr für eine unüberbrückbare Trennung, als für eine Herausforderung, diese zu bezwingen. Furtübergänge und Flussverengungen laden gerade dazu ein, mit Fähren, Booten oder Brücken überwunden zu werden. Dadurch entwickelt sich eine weitere metaphorische Dimension von Flüssen, welche das Übersetzen, Hinübersetzen und die Vorstellung zweier unterschiedlicher Ufer in den Mittelpunkt rückt und zu einer ebenso reichhaltigen mythischen und metaphorischen Tradition geführt hat, wie die Spannung zwischen Quelle und Mündung. Noch heute steht der Caesar zugeschriebene Ausdruck ›den Rubikon überschreiten‹ dafür, sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen, aus der es kein Zurück mehr gibt. Das symbolträchtige Überwinden eines Grenzflusses spielt auch in der griechischen Mythologie beim Eintritt ins Totenreich eine Rolle. Die Seelen der Verstorbenen gelangten an den Styx, den Fluss der Unterwelt, und wurden dort vom Fährmann Charon empfangen, der sie gegen Bezahlung eines Obolus auf die andere Seite führte. Besonders bedeutsam ist die Verwendung der Metapher beim Vorgang des Hin- und Herübersetzens zwischen zwei sprachlichen Ufern, wobei der jeweilige Ausgangs- und Ankunftsort die hinübergetragenen Worte nachhaltig verändert. Dem zweifachen Fließen des Flusses von der Quelle zum Meer und zu den Quellen zurück entspricht hier somit eine ähnliche Zweifaltigkeit des Kommens und Gehens. Trotz der hier festgestellten Differenz implizieren die trennende und verbindende Perspektive einander und lassen sich vielfach kombinieren. Längere Flüsse zerfallen in einzelne, deutlich voneinander gesonderte Abschnitte, wodurch die im Grunde genommen verknüpfende Funktion von Flussläufen aufgrund unterschiedlicher territorialer Gegebenheiten in ihr Gegenteil umschlägt, was zu markanten regionalen Unterschieden führen kann. Untersucht man den Verlauf des Rheins, so bietet sich einem nicht ein durchgehend Homogenes, sondern eine Reihe von heterogenen Teilstrecken. »Statt Einheit gibt es Vielfalt, also jeweils unterschiedliche Sektionen eines riesigen Stromes, wobei sich jedes Teilstück dem Alter und dem Ursprung nach unterscheidet […]. Worin besteht überhaupt die Gemeinsamkeit, vom Namen abgesehen, zwischen 24 | Febvre, La terre, S. 359ff.
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dem reißenden Fluss, der wie ein Fremder zwischen Basel und Straßburg durch die Länder strömt […] und jenem mächtigen Rhein, der zwischen Köln und der Nordsee eine ganze Landschaft prägt? […] So gibt es zwar einen Rhein als Ganzen, wenn man sich vereinigen will – aber auch mehrere Rheine, wenn man sich abgrenzen oder bekämpfen will. Mehrere Rheine, die manchmal verbinden und manchmal trennen. Mit anderen Worten: zwei Welten.« 25
Umgekehrt kann die Präsenz eines Flusslaufes integrierend wirken, vor allem in bergigen Regionen. Hier führt die Gegenwart eines die Landschaft zerteilenden Flusses durch Intensivierung kulturellen und wirtschaftlichen Austausches grundsätzlich verbindend. Die Existenz zweier Ufer setzt eine Austauschdynamik in Gang, die diejenige von Quelle und Mündung ergänzt und durchquert. Darüber hinaus kann man auch Beispiele einer spannungsgeladenen Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung ausmachen, wobei das eine aufgrund historischer Veränderungen in sein Gegenteil umschlagen kann. Dies ist oft bei Doppelstädten der Fall. Da sie zumeist an Flüssen, oft auch an Grenzflüssen gelegen sind, gehören sie zwar in denselben geographischen und historischen Kontext, belegen aber entgegengesetzte Ufer, was je nach historischem Kontext eher trennend oder verbindend wirken kann. Manchmal wachsen Doppelstädte endgültig zusammen, wie im Falle von Buda und Pest, oder ihr Verhältnis kann von Konkurrenz in Partnerschaft übergehen, wie im Falle einer ganzen Reihe von Städten im Osten Europas nach dem Sturz der kommunistischen Regimes. Wie die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen werden, hat die grundlegende Ambivalenz von Verbindung und Trennung unter anderem zur Folge, dass derselbe Fluss je nach historischen und geopolitischen Dispositionen einmal als Grenze, dann aber wieder als verbindendes Band erfasst werden kann, und dass ein stetes Schwanken zwischen diesen zwei Positionen auszumachen ist.
C ARL C HERUBIM : A NTHROPOGEOGR APHIE DES F LUSSES Bevor ich diese topographische Ambivalenz und einige der damit verbundenen geopolitischen Folgen am Beispiel der Geschichte des Rheins und der Donau untersuche, möchte ich Carl Cherubims Inauguraldissertation Flüsse als Grenzen von Staaten und Nationen in Mitteleuropa. Ein Beitrag zur Anthropogeographie aus dem Jahr 1897 untersuchen, der eine evolutionistische Lek25 | L. Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, Frankfurt a.M. und New York 2006, S. 28-9.
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türe der hier zur Diskussion stehenden fluvialen Ambivalenz vorschlägt. Die Anthropogeographie, die auf das Werk des schon erwähnten Friedrich Ratzel zurückgeht, beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Raum und geht dabei, wie Cherubim zu Beginn festhält, von »geschichtlichen und geographischen Tatsachen zusammen«26 aus. Dabei geht es darum, die aus der geographischen Natur abgeleiteten trennenden Eigenschaften von Flüssen auf ihre Richtigkeit an den historischen Erfahrungen zu überprüfen. Cherubim führt drei wesentliche Punkte an. »Flüsse sind geeignet, staatliche und nationale Scheiden zu bilden in ihrer Eigenschaft als Verkehrshemmnisse! Dies tritt in erhöhtem Grade dann ein, wenn der Fluß durch jähe Stromgeschwindigkeit, Felsriegel oder Versandung die Schifffahrt unmöglich macht.« Als Beispiele führt Cherubim den untersten Teil der Donau, die »mit ihrem breiten Morastgürtel auf der linken Seite, gegenüber dem Steilabfall des rechts gelegenen Randes […] seit jeher eine zähe Staaten- und Völkergrenze war.«27 Auch der obere Teil des Rheins in der oberrheinischen Tiefebene habe bis in die jüngste Vergangenheit hinein trennend gewirkt. Hier klingt implizit schon die deutschnationale Wendung von Cherubims Argumentation an, auf die ich noch zu sprechen komme. »Flüsse«, so Cherubim, »sind aber schon Verkehrshemmnisse – wenngleich nur in sekundärem Grade – durch ihren einfachen Wasserlauf. […] Dies gilt naturgemäß da am meisten, wo die Wassermasse am stärksten ist, d.h. im Unterlauf der großen Ströme.« Bergflüsse unterscheiden sich dabei von Flüssen im Flachland, insofern als dort das Terrain »sich nach der Mitte« senkt und die daraus resultierende Beckenform zu einer »konzentrierte[n] Einigung« führt. Der Fluss bietet sich unter diesen Umständen für Verkehr und Ansiedlungen gleichermaßen als »natürlichste Strasse«28 an. Beispiele dafür kann man in den Tälern des Hochgebirges finden, deren Flüsse meist genau in dem Moment, wo sich das Tal deutlich erweitert, trennende Auswirkungen herbeiführen können. »Dieselbe Regel […] gilt auch für die Muldenländer. In der tiefsten Senke vom Strom durchflossen, rings von Randhöhen ummauert, bilden sie eine Landschaftseinheit, stellen sie also gleichsam ein erweitertes Gebirgsthal dar.«29 Der zweite Punkt betrifft die strategische Funktion von Flüssen. Dabei ist eine »möglichst gerade Richtung«, die in einem rechten Winkel zum bedrohlich andrängenden Heer oder kriegerischen Volk zu liegen kommt, entscheidend. »Denn beides vereint macht erst den Wassergraben zum Schutze recht
26 | C. Cherubim, Flüsse als Grenzen von Staaten und Nationen in Mitteleuropa. Ein Beitrag zur Anthropogeographie, Halle 1897, S. 5. 27 | Ebd., S. 6. 28 | Ebd., S. 8. 29 | Ebd., S. 10.
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brauchbar.«30 Cherubim diskutiert diesen Aspekt vor allem in Hinblick auf die Vermischung von Völkern, die in erstaunlicher Umkehr zu stürmischen Flüssen werden, die sich an den fluvialen Mauern brechen und zum Stillstand kommen. Auch hier sind Anklänge an europazentrische Positionen nicht von der Hand zu weisen. »In der rumänischen Tiefebene brandeten fast stets die letzten Wogen der Völkerfluten aus der weiten nordöstlichen Steppenflur an der hemmenden sumpfigen Niederung des mächtigen Stromes.« Diesem das Land senkrecht durchfurchenden Schutzwall, »dieser Landwehr also dankt die heutige Bewohnerschaft vor allem den Bestand ihrer Volksart. […] Darin finden wir eben die Hauptbedeutung der Flußgrenzung, daß sie diesen Völkerschutz – den auch Gebirgsmauern, und an sich wirksamer gewähren – in der strategisch so viel wichtigeren Form einer bestimmten geraden Linie leisten!«31 Der dritte Grund, der eigentlich aus dem zweiten abgeleitet werden könnte, betrifft den »Vorzug der gegebenen bestimmten Linie, der den Flüssen allein eigen ist.«32 Die Schwäche dieser Form der Argumentation liegt nicht so sehr in der mangelnden theoretischen Ausdifferenzierung der drei Momente, als in ihrer Einseitigkeit. Geht doch Cherubim in seiner Analyse nur scheinbar auf das Widerspiel von geographischen und historischen Bedingungen ein. Es wird vielmehr eine Natürlichkeit suggeriert, die dann im Historischen ihre Bestätigung findet. Dasselbe ließe sich für die Einseitigkeit des Blickpunktes sagen. Wie viel reichhaltiger und flexibler eine Argumentation sein kann, die von der hier diskutierten Ambivalenz ausgeht, beweist Lucien Febvres Geschichte des Rheins, auf die ich im Folgenden noch zu sprechen komme. Der zweite Teil der Arbeit ist der Frage nach der Dauerhaftigkeit von Flussabgrenzungen gewidmet. »Grenzen sind an sich etwas Fließendes«,33 hält Cherubim zu Beginn fest, was für Flüsse gleich in zweifacher Hinsicht zutrifft. »Es fragt sich, stellen die Flüsse derartig entschiedene Spalten in der Erdoberfläche dar, daß sie auch überschritten, mit der Zeit stets wieder als Scheiden der Menschheit zur Geltung kommen!« Cherubim versucht diese Frage anhand der geopolitischen Situation der deutschen Hauptströme am Ende des 19. Jahrhunderts zu beantworten und unterlegt seiner Analyse einen evolutionistischen Standpunkt. Dabei nimmt sein deutschnational inspiriertes Projekt explizite Formen an. Er stellt fest, dass keiner der deutschen Hauptströme, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, z.B. die unterste Donau, als nationale oder staatliche Grenzen primärer Ordnung dienen. Dennoch haben
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19.
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große und kleinere Flüsse ihre Rolle als untergeordnete Grenzlinien bewahrt. »Die Bedürfnisse des gesteigerten Verkehrs«, folgert Cherubim, »drängen darauf hin, die trennende Wirkung der Stromlinien zu überwinden! Denn diese trennende Natur, ist gewissermaßen das kleinere Übel zu den […] verkehrsfördernden Eigenschaften der Ströme. […] Anfangs, bei niedriger Kultur der umwohnenden Menschheit überwiegen die trennenden Eigenschaften. Die sich zunächst praktisch äußernden Schwierigkeiten der Stromüberschreitung lassen ein Volk oft auf lange Zeit in seiner Wanderung an der einen Stromseite Halt machen, oder doch – wenn überschritten – einen Gegensatz zwischen beiden Ufern entstehen. […] Aber ›eine höhere Kultur, eine gesteigerte Verkehrskraft, die Fortschritte der mechanischen Erfindungen‹ befähigen die Menschheit, sich von diesem primitiven trennenden Einfluß der Stromlinien frei zu machen! […] und nun tritt die verbindende Kraft des Flusses ungehindert in ihr Recht und bringt den Stromlanden das ihnen von der Natur zugedachte, nur der Unkultur gleichsam verschleierte Geschick der Vereinigung!« 34
Hier spricht eine vermeintlich kulturtheoretische und für technische Fortschrittlichkeit eintretende Argumentation letztlich einer expansionistischen Eroberungspolitik das Wort. Die Donau und vor allem der Rhein nach 1871 sind tatsächlich ›deutsche‹ Flüsse geworden und sichern als solche den Verkehr und Austausch im Innern der beiden Reiche. Die langsame kulturstiftende Umwandlung von der Grenze zum Bindemittel lässt sich, so weiter Cherubim, an der Geschichte des Rheins ablesen, die »erst seit dem letzten deutsch-französischen Kriege im großen Ganzen beendet« ist. »Seit 25 Jahren ist auch das letzte Stück Rheinlaufes als deutsch-französische Grenze verschwunden. Und jetzt […] wurde der Rhein ein schönstes Beispiel inniger Verbindung der Stromseiten in Volkswirtschaft und Verkehr!«35 Wie im Folgenden noch gezeigt werden soll, war der Rhein eine hochintegrierte Kulturzone lange vor der Gründung des deutschen Reiches unter Bismarck. Ein ähnlicher Prozess, so Cherubim, lässt sich auch im Zusammenhang mit der Geschichte der Donau feststellen. »Die Donau, einst die große Scheidelinie zwischen den Ländern rechts und links, ist jetzt vielmehr der eigentliche Verbindungsstrom, die Lebensader der österreichisch-ungarischen Monarchie geworden!« Die geopolitische und verkehrstechnische Geschichte eines Flusses lässt sich daher anhand der Dualität von Trennung und Verbindung erfassen, wobei den beiden Polen zugleich die Extrempunkte der Entwicklung zugeschrieben werden: Hier die unkultivierten in der Trennung lebenden Völker auf einer tieferen Entwicklungsstufe, dort die höheren Stadien der Kultur im Zeichen der Vereinigung. Cherubim nennt es »die primitive Trennungskraft 34 | Ebd., S. 20ff. 35 | Ebd., S. 23.
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des Flusses.«36 Diese Entwicklung ist zwar durch ein schwankendes Hin und Her zwischen Trennung und Verbindung gekennzeichnet, am Ende aber setzt sich naturgemäß die vereinigende Tendenz durch: So »steigt mit der Kultur der Anwohner die Überwindung der widerstrebenden Natur.«37 Cherubims polarisierende und vereinfachende Verwendung der in sich untrennbaren Gegensätze dient zugleich implizit als Grundlage imperialistischer Ansprüche im Osten Europas. »Im allgemeinen können wir feststellen – zufolge dem dargestellten Entwicklungsgang –, daß die Grenzbedeutung der Flüsse häufiger im unkultivierten Osten Mitteleuropas sich erhalten hat, als im kultivierten Westen.«38 Dies mündet in ein enthusiastisches Schlusswort: »jede Nation, jedes Volk [hat] den Beruf, die Grenzen, die es in der Schwäche seines Kindheitsalters beengten, zu erweitern und den Beruf auszufüllen, der ihm in seinem Wohnraum bestimmt ist, wenn es sich als tüchtig bewährt.«39
D ER R HEIN : G RENZFLUSS UND V ERKEHRSVERBINDUNG Der Rhein und die Donau haben in ihrer Geschichte sowohl als Grenze wie auch als Verbindung gewirkt. Weder kann man von einer einseitigen Vorherrschaft des einen Aspektes gegenüber dem anderen noch deren Verhältnis in evolutionistischen Begriffen erklären, wie dies Cherubim tut. Die beiden Perspektiven sind stets gleichzeitig zu denken und lassen sich kaum voneinander trennen. Dennoch hat sich im Laufe der Zeit und dies vor allem seit dem 19. Jahrhundert im Zuge nationalistischer Überlegungen so etwas wie ein privilegierter Blickwinkel auf die beiden Flüsse herausgebildet, der bis heute deren Bild prägend beeinflusst. Ein Beispiel dafür findet sich in Lothar Zögners Flüsse im Herzen Europas. Rhein – Elbe –Donau. Im Vorwort begründet Zögner die Konzeption der Ausstellung, aus der das Buch hervorgegangen ist, damit, man habe jeweils einen thematischen Schwerpunkt finden wollen. Es sei versucht worden, »für jeden der drei grossen Flüsse eigene Akzente zu finden, Vorstellungen, die sich spontan [sic!] mit dem jeweiligen Fluß verbinden.« Für den Rhein wurden die Stichworte »Grenzfluß und Verkehrsverbindung« und für die Donau »Völker und Staaten«40 ausgewählt. Damit sind die beiden klassischen Interpretationsmuster genannt. Der Rhein als trennende Grenze und die Donau als verbindendes Band. Dass der Rhein 36 | Ebd., S. 24. 37 | Ebd., S. 22. 38 | Ebd., S. 23. 39 | Ebd., S. 27. 40 | L. Zögner, Flüsse im Herzen Europas. Rhein – Elbe – Donau, Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Berlin 1993, S. 5.
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über längere Zeiten hinweg stark integrierend gewirkt hat und dies besonders heute innerhalb der EU wieder tut, und dass die Donau auch immer wieder zu Trennungen Anlass war, ja dass diese beiden Aspekte nicht nur nacheinander, sondern oft auch nebeneinander herlaufen, kurz, dass ein Aspekt den anderen in sich enthält, und dies Teil der grundsätzlichen Ambivalenz von Flüssen als geographische Gegebenheiten und historisch-kulturelle Konstrukte darstellt, sollen die nun folgenden Überlegungen zeigen. Lucien Febvre verfasste Der Rhein und seine Geschichte Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der damalige historische Kontext hat sich auf entscheidende Art und Weise in den Text eingeschrieben. Es ist ein zukunftsträchtiger Text, wenn man an die gegenwärtige historische Konjunktur eines zusammenwachsenden Europas denkt. Die Rheinregion vereinte stets die »Vorzüge eines Territoriums, das als Kontaktzone und Verkehrsknotenpunkt fungierte […]. Statt dessen haben sich [die Historiker] darauf beschränkt, den Rhein als Grenze zu betrachten, die man besetzen oder bewahren muß […]. Die Geschichte des Rheins erhält (dadurch) einen zwangsläufigen und fatalen Charakter […].«41 Aus diesem Grund ist Febvres Buch vor allem der Versuch einer radikalen Entmythologisierung, die dadurch erreicht wird, dass man vorerst einmal all jene Ereignisse zusammenstellt, die der Geschichte des Rheins als reine Abfolge von Konflikten und Grenzstreitigkeiten widerspricht, ohne dabei jedoch die trennenden Momente einfach negieren zu wollen. Es geht um die Infragestellung einfacher und bequemer Interpretationsraster, die eine im Grunde genommen viel komplexere und widersprüchlichere Realität begrifflich zu bezähmen versuchten. »Als Mittler zwischen Nordsee und südlichen Ländern – so sehen wir heute instinktiv den Rhein. Und die Geschichte scheint uns darin zu bestätigen. Aber bildet er nicht zugleich auch einen Graben zwischen dem peninsularen Europa und der übrigen Masse des Kontinents?«42 Ein Grundproblem bei Flüssen, so Febvre, ist deren Gleichsetzung mit einer Person, d.h. mit einer organisch gewachsenen Einheit. Dies hat zur Folge, dass deren geopolitische Konstruiertheit letztlich in den Hintergrund gerückt, wenn nicht gar völlig ausgeblendet wird. Flüsse besitzen einen von der Quelle bis zur Mündung durchgehenden einheitlichen Körper. Alle Zuflüsse, die sich in den Strom ergießen, werden von diesem geschluckt und hören damit auf zu existieren. Flüsse haben Arme. »Hier ist der Hauptarm, der eigentliche Strom; dort sind Hilfsarme, die vielen Nebenflüsse. Wer aber entscheidet, daß dies der Strom und dies die Nebenflüsse sind? […] Zwar mag der Rhein ein Individuum sein, aber er ist kein von der Natur fertig hervorgebrachtes, sondern ein vom Menschen geformtes […].«43 41 | Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, S. 9ff. 42 | Ebd., S. 30. 43 | Ebd., S. 17.
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Der Rhein, wie jeder andere große Fluss auch, wurde zuerst aus verschiedenen Strömen zusammengesetzt und daher anfänglich hauptsächlich aus der Perspektive des Verbindungsweges gesehen. Dies gilt besonders für die vom Rhein geleistete Verbindung von Norden und Süden, den Niederlanden und Venetien. Herodot spricht im Zusammenhang mit den Ländereien nördlich der Alpen noch nicht vom Rhein, jedoch vom »Istros«, der Donau, ein Strom, der mitten ins Zentrum der okzidentalen Welt führt. Schon Dionysios von Halikarnassos hingegen erwähnt den Rhein als zweitgrößten Wasserlauf nach der Donau, und weist ihm eine grundsätzliche Grenzfunktion zu. Er zerteilt die Länder der Kelten in zwei Gebiete, Germanien nach Osten hin und Galatien im Westen, das bis zu den Pyrenäen reicht. Caesar nimmt im Zuge der militärischen Eroberung diese Vorstellung wieder auf. Von einem Verbindungsweg ist der Rhein somit zu einer politischmilitärischen Grenze geworden. Eine Grenze jedenfalls, die immer wieder von größeren oder kleineren Völkerschaften durchbrochen und überwunden wurde. Tacitus beschreibt den Rhein deswegen auch als höchst poröse Trennungslinie. An gewissen Stellen nur, dort wo er »noch ein festes Bett und als Grenzscheide genügt«,44 fungierte er tatsächlich als politisch-militärische Demarkationslinie. Trotz dieser Betonung des Grenzaspektes war der Rhein bis zum 2. Jahrhundert n.Chr. unter der Kontrolle der römischen Obrigkeit, deren kultureller Einfluss sich auf beide Ufer des Stromes erstreckte. Dieser lag weitgehend im Schutze des Limes. Der Rhein war zur römischen Zeit somit zwar eine sprachliche und teilweise auch kulturelle Grenze, aber niemals eine unüberbrückbare Kluft. Die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen waren »eher kolonialer, als nationaler Art.«45 Ein zweiter historischer Moment, in dem der Rhein im Zentrum eines integrierten Territoriums stand, als dessen Herzstück sozusagen, ist die Zeit der großen rheinischen Kirchenprovinzen zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Der Rhein spielte hier die Rolle einer bewährten, wohlversorgten und nach verschiedenen Seiten offenen Basis, Drehscheibe für wirtschaftlichen Austausch und Ausgangspunkt für eine Rückeroberung aller deutschen Gebiete im Zeichen des christlichen Glaubens. Von Mainz ausgehend, sollte das gesamte Territorium mit einer von den Römern ererbten Verwaltungsstruktur überzogen werden. Der Geist des Rheins war stets ein kulturell mehrschichtiger, umfassend europäischer. Auf den römischen folgte somit ein germanischer Einfluss, der durch einen kirchlich-christlichen wieder überlagert wurde. »Der Rhein eine Grenze? […] Eine Grenze, nein aber eine Ausgangsbasis. Wie jede Basis lebt sie vom Austausch. […] Der Rhein gibt sich nicht damit zufrieden, eine Grenze zu sein, also etwas, das abseits, am äußersten Rand liegt: wie ein Saum 44 | Publius Cornelius Tacitus, Germania, Stuttgart 1998, S. 24. 45 | Febvre, Der Rhein und seine Geschichte, S. 65.
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oder irgendein Graben. Er will vielmehr Schmelztiegel sein. […] zu allen Zeiten war der Rhein auch ein brüderlicher und rezeptiver Rhein, niemals feindlich und borniert.«46 Das eigentliche Drama des Rheins als Grenze beginnt grundsätzlich mit der Reformation und verschärft sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte. Dadurch wurde die Vermittlerrolle, die er bis dahin stets gespielt hatte, durch die Grenzenfunktion überlagert. Dasselbe Schicksal, zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen zu sein, widerfuhr auch dem Rheinland selbst, welches einmal von der einen und dann wieder von der anderen Partei besetzt wurde. Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts jedenfalls ist die Grenzrolle des Rheins noch geringfügig. Dies wird sich mit der Französischen Revolution verändern. Im Kapitel Wie eine Grenze entsteht und vergeht beschreibt Febvre die darauffolgende, hin und her schwankende geopolitische Entwicklung in zwei Etappen: vom Rhein als Grenze Frankreichs zum Rhein als Strom des französischen Kaiserreichs und vom Rhein als Grenze Deutschlands zum Rhein als deutscher Strom. Der Rhein avancierte dadurch zu einem doppelten, französischen und deutschen Nationalsymbol, als natürliche Grenze Frankreichs und als nährende Mitte und Herzschlagader Deutschlands. Im Zuge der Napoleonischen Feldzüge wird der Rhein ins neu gewachsene Kaiserreich integriert. Fordern noch 1793 die Rheinländer selbst eine Ausweitung der französischen Republik bis an den Rhein mit Parolen, welche die Natürlichkeit dieser Grenze hervorhoben, so nahm die darauffolgende Generation die neue französisierte Umgebung als gegeben hin. Als dann am 1. Januar 1814 Blücher den Rhein bei Kaub überschritt, wendete sich das Blatt. Ein vollkommener Frontwechsel fand statt: Die revolutionäre Einstellung wurde durch eine deutliche deutschnational ausgerichtete Gesinnung abgelöst. »Nein, der Rhein konnte und durfte nicht Deutschlands Grenze sein. Als Ausgangspunkt aller Deutschen sollte er eine Verbindungslinie sein – ein Ausgangspunkt deutscher Kultur.«47 Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich 1870 und der Annektion Elsass-Lothringens wurde dieses politische Programm in die Tat umgesetzt. Fast der ganze Rhein war nun von Basel bis Emmerich deutsch geworden. Der Rhein war nicht mehr »Teutschlands Gränze«, sondern »Teutschlands Strom« geworden, um den programmatischen Titel des 1813 von Ernst Moritz Arndt publizierten Buches aufzunehmen. Die weiteren Folgen sind nur allzu gut bekannt. Abschließend hält Febvre fest, der Rhein habe im Laufe der Zeit vor allem als integrierender territorialer Faktor gewirkt. Dies sei wohl seine bemerkenswerteste Eigenheit überhaupt gewesen, eine integrative Fähigkeit, zu verbinden und zu versöhnen, die selbst von nationalistischen Leidenschaften nicht zum Verschwinden gebracht werden konnte. »Allerdings muß der Historiker 46 | Ebd., S. 92-3. 47 | Ebd., S. 175.
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darauf hinweisen, daß der Rhein die Menschen nicht immer nur miteinander verbunden, sondern gelegentlich auch getrennt und gespalten hat. Neben der leuchtenden und fruchtbaren Wasserstraße gab es auch die blutige und unfruchtbare Grenze. […] Der These von der vorbestimmten Grenze kann allerdings weder eine Untersuchung der Vergangenheit noch eine Beobachtung der Gegenwart standhalten.«48 Vergleicht man Cherubims und Febvres Position, so fällt auf, dass ihre historische Argumentation gegenteilige Schwerpunkte setzt. Der ursprünglichen Trennung, die durch Zuwachs an Kultur aufgehoben wird, steht eine Vision gegenüber, die das Verbindende als Ausgangspunkt versteht, der durch Zerwürfnis und Krieg infrage gestellt wird. Beide Autoren geben dem verbindenden Moment den Vorrang, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Cherubim assoziiert die integrierende Funktion von Flüssen mit einem expansionistischen und nationalistischen Projekt, während Febvre, wohl auch aufgrund des unterschiedlichen historischen Kontextes, nationalistischen Gelüsten zutiefst misstraut und gerade darin den Ursprung von Grenzen sieht. Febvre verzichtet zudem auf eine evolutionistische Perspektive und geht davon aus, dass es immer wieder zu Umschwüngen von einem Prinzip zum anderen kommt. Hervorzuheben wäre hier allerdings noch, dass Trennung immer Verbindung und Verbindung immer auch Trennung impliziert. Es ist dabei gerade die Existenz unterschiedlicher Ufer, welche verbindende Austauschbewegungen in Gang setzt. Umgekehrt setzt die Betonung von Einheit in der Differenz unter gewissen Umständen eine Negation kultureller Unterschiede zugunsten eines Anspruchs auf Hegemonie voraus. Die ist weitgehend der Fall bei den Mythen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts um die Donau herauszubilden beginnen.
D IE D ONAU : V ÖLKER UND S TA ATEN Geht es beim Rhein vor allem um einen Mythos der Trennung, aus dem sich, besonders in nachnapoleonischen Zeiten, nationalistische Einheitsgefühle speisen, so bildet sich im Zusammenhang mit der Donau, besonders nach dem Ausgleich von 1867 und der Verlagerung der Interessen des Hauses Habsburg nach Osten, eine komplementäre kollektive Erzählung heraus, die auf eine Integration des umfangreichen Vielvölkerstaates der Donaumonarchie abzielt, deren Zweck es ist, regionale und kulturelle Ungleichgewichte zu überspielen. Die Donau spielt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich so etwas wie eine innerdeutsche komplementäre Rolle zum Rhein, die auf frü48 | Ebd., S. 186.
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heren Momenten der Mythologisierung auf baut. Claudio Magris fasst diesen Unterschied anhand des Nibelungenliedes zusammen: einerseits aufrichtige deutsche Tugend und ritterliche Kampfeslust, andererseits die diffuse orientalische Völkerflut, in der die deutschen Werte sich zersetzen und auflösen müssen. In dem Moment, in dem die Burgunder über die Donau setzen, ist ihr Verhängnis besiegelt. »In symbolischen Zusammenhängen erscheint die Donau häufig als das, was ›dem‹ Deutschen entgegengesetzt und feindlich ist; sie ist der Fluß, an dessen Ufern die verschiedensten Völker sich begegnen und vermischen, ganz anders als der Rhein, der mythische Wächter über die Reinheit des germanischen Geschlechts. Die Donau ist der Fluß von Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad, Dazien, das Band, das […] das habsburgische Österreich durchzog und umschloß. Dessen Mythos ließen sie zum Symbol einer vielfältigen, übernationalen Koine werden, eines Reiches, dessen Herrscher sich an ›meine Völker‹ wandte und dessen Hymne in elf verschiedenen Sprachen gesungen wurde. Die Donau ist das deutsch-ungarisch-slawisch-romanisch-jüdische Mitteleuropa, das dem germanischen Reich polemisch entgegengesetzt wird: eine ›hinternationale‹ Ökumene, wie sie der Prager Johannes Urzidil begeistert nannte.« 49
So verdoppelt sich der innere territoriale Gegensatz von West und Ost, von römischem und germanischem Deutschland, von Wald und Steppe in der landschaftlichen Gegenüberstellung der beiden Flüsse, deren Form und Funktion dementsprechend interpretiert werden: Rhein und Donau, Westen und Osten, Einheit und Pluralität. Die Donau umfasste seit dem Altertum ein Einzugsgebiet, das Raum für die Begegnung zahlreicher Völker bot. Kein Fluss hat wohl insgesamt mehr Völker und Kulturen angezogen und die Siedlungen, die sich seinem Lauf entlang bildeten, miteinander in Kontakt gebracht. Ein Fluss, der, wie Hölderlin festhält, nach Europa und zugleich darüber hinausführt. Die Donau bot Raum für die Entstehung großflächiger Staaten und verband die verschiedenen Reichsteile miteinander. Dies gilt für die Römer, die Habsburger und die Osmanen gleichermaßen. Trotzdem diente sie über längere Zeitperioden hinweg und in verschiedenen historischen Kontexten immer wieder als Grenze. In römischen Zeiten dienten gegen Ende des 4. Jahrhunderts n.Chr. große Abschnitte des oberen Flussverlaufes als Nordgrenze des spätrömischen Reiches. So schreibt dazu Heinrich von Srbik, der, wie schon gezeigt, kein Interesse daran hatte, die Donau als geopolitisch zwingenden Verbindungsweg darzustellen: Rom stellte den germanischen Völkern »seinen Donaulimes entgegen als einen Staudamm, der […] eine romanische Kulturdecke mit Mittelmeer-
49 | Magris, Donau, S. 30.
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charakter von der germanischen Kulturübervölkerung schied.«50 Auch heute wieder markiert die Donau die Grenze zwischen der Slowakei und Ungarn, Serbien und Rumänien sowie Rumänien und Bulgarien. Unter Augustus zogen sich die römischen Legionen nach den militärischen Niederlagen in Pannonien und dem Teutoburger Wald hinter den Rhein und die Donau zurück, deren oberer Verlauf zur Reichsgrenze wurde. Augustus’ Nachfolger eroberten Mösien und Thrakien und sicherten dadurch ihre Herrschaft über den Balkan. Der untere Verlauf der Donau wurde damit ebenfalls in die Reichsgrenze integriert. In der Folge wurde zwischen dem Rhein und der Donau zum Schutz gegen andrängende Völkerschaften der Limes erbaut, unter Einbezug eines Teiles des Neckars. In dieser fast durchgängigen Grenze, die nahezu 500 Jahre hielt und wohl die längste und beständigste Europas war, spielte die Donau die Rolle eines ›nassen‹ Limes. Erst unter dem Druck der anstürmenden Barbaren erfolgte im Laufe des 3. Jahrhunderts die allmähliche Auflösung der Donaugrenze. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts erreichten die Türken den Unterlauf der Donau, der für kurze Zeit als Nordgrenze des osmanischen Reiches fungierte. In der Folge aber diente der Strom vor allem als Rückgrat des Vorstoßes auf Wien und als Verkehrsader für den Transport von Nachschub. Rund um den Fluss baute sich ein zweites Imperium auf, das bis zum Ende des 17. Jahrhunderts den Balkan beherrschte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nach dem definitiven Sieg gegen die osmanischen Truppen vor Wien, war das Herrschaftsgebiet der Habsburger ein heterogenes multikulturelles Gebilde, das im Folgenden auf über ein Dutzend ethnischer Gruppen in verschiedenen Stadien der nationalen Entwicklung anwuchs. Die Donau wurde in diesem Zusammenhang – und dies eigentlich zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte – zum Strom, der Mitteleuropa als geopolitische Formation hervorbrachte und zugleich zusammenfasste. Der Ausgleich von 1867 hatte ein zweifältiges Gebilde hervorgebracht, das zwar einen Herrscher, aber zwei Regierungen und zwei Parlamente besaß. Der damit begründete österreichisch-magyarische Dualismus wurde gegen die immer stärker werdenden Forderungen der weitgehend unterdrückten, zahlenmäßig aber bald überlegenen Minderheiten durchgesetzt. Dieses riesige Gebilde wurde nicht nur durch das mehrere tausend Kilometer lange, ostwestliche Band der Donau umfasst, sondern durch einen zweiten kurzen, als Verbindungsweg eher unbedeutsamen Fluss gespalten, der den beiden ungleichen Teilen, wie auch die Donau dem gesamten von ihr durchflossenen Gebiet, seinen Namen lieh: Cisleithanien und Transleithanien. Die Leitha ist ein 180 Kilometer langer, aus dem Zusammenfluss von Schwarza und Pitten hervorgegangener Nebenfluss der Donau. In seiner Nähe besiegte der Babenberger Herzog Friedrich II. die Truppen des ungarischen Königs Béla IV. im Jahr 50 | Srbik, Österreich in der deutschen Geschichte, S. 11.
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1246: eine äußerst symbolische Grenze also, stellen doch die Babenberger Herzogtümer zwischen Linz und Wien das eigentliche Kerngebiet des späteren Österreichs dar. Die Leitha51 zerteilt, wenn auf symbolische Weise bloß und auf ganz kurzer Strecke, das riesige vielsprachige Reich, denn gegen Süden, Norden und Osten hin sind die Grenzmarken ganz anders bestimmt worden. Sie drückt damit aber, wenn auch auf andere Art und Weise als die Donau oder der Rhein, die grundsätzliche Ambivalenz von Flüssen aus, die darin besteht, die durchflossenen Gebiete zu zerteilen und dadurch die beiden fremden Ufer miteinander zu verbinden.
51 | Vgl. dazu H. Haselsteiner, Leitha/Lajta. Fluss an der Grenze – Grenze als Flusslauf, in: Ost-West. Europäische Perspektiven, 5. Jg. 2004, Heft 3, S. 200-1.
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Patchwork Zusammengesetzte Landschaften
»Süd und Nord, West und Ost – die Reize aller Zonen haben sich vereinigt, unser Heimatland auszustatten mit den wirksamsten Schönheitskontrasten der merkwürdigsten landschaftlichen Gegensätze. In keinem zweiten Land Europas vollzieht sich namentlich der Übergang aus nordischem Grau zu südlichem Sonnenzauber derart traumhaft wie in Österreich. Über Nacht entfliehen wir dem nordischen Nebel, über Nacht durcheilen wir die auf den Alpenhöhen thronende Polarwelt der Gletscher und Firnfelder, über Nacht wird es Frühling, halten wir Einzug in die strahlenden Wonnen hesperischer Lüste, begrüßt uns der Anblick im Seewinde sich wiegender Palmen, die Unendlichkeit azurner Meereshorizonte.« S. S CHNEIDER UND B. I MENDÖRFFER , Mein Österreich, mein Heimatland
Obwohl Landschaften sich stets als in sich stimmige Ganzheiten präsentieren, sind sie das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, bei dem ein Teil aus einem größeren Zusammenhang herausgelöst wird und dann – um eine treffende Metapher Georg Simmels zu verwenden, auf die ich im letzten Kapitel näher eingehen werde – wie bei einem gewobenen Teppich die Fäden, die sie mit dem Rest der Welt verbanden, »abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft«1 werden. Dadurch grenzen sich Landschaften in einer doppelten Bewegung vom Äußeren ab und erlangen zugleich innere Kohärenz. Es sind nun gerade die gekappten und nach innen geknüpften Weltfäden, die es dem landschaftlichen Ausschnitt ermöglichen, als eigenständiges Gebilde zu bestehen. Dass es sich bei dieser ästhetischen Leistung zugleich um eine 1 | G. Simmel, Philosophie der Landschaft, in: Aufsätze und Abhandlungen 19091918, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 474.
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hochpolitische Angelegenheit handelt, muss hier wohl nicht zusätzlich hervorgehoben werden. Politische Landschaften, ja Landschaften ganz allgemein, verbergen dank dieser vorgespiegelten, inneren Stimmigkeit und Ausgewogenheit ihren prekären und unstabilen Charakter, wenn man so will, ihre Willkürlichkeit und Beliebigkeit. Dass Landschaften ästhetische und politische Konstrukte sind, zeigt sich beispielsweise an Jean-Jacques Rousseaus idealisierter, weitgehend zusammengestückelter Vision der Alpen, die einen Landschaftsteppich, ein Landschaftsgewebe heraufbeschwört, das der kumulativen Logik einer Liste folgt. In den Geständnissen (1765-1770) schreibt er über die Schweizer Landschaft: »Niemals würde ein flaches Land, wie schön es auch sei, in meinen Augen als solches erscheinen. Ich brauche Wildbäche, Felsen, Tannenbäume, schwarze Wälder, Berge, aufsteigende und absteigend holperige Wege und Abgründe an meiner Seite, die mir Angst bereiten.«2 Rousseau benennt dabei nacheinander und nach einem Gesetz der inneren Steigerung, nicht nur die einzelnen Bestandteile des landschaftlichen Puzzles, sondern liefert abschließend auch das damit assoziierte Grundgefühl mit, das dem Ganzen erst seinen inneren Zusammenhalt verleiht. Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Malerei, sind die zusammengesetzten Landschaften, die paysages composites des Schweizer Malers Caspar Wolf, ein Pionier der Hochgebirgsmalerei, der in seinen Gemälden meist in einer einzigen Ansicht räumlich weit entfernte Landschaftselemente nebeneinander setzte. Damit konnte er eine weitaus größere Anzahl von Elementen zusammenführen, als die von einem einzigen Standpunkt aus sichtbaren Details.3 In diesem Kapitel möchte ich dieses konstruktivistische Prinzip von Landschaften anhand der Überlandschaft Österreich-Ungarns diskutieren. Wie schon im letzten Kapitel ausgeführt, wurde die vielseitige kulturelle, ethnische und geographische Komplexität der Donaumonarchie, der man mit einer einzigen Landschaft nicht gerecht werden konnte, anhand des verbindenden Bandes der Donau veranschaulicht. Hier soll nun eine weitere landschaftliche Strategie untersucht werden, die auf der Logik der Liste beruht, der Aneinanderreihung unterschiedlicher Landschaftstypen als Ausdruck einer grundlegenden inneren Heterogenität und zugleich umfassender Beweis inneren Zusammenhaltes.4 Wie in Rousseaus kurzer Beschreibung der typisch schweizerischen alpinen Landschaft funktionieren diese Listen nicht nach einem einfachen Prinzip der Anhäufung, sondern verfolgen eine komplexere Strategie. 2 | Zitiert in Walter, Das alpine Gebirge, S. 220. 3 | Vgl. Reichler, Entdeckung einer Landschaft, S. 49. 4 | Vgl. dazu S.H. Kaszyĝski, Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur, in: Die Habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens, hg. von S.H. Kaszyĝski und S. Piontek, Warschau 1994, Poznaĝ 1995, S. 15-6.
Patchwork
Der für dieses Kapitel gewählte Titel, Patchwork, ist ein kritischer, nicht ein deskriptiver Begriff, hinterfragt er doch die ideologische Gesamtheitsvision Kakaniens als ein multinationales und multiethnisches Konglomerat, das immer wieder drohte, in seine Bestandteile zu zerfallen. Ein Patchwork ist zwar ein Ganzes, aber ein zusammengestückeltes, nichts organisch Gewachsenes und widerspricht damit dem habsburgischen Mythos, der ja ebenfalls von einem familienähnlichen Zusammenhalt ausging, bei dem die einzelnen Kinder der multiethnischen Überfamilie der Vaterfigur des gütigen Kaisers untertan waren. Die propagierte Strategie der ethnischen und kulturellen Integration wurde auf mehreren Ebenen eingesetzt. So gab es in Österreich-Ungarn keine Nationen, sondern nur Völker, die allesamt in einer einzigen Übernation zusammenlebten. Joseph Roth schreibt dazu in Radetzkymarsch: »Es mochte viele Völker geben, aber keineswegs Nationen.«5 In einem Aufruf von Kaiser Franz Joseph, der am 27. Juli 1914 in der Wiener Zeitung erschien, trat dieser als väterlicher Monarch auf: »Ich vertraue auf Meine Völker, die sich allen Stürmen stets in Einigkeit und Treue um meinen Thron geschart haben und für die Ehre, Größe und Macht des Vaterlandes zu schwersten Opfern bereit waren.«6 Der habsburgische Mythos7 pflegte ein übernationales Ideal, das sich an die Vorstellung einer ›Großen Schweiz‹ anlehnte, mit dem Unterschied, dass in der Donaumonarchie, im Gegensatz zur mehrsprachigen föderativen Schweiz, die zentrale Macht des Kaisers und die Vorherrschaft des deutschsprachigen Teils trotz innerer Spannungen letztlich unumstritten waren. Verneint wurden dadurch der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zuspitzende innere Klassenkampf und das zusehends unstabiler agierende multiethnische Arrangement. Verdrängt wurden damit auch die äußeren Bedrohungen und der Verlust der Vormachtstellung im innerdeutschen Vergleich mit Preußen. Nationale Landschaftsmetaphern, dies hat sich bisher immer wieder gezeigt, tendieren prinzipiell dazu, innere Widersprüche auszublenden. Dies gilt auch für die Schweiz. Die demographische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft des deutschsprachigen Elements wird in der versöhnlichen Vision eines viersprachigen Landes, das sich um sein heiliges Zentrum schart, letztlich ebenfalls zum Verschwinden gebracht. Sowohl die Schweiz als auch Österreich-Ungarn setzen auf landschaftliche Metaphern, die es ermöglichen, Einheit und Vielheit zu konjugieren. Dabei zeigt sich der radikale Unterschied. Die paranoide Metapher des Festungswalles und die versöhnende des Wasserschlosses betonen zwar die Zentralität des Gotthardmassivs, verneinen dabei aber nicht 5 | J. Roth, Radetzkymarsch, Köln und Berlin 1963, S. 288. 6 | www.lsg.musin.de/geschichte/Material/Quellen/1914-fj.htm. 7 | Claudio Magris bestimmt daneben noch zwei weitere Grundelemente: die Lebensfreude, der genießerische Hedonismus und das bürokratische Ideal einer statischen, aber grandiosen Mittelmäßigkeit (vgl. dazu Magris, Der habsburgische Mythos).
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grundsätzlich die inneren Unterschiede. Die Donau und die Landschaftsliste hingegen stellen die Pluralität8 in den Vordergrund und suggerieren dadurch eine innere Gleichheit, die es eigentlich nie gab. Der ideologische Gehalt der beiden Metaphern liegt damit auf verschiedenen Ebenen. Im Gegensatz zum Schweizer Gebirge und zum deutschen Wald setzt die übernationale Landschaft der Donaumonarchie explizit auf das Zusammenkommen heterogener Momente. Dabei steht die Art und Weise, wie diese einzelnen Momente zu einer Einheit finden, im Mittelpunkt. Das gilt sowohl für die Donau, als auch für die heterogene Überlandschaft Kakanien. Die Donau ist ein fließendes Band, das von Punkt zu Punkt wandert und alle Komponenten, einer Perlenkette vergleichbar, miteinander verbindet. Die Reihenfolge ist dabei durch die Beziehung von Quelle und Mündung gegeben. Das gesamte angesammelte Wasser der verschiedenen Zuflüsse findet am Ende durch das Ineinanderfließen der einzelnen Ströme zusammen. Die Donau führt alle Seitenarme zum selben Ziel, dem Schwarzen Meer. Hier ergibt sich die Vorstellung eines sukzessiven organischen Zusammenwachsens schon allein aus der Verwendung der Flussmetapher. Ähnliches kann man bei den Landschaftslisten, auf die ich hier eingehen will, feststellen. Listen haben es in sich. Sie können endlos weitergeführt werden und auch die Aufstellung der einzelnen Posten muss nicht unbedingt einem Ordnungsprinzip unterliegen. Im Falle Österreich-Ungarns wird die drohende Vorstellung des bloß Zusammengestückelten durch zwei miteinander kombinierte diskursive Strategien erreicht: durch harmonisierende bruchlose Übergänge, die dadurch entstehen, dass die Anordnung der Liste sich der natürlichen Logik der geographischen Richtung beugt – von Norden nach Süden und von Westen nach Osten –, und durch das Bestreben nach landschaftlicher Vollständigkeit. In Robert Musils Schilderung seiner multiethnischen Herkunft, auf die ich noch eingehen werde, wird der Zusammenhalt in Form eines Kreises geleistet, einer Generationen umspannenden Reise, welche die einzelnen Landschaften zusammenführt. Neben der Vorstellung eines ultimativen Sammelbeckens, in dem die einzelnen Ströme münden, und der Verwendung von litaneienhaften, 8 | Ein weiteres Beispiel für eine Liste liefert der kurze autobiographische Text Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München von Ödön von Horváth. »Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß – aber: ›Heimat‹? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch – mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch. Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur Deutsch; gehöre also dem deutschen Kulturkreis an, dem deutschen Volke. Allerdings: der Begriff ›Vaterland‹, nationalistisch gefälscht, ist mir fremd.« (Ö. von Horvath, Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München, in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1972, S. 9).
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beschwörenden Aufzählungen in Landschaftslisten müsste hier noch ein drittes wichtiges Element erwähnt werden: die Betonung des Organischen, langsam Gewachsenen, welches immer wieder dem rein Mechanischen und Beliebigen entgegengestellt wird. Die Vorstellung des über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Gesamtkörpers der Donaumonarchie blendet Eroberungskriege, Friedensverträge und alle weiteren politisch-militärischen Begebenheiten aus.
D AS S AL ZK AMMERGUT ALS U RZELLE Ö STERREICH -U NGARNS Das patriotische Lied Mein Österreich von W. Wenhart lehnt sich inhaltlich und vor allem musikalisch an das Dachsteinlied, die Hymne des Landes Steiermark, an, das vom Grazer Buchhändler und Verleger Jakob Dirnböck am 16. Oktober 1844 geschrieben und von Ludwig Carl Seydler vertont wurde: »Hoch vom Dachstein an, wo der Aar noch haust,/bis zum Wendenland am Bett der Sav’/und vom Alptal an, das die Mürz durchbraust,/bis ins Rebenland im Tal der Drav’/Dieses schöne Land ist der Steirer Land,/ist mein liebes teures Heimatland,/dieses schöne Land ist der Steirer Land,/ist mein liebes, teures Heimatland!« Das Landschaftsbild wird weitgehend von wilden Wasserläufen und hohen Schneebergen beherrscht. Die Erzählung der Landschaft führt vom höchsten Berg des Dachsteingebirges im Norden der Steiermark bis zur südlichen Grenze mit Slowenien, zur Save, die in Österreich entspringt, um dann nach Südosten Richtung Ljubljana zu fließen. Die Mürz trennt die Steiermark von Niederösterreich und die Drau ist ein Nebenfluss der Donau, der ebenfalls von Nordwesten nach Südosten verläuft. Damit sind Berg und Fluss, die auch in der nach dem Zweiten Weltkrieg adoptierten Nationalhymne das Land landschaftlich definieren, genannt. Die Nord-Süd-Bewegung verdoppelt sich hier zudem in einer vertikalen Bewegung, die den Ursprung des Landes in sakrale Höhen verlegt. Wenharts Lied, welches die ursprüngliche Melodie verwendet, dehnt die Landschaftsbeschreibung auf das gesamte multikulturelle Österreich-Ungarn aus. Dies hat wohl vor allem mit der speziellen Bedeutung der Steiermark, insbesondere des Salzkammerguts zu tun, das, wie schon gezeigt,9 im 19. Jahrhundert als Österreich im Kleinen betrachtet wurde. Hier verschmelzen »Naturlandschaft und habsburgische Vergangenheit zu einem harmonischen Ganzen«.10 Das Salzkammergut erhielt aufgrund seiner landschaftlichen Ausformung auch den Beinamen österreichische Schweiz und wird selbst heute noch in touristischen Darstellungen als Miniaturausgabe Gesamtösterreichs betrachtet.11 9 | S.o. Land und Leute. 10 | Hellmuth, Die ›Erfindung‹ des Salzkammerguts, S. 355. 11 | Vgl. dazu ebd., S. 356.
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In einem Reiseführer aus dem Jahr 1934 wird die bergige Region in einen direkten Bezug zur anderen Seite Österreichs gesetzt: »[…] keiner seiner Berge, von deren Gipfel der Blick nicht auch in die Weite der Donauebene dränge, kein See und kein Ort, den nicht der nahe oder ferne Berg feierlich erhöhe. Jenseits des Salzkammerguts werden die Berge rauher, gnadenloser, schon weil das freundliche Gegenspiel der Seen fehlt; oder die Grenze ist nah und türmt die Berge zu Wällen. Hier aber, drei österreichische Kronländer […] umfassend […] schlägt das Herz Österreichs, der österreichischen Berge und Landschaften vielleicht am stärksten und eigensten.«12 [Herv. d. Verf.]
Hier klingt ein weiterer Unterschied zur schweizerischen Konzeption der Alpen als Festungswall an. Die österreichischen Alpen sind nicht Ausdruck kämpferischer Unabhängigkeit und Abgeschlossenheit. Sie stehen für ein Ideal der allgemeinen Versöhnung. Bedeutsam scheint mir ebenfalls die Verbindung der Landschaftsmetapher mit derjenigen des Körpers, die hier wie schon im Falle des Gotthards über die Verbindung von Zentralität und Herz zustande kommt. Die Valorisierung des Salzkammerguts im Laufe des 19. Jahrhunderts war, wie schon kurz angedeutet,13 ebenfalls Teil einer monarchistisch ausgerichteten Neudefinition des östlichen Alpenraumes. Dabei spielte die Figur von Kaiser Franz Joseph, der Bad Ischl zu seiner Sommerresidenz auserkoren hatte, eine absolut zentrale Rolle. Der Kaiser gab sich volksnah und naturverbunden; zu seinen häufigen Jagdausflügen trug er eine Ischler Lederhose, grüne Wadenstutzen und einen graubraunen Lederjanker.14 Jon Mathieu hat in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung von Erzherzog Johann von Österreich, eines Bruders von Kaiser Franz, hingewiesen. »Er fühlte sich schon früh angezogen von allem, was mit der Bergwelt zu tun hatte. In jungen Jahren richtete er zum Beispiel bei Schloss Schönbrunn ein Tirolerhaus ein, mit Kühen und Kälbern, betreut von einem Bergler in Zillertaler Tracht. Mit seinem Leben auf einem steirischen Gebirgshof, seiner romantischen Heirat mit einer Postmeistertochter und weiteren Schritten und Gesten wurde der Erzherzog später zu einer quasi-perfekten Verkörperung der zeitgenössischen Alpensehnsucht. [...] zu einer alpinen Ikone – so wie Monarchie und Alpen im Laufe des 19. Jahrhunderts überhaupt enger zusammentraten.«15
12 | Zitiert in: Hellmuth, Die ›Erfindung‹ des Salzkammerguts, S. 356, aus H. Stifter, Salzkammergut und Dachstein, München 1934, S. 13. 13 | S.o. Land und Leute. 14 | Vgl. Hellmuth, Die ›Erfindung‹ des Salzkammerguts, S. 352. 15 | J. Mathieu, Zwei Staaten, ein Gebirge: schweizerische und österreichische Alpenrezeption im Vergleich (18.-20. Jahrhundert), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 15/2, 2004, S. 100.
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Von 1849 bis 1914 pflegte er sich von den Wiener Staatsgeschäften in alpiner Umgebung zu erholen. Dies führte zu einer Identifikation zwischen der Landschaft des Salzkammerguts, dem habsburgischen Herrscherhaus und Österreich-Ungarn als Ganzes. 1853 lernte er die damals bloß 15-jährige Elisabeth von Bayern kennen, mit der er sich im gleichen Jahr verlobte. In den drei Sissi-Filmen aus der Mitte der 1950er Jahre wird diesem ideologischen Komplex unumwunden gehuldigt. Der enorme Publikumserfolg der drei österreichischen Historienfilme hängt eindeutig mit dem legitimatorischen Teilvakuum zusammen, das in den Nachkriegsjahren in Österreich entstanden war. Die Sissi-Filme setzten in einer mythisch und nostalgisch verklärten Vergangenheit an, und vermengten die süßlich-romantische Liebesgeschichte des jugendlichen Herrscherpaars mit der touristisch nach wie vor relevanten Landschaft des Salzkammerguts. Dadurch konnten die für Österreich schwierigen Jahre nach 1918 und 1938 kurzerhand übersprungen und vergessen werden. Zugleich waren die Filme Ausdruck einer Suche nach einer neuen nationalen Identität, die sich nicht mehr direkt auf die traditionsreiche, übernationale Idee des habsburgischen Mythos und die damit zusammenhängende pluralistische, zusammengesetzte Landschaft der Donauländer verließ, diese jedoch auch nicht ganz aufzugeben bereit war. Wie schon zu Beginn der Bundeshymne der Republik Österreich anklingt – »Land der Berge, Land am Storme« –, bleiben beide Motive von Bedeutung. Nach Österreichs Neubeginn in der zweiten Nachkriegszeit ist es zwar eine stark zusammengeschrumpfte, aber immer noch zusammengesetzte Landschaft, die für die nationale Identität des Landes einsteht.
V ON DEN HELVE TISCHEN ZU DEN ÖSTERREICHISCHEN A LPEN Prädominiert im helvetischen Modell der Alpen die Idee hoher schneebedeckter Gipfel, die mit dem ästhetischen Konzept des Erhabenen aus dem späten 18. Jahrhundert zusammenhängt, so sind die österreichischen Alpen wegen ihrer mittleren gebirgigen Lage relevant. »Bei dieser gigantischen Anstrengung, die alpinen Identitätsstereotypen zu mobilisieren«, schreibt Walter, »geht es immer wieder darum, Österreich vom helvetischen Modell abzugrenzen. Die beiden Vorstellungen von Republik stehen ganz offensichtlich in Konkurrenz zueinander.« Anstatt sich aber »auf die imposanten Bergmassive zu konzentrieren, rücken die österreichischen Alpen das Bild einer allgemeinen Öffnung auf die umgebenden Ebenen und Täler in den Mittelpunkt.«16 [Übers. d. Verf.] Wie im Falle des deutschen Mittelgebirges setzt sich dabei eine vermenschlichte Land-
16 | Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 359.
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schaft durch. »Es ist [dabei] allerdings kein einzelner Berg, wie etwa das Matterhorn, der Symbolwert hat, sondern das – gebirgige – Land ganz allgemein.« 17 Jon Mathieu hat die alpine Rivalität der beiden Nationen nicht so sehr in einem landschaftlichen als in einem historischen Sinne gedeutet. Mathieu spricht dabei von einer ideologischen Verlagerung von Westen nach Osten. Die im 18. und frühen 19. Jahrhundert ausgearbeitete protestantisch-republikanische Sicht der Schweizer Berge – so wie sie unter anderem bei Johannes Scheuchzer, Albrecht von Haller, Jean-Jacques Rousseau und in Friedrich Schillers Wilhelm Tell auszumachen ist – wird im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem weitgehend katholisch-monarchistischen Verständnis der Alpen überlagert und abgelöst. Die republikanische Deutung war Teil eines gesamteuropäischen Diskurses, der die Schweizer Alpenlandschaft als Reich der bescheidenen Genügsamkeit, der moralischen Aufrichtigkeit und vor allem der politischen Freiheit bestimmt hatte. »Ausgehend von der Schweiz, hatten sich die Alpen vor der Französischen Revolution einen ausgesprochen republikanischen Ruf erworben. Um 1900 dominierte hingegen der Nationalismus […]. Die freie Luft auf den Bergspitzen wehte nun sowohl für Republikaner wie für Royalisten und Kaisertreue.«18 Hier zeigt sich besonders deutlich, wie politisch völlig unterschiedliche, ja in diesem Fall sogar entgegengesetzte Projektionen Landschaften zu ihren jeweiligen Zwecken verwenden können. Abbildung 17: Trix und Flix, die Maskottchen der Fußball-Europameisterschaft 2008
17 | Zitiert in Mathieu, Zwei Staaten, ein Gebirge, S. 101, aus E. Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 1996, S. 87. 18 | Mathieu, Zwei Staaten, ein Gebirge, S. 100.
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Eine interessante Weiterentwicklung des hier geschilderten Verhältnisses, die im Zeichen der kulturellen Versöhnung steht, findet sich im Kontext der europäischen Fußballmeisterschaft 2008, die in Österreich und der Schweiz stattgefunden hat. Die beiden fußballbegeisterten Zwillinge Trix und Flix, die Maskottchen der Veranstaltung (Abb. 17), tragen die Nationalfarben der beiden Länder, rot und weiß, und die Trikotnummern 20 und 08 auf der Brust. Trix, der wohl für Österreich steht, das im Logo zuerst genannt wird, trägt ein weißes Oberteil mit roter Hose. Flix hingegen hat ein rotes Oberteil mit weißer Hose. Beide haben eine auffallende zackige rote Frisur und tragen über dem rechten bzw. linken Auge eine weiße aufgemalte Zackenlinie, welche die Form ihrer Frisur wieder aufnimmt und stilisierten Alpengipfeln gleicht. Das stilisierte Bergmotiv wird im Logo wieder aufgenommen und um eine weitere Dimension erweitert: drei ungleiche rote Zacken, die eine Gebirgskette andeuten und ein daraus hervorgehender gebogener gegenläufiger Strich in Form des Buchstabens Jot, der einen ökologischen grün-weißen Fußball schützend umfasst. In dieser modernen Variante der Identifizierung eines Landes mit seiner nationalen Landschaft überwiegt das Verbindende. Dass sowohl Österreich als auch die Schweiz durch die Berge definiert werden, wird hier zum Anlass eines kulturellen Ausgleichs genommen. Das landschaftliche Motiv der Berge ist auf eine knappe, aber immer noch zu erkennende zackige Linie geschrumpft, was zugleich verdeutlicht, wie tief solche metaphorischen Verknüpfungen Teil der europäischen Kultur und der kollektiven nationalen Vorstellungen geworden sind. Aber zurück zu Wenharts nationalistisch inspiriertem Lied.
L ANDSCHAF TSLISTEN Die narrative Struktur von Wenharts Mein Österreich wiederholt weitgehend die Bewegung des Dachsteinliedes: Es ist die Regel der sammelnden und versöhnenden Liste des Disparaten, der man in anderen Aufzählungen dieser Art begegnet: »Hoch vom Erzgebirg, wo der Bergmann haust,/Bis zum Karstgebiet am Meeresstrand;/Und vom Bodensee, wo der Rheinstrom braust,/Bis zum Goldland am Karpatenrand:/Dieses schöne Reich, einem Garten gleich,/Ist mein Vaterland, mein Österreich.//Wo sich See an See in den Bergen reiht/ Und die Donau Feld und Au durchrauscht;/Wo der Obstbaum prangt, edler Wein gedeiht/Und der Hochwald Gottes Odem lauscht […].« Zentrale landschaftliche Elemente sind vor allem die Bergketten, das Meer, die verbindende Donau, und die See-Gewässer Österreichs. Der Überblick geht von Norden nach Süden, von der Grenze zwischen Sachsen und Böhmen im Nordwesten des Imperiums bis nach Slowenien und die Adria, und von der extremen westlichen Ecke Österreichs hin zum Karpatenbogen zwischen Siebenbürgen und
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Rumänien. Dadurch werden zwei sich ergänzende Achsen entworfen: von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. In der als Motto zitierten Passage zu Beginn dieses Kapitels hat sich dieses auflistende Prinzip noch weiter verfeinert. So werden am Anfang die zwei wesentlichen geographischen Achsen explizit aufgerufen, die schon in Wenharts Mein Österreich vorkommen. Österreich-Ungarn wird als idealer landschaftlicher Großorganismus besungen, der sich in alle Himmelsrichtungen ausdehnt. Kein lockeres Konglomerat, sondern ein langsam gewachsenes zusammenhängendes Ganzes. Die erzählende Bewegung des Texts führt dann aber vor allem von Norden nach Süden – was wohl auch die Sehnsüchte eines deutschsprachigen Publikums am ehesten bediente und politisch weniger brisant war – und fügt zu den landschaftlichen Attributen noch weitere Versatzstücke hinzu, wodurch sie zwei Oppositionsreihen ergeben, die verschiedener nicht sein könnten und dennoch im Kaiserreich harmonisch nebeneinander bestehen: hier nächtlicher Nebel, nordisches Grau, Alpenhöhen, Gletscherwelten, winterliche Firnfelder, dort südlicher Sonnenzauber, Frühling, sich im Wind wiegende Palmen, Meeresbrise, endlose offene Horizonte. Die einzelnen Komponenten dieser spezifischen Sicht auf den österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat unterordnen sich einer versöhnenden sinngebenden Narration, welche die Unterschiede hervorhebt, um sich gleich wieder im Sinne einer übergeordneten Ganzheit zu kassieren: Österreich-Ungarn als überdimensionierte Sehnsuchtslandschaft, die es ermöglicht, innerhalb desselben Landes vom hohen kalten Norden in die flachen Gebiete des Südens abzusteigen und dadurch gleich beide Extreme zu goutieren. Verloren gehen dabei die spannungsvollen kulturellen und sprachlichen Differenzen, die immer damit zusammengedacht werden müssen, und die Eroberungskriege, die über Jahrhunderte hinweg geführt wurden, um dieses Reich zusammenzufügen und zusammenzuhalten. Bestimmte Landschaften stehen zwar für die unterschiedlichen Sprachen und die Völker, die sie bewohnen, verdecken diesen Zusammenhang aber wieder. Imaginierte Nationallandschaften weisen eine legitimierende und entpolitisierende Tendenz auf. Sie übersetzen nicht nur kulturelle Differenzen, die oft mit langfristigen Konflikten einhergehen, in natürliche Gegebenheiten, sondern übertragen diese zugleich in ein sinnvolles ausgewogenes Ganzes. Würde man die hier erwähnten Landschaftslisten in den politisch-kulturellen und historischen Kontext rückübersetzen, aus dem sie stammen, ergäbe sich eine ganz andere, weitaus instabilere Liste. Wenharts Lied fügt Böhmen und Slowenien, das Tirol und Siebenbürgen in eine vereinigende Klammer, die auch als imperiale Umklammerung verstanden werden kann, ohne dabei auf die Konflikte zwischen den tschechischen, slowenischen, deutschen und ungarischen Elementen einzugehen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und dem definitiven Zusammenbruch der Donaumonarchie kehren diese idealisierenden Bilder wieder zurück,
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diesmal aber aus einer resignierten und nostalgischen Perspektive heraus. Es sind dabei vor allem jüdische, innerhalb der Donaumonarchie aufgewachsene und nunmehr exilierte Schriftsteller, die an dieser Narration weiterspinnen. Unter ihnen Stefan Zweig und Franz Werfel.
D IE W ELT VON G ESTERN Die Donaumonarchie, die Stefan Zweig in seinem 1944 posthum erschienenen Buch Die Welt von Gestern beschwört, ist ein heterogenes Sammelbecken verschiedenster Ströme. In Wien »waren alle Ströme europäischer Kultur zusammengeflossen; am Hof, im Adel, im Volk war das Deutsche dem Slawischen, dem Ungarischen, dem Spanischen, dem Italienischen, dem Französischen, dem Flandrischen im Blute verbunden, und es war das eigentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues und Eigenartiges, in das Österreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem besonderen Sinn für Empfänglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten Kräfte an, entspannte, lockerte, begütigte sie; es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewusst wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopolitischen, zum Weltbürger erzogen. Diese Kunst der Angleichung, der zarten musikalischen Übergänge, sie ward schon offenbar im äußeren Gebilde der Stadt. In Jahrhunderten langsam gewachsen, aus innerem Kreise organisch entfaltet, war sie volkreich genug mit ihren zwei Millionen, um allen Luxus und alle Vielfalt einer Großstadt zu gewähren, und doch nicht so überdimensional, um abgelöst zu sein von der Natur wie London oder New York. Die letzten Häuser der Stadt spiegelten sich im mächtigen Strome der Donau oder sahen hinaus über die weite Ebene oder lösten sich auf in Gärten und Felder oder klommen in sachten Hügeln die letzten grün umwaldeten Ausläufer der Alpen hinauf; man fühlte kaum, wo die Natur, wo die Stadt begann, eines löste sich ins andere ohne Widerstand und Widerspruch. Innen wiederum spürte man, daß wie ein Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt gewachsen war […].«19
Die Stadt Wien, wie das gesamte österreichisch-ungarische Imperium folgt einer versöhnenden Logik des Organischen, ganz im Gegensatz zu anderen europäischen oder amerikanischen Metropolen, eine Gegenüberstellung, die auch Franz Werfel verwendet. Die plural, aber harmonisch angelegte Stadt geht bruchlos in die umgebende Landschaft über. Genannt werden neben den Sprachen, die für ebenso viele Territorien einstehen, einige der wesentlichen 19 | S. Zweig, Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1944, S. 24-5.
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landschaftlichen Attribute: die Donau, die ungarische Ebene und die Alpen. Die Stadt führt die heterogensten Elemente in einem Geist der Übernationalität zusammen. »Denn das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, daß ich es zum guten Teil dieser Stadt zu danken habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist verteidigt, daß ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Herzens zu lieben.« 20
A US DER D ÄMMERUNG EINER W ELT Franz Werfel 21, der einen vagen jüdischen Kosmopolitismus pflegte, sah in der Donaumonarchie die Verwirklichung einer übernationalen politisch-religiösen Ordnung. Der mittelalterliche und feudale Universalismus des Reiches beruhte auf der harmonischen Überwindung nationaler Gegensätze und auf dem sacrificium nationis, dem Verzicht auf den gefährlichen Instinkt des eigenen Blutes. Das österreichisch-ungarische Kaiserreich stand für eine höhere Idee, die Werfel dem modernen Nationalstaat gegenüberstellte, den er als dämonisch und dessen Verehrung er als götzendienerisch verstand. Werfels Vorstellung war vor allem von der Erfahrung des Nationalsozialismus geprägt. Werfels Aus der Dämmerung einer Welt ist eine kurze Sammlung von Erzählungen mit einem Prolog über das verschwundene österreichisch-ungarische Imperium. Das Buch wurde 1936 in Locarno geschrieben und erschien 1937 in Mailand in einer italienischen Erstfassung bei Mondadori in einer Übersetzung von C. Baseggio als Nel crepuscolo del mondo. Der Prolog (S. 9-43) trägt den Titel L’impero Austriaco und wird als Essay bezeichnet. Der zweite Teil des Buches besteht aus sieben Novellen, auf die ich hier nicht eingehen kann. Magris hält dazu fest: »Das von Werfel dazu verfaßte Vorwort ›Über die Bedeutung des kaiserlichen Österreich‹ ist als deutsches Manuskript verschollen.«22 Ich beziehe mich daher hier weitgehend auf die italienische Erstausgabe des Textes.
20 | Ebd., S. 34-5. 21 | Vgl. dazu auch Magris, Der habsburgische Mythos, S. 24-26 und Magris, Donau, S. 314-317. 22 | Magris, Der habsburgische Mythos, S. 363, Anmerkung 11. Magris zitiert aus der englischen Ausgabe Twilight of a World, New York 1937.
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Werfel lässt einen alten Österreicher auftreten, der auf eine Reihe von Fragen seitens des Erzählers eingeht und dadurch die versunkene Welt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie mit seinen Worten ins Leben zurückholt. Er kann dies, weil er wie der Autor selbst ein Überlebender ist. Diese Vorstellung einer einmaligen unwiederbringlichen Erfahrung, die aus dem Zeugenden einen Privilegierten und Auserwählten macht, beansprucht auch Stefan Zweig für sich selbst. Dabei geht es prinzipiell um das verlorene Geheimnis der inneren Kohäsion des riesigen Imperiums, um dessen Fähigkeit, eine unbeschreibliche Vielheit von Landschaften, Ländern und Völkerschaften zu vereinen. Der alte Mann listet die einzelnen Bestandteile auf, in die das Imperium zerfallen ist, und er tut dies einmal mehr anhand einer Reihe geographischer Orte, die jedoch signifikanterweise keinen übergeordneten Sinn mehr ergeben: die Alpen, das Tirol, die Seen des Salzkammerguts, die sanften Horizonte Böhmens, die wilden Hochebenen des Karst, die üppigen Gefilde der Adria, die Paläste Wiens, die Kirchen Salzburgs, die Türme Prags. Zickzackartig verläuft sein Überblick, von Westen nach Osten, nach Norden, Süden und Osten und wieder zurück nach Westen und Norden, als hätte er vollkommen die Orientierung verloren. Alles sei gleich geblieben, aber etwas Grundsätzliches habe sich verändert, etwas schwer Auszudrückendes. Werfel benützt die Metapher eines Schleiers, der sich einmal schützend über all die genannten Gebiete gelegt hatte und der heruntergerissen wurde. Er habe sich mit allem verbunden gefühlt, selbst mit dem entferntesten Hirtendorf in den Karpaten. Jetzt sei ihm dieses Gefühl abhandengekommen. Selbst das Nächstliegende sei ihm fremd geworden. In einem gewissen Sinne sei er ein Vaterlandsloser. Werfel geht es vor allem darum, sich von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten zu distanzieren, ohne dabei aber die organische Verknüpfung von Land und Leuten ganz aufzugeben. Die mysteriöse Verbundenheit hat nichts mit der ideologischen Verbindung zur Scholle zu tun. Werfel sieht in dieser Vision eine Verarmung, postuliert sie doch bloß den Einfluss materieller Faktoren, wie Land, Rasse und Blut. Es ist nun aber gerade der geistig-spirituelle Faktor, so Werfel, der vor teuflischen nationalistischen Konzeptionen wie derjenigen der Nationalsozialisten schützen könne. Nationalstaaten seien dämonische Erfindungen, wahre Reiche hingegen, und dazu zählt er natürlich auch die österreichisch-ungarische Donaumonarchie, seien stets zum Scheitern verdammte Versuche, Gottes Herrschaft auf Erden einzurichten. Durch die Auflösung des Imperiums ist eine Reihe von dämonischen nationalen Einheiten ins Leben gerufen worden und die höhere Ordnung auf eine tiefere Ebene gestürzt. Die christlich-millenaristische Dimension von Werfels Argumentation ist unleugbar. Der Geist, der Österreich-Ungarn beseelt haben soll, war ganz anderer Natur. Auch Preußen beanspruchte den Namen des deutschen Kaiserreichs für sich. Es war aber im Grunde genommen letztlich nie über den Status eines dämonischen Nationalstaates hinausgelangt.
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In seinen weiteren Ausführungen untersucht Werfel diese Vorstellung des Reichs, die er zuerst anhand topographischer Momente dekliniert hatte, vom Standpunkt der einzelnen Länder und Kulturen. Das Imperium bestand nicht aus Departements oder Provinzen, sondern aus 24 verschiedenen Ländern. Deren Umriss war nicht mit dem Lineal bestimmt worden, sondern organisch im Laufe der Zeit herangewachsen. Österreich-Ungarn war kein zentral verwaltetes Land wie Frankreich23 und auch nicht mit dem römischen Reich vergleichbar. Darüber hinaus waren diese einzelnen Nationen auf erstaunliche Art und Weise verschieden voneinander. Mehr noch: Sie waren gegensätzlich, was Kultur, Sprache und Tradition angeht. Werfel vergleicht das untergegangene Kaiserreich mit den Vereinigten Staaten von Amerika, und arbeitet eine Reihe von Unterschieden heraus, die es ihm ermöglichen, seine Definition zu präzisieren. Sowohl die USA als auch die Donaumonarchie sind für Werfel ethnische Reiche und nicht einfache Nationalstaaten. Es folgt eine weitere Auflistung von unterschiedlichen Landschaften, die aber im Gegensatz zur ersten einen deutlichen Formwillen erkennen lässt. Wie in den Vereinigten Staaten, wenn auch in bescheidener Form, vereinigte das Reich innerhalb seiner Grenzen und auf einem einzigen Gebiet alle in Europa anzutreffenden Landschaften und Völkerschaften, so dass sie gemeinsam das Glück auf Erden fänden, indem sie einer höheren Idee dienten. Werfels zweites Kompendium basiert auf der Vorstellung der Versöhnung der Gegensätze: das Klima des Nordens mit seinen Nadelwäldern und die Flora des Mittelmeers, die Lorbeer- und Olivenbäume, die alpinen Gletscherwelten und die endlosen Steppen der Puszta, die tragisch zerklüfteten Gipfel der Dolomiten und die melancholischen Hügel Böhmens, die träumenden Gewässer der alpinen Seen und das Mittelmeer 23 | Interessanterweise begegnet man gerade im zentralistisch organisierten französischen Staatsgebilde Stimmen, die auf Pluralität und Vielfalt der Landschaften als Ausdruck von unbeschränktem kulturellem sprachlichem und historischem Reichtum setzen. So Gaston Paris in einer Rede, die er am 24. März 1895 an der Sorbonne hielt. Frankreich sei ein privilegiertes Land, weil es die verschiedensten Klimas und die gegensätzlichsten Gaben vereine: das kalte germanische Meer im Norden, der weite Ozean im Westen und das laue Mittelmeer im Süden (vgl. Thiesse, La création des identités nationales, S. 188, Fußnote 6). »Die französische Nationallandschaft ist komplexer, weil sie sich im Wesentlichen in der Form einer Reihe von genau bestimmten, aber sehr unterschiedlichen regionalen Landschaften präsentiert. […] Erst im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Vorstellung einer französischen Spezifizität, die auf der Unterschiedlichkeit der natürlichen Ressourcen des Landes beruht: Wegen dieser Diversität kann Frankreich stolz sein, eine Art idealer Zusammenfassung Europas darzustellen, wo man allem begegnen kann, was sonst nur in getrennter Form existiert. […] Die Vorstellung Frankreichs als harmonische Synthese der europäischen Diversität wird zur Zeit der Troisième République ein wissenschaftlicher und politischer Topos.« (Ebd.) [Übers. d. Verf.]
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mit seinen dalmatischen Archipelen, die grünen Wiesen der Karpaten und die Tiefebenen der Donau mit den Wundern ihres Flussbeckens, ihren vogelreichen Auen und großen Inseln ihres Nebenflusses, der Theiß. In der Folge zählt Werfel auch die einzelnen Völker auf, die diese Landschaften bewohnten, ohne jedoch, wie schon in anderen Zusammenhängen, klare Bezüge zwischen der jeweiligen Landschaft und den darin wohnenden Völkern zu erstellen. In diesem vielschichtigen und heterogenen Kontext ist die Zuordnung gemeinsamer Attribute nicht von Bedeutung. Wesentlich ist vielmehr die Frage der Integration, der Vielheit in der Einheit und der Einheit in der Vielheit. Werfel operiert mit drei unterschiedlichen Parametern, die metaphorisch ineinander gespiegelt werden sollen: Landschaftsausschnitt, Nation und Volk. Diese drei Momente sind nicht in ein einfaches Schema der Korrespondenzen zu pressen. Den 24 Ländern, so weiter Werfel, entsprachen 13 Völker, neben den Deutschen und Magyaren, die den westlichen und östlichen Teil des Imperiums beherrschten, im Norden die Tschechen, Slowaken, Polen und Ruthenen, im Süden die Kroaten, Serben und Slowenen sowie die Italiener, Rumänen und Ladiner. Zu diesen zwölf Völkerschaften kam noch die zahlreiche, über das ganze Reich verteilte Gruppe der Juden. Die orientalischen Juden lebten im polnischen Galizien und in der Bukowina, die okzidentalen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Die zentrale Metapher, die Werfels Beschreibung von Österreich-Ungarn von innen her bestimmt und belebt und seiner Vorstellung einer geheimen geistigen Kraft ein konkreteres Gesicht verleiht, ist die Metapher des lebenspendenden Humus. Der Humus ist nicht die Scholle der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie, mit der der Bauer verwurzelt ist und von der er seine Existenzgrundlage bezieht. Die Humusmetapher ist dezidiert ein Stück abstrakter. Hier sind Tod und Leben in einer Vorstellung von Kontinuität durch stete Wiedergeburt vereint. Werfel setzt diese dezidiert organische Metapher der amerikanischen Idee des melting pot gegenüber, in dem die einzelnen Nationalitäten und Kulturen wie unterschiedliche Metalle gewaltsam und nur über wenige Generationen hinweg eingeschmolzen werden. Im Laufe der österreichisch-ungarischen Geschichte waren Völker und Rassen, wie gefallenes herbstliches Laub in einem steten Prozess der langsamen Assimilation absorbiert worden. Die vielfarbigen Blätter verschiedener Baumsorten waren in sukzessiven Schichten aufeinandergetroffen, langsam ineinander vermodert und hatten sich dabei in wertvollen Humus verwandelt, aus dem die österreichische Kultur organisch hervorgesprossen war. Im habsburgischen Humus sind Schicht für Schicht alle Generationen der jahrhundertelangen Geschichte des Reiches abgespeichert. Werfel spricht in diesem Zusammenhang von einem langsamen Kauen und Zermahlen, so als hätte die Erde die vielen verschiedenen Menschen geschluckt und in einem langwierigen alchimistischen Verdauungsprozess in sich aufgenommen. Der Gegensatz zur amerikanischen
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Kultur könnte nicht größer sein: hier die behutsame zyklische Langsamkeit organischen Zerfallens und Wachsens, dort die ungestüme, atemlose Beschleunigung mechanischer Prozesse. Obwohl man Metalle wieder einschmelzen und voneinander trennen kann, fehlt in der Metapher des melting pot die Vorstellung des Zyklischen und die Idee der Wiedergeburt aus dem Tod. Im österreichisch-ungarischen Reich musste man bereit sein, seine spezifische sprachliche und kulturelle Identität aufzugeben. Werfel spricht von einem bewussten Verzicht auf nationale Identität. Wer dieser Forderung nachkam, durchlief eine grundlegende Wandlung. Er hörte auf, Deutscher oder Tscheche zu sein und wurde zu einem neuen Menschen geformt: dem Österreicher.
K AK ANIEN Abschließend möchte ich mich nun noch zwei Texten Robert Musils zuwenden: dem autobiographischen Text Über sich und die Familie und einer der ganz wenigen landschaftlichen Passagen aus Der Mann ohne Eigenschaften. Musil beschreibt sein Leben und das seiner Familie als eine zirkuläre Reise durch die Städte und Landschaften Österreich-Ungarns und bemüht zur Beschreibung seiner eigenen zusammengesetzten Identität auch eine mathematische Metapher. »Ich bin geboren am 6. November 1880 in der österreichischen Stadt Klagenfurt, Hauptstadt des Landes Kärnten. Mein Vater, Alfred von Musil, durch lange Zeit bis zu seinem Tode Professor des Maschinenbaus der Technischen Hochschule in Brünn, war damals als Ingenieur in einer Fabrik tätig. Meine Kindheit habe ich aber in der alten Stadt Steyr in Oberösterreich verlebt, wohin mein Vater inzwischen übersiedelt war, um eine staatliche technische Schule zu leiten. Als ich etwas über 10 Jahre alt war, zogen wir nach Brünn.« Musil spricht im Wesentlichen von zwei prägenden Landschaften, der alpischen Natur der Steiermark und den sanften, etwas melancholischen Ebenen Mährens. »Ich muß hier einschalten, daß ich selbst zur Hälfte sudetendeutscher Abkunft bin und zu einem Viertel, worauf auch mein Name hinweist, tschechischer. Die Musil, von denen ich stamme, sind ein sehr altes tschechisches Bauerngeschlecht in Mähren, aber mein Großvater war ausgewandert, Arzt geworden und hatte bei Graz ein Landgut erworben, auf dem mein Vater und seine Geschwister als unverkennbare Grazer aufgewachsen waren, beinahe ohne etwas von ihrer Herkunft zu wissen. Meine Vatersmutter stammte aus Salzburg. Meine eigene Mutter aus Linz a. d. Donau, der Hauptstadt Oberösterreichs. Ihr Vater war dahin beim Bau der ersten europäischen Eisenbahn, der zwischen Linz und Budweis, aus Böhmen gekommen und als Leiter dieser Bahn dort geblieben, auch noch im Ruhestand und bis zu seinem Tode; auch seine Frau, meine Muttersmutter, stammte aus Deutschböhmen. Ihrer beider Familien, Bergauer und Böhm, beide auch geadelt, hatten gerade so wie sie den Zusammenhang mit der Heimat verloren und sich über das
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ganze Gebiet der Monarchie zerstreut. So war es ein Zufall, der uns in die Nähe des Ausgangspunktes zurückführte […].« 24
Der Weg, den die Familie im Laufe von drei Generationen zurückgelegt hat, verläuft von Norden nach Süden und von dort wieder zurück nach Norden. Die Großeltern väterlicherseits stammen aus dem tschechischen Mähren, bzw. aus Salzburg. Mütterlicherseits hingegen kommen beiden Großeltern aus Deutschböhmen. Der Vater ist in Graz und die Mutter in Linz geboren und aufgewachsen, wohin die Großeltern aus Arbeitsgründen gezogen waren. Musils Vater war von Graz nach Klagenfurt gezogen und von dort über Steyr nach Brünn, an einen der beiden Ursprungsorte zurückgekehrt. Obwohl die einzelnen Familienteile, wie Musil festhält, den Zusammenhang mit der Heimat verloren und sich über das ganze Gebiet der Monarchie zerstreut hatten, ergibt sich aus ihren Bewegungen am Ende doch wieder so etwas wie ein verborgener Sinn. Musils Schilderung der eigenen Herkunft kombiniert auf elegante Art und Weise die fast diasporisch anmutende Zerstreuung mit der Sammlung, den Auf bruch mit der Rückkehr und dies über drei Generationen hinweg. In seiner Biographie vereinen sich nicht nur die alpische Landschaft der Steiermark und die eher flachen Ländereien Mährens, sondern auch eine Reihe von Kronländern und Städten, die ein mehrsprachiges deutsch-tschechisches Gebiet abstecken: Böhmen, Mähren, die Steiermark, Kärnten, Klagenfurt, Steyr, Salzburg, Linz, Brünn. Verbleibt die hier untersuchte kurze autobiographische Beschreibung noch weitgehend innerhalb des skizzierten Modells der sinnvollen Landschaftslisten, so stellt Musils Begriff ›Kakanien‹ ein kritisches Konzept einer pluralistischen, unabgeschlossenen, experimentellen Gegenlandschaft dar.25 Kakanien ist keine reale, sondern der Entwurf einer möglichen Landschaft. Musil fixiert den Handlungsraum des Romans zwar topographisch, insistiert dabei aber immer wieder auf der Unwichtigkeit klarer und eindeutiger räumlich-geographischer Zuordnungen. Das achte Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften, das den Titel Kakanien trägt, enthält eine allgemeine Beschreibung des Begriffs sowie eine in diesem Zusammenhang äußerst bedeutsame landschaftliche Vignette, die auf die hier untersuchten Listen zwar Bezug nimmt, zugleich 24 | R. Musil, Lesebuch, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 11-2. 25 | Vgl. dazu A. Bolterauer, Von ›Futterplätzen‹ und ›Fieberlicht‹. Versuch einer Problematisierung des scheinbar Selbstverständlichen. Zu Robert Musils ›Kakanien‹, in: Die Habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens, hg. von S.H. Kaszyĝski und S. Piontek, Warschau 1994, Poznaĝ 1995, S. 145-154 und ›Kakanien‹ – Oder was eine mitteleuropäische Landschaft sein könnte. Anmerkungen zu Robert Musil, www.kakanien.ac.at/ beitr/fallstudie/ABolterauer2.pdf.
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aber dezidiert dagegen ankämpft und hypothetisch darüber hinausweist. »Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen.«26 Diese hochambivalente Passage kombiniert eine bewusste Karikierung der nationalistischen Postkarten-Visionen mit autobiographischen Elementen und einer Literarisierung eines möglichen symbiotischen Verhältnisses von Mensch und Natur, die durch eine Anthropomorphisierung der Landschaft erreicht wird. Diese nimmt den Menschen schützend in sich auf wie eine Mutter ihr Kind. Der Text führt fließend vom abgegriffenen Klischee der vielfachen vielfarbigen Länder zu einer poetisch überhöhten Vision der habsburgischen Landschaft. Zu Beginn werden der stereotype Kontrast von Berg und Meer und der Gegensatz von Norden und Süden aufgerufen. Es folgen vier typische Landschaften: der slowenische Karst, die böhmische Ebene, die Adria und die Landschaft Mährens, der man auch im kurzen, zu Beginn erwähnten autobiographischen Text begegnet. Man könnte die im Text stattfindende Verschiebung deshalb auch in einem biographischen Sinne deuten. Es ist nicht nur eine abgebrochene, bewusst unvollständige Liste, die sich den abgerundeten, harmonisierenden Vorstellungen des Habsburger Mythos verweigert. Der geographische Verlauf springt zudem zwischen Norden und Süden hin und her. Alice Bolterauer stellt in der kurzen, hier zitierten Landschaftsbeschreibung und Musils Verwendung des Kakanien-Begriffs eine Identitätsverschiebung und -verweigerung fest. »Was ist ›Kakanien‹? Zuallererst […] ein Sammelsurium verschiedener Klischeebilder. […] Wie eine Postkartenfolge werden hier Bilder evoziert, die bekannten Klischeevorstellungen entsprechen und bestimmte Gefühle hervorrufen. Es sind ländliche Idyllen – wie aus dem Kronprinzwerk entnommen –, die wohl bestimmte Orte evozieren, aber doch seltsam unbestimmt bleiben. […] Das, worauf diese Beschreibung ›Kakaniens‹ hinausläuft ist eine Haltung der Verweigerung, eine Weigerung sich festzulegen, sich eindeutig zu deklarieren. Damit entspricht ›Kakanien‹ als Ort der Handlung dem Möglichkeitsdenken, das das Erzählen selbst und seinen Protagonisten auszeichnet.« 27 26 | R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke I, Hamburg 1978, S. 32-3. 27 | Bolterauer, ›Kakanien‹, S. 4. Als Kronprinzenwerk wird allgemein die 24-bändige landeskundliche Enzyklopädie Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild bezeichnet, die 1883 vom österreichisch-ungarischen Kronprinzen Rudolf angeregt wurde. Sie beschreibt, nach Kronländern geordnet, Völker, Landschaften und Regionen der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
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Kakanien wäre dann eine Experimentallandschaft, in der neue Lebensweisen erprobt werden können. Tatsächlich begegnet man in der kurzen Passage aus Der Mann ohne Eigenschaften mindestens drei unterschiedlichen Haltungen in Bezug auf Landschaft: der Reihe nach, der Stereotyp, die biographische Erfahrung und die poetische Verdichtung. So etwas wie eine reale Landschaft fehlt jedoch. Die drei Momente sind zwar klar voneinander zu trennen, gehen in der Erzählung aber ineinander über. Sie spiegeln zudem als Landschaften auf einer Metaebene die für Österreich-Ungarn konstitutiven Momente: Pluriethnizität, Multikulturalität und Sprachenvielfalt. Das Patchwork der Landschaften verdoppelt sich in einem Patchwork der Betrachtungsweisen von Landschaft. »›Kakanien‹ ist der Ort, an dem der Glaube an die Wirklichkeit, an die eine Geschichte zerbricht […] aber zugleich auch der utopische Un-Ort, wo alles anders sein könnte […] die in der Landschaft zum Leben erweckte Potentialität.« Anders ausgedrückt: Indem Musil sich eindeutigen Zuordnungen verschließt, das Mögliche dem Wirklichen und das Unbestimmte dem Eindeutigen vorzieht, belebt er gerade dadurch das im habsburgischen kulturellen Pluralismus angelegte, aber nicht verwirklichte utopische Moment. Musil verabschiedet sich von der hier kurz skizzierten Tradition, indem er Offenheit und Möglichkeit gegen Abschluss und Nostalgie ausspielt. Kakanien steht damit auch für eine unabgeschlossene und unabschließbare Bewegung, für eine Aufforderung zum Auf bruch, die sich auch in der Entfaltung des Textes nachvollziehen lässt. »[…] weg von einem nostalgisch erinnerten Alten hin zu einem erst zu gewinnenden Neuen […], um das anarchistische Potenzial der utopischen Verweigerung wach zu halten.«28
28 | Ebd., S. 6.
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Luftwurzeln Landschaften des Exils und der Migration
»It seems we have taken to the air.« S TEVEN C ONNOR , The Matter of Air: Science and the Art of the Ethereal
In seiner Untersuchung der Bedeutung von kulturellen Zugehörigkeiten in der zunehmend global vernetzten Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts verweist der amerikanische Ethnologe James Clifford auf die Einseitigkeit postkolonialer Diskurse mit ihrer Hervorhebung eines inzwischen präskriptiv gewordenen nicht-essentialistischen Standpunktes. Dabei, so Clifford, laufe man letztlich das Risiko, kulturelle Komplexität selbst wieder auf eine einfache Dichotomie zu reduzieren, diejenige nämlich von Hybridität und Tradition. »[…] isn’t it time to sidestep the reverse binary position of a prescriptive anti-essentialism? Struggles for integrity and power within and against globalizing systems need to deploy both tradition and modernity, authenticity and hybridity – in complex counterpoints.«1 Cliffords Position lässt sich treffend in einem Wortspiel einfangen, das er selbst der Erfahrung afroamerikanischer Migranten in New York zugrunde legt: »routes« und »roots«, Wege und Wurzeln. Wobei die Erfahrung des Unterwegsseins hier derjenigen der Verwurzelung existentiell klar vorangeht und inzwischen auch eine größere Relevanz angenommen hat, und dies nicht nur für Flüchtlinge und Arbeitsmigranten, sondern, wenn auch in sehr unterschiedlichem Sinne, für alle Menschen der Gegenwart. Diesem Kapitel möchte ich die kontrastive Homophonie dieser beiden englischen Wörter zugrunde legen und zugleich versuchen, dadurch den historischen Übergang von einer Welt deutlicher nationaler Zugehörigkeiten, einer Welt der einfachen Verwurzelung, zu einer globalen Welt der Transnationalitäten, der vielfachen Wege, einzufangen: »roots« und »routes«, Sesshaftigkeit und Nomadismus, eindeutige nationale Zugehörigkeit und 1 | J. Clifford, Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, London 1997, S. 178.
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neue mehrwurzelige transnationale Identität. Wurzeln und Wege schließen sich dabei nicht aus, sondern ergänzen sich zu einer neuen spannungsvollen ambivalenten Einheit: Man ist aus biographischen Gründen in einer Region verwurzelt, lebt aber aufgrund der eigenen Arbeitsbedingungen oder aus familiären Motiven weitgehend ein nomadisches Leben. Man pendelt zwischen einer eher sesshaften und einer nomadischen Existenz hin und her. Man ist ausgewandert und hat im eigenen Nomadentum Wurzeln geschlagen. Welche Folgen hat dies alles für die hier beschriebene Tradition nationaler Landschaften? Diese ist zwar schon seit längerer Zeit in Auflösung begriffen, stellt aber nach wie vor ein ideologisches Arsenal und kulturelles Archiv dar, auf die in politischen und kulturellen Debatten jederzeit zurückgegriffen werden kann. Dass ein Interesse für ortsgebundene nationale Spezifizitäten nach wie vor besteht, ja sogar momentan so etwas wie eine Konjunktur erlebt, bezeugt eine Reihe von Publikationen im deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Hier ein paar signifikante Titel: Georg Kreis, Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness (2010) und Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes (2004), P. Nora, M. Bayer, E. Heinemann und E. Ranke, Erinnerungsorte Frankreichs (2005), E. Francois und H. Schulze, Deutsche Erinnerungsorte (drei Bände, 2009) Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR (2009). Nationale Landschaften sind ebenfalls wieder ins Interesse der Öffentlichkeit geraten: Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, die vom 2. Dezember 2011 bis zum 4. März 2012 im Deutschen Historischen Museum von Berlin stattfand.2 Was man zudem feststellen kann, ist, dass einzelne Versatzstücke weiterhin in den kollektiven und individuellen Vorstellungswelten zirkulieren und gerne vom Tourismus und der Werbung verwendet werden, weil damit einfache Zuordnungen möglich werden, die jederzeit erkennbar sind. Einige Beispiele wurden in dieser Arbeit genannt. Werden die traditionellen landschaftlichen Zuschreibungen im Zuge der Globalisierung durch transnationale Formen der Identitätsbildung auf- und abgelöst oder gewinnen sie an neuer Bedeutung? Wie werden heutzutage territoriale Zugehörigkeiten überhaupt definiert? Was heißt es, Schweizer, Deutscher oder Österreicher zu sein? Hängt das nationale Zugehörigkeitsgefühl überhaupt noch von landschaftlichen Aspekten ab? Welche Rolle spielen regionale oder lokale Zugehörigkeiten? Ist man inzwischen eher Tessiner oder Zürcher als Schweizer? Eher Berliner und Schwabe als Deutscher? Eher Wiener und Kärtner als Österreicher? Werden nationale Identitäten inzwischen nicht mehr aus einer einzigen Quelle gespeist, sondern aus einer Vielfalt an territorialen Momenten, mosaikartig zusammengesetzt wie im Falle Österreich-Ungarns? Welche Rolle spielt das eigene Reisen und die zunehmenden alltäglichen Begegnungen mit Menschen aus anderen 2 | Vgl. Breymayer und Ulrich, Unter Bäumen.
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Kulturen? Definieren sich Ausgewanderte immer noch über Erinnerungen an Kindheitslandschaften? Und vor allem: Welche Rolle spielen dabei die Neuen Medien, die es uns erlauben, hier und zugleich anderswo zu sein, verwurzelt und unterwegs? Ein Schlagwort, das Cliffords Begriffspaar wieder aufnimmt, ist das der Glokalisierung. Das Nationale, Regionale und Lokale werden durch das Transnationale zwar affiziert, sind aber, wie die verschiedentlichsten Entwicklungen der letzten 20 Jahre nur zu deutlich vor Augen geführt haben, deswegen noch lange nicht von der kulturellen und politischen Bühne abgetreten. Ganz im Gegenteil: In Zeiten der allgemeinen globalen Verunsicherung haben die Gewissheiten der Vergangenheit plötzlich wieder an Bedeutung zugenommen. So orientiert sich beispielsweise die konservative xenophobische Politik der Schweizer SVP und der Lega dei Ticinesi eindeutig an den traditionellen nationalistisch inspirierten Landschaftsvorstellungen, die hier beschrieben worden sind. Eine umfassende und detaillierte Analyse dieses Verhältnisses kann hier nicht geleistet werden. Diesem müsste eine eigenständige Untersuchung gewidmet werden. In diesem Kapitel sollen jedoch mögliche Zugänge zum stattfindenden Umbruch aufgezeigt und versucht werden, einige der hier aufgeworfenen Fragen zu beantworten.
I MAGINIERTE W URZELN Die radikalen Entwicklungen der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass die diasporische Erfahrung der Boden- und Wurzellosigkeit der Juden im europäischen Kontext des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wegweisend für die Zukunft war. In den antisemitischen Diskursen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Juden einerseits als nomadisches Wüstenvolk bezeichnet, andererseits wurde auf ihre konstitutionelle ›Landschaftslosigkeit‹ hingewiesen, wobei die Verbindung zwischen den beiden Momenten auf der Hand liegt. Carl Schmitt schreibt, diskreter zwar, aber in die gleiche Kerbe schlagend von der »Raumscheue«3 des Juden. In seinem 1929 publizierten Werk Das Judentum als landschaftlichskundlich-ethnologisches Problem bestimmte der Kulturgeograph Siegfried Passarge »das vermeitliche Fehlen jeglicher Beziehung von Juden zu Landschaft und Natur als Grund für alle Unbill der Moderne«.4
3 | Vgl. N. Berg, Landschaftskunde und Wirtschaftsgeographie: Akademischer Antisemitismus im Werk Siegfried Passarges in den 1920er und 1930er Jahren, in: Flusser Studies 14, November 2012, www.flusserstudies.net/pag/14/berg-landschaftskunde.pdf, S. 6. 4 | N. Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008, S. 155.
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Dass nun gerade den nomadischen Wüstenbewohnern aus Werner Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben5 im globalen Kontext der Gegenwart so etwas wie eine Modellfunktion zukommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wie Yuri Slezkine in seinem Buch überzeugend ausgeführt hat, erweist sich das 20. Jahrhundert in der Retrospektive als das jüdische Jahrhundert.6 Isaac Deutscher prägte dazu den Ausdruck »Non-Jewish Jews«. An »die Stelle der herkömmlichen« Wurzelideologien, schreibt dazu Nicolas Berg, traten »›imagined roots‹, vorgestellte Wurzeln, wie der Philosoph Isaiah Berlin im Rückblick […] formuliert hat. An die Stelle geographischer Verankerung traten die Zugehörigkeitssymboliken Text, Schrift, Kultur.«7 Um Cliffords zwei Begriffe wieder aufzunehmen, könnte man sagen, dass die diasporischen bodenlosen Juden gezwungen wurden, ihre Wurzeln in der Bewegung selbst zu suchen. Was hier für die Juden des letzten Jahrhunderts galt, gilt, wenn auch in abgewandelter Form, für immer mehr Menschen der Gegenwart. Isaiah Berlins imaginierte Wurzeln sollen in diesem Kapitel dazu dienen, die bisher untersuchten imaginierten nationalen Landschaften aus neuer kritischer Perspektive Revue passieren zu lassen. Dabei wird sich zeigen, dass Isaiah Berlins und Benedict Andersons Benützung des Wortes »imagined«, vorgestellt, den gleichen weitgehend ideellen Prozess der Identitätsbildung meint. Dieser kleidet sich jedoch einmal in textuelle, das andere Mal in landschaftliche Metaphern. Von den Juden ging wohl auch deshalb eine Bedrohung aus, weil sie durch ihre boden- und wurzellose, dem Geistigen und Rituellen zugewandte Lebensform die behauptete Eindeutigkeit landschaftlicher Zugehörigkeiten grundlegend infrage stellten, indem sie auf deren letztliche Verwurzelung im Imaginäreren verwiesen. Hier zeigt sich somit, dass landschaftliche Zugehörigkeit immer schon eine imaginierte war. Dabei spielt gerade das Element der Luft – besonders im Gegensatz zu den bisher untersuchten Momenten, dem Stein, dem Holz und dem Wasser – eine absolut zentrale Rolle. Wer in der Luft lebt, und sich somit in steter Schwebe befindet, kann höchstens Luftwurzeln wachsen lassen und sich vorübergehend im Prekären einrichten. Wer sich an der Luft orientiert, vermeidet es, in die Fallen des Besitzens, Kontrollierens und Verteidigens zu tappen, hat er doch kein konkretes Territorium, um das er kämpfen muss. Wie Steven Connor in Taking to the Air festhält, hat sich die Moderne in einem dreifachen Sinne der Luft verschrieben: »First we have taken to the air as an arena of enquiry. […] Second, we have taken to the air in the sense in which a walker takes to the road, a duck takes to water or any 5 | S.o. Saharismus und Silvanismus. 6 | Y. Slezkine, The Jewish Century, Princeton und Oxford 2006. 7 | Berg, Luftmenschen, S. 139.
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creature to its native element. Our understanding of the air has allowed us to occupy it, in ways that had previously been possible only in dream […]. But now the air is literally occupied: in air travel, by many different conveyances, from balloons to jet planes […]. This leads to the third sense in which we may be said to have taken to the air […] we have begun to find the air more and more expressive of our condition.« 8
Diesen drei Bedeutungen möchte ich hier nachgehen.
D AS BOTANISCHE PAR ADIGMA DER V ERWURZELUNG Anfangen möchte ich mit der Metapher der Verwurzelung und deren Bedeutung bei der Konstitution nationaler Landschaften. François Walter spricht in diesem Zusammenhang von einem botanischen Paradigma,9 welches schon ab dem 18., besonders aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Bedeutung war. Die Mythisierung des Baumes geht auf ein organologisches Wurzeldenken zurück.10 Die Vorstellung der Verwurzelung setzt eine dauerhafte, stets nachwachsende Bevölkerungsbasis voraus. Die Metapher wirkt auf individueller und kollektiver Ebene zugleich, wobei sich die beiden Ebenen gegenseitig bedingen. Die Verwurzelung artikuliert darüber hinaus ein Prinzip der Ausschließlichkeit, das sich auf ideale Art und Weise den nationalistischen Diskursen anpasst. Jeder Mensch und jede Nation ist in einem und nur einem bestimmten Boden verwurzelt, den man sich nicht aussuchen kann. Sie kann zur Erklärung des Ursprungs einer Nation verwendet werden, schafft sie doch einen direkten organischen Bezug zwischen den Einwohnern eines bestimmten Territoriums und der Landschaft, der sie entsprungen sind. Nationen wachsen pflanzenhaft aus dem Gebiet hervor, das sie besetzen. Die Metapher der Verwurzelung besagt zudem, dass die Bevölkerung nicht eingewandert ist, sondern immer schon dort gelebt hatte und schließlich hat sie eindeutig normativen Charakter. So schreibt der Schweizer Bundesrat Philipp Etter am 9. Dezember 1938 programmatisch: »Das schweizerische Wesen ist schollenverbunden und bodenverwurzelt.«11 Es scheint, als ob in bürgerlichen Zeiten die aristokratische Gottgegebenheit des Königs durch eine landschaftliche Naturalisierung der Nation abgelöst wurde. Zur Metapher der Verwurzelung gehören auch die Vorstellung des schmerzhaften Verlusts der ersten natürlichen Verwurzelung und des problematischen 8 | S. Connor, The Matter of Air: Science and the Art of the Ethereal, London 2010, S. 9-10. 9 | Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 304ff. 10 | Vgl. Köstlin, Der ethnisierte Wald, S. 61. So schreibt der deutsche Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger (1882-1963): »Weh dem, der keine Wurzl hat!« (ebd., S. 62). 11 | Zitiert in Walter, Les figures paysagères de la nation, S. 306.
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Verpflanztwerdens in neuen unbekannten Boden sowie die Schwierigkeit, an neuem Ort wieder richtige Wurzeln zu schlagen. Der Mensch ist ein Baum unter Bäumen. Friedrich Nietzsche12 dehnt diese Metapher auf unterschiedliche Geschichtsphilosophien aus, die »nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klima [gedeihen]: auf jedem anderen [wachsen] sie zum verwüstenden Unkraut heran. […] Von dem gedankenlosen Verpflanzen der Gewächse rührt manches Unheil her […].« Falsch verpflanzte Gewächse sind in der Regel »ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und deshalb entartete«13 Schösslinge. Jedem Gewächs ist sein angestammter Boden zugeordnet. Umgepflanzte Bäume riskieren nicht nur einzugehen, sondern tendieren dazu, sich in krankhafte Formen weiterzuentwickeln. Dass solch eine Behauptung nur sehr bedingt der konkreten Erfahrung des Pflanzenwuchses entspricht, wird bei der Verwendung der Metapher nicht weiter in Betracht gezogen. Das botanische Paradigma forciert die absolute Identifikation von Boden und Gewächs und ignoriert dabei jegliche Anpassungsfähigkeit einzelner Pflanzen. In Der Untergang des Abendlandes beschreibt Oswald Spengler Kulturen als Riesenpflanzen, die aus mütterlicher Landschaft hervorwachsen. Menschen tendieren dazu, natürliche Gruppen zu bilden, »welche den deutlichen Hang verraten, in einer Landschaft Wurzel zu fassen. Auch Nomadenstämme halten ihre Bewegungen innerhalb gewisser Grenzen. Damit ist eine Dauer der kosmisch-pflanzenhaften Lebensseite des Daseins gegeben. Dies nenne ich Rasse. […] durch Zeugung in einer engeren oder weiteren Landschaft fortkreisende[n] Blutes.«14 Und weiter: »[…] die Menschengeschichte ringt sich so schwer von der Geschichte der Landschaft ab und bleibt mit tausend Wurzeln mit ihr so tief verbunden, daß man ohne sie das Leben, die Seele, das Denken gar nicht verstehen kann.«15 Bei Spengler ist damit allerdings auch der befristete Lebenszyklus jeder Kultur gemeint. Das Problem der zeitlichen Begrenztheit nationaler Gebilde, das mit der Einführung der Dimension der Zeit zustande kommt, tritt auch bei der Verwendung der body-politic-Metapher auf. Jeder gewachsene Körper altert und stirbt. Aus diesem Grunde wurde innerhalb der Tradition vor allem auf dessen innere hierarchisch ausgerichtete Funktionsweise eingegangen und der Zeitaspekt eher ausgeblendet. In der Metaphorik der Nationallandschaften spielt dieser Aspekt aber eine weniger problematische Rolle, einmal weil das Bild der Verwurzelung nicht an bestimmte Gewächse gebunden ist, sondern als we12 | Zu Nietzsches Vorstellung von Landschaft und deren Bedeutung für die Herausbildung kollektiver und individueller Eigenschaften vgl. S. Günzel, Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin 2001, besonders S. 200-240. 13 | F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II, Paris 1964, S. 236. 14 | Spengler, Untergang des Abendlandes, S. 688-9. 15 | Ebd., S. 600, Fußnote 1.
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sentlicher Aspekt einer gesamten Landschaft betrachtet werden kann. Darüber hinaus folgen Landschaften natürlichen Zyklen, die weit über die beschränkten Dimensionen historischer Zeitabläufe hinausreichen. Landschaften stehen für Dauer und Unveränderlichkeit. Landschaften waren schon immer da, und werden auch den Menschen überleben. Gerade aus diesem Grund eignen sie sich hervorragend, um die transhistorischen Ansprüche einzelner Nationen zu legitimieren. Die Verwurzelung meint zwar einzelne Individuen, diese aber gehen aus dem kollektiven Organismus der Nation hervor und vergehen wieder darin. So benützt Heinrich von Treitschke in seiner fünf bändigen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert (1879-1894) den Baum als zentrale Metapher, um die Entstehung, Entwicklung und den Fortbestand Deutschlands zu beschreiben. Die weitverzweigten Wurzeln des Baumes dringen bis in die tiefsten Schichten hinab, um daraus Kraft für die Gegenwart zu ziehen.16 Der Baum steht nicht nur für organisches Wachstum, sondern auch für Kontinuität und Tradition. Demselben Bild begegnet man bei Werner Sombart: »Der deutsche Patriotismus treibt seine tiefen Wurzeln in den fruchtbaren Mutterboden einer heldischen Weltanschauung, und um seine Krone schimmern die Strahlen höchster und künstlerischer Kultur.«17 Ein ironischer Kommentar aus der Gegenwart zur Ideologisierung von Bäumen bietet Christos Kunstaktion Wrapped Trees, verhüllte Bäume, in unmittelbarer Nähe des Beyeler Museums in Riehen bei Basel im Herbst 1998. Parallel zur Ausstellung Magie der Bäume wurden für mehrere Wochen insgesamt 178 Bäume verhüllt.18 Konrad Köstlin hält dazu treffend fest, dass die Bäume, die ja der Inbegriff der Verwurzelung sind, durch die Verpackung ein reisefertiges Aussehen bekommen. Ein weiterer in diesem Zusammenhang hochinteressanter Fall stellt das bedenkliche Abstimmungsresultat zur SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung des 9. Februars 2014 dar und die dafür eingesetzten Werbemittel. In einem Interview mit dem in Paris lebenden Schweizer Historiker Thomas Maissen, das am 15. Februar 2014 im Tages Anzeiger publiziert wurde, spricht dieser von der »Anhänglichkeit an das Bild der unversehrten Schweiz« als ein Grundmotiv für die Annahme der Initiative. Besonders bedeutsam in Hinblick auf die in diesem Kapitel diskutierte Vorstellung einer nationalen Verwurzelung ist auch die Werbekampagne, die beidseitig im Vorfeld der Abstimmung geführt wurde. Beide Parteien, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, bemühen dabei die Metapher des Baumes. Die darin suggerierte Ver16 | Vgl. dazu Berg, Luftmenschen, S. 42. 17 | W. Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen von Werner Sombart, Berlin und Leipzig 1915, S. 71. 18 | Vgl. Köstlin, Der ethnisierte Wald, S. 55.
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letzung betrifft dabei aber grundsätzlich andere Aspekte. Der Äpfel tragende, zur Sünde verleitende Paradiesbaum der Befürworter (Abb. 18) zerbricht und zerbröselt mit seinen tentakelartigen Wurzeln die territoriale Einheit des Landes. »Masslosigkeit schadet. Masseneinwanderung stoppen« lautet das Motto. Der blühende Baum verkörpert die Ambivalenzen von technologischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und demographischer Expansion. Darin gleicht er den nationalen Landschaftsbildern des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu den Bedrohungen von damals – Urbanisierung und Industrialisierung – sind die Globalisierung, die weltweiten Migrationsbewegungen, die Umweltproblematik und das Verhältnis der Schweiz zur EU hinzugekommen. Das, was als Gewinn aussieht, so jedenfalls wollen es die Initianten der Volksabstimmung, entpuppt sich langfristig als düstere Katastrophe, zerstört doch dieser wuchernde parasitäre Baum den Grund und Boden, auf dem er gedeiht. Die monokausale Argumentation, die in der Einwanderung den Ursprung allen Übels sieht, spielt auch mit der Ambivalenz des Gartens Eden, der Versuchung der Schlange. Abbildung 18: Masslosigkeit schadet
Auf dem Plakat der Gegner wird derselbe früchtetragende Baum, ein Ergebnis der bilateralen Abkommen mit der EU, kurzerhand mit einer Axt abgeholzt. Der Text, der das Bild begleitet, verweist auf die konservative alpenwallartige Dimension der Volksabstimmung und die möglichen negativen Folgen: »Bilaterale abholzen? SVP-Abschottungsinitiative«. Das Plakat spielt auf das berühmte Bild Der Holzfäller von Ferdinand Hodler an, ein Maler, der in der Schweiz unter anderem auch mit einer konservativ nationalen Agenda assoziiert worden ist. Christoph Blocher, selbst Hodler-Sammler, lieh sich das monumentale Bild aus der Bundessammlung für sein Bundesrat-Büro aus und ließ
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sich vor dem Bild sitzend photographieren, eine Wahl, die vielerseits als typisch für dessen Holzhacker-Politik interpretiert wurde. Christoph Blocher und sein Bruder Gerhard setzten sich zudem 2007 in ihrem Blocher-TV-Auftritt mit Ausmerz-Parolen gegen Andersdenkende unter Hodlers Monumentalbild in Szene. Auch der sozialdemokratische Bundesrat Moritz Leuenberger ließ das Bild in seinem Büro an die Wand hängen. 1999, in einer Rede zum Jubiläum 100 Jahre Verband Schweizer Förster, bemerkte er dazu, er habe sich schon Mitte der 1980er Jahre politisch gegen das Waldsterben engagiert und sei damit im Trend gelegen. Dadurch müsste das Plakat der Gegner noch in einem weiteren Zusammenhang gedeutet werden: Die organisch gewachsene, früchtetragende Zusammenarbeit mit der EU, die durch die bilateralen Verträge garantiert ist, wird hier als schützenswerte ökologisch-politische Gegebenheit gedeutet. Beide Beispiele aus der unmittelbaren Gegenwart verdeutlichen eine der Grundthesen dieser Arbeit: Die Verwendung landschaftlicher Metaphern ist nach wie vor virulent und betrifft das gesamte politische Spektrum.
P FL ANZENSOZIOLOGIE Ein fundamentaler Aspekt der in der botanischen Verwurzelungsmetapher angelegten Möglichkeit ideologischer Gleichschaltung ist ebenfalls die behauptete Besonderheit und Einmaligkeit des deutschen Umgangs mit Landschaft, die wiederum nur auf deutschem Boden gedeihen konnte. Damit wird eine dreifache Entsprechung behauptet, welche die Menschen, die Landschaft und ihr Verhältnis aufeinander bezieht und ineinander spiegelt. So leitet beispielsweise Ewald Banse19 aus der Fähigkeit gewisser Völker, sich problemlos unterschiedlichen Landschaften anzupassen, so etwas wie eine kulturelle Grobschlächtigkeit und Unterlegenheit ab. Die nordische Rasse, die höchststehende unter den Rassen der Erde, hat ein äußerst feines Gespür für die Landschaft, in der sie lebt, entwickelt. Diese Landschaft hat zur seelischen Verfeinerung der germanischen Rasse wesentlich beigetragen. Dadurch ist eine einmalige Beziehung zustande gekommen, an deren Ursprung nicht ein kulturelles, sondern einmal mehr ein botanisches Paradigma steht. Der deutsche Pflanzensoziologe Heinz Ellenberg (1913-1997)20 vergleicht in einem Text aus dem Jahr 1941 primitive Menschen mit Pflanzen, die einen geringen Spezialisationsgrad aufweisen und aus diesem Grund an vielen unterschiedlichen Standorten problemlos gedeihen können. Je komplexer die Organisation einer Pflanze ist, desto spezifischer sind deren Lebensansprüche und desto enger ist ihre Existenz an einen ganz bestimmten Standort 19 | S.o. Land und Leute. 20 | Gröning und Wolschke-Bulmahn, Der Drang nach Osten, S. 139ff.
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gebunden. Primitive Völkerschaften sind wie nomadisches Unkraut überall zu Hause. Höher entwickelte Kulturen hingegen sind aufgrund ihrer hohen Standortansprüche an ein einziges Gebiet gebunden und nur an wenigen ausgewählten Orten zu Hause. Gröning und Wolschke-Bulmahn weisen darauf hin, dass die behauptete Standortgebundenheit der höheren Pflanzen und der hochzivilisierten Deutschen in krassem Gegensatz zur propagierten nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik in Osteuropa stand, ein Widerspruch, der allerdings nicht wahrgenommen wurde. Der österreichische Pflanzensoziologe Erwin Aichinger (1994-1985), zugleich der erste Ordinarius für Pflanzensoziologie an der Universität Freiburg, bezog die Entwicklungschancen von Völkern und Pflanzen direkt aufeinander und machte sie unmittelbar von den jeweiligen Umweltbedingungen abhängig. So wie sich im Gebiet der Tundra die Vegetation aufgrund der ungünstigen Verhältnisse nicht weiter entwickeln könne, schreibt er, genauso bleibe auch der Mensch in solchen Gebieten auf einer primären Stufe stehen.21 Ganz anders verhält es sich mit dem deutschen Menschen, dessen Verwurzelung und Beziehung zur Natur in mystischen Tönen besungen wird. Der deutsche Mensch ist ein harmonischer Bestandteil der Natur und zeichnet sich durch sein Verwandtschaftsgefühl zu den Pflanzen aus. In biologistischen Vorstellungen wird der Menschen analog zur Pflanze im Boden verwurzelt. Nomadentum zeugt von fehlender Verwurzelung. Die Metapher der Verwurzelung findet im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Verwendung auch zur Erklärung der Auswirkungen von Urbanisierung und Industrialisierung. Die Entwurzelung erscheint dabei als ein Grundproblem der Moderne und der Entwurzelte selbst wird als eine bedrohliche, nicht vertrauenswürdige Figur präsentiert. Die Stadt fungiert als ein Territorium, das demjenigen der nationalen Landschaften diametral entgegensteht. Führt diese fast zwangsweise zur Entwurzelung des Menschen, so stellt jene eine Möglichkeit der Wiederverwurzelung, der Entdeckung der angestammten Wurzeln dar. Die sich auf archaische Kulturschichten und eine unhistorische Vorstellung von Natur berufenden nationalen Landschaften sind unter anderem auch eine ideologische Antwort auf die deterritorialisierenden Folgen der Moderne. In diesem Zusammenhang erscheint die einfache Verknüpfung von Juden und Modernität, von jüdischer und urbaner Existenz, gerade wegen der gemeinsamen Bodenlosigkeit als zwingend. Das Wesen der modernen Stadt wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz allgemein mit dem Jüdischen verbunden, werden doch beide als unruhig und rastlos charakterisiert. Antisemitismus ist damit auch Ausdruck einer konservativen rückwärtsgewandten Ablehnung der grundlegenden Aspekte der Moderne.
21 | Vgl. ebd., S. 140-1.
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»Metropolen«, schreibt Nicolas Berg, der hier auf das Werk des jüdischen expressionistischen Lyrikers Alfred Wolfenstein (1883-1945) verweist, »wurden in dieser […] Sicht als größer, vor allem aber als freier wahrgenommen, als die Länder, für die sie als Hauptstädte fungierten. Im Gegensatz zu Staaten seien Städte wach und wandelbar, ›ihre bewegte Bereitschaft […] dem jüdischen Wesen sehr nahe‹. […] Luftmensch und Ahasver, ›Asphaltliteratur‹ und Großstadtbewohner wurden zu Modellen einer weltbürgerlichen jüdischen Moderne erhoben.« 22
L UF TMENSCHEN Die Juden wurden im frühen 20. Jahrhundert abschätzig als Luftmenschen bezeichnet. Dieser ursprünglich jiddische Begriff entstand in Osteuropa um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Er wies zuerst selbstironisch auf die prekäre existentielle Lage der osteuropäischen Juden hin, diente aber später als Beschreibung eines neuen urbanen und kosmopolitischen Lebensstils und als Metapher für ein künstlerisch tätiges Leben. Die nationalsozialistische Ideologie setzte den Begriff auf makabre Art und Weise um. Die vergasten und in den Krematorien verbrannten Juden waren wortwörtlich zu Luftmenschen geworden. So steht in Paul Celans Todesfuge lapidar: »wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng […] dann steigt ihr als Rauch in die Luft/ dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng.«23 Das Wort ›Luftmensch‹, das zum ersten Mal zwischen 1860 und 1870 in der jiddischen Literatur Osteuropas auftaucht und zu Beginn vor allem für Luft, Leere, Wankelmut und Unzuverlässigkeit stand, ist eine ironische Antwort auf den allgemein gegen die Juden vorgebrachten Vorwurf der Bodenlosigkeit. Berg spricht von der frühen und hartnäckigen »Tendenz, die Bewertung der Juden als Kollektiv metaphorisch innerhalb der dichotomen Logik von Boden und Luft, Erde und Geist, Wurzel und ›Entwurzelung‹ vorzunehmen.«24 Die Juden stellten eine provokative Extremposition in Bezug auf den gesamten europäischen nationalistischen Landschaftsdiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dar. In seiner ersten Bedeutung stand das Wort für die schwierige Existenz der osteuropäischen Juden aus einem ländlich-kleinstädtischen Milieu. Der Luftmensch lebt von der Hand in den Mund. Er ist ein Spekulant, ein Zwischentyp, eine Übergangserscheinung. »In der Bedeutungsverwandtschaft von 22 | Ebd., S. 66. 23 | P. Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. und kommentiert von B. Wiedemann, Frankfurt a.M. 2005, S. 40-1. 24 | Berg, Luftmenschen, S. 23.
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›Schreiben‹ und ›Fliegen‹, die auch im jiddischen Ausdruck Pentmensch (›Federmensch‹) eingegangen ist, wird der Begriff ›Luftmensch‹ zur Bezeichnung für den Literaten als solchen, für einen literarischen Blick auf die Realität oder – symbolisch gesprochen – für das Leben im Text und somit für die conditio humana schlechthin.«25 [Herv. d. Verf.] Der damit verbundene Diskurs des Rastlosen und Bodenlosen kollidierte dabei frontal mit einer Denktradition, die auf Verwurzelung und Bodenständigkeit setzte. Eine radikal ablehnende Position im Verhältnis zur hier vorgeschlagenen Luftnatur des Menschen vertrat Carl Schmitt, der den Menschen kurzerhand als Landtreter definierte und damit eine grundsätzliche Wesensverwandtschaft und natürliche ursprüngliche Affinität desselben zum Element Erde postulierte. Damit wurde den nomadisch lebenden Juden und Zigeunern, aber auch den zahlreichen Nomaden der Ozeane26, deren Lebenselement das Wasser ist, jegliche Menschlichkeit abgesprochen, aufgrund einer anthropologischen Vorentscheidung, die bis in die Körperlichkeit hinein wirksam ist. In seinem 1942 zuerst publizierten Werk Land und Meer wird dies ganz zu Beginn lapidar und programmatisch angeführt. »Der Mensch ist ein Landwesen, ein Landtreter. Er steht und geht und bewegt sich auf der festgegründeten Erde. Das ist sein Standpunkt und sein Boden; dadurch erhält er seinen Blickpunkt; das bestimmt seine Eindrücke und seine Art, die Welt zu sehen. Nicht nur seinen Gesichtskreis, sondern auch die Form seines Gehens und seiner Bewegungen, seine Gestalt erhält er als ein erdgeborenes und auf der Erde sich bewegendes Lebewesen.«27 Wie zuvor schon hervorgehoben, wurden die Juden in der Moderne mit dem Individualismus der Großstädte assoziiert. Sie waren sichtbare Zeichen von Urbanität, vor allem ein Symbol für die negativen Seiten der großstädtischen Moderne, die Orientierungslosigkeit und Isolation, die durch den Verlust der eigenen kulturellen Wurzeln zustande kam. Der deutsch-amerikanische Schriftsteller und Journalist Moritz Goldstein begegnete 1912 dem Vorwurf der jüdischen Wurzellosigkeit mit der Behauptung, dass diese sehr wohl über Wurzeln verfügten. Die Juden besaßen immaterielle Wurzeln, Wurzeln im Kopf, Luftwurzeln. Der geistige Nationalcharakter der Juden war ganz 25 | Ebd., S. 46. 26 | Zu erwähnen wären unter anderem die in Südostasien, zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean lebenden Badjo und die in der Nähe der thailändischen Küsten wohnenden Ureinwohner Phukets. Diese Seezigeuner reisten von Bucht zu Bucht und blieben dort, bis das Fischvorkommen erschöpft war. Darauf reisten sie weiter, damit sich das Gebiet regenerieren konnte. Erst dann kehrten sie wieder zurück, um die Ressourcen aufs Neue zu verbrauchen. 27 | C. Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 2008, S. 7.
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auf dem Text begründet. »Da Juden ›keinen Boden‹ hätten, ›in dem unsere Wurzeln stecken‹, und auch ›keine Scholle, deren Duft wir an uns tragen‹«, schreibt Nicolas Berg, »seien sie allein durch ein Buch verbunden, etwas Unreales, rein Geistiges, ›bloß Symbole und Zeichen!‹ […] Auf dem ›dünnen Boden der Schrift‹ habe dieses Volk zweitausend Jahre gelebt, aus ihm habe es seine Energie bezogen.«28 Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist das Werk Marc Chagalls.29 In seinen Bildern schwebender, durch die Luft fliegender Menschen drückt sich das Wesen des Judentums und der jüdischen Erfahrung des In-der-Luft-Hängens aus (Abb. 19). »Und waren unsere bildhaften Vorahnungen nicht richtig«, schreibt Chagall, »hängen wir denn nicht tatsächlich in der Luft, leiden wir nicht an einer einzigen Krankheit: der Sucht nach Stabilität.«30 Abbildung 19: Marc Chagall, Über der Stadt
28 | Berg, Luftmenschen, S. 50-1. 29 | Zum Werk Chagalls vgl. ebd., S. 54-58. 30 | Zitiert in ebd., S. 56.
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L UF TSCHIFF Von besonderem Interesse besonders in Hinblick auf neuere Konzepte einer trans- und postnationalen nicht-territorialen Vorstellung von Nation sind einige der von jüdischen Denkern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausgearbeiteten politischen Projekte. Dabei geht es nicht so sehr um die zionistisch inspirierte Kibbuz-Bewegung, die zum Teil auch eine praktische Antwort auf Vorwürfe der intellektuellen Kopflastigkeit, Unproduktivität und des faulen Parasitentums war. So sollte durch landwirtschaftliche Handarbeit die Wüste in Wirtschaft verwandelt und aus Luftmenschen Bodenmenschen gemacht werden.31 Chaim Weizmann (1874-1952), der den Bau jüdischer Siedlungen in Palästina unterstützte und ab 1921 Präsident der Zionistischen Weltorganisation war, benutzte in seinen Reden häufig Verwurzelungsmetaphern. Das Ziel der Diaspora sollte seiner Ansicht nach kein rein geistiges sein, sondern musste »›im Boden Wurzeln schlagen‹ und von dort seine Kraft ziehen.«32 Ganz anders Simon Dubnow (1860-1941), russischer Historiker und Theoretiker des Judentums, der die Bodenlosigkeit der Juden zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte und daraus das Konzept eines diasporischen Nationalismus entwickelte. Die Juden durften keinen Boden besitzen, was dazu führte, dass etwas Immaterielles und Unsichtbares zur verbindenden und prägenden Kraft wurde. »An anderer Stelle verwendete er den Begriff ›Geistesenergie‹, den die Judenheiten als Impuls der Welt gerade in dem Augenblick weiterzugeben vermocht hätten, als ihre Geschichte eines ›staats-, ja länderlosen Volkes‹ und die ›Periode des heimatlosen Wanderlebens‹ begonnen habe: ›Des politischen Bodens beraubt, konzentriert sich das Nationalleben auf den Gebieten des Geistes.‹«33 Dubnow verwendete den Begriff der diasporischen Exterritorialität und sprach von wandernden Zentren, kultureller Autonomie und einem zukünftigen Netzwerk autonomer Gemeinschaften. Die Diaspora interpretierte er nicht als schicksalhafte Tragödie der Zerstreuung, sondern als Herausforderung, auch ohne Land dank einer verbindenden geistigen Kraft kollektiv überleben zu können. Da die Juden bodenlos und nicht an ein spezifisches Territorium gebunden waren, konnten sie ihr Zentrum in Zeiten der Krise und Bedrohung jeweils verlagern. Ausgehend von der grundsätzlich geistigen textuellen Natur des Judentums legte Dubnow die Grundlagen für ein Konzept der Transnationalität, wie es Arjun Appadurai, auf den ich in diesem Kapitel noch eingehen werde, entwickelt hat. Die Geschichte der Juden verdeutlicht, dass der Gedanke der Nation eigentlich auf ideeller Basis entsteht, dass Nationen kollektive Erfin31 | Vgl. ebd., S. 111. 32 | Ebd., S. 110. 33 | Zitiert in ebd., S. 51.
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dungen darstellen, imaginierte Gemeinschaften, die erst in einem zweiten Moment durch eine spezifische territoriale Zuordnung geerdet werden. Damit wird deren fundamentaler Entwurfcharakter deutlich. Es geht um eine Transnationalität des politischen Bekenntnisses und eine Transterritorialität von Kultur und Sprache. Ein weiterer Zeuge ist Anton Kuh (1890-1941), österreichisch-jüdischer Journalist und Essayist, der die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Juden ebenfalls in der Ausarbeitung einer bodenlosen Vision sieht. Es geht darum, eine »›ganz neue, auf Erden noch nicht geschaute Heimat‹« zu denken, die »nicht ›Scholle, Strauch und Hügel ist, sondern die Landschaftsprojektion druck- und lügenfreier Menschenliebe.‹«34 Auf die hier aus verschiedenen Perspektiven diskutierten jüdischen Utopien der Übernationalität stößt man auch im Werk Theodor Herzls (18601904), der wegen seiner Vorliebe für Flug- und Schwebemetaphern auch als jüdischer Jules Verne verspottet wurde.35 In Der Judenstaat formuliert Herzl die Gründung eines eigenen jüdischen Staates anhand der Metapher des Fliegens. Der neue utopische Staat sollte aufgrund einer originellen technischen Erfindung möglich gemacht werden. Da die Juden grundsätzlich bodenlos waren, musste der neue Staat ohne jedes feste physische Fundament auskommen. Die Schlüsselmetapher dieses zionistischen Projekts war die eines lenkbaren Luftschiffes. »›So kann ich den Judenstaat vielleicht ohne sicheren Halt gründen und befestigen. Das Geheimnis liegt in der Bewegung. Ich glaube, dahinaus wird irgendwann das lenkbare Luftschiff gefunden werden. Das Schwere überwunden durch die Bewegung; und nicht das Schiff, sondern dessen Bewegung ist zu lenken.‹«36 Herzl selbst wird dabei als gegen Wind und Wellen kämpfender Steuermann des Schiffes der Nation verstanden. Berg hält dazu fest, dass Herzl damit nicht nur den Zugang zu einem Raum gefunden habe, den man bis dahin eigentlich nur in Träumen erreichen konnte, sondern auch alle territorialen Visionen und herkömmlichen politischen Grenzziehungen überwunden habe, die ja in der Luft jeglicher materieller Basis entbehrten.
D IE Z EDER IM PARK Der 1920 geborene tschechisch-brasilianische Philosoph und Essayist Vilém Flusser37, der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie der Oberschicht Prags stammte, musste 1939 nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten die 34 35 36 37
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Zitiert in ebd., S. 64. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 67-75. Zitiert in ebd., S. 72. S.o. Graben und Band.
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Tschechoslowakei verlassen. 1941 wanderte er nach Brasilien aus, kehrte aber 1973 definitiv nach Europa zurück. Bis 1981 lebte er zwischen Meran im Südtirol und verschiedenen französischen Ortschaften. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als nomadischer, von Symposium zu Symposium reisender Redner zu den neuen digitalen Medien. 1991 starb er in einem Autounfall an der deutsch-tschechischen Grenze. Flussers Werk ist beispielhaft für den hier dargestellten Übergang vom erzwungenen Exil und der ungewollten Wurzellosigkeit hin zum neuen weltumspannenden Paradigma der allgemeinen, oft selbstgewählten Migration. In den ersten rastlosen Jahren nach seiner Rückkehr nach Europa beschäftigte sich Flusser intensiv mit der europäischen Landschaft und mit dem Verhältnis von Kultur und Natur. In seinem Essay Die Zeder im Park versucht er, die spezifische Lage des rückgekehrten Exilierten anhand eines an den falschen Ort verpflanzten Baumes einzufangen, in diesem Fall einer Zeder aus dem Libanon, einem biblischen Baum, der an König Salomon und den Bau des jüdischen Tempels in Jerusalem erinnert. Das Moment der Verwurzelung wird zwar nirgends explizit angesprochen, muss aber aufgrund des gewählten botanischen Rahmens mitgedacht werden. Flusser vermeidet es wohl absichtlich, von der Schwierigkeit des Baumes, Wurzeln zu schlagen, zu schreiben. Er übersetzt das Botanische ins Kulturelle und verwandelt die Situation des Randständigen auf fremdem Boden in eine Position, von der aus die Lage der rechtmäßig Verwurzelten neu angegangen werden kann, ja eigentlich erst ihren wahren Sinn erhält. Dieser Sinn entsteht nicht durch reine Zugehörigkeit, sondern durch einen Vorgang des Vergleichens. »Wie weiß ich, daß die Zeder eine fremde ist? […] Ich weiß, daß der Baum eine Zeder ist, daß Zedern im Libanon heimisch sind und nicht in Frankreich. Das ist aber keine gute Antwort. […] Ich werde die […] Frage neu formulieren: Wie sagt mir die Zeder, daß sie eine Fremde ist? Sie sagt es auf verschiedene Weisen. Ihr Grün ist anders als das Grün um sie herum. Ihre pyramidale, hierarchisch gestufte Gestalt sticht von den kegelartigen Gestalten der anderen Bäume ab. Die gekrümmte, chaotische Form ihrer Äste ergibt eine harmonische Ganzheit, die sich grundsätzlich von den sanften Kronen der anderen Bäume unterscheidet. Ihre monumentalen Zapfen haben keine Parallele unter den Früchten im Park. Ihr elefantenartiger Stamm tönt hier wie eine Trompete mitten in einem Streichorchester. Besonders auffällig ist ihre Gestalt, die den Park nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch etwas Majestätisches beherrscht.« 38
38 | Flusser, Vogelflüge, S. 39-40.
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Eigenartig und fremdartig ist die Zeder auf europäischem Boden. Dass diese beiden Kategorien für Flusser untrennbar sind und dass der Fremde mit dem Seltsamen in eins zu sehen ist, stellt sich am Ende des Textes heraus. In verhalten ironischem Ton beschreibt Flusser die Position des anderen Kontrahenten, des alteingesessenen französischen Nussbaums. »Ich bin hier gebürtig, weil ich ein Nussbaum bin, und ich bin ein Nussbaum, weil ich hier gebürtig bin.«39 Die tautologische Zirkelargumentation soll auf die Tatsache hinweisen, dass Verwurzelungsvorstellungen letztlich redundante imaginäre Konstrukte darstellen. In der Beschreibung der fremdartigen Zeder betont Flusser bewusst das Außergewöhnliche und Abartige. Das Fremde fügt sich nicht harmonisch ins Ganze. Es sticht stets hervor. Steht es doch für Dissonanz. Eine Trompete unter Streichern. Und Flusser liefert eine informationstheoretische Deutung nach: Die Zeder ist ein Geräusch, welches die Redundanz des Parks in eine bedeutsame Information verwandelt. »Ich bin eine Fremde, weil ich eine Zeder bin, und nur in Beziehung zu meiner Fremdheit ist der Rest des Parks einheimisch. ›Fremder zu sein‹ bedeutet eigentlich, dem Kontext klarzumachen, daß er selbst kein Fremder ist. Ich bin nicht mir selbst eine Fremde, sondern bin im Verhältnis zum Park eine Fremde.«40 In Flussers von Martin Buber inspirierter Deutung kommt man erst durch den anderen Fremden zu sich selbst. Dem Fremden kommt damit eine wesentliche Rolle in der neuen Gesellschaft zu: »[…] wenn fremd sein immer fremd sein in Beziehung zu einem anderen Wesen bedeutet, ist die Beziehung nicht umkehrbar?«41 Fremdheit hängt nicht von einem rein quantitativen Kriterium ab. Das Fremde ist nicht so sehr das Minoritäre, Unbedeutendere, Marginale. Erst die befremdende Künstlichkeit der Zeder gibt dem Park einen Sinn, den dieser in sich selbst nicht finden würde. »Es hat sich gezeigt: Fremd und sonderbar ist, wer sein eigenes Sein in der Welt, die ihn umgibt, behauptet. Dadurch gibt er der Welt einen Sinn und beherrscht sie auf eine gewisse Weise. Beherrscht sie tragisch, integriert sich nicht. Die Zeder ist in meinem Park fremd. Ich bin ein Fremder in Frankreich. Der Mensch ist ein Fremder auf der Welt.«42 Der Fremde hilft dem Eingesessenen, sich selbst zu erkennen. Flusser universalisiert die Erfahrung des Migranten zur allgemein menschlichen Situation. Alle sind Entwurzelte und am falschen Ort wieder Teilverwurzelte.
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Ebd., S. 42. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43.
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B ODENLOSIGKEIT In Flussers Philosophie der Migration steht der zwanghaften, meist unbewussten Verwurzelung die befreiende selbstbewusste Vernetzung gegenüber. Diese Vorstellung kommt im Begriff der Bodenlosigkeit zum Ausdruck: Man ist zwar im Exil ohne angestammten Boden, weil man den früheren Boden, in dem man verwurzelt war, verloren hat, man ist aber zugleich von diesem früheren Boden befreit, man ist diesen Boden los. Im Essay Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit versucht Flusser, diese gewohnheitsmäßige Verstrickung in die eigene Kultur anhand einer Metapher einzufangen, einer Metapher, die ohne die Vorstellung der Wurzel und der Verwurzelung auskommt, und doch auf das Faserige, Fesselnde verweist, auf die Schmerzen des Zerreißens und Zerschneidens. »Es sind zumeist geheime Fasern, die den Beheimateten an die Menschen und Dinge der Heimat fesseln. Sie reichen über das Bewußtsein der Erwachsenen hinaus in kindliche, infantile, wahrscheinlich sogar in fötale und transindividuelle Regionen […]. Ein prosaisches Beispiel: Das tschechische Gericht svichova (Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort ›Heimweh‹ gerecht wird.«43 Im Essay Exil und Kreativität geht Flusser kritisch auf den Begriff der Verwurzelung ein. »Vertriebene«, schreibt er dort, »sind Entwurzelte, die alles um sich herum zu entwurzeln versuchen, um Wurzeln schlagen zu können. Und zwar tun sie das spontan, einfach weil sie vertrieben wurden. Es geht dabei um einen gleichsam vegetabilischen Vorgang. Den man vielleicht beobachten kann, wenn man versucht, Bäume umzupflanzen. Es kann jedoch geschehen, daß sich der Vertriebene dieses vegetabilischen, vegetativen Aspekts seines Exils bewusst wird. Daß er entdeckt, daß der Mensch kein Baum ist. Und daß vielleicht die menschliche Würde eben darin besteht, keine Wurzeln zu haben. Daß der Mensch erst eigentlich Mensch wird, wenn er die ihn bindenden Wurzeln abhackt. […] Der Vertriebene kann entdecken, daß ›Luft‹ und ›Geist‹ nah verwandte Begriffe sind und daß daher ›Luftmensch‹ Mensch schlechthin bedeutet. […] Die Entdeckung, daß wir keine Bäume sind, verlangt vom Vertriebenen den Lockungen des Schlamms immer wieder zu widerstehen. Vertrieben zu bleiben und das heißt: sich immer erneut vertreiben zu lassen. Dies stellt selbstredend die Frage nach der Freiheit. Die Entdeckung der menschlichen Würde als Wurzellosigkeit […]. Die erste Vertreibung wurde erlitten. Sie hat sich als produktiv erwiesen. Und dann beginnt das Exil zur Gewohnheit zu werden. […] soll man eine neue Vertreibung provozieren? So stellt sich die Frage nach der Freiheit nicht als Frage, zu gehen und zu kommen, sondern fremd zu bleiben. Anders als die anderen.« 44 43 | V. Flusser, Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim und Düsseldorf 1994, S. 17-8. 44 | Ebd., S. 107-8.
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D ER NEUE N OMADISMUS In Der Nomos der Erde (1950) geht Carl Schmitt auf die Bedeutung des griechischen Wortes ›Nomos‹ ein: »Das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste RaumTeilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und Ur-Verteilung ist: Nomos. Dieses Wort, in seinem ursprünglichen, raumhaften Sinn verstanden, ist am besten geeignet, den grundlegenden Ortung und Ordnung in sich vereinigenden Vorgang zum Bewußtsein zu bringen.«45 Es geht um die Festlegung und Einteilung des Raumes. Dadurch entsteht Kultur. Der Mensch ist ein Landtreter. Und im fünf Jahre später erschienenen Der neue Nomos der Erde: »Das griechische Wort Nomos […] ist dasselbe wie das deutsche Wort: Nehmen. Nomos bedeutet also erstens: die Nahme. Es bedeutet außerdem zweitens: die Teilung und Einteilung des Genommenen, und drittens: die Verwertung, Bewirtschaftung und Nutzung des bei der Teilung Erhaltenen, also Produzieren und Konsumieren. Nehmen, Teilen, Weiden sind Urvorgänge der Menschheitsgeschichte, drei Akte eines Urdramas. […] Irgendeinen Nomos der Erde hat es immer gegeben. Zu allen Zeiten wurde die Erde von Menschen genommen, geteilt und bewirtschaftet.« 46
Kultur entsteht somit dadurch, dass Land angeeignet, genommen, und bewirtschaftet wird. Der Bodenfixiertheit von Schmitts Überlegungen möchte ich hier Flussers Deutung des Wortes ›Nomade‹ gegenüberstellen, so wie er sie in dem 1990 veröffentlichten Essay Nomadentum entwickelt hat. »Das Wort kommt aus dem griechischen ›nomas‹, das ›Weidensucher‹ bedeutet und dies wieder kommt aus ›nomos‹, dessen Bedeutung etwa mit ›abgegrenztes Gebiet‹ wiedergegeben werden könnte. Von daher wird die Nachsilbe ›nomie‹ wie in Astronomie oder Autonomie abgeleitet […]. Das Wort ›nomos‹ wieder kommt von ›nemein‹ etwa ›zuweisen‹, und davon wird ›nemesis‹, also Rache im Sinn von Rückweisung auf den gerechten Platz abgeleitet. Das Verbum ›nemein‹ seinerseits kann auf die uralte indo-europäische Wurzel ›NM‹ zurückgeführt werden, worin ein Sich-beugen unter eine Ordnung, ein Gesetz […] zu Wort kommt. […] Betrachtet man diesen Bedeutungskontext, dann ersieht man, was die Griechen unter ›Nomade‹ verstanden: einen Menschen auf der Suche nach ihm zugewiesenen Grenzen, nach einem Gebiet, worin er im Recht ist. Das ist selbstredend eine Ansicht von Seßhaften auf Wanderer, also von Leuten, die sich selbst im Recht und die anderen im Unrecht sehen. Diese Ansicht kommt zum Beispiel im Stand45 | C. Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 1997, S. 36. 46 | C. Schmitt, Der neue Nomos der Erde, in: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hg. von G. Maschke, Berlin 1995, S. 512.
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punkt der Polizei zu Zigeunern zum Ausdruck […]. ›Nomade‹ ist demnach ein Name, den Seßhafte, gegen Wandernde verwenden.« 47
Flussers Text liest Schmitts Kulturgeschichte bewusst gegen den Strich. Am Anfang steht nicht der Wald, wie bei W.H. Riehl, sondern die grasbewachsene Tundra. Das Ende der Eiszeit leitete eine Klimaerwärmung ein. Das Eis zog sich zurück. »[…] immer mehr Bäume invadierten das Grasland. Die Tundra mit den darauf grasenden Wiederkäuern begann sich in einen Wald zu verwandeln. Das war eine ökologische Katastrophe (die sich unsere Grünen hinter die Ohren schreiben sollten), denn der Wald ist unser Todfeind. […] Wir begannen also damals, die Bäume zu verbrennen, künstliche Lichtungen herzustellen, darauf künstlich Gras zu pflanzen […]. So sind wir seßhaft geworden: wir verwandelten den Wald in ein künstliches Grasland (›Felder‹), und dadurch uns selbst von Jägern zu Bauern.« 48
Flusser spricht dabei von einer »Degradation von Nomaden zu Hausbewohnern.«49 Durch die gegenwärtige Kommunikationsrevolution, so weiter Flusser, welche den Fluss der Informationen umkehrt und dadurch die Notwendigkeit eines Pendelns hinfällig macht, da man nicht mehr aus dem Haus muss, um sich zu informieren und wegen der Durchlöcherung der Abgeschlossenheit des Hauses durch materielle und immaterielle Verkabelung und der wachsenden Verunsicherung einer zunehmend von Apparaten kodifizierten Welt sind wir wieder zu Nomaden geworden. Im folgenden Zitat zerlegt Flusser das Wort ›Sesshaftigkeit‹ und deutet es neu im Sinne einer Jahrtausende langen Haft, aus der uns die Kommunikationsrevolution endgültig befreit. »Aus dieser Sicht erscheint die Seßhaftigkeit als ein Zwischenspiel im grundsätzlich nomadischen menschlichen Dasein. Wir sind ›homines viatores‹, Fremde in diesem Jammertal, auf der Suche nach besseren Weideplätzen im Jenseits und sind nur provisorisch, etwa zehntausend Jahre lang, gesessen.« Die Sesshaftigkeit »kann, so gesehen, als Kerkerhaft verstanden werden: wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, und jetzt werden wir entlassen.«50 Was Flusser in seinen Texten eigentlich nur andeutet, aber nicht im Detail ausführt, findet sich in Arjun Appadurais 1996 zuerst publiziertem Werk Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization anhand treffender Be47 | V. Flusser, Nomaden, in: Herbstbuch eins, ›Auf und davon‹. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz 1990, S. 20-1. 48 | Ebd., S. 13-4. 49 | Ebd., S. 14. 50 | Ebd., S. 20-1.
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schreibung ausformuliert. Flussers Verwendung von Metaphern zur Beschreibung des stattfindenden Paradigmenwechsels hat wohl auch damit zu tun, dass Ende der 1980er vieles noch im Unklaren war.
M EDIEN UND M IGR ATION Der 1949 in Bombay geborene Arjun Appadurai teilt mit Vilém Flusser zwar nicht die Lebenstragik des exilierten Juden, hat aber wie dieser die Existenz eines nomadischen bodenlosen Intellektuellen geführt. Appadurai besuchte die St. Xavier’s High School und das Elphinstone College in Bombay. Er emigrierte in die USA, wo er 1970 an der Brandeis University in Waltham (Massachusetts) seinen B.A.-Abschluss, 1973 seinen M.A. an der University of Chicago und 1976 seinen Ph.D. erhielt. Anschließend lehrte er an der University of Chicago, an der Yale University und wechselte schließlich an die New School. Er hatte zahlreiche Lehraufträge an weiteren Universitäten in den USA, Europa, Lateinamerika und Indien. Wie schon in der Einführung festgehalten, verzichtet Appadurai in seiner Untersuchung zu den weltweiten Folgen der Globalisierung, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, – wie Benedict Anderson 1983 in seinem Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, der dabei vor allem auf die Bedeutung der Druckerzeugnisse, Bücher und Zeitungen einging – weitgehend auf den Landschaftsbegriff. Sein Ausgangspunkt sind vor allem die elektronischen Medien. Interessanterweise fehlt in seinem Buch jeder explizite Hinweis auf die jüdische Erfahrung als mögliches Interpretationsmodell für die radikalen Veränderungen der letzten Jahre. Ein ganzes Kapitel hingegen ist der Bedeutung des Cricket-Spiels und dessen globaler Mediatisierung gewidmet, was mit Appadurais eigenen kulturellen Wurzeln zu tun hat. Appadurai, wie schon Flusser, verbindet Migration und Medien, und untersucht deren Bedeutung für die Entwicklung neuer Formen einer globalen nicht-territorialen Subjektivität. »Implicit in this book is a theory of rupture that takes media and migration as its two major, and interconnected diacritics and explores their joint effects as a constitutive feature of modern subjectivity. […] Such media transform the field of mass mediation because they offer new ressources and new disciplines for the construction of imagined selves and imagined worlds. […] always carrying the sense of distance between viewer and event […].«51 Und weiter: »As with mediation, so with motion. […] we have a new order of instability in the production of modern subjectivities.«52 Medien und 51 | Appadurai, Modernity at Large, S. 3. 52 | Ebd., S. 4.
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Migration sind sich auch deswegen ähnlich, weil sie Bewegung implizieren und stets eine räumliche Trennung zwischen den Menschen und den Territorien herstellen. »[…] moving images meet deterritorialized viewers. These create diasporic public spheres, phenomena that confound theories that depend on the continued salience of the nation-state as the key arbiter of important social changes. […] both viewers and images are in simultaneous circulation. Neither images nor viewers fit into circuits and audiences that are easily bound within local, national, or regional spaces.« 53
Appadurais Beispiele fokussieren vor allem auf Migranten: Türkische Gastarbeiter sehen türkische Filme in Deutschland, Koreaner in den USA sehen sich Fernsehbilder der 1988 in Seoul stattfindenden olympischen Spiele an und Londoner Taxifahrer aus Pakistan hören Gebete von einer Kassette, die in einer Moschee in Islamabad aufgenommen wurden. Drei verschiedene geographische Doppelräume und drei unterschiedliche Medien werden dabei erwähnt: Film, Fernsehen und Audio-Kassetten. Wie steht es aber mit all denjenigen Menschen, die noch in ihren angestammten nationalen Territorien verweilen? Inwiefern sind auch sie auf dem Weg, zu deterritorialisierten Zuschauern zu werden, die auf bewegte Bilder treffen? Obwohl nicht ganz im gleichen Sinne und in wohl deutlich milderen Ausformungen sind auch diese Menschen zusehends in Bewegung geraten. Die globale Welt hat auch in ihrem Leben auf den verschiedensten Ebenen Einzug gehalten und dies nicht nur dank der Medien: Tourismusformen, die in immer weiter reichende Fernen führen und immer häufiger den Alltag durchbrechen, Auslandaufenthalte für Studium oder Arbeit, gemischte Ehen, Adoptionen von Kindern aus anderen Kontinenten, die Präsenz fremder Kulturen im Alltag über Fernsehen, Radio, Internet und Filme, die Gegenwart von Migranten und Flüchtlingen aus allen Kontinenten, deren Kulturen bis in unsere Ernährungsweisen vorgedrungen sind. Dadurch geraten einfache territoriale Zuordnungen zusehends durcheinander. Die einfache Zuordnung von Landschaft und Nation, Territorium und Subjekt wird von zwei Seiten her zersetzt: von außen durch zunehmende Einwandererzahlen aus immer ferneren Regionen der Welt, sowie durch die wachsende Bedeutung globaler Märkte und globaler Kommunikationsmittel und von innen durch die eigene Rastlosigkeit, sei sie nun gelebt oder bloß imaginiert, wie Appadurai festhält. Appadurai verweist auf den destabilisierenden Charakter dieser neuen globalen Phänomene und deren flächenmäßige Wirkung. »This is not to say that there are no relatively stable communities and networks of kinship, friendship, work and leisure, as well as of birth, residence, and other filial forms. But it is to say that the warp of 53 | Ebd., S. 4.
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these stabilities is everywhere shot through with the woof of human motion, as more persons and groups deal with the realities of having to move or the fantasies of wanting to move.«54 Die neue daraus entstehende Form der Imagination bezeichnet Appadurai als »mutual contextualizing of motion and mediation«55 Für Appadurai sind es vor allem »images, scripts, models and narratives that come through mass mediation.«56 Er weist auf McLuhans ›globales Dorf‹ hin.57 »[…] a mass mediated imaginary that frequently trascends national space.«58 Waren es im theoretischen Entwurf Benedict Andersons zur Entstehung nationaler Staaten noch vor allem die Printmedien, die durch ihre hohe Diffusion für so etwas wie innere gedankliche und imaginative Kohärenz sorgten, so wird eine ähnliche Rolle in Zeiten der Ab- und Auflösung nationaler Konzepte von den elektronischen Medien übernommen. Diese, und das ist das fundamental Neue daran, unterstützen allerdings nicht mehr die imaginäre Formation nationaler, sondern transnationaler subjektiver und kollektiver Identitäten. »[…] forms of electronic capitalism can have similar, and even more powerful effects, for they do not work only at the level of the nation-state.« Es geht um neue transnationale Formen der Solidarität: »these sodalities are often transnational, and they frequently operate beyond the boundaries of the nation.«59 Diese neuen Formen der Identitäten sind nicht nur transnational, sondern manchmal auch postnational, d.h. sie kombinieren verschiedene Formen nationaler Zugehörigkeit oder aber sie entwerfen Identitäten, die letztlich nicht mehr an irgendeine Form nationaler Zugehörigkeit gebunden sind. Die internationalen elektronischen Massenmedien der transnationalen Mobilisation haben das Monopol der autonomen Nationen durchbrochen und deren Projekt der Modernisierung übernommen. Anstelle der in sich geschlossenen homogenen nationalen Territorien setzt sich langsam ein Modell durch, das auf der Vernetzung heterogener Einheiten beruht. »As the nation-state enters a terminal crisis […] we can certainly expect that the materials for a post-national imaginary must be around us already. […] the emergent post-national order proves not to be a system of homogeneous units (as with the current system of nation states) but a system based on relations between heterogeneous units […].« 60 54 55 56 57 58 59 60
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Ebd., S. 33-4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 29. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 21ff.
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In dieser neuen Weltordnung sind die unterschiedlichen Nationen zu Knoten einer komplexen transnationalen Konstruktion imaginärer Landschaften geworden. Appadurai verwendet den Landschaftsbegriff als Modell verschiedener gesellschaftlicher Phänomene. Er definiert fünf Dimensionen von globalen kulturellen Austauschbewegungen: »(a) ethnoscapes, (b) mediascapes, (c) technoscapes, (d) financescapes, and (e) ideoscapes.« Das Suffix ›-schaft‹, auf Englisch -scape steht aber nicht für in sich geschlossene klar abgegrenzte, sondern für fluide unregelmäßige Formen. Hinzu kommt, dass diese Landschaften anders aussehen, je nachdem von welcher Perspektive aus man sie angeht. »These terms with the common suffix -scape indicate that these are not objectively given relations, that look the same from every angle of vision but, rather, that they are deeply perspectival constructs […].«61 Die von Appadurai vorgeschlagenen neuen beweglichen und offenen Landschaftsformen passen eindeutig besser in die neue globalisierte Welt. Damit liest Appadurai den klassischen Landschaftsbegriff gegen den Strich und weist explizit auf dessen grundsätzliche metaphorische Kodierung hin. Die Vorstellung, Landschaften seien abgezirkelte klar voneinander abgesetzte Bereiche, gehört in die Welt nationaler Staaten. In dieser Konzeption ist Landschaft darüber hinaus, auch wenn sie in einem emphatisch empirischen Sinne verstanden wird, als ›die Landschaft dort draußen vor unseren Augen‹, ebenfalls ein metaphorisches Konstrukt, einmal als Herauslösung eines Teils aus einem größeren Ganzen und andererseits als natürlicher Garant historischer und territorialer Kontinuität. In nationalen Diskursen werden diese beiden Momente der Künstlichkeit geschickt verborgen. Nationen, nationale Landschaften, ja selbst nationale Sprachen, folgen derselben räumlichen Logik der Zählbarkeit: nebeneinanderliegende, voneinander durch klare Grenzen getrennte und in sich ruhende singuläre Bereiche. Ganz anders im Falle der neuen transnationalen Landschaften. Appadurais Landschaften sind Bausteine imaginierter Welten. »These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is multiple worlds that are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe […].«62 Im Gegensatz zu Claude Reichler63, der sich auf die fraktale Logik der Chaostheorie vor allem in Hinblick auf das Prinzip der Selbstähnlichkeit absoluter Landschaften bezieht, geht es Appadurai um eine Kritik der in sich geschlossenen, an Grenzen orientierten Form von (nationalen) Landschaften: Keine euklidischen Abgrenzungen mehr, keine strukturellen Regelmäßigkei61 | Ebd., S. 33. 62 | Ebd., S. 33. 63 | S.o. Land und Leute.
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ten, sondern Überschneidungen und Überlappungen von unterschiedlichen kulturellen Formen. Die neue räumliche Logik wird zudem in eine zeitliche Dimension zurückgeführt, die sich der langen Dauer der nationalen Landschaften verweigert. Die neuen komplexen, ineinander verschachtelten Formen sind steten Veränderungsprozessen unterworfen, die es ebenfalls zu studieren gäbe. »Thus we need to combine a fractal metaphor for the shape of cultures (in the plural) with a polythetic account of their overlaps and resemblances. […] we will need to ask not how these complex, overlapping fractal shapes constitute a simple, stable […] system, but to ask what its dynamics are […].« 64
Appadurai ist im Zusammenhang mit der Frage nach den subjektiven und kollektiven Identitäten, die sich aus diesen globalen Landschaften ergeben, auf die Suche nach passenden Bildern gegangen. Welche Metaphern könnten diese neuen Formen am ehesten umschreiben? Ist beispielsweise die von einem heterogenen Nebeneinander ausgehende Metapher des Patchworks und Flickenteppichs, der man in den Landschaftslisten der Donaumonarchie begegnet, eine adäquate Darstellung der neuen globalen Vernetzung? Zum einen folgen diese Metaphern, zusammen mit derjenigen des Regenbogens und des Mosaiks, einer statischen räumlichen Definition des Nebeneinanders und Nacheinanders, womit die wesentliche dynamische Dimension des Miteinanders und Ineinanders ausgeschlossen wurde. Zum anderen verbergen solch versöhnliche multikulturelle Metaphern die grundsätzlich antagonistische Natur komplexer sozialer Verhältnisse. So schreibt dazu Appadurai: »[…] such images as the mosaic, the rainbow, the quilt, and other tropes of complexity-in-diversity cannot supply the imaginative resources for this task […] the metaphor of the mosaic cannot contain the contradiction between group identities […].« 65
Der Begriff »ethnoscapes«, den Appadurai als »landscape of group identity«66 definiert, umfasst multikulturelle Menschenlandschaften, deren heterogene Elemente zwar mehrfach miteinander vernetzt sind, aber keine eindeutige Verortung mehr zulassen. »[…] ›invented homelands‹ constitute the mediascapes of deterritorialized groups.«67 Die fünf verschiedenen metaphorischen Landschaftsdimensionen bringen bewegte Menschen und bewegte Bilder zusammen, deren eigentliche Verortung medial vermittelt ist. Damit wären die frü64 65 66 67
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Appadurai, Modernity at Large, S. 46. Ebd., S. 173. Ebd., S. 48. Ebd., S. 38.
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heren nationalen Landschaften, deren Zweck es war, subjektive und kollektive Identitäten zu stiften, eigentlich vollkommen hinfällig geworden. Kann man aber solch einer Vorstellung beipflichten? Ist es nicht eher so, dass diese früheren Landschaften nicht einfach verschwunden sind, sondern in die globalen kommunikativen Ströme eingespeist worden sind, und darüber hinaus immer noch einen Referenzpunkt darstellen? Gibt es nicht gerade in Zeiten forcierter Globalisierung auch so etwas wie eine Rückkehr nationaler und regionaler Kultureme, bei denen das Landschaftliche eine wichtige Rolle spielt? Noch sind die Metaphern der Nation bedeutsam, zudem fehlt immer noch eine Sprache zur Beschreibung der radikal neuen Lebenserfahrung, die durch die Globalisierung und die technische Revolution der neuen Kommunikationsmedien eröffnet wurde. Dazu Appadurai: »Although many antistate movements revolve around images of homeland, soil, place, and return from exile, these images reflect the poverty of their (and our) political language, rather than the hegemony of territorial nationalism. […] no idiom has yet emerged to capture the collective interests of many groups in translocal solidarities, cross-border mobilizations, and postnational identities. Such interests are many and vocal, but they are still entrapped in the linguistic imaginary of territorial state. […] This vicious circle can only be escaped when a language is found to capture complex, nonterritorial, postnational forms of allegiance.« 68 [Herv. d. Verf.]
Abschließend möchte ich eine Passage aus Karl Schlögels Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik zitieren, die eine mögliche Antwort auf die hier gestellte Frage gibt, welche Bedeutung Landschaften in einem weitgehend postnationalen globalen Umfeld überhaupt noch zukommen kann. Landschaften spielen im europäischen Kulturraum auch im Zeitalter der Globalisierung ganz sicher noch immer eine wichtige Rolle, besonders wenn es darum geht, soziale und kulturelle Zugehörigkeiten zu definieren. Dabei scheint sich aber die Betonung auf kleinere regionale und lokale Dimensionen verschoben zu haben, die erst in einem zweiten Moment – wenn überhaupt – auf den größeren nationalen Zusammenhang verweisen. Diese regionale Interpretation, die durch eine Unmittelbarkeit der alltäglichen Erfahrung zustande kommt, steht dann für das entschwindende Gefühl fürs Ganze ein. »Landschaft ist nicht politisches Territorium, nicht Grenze, nicht Staat, nicht das eine oder das andere, sondern alles zusammen. […] Landschaft ist das Mittlere, das Dichteste, das Gewöhnliche. Menschen wachsen gewöhnlich nicht in Staaten oder Orten auf, sondern im Mittleren: in Landschaften. […] Landschaft ist wichtiger als der politische 68 | Ebd., S. 166.
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Verwaltungsbezirk, eindrücklicher und dichter besetzt als der Staat. Menschen definieren sich durch Landschaften, aus denen sie kommen, nicht weniger als durch den Staat, dessen Bürger sie sind. Landschaftsbilder sind daher nicht nur Abbilder, sondern die Welt im Kleinen, Mikrokosmen.« 69
69 | K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 284.
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Vom body politic zum body geographic Zur Entstehung der nationalen Landschaftsmetapher
»In staging masques rather than traveling around the country the monarch shifted the focus from the progress of his body to the reflection of himself in the landscape, itself perceived as a body.« K.R. OLWIG, Landscape, Nature and the Body Politic. From Britain’s Renaissance to America’s New World
D ER L ANDSCHAF TSKÖRPER DES N ATIONALSTA ATES Der schweizerische Bundespräsident Philipp Etter hielt am 10. Juni 1939 eine Einweihungsrede für das neue Kollegiengebäude der Universität Basel. Darin kommt eine dichte Passage vor, in der die Schweiz als landschaftlicher Körper gesehen wird. »Und beide, Genf und Basel, spüren in ihren Lebensadern etwas von der Nähe und zugleich von der Weltweite der Meere, mit denen sie durch ihre Ströme verbunden sind. […] Und wenn ich letzten Sonntag sagte, dass Genf durch die Wasser seines Sees und durch die Rhone wie durch eine Lebensader verbunden sei mit dem Gotthard, mit dem Herzen des Landes, dann darf ich heute daran erinnern, dass auch die Wasser des Basler Rheines der Felsenbrust des gleichen Gotthards entströmen. Gotthard aber heißt für uns: Freiheit, Unabhängigkeit, bündische, eidgenössische Gemeinschaft, Freiheit des Menschen und Freiheit des Landes!«1
In Etters evokativer Vision ist die Schweiz ein lebendiger Landschaftskörper,2 dessen Lebenszentrum im Gotthardmassiv zu finden ist. In dieser Felsenbrust schlägt ein starkes Herz, das belebendes Blut durch die wichtigsten Adern des Landes pumpt. Der Hinweis auf Genf und Basel, die Rhone und den Rhein, 1 | Etter, Reden an das Schweizer Volk, S. 55-6. 2 | S.o. Felsenburg der Freiheit.
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führt zudem die zwei wichtigsten Seiten – die französische und die deutsche – der vierfältigen Schweizer Landschaft ein. Über diese Blutströme ist das Land mit dem Rest der Welt verbunden, den beweglichen Meeren, welche dem stabilen steinernen individuellen Kern des Landes ergänzend zur Seite gestellt werden. Die Schweiz ist somit ein selbstbezogenes unabhängiges Land und zugleich ein Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Diese Doppeldeutigkeit verbindet Etter mit zwei Landschaften – den Bergen und den Flüssen – und zwei Körperteilen – dem Herz und den Adern.3 In anderen Vergleichen dieser Art wird den Bergen die Rolle des Skeletts und Rückgrats zugeordnet. Philipp Sarasin4 hebt zu Recht die Ambivalenz dieser doppelten Gotthardmetapher hervor, ihr Schwanken zwischen Anpassung und Widerstand gegen Nazideutschland. Ihr Gebrauch, so Sarasin, ermöglichte zugleich beides. Diese ambivalente Haltung entsprach nicht nur der katholisch-konservativen Haltung Etters, der zugleich die Unabhängigkeit der Schweiz forderte und mit den autoritären Regimes Deutschlands und Italiens sympathisierte, sondern kam auch in der Reduit-Strategie des Oberbefehlshabers der Armee, General Henri Guisan, zum Ausdruck. Sarasin weist auf die häufige Verwendung topographischer Metaphern in Etters Reden hin und hebt deren evokatives, nationalreligiöses Pathos hervor. Dieses kommt auch gerade dadurch zustande, dass hier Körpermetaphern und Landschaftsmetaphern miteinander verbunden werden. Eine weitere von Sarasin vorgeschlagene Lesart verbindet den Gegensatz von Fels und Quelle, Berg und See mit einem Geschlechterschema, das der Kraft der harten soldatischen Körper die mütterliche Fruchtbarkeit und Opferbereitschaft gegenüberstellt, was wiederum auf die körperliche Dimension verweist. Damit bin ich beim Thema dieses letzten Kapitels: dem Verhältnis von politischen Körper- und Landschaftsmetaphern. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Feststellung, dass die Körper- und die Landschaftsmetaphern immer wieder – spätestens ab der frühen Neuzeit – zur Beschreibung politischer Gebilde verbunden wurden, und dies obwohl die in der europäischen Tradition viel früher auftauchende Körpermetapher5 tendenziell eher dazu diente, die Funktionsweise des Staates zu verdeutlichen, während die später einsetzende Landschaftsmetapher den 3 | 1997, zum 40-jährigen Jubiläum der Banca del Gottardo, wurde eine Ausstellung zum Gotthardmassiv organisiert. Im dazu veröffentlichten Katalog wird die Körpermetapher als Strukturprinzip verwendet. Das Buch besteht insgesamt aus vier Kapiteln, die jeweils durch einen viersprachigen kurzen Text, der einer thematisch geordneten Photosequenz vorangeht, eingeführt werden: der Gotthard als Leib, Herz, Ader und Hirn (vgl. Il San Gottardo, Ausstellungskatalog, Fondazione Galleria Gottardo, Lugano 1997). 4 | Sarasin, Metaphern der Ambivalenz, S. 177ff. 5 | Vgl. R. Guldin, Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin, Würzburg 2000.
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modernen territorialen Nationalstaat versinnbildlichen sollte. Ich möchte im Folgenden auf mögliche Überschneidungen und Übergangsformen zwischen den beiden Metaphern eingehen und dabei der Frage nachgehen, welche Rolle die Körpermetapher in ihrem Bezug zur Landschaftsmetapher gespielt hat, sowohl was die formalen wie historischen Aspekte angeht. Es ist dabei auffallend, dass um 1800 die bis dahin zentrale Vorstellung eines Staatskörpers weitgehend, wenn auch nicht ganz,6 aus der politischen Diskussion verschwindet, gleichzeitig aber die neue Metapher der nationalen Landschaft sich durchzusetzen beginnt. Haben die beiden historischen Ereignisse etwas miteinander zu tun? Hat die Landschaftsmetapher die argumentative Stelle eingenommen, die der Körpermetapher vorbehalten war? Der erste Teil des Kapitels soll die Grundlagen für eine mögliche Metaphorologie politischer Landschaften legen. Anfangen möchte ich dabei mit einer Reflexion zur allgemeinen Relevanz politischer Metaphern und einem näheren Vergleich von body politic und body geographic. Diese Verwandtschaft hat auch in anderen Kulturkreisen eine signifikante Rolle gespielt, z.B. in China. Dort wurde der Körper des Kaisers mit einer ideellen politischen Landschaft in eins gesehen. Der interkulturelle Vergleich soll dabei die europäische Position deutlicher machen und zugleich Unterschiede aufzeigen. Daraufhin soll das Verhältnis der politischen und ästhetischen Dimension von Landschaft diskutiert werden. Zentral ist dabei deren Definition als Ausschnitt, die zweifach gelesen werden kann: als abgegrenztes Territorium und als in sich stimmiges Gemälde. Als Übergang zum zweiten Teil, in dem es vor allem um die Frage der Entstehung der Landschaftsmetapher geht, möchte ich auf zwei weitere Verbindungen zwischen dem Körper, der Landschaft, dem Staat und der Nation hinweisen. Die Metaphern des Körpers und der Landschaft werden in der Regel zwar auf den Staat bzw. die Nation bezogen. Es gibt aber auch Zwischenformen. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht sind die weiblichen Allegorien der Nationalstaaten: die schweizerische Helvetia, die deutsche Germania und die österreichische Austria sind Verkörperungen der Nation. Ein frühes Beispiel für diese metaphorische Entsprechung, bei der der Körper der Königin mit dem Territorium der Nation und der Landschaft Englands in eins gesehen wird, stellt Marcus Gheeraerts’ Ditchley-Porträt Elisabeths I. aus dem Jahr 1592 dar. Ein zweites Beispiel, das auf die fundamentale Bedeutung der Grenze 6 | Man vergleiche dazu eine ganze Reihe neuerer Untersuchungen, die davon ausgehen, dass die Körpermetapher, wenn auch in anderen Formen, bis in die neueste Gegenwart hinein weitergewirkt hat: U. Haltern, Obamas politischer Körper, Berlin 2009; Th. Frank u.a. (Hg.), Des Kaisers neue Kleider: Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002 und Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007.
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bei der politischen Landschaftsmetapher hindeutet, ist durch die Vorstellung des verletzten nationalen Körpers gegeben, meist als Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch der body politic ist nicht nur von innen her bedroht – z.B. durch die Weigerung einzelner Organe, ihrer Funktion nachzukommen, durch plötzlich auftretende Instabilitäten, Krankheiten und den Tod –, sondern auch durch Krankheiten, die durch die Haut oder die verschiedenen Körperöffnungen eindringen können.7 K.R. Olwig hat gezeigt, dass der Wechsel vom Staatskörper zur Nationallandschaft schon für das England des frühen 17. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann und dass diesem Übergang eine programmatische Bedeutung für die anderen europäischen Nationalstaaten zukommt. Dabei wird der Körper des Königs, der body politic, in den Landschaftskörper der Nation, den body geographic, übertragen. Um 1800 kann man ein allgemeines europaweites Verschwinden der body-politic-Metapher aus den politischen Diskursen feststellen. Wie jedoch Philip Manow überzeugend nachgewiesen hat, überlebt diese, wenn auch in anderen Formen, z.B. in der körperähnlichen Anordnung der neuen demokratischen Parlamente. Eine ergänzende These dieser Arbeit wäre, dass dessen Rolle teilweise vom body geographic übernommen wurde und dass dies unter anderem auch möglich war, weil die beiden Metaphern schon über längere Zeit als miteinander verbunden gedacht worden waren. Somit würde anstelle eines paradigmatischen Bruchs so etwas wie eine doppelte tiefer liegende Kontinuität von der aristokratischen Welt des 18. Jahrhunderts zur bürgerlich-demokratischen des 19. und 20. Jahrhunderts postuliert. Ein weiterer Zeuge für den im Laufe des 19. Jahrhunderts stattfindenden theoretischen Übergang vom body politic zum body geographic ist Friedrich Ratzel, der in seinem Werk Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges aus dem Jahr 1897 den Boden als neue Basis des Nationalstaates bestimmt. Die organische Dimension des hochkomplexen modernen Nationalstaates besteht nicht mehr so sehr in dessen körperhaften Organisation, sondern in der Verbindung zum angestammten Boden.
P OLITISCHE M E TAPHERN Metaphern besitzen die Kraft, abstrakte Konzepte ins Anschauliche zu übersetzen. Dies gilt in besonderer Weise auch für den Begriff der Nation. Francesca Rigotti8 bestimmt in ihrer Untersuchung der Form und Funktion politischer Metaphern einige wichtige analytische Momente, die ich hier kurz zusammenfassen und in einem zweiten Moment auf die Metapher der nationalen 7 | Vgl. dazu Guldin, Körpermetaphern, S. 168ff. 8 | Vgl. dazu F. Rigotti, Il potere e le sue metafore, Mailand 1992.
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Landschaft anwenden will. Rigotti definiert politische Metaphern nicht als Unterklasse von Metaphern, sondern als konkrete Anwendung der Metapher auf eine Disziplin mit eigenen Regeln und Mechanismen, die die Metapher wiederum beeinflussen und auch verändern kann. Dabei bestimmt sie drei unterschiedliche Funktionen von politischen Metaphern, die sie am Beispiel der Metapher des Staatskörpers diskutiert. Die ästhetische Funktion hat mit der Überzeugungskraft und Faszination einer Metapher zu tun. Im Falle der Metapher des Staatskörpers könnte dies die organische Ausgewogenheit und Schönheit eines wohl funktionierenden Körpers sein. Bei der zweiten, der evozierenden Funktion geht es darum, den Zuhörer mit einzubeziehen, Gefühle zu wecken, Teilnahme zu stimulieren und Leidenschaft zu provozieren. Die Metapher des Staatskörpers setzt eine Vorstellung von Einheit, Zusammenarbeit und natürlichem Wachstum voraus, die Bewunderung herausfordert und ein Gefühl der Erhabenheit. Die konstitutive Funktion schließlich sorgt dafür, dass ein bestimmtes semantisches Feld abgesteckt wird, das mit einer bestimmten politischen These verbunden wird. Das semantische Feld der Staatskörpermetapher definiert die Vorstellung eines außergewöhnlichen Wesens, dessen Existenz die Summe der einzelnen Mitglieder transzendiert und deswegen eine besondere Autorität für sich beanspruchen kann. Die damit artikulierte politische These besagt, dass eine funktionierende lebensfähige Gesellschaft von jedem Einzelnen verlangt, dass er seinen spezifischen Platz in der Gesellschaft akzeptiert, selbst wenn dieser eine deutlich untergeordnete Rolle spielt. Dadurch trägt er zum allgemeinen Wohl bei. Die konstitutive Funktion unterhält vielfältige und komplexe Beziehungen zu den politischen Wissenschaften und zur Theorie des politischen Handelns. Der ästhetischen und evozierenden Funktion von politischen Metaphern, die besonders für die konkrete politische Praxis von Bedeutung sind, haftet oft etwas Unlogisches an. Ihre Wirkung ist meist unvermittelt direkt. Das konstitutive Element hingegen kennt einen langsameren Rhythmus, der eher mit logisch artikulierten Überlegungen verbunden ist. Dies bedeutet aber nicht, dass die drei Momente klar voneinander getrennt werden könnten. Überträgt man diese knappen Überlegungen auf die politische Metapher der nationalen Landschaft, so ergibt sich eine Reihe von Übereinstimmungen und Unterschieden. Im Gegensatz zu Staatsgebilden, bei denen die Funktionenverteilung im Vordergrund steht – um reibungsloses Funktionieren sicherzustellen und Pannen zu verhindern –, geht es bei Nationen vor allem um eine Veranschaulichung der territorialen Souveränität, d.h. um verletzbare und daher schützenswerte Grenzen. Wie könnte dies treffender als durch Landschaftsbilder ausgedrückt werden? Absolut zentral, mehr noch als bei der Körpermetapher, ist bei der Landschaftsmetapher die ästhetische Funktion. Der Verwendung von nationalen Landschaftsmetaphern im 19. und 20. Jahrhundert geht eine intensive jahrhundertelange Rezeption von ›schönen Landschaf-
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ten‹ voraus, die vor allem, aber nicht nur, in der europäischen Landschaftsmalerei zum Ausdruck kommt. Um 1800 wird diese Tradition durch einen neuen ästhetischen Diskurs der Erhabenheit ergänzt, der hier auch im Sinne von Rigottis zweiter Funktion gedeutet werden könnte. Besonders aufschlussreich ist eine vergleichende Untersuchung der dritten Funktion. Die Metapher des Staatskörpers definiert ein semantisches Feld, in dem die Vorstellung von Abgeschlossenheit nicht weiter bewiesen werden muss. Der Staatskörper ist ein lebendiges eigenständiges Wesen. Bedrohlich sind in diesem Zusammenhang vor allem Krankheiten und der mögliche Tod. Ganz anders bei der Landschaftsmetapher: Hier ist die Einheit nicht von sich aus gegeben, sondern Folge eines selegierenden Moments, das durch die ästhetische Funktion zustande gebracht wird. Auf die Ausschnitthaftigkeit von Landschaften und deren doppelte, zugleich ästhetische wie politische Bedeutung werde ich in diesem Kapitel noch näher eingehen. Der Staatskörper ist ein komplexes mehrgliedriges Wesen, dessen Funktionsweise sichergestellt werden muss. Den einzelnen Ständen werden spezifische Körperteile oder Organe zugewiesen, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: Das Gehirn und das Herz gebieten über den Bauch und den Unterleib. In dieser Konzeption werden die einzelnen sozialen Positionen explizit benannt. Allein durch eine Akzeptanz der eigenen Stellung im Gesamtgefüge kann das Funktionieren des Ganzen gewährleistet werden. In der nationalen Landschaftsmetapher hingegen werden soziale Unterschiede im Namen einer harmonisierenden Vision der allgemeinen Gleichheit vor einer unveränderlichen natürlichen Umgebung negiert. Dieser spezifische Aspekt hat wohl auch damit zu tun, dass die neuen nationalen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts sich im Gegensatz zu den früheren stark hierarchisch ausgerichteten Gesellschaften der Antike und des Feudalismus zusehends als demokratische Gebilde verstanden. Die nationalen Landschaften, vor denen sich alle sozialen Schichten als Teil eines ewigen harmonischen Ganzen erleben sollten, bedienten diese neuen ideologischen Anforderungen aufs Genaueste. In den Bergen und Wäldern konnten Arbeiter, Bürgerliche und Adelige sich als Gleichgestellte wahrnehmen und erleben. Als Teil der Natur können Landschaften zudem eine Dauerhaftigkeit und Geschichtslosigkeit beanspruchen, die bei der Körpermetapher nicht möglich ist. Landschaftsmetaphern mobilisieren geologische Zeitvorstellungen, sie naturalisieren und enthistorisieren soziokulturelle Prozess nachhaltiger, als dies Körpermetaphern tun. Durch den Hinweis auf den Körper wird die Landschaft belebt und spricht auf einer ganzheitlichen organizistischen Ebene an, die dem landschaftlichen Ausschnitt letztlich fehlt. Durch Einbezug des organischen Moments sind die einzelnen landschaftlichen Teile einem wenn auch unsichtbaren Ganzen angeschlossen. Das Herz impliziert den restlichen Körper. Dies gilt für ein vereinzeltes landschaftliches Element nicht in demselben Maße.
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Was die kulturellen Unterschiede angeht, so haben das Beispiel der Schweiz und Österreich-Ungarns gezeigt, dass solche spannungsvollen Arrangements durch zusammengesetzte Landschaften gelöst werden können. Die Viersprachigkeit der Schweiz und die Multiethnizität Österreich-Ungarns werden an einer landschaftlichen Gegebenheit festgemacht, welche es ermöglicht, Pluralität und Mehrgliedrigkeit direkt aufeinander zu beziehen. Dabei gehen die beiden Metaphern, wie schon aufgezeigt wurde, komplementäre Wege: Im Falle der Schweiz sind es die vier Flüsse, die einem Berg entspringen, und im Falle Österreich-Ungarns die viele heterogenen Kulturen, die durch einen Fluss aneinander gekettet sind.
D IE L ANDSCHAF T UND DER K ÖRPER DES K AISERS Anhand eines interkulturellen Vergleichs lässt sich die hier angesprochene Beziehung von Körper, Landschaft und Nation in ihrer spezifisch europäischen Ausprägung verdeutlichen. Chenxi Tang, dem es um einen Vergleich von chinesischen und europäischen Landschaftsvorstellungen geht, bestimmt zwei Landschaftstypen für die Landschaftsmalerei der Song-Dynastie: die monumentale Landschaft und die kleine Szene. In diesem Zusammenhang ist besonders die erste von Bedeutung, geht es doch dabei um das Verhältnis zwischen dem Staat, dem Körper des Kaisers und der dargestellten Landschaft, welche die beiden anderen spiegelt. Funktion der chinesischen Malkunst, so Tang, ist es, den Staat in seiner Größe und Monumentalität sichtbar zu machen. »[…] was kann den Staat besser dem Auge darbieten als ein Bild seines Territoriums?« Bilder wurden daher vom Staat in Auftrag gegeben und in Regierungsgebäuden ausgestellt. In der Regel handelte es sich dabei um Hängerollen, die an den Wänden von Prunksälen angebracht wurden, oder um Wandschirme, welche die repräsentativen Räume in symbolische Einheiten einteilten. »Durch Landschaftsbilder hatte sich der Staat immer selbst vor Augen. Sogar auf dem Wandschirm, vor dem der kaiserliche Thron stand, war eine Landschaft zu sehen. Da in der chinesischen Bildkultur der Wandschirm mit der davor sitzenden Person sowohl in metonymischer als auch in metaphorischer Beziehung steht, verweist die Landschaft […] auf das, worüber der Kaiser herrscht, also das Staatsterritorium, und fungiert […] als Sinnbild der souveränen Herrschaft selbst. Der Naturraum und der symbolische Raum politischer Herrschaft gehen ineinander über, werden ununterscheidbar.« 9
9 | Ch. Tang, Landschaft als Medium. Zur Sichtbarmachung der Natur in der chinesischen und europäischen Landschaftsmalerei um 1000 und um 1800, in: Stadt, Land,
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Dadurch entsteht eine metonymisch-metaphorische Kette, die den Staat als Ganzes, sein Territorium, einen bestimmten Landschaftsausschnitt und den Körper des Kaisers miteinander verbindet. Im Gegensatz zu den hier dargestellten spezifisch europäischen Formen nationaler Landschaften, die darauf bedacht sind, sich in ihrer geographischen Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu behaupten, wird in der chinesischen Tradition meist eine zeitlose und archetypische Landschaft dargestellt. Tang diskutiert dies am Beispiel der 1072 entstandenen monumentalen Landschaft Zaochun Tu – Vorfrühling – von Guo Xi.10 Das Gemälde wird durch einen hohen dreiteiligen Berg im Bildzentrum dominiert, um den herum sich weitere, tiefer liegende Berge gruppieren. In der rechten Bildhälfte sind auf mittlerer Höhe einige Gebäude sichtbar sowie ein Strom, der sich über zwei kleinere Wasserfälle stufenartig in die Tiefe ergießt. Knorriges Geäst und Gebüsch ergänzt die landschaftliche Darstellung. Darüber hinaus kann man eine Reihe winziger menschlicher Figuren ausmachen: einen Mönch auf dem Weg zu seinem Kloster, einen Beamten zu Pferd, eine Fischerfrau mit ihren Kindern und zwei Fischer in ihrem Boot. In Guo Xis Abhandlung zur Landschaftsmalerei, Linquan Gaozhi – Hohe Bemerkungen über Wälder und Ströme –, findet sich eine Beschreibung, die als Schlüssel zu diesem Gemälde dienen könnte. Der große Berg, heißt es dort, herrscht über die um ihn versammelten Hügel wie ein auf seinem Thron sitzender König. Die Stellung der einzelnen Untergebenen ist aufs Genaueste nach Rang und Bedeutung abgestimmt. Dies wird durch das Arrangement der einzelnen Gebirgskämme, Erhöhungen, Wälder und Täler und deren Distanz zum Zentrum zum Ausdruck gebracht. Diese hierarchische Anordnung wiederholt sich in der Positionierung der einzelnen Bäume, die durch eine hoch erhobene Kiefer überragt werden. Die damit vermittelte Atmosphäre betont das Harmonische, Ruhige, die Pracht und Herrlichkeit des Prinzen, der seine ihn verehrenden Untergebenen jedoch ohne Arroganz und Anmaßung beherrscht. »Die Anordnung der Naturgegenstände und -erscheinungen entspricht den Herrschaftsverhältnissen des Staates, die durch hierarchische Beziehungen zwischen Souveränen und Untertanen, Adel und Volk die kosmische Ordnung widerspiegeln sollten. Die winzigen Figuren Mitte links und im unteren Bildfeld […] verfolgen jeweils ihre Ziele […], friedlich und ohne zu stören, und doch immer unter dem Schutz des mächtigen, aber nichtsdestoweniger gütigen großen Bergs bzw. Herrschers. Was geschildert wird, sind also eine dynamische, harmonische Gesellschaft und eine ideale politische Hierarchie. An der Bildkomposition ist abzulesen, dass die Natur in der Wärme des Frühlings aufFluss. Medienlandschaften, hg. von L. Engell, J. Vogl und B. Siegert, Weimar 2007, S. 63-5. 10 | Vgl. dazu die Abbildung in ebd., S. 66.
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blüht, genauso wie der politische Körper unter der mildtätigen, wohlgeordneten Herrschaft des Kaisers gedeiht.«11
Werden innerhalb der europäischen Tradition nationaler Landschaften bestimmte Organe mit bestimmten Landschaften verbunden – die Alpen als Wirbelsäule, der Gotthard als Herzstück, die Flüsse als Adern –, welche in der Regel die tragende verbindende zentralisierende Funktion der jeweiligen Landschaft betonen, so geht es im hier diskutierten chinesischen Beispiel darum, die dargestellte Landschaft als Ganzes mit dem Körper des Kaisers (wie der body politic und der Körper des Königs im europäischen Bereich in vormodernen Zeiten) und dem Territorium des Staates gleichzusetzen. Dabei werden die einzelnen Landschaftsteile im Gegensatz zum europäischen Diskurs, der sich in der Regel der landschaftlichen Metapher bedient, um die Gleichheit der verschiedenen sozialen Klassen zu betonen, mit einer bestimmten sozialen Funktion verbunden. Der Vorteil der nationalen Landschaftsmetaphern des 19. und 20. Jahrhunderts gegenüber der früheren Metapher des Staatskörpers liegt unter anderem in diesem ausgleichenden harmonisierenden Prinzip der Vermittlung und Angleichung, das man bei der Metapher des Staatskörpers in dieser Form vergeblich suchen würde. Die Metapher des Staatsorganismus legitimiert zwar die Rolle der einzelnen sozialen Gruppen in Bezug auf das Ganze, blendet diese Unterschiede aber nicht aus. Ganz im Gegenteil: Wie im hier diskutierten chinesischen Beispiel wird die hierarchische Differenz der einzelnen Teile Voraussetzung der allgemeinen Interdependenz und Zusammenarbeit. Bei den nationalen Landschaftsmetaphern hingegen geht es gerade darum, diese Unterschiede aufzuheben und auszublenden. Die massiven sozialen Konflikte und zunehmenden kulturellen innerstaatlichen Spannungen in den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts, die diese Gebilde von innen her zu zersetzen drohen, verschwinden hinter dem ideellen Bild nationaler Zusammengehörigkeit, so wie es die Schweizer Alpen, der deutsche Wald und die Flusslandschaft Österreich-Ungarns entwerfen. Die Vorherrschaft eines Teiles, z.B. des deutschen Elements in der Donaumonarchie, wird dabei zwar nicht vollständig unterschlagen, aber auch nicht besonders herausgestrichen. In den patchworkartigen landschaftlichen Listen der Donaumonarchie ist die privilegierte Rolle nur noch implizit auszumachen. Besonders interessant im chinesischen Beispiel ist die Vermischung von landschaftlichen und menschlichen Elementen, die in der europäischen Tradition metaphorischer Nationallandschaften ebenfalls fehlt. In der Regel haben arbeitende Menschen innerhalb nationaler Landschaften keinen Platz, würden sie doch gerade dadurch jenes Element der sozialen – und kulturellen – Diffe11 | Ebd., S. 65-6.
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renz wieder einführen, welches in diesen Metaphern zum Verschwinden gebracht werden soll.
Z UR P OLITISIERUNG UND Ä STHE TISIERUNG VON L ANDSCHAF T ›Landschaft‹ ist im europäischen Raum zuerst einmal ein politisch-territoriales Konzept, das erst in einem zweiten Moment durch eine ästhetische Bedeutung ergänzt wurde. Dies lässt sich anhand der gemeinsamen europäischen Geschichte des Begriffs darlegen.12 Das englische landscape, vom dänischen landschap, scenery (1598) geht auf landskip, landscaef (5. Jh.), ›begrenzte, von Menschen hergestellte Zone (Felder, Talschaften, Hügelketten), abgeschlossenes Gebiet eines Stammes‹ oder ›unter der Herrschaft eines Herrschers‹ zurück, das französische paysage auf das lateinische pagus, ›kleines begrenztes Gebiet‹. Ab 1549 ist die Bedeutung ›bildhafte Repräsentation‹ belegt. Das italienische paesaggio (16. Jh.) wiederum ist ein Neologismus, zusammengesetzt aus paese (13. Jh.), ›Land, Territorium, Heimat‹ und dem französischen paysage. Ab Ende des 15. Jahrhunderts ist für paesaggio auch die Bedeutung ›Gemälde, Darstellung‹ belegt. Das deutsche Landschaft, im Sinne eines geographisch zusammenhängenden Gebiets mit einem bestimmten Charakter oder im Sinne von Einwohnerschaft eines Landes, geht auf lantscaf (8. Jh.), lantscaft (10. Jh.), mhd. lantschaft zurück. Die zweite Bedeutung ›bildhafte Darstellung‹ ist ebenfalls für den Anfang des 16. Jahrhunderts belegt. Der Begriff landscape, paysage, paesaggio, Landschaft hat demnach eine doppelte Bedeutung: ›begrenzter Ausschnitt, administratives Gebiet, Territorium‹ und ›bildhafte Darstellung, ästhetisches Ganzes, Szenerie, Panorama‹, wobei die zweite ästhetische Bedeutung innerhalb der bildenden Kunst entstand. Die neue ästhetische Bedeutung kommt in der frühen Neuzeit hinzu (15. bis 16. Jahrhundert). In der beginnenden Moderne (18. bis 19. Jahrhundert) wird der Begriff erneut politisch gedeutet, wobei die ästhetische Bedeutung der politischen untergeordnet wird. Der zweifache politisch-ästhetische Begriff der Nationallandschaft repolitisiert somit ein ästhetisches Konzept, das ursprünglich politisch konnotiert war. In allen drei Fällen ist die Vorstellung des Ausschnitthaften wesentlich, auf die ich im Zusammenhang mit Georg Simmels phänomenologischer Deutung von Landschaft in diesem Kapitel noch eingehen werde. Wie der kurze etymologische Vergleich verdeutlicht hat, wurde die ursprünglich politische Bedeutung des Begriffs ›Landschaft‹ zu Beginn des 16. Jahrhunderts im europäischen Raum von einer ästhetischen Sicht überlagert. 12 | Vgl. dazu auch G. Hard, Das Wort Landschaft und sein semantischer Hof, in: Wirkendes Wort, Deutsche Sprache in Forschung und Lehre, 19. Jg. 1969, S. 5-14.
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Dies hat weitgehend mit der Geschichte der europäischen Landschaftsmalerei zu tun. Die dadurch geschaffene bildhaft-ästhetische Vorstellung von Landschaft wurde dann ab 1800 von einem nationalistisch argumentierenden politischen Diskurs übernommen, der die Ästhetisierung und Romantisierung des Landschaftserlebnisses im Kontext zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung einsetzte. Die ursprüngliche politische Bedeutung des Begriffs ›Landschaft‹ ging bei dieser zweiten politischen Deutung, die auf einem rein ästhetischen Konzept auf baute, weitgehend verloren. Auch in den klassischen Landschaftstheorien wird Landschaft als durch den Blick konstituierter Ausschnitt definiert, d.h. auf ein ästhetisches Phänomen reduziert. Die Liebe für die bedrohte und schwindende heimatliche Natur, im Zeichen zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in alltägliche Praktiken umgesetzt wurde – z.B. die zahlreichen nationalen Alpenclubgründungen im späten 19. Jahrhundert –, wurde mit nationalem Pathos verbunden. Der Kampf um die Erhaltung einer national definierten, ökologisch wertvollen und einmalig schützenswerten Natur – und dies zu einem Zeitpunkt fortschreitender Reglementierung, Nutzung, Zersetzung und Verwüstung der natürlichen Umgebung – vermengte politische und ästhetische Momente. Letztere sind zudem nicht nur Teil eines kollektiven Diskurses, sondern vor allem auch das Ergebnis individueller Erfahrungen und Praktiken: Spaziergänge, Ausflüge usw. In der Argumentation selbst wird sowohl der politische Ursprung des Begriffs ›Landschaft‹ wie auch der (Miss)brauch des ästhetischen Moments durch nationale Interessen unterschlagen. Die Liebe zur Landschaft, in der man aufgewachsen ist, dient als Basis für ein übergreifendes nationales Gefühl. In der uns vor Augen stehenden Landschaft, die wir auch durch Erziehungsprozesse – Schule, Lektüre und vieles mehr – zu lieben und schätzen gelernt haben, erkennen wir uns eher als in der abstrakten Vorstellung einer Nation. Nirgendwo anders wird Individualität und kollektive Zugehörigkeit deutlicher sichtbar. Wie im Falle der Metapher des Staatskörpers benützen nationale Diskurse Landschaftsbilder, um die historische Konstruiertheit und Künstlichkeit sowie die widersprüchliche soziale Komplexität von Gesellschaften aufzuheben, indem sie diese naturalisierend auf eine ewige ursprüngliche, in sich harmonisch ausgewogene Landschaft projizieren. Landschaften sind in sich stimmig und schön, sie fordern ein Gefühl der Erhabenheit heraus, so etwas wie nationalen Stolz, und definieren ein semantisches Feld, das auf der Vorstellung einer außergewöhnlichen nationalen Gemeinschaft basiert, der eine klar umschriebene einmalige Landschaft zugeordnet ist, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen. Der eigentliche diskursive Schwachpunkt dieser politischen Metapher liegt nicht so sehr in der Instabilität des Arrangements, der Verletzbarkeit des inneren Friedens und dem Zeitfaktor, wie dies bei der Körpermetapher der Fall ist,
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sondern in der Auswahl und Abgrenzung der jeweiligen Landschaft. Wie im Falle der Metapher des Staatskörpers wird durch Metaphorisierung die letztlich abstrakte und daher schwer fassbare Einheit des Gemeinwesens oder eben des Staates sinnlich vorstellbar gemacht. In beiden Fällen geht es um die Vorstellung einer in sich stimmigen, organischen Einheit. Die Idee des langsam Gewachsenen und daher Natürlichen spielt gerade im Falle nationaler Gebilde eine noch größere Bedeutung als beim Staatskörper. Obwohl die einzelnen Nationen versuchen, sich durch ganz spezifische Landschaften voneinander abzusetzen und damit ihre Individualität und Einmaligkeit hervorzuheben, greifen sie auf ähnliche Motive zurück, neben Ursprünglichkeit und Natürlichkeit auch Kontinuität und Beharrlichkeit. Geschichte wird in Geographie übersetzt, Zeit in Raum. Die nationale Landschaft stellt zugleich den Ursprungsort dar und garantiert durch ihr stetes Vorhandensein für eine Dauer, die das Historische in seiner bloßen Kontingenz überwindet. Natur wird als stabil und unveränderlich, als unverrückbar wahrgenommen. Ein wesentlicher Aspekt ist das Verhältnis von Teil und Ganzem, steht es doch zugleich für das Verhältnis von Individuum und Kollektivität und das Verhältnis einzelner Regionen zum Ganzen. In den im Laufe dieser Arbeit angeführten Beispielen kann man unterschiedliche Varianten feststellen: Innerhalb der Schweizer Tradition wird kulturelle und sprachliche Pluralität vor allem anhand der integrativen Metapher der vier dem Gotthard entspringenden Flüsse ausgedrückt. Die Metapher des Alpenwalls hingegen verbindet Individualität und Pluralität im Bild eines Gebirges, das aus vielen einzelnen Gipfeln besteht. Im Bild des deutschen Waldes entsteht Einheit durch Wiederholung: Aus einzelnen Bäumen wird ein Wald. In beiden Fällen wird Einheit als Kumulation verstanden: Berge geraten zu Gebirgen und Bäume bilden einen Wald. Im Falle des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreichs hingegen entsteht eine übergeordnete Einheit nicht durch Wiederholung, sondern durch Versammlung unterschiedlichster einzelner Landschaftstypologien.
D IE L ANDSCHAF T ALS A USSCHNIT T In seinem Essay Philosophie der Landschaft liefert Georg Simmel eine phänomenologische Interpretation zur Entstehung von landschaftlichen Gebilden, die für die Vorstellung nationaler Landschaften von besonderem Interesse ist, nicht nur weil sie deren Ausschnittcharakter in den Vordergrund rückt, sondern auch auf Momente hinweist, die in nationalen Landschaftsdiskursen aus ideologischen Gründen vorsichtig vermieden werden. Zugleich liefert er eine mögliche Interpretation für die politische Wirkung nationaler Landschaften. Landschaften sind Ausschnitte aus einem größeren Zusammenhang. Sie sind das Ergebnis eines geistigen Prozesses. Landschaften – und dieses Mo-
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ment ist besonders wichtig in Hinblick auf eine Verbindung von nationalen Landschaften zu organizistischen Visionen des Staates – sind, so Simmel, nicht mechanisch zusammengesetzt, sondern, möchte man hinzufügen, organisch gewachsen. Nationale Landschaften geben vor, organisch gewachsen zu sein und ein ursprüngliches, ja zeitloses, in sich stimmiges Ganzes darzustellen. Landschaften sind aber per se das Ergebnis eines Paradoxes: »›Ein Stück Natur‹«, so weiter Simmel, »ist eigentlich ein innerer Widerspruch; die Natur hat keine Stücke, sie ist die Einheit eines Ganzen, und in dem Augenblick, wo irgend etwas aus ihr herausgestückt wird, ist es nicht mehr ganz und gar Natur […]. Für die Landschaft ist aber gerade die Abgrenzung […] durchaus wesentlich. […] Ein Stück Boden mit, was darauf ist, als Landschaft ansehen, heißt einen Ausschnitt aus der Natur nun seinerseits als Einheit betrachten – was sich dem Begriff der Natur ganz entfremdet. […] Die Natur, die in ihrem tiefen Sein und Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ›Landschaft‹ umgebaut.«13
Diesen konstitutiven Prozess machen sich die nationalen Landschaftsdiskurse zunutze. Dies heißt aber auch, dass dieser zweite spätere Vorgang einer politischen Deutung des Begriffes ›Landschaft‹ im Gegensatz zum früheren auf der ästhetischen Vision auf baut. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von einem Gesetz der Auswahl und Zusammensetzung. Dabei wird »aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück« herausgegrenzt, als Einheit gefasst und geformt. Damit Landschaften als abgeschlossene Einheiten entstehen können, müssen sie zuerst dem Ganzen entrissen werden. Alles, was über ihre frühere Verbindung zu einem größeren Ganzen verweist, muss verborgen werden. Simmel benützt dafür eine treffende Metapher. Landschaften sind wie gewobene Teppiche: »die weltverbindenden Fäden [werden] abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft.«14 Dadurch entsteht ein Eindruck von Individualität, Abgeschlossenheit und innerer Stimmigkeit, der das Ergebnis eines nachträglichen formativen Prozesses ist. Dieses grundlegende Problem bei der Konstitution von nationalen Landschaften besteht bei der Metapher des Staatskörpers weniger, ist dort ja nicht nur der Körper als Gesamtheit schon vorgegeben, sondern im ideellen Sinne auch effektiv organisch herangewachsen. Vielleicht stößt man gerade deswegen bei nationalen Landschaftsmetaphern auf die beiden parallelen Strategien der Verkörperlichung – Landschaften als Körperteile – und der Personifizierung von nationalen Einheiten. 13 | Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 471ff. 14 | Ebd., S. 474.
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Landschaften haben ein doppeltes Gesicht. Sie grenzen sich nach außen ab und konstituieren sich nach innen als zusammenhängende in sich stimmige Gebilde. Sie müssen sich vom Rest der Welt unterscheiden und von anderen Landschaften, besonders wenn es um nationale Landschaften geht, die ja definitionsgemäß eine einmalige Ausformung besitzen sollen, die sie von allen anderen unterscheidet. Nationale Landschaften müssen so individuell und originell wie Nationalsprachen und Nationalkulturen sein. Allen drei ist eine abgegrenzte räumliche Dimension gemein. Landschaften müssen zudem nach innen hin durch eine Reihe von Bezügen zwischen den einzelnen Teilen zusammengehalten werden. »Wo wir wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi.« Mit jedem Anschauen wird »die künstlerische Form, wie embryonal auch immer, in uns lebend, wirksam«.15 Dabei wird ein »Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Art von Einheit zusammengefaßt«,16 deren Träger eine einheitliche Stimmung ist, die die Landschaft in all ihren einzelnen Elementen durchdringt. Für Simmel sind die Stimmung einer Landschaft und deren anschauliche Einheit eins und dasselbe. Bei nationalen Landschaften ist diese zweite, nach innen gerichtete, versammelnde und vereinheitlichende Funktion von besonderer Bedeutung, wird damit doch auch eine Beschreibung des Verhältnisses des individuellen Bürgers zu seiner Nation, der einzelnen geographischen Region und ethnischen Gruppierung zum Gesamten mitformuliert. Die durch eine gewisse Landschaft gegebene Stimmung reduziert die Komplexität der einzelnen Teile auf ein einziges Moment. Sie ist die Grundlage des Gefühls der nationalen Zugehörigkeit, welches persönliche Erfahrung und kollektiven Diskurs anhand ästhetischer Momente zusammenschweißt. Um es mit Benedict Anderson zu sagen: Nationen sind ›vorgestellte‹ politische Gemeinschaften, die ›begrenzt‹ sind und souverän über ihre Territorialität verfügen. Ich möchte nun zum zweiten Teil des Kapitels übergehen, der sich mit der Frage nach einem möglichen Ursprung der Landschaftsmetapher in der Körpermetapher beschäftigt. Eine erste Brücke zwischen der Körper- und Landschaftsmetapher stellen die weiblichen nationalen Allegorien dar.
D ER WEIBLICHE K ÖRPER DER N ATION Marcus Gheeraerts’ Ditchley-Porträt Elisabeths I. aus dem Jahr 1592 ist eines der ganz wenigen Beispiele aus der vorbürgerlichen Epoche, in denen eine Frau, die zugleich Königin ist, als Symbol einer ganzen Nation auftritt. Die 15 | Ebd., S. 477. 16 | Ebd., S. 478.
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Figur Elisabeths I. steht direkt auf einer Karte von England. Dadurch wird ihr physischer, der zugleich ein politischer Körper ist, mit dem Territorium Englands verbunden. Die drei Momente sind auf metonymische und metaphorische Art und Weise miteinander verknüpft. Elisabeths Körper verbindet zudem die Erde mit dem Himmel und ist auf verschiedenen Ebenen ein Symbol der Versöhnung und Integration. Sie steht mit beiden Füßen auf dem Boden Englands, im eigentlichen Herzen des Landes, in der Nähe von Ditchley, County Oxfordshire, aber ihr Blick schweift in die Ferne, aus der Segelschiffe mit geblähten Segeln die kolonialen Schätze ins Mutterland tragen. Der kosmische Tanz der einzelnen Elemente und Landschaften ist wohlgeordnet und spiegelt sich im Körper der Königin wider: Das Land und das umgebende Meer, das Meer und die ihm zufließenden Ströme, die Erde und die Winde, selbst das Sonnenlicht, werden mit Luft, Erde und Wasser vereint: »The inverted triangle or V-design of the stomacher […] heralds her virginity. Surrounding the strand of pearls […] are three other strands, unknotted and elliptical, but positioned concentrically to resemble three rings of the celestial sphere in the so-called cosmic or mystic dance. In the painting the chorographic map of England is situated at the top of the convex interior of the geocosm, its contours descending into the sides of the painting. […] Elizabeth oversees the intercourse between sea and land, on the one hand, and sea and rivers on the other. Furthermore the puffed sails of vessels manifest the action of the winds on the sea; on land the breezes promote growth and fertility. […] she traverses the distance between naturality and divinity.«17
Die Flüsse, die das Meer und das Land miteinander vereinen, sind zugleich eine Metapher der Hydrologie des body politic und des Zirkulationssystems des königlichen Körpers. Solche umfassenden Korrespondenzsysteme zwischen Makro- und Mikrokosmos, Mensch, Natur und Staat gehören in einen frühneuzeitlichen, vormodernen Zusammenhang. Die politische Körpermetapher überlebt im veränderten Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts nur noch als Bruchstück, das erklärend und stützend bei landschaftlichen Beschreibungen eingesetzt werden kann. Bei den allegorischen Figuren der Helvetia und der Austria, auf die ich nun näher eingehen möchte, lassen sich zwei der schon behandelten Aspekte wiederfinden: zum einen den metonymischen Aspekt von Körper und Landschaft, zum anderen die Ausformung unterschiedlicher individueller Körper als Teile der Nation.
17 | A.C. Labriola, Painting and Poetry of the Cult of Elizabeth I: The Ditchley Portrait and Donne’s ›Elegy: Going to Bed‹, in: Studies in Philology, vol. 93, n° 4, Winter 1996, S. 46ff.
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Die personifizierte Darstellung der Helvetia, die sich erst spät herausbildete, erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt verstärkter diskursiver Beschäftigung mit der Schweiz als Nation, einen ersten Höhepunkt. Meist wurde sie stehend oder sitzend vor im Hintergrund abgebildeten Bergen dargestellt.18 Die vor Bergen sitzende Helvetia diente ebenfalls als Motiv der ersten Einheitsmünze aus dem Jahr 1850.19 Das Vreneli, das 20-Franken-Stück von 1887, zeigt den Kopf einer jugendlichen, fast kindlichen Helvetia vor einer angedeuteten Gebirgskette im Hintergrund. In einem ersten Entwurf sind die langen, vom Wind zerzausten Haare locker nach hinten gekämmt. Die zweite Variante hat dann den wilden Haarschopf wieder unter Kontrolle: Die Haare sind nun gebührlich geflochten.20 In einer Werbung aus dem späten 19. Jahrhundert auf dem Deckel eines Seifenkistchens sitzt eine weiß-rot gekleidete Helvetia mit Schild und Schwert vor der Berglandschaft des Vierwaldstättersees. Im Hintergrund kann man die Alpen und die Tell-Kapelle ausmachen.21 Manchmal findet man die Figur ebenfalls in erhobener Position, auf einem Felsen stehend.22 In einem besonders interessanten Beispiel aus dem Jahr 191423 steht die mit Schwert und Schild bewaffnete weibliche Figur vor einer Bergkette, um ihre Füße dichtes Gebüsch und als erweiterter Blätterkranz um ihr blondes Haar, das noch zusätzlich durch einen Lorbeerkranz eingerahmt ist –, eine den ganzen oberen Rand des Bildes abdeckende Baumkrone. Dadurch wird die Helvetia zusätzlich als Lebensbaum gedacht. Ihr aufrecht stehender Körper, der schon metonymisch und metaphorisch mit dem felsigen schützenden Alpenwall verknüpft ist, verwandelt sich dadurch in einen Baumstamm: Stein und Holz, Tradition, Standhaftigkeit und Lebenskraft werden hier im allegorischen Körper der Helvetia zusammengedacht. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen Kriegsgefahr wird die Helvetia erneut als positive Figur eingesetzt. Zur Feier der Eidgenossenschaft publizierte der Nebelspalter am 2. Dezember 1938 das Bild einer jungen Frau vor hohen Bergkämmen. Ihr leicht abgewendeter Blick richtet sich in die Höhe und Ferne. In ihrem schulterlangen lockigen Haar trägt sie vier Edelweiß.24 Im Laufe des 20. Jahrhunderts und besonders ab den 1960er Jahren setzten sich zusehends abstrakte Darstellungsformen durch.
18 | Vgl. dazu G. Kreis, Helvetia – Im Wandel der Zeiten. Die Geschichte einer nationalen Repräsentationsfigur, Zürich 1991, S. 56 und 80. 19 | Vgl. ebd., Abb. 89. 20 | Vgl. ebd., Abb. 97a/b. 21 | Vgl. ebd., Abb. 10. 22 | Vgl. ebd., Abb. 45 und 46. 23 | Vgl. ebd., Abb. 5. 24 | Vgl. ebd., Abb. 51.
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Ein weiteres Beispiel dieser metonymischen Beziehung zwischen der weiblichen Figur der Helvetia und den Schweizer Alpen findet sich auf einer Postkarte (Abb. 20) aus dem Jahr 1930 zur Schweizer Bundesfeier. Auf der Briefmarke ist eine großgewachsene Frau abgebildet, die aus einem Gefäß Wasser vor sich auf die Erde schüttet. Die Bezeichnung mater fluviorum weist auf die Identität zwischen der weiblichen Figur und dem Gotthardmassiv als Wasserschloss hin, dem vier unterschiedliche Flüsse entspringen. Ein paar weitere Bilddetails heben die stille Kraft dieser Figur und der durch sie verkörperten Landschaft hervor: die robuste mütterlich-fruchtbare und zugleich jungfräulich-verhalten wirkende weibliche Figur, deren Haare – wie in der zweiten Variante des Vrenelis – im traditionellen bäuerlichen Stil seitlich geflochten sind, trägt ein weißes schlichtes knöchellanges Kleid; sie ist barfuß und ihr Oberkörper ist leicht vornübergebeugt, der Blick ganz auf die Tätigkeit des Gießens konzentriert. Abbildung 20: Mater fluviorum
Thomas Maissen hat sich mit Frühformen der personifizierten Helvetia beschäftigt und dabei die schon zu Beginn erwähnte Libertas Helvetiae auf diesen besonderen Aspekt hin untersucht. Auf der Solothurner Tafel ist eine weibliche Figur auf einer Säule abgebildet. Diese ist, so Maissen, nicht bloß eine Allegorie der Freiheit, »sondern deren politische Inkarnation und damit gleichsam die Verkörperung des durch Wall und Alpen umrahmten Territoriums selbst: Helvetia.«25 Als Grund führt Maissen die langjährigen Kriegszüge von Louis XIV. an, durch die sich die Eidgenossenschaft zum ersten Mal als souveränes Völkerrechtssubjekt erfahren konnte. »Diese Erfahrung ruft nach einer 25 | Maissen, Von wackeren alten Eidgenossen, S. 279-280.
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künstlerischen Form, welche die politische Einheit ausdrückt, die in den Staaten des Auslands real viel stärker greif bar ist und daher in den traditionellen Repräsentationen der Eidgenossenschaft nur ungenügend ausgebildet ist.«26 In der Schweiz werden zuerst die einzelnen Kantone durch eine weibliche Allegorie personifiziert, da auf dieser Ebene politische Einheit deutlich früher wahrgenommen wird. Ein frühes Beispiel einer weiblichen Personifikation des Schweizerlandes stellt ein Ölgemälde aus den Jahren 1665-1668 dar, auf dem eine weibliche, von männlichen Staaten umgebene Figur repräsentiert ist. Nimmt man Maissens Deutungsvorschlag auf und stellt ihn in die hier rekonstruierte ikonographische Tradition, ergeben sich interessante Analogien, auch zu dem von Selma Krasa-Florian angeführten Beispiel der Austria, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme. Die Helvetia-Figur steht auf einer Säule, unter der sich die verschiedenen Vertreter der einzelnen eidgenössischen Orte versammeln. Im Gegensatz zur Austria sind die einzelnen Vertreter nicht voneinander zu unterscheiden, da es in diesem Gemälde nicht so sehr darum ging, die unterschiedliche Ausformung der Teile, sondern deren grundsätzliche Einheit darzustellen. Zu Füßen der weiblichen Figur auf der Säule, die auch eine Allegorie der Freiheit ist, liegen die zerbrochenen Ketten als Zeichen einer neuerlangten Unabhängigkeit. Darüber hinaus, und damit bin ich beim zweiten hier relevanten Motiv, steht die jungfräuliche Figur direkt vor der höchsten zentralen Bergspitze, auf einer vertikalen Achse, die den am weitesten vorgeschobenen Festungswall mit dem höchsten Berggipfel verbindet. Die weibliche Figur ist somit metonymisch und metaphorisch mit den Bergen verbunden und verkörpert zugleich die Einheit der einzelnen Teile. Mehr noch: Sie bildet eine integrierende Brücke zwischen den anderen zwei Bereichen, der bergigen Landschaft einerseits und den einzelnen Kantonen andererseits. Die verschiedenen eidgenössischen Orte, die man auf die einzelnen bergigen Gipfel im Hintergrund beziehen könnte, finden in der mittleren weiblichen Figur zu einer metaphorischen Einheit.27
26 | Ebd., S. 280. Es gab zur damaligen Zeit schon verschiedene ikonographische Beispiele von personifizierten Staaten im Ausland: Francia – ein Engel umringt von den Bannträgern der eidgenössischen Orte aus dem Jahr 1626; die Niederlande, eine 1644 entstandene Jungfrau, der Frederik Hendrik von Oranien einen Triumphkranz überreicht. 27 | Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Schweiz als Corpus Helveticum bezeichnet. Gemeint war damit die Gesamtheit der 13 Orte und ihrer Zugewandten. Der Ausdruck wurde in der diplomatischen Korrespondenz der französischen Botschafter in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts verwendet. Mit der Helvetischen Republik 1798 verschwand der Ausdruck (vgl. dazu W. Oechsli, Die Benennungen der alten Eidgenossenschaft und ihrer Glieder, in: Jahrbuch für Schweizer Geschichte 41, 1916, S. 51-230; 42, 1917, S. 87-258, v.a. S. 168-177).
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In Selma Krasa-Florians Untersuchung zur Bedeutung der weiblichen Allegorie der Austria als Verkörperung des multikulturellen Einheitsstaates Österreich findet sich eine in diesem Zusammenhang relevante Bemerkung zu einer im November 1849 entstandenen Lithographie von Franz Kollarz, die auf eine Zeichnung Joseph Adalbert Hellichs zurückgeht. Auf diesem Bild, das den Titel »Treue und Eintracht der österreichischen Völker, VIRIBUS UNITIS« trägt, findet sich eine erhöht stehende Austria-Figur mit Mauerkrone, Wappenschild und Doppeladler neben einer geschmückten Kaiserbüste. »Im Vordergrund«, schreibt dazu Krasa-Florian, »sind die Vertreter der einzelnen Volksstämme der Monarchie ohne Bevorzugung nebeneinander aufgereiht. Sie jubeln der Austria zu und reichen einander als Zeichen des freundlichen Miteinanderlebens die Hände. Wappen an der unteren Randleiste geben den Hinweis auf die jeweilige Volkszugehörigkeit. Von links nach rechts stehen der Schlesier, Krainer, Kärntner, Salzburger, Serbe, Lodomerer, Slawonier, Kroate, Ungar, Böhme, Lombarde und Venezianer, Dalmatiner, Galizier, Österreicher, Steirer, Tiroler, Mährer, Siebenbürger.« 28
Die insgesamt 18 Völker sind in Zweier- und Dreiergruppen angeordnet. Nur zwei davon geben sich effektiv die Hände, die anderen scheinen bloß miteinander zu reden. Alle tragen Trachten, was die Erkennung ihrer kulturellen Zugehörigkeit zwar erleichtert, aber auch ihren exotischen Charakter hervorhebt, trägt doch gerade der Österreicher als einziger normale Alltagskleidung. Die unterschiedlichen männlichen Körper stehen für die verschiedenen Glieder Österreichs, wobei dem Österreicher dabei eine besondere Rolle zuzukommen scheint. Die weibliche Austria vereint in ihrer abstrakt gehaltenen Körperlichkeit die Gesamtheit der österreichischen Nation. Das landschaftliche Konzept, dem wir in einem früheren Kapitel begegnet sind, findet hier eine Entsprechung in einer Körpermetapher. Der Austria kommt dabei die Rolle der Donau zu. Das hierarchische Moment der Liste, welches eine deutliche Unterordnung der Teile unter das Ganze vorsieht, wird in der Lithographie nicht nur durch die höhere zentrale Stellung der Austria ausgedrückt, sondern auch in der Privilegierung des Österreichers. »Aus der Stellung des Österreichers in der Bildmitte unter der Kaiserbüste und seiner Kleidung – er trägt als Einziger städtisch-bürgerliche Tracht – ist ersichtlich, dass auf diesem Blatt der Vorrang des deutschen Teils der Monarchie gegenüber den anderen Kronländern betont wird. Das liberale Bürgertum der deutschen Erblande war überzeugt, dass die deutsche Nation in Österreich den anderen wegen ihres Wohlstands- und 28 | S. Krasa-Florian, Die Allegorie der Austria. Die Entstehung des Gesamtstaatsgedankens in der österreichisch-ungarischen Monarchie und die bildende Kunst, Wien, Köln, Weimar 2007, S. 82-3.
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Bildungsvorsprungs vorangehen müsse.«29 Der Österreicher trägt eigentlich keine Tracht, sondern einen Anzug samt Zylinder, was ihn eindeutig als Vertreter seiner Zeit auszeichnet. Die anderen trachttragenden Vertreter rücken dadurch in die Nähe einer vormodernen traditionelleren Vorstellung von Kultur. Der Führungsanspruch des deutschsprachigen Teils wird dadurch zusätzlich legitimiert.
A MPUTATIONEN DES NATIONALEN K ÖRPERS Ein zweites Bindeglied zwischen der Körper- und der Landschaftsmetapher stellen Abbildungen von einzelnen kleineren politischen Gebilden, von Nationen oder Kontinenten in Form von Tieren oder menschlichen Gestalten dar. Im späten 17. Jahrhundert entstanden Karten, in denen einzelne Schweizer Kantone in Form von Tieren abgebildet wurden. So wurde beispielsweise der Kanton Zürich in Form eines Löwenkopfes dargestellt. Die Stadt Zürich liegt im Mundwinkel, von dem aus der Zürcher See in Form einer Zunge hervorschnellt. Weitere Beispiele sind verschiedene Darstellungen Europas als liegende gekrönte Jungfrau oder humoristische Karten Europas aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die die einzelnen Länder als karikaturistisch verzerrte ineinander verkeilte, liegende oder stehende Figuren zeigen. Diese metaphorischen Gleichsetzungen von Körper und Territorium kommen auch bei der Vorstellung von Verletzungen und Amputationen der territorialen Integrität zum Zug. Schon bei Celtis ist der Körper der deutschen Nation ein zweigeteilter, zertrennter und amputierter. Wie schon aufgezeigt, kommt dieser Vorstellung der Versehrtheit eines organisch wahrgenommenen, zu schützenden Ganzen in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten eine wichtige Rolle zu: bei der kollektiven Vision des verletzten deutschen Waldes zur Zeit des Ersten Weltkrieges und im Zusammenhang mit dem Waldsterben der 1980er Jahre30 sowie im Schweizer Abstimmungskampf um die Kontingentierung der Einwanderer.31 Diese Vorstellung spielte in Deutschland besonders nach dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle. Klaus Theweleit hat darauf hingewiesen, dass kollektive und individuelle Verletzungen, wie dies schon bei Baum und Wald der Fall gewesen war, einander gleichgestellt wurden. Der verstümmelte Körper des Soldaten wurde mit dem mehrfach amputierten Leib der deutschen Nation in eins gesehen.
29 | Ebd., S. 83. 30 | S.o. Herz der Finsternis. 31 | S.o. Luftwurzeln.
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»Die Übereinstimmung des einzelnen Körpers mit dem Körper Deutschlands in der völkischen Propaganda war jedenfalls total. Es gibt kaum einen Text zur Lage ›Deutschlands‹ aus dieser Zeit […], der nicht das im Krieg besiegte Deutschland als zerstückelten Körper dargestellt hätte. Oberschlesien war abgetrennt worden … Nordschleswig … die Saar: Glieder des Großdeutschen Leibs in Amputationen. Der ›Korridor‹ … ein Schnitt durchs deutsche Fleisch mit polnischem Messer … schmerzhafteste Verletzung… das Baltikum: ein Stück aus der Schulter gerissen dem deutschen Riesen … an den Hüften herumspielende Belgier … Franzosen zerreißen die Lenden […] die Schlächtermeister der Entente waren mit dem Hackmesser gekommen … schwarze Besatzer an Rhein und Mosel, angefüllt mit kannibalistischer Lust […] alle knabbernd und schmatzend am großen weißen deutschen Leib […]. Die Glieder sollten wieder ran, die Körperganzheit wiederhergestellt werden: Das ist die affektive Grundhaltung der völkischen Politik die zwanziger Jahre hindurch. […] Die ›Heim-ins-Reich‹-Bewegungen, alle Abstimmungen in den ›abgetrennten‹ Gebieten, alle Gebietsannexionen vollzogen sich als phantastisches Wieder-heil-Machen des Körpers Deutschland. […] Größer und stärker erstand der Körper, als er vorher gewesen war und weiter und weiter sollte er wachsen in Wiedergutmachung der geschehenen Zerstückelung […] der Wald setzte sich in Bewegung und ging los, immer größer, stärker, unverletzlicher wurde damit auch der einzelne eigene Körper, die ›individuelle‹ großdeutsche soldatische Eiche […].« 32
Auch Heinrich von Srbik verwendet das Bild der Amputation, allerdings in einem weitgehend positiv konnotierten Sinn. Im vierten Band von Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz (1935-1942) formuliert er eine deterministische Geschichtstheorie, ein organisches Existenzgesetz, das den Selbstschutz von Staaten und deren Bewohnern sicherstellt. Territoriale Größe ist eine der Vorbedingungen für das Überleben im Bereich politischer Macht. Deutschland hatte daher keine Wahl, es musste expandieren oder sterben. Diese organische Notwendigkeit spielte ebenfalls eine Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich-Ungarn um 1866. Der Deutsche Bund unter der Führung Österreichs war ein kranker Körper, dessen Leben nur durch eine radikale Amputation gerettet werden konnte: die Entfernung Österreichs als ein krankes Glied aus dem gesamtdeutschen body politic. Dank diesem Eingriff konnte sich das restliche Deutschland wiederbeleben, seine geschwundene Kraft erneuern und festigen.
32 | K. Theweleit, Von Mauer, Schild, Schirm und Spalt, in: Das Land, das Ausland heißt, München 1995, S. 19-20.
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D IE M ASKE DER L ANDSCHAF T In Landscape, Nature and the Body Politic. From Britain’s Renaissance to America’s New World versucht K.R. Olwig die Entstehung der Metapher der Nationallandschaft aus der Metapher des body politic zu erklären. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist das 1605 am englischen Hof aufgeführte Theaterstück The Masque of Blackness, das von Ben Jonson verfasst und von Inigo Jones choreographiert und inszeniert wurde. In diesem Werk vollzieht sich nach Olwig der symbolische Übergang vom body politic zum body geographic. Das Problem bei Olwigs Argumentation ist, dass er das englische Beispiel allzu sehr verallgemeinert und es unterlässt, auf kulturelle und geschichtliche Unterschiede einzugehen. ›Landschaft‹ ist, wie schon aufgezeigt, nicht so sehr ein ästhetischer als ein politischer Begriff. Der Begriff country steht für politische Gemeinschaft (political community), aber auch für die landschaftliche Szenerie (landscape scenery) einer ländlichen Gegend (countryside), die als geographischer Körper wahrgenommen wird und der Begriff land steht für den Ort der englischen polity (Gemeinwesen, politische Ordnung). Damit ist schon eine erste grundlegende Gleichsetzung von body politic und body geographic gegeben. Diese scheinbar in sich abgeschlossene Einheit wird durch die Gleichsetzung einer politischen Gemeinschaft mit den physischen Grenzen eines geographischen Körpers zustande gebracht, was aufgrund der Tatsache, dass England eine Insel war, argumentativ noch zwingender erscheint und vielleicht auch für den frühen Übergang von der einen zur anderen Metapher mitverantwortlich sein könnte. Im Falle Englands entsprechen sich die physischen und politischen Grenzen. Die Gleichstellung der zwei Bereiche, die natürliche Abgeschlossenheit des britischen Territoriums und die analog dazu gedachte politische Einheit, ermöglicht es, mögliche politische und territoriale Konflikte auszublenden. Die territoriale Einheit legt sich über die politische und maskiert mögliche Risse. Olwig hält dazu kritisch fest: »The present day associations between country, body politic, and the landscape scenery cannot be regarded as given.«33 Sie sind das Ergebnis eines langwierigen über Jahrhunderte hin stattfindenden Prozesses. Um zu zeigen, wie diese unterschiedlichen Aspekte im Laufe der Geschichte zusammenfanden, analysiert Olwig das englische Beispiel und interpretiert es in einem zweiten Moment als allgemeines Modell für die anderen europäischen Nationalstaaten und die USA. Der Begriff ›Landschaft‹ wird dazu verwendet, Land als politische Einheit und Ort des politischen Körpers zu definieren. Darüber hinaus dient es dazu, eine spezifische landschaftliche Narration nationaler Identität zu entwickeln. Diese wurde in der Inszenierung 33 | K.R. Olwig, Landscape, Nature and the Body Politic. From Britain’s Renaissance to America’s New World, Madison 2002, S. xxiv.
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des Stückes The Masque of Blackness durch die neue Stuart-Dynastie geleistet. Darin wurde ein neues Britannien entworfen, das durch das Medium perspektivischer Illusion und theatralischer Erfindung ins Leben gerufen wurde. Die auf der Bühne inszenierte Landschaftsszenerie führte die britische Nation als ein Volk mit der landschaftlichen Identität eines spezifischen geographischen Körpers zusammen und erleichterte dadurch die Vergegenwärtigung der Nation als Einheit von physischer Natur und Volk. Eine ähnliche Rolle spielte dieser Prozess im Falle Deutschlands: »Landscape scenery […] was later to play a similar role in helping fuse divergent territories into the modern German nation-state.«34 Die Maske der Landschaft dient zuerst einmal einer Sicht- und Hörbarmachung der abstrakten Macht des Staates. Darin gleicht sie der Metapher des body politic. Es geht zuerst einmal um Veranschaulichung. Diese vereinheitlichte und vereinheitlichende Landschaft maskiert die Realität eines Territoriums, dessen Grundlage eine Reihe sehr unterschiedlicher Gebiete ist, sowohl vom kulturellen, politischen wie landschaftlichen Standpunkt aus gesehen. Dies gilt im besonderen Maße für die Donaumonarchie Österreich-Ungarns und die mehrsprachige Schweiz, die neben der Einheit immer auch die Vielfalt hervorgehoben haben, aber auch für die teilweise beträchtlichen regionalen Unterschiede Deutschlands. Die territoriale Einheit wird durch die Maskierung von Konflikten erreicht. Olwig spricht in diesem Zusammenhang von Duplizität, von visueller Irreführung und Betrug. Dieser Prozess des landscaping wird durch einen parallelen Vorgang des mindscaping ergänzt: Dem irregeführten Auge und dem fehlgeleiteten Geist wird ein künstliches Arrangement als natürliche Gegebenheit vorgeführt. Dies dient als Basis für die Konstruktion von imaginierten nationalstaatlichen Gemeinschaften. »Our environment, conceived as landscape scenery, is fundamentally linked to our political landscape.«35 In seiner ersten Ansprache an das englische Parlament im Jahr 1603 betonte der englische König Jakob I. die Tatsache, dass England eine Insel sei, die von einem einzigen Meer umgeben war. Er bezeichnete sich als Bräutigam der Insel und diese als seine gesetzliche Braut, wobei die Insel den Körper darstellte, dessen Kopf er als König war. Der Körper Englands wird als weibliche Figur gesehen, die mit dem König durch Hochzeit verbunden ist. Auch Francis Bacon bezeichnete England im gleichen Jahr als perfekte Union unterschiedlicher Körper, zugleich politischer wie natürlicher Art, und suggerierte dadurch, dass der geographische und der politische Körper einander entsprachen. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zur Vorstellung, dass der body politic von England die physische Form des body geographic der britischen Insel hatte, was
34 | Ebd., S. xxx. 35 | Ebd., S. xxxii.
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es wiederum möglich machte, dass der body geographic Englands durch einen menschlichen Körper repräsentiert werden konnte. In Michael Draytons 1612 publiziertem topographischem Gedicht Poly-Olbion. Or a Chorographicall Description of Tracts, Rivers, Mountaines, Forests, and other Parts of this Renowned Isle of Great Britaine wird Britannien als vor einer Meereslandschaft sitzende blonde barbusige weibliche Figur dargestellt, die mit einer Karte des britischen Territoriums bekleidet und von vier männlichen Figuren umgeben ist. Im Text wird England als lebendiger Leib beschrieben, ausgestattet mit Organen und Gliedern, die von flussähnlichen Adern und Venen durchzogen ist. In den verschiedenen dem Text beigefügten Landkarten ist fast jeder Fluss und jede Insel zudem noch durch eine nackte weibliche Figur repräsentiert. Dadurch wird eine Vorstellung des Landes als einheitlicher politischer Körper mit einer einmaligen individuellen Geschichte gefördert. Eine weitere Analogie findet sich in The Masque of Blackness. Dort werden die unterschiedlichen Flüsse Englands im Sinne eines zyklischen vitalen Flüssigkeitsstroms gedeutet, der mit dem Blutstrom im Innern des menschlichen Körpers verwandt ist. In seiner Rede, welche auch die Verbindung von Schottland und England zelebriert, bemühte Jakob I. ebenfalls die Metapher des Blutes. Die territoriale Einheit komme durch sein Blut zustande, welches den ganzen Körper von innen her belebe und zur Einheit führe. Es ist nun gerade der symbolische Körper des Königs, der zugleich der Kopf des politischen Körpers ist, welcher den Übergang vom body politic zum body geographic möglich macht. Dieser Vorgang wird von Ben Jonson und Inigo Jones in The Masque of Blackness auf die Bühne gebracht. Das Stück lieferte den Rahmen für eine räumliche Wahrnehmung des body politic und trennte dabei die Rolle des Königs als überwachender Kopf des Staates von seinem physischen Körper als Metapher des politischen Körpers. Der König musste somit nicht mehr als Person an den verschiedenen Manifestationen des Staates teilnehmen, wie dies noch für Elisabeth I. der Fall gewesen war. Dadurch dass sie mit ihrem Hofstaat persönlich von Stadt zu Stadt und von Region zu Region zog, vereinte sie durch ihre körperliche Präsenz das ganze Königreich. Im Falle Jakobs I. wurde die physische Rolle der Person des Monarchen als Verkörperung des Staates vom geographischen Körper des Staates als räumliche Einheit übernommen. In der Theatermaske selbst wurden die Glieder des Staates, die den symbolischen Körper des Königs darstellten, direkt in das Bühnenbild und die theatralische Szenerie eingebaut, d.h. sie wurden zu einem physischen Teil der räumlich inszenierten Landschaftsszenerie. Der König selbst saß auf einem erhöhten, von allen Seiten her sichtbaren Thron, den man zu diesem Zweck auf ein Podest montiert hatte. Er erhob sich dadurch deutlich über den Rest des anwesenden Publikums und fiel durch seine räumliche Sonderstellung aus dem Rahmen der anderen versammelten symbolischen Staatsglieder. Was von seiner körperlichen Präsenz übrigblieb,
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war der Blick als strukturierendes und ordnendes Prinzip. In seiner Person konvergierten die unsichtbaren Linien der Perspektive, die geometrischen Gesetze, die den Raum als Ganzes strukturierten und zusammenhielten. Der König, der als Körper nunmehr auf ein sehendes Auge reduziert war, blieb unbewegt, während sich die verschiedenen landschaftlichen Szenerien durch den uniformen Raum der Bühne bewegten. Die unterschiedlichen Zustände der menschlichen Gesellschaft änderten sich in Entsprechung zu den progressiven Veränderungen der landschaftlichen Szenerie. Die Entkörperlichung des Königs als Kopf des Staates und seine Reduktion auf den kontrollierenden ordnenden Blick eines gottähnlichen Auges wurde durch eine landschaftliche Neuinterpretation des politischen Körpers ergänzt. Die theatralische Inszenierung führte dazu, dass der König nicht mehr als Körper durch die einzelnen Landschaften ziehen musste, sondern dass er nunmehr in der Landschaft gespiegelt wurde, die ihrerseits als Körper wahrgenommen wurde. The Masque of Blackness wurde durch ein zweites Stück ergänzt und erweitert: The Masque of Beauty. Damit war die Vorstellung eines Übergangs von Blackness zu Beauty verbunden, das in Hinblick auf die soziopolitische Dimension von Landschaften besonders aufschlussreich ist. »It provides the means of creating the illusion of an ideal landscape body geographical whose ambience or atmosphere determine the character of the body politic.«36 Die landschaftliche Harmonie wird in eine soziale übersetzt, wobei die spezifische Atmosphäre der jeweiligen Landschaft auf den politischen Körper übertragen wird, was diesen auf spezifische Art und Weise emotional und ästhetisch einfärbt. Dies gilt auch für die erhabenen rauen Gebirge der Schweizer Alpen, die tiefen dichten Wälder Deutschlands und die vielseitigen bunten Landschaften der Kronländer, die durch die Donau zusammengeführt werden. Die Verwandlung der Schwärze in Schönheit suggeriert zudem die Überzeugung, dass eine ideale Gesellschaft durch die Erschaffung eines kongenialen ideellen geographischen Raumes erzeugt werden kann. Übersetzte Inigo Jones um 1605 in The Masque of Blackness den politischen Körper in einen geographischen, so wurde in den folgenden Jahrhunderten die ursprünglich vor allem in einem soziopolitischen Sinne gedeutete Landschaft zusehends selbst dieser Vision angepasst. Ab 1700 lässt sich eine zunehmende Entpolitisierung und gleichzeitige Ästhetisierung der englischen Landschaft nachweisen. Olwig spricht in diesem Zusammenhang von einem »potent ideational cocktail […] merging […] the ideas of landscape, country and nature.«37 Die britische Landschaft wird umgebaut und theatralisiert. Olwig weist auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Stellung des königlichen Thrones in Inigo Jones’ Bühnenbild und den leicht erhöhten Landschaftssitzen 36 | Ebd., S. 142. 37 | Ebd., S. 99.
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der englischen Aristokratie hin. Beide organisieren die Erfahrung der Landschaft aus der Perspektive der Macht. Die Grenzen zwischen dem unmittelbaren Gartenbereich und der umgebenden Landschaft wurden abgebaut. Die trennenden Hecken wurden nicht auf Augenhöhe, sondern in vertieften Gräben angebracht, so dass es keine Barrieren zwischen dem inneren und dem äußeren Bereich zu geben schien. Die Natur und der metaphorisch damit verbundene Staat wurden als einheitlicher, nach außen abgeschlossener Garten wahrgenommen, dessen Teile organisch ineinander übergingen. Die weiteren von Olwig festgestellten Stufen der Entwicklung hin zur Metapher des body geographic für den modernen nationalen Staat sind eine fortschreitende Schwächung der Macht des Königs und eine parallel dazu stattfindende Verstärkung der Bedeutung von Landschaft: »all tended to identify with the country as the natural source of political legitimacy. The landscape of the country provided the site for a social and political discourse concerned with the naturalization of power.«38 Im folgenden Zitat spricht Olwig vom theatralischen Ursprung der Nationallandschaften und fasst die in seinem Buch skizzierte Entwicklung und deren Folgen zusammen: »[…] the illusion of a unified scenic space facilitated the ›mindscaping‹ of imagined ›natural‹ state communities fusing nations within a single body politic […]. The scenic illusion of landscape made it easier to believe that different historically constituted polities and places could be unified within the space of a body politic as embodied by a geographical body. When thus incorporated into a state, the polity would transmogrify into a natural national body, bound by mystical bonds of soil and blood. […] The particular drama each nation stages upon its landscape vary, but the underlying ideological subtext, framed by the structure of the landscape scene, remains remarkably similar. It preaches and defends cultural diversity, when in fact it imposes homogeneity [to] create the image of [a] nation-state as a body politic in a body geographic, controlled by a centralized state organization.« 39
D IE POLITISCHE A NATOMIE DEMOKR ATISCHER K ÖRPER Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die vormoderne politische Vision des zweifachen Körpers des Königs – eines leiblich sterblichen und eines politisch ewigen – aus den öffentlichen politischen Diskursen verschwunden. Das moderne Demokratieverständnis setzte bewusst auf Vernunft und Nüchternheit und lehnte den monarchistischen Bildzauber dezidiert ab. Die moderne Demokratie wollte sich ikonoklastisch und verweigerte den Gebrauch von Bildern. Die 38 | Ebd., S. 102. 39 | Ebd., S. 218ff.
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Demokratie aber, so Philip Manow, ist »keine bilderlose […] Verwirklichung der reinen Vernunft.«40 Ganz im Gegenteil: Eine Reihe von subterranen Kontinuitäten zeigt, dass »der oft für tot erklärte politische Körper auch in der Demokratie lebendig ist oder zumindest nachlebt.«41 Und, möchte man hier hinzufügen, dass gleichzeitig die imaginierten nationalen Landschaften einen ebenso wirksamen wie umfassenden Bildzauber zu generieren begannen. Die Vorstellung vom politischen Körper wird durch den Übergang in die Moderne nicht obsolet. Der Übergang von einem ständischen Verständnis der politischen Macht, die durch eine organische Körpereinheit dargestellt wird, zur modernen Konzeption des Verfassungsvertrages, verdeutlicht diese Kontinuität. Die Frage ist dabei: Wer verkörpert nun die politische Macht und wo ist diese verkörpert? Manow spricht von einem Nachleben, einer (Re-)Semantisierung der Idee des politischen Körpers und von Erinnerungsspuren, »die die Monarchie in den Praktiken der Demokratie hinterlassen hat.«42 Das Parlament präsentiert sich in seiner räumlichen Anlage nach wie vor als politischer Körper. Zwei Grundformen lassen sich in Europa ausmachen: die britische, die aus zwei parallel gegenüberstehenden Sitzreihen besteht, und die französische, die dem Halbkreis den Vorzug gegeben hat. Diese Form hat sich nach 1789 in der Mehrzahl der westlichen Demokratien durchgesetzt. In England bestand aufgrund der besonderen politischen Lage – man denke dabei an die frühe politische Allianz der sozialen Schichten und den konstitutionellen Charakter der Monarchie in England – nicht die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung von der aristokratischen Vergangenheit. In Frankreich hingegen war durch die Zäsur der Revolution solch eine klare Absetzung im Symbolischen von lebenswichtiger Notwendigkeit. Dennoch bleibt das körperliche Muster, wenn auch in weniger expliziten Form wie im englischen Fall – der Redner steht als Kopf zwischen den beiden gliedartigen Teilen des Parlaments –, auch im französischen Halbkreis bestehen: Die Rostra kann dort als Kopf und der Halbkreis als Körper des Volkes verstanden werden. Bei dieser architektonischen Inszenierung ist es nun die Abgeordnetenversammlung selbst, die den geheiligten politischen Körper darstellt. Dadurch wird eine unmittelbare legitimatorische Kontinuitätslinie zur abgesetzten Monarchie hergestellt. Die neue Herrschaftsordnung wird somit mithilfe einer Vorstellung legitimiert, die dem alten Regime noch verhaftet war. Manow geht nicht auf die nationale Landschaft und die Verbindungen zwischen den beiden Metaphern ein. Er spricht von der Nation als einer abstrakten Idee, die durch die Vorstellung einer lebendigen Kollektivperson, dem Parlament, veranschaulicht werden 40 | P. Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Körper, Frankfurt a.M. 2008, S. 56. 41 | Ebd., S. 9. 42 | Ebd., S. 10.
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soll. In dieser Vorstellung geht es darum, die Idee eines unsterblichen Volkskörpers als Urquelle politischer Macht sichtbar zu machen. Was letztlich auch für die Idee der Nation gilt. Die Prinzipien, die Manow für das Nachleben eines organischen Körperverständnisses anführt, gelten aber auch für die Vorstellung einer nationalen Landschaft. Das Parlament und die nationale Landschaft scheinen dabei komplementäre Funktionen zu verkörpern, besonders was den Gegensatz von Kontinuität und Diskontinuität angeht. Die Parlamentarier als Vertreter des heiligen Demos sind unantastbar wie vor ihnen der König. Das Parlament ist ein neuer politischer Kollektivkörper, der regelmäßig erneuert wird, was einer parlamentarischen Neugeburt gleichkommt und reinigende Auswirkungen hat. Der sichtbare politische Körper des Parlaments stirbt von Zeit zu Zeit und zeigt dadurch den unsterblichen Herrschaftskörper der Demokratie. Der Körper der Nation ist ebenfalls unsterblich, erneuert sich aber nicht von Zeit zu Zeit. Er deckt damit ein anderes ideologisches Bedürfnis demokratischer Systeme ab. Die Nation besitzt dank der Landschaft, die sie veranschaulicht, Stabilität und Kontinuität und gewinnt dadurch eine absolute Zeitlichkeit, die sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft so etwas wie Ewigkeit verspricht.
V OM S TA AT ALS O RGANISMUS ZUM GEOGR APHISCHEN K ÖRPER DER N ATION Abschließend möchte ich nun noch auf eine letzte Verbindung zwischen den beiden Metaphern eingehen. In seinem Werk Politische Geographie oder die Geographie der Staaten, des Verkehrs und des Krieges aus dem Jahr 1897 entwickelt Friedrich Ratzel eine im hier untersuchten Zusammenhang bedeutsame Genealogie für den Übergang von der Metapher des body politic zur Metapher des body geographic. Es geht dabei um die Verschiebung von der Idee des Staates als Organismus hin zur Vorstellung des geographischen Körpers der Nation. Der Staat ist ein bodenständiger Organismus und steht damit unter denselben Einflüssen wie alle anderen Lebenserscheinungen auch. Die biogeographische Auffassung des Staates geht davon aus, dass es große Ähnlichkeit zwischen dem Staat, seiner Geburt und seiner Entwicklung und allen anderen beweglichen Körpern an der Erdoberfläche gibt. Die Menschen und ihre Werke verbreiten sich amöbengleich, sie schreiten vor und weichen zurück, breiten sich aus und ziehen sich zusammen wie Pflanzen- und Tierarten. Sie überschwemmen und erobern ihre Umgebung, und grenzen sich nach außen hin ab: So spricht man in diesem Zusammenhang von einem Völkermeer, von Völkerflut und Völkerinseln. Elementare Staatsgebilde weisen Übereinstimmungen mit Zellengeweben auf. Um sich entfalten zu können, brauchen Staaten ein passendendes Territorium. Die behauptete Formähnlichkeit aller zusam-
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mengesetzten Lebensgebilde hat dabei vor allem mit ihrer jeweiligen Verbindung mit dem Boden, auf dem sie wachsen und sich entfalten, zu tun. Dies ist die grundlegende Eigenschaft aller Lebensgemeinschaften und zugleich deren Lebensbedingungen. Von der Flechte über die Koralle bis hin zum Menschen. Der Boden begünstigt oder hemmt das jeweilige Wachstum der einzelnen Staaten. Gewisse Gebiete haben keine Staaten hervorgebracht: z.B. Polargebiete und Wüsten.43 In anderen Landstrichen sind sie klein geblieben: in den Tropen, den Urwäldern und den höchsten Gebirgen. Menschen und Staaten sind nicht ohne den Erdboden denkbar. Das lebendige Volk richtet sich auf dem ihm zugewiesenen starren Boden ein. »Jeder Staat ist ein Stück Menschheit und ein Stück Boden. […] Der Staat muß vom Boden leben.«44 In Ratzels biogeographischem Ansatz wird die biologische und geschichtliche Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Boden reduziert. Die Entwicklung und Existenz von Staatsgebilden und deren Bodenverbundenheit wird biologistisch untermauert und pseudowissenschaftlich legitimiert. Staaten sprießen aus dem Boden und entfalten sich wie Bäume. Dabei scheint hinter der biologistischen Argumentation immer auch der ethnozentrische evolutionistische Standpunkt auf. Denn zur vollen Entfaltung kommen Staaten am besten in den gemäßigten klimatischen Zonen der nördlichen Hemisphäre. Dies wiederum rechtfertigt die weltweite politische ökonomische und militärische Vorherrschaft Europas im späten 19. Jahrhundert. Im Laufe der Geschichte bemächtigen sich die politischen Kräfte des Bodens und werden staatenbildend. Die entscheidende verbindende Kraft ist dabei weder das Stammesmäßige und Ethnische noch die Sprachverwandtschaft, sondern die räumliche Verbundenheit mit dem gemeinsamen Boden. Erst durch die politische Organisierung des Bodens wird der Staat zu einem Organismus. Dies erfolgt, nicht weil die Eigenschaften des Staates aus denen des lebendigen Volkes und des Bodens zusammengesetzt sind. Es ist die Folge einer Wechselwirkung zwischen den beiden, die darauf hinausläuft, diese zu einem einzigen Ganzen zu vereinen. Ist ein Volk auf natürliche Art und Weise in seinem Gebiet begründet, entsteht es immer wieder neu in seinen Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind dem Boden entnommen worden und in das Volk eingegangen. Im Laufe seiner Entwicklung bringt der Staat zum Vorschein, was im Boden angelegt war. Die Entwicklung des Staates besteht in der Entdeckung und Entfaltung der Eigenschaften seines Bodens. Im Laufe der Geschichte werden immer neue Bodeneigenschaften entdeckt, was zu einer immer innigeren Verflechtung mit dem Boden führt. Staaten sind aufgrund ihres Bodens indivi43 | Gegen diese vereinfachende Interpretation sei das Beispiel des Mali-Reichs aus dem 14. Jahrhundert angeführt. 44 | F. Ratzel, Politische Geographie, Osnabrück 1974, S. 2-3.
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duellen einmaligen Persönlichkeiten vergleichbar. Damit diese Dynamik aber losgetreten wird, muss ein Volk einen klar überschaubaren und deutlich abgegrenzten Raum besetzen und besitzen. »Das Gefühl des Zusammenhangs mit dem Boden ist auch nirgends so stark wie dort, wo der Boden gut begrenzt, überschaubar und leicht zu beherrschen und bewirtschaften ist, also vor allem in Inselländern […].«45 Großbritannien hatte dank seiner Insellage die Chance, lange vor dem zerrissenen, fragmentierten und auch teilweise undeutlich begrenzten Deutschland zu einem mächtigen Staat aufzusteigen. In Ratzels geopolitischem Modell wird der Fortschritt anhand der Organisation des Bodens, d.h. der immer engeren Verbindung von Volk und Boden gemessen. Weniger entwickelte, barbarische Staaten weisen deshalb auch eine viel geringere Bodenorganisation auf. Aus der geographischen Grundlage stammt ein großer Teil der Kraft eines Staates. Gelingt es, über Jahrhunderte hinweg, Boden und Volk in einem Staat zusammenzuhalten, so »prägt diese unveränderliche Grundlage sich so tief ein […], daß es nicht mehr möglich ist, dieses Volk ohne seinen Boden zu denken.«46 Ratzel führt dabei das Beispiel der Schweiz an, die ohne ihre Alpen kaum zu denken wären. Jedes Volk braucht seinen eigenen angestammten Boden und kann daher keine Konkurrenz dulden. Die zur Sonne strebenden Bäume stehlen einander das Licht: »Auf einem Boden kann daher auch immer nur eine politische Macht so aufwachsen, daß sie den ganzen politischen Wert dieses Bodens in sich aufnimmt. […] Der Staat kann ohne Schwächung seiner selbst keinen zweiten und dritten auf seinem Boden dulden.«47 Steht das Volk für eine sich stets verändernde und erneuernde pflanzenartige Lebendigkeit, so repräsentiert der Boden das Unverwüstliche, Unveränderliche und Stabile. Staaten, die auf eine längere Kontinuität der Verbindung von Volk und Boden zurückblicken können, haben daher auch eine viel bedeutendere Zukunft. Staaten wachsen an der Oberfläche der Erde und dehnen sich aus. Gleichzeitig aber entfalten sie sich in der Tiefe. Dadurch befestigen sie sich, stärken ihre Grenzen und sichern ihre Lage. »Es ist mehr als bloß ein Bild, wenn man von Einwurzelung redet; denn der Staat zieht gerade wie die Wurzeln einer wachsenden Pflanze immer mehr Nahrung aus seinem Boden und wird daher immer fester mit ihm verbunden und auf ihn angewiesen.«48 Nach dieser Darstellung des belebenden Verhältnisses von Volk und Boden, aus dem dank kontinuierlicher Wechselwirkung ein gesunder dauerhafter und kräftiger Staatsorganismus hervorgeht, weist Ratzel auf die Grenzen der Vorstellung des Organischen in der Beschreibung moderner hochkom45 46 47 48
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plexer industrialisierter Staaten hin. Unter Tieren und Pflanzen ist die Idee des Organismus am vollkommensten, weil jedes Glied im Dienste des Ganzen steht und daher dazu gezwungen ist, Opfer an Selbstständigkeit zu erbringen. Die Verwandtschaft mit dem Konzept des body politic ist frappant. Im Vergleich dazu »ist der Staat ein äußerst unvollkommener Organismus, denn seine Glieder bewahren sich eine Selbstständigkeit.«49 Hier verbindet der geistige Zusammenhang das körperlich Getrennte, einmal durch ›Einwurzelung‹ der einzelnen Mitglieder und der Gesamtheit auf einem gemeinsamen Boden. Daneben spielt aber auch die Herausbildung eines geistigen Zusammengehörigkeitsgefühls aller Bewohner mit dem Boden in Hinblick auf ein gemeinsames Ziel eine wesentliche Rolle. Je mehr ein Staat sich entwickelt, desto eher wächst er aus seiner organischen Grundlage heraus. Ganz anders bei primitiven Staaten. Hier gilt der einfache Vergleich von Staat und Organismus vollauf. »Der Vergleich des Staates mit hochentwickelten Organismen ist [jedoch] unfruchtbar«,50 denn die Vollkommenheit eines Staates hängt mit seiner Unvollkommenheit als Organismus zusammen. Das Organische des Staates besteht daher nicht so sehr in der körperhaften inneren Organisation der verschiedenen Glieder, sondern in seiner intimen individuellen und kollektiven organischen Verbindung zum angestammten Boden. Durch ihre Evolution in der Zeit und im Raum gleichen Staaten immer weniger einem Organismus, da die einzelnen Glieder nach Selbständigkeit streben und diese auch zu ihrer vollen Entfaltung benötigen. Diese wachsende Dissoziation des Organischen auf der Ebene der Integration der einzelnen Teile wird durch die gleichzeitig mitlaufende und sich ebenfalls entfaltende Wechselbeziehung zum Boden wettgemacht. Der Boden führt zusammen und kompensiert auch auf geistiger Ebene den abnehmenden und fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die einzelnen Teile des modernen Staates sind nicht mehr im Sinne eines übergeordneten Leibes aufeinander und auf das Ganze hin bezogen, d.h. sie sind keine einfachen unselbständigen Organe eines body politic mehr. Sie sind dies vielmehr durch den gemeinsamen Bezug zu einem Boden, durch eine gemeinsame Verwurzelung. Damit ist die innige leibliche und seelische Beziehung zum heimatlichen Boden, d.h. zur nationalen Landschaft, die Antwort auf die zersetzenden Kräfte der Moderne, auf zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung und deren deterritorialisierende Kräfte. »Das stofflich Zusammenhängende am Staat ist nur der Boden.« Die organische Metapher des Staatskörpers, die Ratzel hier nicht in einem engen leiblichen, sondern in einem umfassenden biologischen Sinne liest, hat ausgedient und wird durch die Metapher des nationalen Bodens aufgehoben: ein Landschaftskörper, der aus einem Volk und seinem jeweiligen Bezug zum 49 | Ebd., S. 8. 50 | Ebd., S. 9.
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Boden im Laufe der Geschichte hervorgegangen ist. Ratzels Staat ist in diesem Sinne ebenso ein natürlicher wie der vormoderne body politic. Im Gegensatz zu diesem ist er aber ein durch die Evolution und Geschichte hervorgebrachtes Ganzes. »Je größer die Möglichkeit des Auseinanderfallens, desto wichtiger wird allerdings der Boden, in dem sowohl die zusammenhängende Grundlage des Staates als auch das einzig greif bare und unzerstörbare Zeugnis seiner Einheit gegeben ist.« Das Organische am Staat ist nicht nur dessen Gewachsenheit und Verwurzelung in einem Boden – das kontinuierliche Pflanzliche, wenn man so will –, sondern auch die Existenz klarer Grenzen, was wieder zur anfänglichen Vorstellung des Animalisch-Amöbenhaften von menschlichen Gemeinschaften zurückführt. »Hat [der Staat] sich aber einmal seine Grenzen gezogen, dann sind die Vorgänge der Abschließung, der Ausbreitung, des Austausches an dieser Grenze und über der Grenze genau wie in der Peripherie eines zusammengesetzten Organismus.«51 Der geistige Zusammenhang mit dem Boden, der auf der Gewohnheit des Zusammenlebens und der gemeinsam verrichteten Arbeit beruht, kann sich bis zum Nationalbewusstsein erweitern. Hinzu kommt das Bedürfnis des Schutzes gegen außen und die Notwendigkeit, sich von festen Grenzen umgeben zu fühlen. Entscheidend ist trotz der Hervorhebung dieses Anteils jedoch die Tatsache, dass das Geistige immer aus der Zugehörigkeit zu einem Boden hervorgeht. Darüber hinaus lauert hinter der hier hervorgehobenen defensiven Haltung auch eine sozialdarwinistische Komponente, die diejenigen Staaten begünstigt, denen es gelingt, sich auf ihrem angestammten Raum zu behaupten. Jeder selbständige Organismus will überleben und zugleich verhindern, dass er zum abhängigen Organ eines anderen übermächtigen feindlichen Organismus wird. »Jede menschliche Gemeinschaft ist mit der Außenwelt und mit sich selbst im Kampf um ihr selbständiges Leben. Sie will ein Organismus bleiben und alles arbeitet […] daran, sie zum Organ herunterzudrücken.«52 Bei geographischen Organismen sind einige Teile lebenswichtiger, organischer als andere. Dies gilt vor allem für Grenzen im Allgemeinen, Bergketten, Flüsse und Seeküsten. Dies ist ebenfalls ein zentrales Motiv bei der Herausbildung von in sich geschlossenen Landschaften. »Die Schweiz ist ohne ihre Alpengrenzen auf drei Seiten nicht denkbar, während die Ausdehnung ihres nördlichen Hügellandes über den Rhein hinaus oder die Umfassung eines mehr oder weniger großen Teils des Jura durchaus nicht ebenso zu ihrem Wesen gehört.«53 Da Grenzen für die Definition des body geographic moderner territorialer Staaten absolut zentral sind, besteht eine »hochgesteigerte […] Empfindlichkeit gegen den kleinsten Übergriff in das Staatsgebiet […], die einen 51 | Ebd., S. 11. 52 | Ebd., S. 16. 53 | Ebd., S. 14.
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Gebietsverlust als einen unersetzlichen Schaden der Gesamtheit erscheinen läßt.«54 Damit ist zugleich ein gefährlicher argumentativer Extrempunkt erreicht, der im Lauf des 20. Jahrhunderts zu verheerenden Folgen geführt hat und inzwischen leider wieder so etwas wie eine neue besorgniserregende Konjunktur erlebt, wie Wendy Brown in ihrem 2010 erschienenen Walled States, Waning Sovereignty nachweist, das nicht nur der neuen paranoiden Festung Europa des Schengen-Abkommens gewidmet ist, sondern auch der Hightech-Grenze zwischen den USA und Mexiko und den 759 Kilometer langen israelischen Sperranlagen im Westjordanland.
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Abbildung 1: Einige seelengeographische Räume, in: E. Banse, Landschaft und Seele. Neue Wege der Untersuchung und Gestaltung, München und Berlin 1928, S. 85. Abbildung 2: Abendland oder Germanisches Europa, in: E. Banse, Landschaft und Seele. Neue Wege der Untersuchung und Gestaltung, München und Berlin 1928, S. 131-2. Abbildung 3: Libertas Helvetiae. Allegorie auf die alte Eidgenossenschaft, anonym 17. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, Solothurn, Historisches Museum Blumenstein, in: Y. Boerlin-Brodbeck, Alpenlandschaft als politische Metapher. Zu einer bisher wenig bekannten ›Libertas Helvetiae‹, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 55 (1998), S. 1. Abbildung 4: Für ein sicheres, freies und starkes Tessin!, in: Wahlkampfmaterial der Lega dei Ticinesi, 2011. Abbildung 5: Höhenstrasse, Landi 1939, in: G. Duttweiler (Hg.), Eines Volkes Sein und Schaffen. Die Schweizerische Landesausstellung 1939 Zürich in 300 Bildern (Buchumschlag). Abbildung 6: Der Gotthard ist der Brennpunkt unseres Landes, in: J. Wagner (Hg.), Das goldene Buch der LA 1939, Zürich 1939, S. 45. Abbildung 7: Für Berge, die ihre Bewohner ernähren, Pro-Montagna, Coop Schweiz, in: www.werbewoche.ch/ksb-strategische-anzeige-fuer-coop [16.2. 2014] Abbildung 8: Peter Fischli und David Weiss, In den Bergen, in: P. Bellasi u.a. (Hg.), Enigma Helvetia, arti, riti e miti della Svizzera moderna/The Arts, Rites and Myths of Modern Switzerland (Ausstellungskatalog, Museo Cantonale d’Arte, Lugano, 27.4.-17.8.2008), Mailand 2008, S. 307. Abbildung 9: Ferdinand Hodler, Tell, in: W. Hugelshofer, Ferdinand Hodler, Zürich 1951, Abbildung 46. Abbildung 10: Paul Richter, in: Siegfrieds Tod, Szene aus Fritz Langs Film Die Nibelungen, 1924, in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 193.
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Abbildung 11: Der Wald stirbt, Titelblatt der Zeitschrift Der Spiegel zu Waldsterben, November 1981, in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 256. Abbildung 12: Anselm Kiefer, Varus (1976), in: Daniel Arasse, Anselm Kiefer, Editions du regard, Paris 2012, S. 128. Abbildung 13: Burkhard Mangold, Einig (1919), in: G.P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006, S. 250. Abbildung 14: Albrecht Altdorfer, Laubwald mit dem Heiligen Georg (1510), in: F. Ficker, Altdorfer, Mailand 1977, S. 31. Abbildung 15: Juden sind in deutschen Wäldern unerwünscht, Photographie von Eugen Heilig 1936 (Ausschnitt), in: Unter Bäumen: Die Deutschen und der Wald, hg. von U. Breymayer und B. Ulrich, Dresden 2011, S. 230. Abbildung 16: Alpennatur und Alpenmenschen. – Frontispiz: Scheuchzer, Natur=Historie, 1716, Bd. 1, Zentralbibliothek Zürich, Sig.: 6.50, in: M. Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung: Johann Jakob Scheuchzer (16721733), Epfendorf 2003, S. 395. Abbildung 17: Trix und Flix, die Maskottchen der Fussballeuropameisterschaft 2008, in: www.fanpop.com/clubs/uefa-euro-2008/images/501433/title/euro2008-photo [16.2.2014] Abbildung 18: Masslosigkeit schadet, Abstimmungsplakat, in: http://aare24. ch/index.php?page=/News/Unternehmer-reden-endlich-ueber-negativeFolgen-der-Masseneinwanderung_16641 [16.2.2014] Abbildung 19: Marc Chagall, Über der Stadt (1914-1918), in: Chagall entre ciel et terre, hg. von E.L. Selezneva, Martigny 2007, S. 110. Abbildung 20: Mater Fluviorum, Karte zur Bundesfeier-Ausgabe des Jahres 1930 zu 10 Centimes, dunkelgrün, in: www.briefmarken-forum.com/t1388 p30-bundesfeierkarten?highlight=ganzsachen [16.2.2014]
Basis-Scripte bei transcript Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte
Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1709-2 Das Paradigma der Transkulturalität stellt aktuell einen der wichtigsten Ansätze in der Kulturwissenschaft dar. Kulturen werden hier konsequent in ihrer Fluidität und der Kontingenz ihrer Grenzziehungen verhandelt. Dieser Band bietet eine systematische Einführung in die wichtigsten Theorien und Positionen. Er versammelt klassische, kanonische, aber auch aktuelle Originaltexte – viele davon zum ersten Mal in deutscher Sprache präsentiert. Kommentierende Einleitungen und sorgfältig zusammengestellte Auswahlbibliographien geben dem Band eine didaktische Rahmung, die sich an den Bedürfnissen von Studium und Lehre orientiert. Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert: 1. Diaspora und Exil 2. Migration, Globalisierung, Transnationalisierung 3. Übersetzung 4. Wissen um das Fremde
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Basis-Scripte bei transcript Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.)
Bildwissenschaft und Visual Culture
Oktober 2014, ca. 327 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2274-4 In den letzten Jahren wurden nicht nur ein »iconic« oder »visual turn« diagnostiziert, sondern es entstanden mit der Bildwissenschaft und den Visual Culture Studies gleich zwei neue interdisziplinäre Forschungsbereiche. Dieser Band unternimmt erstmals eine repräsentative und kommentierte Zusammenstellung zentraler Texte dieser innovativen Theoriefelder, die sich vor allem auch an den Bedürfnissen von Studium und Lehre orientiert. Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert: 1. Iconic und Pictorial Turn 2. Bildtheorien 3. Visual Culture 4. Zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft 5. Bilder zwischen Wahrnehmungs- und Wissenschaftsgeschichte
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Sozialphilosophische Studien Marcel Hénaff
Die Gabe Gegenseitigkeit neu denken (übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer)
Mai 2014, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2385-7 Der philosophische Diskurs um die Gabe erfährt seit geraumer Zeit eine Renaissance. Trotz vieler Unterschiede sind sich Philosophen wie Derrida, Levinas, Ricœur und andere in einem zentralen Punkt einig: In ihren Augen ist die einzige wirkliche Gabe eine Gabe ohne Erwiderung. Doch können wir die Stiftung des sozialen Bandes gänzlich ohne ein Verhältnis der Gegenseitigkeit denken? Marcel Hénaff denkt die Gabe gegen den herrschenden philosophischen Diskurs konsequent von der Gegenseitigkeit her. Eine originelle Intervention in einen hochaktuellen Schlüsseldiskurs der Sozial- und Kulturtheorie.
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Edition Moderne Postmoderne Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic, Joost van Loon (Hg.)
Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften
April 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2644-5 Die vertiefte Auseinandersetzung mit raumbezogenen Forschungsthemen, die seit etwa 20 Jahren unter dem Stichwort »Spatial Turn« in den Kulturwissenschaften stattfindet, bleibt bezüglich ihrer begrifflichen und philosophischen Grundlagen defizitär. Obwohl von der Philosophie für die Herausbildung dieser Forschungsrichtung wichtige Impulse ausgegangen sind, hat sie selbst bislang keine führende Rolle übernommen. Ziel des Bandes ist es daher, durch eine deutlichere Profilierung grundlegender Unterscheidungen und Begriffe zur aktuellen Raumforschung beizutragen. Der »Ort« wird dabei – auch gegenüber dem Raum – als philosophischer Gegenstand gefasst und erscheint als grundlegendes Prinzip der Kulturwissenschaften – und nicht (nur) als deren Thema.
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