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German Pages 168
Politische Klasse und Verfassung
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 147
Politische Klasse und Verfassung Beiträge auf der 4. Speyerer Demokratietagung vom 26. bis 27. Oktober 2000 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von
Hans Herbert von Amirn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Politische Klasse und Verfassung : Beiträge auf der 4. Speyerer Demokratietagung vom 26. bis 27. Oktober 2000 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer I Hrsg.: Hans Herbert von Amim.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer; Bd. 147) ISBN 3-428-10603-2
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-10603-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Vorwort Zur "politischen Klasse" zählt eine neue Forschungsrichtung Politiker, die - in der Terminologie von Max Weber - nicht (nur) für die Politik, sondern von der Politik leben, also Berufspolitiker mit eigenen, sozusagen klassenspezifischen Interessen. Der Begriff "Verfassung" wird in einem weiten, dreifachen Sinne verstanden: Er umfaßt a) die Summe der in der Verfassungsurkunde niedergelegten Normen (Verfassung im formellen Sinne), b) bestimmte grundlegende einfachgesetzliche Normen zum Beispiel über Wahlrecht und Politikfinanzierung (Verfassung im materiellen Sinne) sowie c) die realen Macht- und Interessenverhältnisse, die sich in Konventionen und politischen Handlungsmustern niederschlagen (Verfassung im soziologischen Sinne). Die Beziehungen zwischen politischer Klasse und Verfassung sind ambivalent: Die Verfassung soll die politische Klasse eigentlich begrenzen, diese kann die Verfassung aber umgekehrt auch nach ihren Bedürfnissen gestalten oder Anpassungen an neue Gegebenheiten verhindem - mit gefährlichen Folgen für elementare Prinzipien der Demokratie. Der vorliegende Band enthält die Referate, die auf der 4. Speyerer Demokratietagung gehalten wurden. Ziel dieser Tagung war es, das spannungsreiche Verhältnis von politischer Klasse und Verfassung, das in Forschung und öffentlicher Diskussion bisher stark unterbelichtet ist, am Beispiel charakteristischer Bereiche auszuleuchten und mögliche Wege zu Reformen weisen. Der Herausgeber dankt den Referenten, die die Tagung erst ermöglicht haben. Er dankt besonders Herrn Ass. Stefan Kleb, Mag. rer. publ., der den Band redaktionell betreut und die Tagung - zusammen mit dem bewährten Tagungssekretariat der Hochschule unter Herrn Amtsrat Bucher - vorbereitet hat. Speyer, im Februar 200 I
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Inhaltsverzeichnis Begrüßung durch den Prorektor Von Rudolf Fisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung in die Tagung Von Hans Herbert von Amim
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Politische Klasse und demokratischer Rechtsstaat Von Hans Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .
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Politische Klasse, Parteienstaat und Korruption Von Klaus von Beyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die politische Klasse aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie Von Gebhard Kirchgässner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Politische Klasse und Wahlrecht Von Merith Niehuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das demokratische Defizit. Was fördert und was hindert die Entwicklung von Demokratie-Kompetenz? Von Thomas Leif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Politische Klasse und Ämterpatronage Von Michael Kloepfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 07 Politische Klasse und Öffentlichkeit Von Ulrich Sarcinelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Berufspolitiker zwischen Professionalismus und Karrierismus Von Elmar Wiesendahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Tagung "Politische Klasse und Verfassung" Begrüßung durch den Prorektor der DHV Prof. Dr. Rudolf Fisch Namens des Rektors heiße ich Sie an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zur Tagung über "Politische Klasse und Verfassung" herzlich willkommen. Ich wünsche der Veranstaltung gutes Gelingen, ertragreiche Gespräche und einen fruchtbaren Gedankenaustausch. Wenngleich Herr Kollege Prof. Dr. von Arnim in seiner Einleitung natürlich etwas zum Begriff der Politischen Klasse sagen wird, möchte ich hier schon erwähnen, daß "Politische Klasse" bei uns nicht als Kampfbegriff, sondern als deskriptiver Begriff für die wissenschaftliche Debatte verstanden werden soll. Bei der Durchsicht des Programms fühlte ich mich beim Thema "Politische Klasse und Ämterpatronage" von Prof. Dr. Kloepfer (Berlin) besonders angesprochen: Zum einen erinnerte ich mich an Gespräche mit juristischer Kollegen von anderen Universitäten. Sie sehen in einer praktizierten Ämterpatronage eine Entwicklung in der Personalpolitik der öffentlichen Verwaltung, die sie mit erheblicher Sorge für das Ansehen und die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes erfüllt. Sie meinten, Speyer sei traditionell ein Ort, an dem solch ein schwieriges Thema behandelt werden könne. Es müsse auf die Tagesordnung. Zum zweiten dachte ich an zahlreiche Pausengespräche anlässlich von Führungskursen für höherrangige Führungskräfte, die ich seit 25 Jahre durchführe. Wenn ich die Themen Personalentwicklung und Karreeieplanung für begabten Führungsnachwuchs im öffentlichen Sektor anspreche, reagieren die meisten Teilnehmer sehr distanziert und einige mit sarkastischen Bemerkungen. Es werden Fälle berichtet, bei denen nach dem Eindrucksurteil nicht fachliche oder Befahigungsgesichtspunkte bei der Besetzungen eines höher bewerteten Dienstpostens eine Rolle gespielt haben sollen, sondern die Nähe des oder der Erwählten zur regierenden Partei. Solche Berichte werden harsch kommentiert und von den Umstehenden benickt. Allerdings haben nur wenige den Mut, in dieser Hinsicht klar zu sprechen und wenn, auch nur in informellen Situationen und in kleinem, vertrauten Kreis. Man müsste die Berichte natürlich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, was in der Praxis wohl überwiegend nicht möglich sein dürfte. Die berich-
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teten Tatbestände sind von außerhalb schwer festzumachen und zu objektivieren. Zudem ist eine Einschätzung der Bedeutsamkeil der Vorkommnisse aufgrund einzelner, illustrativer Fallberichte kaum möglich. So gesehen müsste man aufhören, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Was nicht objektiv erfasst werden kann, lässt sich nicht seriös behandeln. Was trotz argumentativer Abwehr in der Welt bleibt, sind die Nachreden über den wahrgenommenen Sachverhalt. In den Sozialwissenschaften spricht man davon, dass wahrgenommene und anderen berichtete Sachverhalte neben ihrer direkten Wirkung - stets auch sogenannte latente (Neben-) Wirkungen erzeugen. Das gilt auch im vorliegenden Fall: Aus den Nachreden über die wahrgenommene Besetzungspraxis spricht kein Verständnis für das praktizierte Vorgehen bei der Besetzungen von bestimmten Dienstposten. Deutlich zu spüren ist das Fehlen von Achtung vor dem Arbeitgeber und seinen Handlungsweisen den Beschäftigten gegenüber, es gibt keine Achtung vor der Institution, die so handelt. Aus den Äußerungen spricht vor allem eine tiefe Enttäuschung über die erkennbare Diskrepanz zwischen normativen Vorstellungen in Gesetzen und Verordnungen in der Administration einerseits und der erlebten Verwaltungsrealität andererseits. Daß Normen und Realität im Leben vielfach nicht übereingehen, ist nicht unbekannt. Aber eine Institution, die auftragsgemäß für die Durchsetzung von (Rechts)Normen gegenüber Anderen zu sorgen hat, wird natürlich auch daran gemessen, inwieweit sie sich selbst an normativen Vorgaben für das eigene Handeln bei internen Vorgängen hält. Für Eindrucksurteile gilt das sogenannte Thomas-Theorem, das sinngemäß besagt: Wenn Menschen etwas als real ansehen, hat es Konsequenzen für die Realität. Bezogen auf den hier erörterten Sachverhalt bedeutet dies: Wenn ein Arbeitgeber, eine Institution in Nachreden nur geringe Achtung von seinen Führungskräften der mittleren Ebene erfährt, sollte das eigentlich ein deutliches Warnsignal für die obersten Leitungsebenen sein, zum Beispiel dass im Ernstfall oder in belastenden Situationen die Steuerbarkeil und die Leistungsfähigkeit der Institution eingeschränkt sind. Der Tenor in den Nachreden paßt zu einem Ergebnis eigener empirischer Untersuchungen über die Werthaltungen von Führungskräften der öffentlichen Verwaltung. In den Untersuchungen kommt immer wieder eine deutliche Distanzierung zur eigenen beruflichen Arbeit zum Ausdruck: Hingabe, Gewissenhaftigkeit, Loyalität gegenüber der Organisation oder gar Selbstaufopferung, um Ziele der Organisation zu erreichen, werden zwar als Handlungsweisen angesehen, die unter anderem zu einer produktiven, ergebnisorientierten (Zusammen)Arbeit beitragen. Aber bei sich selbst im Alltag werden sie nicht in dem Maße realisiert, wie es den eigenen Sollvorstellungen entspricht. Diese Selbstdistanzierung zur Arbeit und zu wichtigen Beamtentugenden ist möglicherweise ein Hinweis darauf, wo und in
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welchem Umfeld die Ursachen für Leistungsprobleme im öffentlichen Sektor zu suchen sind, von denen die Angehörigen des Höheren Dienstes bekanntermaßen nicht ausgenommen sind. Es gehört nicht sehr viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, welche Gedanken und Empfindungen ausgelöst werden, wenn die Führungskräfte hören, dass ihr Arbeitgeber beispielsweise "Leistungsanreize" setzen möchte, um die Leistungen der Beschäftigten zu erhöhen. Wem es nicht gleichgültig ist, welche Konsequenzen einschlägige Nachreden über den Arbeitgeber seitens der Führungskräfte zum Beispiel auf die Arbeitsmoral insgesamt haben können, wird fragen, was das Richtige zu tun ist. Ein erster Schritt, um zu einer höheren Kongruenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu kommen und vor allem, um Glaubwürdigkeit und Achtung wiederzugewinnen, könnte sein, Aufklärung zu betreiben. Aufklärung auf dem Feld der Ämterpatronage ist sehr schwierig, wie wir morgen noch detaillierter hören werden. Aber immerhin: Das Thema ist genannt, es ist auf der Agenda, wir sollten uns seiner annehmen, zum Wohle eines leistungswilligen und leistungsfähigen Personalkörpers in Staat und Verwaltung.
Politische Klasse und Verfassung Einführung in die 4. Speyerer Demokratietagung am 26.10.2000 Von Hans Herbert von Arnim Wer kontrolliert die Kontrolleure? Diese uralte Schlüsselfrage der freiheitlichen Demokratie stellt sich im Hinblick auf die "Politische Klasse" ganz neu. Kontrolle ist in der parlamentarischen Demokratie Aufgabe vor allem der Opposition. Wenn es nun aber um gemeinsame Interessen von Regierung und Opposition geht - und die Gemeinsamkeit der Interessenlage von Berufspolitikern kennzeichnet ja den Begriff der politischen Klasse -, wenn also Regierung und Opposition gemeinsame Sache machen, wer kontrolliert dann noch die Mächtigen im Staat? Gegenstand von Manipulationen ist immer wieder das Wahlrecht. Von seiner Ausgestaltung hängen nicht nur die relativen Wahlchancen von Regierung und Opposition ab, sondern auch die Sicherheit der Wiederwahl aller Amtsinhaber. Es geht dabei um für Berufspolitiker existentielle Fragen. Die politische Klasse versucht auf mancherlei Weise, ihre Abwahl zu erschweren und möglichen Konkurrenten den Weg zu verlegen. Das ist das Thema von Merith Niehuss, die zwei Handbücher über "Wahlen in Deutschland" mitverfasst hat. In der sogenannten Ämterpatronage im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen spiegeln sich die beiden Hauptinteressen der politischen Klasse wider: In der "Herrschaftspatronage" das Streben nach Macht und Einfluss, in der "Versorgungspatronage" (Theodor Eschenburg) der Wunsch nach postenmäßiger und finanzieller Absicherung. Diesem Thema wird sich Michael Kloepfer in seinem Vortrag "Politische Klasse und Ämterpatronage" widmen, der dieses Phänomen - neben vielen anderen wichtigen Interessengebieten - schon früh behandelt hat. Die genannten Fälle zeigen bereits, was mit Veifassung im Sinne unseres Tagungsthemas gemeint ist: nicht nur die Artikel des Grundgesetzes und der Landesverfassungen, sondern auch für den politischen Prozess wichtige Gesetze wie das Parteiengesetz und die Wahlgesetze, darüber hinaus aber auch bestimmte tatsächlich geübte Praktiken wie eben Ämterpatronage.
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Der Begriff "politische Klasse" beinhaltet, wie selbstverständlich, dass Berufspolitiker sich bei ihren Entscheidungen regelmäßig auch von ihren eigenen Interessen leiten lassen. Hier scheiden sich nun aber die Geister. Die überkommene (rechtswissenschaftliche und rechtsphilosophische) Staats- und Verfassungslehre geht davon aus, Amtsträger orientierten sich am Gemeinwohl. Was immer das genau bedeutet, klar ist jedenfalls, dass eigennütziges Verhalten ausgeschlossen sein soll. Genau solch eigennütziges Verhalten unterstellt aber der Begriff der politischen Klasse. Das ist der Grund, warum mancher Staatsrechtslehrer bereits bei der bloßen Verwendung des Begriffs allergisch reagiert, genau wie mancher Politiker. Diese neigen dazu, das philosophische und verfassungsrechtliche Ideal von der uneigennützigen Gemeinwohlorientierung von Amtsträgem mit der Beschreibung des tatsächlichen Ist-Zustandes zu verwechseln. Das Grundsatzthema "Politische Klasse und demokratischer Rechtsstaat" wird von Hans Meyer behandelt, der dazu wichtige Veröffentlichungen vorgelegt hat. Er spricht - statt von politischer Klasse- gelegentlich auch von "politischer Kaste". Eine klare Gegenposition zur politischen Romantik bezieht die Neue Politische Ökonomie. Sie überträgt das Bild eines von Eigeninteressen motivierten homo oeconomicus, von dem die Volkswirtschaftslehre ausgeht, auch auf die Politik. Gebhard Kirchgässner, einer der bekanntesten und bestausgewiesenen deutschsprachigen Politikökonomen, wird Ihnen diese Perspektive nahe bringen in seinem Referat "Die politische Klasse aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie". Eine andere, wenngleich oft unausgesprochene, Kontroverse besteht darüber, ob man zu dem ganzen Komplex "Politische Klasse" Stellung nehmen soll, ja, ob man als Wissenschaftler überhaupt Wertungen vornehmen darf. Sollte man das Wirken der politischen Klasse nur sozusagen zur Kenntnis nehmen und analysieren, oder sollte man den Zustand und die voraussichtliche Entwicklung auch bewerten und gegebenenfalls kritisieren? Entsprechend dieser Kontroverse gibt es einerseits die mehr analytisch-deskriptive Richtung der Politikwissenschaft, die die vielfaltigen Zusammenhänge aufzeigt. Hier ist wohl Klaus von Beyme schwerpunktmäßig einzuordnen, der das Grundsatzthema "Politische Klasse, Parteienstaat und Korruption" behandelt. Herr von Beyme ist einer der bekanntesten und wissenschaftlich fruchtbarsten deutschen Politikwissenschaftler. Er hat - neben vielen anderen Werken - 1992 das politikwissenschaftliche Standardwerk zum Thema "Politische Klasse" geschrieben. Unternimmt man es dagegen, systematisch zu werten (und notfalls bestimmte politische Erscheinungen entsprechend zu kritisieren), so gerät man leicht in Teufels Küche, denn der Arm der politischen Klasse ist lang. Aber vielleicht ist es gerade der Sinn der vom Grundgesetz garantierten wissenschaftlichen Unabhängigkeit, solche Kritik dennoch zu ermöglichen.
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Im Ergebnis lässt sich m. E. kaum leugnen: Wir alle haben Eigeninteressen. Das gilt für Politiker genauso wie für Verwaltungsbeamte, auch für Wissenschaftler: Über frisch Habilitierte pflegt man zu ulken, sie schliefen bei offenem Fenster, um einen möglichen Ruf auf einen Lehrstuhl nicht zu überhören. Das Problem scheint also nicht die Existenz von Eigeninteressen zu sein, sondern mangelnde Kontrolle: Die politische Klasse sitzt im Herzen des Staatsapparats an den Hebeln der Macht und kann deshalb ihre eigenen Interessen unmittelbar in Gesetze und Haushaltspläne einfließen lassen, ja sogar in Verfassungsänderungen. Verfassungen sollen eigentlich die politisch Mächtigen zähmen und begrenzen. Doch die politische Klasse, zu der auch die parlamentarische Opposition gehört, besitzt die nötigen qualifizierten Mehrheiten, auch Verfassungen in ihrem Sinn zu ändern. Damit drohen Verfassungen, wenn es um die Eigeninteressen der politischen Klasse geht, ihre Funktion zu verlieren und statt dessen zum Gegenstand der Interessenverwirklichung der politischen Klasse zu werden. Dass sich gleichwohl selbst riesigen Mehrheiten im Parlament Widerstände gegen die eigene Interessendurchsetzung entgegenstellen, wenn sie es zu durchsichtig anstellen, zeigt etwa der Versuch der Bonner Parlamentarier, den Diätenartikel des Grundgesetzes zu ändern, ihre Bezahlung stark zu erhöhen und an die Besoldung von Bundesrichtern zu koppeln. Dieser Versuch ist 1995 am öffentlichen Protest und schließlich am Nein des Bundesrats zunächst einmal gescheitert. Man kann diesen Versuch noch weiter spinnen und sich ein Szenario ausmalen, in dem die Berliner politische Klasse versucht, diejenigen Artikel des Grundgesetzes zu ändern, die parteipolitische Ämterpatronage verbieten, oder - ein anderes Szenario - die absolute Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung aufzuheben, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat. Das gäbe wahrscheinlich ein Riesengeschrei und würde wohl am öffentlichen Protest scheitern. Hier zeigt sich aber auch etwas anderes Wichtiges: Formelle Verfassungsänderungen sind oft gar nicht mehr nötig. Michael Kloepfer wird aufzeigen, in welchem Umfang das grundgesetzliche Verbot parteipolitischer Ämterpatronage faktisch unterlaufen wird. Und die Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung wird ebenfalls vielfach umgangen, etwa durch staatliche Fraktions- und Stiftungsfinanzierung und durch immer mehr Abgeordnetenmitarbeiter. Die politische Klasse hat so viele Möglichkeiten, dass sie die formalen Regelungen formale Regelungen sein läßt und trotzdem - über Änderungen des informalen "weichen" Verfassungsrechts auf Umwegen zum Ziel gelangen kann. Soweit die Oppositionskontrolle ausfällt, bleibt die Kontrolle durch Verfassungsgerichte, Rechnungshöfe, Medien und andere vom Grundgesetz als
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unabhängig konzipierte Einrichtungen. Deren Personal wird allerdings wiederum durch die politische Klasse ausgewählt. Dass in der Auswahl der Kontrolleure durch die Kontrollierten ein Problem liegen kann, liegt auf der Hand. Wie wichtig die Medien für die Kontrolle der politischen Klasse sind, ist schon angeklungen. Doch die Medien haben viele ~nterschiedliche Wirkungen. Besonders der Vormarsch des Fernsehens bewirkt in jüngerer Zeit eine Art "Strukturwandel der Öffentlichkeit", der die Möglichkeiten zumindest der politischen Elite, die unmiltelbaren Zugang zu den Medien hat, noch erweitert, sich nicht nur von den Bürgern, sondern auch von der eigenen Parteibasis zu "emanzipieren". Ulrich Sarcinelli, der Verfasser des Buches "Politik-Vermiltlung und Demokratie in der Mediengesellschaft", wird uns die Thematik in seinem Referat "Politische Klasse und Öffentlichkeit" nahe bringen. Und Thomas Leif, ein Medienprofi und zugleich Impulsgeber für die Wissenschaft, wird in seiner Dinner Speech auf dem Harnbacher Schloß ebenfalls politische Grundfragen der Medien behandeln. Leif hat 1992 das Buch "Die politische Klasse in Deutschland" mitherausgegeben. Unser Tagungsthema hat auch eine Verbindung zu unserer Tagung vor einem Jahr, auf der wir das Thema "Direkte Demokratie" behandelt haben. Wenn die Verfassung die politische Klasse nur noch eingeschränkt bändigen und begrenzen kann und die überkommenen Kontrollinstitutionen der repräsentativen Demokratie schwächer werden, kommt dann als mögliches Gegengewicht nicht zwangsläufig auch das Volk in den Blick? Eine ähnliche Idee steht hinter der Initiative für eine große Verfassungsreform in Rheinland-Pfalz. Danach soll in Zukunft der Ministerpräsident direkt gewählt werden, bei Landtagswahlen sollen die Bürger die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens ihrer Stimmen für bestimmte Kandidaten haben, und die Landesparlamentarier sollen in der Regel Teilzeitabgeordnete sein. Eine ähnliche Reform hatte schon Theodor Eschenburg bei Schaffung des Landes Baden-Württemberg empfohlen. Sie widerspricht allerdings den Eigeninteressen der Mainzer politischen Klasse und kann deshalb nicht durch das Parlament, sondern nur durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt werden. Unsere Landesverfassung bietet dafür die Möglichkeit. Für einen entsprechenden Gesetzentwurf sammeln die kommunalen Wählergemeinschaften von Rheinland-Pfalz derzeit Unterschriften. Für die erste Stufe, das Antragsverfahren, sind 20.000 Unterschriften erforderlich. Die Gretchen-Frage im Zusammenhang mit unserer ganzen Thematik scheint mir dahin zu gehen, ob und inwieweit die Eigeninteressen der politischen Klasse ihre Handlungsfähigkeit beeinträchtigen, inwieweit sie also der Wahrnehmung des Gemeinwohlauftrags im Wege stehen.
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Einen wichtigen Ausschnitt aus diesem Fragenkreis betrifft die Rekrutierung des politischen Nachwuchses. Fördern die bestehenden Strukturen und Prozesse die Auswahl der besten oder ist eher das Gegenteil der Fall? Elmar Wiesendahl, der grundlegende Veröffentlichungen über die Parteien vorgelegt hat, wird dieses Thema in seinem Schlußreferat am Freitag behandeln: "Die politische Klasse zwischen Professionalismus und Karrierismus". Doch warten wir' s ab. Am Ende der Tagung werden alle viel klüger sein - das ist jedenfalls die Erwartung, von der wir bei der Planung und Sie bei dem Entschluss, nach Speyer zu kommen, ausgegangen sind.
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Politische Klasse und demokratischer Rechtsstaat Von Hans Meyer I. Ein leicht polemischer BegritT
Der Begriff "politische Klasse" hat eine leicht polemische Färbung. Sprechen wir von der Mediziner-Klasse, der Klasse der Berufssportler, der Journalisten-Klasse, der wirtschaftlichen Klasse, ja von der Professoren-Klasse? Sind die Phänomene wirklich so verschieden, daß sich die Sprachdifferenz auf natürliche Weise erklärte? Oder wollen wir nicht akzeptieren, daß Politik, die Beschäftigung mit Politik oder die Tätigkeit in ihr, ein Beruf sein kann, ja daß gerade darin das Problem liegt? 1 "Klasse" meint soziale Schichtung mit Absonderungs- oder Abschottungstendenzen. Kann die politische Klasse nicht einwenden, es gebe kaum einen anderen anspruchsvolleren Beruf oder Stand, der so frei zugänglich ist, wie sie selbst? Weder Vorausbildung noch Diplom werden verlangt. Und kann sie nicht auf den ebenfalls polemischen Gegeneinwand, der Königsweg in die politische Klasse sei die Ochsentour, antworten, daß ohne Einübung ihr Geschäft kaum ordentlich zu betreiben sei? Die Replik schließlich, wohl die meisten von uns - und ich meine die Teilnehmer dieser 4. Speyrer Demokratie-Tagung - könnten sich gut vorstellen, passable Abgeordnete abzugeben, wird die politische Klasse mit dem Argument kontern, das treffe möglicherweise für die Arbeit im Parlament zu, schwerlich aber für die Arbeit außerhalb des Parlaments, die von einem Volksvertreter, der sein Verhalten im Parlament dem Volke gegenüber zu vertreten und das heißt zu verantworten habe, eben auch zu leisten sei. Polemische Begriffe haben etwas Grobschlächtiges. Sie legen wenig Wert auf begriffliche Schärfe. In einem breiten Randbereich sind sie von gehöriger Unschärfe. An eine Definition der "politischen Klasse" sich zu wagen, würde daher so wenig Nutzen bringen wie das Sieb beim Wasserschöpfen. Polemische Begriffe haben aber eine Hauptstoßrichtung; Kollateralschäden nehmen sie in Kauf. Mustert man die Themen der Tagung durch, so nimmt der Begriff der politischen Klasse im Kern die politischen Parteien und ihr Personal ins Visier, soweit es staatsfinanziert ist, also insbesondere die Parlamentarier und die Kabinettsmitglieder. Weder die höheren Verbandsfunk1
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Siehe z. B. die Ausführungen von Wiesendabi in diesem Band.
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tionäre, von den Wirtschafts- und Berufsverbänden bis zu den Gewerkschaften, noch auch die beamteten Staatssekretäre und die anderen "politischen Beamten" im Staats- und Kommunaldienst stehen als solche im Blickfeld; letztere gelangen höchstens über die Ämterpatronage ins Bild. Und wenn oben von den politischen Parteien gesprochen wurde, so sind nicht die Mitglieder gemeint, sondern im wesentlichen die höheren Funktionäre, die in aller Regel zugleich staatsfinanzierte Positionen inne haben. Der Begriff gibt also nicht den Blick auf das gesamte Feld Politik betreibender Akteure frei; er würde sonst auch die Presse mit ihren führenden politischen Redakteuren und Journalisten und die Herausgeber einbeziehen müssen und den Staatsapparat teilweise auch unterhalb der Ebene der politischen Beamten. Seine Beschränkung und die von dem soziologischen Begriff der "Klasse" gespeisten Assoziationen weisen auf eine personelle Besonderheit hin, die die Mitglieder der politischen Klasse von den anderen Akteuren in der Politik unterscheidet. Die politische Klasse macht nicht nur den Kernbereich der staatlichen Politik aus, sie ist auch in Lebensentwurf, Berufserwartung und Verhaltensweise sehr homogen2 und sie ist - das ist der wichtigste Punkt - zwar nur zum Teil Herr über die Kompetenzen, die ihre Mitglieder haben, aber Herr über wesentliche Existenz- und Arbeitsbedingungen. Die Abgeordnetengesetze mit Regeln zum Beispiel über die Ausstattung, die Entschädigung und Versorgung, 3 die Fraktionsgesetze, die zum Beispiel Finanzierungsansprüche und extensive Kompetenzregeln enthalten,4 die Ministergesetze und im Bund zum Beispiel die Etablierung einer eigenständigen Beförderungsstufe für Abgeordnete durch das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der parlamentarischen Staatssekretäre,5 die Wahlgesetze mit Festlegungen für die Chancen des Erfolgs,6 das Parteiengesetz7 vor allem mit den Regeln über die staatliche Finanzierung und Zu demselben Ergebnis kommt Wiesendahl a. a. 0 . §§ 11--44 AbgG des Bundes. 4 Im Bund sind sie Bestandteil des Abgeordnetengesetzes: §§ 45-54 AbgG. Siehe dazu H. Meyer, Die Fraktionen auf dem Weg zur Emanzipation von der Verfassung (FS Mahrenholz), 1994, S. 319-347. 5 Vom 24. Juli 1974, zuletzt durch die Kuriosität verschönt, daß ein Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeskanzleramt auch ein Nichtparlamentarier sein kann (BGBI. 1999 I S. 10). 6 Siehe §§ 6 und 7 BWahiG. Ein besonders schönes Beispiel ist das vom BVerfG insoweit für nichtig erklärteBWahiG zum ersten gesamtdeutschen Bundestag, das ostdeutschen Parteien und neuen Bewegungen bis auf eine keine Chance ließ, in den Bundestag zu kommen, dafür aber einer potenten westdeutschen Regionalpartei die Möglichkeit bot, mit einer verwandten neuen Bewegung in Ostdeutschland eine Listenverbindung einzugehen. Siehe BVerfGE 82, 322, 339-347 u. H. Meyer, Die Wiedervereinigung und ihre Folgen vor dem Forum des Bundesverfassungsgerichts, Festschrift "50 Jahre Bundesverfassungsgericht", 2001, Bd. 1 S. 83 (89-92). 7 §§ 18-33 PartG. 2
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schließlich die Geschäftsordnungen, all das macht die politische Klasse selbst. Das unterscheidet sie von den anderen staatsfinanzierten Berufen. Daher macht es einen Sinn, die beamteten Staatssekretäre nicht einzubeziehen. Es gibt aber auch eine strukturelle Besonderheit, die die politische Klasse sowohl von den anderen staatsfinanzierten Berufen wie von den politikbezogenen Berufen im Privatbereich unterscheidet. Das ist ihre spezielle Verfassungsbindung.
II. Die Verfassungsbindung der politischen Klasse und die Gegenkräfte Anders als die anderen, vor allem die gesellschaftlichen Politikakteure ist die politische Klasse in einem besonderen Maße verfassungsgebunden. Ihre Tätigkeit entfaltet sich im staatlichen Raum und ihre Mitglieder sind Adressaten besonderer staatlicher, verfassungsgebundener Pflichten. Der Titel der Veranstaltung und mein Thema bringen es hinreichend deutlich zum Ausdruck. Die Bindung an die Verfassung trifft die politische Klasse insbesondere dort, wo die Verfassung ihr aufgibt oder sie doch ermächtigt, ihre eigenen Verhältnisse zu regeln. Die unmittelbarsten Direktiven enthält die Verfassung in den Organisations- und Kompetenzregeln für die einzelnen Organe, denen die Mitglieder der politischen Klasse angehören. Zu den vielfältigen Funktionen, die zum Beispiel der deutsche Bundestag hat, gehört auch die Wahl der Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Ob diese Funktion vom Bundestag, also dem Plenum, auf einen Ausschuß mit befreiender Wirkung delegiert werden darf, und sei es auch aufgrund eines Gesetzes, ist eine Frage, die die Verfassung selbst beantwortet - so sollte man jedenfalls meinen. Die Organisations- und Kompetenzregeln sind in der Regel eindeutig, gelegentlich sind sie aber auslegungsfähig. Bei der Auslegung sind auch allgemeine Grundprinzipien der Verfassung wie zum Beispiel das Demokratieprinzip zu beachten. Im übrigen gelten die üblichen Regeln der Verfassungsauslegung. Dabei ist mit besonderer Vorsicht dem Argument der legitimierenden Wirkung einer eingefahrenen Staatspraxis zu begegnen. Das läßt sich an einem sehr harmlosen Beispiel gut dartun. Nach Artikel 82 GG sind Gesetze zu veröffentlichen. Der Haushaltsplan ist durch Gesetz festzustellen und Bestandteil des Gesetzes, das ihn feststellt. Er wird aber traditionell nicht im Gesetzblatt veröffentlicht. Das Bundesverfassungsgerichts hat dies gegen den Wortlaut und den Sinn des Artikel 82 GG als langdauernde Staatspraxis gleichwohl akzeptiert, obwohl es ein Leichtes ge8
Siehe BVerfG 20, 56, 92/93.
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wesen wäre, den Staat zu verpflichten, den Haushaltsplan, der selbstverständlich auf andere Weise veröffentlicht wird, als Bundesgesetzblatt Teil III zu etikettieren. Die Vorsicht ist darum angebracht, weil, wie noch zu zeigen sein wird, in vielen Konstellationen eines verfassungswidrigen Verhaltens der politischen Klasse es an einem möglichen Kläger fehlt, der Verfassungsbruch also ungesühnt bleibt und das Verhalten nicht korrigiert werden muß. Es gibt also durchaus auch eine verfassungswidrige Staatspraxis; sie ist im hier behandelten Bereich keinesegs so selten, daß man sie vernachlässigen könnte. Die Grundprinzipien binden die politische Klasse auch unmittelbar. So verpflichtet zum Beispiel die Festlegung auf den Rechtsstaat die Mitglieder der politischen Klasse, auch bei Entscheidungen in eigener Sache das geltende Recht zu beachten, auch wenn es von ihnen selbst stammt. Schließlich sind die Mitglieder der politischen Klasse durch die Verfassung nach Art. 21 GG auch darin gebunden, wie sie das Recht der politischen Parteien, also der an sich dem Privatrechtsstatut unterfallenden Organisationen gestalten, denen sie regelmäßig ihren Eintritt in die politische Klasse verdanken und über die sie ihrerseits auf die Willensbildung im Volke einzuwirken versuchen. Ausstrahlungswirkungen wird man auch für die Behandlung der politischen Stiftungen annehmen müssen; hier geht es vor allem um Finanzierungsfragen. Wie schon ein bloßer Hinweis auf die vielfältigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung zeigt, ist es keineswegs selbstverständlich, daß die politische Klasse diese Bindung freudig akzeptiert. Eher kann man davon sprechen, daß sie geneigt ist, Spielräume auch dort anzunehmen, wo die Verfassung keine kennt, und ihre Interessen auch dort durchzusetzen, wo die Verfassung und das von ihr selbst gesetzte Recht es ihnen nicht erlaubt. 9 Die dominierende Auslegungsmaxime der politischen Klasse scheint zu sein, es dürfe jedenfalls ihr kein Schaden entstehen. Woher kommt die Unlust, sich an die Regeln zu halten. Ich sehe zwei Gründe. Der eine liegt im Lebensziel des Politikers, seine politischen Vorstellungen möglichst umzusetzen. Das geht im wesentlichen nur über die Eroberung von Machtpositionen: das Parlamentsmandat, die Mandatsmehrheit im Parlament, eine Regierungsposition oder doch eine der Führungspositionen im Parlament. All das gelingt nur im Wettbewerb mit den konkurrierenden Parteien und mit den Konkurrenten im eigenen Lager. Will man gewinnen, muß man einen Wettbewerbsvorteil haben. 9 Zur Parteifinanzierungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe J. lpsen in M. Sachs (Hrsg.), GG 2. Aufl. 1999, Art. 21 RN 112-144.
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Der zweite Grund liegt darin, daß die Mitglieder der politischen Klasse in der Regel in einer wesentlichen Phase ihres Lebens Politik zu ihrem Beruf machen. Wenn schon die durchschnittliche Dauer der Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag sich auf annähernd zehn Jahre beläuft und wenn das Eintrittsalter in den Deutschen Bundestag im Durchschnitt sicher nicht unter 40 Jahren liegt 10, dann verbringt der Politiker einen wesentlichen und wohl auch den fruchtbarsten Teil seines Arbeitslebens in der Politik und ist regelmäßig für seinen eigenen und den Unterhalt seiner Familie auf die Finanzen angewiesen, die aus dieser Tätigkeit fließen. Da die zehn Jahre in einer entscheidenden Phase des Lebens liegen, liegt es nahe danach zu trachten, zu jener Hälfte der Mitglieder des Parlaments zu gehören, die möglichst eine sechzehn- oder zwanzigjährige Mitgliedschaft erreichen. 11 Da dies in der Regel nicht die Wähler bestimmen, sondern die vorschlagenden Parteien, kommt es also auf die Kandidatur in einem "sicheren Wahlkreis", in jedem Fall auf die Absicherung durch einen sicheren Listenplatz an. Dies verlangt die Durchsetzung in der Partei. Der Einfluß im Parlament wächst mit dem Aufstieg in Führungspositionen. Gelegentlich sind sie zugleich mit einer markant höheren Dotierung verbunden, ein weiteres normales Ziel einer Berufskarriere. Besonders attraktiv ist die Position des parlamentarischen Staatssekretärs. Die Möglichkeit, Funktionszulagen außerhalb des Fraktionsvorsitzes zu verteilen, die im Abgeordnetengesetz des Bundes angelegt ist und offensichtlich auch gewünscht war, hat durch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem thüringischen Fall einen Dämpfer erlitten. 12 Schon die ersten Reaktionen aus dem Deutschen Bundestag zeigen aber, daß man nicht geneigt ist, diese Entscheidungen ohne weiteres für den Bundestag zu akzeptieren. 13 Auch die Ziele, die nur 10 Siehe die Angaben in dem außerordentlich verdienstvollen, von P. SchindZer besorgten und 1999 auf den letzten Stand gebrachten "Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999", dort Kapitel 3.4 (S. 571 zur mittleren Zugehörigkeitsdauer; der Tabelle S. 569 ist zu entnehmen, daß 1990 die zehn jüngsten Abgeordneten zwischen 34 und 39 Jahren waren; siehe auch S. 561). 11 Das Datenhandbuch (s. Fn. 10) weist S. 587/8 für die 13. Wahlperiode (19941998) die Zahl von 34 Abgeordneten mit mindestens 25jähriger Mandatsdauer aus. 12 Urteil vom 21.7.2000 (2 BvH 3/91), NJW 2000, 3771 ff., in einem thüringischen Fall aus dem Jahre 1991 (!). Das Gericht toleriert die in Thüringen gesetzlich geregelten Zulagen nur für Fraktionsvorsitzende und - wie schon im I. Diätenurteil BVerfGE 44, 296 ff. - für die Parlamentsspitze. Da es die Kriterien aus Art. 38 Abs. 1 GG ableitet, dessen Grundsätze es über Art. 28 Abs. 1 Satz I GG auch für die Länder als verbindlich erklärt, trifft die Regelung nicht nur die Parlamente anderer Länder, sondern auch den Deutschen Bundestag. Einige Länder haben über die genannten Funktionsträger hinaus die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen, die Ausschußvorsitzenden und sogar die Vorsitzenden von Fraktionsarbeitskreisen mit Zulagen bedacht. Siehe die Darlegung bei H. H. v. Amim, Diener vieler Herren. Die Doppel- und Dreifachversorgung von Politikern, 1998, S. 218 f.
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über die eigene Partei oder über die eigene Fraktion verfolgt werden können, sind nur über Wettbewerb zu erreichen. Auch hier kommt es darauf an, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Da man in weiten Bereichen Herr über die Arbeitsbedingungen und über die finanziellen Leistungen des Staates an die politische Klasse ist, gibt es auch einmütige Versuchungen, nämlich das Los der politischen Klasse insgesamt zu verbessern. Daß man durch eine nicht unbeträchtliche staatliche Parteienfinanzierung auch extremistischen Parteien ermöglicht, sich einen Apparat zu schaffen, ist ein sicherlich nicht gewollter, aber in Kauf genommener Nebeneffekt, und man hat gelegentlich den Eindruck, daß der von einigen Seiten so vehement verfochtene Verbotsantrag gegen die NPD sich nicht zuletzt auch aus den Überlegungen speist, die Finanzierung eines unliebsamen und wahrlich ärgerlichen Konkurrenten zu beseitigen. Insgesamt wird man wohl sagen können, daß es einen latenten Druck der politischen Klasse gegen die Bindungen gibt, die unmittelbar aus der Verfassung oder aus verfassungsgeschützten Gesetzen folgen. 111. Demokratie und politische Klasse Welche Anforderungen die Demokratie an die politische Klasse stellt, läßt sich nur bei einer möglichst exakten Erfassung dessen klären, was das Demokratieprinzip des Grundgesetzes meint. Demokratie ist nicht Selbstbestimmung des Volkes über sich. Es macht wenig Sinn, bei einer Menge von Menschen von Selbstbestimmung zu sprechen. Selbstbestimmung läßt sich nur auf das jeweilige Individuum beziehen. Demokratie ist ein Prinzip zur Organisation von Herrschaft und Herrschaft hat immer auch mit Fremdbestimmung zu tun. Es geht schließlich nach Artikel 20 II 1 GG die Staatsgewalt vom Volk aus. Demokratie ist die Beteiligung aller- des Volkes- an der Willensbildung des Herrschaftssystems Staat. Dieses Beteiligungsrecht hat einen Wert an sich. Es wurzelt in der Würde des einzelnen Menschen, der dem Volk angehört. So hat es das Bundesverfassungsgericht schon in einer frühen Entscheidung, nämlich in dem KPD-Verbotsurteil gesehen. 14 Erst das macht es verständlich, daß wir die Beteiligung weder vom Maß der Betroffenheit von staatlichen Entscheidungen abhängig machen noch von der geistigen Kapazität noch von den Beiträgen, die die Einzelnen etwa über ihre Steuerleistung dem Staat zukommen lassen. Aus dieser Herleitung 13 Die ersten Äußerungen parlamentsnaher Autoren - der eine ist, der andere war in der Bundestagsverwaltung tätig - versuchen der Unwilligkeil eine argumentative Grundlage zu geben: S. Hölscheidt, DVBI. 2000, 1734 ff. und G. Kretschmer, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2000, 787 ff. Über Umgehungsgeschäfte in Thüringen berichtet die FAZ v. 23.1.01. 14 BVerfGE 5, 85, 204/205.
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des Prinzips folgt die strikte Gleichheit der Einzelnen bei der Ausübung des Mitwirkungsrechts, also bei der Wahl oder bei Volksabstimmungen. Aus dieser Wurzel der Demokratie, der Würde des Menschen, folgt auch, daß die Freiheit des Menschen mit ihr untrennbar verbunden ist. Gleichheit und Freiheit des Menschen, der Demokraten, sind also für die politische Klasse vorgegeben, wenn sie ihre eigenen Existenzbedingungen regelt. Von beiden Werten ist, legt man die obige Deutung der Haupttendenzen des Widerstandes zugrunde, die Gleichheit am gefährdetsten, weil sie das Gegenstück zum Wettbewerbsvorteil oder zum Privileg ist. Auf drei Ebenen gibt es die Versuchung der politischen Klasse oder von Teilen von ihr, Gleichheitsansprüche zu negieren. Die erste Ebene ist das Parteienrecht und hier insbesondere der Komplex der Staatsleistungen an die Parteien. Die zweite Ebene ist das Wahlrecht und die dritte das Parlamentsrecht Im Wahlrecht ist die Geltung des strikten Gleichheitssatzes durch die Verfassung vorgegeben und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts prinzipiell bestätigt. 15 Im Parteienrecht und im Parlamentsrecht haben wir keine ausdrückliche verfassungsrechtliche Vorgabe. Sie ist prinzipiell aus dem demokratischen Gedanken zu entwickeln. (I) Im Parteienrecht versucht § 5 PartG, den Gleichheitsanforderungen bei staatlichen Zuwendungen oder Zurverfügungstellung von Einrichtungen gerecht zu werden. Nach dem Grundsatz in Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift, daß alle Parteien bei solchen staatlichen Leistungen gleich zu behandeln sind, folgt die Ermächtigung, - nicht die Verpflichtung (!) - , zwischen den Parteien "nach ihrer Bedeutung" zu differenzieren. Da es keine Verpflichtung ist, dürfte der Schluß unausweichlich sein, daß der Gesetzgeber - die politische Klasse - die Differenzierung nach der Bedeutung der Partei nicht als Konsequenz des Gleichbehandlungspostulats ansieht, nämlich Ungleiches auch ungleich zu behandeln. Die abgestufte Behandlung wird vielmehr dem Ermessen der staatlichen Stellen, und in wichtigen Fällen wird es nach dem Willen der politischen Klasse gehen, anheimgegeben. Wie sehr der Gesetzgeber davon überzeugt war, daß die Abstufung der Leistungen gleichwohl der Regelfall werden würde (oder auch: sollte), zeigt sich darin, daß er sich bemüßigt sah, eine zwingende Untergrenze für Abstufungen vorzusehen. Jede Abstufung hat ihre Grenze dort, wo der Zweck der Zuwendung nicht mehr erreicht werden kann. Das ist unmittelbar einleuchtend. Ein Werbespot vor dem Wahlkampf zum Beispiel muß eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen können, wenn denn eine rationale Nachricht vermittelt werden soll. Es hätte aber nahegelegen, alle staatlichen Zuwendun15 Siehe zuletzt etwa BVerfGE 99, 69, 77 f.: Verfassungswidrigkeit der Unterwerfung kommunaler Wählervereinigungen und ihrer Dachverbände unter die Körperschafts- und Vermögenssteuer, während die politischen Parteien davon befreit sind.
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gen auf die Höhe zu beschränken, die unbedingt notwendig ist, um den Zweck zu erreichen. Dies hätte verhindert, daß der Staat in die Wettbewerbsverhältnisse der politischen Parteien untereinander eingreift. Seine Regelung ist nämlich eine Regelung zugunsten der stärkeren Parteien. Da auf ihre derzeitige Bedeutung als Kriterium für die unterschiedliche Behandlung abgestellt wird, zementiert oder stärkt die so abgestufte staatliche Zuwendung den status quo. Die Parteien im Wettbewerb sind aber immer auf eine Verbesserung ihrer Position und damit auf eine Veränderung der Relationen untereinander aus, ihre Arbeit ist also auf die Zukunft gerichtet. Am besten läßt sich das im Wahlkampf zeigen. Wo liegt die Rechtfertigung für den Staat, die bei der letzten Bundestagswahl erzielten Stimmen für die staatliche Unterstützung bei der neuen Wahl maßgeblich sein zu lassen, einer Wahl, die gerade darauf ausgerichtet ist, die Kräfteverhältnisse neu zu bestimmen und ein Urteil über die Leistungen seit der letzten Wahl abzugeben? § 5 Parteiengesetz kennt noch eine weitere Privilegierung, nämlich die der "Fraktionsparteien". Nach Absatz I Satz 4 der Bestimmung muß die staatliche Leistung für Parteien, die im Deutschen Bundestag Fraktionsstärke haben, mindestens die Hälfte der am besten dotierten Partei ausmachen. Man kann getrost davon ausgehen, daß sich hier der Koalitionscharakter unserer Bundesregierungen und parlamentarischer Mehrheiten niederschlägt. Der kleinere Partner bedarf der Schonung und wird dazu weder absolut noch in der Relation gleich behandelt, sondern gegenüber dem Normalfall privilegiert. Zudem ist die Regelung Ausdruck eines oligopolistischen Verhaltens. Die Verpflichtung gilt nämlich nicht nur für Bundesleistungen, sondern auch für kommunale oder Landesleistungen. In den Ländern, geschweige denn in den Kommunen kann aber eine Partei mit einer Bundestagsfraktion völlig unbedeutend sein. Zur Zeit ist es ein gravierendes Privileg für die FDP, die in vielen Ländern, teilweise schon des längeren, ohne parlamentarische Repräsentanz ist, und im Westen Deutschlands neuerdings auch ein Privileg für die PDS. Schließlich wirft die Bestimmung ein schlechtes Licht auf die Praxis des deutschen Bundestages, der PDS auch im letzten Bundestag den Fraktionsstatus zu versagen und ihr einen dem Fraktionsstatus nur angenäherten Gruppenstatus zu geben. Dazu aber später.
Die jetzige Parteienfinanzierung ist nach dem Schwenk des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Parteienfinanzierung nicht mehr als Wahlkampfkostenerstattung ausgewiesen, sondern als Finanzierung "der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit". Diesen Schwenk hatte das Bundesverfassungsgericht vorgenommen, weil die Parteien durch das als Nadelöhr gedachte Schlupfloch, das das Gericht in früherer Rechtsprechung in die Mauer des generellen Verbots staatlicher Finanzierung der politischen Parteien gelassen hatte, ganze Kamelherden durchgetrieben und
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die These von der bloßen Wahlkampffinanzierung ad absurdum geführt hatten. Das Gericht kapitulierte und erfand etwas Neues zur Begrenzung des Finanzhungers der politischen Parteien, nämlich eine relativ absolute Obergrenze für die staatliche Finanzierung aller Parteien, 16 die das Parteiengesetz zur Zeit auf 245 Millionen DM ausgelegt hat. Aber auch wie bei der neuen Parteienfinanzierung gibt es eine Bonus für den status quo; die DM I ,30, die alle Parteien für jede Listenstimme bis zu 5 Millionen Stimmen jährlich erhalten, spiegeln die Zustimmung des Volkes zu der Partei in der Vergangenheit wider. Daß zudem der Wähler nicht gefragt wird, ob er die Partei, die er wählt, auch finanziell vom Staat unterstützt sehen will, ist vielleicht nicht nur ein Schönheitsfehler. Warum die Stimmen des ersten und aller weiteren Wähler über 5 Millionen nur eine DM wert sein sollen, ist kaum zu verstehen, wenn man das System an sich akzeptiert; hier scheinen die kleineren Parteien den großen den Schneid abgekauft haben. Ein Sonderkapitel ist die staatliche Finanzierung der parteinahen Stiftungen. So löblich manche der Aktivitäten sind, ist doch der Eindruck nicht zu unterdrücken, daß es sich funktionell um eine Art Neben-Parteifinanzierung handelt. Das Bundesverfassungsgericht wird sich der Sache noch annehmen müssen. Die Parteien stehen nicht nur miteinander im Wettbewerb, sondern in Ländern und Kommunen auch mit Wählervereinigungen, die zum Teil beträchtliche Stimmenzahlen erreichen, was man nicht wüßte, wenn man sich nur auf die Presseberichterstattung verlassen würde. Hier hat es lange gedauert, bis das Bundesverfassungsgericht die politische Klasse Schritt für Schritt zur Korrektur einer lange gepflegten Diskriminierung verpflichtete!7 (2) Die Wahlen haben nach Art. 38 I 1 GG im Bund und nach Art. 28 I 2 GG in den Ländern und Kommunen gleich zu sein. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht dieses Gleichheitsgebot zum einen zeitlich von der Vorbereitung der Wahl über die Wahlbewerbung und die Wahlwerbung bis zur Feststellung des Wahlergebnisses und zu eventuellen Nachrückproblemen und zum anderen personell von den Wahlvorschlagsberechtigten, den politischen Parteien und Wählervereinigungen, über die Wahlbewerber bis zu den Wählern erstreckt und zugleich verfügt, daß Gleichheit in diesem Bereich strikt aufzufassen ist, und diese Striktheit nur unter ganz bestimmten Bedingungen gelockert. Im Wahlrecht liegt es besonders nahe, die wahlsystematische Gestaltung so vorzunehmen, daß sie einem selbst nutzt. Denn nirgendwo sonst wird im Staat Macht so zählbar verliehen wie durch die Wahl. Die kleinen und 16 17
BVerfGE 85, 264, 285 ff. Zur letzten Korrekturverpflichtung siehe Fn. 15.
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großen Versuche, den Gleichheitsanspruch anderer zum eigenen Gunsten zu verkürzen, sind außerordentlich zahlreich. Ich muß mich daher auf einige markante Fälle beschränken. Die klarste Verletzung des Gleichheitssatzes liegt bei einem Verhältniswahlsystem, das wir nach § I BWahlG haben, in der Einführung von Sperrklauseln. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Eingriff in die Wahlgleichheit bei den Staatsparlamenten toleriert, weil es sie zur Erhaltung der Stabilität des Regierungssystems für notwendig hielt. Es hat sie prinzipiell auf 5% beschränkt und gelegentlich durchblicken lassen, daß die angenommene Gefahr auch der Überprüfung bedarf. Das haben die politischen Parteien überhört. 18 Für die Kommunalparlamente hat das Gericht in einem frühen nordrhein-westfälischen Fall die 5 %-Sperrklausel ebenfalls toleriert, freilich mit dem dunklen Hinweis auf das Städtekonglomerat im Ruhrgebiet und den daraus von ihm angenommenen Homogenitätsnotwendigkeiten gegenüber der Landespolitik. 19 Nachdem einige Länder ohne Sperrklausel schon über längere Zeit nachgewiesen hatten, daß eine Gefahr in den Kommunen ernsthaft nicht besteht, haben die Landesverfassungsgerichte die Anforderungen an die Zulässigkeit von Sperrklauseln im Kommunalbereich erheblich verschärft. 20 Parallel dazu gingen die Bestrebungen der jeweils kleineren Koalitionspartner einer Landesregierung, aus eigennützigen Gründen die Streichung der Sperrklausel zu betreiben und waren damit, wie zuletzt in Hessen, auch erfolgreich.21 Besonders skandalös war die vom Bundesverfassungsgericht schließlich für verfassungswidrig erklärte Lösung des Einigungsproblems im Wahlrecht. Das Ziel der Gestaltung war eindeutig. Der PDS und selbstverständlich allen anderen gerade neu gegründeten kleineren Parteien der ehemaligen DDR sollten, nachdem die Blockparteien von den Westparteien CDU und FDP vereinnahmt waren, über die Sperrklausel der Weg in den Deutschen Bundestag versperrt werden, zugleich aber nahestehende Parteien huckepack über die Hürde genommen werden dürfen.Z2 Ich kann mich an die mündliche Verhandlung in Karlsruhe gut erinnern; die Vertreter der Parteien saßen, soweit sie es nicht vorgezogen hatten, fernzubleiben, unter dem tiefen Eindruck, den insbesondere die Vertreter der Bürgerbewegungen hinterließen, wie ertappte Schulbuben auf ihren Plätzen. 18 Zur Sperrklausel s. H. Meyer, Wahlgrundsätze und Wahlverfahren, HdbStR Bd. II ( 1989), § 38 RN 26-28. 19 BVerfGE 6, 104, 114 ff. 20 Siehe zuletzt Urteil des Verfassungsgerichtshofes NW vom 6. Juli 1999, DVBI. 1999, 1271 f. 21 Siehe H. Meyer, Kommunalrecht in Meyer/Stolleis (Hrsg.), Staats- und Verwaltungsrecht für Hessen, 5. Aufl. 2000, S. 204. 22 Siehe auch Fn. 6.
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Ein besonderes Kapitel sind die Überhangmandate. Sie hatten bei der Wahl 1994 dem Bundeskanzler Kohl eine satte Mehrheit gebracht, obwohl er nach dem Zweitstimmenergebnis nur eine Mehrheit von einer Stimme hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Pattentscheidung die entsprechende Bestimmung des Bundeswahlgesetzes gehalten, wobei die jeweils vier Stimmen direkt entlang der Grenze zwischen den Parteien anfielen, die die Richter vorgeschlagen hatten. Die obsiegende Hälfte kann für sich in Anspruch nehmen, ein Wahlgesetz toleriert zu haben, bei dem der Wähler mit seiner Zweitstimme Gefahr laufen kann, der Partei, die er wählt, ein Mandat abzunehmen.Z 3 Ich würde nicht behaupten, daß man die Verfassungsrichter deswegen auch zur politischen Klasse im Sinne des Referates zu zählen hätte, aber ganz gelegentlich ist der Eindruck übermächtig, daß sie sich so benehmen. Es ist keine Genugtuung für die Verfassung, aber nicht ohne Ironie, daß in einem scheinbaren Anflug von Gerechtigkeit dasselbe Phänomen vier Jahre später dem Bundeskanzler Sehröder ebenfalls eine sicherere Mehrheit gebracht hat, als ihm nach dem Zweitstimmenergebnis zustand. Der Kerngedanke der obsiegenden Hälfte des Gerichts im Urteil über die Überhangmandate hat denn auch nur so lange gehalten, solange in Bonn nicht die Gefahr einer Delegitimierung oder Schmälerung der Machtbasis bestand. Schon kurz nach dem Urteil hat das Gericht einmütig das Nachrükken beim Tode eines direkt gewählten Abgeordneten in Baden-Württemberg, in dem die CDU bei 37 gewonnenen Direktmandaten zwei Überhangmandate erzielt hatte, entgegen dem Wortlaut des Bundeswahlgesetzes und der langjährigen Praxis des Deutschen Bundestages ausgeschlossen.Z4 Nach Ansicht des Gerichtes haben also diejenigen zwei Direktkandidaten ein "Überhangmandat", die als erste ausscheiden. 25 Nach der Haltung der obsiegenden Hälfte der Richter, die ja dem Überhangmandat eine eigenständige Legitimation zugebilligt, ist nicht einzusehen, daß es für ihn keinen Nachfolger geben sollte.Z6 Der Brandenburgische Verfassungsgerichtshof hat sich der Rechtsprechung kürzlich angeschlossen. 27
23 Siehe BVerfGE 95, 335, 343 und die Rechnung im einzelnen bei H. Meyer, Der Überhang und anderes Unterhaltsames anläßlich der Bundestagswahl 1994, KritV 1994, 312, 321-323. 24 BVerfGE 97, 317- 331. 25 Eine Begründung dafür fehlt, ist auch schwerlich zu erbringen. Immerhin haben 35 der 37 Direktgewählten je ein Listenmandat verdrängt; bei ihnen läßt das Gericht das Nachrücken eines Listenkandidaten zu (a. a. 0. S. 329). Die unterlegene Hälfte im Überhangmandats-Urteil hatte noch akribisch nachgewiesen, daß der Überhang bei den Listenmandaten anfällt (BVerfGE 95, 335, 380 f.). 26 Die Bundesregierung hatte mit der Behauptung, "die vom Beschwerdeführer angestrebte (Teil-)Kompensation (sc. für die Überhangmandate) bilde einen ersten
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Im Parlamentsrecht bedarf das Gleichheitsgebot der Ableitung. Warum müssen Abgeordnete grundsätzlich gleich behandelt werden und Minister nicht? Niemand hindert den Gesetzgeber, Senior- und Juniorminister mit unterschiedlicher Entlohnung einzurichten oder den Bundeskanzler besser zu bezahlen als die Minister, obwohl sie alle Mitglieder des Kabinetts sind und alle nur eine Stimme dort haben? Der Grund liegt in der Funktion, die die Abgeordneten in der demokratischen Legitimationskette haben. Sie gelangen auf Grund einer durch Gleichheit gekennzeichneten Wahl des "Volkes", nämlich der sich an der Wahl beteiligenden Stimmbürger, in ihre Stellung. Jeder von ihnen repräsentiert prinzipiell die gleiche Zahl von Wählern. Das gilt auch für die Inhaber der Direktmandate, die ja - bis auf die schon behandelten Überhangmandate - auf das Zweitstimmenreservoir der jeweiligen Partei angerechnet werden. Da sie das gleiche Gewicht der Wähler hinter sich haben, müssen sie, wenn die Gleichheit der Stimmbürger einen Sinn haben soll, die gleiche Stellung im Parlament haben. Die "Gleichheit der Wahl" setzt sich, wie das Bundesverfassungsgericht in der letzten Entscheidung zu den Thüringer Funktionszulagen schreibt, "in der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten fort. " 28 Auf die Probe gestellt wird das Parlament in seiner Haltung zum Gleichheitsanspruch aller Mitglieder, wenn es ungeliebte Mitglieder und Zusammenschlüsse gibt. Man kann nicht behaupten, daß der Deutsche Bundestag die Probe bestanden hätte; das Bundesverfassungsgericht freilich auch nicht vollständig. Es geht um die Verweigerung des Fraktionsstatus für die POS/ Linke Liste nach der ersten gesamtdeutschen Wahl. Sie hatte in der ehemaligen DDR, für die eine eigene 5-Prozentklausel galt, über ll% der Zweitstimmen erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag konzediert, er sei frei in der Entscheidung, dem Zusammenschluß der Abgeordneten den Fraktionsstatus zu verweigern, wenn er ihm nur wesentliche Fraktionsrechte gewähre, was zum Teil geschehen war, zum Teil auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschehen mußte. Falls nicht die Arbeitsfähigkeit des Parlaments leidet, ist es aber wegen des Gleichheitsanspruchs der Parlamentarier nicht erlaubt, unterSchritt hin zu einem reinen Verhältniswahlrecht ... " (a. a. 0 . S. 32011) durchaus Recht. 27 Siehe Berliner Zeitung v. 13.10.2000. 28 BVerfG (s. Fn. 12), NJW 2000, 3771 , 3773. In jüngeren Entscheidungen (E 84, 304, 325 u. 96, 264, 278) hatte der Zweite Senat die These vertreten, der Gleichheitsanspruch jedes Abgeordneten lasse sich allein auf den in Art. 38 Abs. l Satz l GG geregelten "repräsentativen" Status zurückführen. Mit der letzten Entscheidung wird diese These jedenfalls für die Behandlung von Entschädigungsansprüchen der Abgeordneten ausdrücklich aufgegeben und wie in der älteren Rechtsprechung der Gleichbehandlungsanspruch auch in Art. 38 Abs. l Satz 2 GG (Gleichheit der Wahl) fundiert.
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schiedliche Formen des Zusammenschlusses mit unterschiedlichen Rechten vorzusehen, es sei denn, daß der Zusammenschluß die Rechte nicht ausüben kann, weil er zahlenmäßig zu klein ist. Nach dem neuen ins Abgeordnetengesetz inkorporierten Fraktionsgesetz, das erhebliche Sonderrechte für Fraktionen vorsieht, wäre eine solche Haltung erst Recht unzulässig?9 Die Gleichheit der Abgeordneten spielt auch eine Rolle bei der schon erwähnten Entscheidung von Mitte dieses Jahres zu den Thüringer Funktionszulagen. Das Gericht hat sie nur für Fraktionsvorsitzende akzeptiert, für stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Fraktionsgeschäftsführer und Ausschußvorsitzende jedoch für verfassungswidrig gehalten, weil sie in die Gleichheit und in die Freiheit der Abgeordneten eingriffen. Weil es sich bei dem vom Gericht konzedierten Empfanger von Funktionszulagen, dem Parlamentspräsidenten, seinen Vertretern und den Fraktionsvorsitzenden um eine geringe Zahl handle, sei der Eingriff in die Gleichheit gering, was mir freilich nicht einleuchtet. Außerdem ist die Stellung der stellvertretenden Parlamentspräsidenten sowohl nach dem Recht als in meinen Augen auch nach der Praxis relativ unbedeutend, 30 so daß das einzige Argument, das das Gericht noch akzeptiert, die bedeutende Stellung, nicht gegeben ist. Die Entscheidung für ihre Gleichstellung mit dem Parlamentspräsidenten war freilich schon in der ersten Diätenentscheidung - und auch da ohne eigentliche Begründung - gefallen. Damit kommen wir zur leidigen Frage der Abgeordnetenentschädigung und der sonstigen Leistungen an Abgeordnete sowie an Kabinettsmitglieder. Dieses Thema berührt aber weniger Gleichheitsfragen als strukturelle Fragen und werden daher im abschließenden Kapitel über die "Ansprüche des Rechtsstaats an die politische Klasse" behandelt.
IV. Ansprüche des Rechtsstaats an die politische Klasse Die primitivste Anforderung des Rechtsstaatsprinzips an die politische Klasse ist, daß sie sich an die für sie verbindlichen Regeln zu halten hat, auch wenn es ihr anders besser gefiele. Ein schönes Beispiel souveräner Mißachtung der Verfassung liefert die oben schon erwähnte Wahl der Hälfte der Bundesverfassungsrichter. Obwohl das Grundgesetz sagt, daß der Deutsche Bundestag sie zu wählen hat, also das Plenum und daher unter Beteiligung aller Abgeordneten und politischen Richtungen in einem öffentlichen Verfahren, werden sie nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz Siehe zum Ganzen H. Meyer (s. Fn. 6), Bd. I S. 83 (101- 104). Das wird von einem Kenner der Parlamentspraxis bestätigt: G. Kretschmer, Das Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts (21. Juli 2000): Vom "fehlfinanzierten" zum "fehlverstandenen" Parlament? ZParl 2000, 785, 789. 29
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von einem Wahlausschuß von 12 Mitgliedern des Deutschen Bundestages mit Zweidrittelmehrheit gewählt, und zwar in einem Verfahren, das entgegen Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG geheim bleiben soll. Das ist so offenkundig verfassungswidrig, daß man sich wundert, daß das Gericht nicht selbst schon darauf gekommen ist. Kein Mensch würde es für zulässig erachten, wenn der Deutsche Bundestag ein Gesetz über das Gesetzgebungsverfahren machte oder die Angelegenheit in der Geschäftsordnung regelte und bestimmte, daß Gesetze zu bestimmten Materien nur von einem Unterausschuß des Deutschen Bundestages beschlossen werden, und zwar in einem nichtöffentlichen Verfahren. Abgesehen von dieser eindeutigen Rechtslage wäre es sehr verwunderlich, wenn der Deutsche Bundestag nicht in der Lage wäre, ein adäquates, die persönliche Integrität des Kandidaten schützendes Verfahren vorzusehen. Sollte das Volk wirklich keinen Anspruch darauf haben, zu erfahren oder wenigstens erfahren zu können, wes Geistes Kind ein Kandidat für ein so wichtiges und machtvolles Verfassungsorgan ist? Manche wunderliche Personalentscheidung wäre uns ebenso erspart geblieben wie die selektive "Hinrichtung" potentieller Kandidaten kraft gezielter Indiskretion in der Presse. Strukturelle Vorgaben der Verfassung, die durch das Rechtsstaatsprinzip vor Umgehung geschützt sind, ergeben sich auch aus der Staatsorganisation. Der interessanteste Versuch, sich von solchen Bindungen zu befreien, ist der weithin unbeachtet gebliebene Coup, die Fraktion zur juristischen Person zu erheben und zudem festzulegen, sie übe keine öffentliche Gewalt aus (§ 46 AbgG). Der Fraktionsausschluß ist dann wohl private Gewalt, eine kuriose Vorstellung bei einem notwendigen Bestandteil des Parlaments, das ja wohl immer noch ein Staatsorgan und kein privater Verein ist. Würde es ernsthaft jemand für zulässig halten, daß der Bundessicherheitsrat der Bundesregierung zur juristischen Person erklärt würde, er Finanzierungsansprüche gegen den Bund gesetzlich verbrieft erhielte, Personal im eigenen Namen einstellen dürfte und zudem seinen Mitgliedern Funktionszulagen bezahlen könnte? Schwieriger als solche einfachen Verfassungsbindungen sind die aus dem Rechtsstaatprinzip abzuleitenden Transparenzgebote bei Entscheidungen, die die politische Klasse zum eigenen Gunsten trifft und treffen muß. Das betrifft insbesondere die Finanzierung der politischen Klasse. Hier geht es nie ohne Aufgeregtheilen zu. Die politische Klasse hat allen Anlaß in sich zu gehen und zu überlegen, ob sie an diesen Aufgeregtheiten nicht selbst ein großes Maß an Schuld trägt. Das Hauptaugenmerk wird meist auf die Höhe der Abgeordnetenentschädigung gelenkt. Die Probleme liegen meines Erachtens aber nicht dort, sondern in den anderen Bereichen, nämlich bei der Kostenpauschale, bei Doppelentschädigungen und bei der Versorgung. Sie liegen auch bei der vom Abgeordnetengesetz vorgesehenen Vollentschä-
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digung für das Wahlkreisbüro. Im Prinzip ist dagegen nichts einzuwenden, weil die Arbeit im Wahlkreis - übrigens auch Listenabgeordnete haben Wahlkreisbüros - durchaus auch zu den parlamentarischen Aufgaben gehört. Es ist aber nicht zu verkennen, daß ein Wettbewerbsproblem mit nichtparlamentarischen Konkurrenten anderer Parteien im Wahlkreis besteht. Dem Staat ist es jedenfalls untersagt, dem Kandidaten für die nächste Bundestagswahl den Wahlkampf zu finanzieren. Daher wird man hier nur eine unbedingt notwendige Ausstattung des Wahlkreisbüros für die eigentlich parlamentarische Arbeit bei der Kostenpauschale ansetzen können. Das Kritische an der Kostenpauschale ist, daß die Abgeordneten anders als andere Berufe von jeglichem Nachweis freigestellt sind und ihre Aufwendungen nicht als Werbungskosten geltend machen müssen, also bestenfalls von ihren Einkünften abziehen können, sondern die Aufwendungen zu 100 Prozent einkommensteuerfrei erstattet bekommen. Da sich die Auslagen schwerlich korrekt quantifizieren lassen, ist der Verdacht einer indirekten Erhöhung der Entschädigung, die wegen der Steuerfreiheit der Kostenpauschale opulent sein kann und im Bund ist, nicht von der Hand zu weisen. Ich halte die Privilegierung gegenüber anderen Berufen für gleichheitswidrig. Zudem kommt ein zweiter Verdacht auf, dem die politische Klasse nicht entgegenwirkt, das ist der Verdacht, daß sowohl Entschädigungshöhe als auch die Höhe der Kostenpauschale etwas damit zu tun haben, daß die Abgeordneten einen überproportionalen Teil ihrer Einnahmen an ihre politische Partei, meist auf allen drei Stufen abzuführen haben. Dies ist eindeutig verfassungswidrig, weil es sich um eine verdeckte Parteienfinanzierung handelt. Die politische Klasse müßte den Mut haben, gesetzlich festzulegen, daß die Abgeordneten an ihre politische Partei keine höheren Abgaben zu leisten haben, wie andere Parteimitglieder mit entsprechendem Verdienst. Was die Versorgungsregeln angeht, so ist der Hang, an die Versorgungsregeln des Beamtenrechts sich anzulehnen, unübersehbar. Aus strukturellen Gründen sollte die politische Klasse jedoch Wert darauf legen, diesen Eindruck zu zerstören. Am ehesten würde dies dadurch geschehen, daß die Abgeordneten ihre Versorgung selbst zu organisieren haben und dafür ihre Entschädigung entsprechend angehoben wird. Was schließlich die Kombination von halber Abgeordnetenentschädigung und Amtsgehalt aus einer zweiten Funktion angeht, also bei Kanzler oder Ministerpräsidenten, Ministern oder - im Bund - parlamentarischen Staatssekretären, so scheint die Funktion mittlerweile ausschließlich darin zu bestehen, zu höheren Einkünften für die Amtsträger zu kommen, als das Amtsgehalt selbst ausweist. Selbst die entschädigungssteigerungsfreudige Kommission "Zur Reform der Besoldung und Versorgung von Regierungsmitgliedern in Bayern und Nordrhein-Westfalen", die vor kurzem ihre Vor3 v. Amim
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schläge vorgelegt hat, ist der Ansicht, daß eine Bezahlung aus dem Abgeordnetenmandat für die genannten Funktionsträger keine Plausibilität hat, da sie das Abgeordnetenmandat ernsthaft praktisch nicht ausüben können; man muß hinzufügen, in einzelnen Teilen auch rechtlich nicht auszuüben in der Lage sind. Wie sollte ein Minister als Abgeordneter Kritik an der Regierung, geschweige denn an sich selbst üben können? Die Kontrolle der Regierung ist aber eine der Hauptfunktionen des Abgeordneten. Damit kommt man zur entscheidenden Frage nach der angemessenen Höhe der Entschädigung. Ich stehe nicht an zu sagen, daß die Entschädigung selbst und auch ihre Erhöhung bei Wegfall der genannten Ungereimtheiten und Schleichwege mir unproblematisch erscheint. Das Problem besteht darin, einen adäquaten Maßstab zu finden. Warum das für Regierungsmitglieder oder Ministerpräsidenten unter anderem gerade der chirurgische Chefarzt einer Universitätsklinik sein soll, wie das die genannte Kommission unter anderem vorschlägt, bleibt mir unerfindlich. Vielleicht hat sie daran gedacht, daß es zur Aufgabe der Politik gehört, auch unangenehme Einschnitte in die Unversehrtheil eines Besitzstandes vorzunehmen. Anders als bei dem Klinikchef gelingen diese Eingriffe aber in der Regel nur mangelhaft. So daß sich daraus wieder eine erhebliche Kürzung gegenüber dem Klinikereinkommen ergäbe. Da wäre es schon eher plausibel, die Schauspielereinkommen als Maßstab zu nehmen, denn der politische Mensch muß - wie übrigens Professoren - eine Menge schauspielerischer Leistung erbringen und dabei vergessen lassen, daß er schauspielert. Das Abgeordnetengesetz des Bundes hat als Maßstab für die Entschädigung das Gehalt des Bundesrichters im Visier. Er wird aber nicht seiner Freiheit wegen - das einzige, das ihn mit dem Abgeordneten verbindet -, bezahlt, sondern wegen seiner Arbeit, die nun wirklich unvergleichbar mit der Abgeordnetentätigkeit ist. Herr von Arnim hat in seiner Kritik an dem Gutachten darauf hingewiesen, daß eine erhebliche Erhöhung der Amtsgehälter von Ministerpräsidenten und Minister zu einer generellen Anhebung des Besoldungsgefüges im öffentlichen Dienst führen müsse. Dahinter steckt mir ein wenig der Gedanke eines pyramidalen Aufbaus der nahtlos von der höchsten Beamtenebene, der Staatssekretärsebene, in die Ministerebene übergeht. Ich halte das nicht für zwingend, obwohl die Ministergesetze in der Regel oder auch alle die Kopplung der Ministerbezüge an die Beamtenbesoldung kennen. Der Grund ist aber sicherlich gewesen, auf diese Art und Weise die kontinuierlichen eigenständigen Besoldungserhöhungen zu vermeiden. Die Anbindung ist also eher schiitzoTig als strukturell gedacht. Man sollte also ruhig die hälftige Abgeordnetenentschädigung, die der Abgeordneten-Minister zu seinem Ministergehalt bezieht, durch eine entsprechende Erhöhung des Ministergehalts ersetzen. Wofür ich freilich mit Herrn von Arnim kei-
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nerlei Verständnis habe, ist der Versuch der genannten Kommission, auch die Kostenpauschale in ihrem wegen der Steuerfreiheit verdoppelten Wert nun auf einmal als Zusatzbestandteil des Minister- und Ministerpräsidentengehalts zu nehmen. Was die Versorgungsregeln der Kabinettsmitglieder angeht, so würde es der Transparenz sicherlich dienen, wenn auch dieser Personenkreis auf die private Beschaffung eines Versorgungsschutzes verwiesen würde. Auch dafür wäre ich für eine großzügige Besoldung, die zumindest bei den größeren finanzstarken Ländern weit über dem derzeitigen Amtsgehalt liegen müßte. Es ist jedenfalls, und hier ist der Kommission zuzustimmen, ein unhaltbarer Zustand, daß die Kabinettsmitglieder tatsächlich erheblich mehr verdienen, als das Amtsgehalt ausweist und nur Eingeweihte dies wissen können und auch wissen, wie sich die einzelnen Bestandteile zusammensetzen. Dem Transparenzgebot, das aus rechtsstaatliehen Gründen bei der notwendigen Art der Selbstversorgung greift, entspricht die jetzige Behandlung des ganzen Komplexes nicht. Fragt man nach den Möglichkeiten einer Remedur, so sehe ich sie realistischer Weise im prozessualen Bereich. Da das System insgesamt dazu neigt, die verfassungsrechtlichen Bindungen in eigenen Angelegenheiten gering zu schätzen, sollte man sich überlegen, in Angelegenheiten der politischen Klasse eigene Verfassungsstreitigkeiten vorzusehen, da man nicht erwarten kann, daß die Mitglieder der politischen Klasse in eigenen Angelegenheiten und gegen ihre Interessen die Chance zur verfassungsgerichtlicher Klärung nutzen werden. Dies wäre durch eine Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes möglich. Eine Verfassungsänderung würde voraussetzen, wenn man für die Gesetzgebungsfunktionen in eigenen Angelegenheiten ein Sonderparlament wählen ließe, für deren Besetzung strikte Inkompatibilitätsregeln zu Lasten der politischen Klasse zu gelten hätten.
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Politische Klasse, Parteienstaat und Korruption Von Klaus von Beyme Ausblicke auf die gesellschaftliche Entwicklung der Zukunft teilen sich auf in: Anpreisung der Segnungen von Globalisierung und Europäisierung oder in die Ausmalung von Horrorszenarien über die negativen Folgen solcher Prozesse. Dieser Beitrag gehört zum zweiten Typ von Szenarien. Er wird jedoch nicht von der hohen Warte normativer Besserwisserei aus unternommen. Es geht vielmehr um die kühle analytische Untersuchung der negativen Folgen von Globalisierung, Technisierung und Kommerzialisierung auf die politischen Systeme. Wo von einer "Korruptionsgesellschaft" gesprochen wird, bleibt dies ein problematisches Etikett. Es wird weder unterstellt, dass die postmoderne Gesellschaft insgesamt korrupt ist, noch wird behauptet, dass frühere Gesellschaften nicht korrupt waren. Wo in der populären Literatur eine universale Verschlechterungstheorie angewandt wird, ist meist übersehen worden, dass in den Regimen der Vergangenheit die nationalen Leitfiguren von Bismarck bis Hindenburg alle unter Vorwürfe der Bereicherung gerieten. Damals ging es nicht um 100000,- DM, sondern um veritable Rittergüter. Erst wenn wir die typischen Formen negativer Begleiterscheinungen analysiert haben, Jassen sich Vorschläge für eine sinnvolle Gestaltung der Zukunft ableiten, welche den Depravationen Einhalt gebieten. Was geleistet werden muss, ist die historisch gewordenen Formen der Korruption zu analysieren. In einer vormodernen Gesellschaft, wo alles über persönliche Beziehungen abgewickelt wird, kann es keine Korruption geben. Sie tritt als Verletzung von Normen erst auf, als ein professioneller Verwaltungsapparat mit einem spezifischen Ethos entstanden war (von Alemann 1992). Als die Beamtenschaft sich herausgebildet hatte, galt sie vielfach als die "saubere Seite" des politischen Systems, während die Abgeordneten als Gesetzgeber in ständiger Bestechungsgefahr lebten. Der Frühparlamentarismus, der schon nach dem Mehrheitsprinzip funktionierte, aber noch nicht ein klares Parteiensystem entwickelt hatte, das dauerhafte Mehrheiten organisierte, war auf Korruption angewiesen: unter Walpole in England, unter Guizot in Frankreich, unter Depretis in Italien. In Italien wurde das System fließender Mehrheiten, das vom Premier nach Belieben ausgenutzt wurde, mit dem vielsagenden Ausdruck "trasformismo" belegt. Die
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Klaus von Beyme
Transformation und damit die Manipulation der Mehrheiten wurde von der Not in eine Tugend umdefiniert. Die Theorie der virtuellen Repräsentation des ganzen Volkes - auch in einem rotten borough - hat Normverletzungen erleichtern helfen: sich durch Gefälligkeiten des Premierministers mit seiner Stimme "einkaufen" zu lassen galt nicht als anrüchig, solange es der Mehrheitsbeschaffung diente. Damals konnte immer argumentiert werden, dass wenn die Mehrheit zerbrösele, "der Feind" die Macht übernehme. Es war eine Epoche, in der die Vorstellung der altemierenden Regierung noch nicht internalisiert war. Auch in Kohls Begründung für seine Finanzaffairen tauchte das Argument noch auf, dass die Unionsherrschaft gegenüber den Sozialdemokraten, welche die Einheit nicht wollten, gesichert werden müsse. Der historische Exkurs war nötig, um zu zeigen, dass der Parteienstaat der Modeme nicht nur Nachteile für die Korruptionsbekämpfung hatte. Bedenklich erscheint es freilich, wenn korrupte Bräuche des Frühparlamentarismus in der gefestigten parlamentarischen Demokratie, die von der altemierenden Regierung lebt, wieder auftauchen.
I. Die politische Klasse Dem Schutz vor Korruption der politischen Elite dienen nicht nur Gesetze und Offenlegungsvorschriften, sondern auch ein Amtsethos. Auch wenn mit dem Elitenbegriff nicht unterstellt wird, dass die jeweils moralisch Integersten herrschen, ist gleichwohl eine normative Anforderung an die Machtinhaber herangetragen: sie sind dem Gemeinwohl verpflichtet, und haben dies durch Amtseid bekräftigt. Gemeinwohl ist eine normative regulative Idee, die nach Ausgleich von Interessen und nach Mindestanforderungen an eine gerechte Gesellschaft sucht. Gerechtigkeit wurde daher von den Neo-Kontraktualisten der liberalen Rawls-Schule als Ausdruck vorgezogen. Er ist eher prozedural als inhaltlich konzipiert. Er zielt auf "Fairness". Man kann ihn nicht essentialistisch an bestimmten Inhalten festmachen, auf die eine weltanschaulich gespaltene Gesellschaft sich schwerlich einigen kann. Zwei Konzeptionen der Gemeinwohl-Herstellung haben in Europa seit 200 Jahren um Einfluss gerungen: • die radikale französische Konzeption einer volonte generale, die Gerechtigkeit durch Teilnahme der Bürger erzeugen soll, • und die britische Konzeption - die als "semantischer Coup des Liberalismus" bezeichnet wurde (Münkler u. a. 2000: 90 f.) - welche seit Adam Smith das Gemeinwohl aus dem konkurrierenden Eigennutz der Individuen entstehen sieht.
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Keine der beiden Konzeptionen hat sich exklusiv in der modernen Demokratie durchgesetzt. Das Gemeinwohl wurde theoretisch weitgehend verdünnt: • entweder als das "öffentliche Interesse", das die Juristen untersuchten. Es wurde inzwischen aus der patemalistischen Fürsorgetradition herausgenommen und einem demokratischen Diskussionsprozess zugeführt. Es spielt vor allem bei Enteignungen und Kommunalreformen eine zentrale Rolle, • oder es wurde inhaltlich desaggregiert. Übrig blieb dann ein partielles Gemeinwohl in Form von Sozial-, Umwelt- oder Naturverträglichkeit. Die politische Elite als Akteure werden an diesen Minimalstandards gemessen. In dem Aspekt der politischen Klasse verstoßen jedoch die Eliten ständig durch offensichtlichen Eigennutz gegen diesen Anspruch. Das ist umso gravierender, als die politische Elite nur die entscheidungsrelevanten Spitzen der Hierarchie umfasst, während die politische Klasse auch Hinterbänkler im Parlament und untergeordnete Chargen in der Parteiorganisation mit einschließt. Der Eigennutz der politischen Klasse hat sich in neuerer Zeit mit zwei neuen Tendenzen gezeigt: • Einmal wird die "Parteiräson" gelegentlich wieder über die "Staatsräson" gestellt. Es wurde für notwendig erklärte, Gelder am Fiskus vorbei für die Organisation zu retten, nachdem die Zuwendungen der Geldsammleranlagen, als "staatsbürgerliche Vereinigungen" mit "sweet sounding names" verschönt - illegalisiert worden sind. • Zum anderen wird eine neue Binnenmoral den allgemeinen Rechtsregeln entgegen gesetzt. Nach dem Vorbild traditioneller "ehrenwerter Gesellschaften" wird ein angebliches Ehrenwort für höherrangig erklärt als Recht und Gesetz. Anhand dieser neueren Tendenzen ist es möglich, dem "System Kohl" einige systematische Kennzeichen abzugewinnen, die nicht bloß individualpsychologische Erklärungen versuchen. Der Schlüssel dazu ist der Wandel des Parteienstaats.
II. Der Wandel des Parteienstaats Moralisierende Kritik am Parteienstaat, wie sie selbst einem Soziologen wie Erwin Scheuch (2000: 15) unterlief, verbunden mit dem Lamento, wir bekämen belgisehe Verhältnisse, ist wenig hilfreich. Scheuch erklärte den Wandel aus der Entwertung der Mitglieder, die im Vergleich zu den Wählern für die Parteien zweitrangig geworden seien und aus der Tatsache, dass man in der Wettbewerbsdemokratie nur "Körbe von Politikern" und nicht einzelne herausragende Gestalten wählen könne. Wir können erklären,
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Klaus von Beyme
warum in Belgien Auswüchse der Korruptionsgesellschaft besonders weit verbreitet sind: der Zerfall des Staates durch Reethnisierung der Landesteile hat die Schaffung mehrerer binnenmoralischer Subsysteme befördert. Dieser Aspekt fehlt in Deutschland. Es gibt jedoch funktionale Äquivalente im Gruppenkonflikt Sie werden durch den strukturellen Wandel der Parteien von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien unterstützt. Kohl als Person war dabei nur ein Katalysator, wenn auch ein wichtiger Akteur in einem säkularen Wandel der Parteien von den Volksparteien zu den professionalisierten Wählerparteien. 1. Kohls historisches Verdienst ist nicht die deutsche Einheit, wie die Lobredner glauben machen wollen. Diese hätte letztlich auch Lafontaine vollziehen müssen. Kohls Verdienst ist die gewaltige nachholende Modernisierung seiner Partei vom Kanzlerwahlverein zu einer modernen Massenmitgliederpartei. Die Fähigkeit Kohls zum kommunikativen Durchgriffe bis auf jeden Ortsverein hatte als Nachteil die klientelistische Abhängigkeit, die bei vielen Hintersassen geschaffen wurde. Adenauer ging ungern in "Nasse Strasse", wo sein Parteihauptquartier lag und regierte qua "Richtlinienkompetenz". Kohl hat die Koordinationsdemokratie vor allem als Parteichef ermöglicht, und widerstrebende Flügel seiner Partei, eine dissentierende CSU und einen widerspenstigen Koalitionspartner FDP ständig zusammen zu halten. 2. Die Schaffung der Massenmitgliederpartei hat jedoch nicht zur Parität mit den früher besser organisierten Sozialdemokraten geführt, weil beide einem weiteren Wandel unterlagen. Die Herausbildung von professionalisierten Wählerparteien hat in CDU wie SPD neue Einfallstore für Einflüsse und möglicherweise für Korruption geschaffen: • Es bildeten sich neue soziale Milieus heraus, welche die politische Klasse durch die Professionalisierung stärkte. • Die abnehmende Repräsentation von Gruppen und sozialen Schichten, ließ die Responsivität gegenüber Gruppenwünschen ad hoc wachsen. • Die Mitglieder einer politischen Elite wurden zunehmend zu "entrepreneurs" mit staatlicher Absicherung ihres Betriebsrisikos durch öffentliche Parteifinanzierung. • Die Professionalisierung der Wahlkämpfe und die Bedeutung der Medienexperten hat die schlichten Mitglieder der Partei funktionslos gemacht. Sie sind allenfalls als Botschafter ihrer Partei in sozialen Milieus noch von Bedeutung. Ihre Beiträge können eine Partei allenfalls zur guten Hälfte als Organisation sichern. • Die Medialisierung des politischen Wettbewerbs führte zu wachsendem Finanzbedarf der Parteien. Der Zwang zur Kombination der besten Seiten
Politische Klasse, Parteienstaat und Korruption
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beider Welten zu einer schlechten Lösung: Hohe staatliche Subventionen wurden mit den Steueq>rivilegien kombiniert, welche die angelsächsischen Länder in ihrer weniger etatistischen Tradition kannten. • Kommerzialisierte Beziehungen zu den Medien ließen die eigenen Bemühungen er Parteien um organisationsgesteuerte Medien erlahmen. "Outsourcing" schien billiger, wurde aber teuerer, weil der Faktor "Arbeit" bei den Parteimitgliedern nicht mehr abgerufen und auch zunehmend weniger angeboten wurde. Parteimitglied ist weniger als früher auf direkte Mitwirkungswünsche der Bürger abgestimmt. Wenn die Ideologieverbundenheit abnimmt und der organisatorische Einsatz für die Gruppe schwindet, konnte es bei der Parteiführung zu "gemeinschaftsstiftenden Akten der bewussten Regelübertretung" kommen (Münkler u. a. 2000: 93). Die Gemeinschaftsstiftung durch Binnenmoral scheint leidlich zu funktionieren. Es kam nach den Finanzskandalen nicht zu einer Massenaufkündigung der Loyalität. Die Union wurde in den ersten Landtagswahlen mit maximal zwei Prozent "Liebesentzug" abgestraft. Eine kleine Verteuerungswelle - die der Ökosteuer angelastet wird - kann sogar eine moralisch am Boden liegende Partei vorübergehend im Stimmungsbarometer wieder auf Platz eins katapultieren. Diese Form der Identitätsstärkung erinnert an die Gepflogenheiten der Transformationsländer. Die Nomenklatur-Privatisierung des früheren Staatseigentums wurde gelegentlich positiv bewertet, weil erfahrene Verwaltungseliten privatwirtschaftliche Strukturen schafften. Ohne sie wäre das Staatseigentum ganz in die Hände mafioser Gruppen gefallen, die keinerlei Interesse an der Erhaltung von Strukturen hatten. Der Amerikaner Thompson (1995: 7) hat parallele Entwicklungen im Congress als Entwicklung von der "individuellen" zur "institutionellen Korruption" genannt. Nur selten wurde auch in Deutschland den Akteuren wie Kiep persönliche Bereicherung vorgeworfen. Das System Kohl schien weitgehend frei davon. Es war gekennzeichnet durch eine exklusives Interesse an der Macht. Geld schien eine geringe Rolle zu spielen im Leben von Politikern, die für das Billigste auf der Speisekarte schwärmen (Saumagen), bescheiden in Oggersheim wohnen bleiben (Giscard zu Besuch in Helmut Schmidts Hamburger Reihenhaus soll gesagt haben, dass man das "Understatement" auch "übertreiben" könne) und an einem Österreichischen See einfallslosen Familienurlaub machen, während eine große Zahl von Bürgern zur Abenteurer-Urlauben in der Dritten Welt aufbricht. Ehe ein Verdammungsurteil über den Parteienstaat und die politische Klasse im allgemeinen, und die deutsche Korruption im besonderen gesprochen wird, sollten zunächst einmal vergleichend eine paar Forschungsdaten herangezogen werden.
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Klaus von Beyme 111. Die Korruptionsgesellschaft
Der Bevorzugung des Begriffs politische Elite empfiehlt sich auch, weil das Phänomen der Korruption die politische und die Verwaltungselite umfasst. Die Verwaltungselite ist in die Netzwerke der politischen Elite eingebunden. Aber sie gehört nicht zur "politischen Klasse". Eine "Dieselbigkeit der Revenüen" lieg~ nicht vor. Die Verwaltungselite teilt mit den Politikern nicht die Begünstigung der Privilegien im Parteienstaat Im Gegenteil, sie sieht überwiegend dem munteren Treiben des Parteienstaats mit Unwillen zu. Es erscheint wie eine Störung im geordneten Amtsbetrieb der Verwaltung. Aber Korruptionsanfälligkeit gibt es auch in der Verwaltung. Hier ist sie jedoch noch stärker individuelle und weniger institutionelle Korruption. Durch die Verklammerung der Verwaltungseliten mit Interessengruppen und politischer Elite im Prozess der Entscheidung, kann sie jedoch auch in die "institutionelle Korruption" hineingezogen. Das gilt inzwischen auch für die Spitzenposten der Verwaltung von Parteien, insbesondere die Schatzmeister. Objektive Daten über Korruption sind naturgemäß rar. Daher wird überwiegend mit Befragungen und der Konstruktion subjektiver Indices im Vergleich gearbeitet. Die objektiven Daten erfordern Recherchen bei den Justizbehörden über Anklagen, Verurteilungen und Strafmaße in Korruptionsfällen. Der United Nations Survey on Crime Trends and Operations of Criminal Justice Systems" hat manche dieser Daten verarbeitet. Ein Korruptionsindex sollte drei Informationen enthalten (Lambsdorff 2000): 1. Die Häufigkeit korrupter Tauschhandlungen, 2. Summe der Bestechungsgelder, die geflossen sind, 3. Der gesamte Vorteil, der den Beteiligten durch Korruption erwachsen ist. Die subjektiven Daten über Korruption beziehen sich auf die Selbst- und Fremdeinschätzung von Gruppen. Sie hat als objektives Substrat allenfalls die Medienberichterstattung. Da Medien auf sensationelle Nachrichten aus sind, können die Bürger die Korruption im System sogar überschätzen, falls die Medien ihre Aufgabe als kritisch und enthüllend verstehen, wie in Amerika. Zudem kann das Durchschnittsurteil kaum hinreichend verarbeiten, wo über Korruptionsverdacht berichtet wurde, und wo bereits der Beweis erbracht worden ist. Da nutzt auch die gebetsmühlenartige Vorsichtsklausel deutscher Medien über den "mutmaßlichen" Täter nichts. Im Volksmund bleibt etwas hängen, auch wenn es prozessrechtlich gesehen, bei "mutmaßlich" blieb. In Deutschland wurde in einer Studie 1994 bei 500 Angehörigen der Wirtschaftselite herausgefunden, dass 63% die Wirtschaft für sauberer als
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die Politik hielten. 32% waren der Ansicht, dass beide Subsysteme in diesem Punkt gleich schlimm seien, und nur 4% glaubten dass es in der Wirtschaft noch schlimmer zugehe als in der Politik. Der Befund passt lückenlos zu der Erfahrung allgemeiner Studien über das Verhältnis der Elitensektoren, dass eine große Fremdheit herrscht zwischen politischer und Wirtschaftselite. Die Politiker halten die Wirtschaftler nicht für gemeinwohlorientiert, die Wirtschaftler die Politiker hingegen für Ideologen mit geringem ökonomischem Sachverstand (Abromeit 1981 ). Die Studie von Scheuch (2000: 242) hat ihren besonderen Wert durch die Zahlen über die Aufdeckung von Korruptionsfällen: 51% wurden dem Zufall, 20% der Ehefrau, 19% den Wirtschaftsprüfern und 10% der Firmenleitung zugeschrieben. Bei einem festgestellten Schaden von 33 Millionen DM kam es nur zu ca. 3 Millionen DM Strafen. Der "Zufall" ist die erklärungsbedürftige Rubrik. Es würde mich wundem, wenn Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter die Ehefrauen an Aufklärungseifer gegenüber Verfehlungen ihres Chefs nicht noch überträfen. Eine Analyse der Korruption in der öffentlichen Verwaltung in Deutschland (Liebt 1992) wurde für 717 Beschuldigte durchgeführt. Man wunderte sich über die "peanuts", die Bestechungen ermöglichten. Nur bei 2.8% der Amtsträger waren Summen über 50000,- DM im Spiel. Neben der Gewinnmaximierungskorruption spielte eine Verdrängungskorruption, eine Finanzierungskorruption, eine Auflagenkorruption, eine Grenzkontrollkorruption, eine Leistungskorruption, eine Genehmigungskorruption (Aufenthalte und Arbeitserlaubnisse) eine Rolle. Das Bauwesen, Stellen die über Aufenthaltsund Arbeitsgenehmigungen entscheiden und das Wehrbeschaffungswesen erwiesen sich als Schwachstellen in der Verwaltung. Alle diese Formen der Korruption vollzogen sich jedoch überwiegend als individuelle Prozesse und unterhalb der Ebene einer politischen Klasse. Bei hohen Summen konnten jedoch auch Mitglieder der politischen Elite involviert sein. Eine Studie der Weltbank in 69 Ländern unter 3600 Unternehmern ergab, dass 40% der Unternehmer regelmäßig Schmiergelder für bestimmte staatliche Leistungen zahlten. Die Bandbreite des Korruptionsgrades reichte von 60% (GUS) bis zu 15% (OECD-Länder) (World Bank 1997: 41). Das Moralbewusstsein ist überwiegend in Ordnung. Die Unerwünschtheil von Korruption ist in der westlichen Welt akzeptiert. Auch unter Subsystemischen Aspekten wird als volkswirtschaftlicher Schaden erkannt, was für den Einzelbetrieb betriebswirtschaftlich vorteilhaft sein mag. Die quantitativen Befunde über Korruptionshäufigkeit sind waren unter 20 Ländern für Deutschland nicht besonders günstig: das Land stand hinsichtlich seiner "Sauberkeit" nur an 12. Stelle, nach den skandinavischen Ländern, Neuseeland und Kanada, Singapur, den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien. Die USA standen nur kurz hinter Deutschland (vgl. Tabelle).
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Klaus von Beyme
Rang
Land
Wert '97
Wert '96
Wert '95
Zahl der ausgewerteten Umfragen
10,0
9,33
9,32
6
I
Dänemark
2
Finnland
9,8
9,05
9,12
6
3
Neuseeland
9,4
9,43
9,55
6
4
Schweden
9,4
9,08
8,87
6
5
Kanada
9,2
8,96
8,87
6
6
Singapur
9,1
8,80
9,26
10
7
Niederlande
9,0
8,71
8,69
6
8
Norwegen
8,9
8,87
8,61
6
9
Schweiz
8,9
8,76
8,76
6
10
Australien
8,7
8,60
8,80
6
II
Großbritannien
8,6
8,44
8,57
7
12
Deutschland
8,0
8,27
8, 14
6
13
USA
7,5
7,66
7,79
7
14
Israel
6,8
7,71
-
5
15
Frankreich
6,6
6,96
7,00
6
16
Spanien
6,6
4,31
4,35
6
17
Japan
6,0
7,05
6,72
9
18
Slowenien
6,0
-
-
19
Belgien
5,3
6,84
6,85
20
Namibia
5,3
-
-
6
Nach Transparency International
Die ersten 20 Länder in der Rangliste für Korruptionswiderstand
Je höher der Punktwert, umso weniger Korruption wird wahrgenommen
Während die klassische Wachstumstheorie der Korruption für das Wachstum nicht nur negative Wirkungen zuschrieb, kam die neo-institutionelle Theorie-Schule von North und anderen zu schlechteren Ergebnissen: mangelnde Qualität der Institutionen an der Schnittstelle von Wirtschaft und
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Politik sind auch wachstumshemmend. Die traditionellen Annahmen besagen: die ärmsten Länder sind die korruptesten. Die reichen Länder haben qualifizierte und gut bezahlte Beamte, die weniger korruptionsanfällig sind. Aber in einer Mehrebenenanalyse sind die Beziehungen komplizierter. Wer Panzer an Saudi-Arabien verkaufen will, ist nicht notwendiger Weise für sich selbst korrupt, sondern will damit eine bestimmte Außenpolitik fördern. In modernen Staaten wird "speed money" eingesetzt, um die Behördenwege abzukürzen. Aktive Bestechung wird gelegentlich von Politikern als Mittel zur Steigerung der "Effizienz" ihrer Politik billigend in Kauf genommen. Was bei der Aufdeckung von Politikern zur Begründung ihrer begrenzten Handlungsrationalität als Vorteile dieses "abweichenden Handelns" vorgebracht wird, hat im Licht einer volkswirtschaftlichen Rationalität jedoch schwere Nachteile: • Die Transaktionskosten erhöhen sich. Produktive Unternehmen zahlen und verdrängen den schwächeren Mittelstand, der keine Gelder zahlen kann. • Es kommt zur falschen Allokation der Ressourcen: Schmiergelder lenken Mittel in hochtechnisierte Bereiche, in denen Korruption schwer aufzudecken ist. 15% aller Ausgaben werden im Militärsektor getätigt (Tanzi 1998). Diese Gelder fehlen dann für die Ausbildung, ohne dass damit die Notwendigkeit von Green Cards für Computerspezialisten schlicht auf Korruptionsfolgen zurückgeführt werden sollen. • Die Flucht von Geld in die Schattenwirtschaft vermindert das Staatseinkommen. Die schlechte Nachricht der Korruptionsforschung lautet, dass die Zusammenhänge von Wirtschaftswachstum und Korruption noch nicht geklärt seien. Eindeutig abgelehnt wird Korruption als Speed money, wo die Gegenleistungen unklar sind, und der Erfolg unsicher bleibt. (Obinger 2000: 98 ff.). Gibt es gesicherte Regeln über das Wachstum der Korruption? 1. Bei der Korruptionsbekämpfung zeigte sich, dass arme Politiker nicht notwendiger Weise korrupter sind. In Italien (Cazzola 1988: 62) hat man diese Regel partiell bestätigt. Die eher mittelständischen Parteien wie Republikaner und Liberale waren zwar weniger involviert als einige große Parteien. Aber die damaligen Kommunisten hatten häufiger die "mani pulite" (sauberen Hände) als einige bürgerliche und sozialistische Politiker, die gern von ihnen sprachen, schon weil sie weniger Macht im System vor 1994 besaßen. 2. Erwiesen ist, dass eine Betreuungsökonomie (economia assistita) in Wirtschaft, Verteidigung, Bauwesen und Müllentsorgung korruptionsanfälliger erscheint als andere Bereiche.
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3. Wo Bürgermeister eine starke Stellung besitzen, steigt die Korruptionsgefahr (Frankreich, Italien). Mit dem Übergang zum bonapartistischen Direktwahlsystem der Bürgermeister in Norddeutschland könnten Popularität aber auch Korruptionsanfälligkeit zugleich gesteigert werden. Wo ethnische und funktionale Gruppen im Clinch liegen, kann Korruption so allgemein werden, dass Edward Banfield (1961: 257) als bekannter Einflussforscher zu dem Schluss kam: "some corruption is inevitable in a City like Chicago", weil die Stadt sonst unregierbar wäre. 4. Schließlich ist die Internationalisierung der Wirtschaft ein Einfallstor wachsender Korruption. Fremde Investoren sind mit einheimischen Regeln nicht vertraut, oder fühlen sich weniger an sie gebunden. In Deutschland begann es mit einem nationalen Skandal: Bonner Lobbyisten hatten Frankfurt als Hauptstadt ausgestochen. Der Untersuchungsausschuss endete mit dem Satz, der stereotyp für deutsche Untersuchungsausschüsse wurde: dass Zahlungen nachweisbar sind, dass aber kein direkter Zusammenhang zwischen Zahlungen und Entscheidungen konstruiert werden könne. Die späteren Korruptionsskandale hatten alle eine internationale Dimension wie HS30-Schützenpanzeraffaire, 1980, Lockheed 1983, Flick 1983. Im LockheedSkandal verlor Prinz Bernhard in den Niederlanden seine Ämter, in Japan und Italien wurden Politiker verurteilt. Franz Josef Strauss kam ungeschoren davon. Sein Sohn muss sich noch heute mit den Folgen unkonventionellen Verhaltens seines Familienklans rechtlich herumschlagen. 5. Die Korruptionsanfälligkeit wächst, wenn Politiker als Individuen handeln können, unabhängig von ihrer Partei. Individuelles Verhalten als Einzelunternehmer war in USA und Italien am verbreitetsten. Die Fraktionsdisziplin ist gering. Ein Abgeordneter in Amerika verdankt der Industrie in seinem Wahlkreis mehr als seiner Partei und seinem Präsidenten. Auch bei uns wächst die Tendenz der Risikominderung durch Individualisierung der Geldverteilung, wie Christine Landfried (1990: 291) gezeigt hat. In der Spielbank-Affaire in Niedersachsen hat Felsenstein 10000,- DM an die Parteikasse geschickt. Der Rest wurde unterhalb der Rechenschaftsgrenze gestückelt an einzelne vergeben. Die Anonymisierung wächst wieder: der Briefumschlag ersetzt die Überweisung. Die Internationalisierung erleichtert die Geldwäsche, wie sie über ausländische Stiftungen erfolgt ist (z. B. Zusammenarbeit der Naphtali-Stiftung in Israel mit der Friedrich Ebert-Stiftung.
IV. Wie bekämpft man die Tendenzen der Korruptionsgesellschaft? 1. Nicht mit pauschaler Verketzerung des Parteienstaats. Die Parteidisziplin hat auch ein paar Vorteile, wie wir im historischen Rückblick sahen. Diese müssen vielleicht durch striktere innerparteiliche Kontrollen eher
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aus- als abgebaut werden. Auch nicht durch Abbau der öffentlichen Parteifinanzierung. Auch Erwin Scheuch hat vor einer solchen Konklusion gewarnt. 2. Die Untersuchungsausschüsse müssen mit ihrer quasi-richterlichen Kompetenzfülle "amerikanisiert" werden, wenn sich die Korruptionsformen "amerikanisieren". Der KPD-Abgeordnete Renner hat 1951 ein richtiges Wort im Hauptstadtbestechungsskandal hinterlassen: "Es kreißt der Berg und gebiert eine Maus" (BT 1951: 5849 C). Die Minderheitenrechte im Mehrheitsparlamentarismus sind durchaus noch ausbaufähig. Erwin Scheuch hat die Beschränkung des Einflusses der Parteien verlangt. Dem ist zuzustimmen, soweit die Parteien die Medien, den Rest von "Gas-undWassersozialismus" er kommunalen und staatlichen Betriebe, und sogar ein Teil des Schulwesens durchdrungen haben. Die Unabhängigkeit des Abgeordneten gegen die Fraktion zu stärken, mag Vorteile haben. Für den Abbau von Korruption scheint mir dies jedoch ein zweischneidiges Hilfsmittel zu sein. Es wurden ferner die Änderung der Kandidatenaufstellung, die Sicherstellung vielfältigerer Repräsentanz der Gesellschaft, die Ermunterung von Kandidaturen Parteiloser. Mancher verspricht sich die Lösung vom System der Vorwahlen nach amerikanischem Muster - ohne Kenntnis wie verödend diese auf die normalen Wahlen wirken, und dass der korrupte "Platzhirschtyp" bei Primaries eher mehr als weniger Chancen zum Sieg erhält. Da steht schließlich die Forderung nach einer Mindestdauer von Berufserfahrung, auch von Scheuch in die Debatte gebracht. Vor allem die I 0 Jahre Berufserfahrung sind schwer zu kontrollieren. Wer's nicht glaubt schau in Kürschners Handbuch über Kohl: er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft in Heidelberg, er hat für einen Verband gearbeitet. I 0 Jahre Berufserfahrung kann Kohl nachweisen. Alle seine Tätigkeiten waren jedoch Nebenbeschäftigungen eines Mannes, der schon als Student Vollblutpolitiker gewesen ist. Die einseitige Repräsentation in Parlamenten ist schwer abzubauen. Quoten wurden nur im Fall der Frauen rechtlich akzeptiert. Das Volk hat trotz seiner Kritik an der politischen Klasse diesen Wandel übrigens akzeptiert. Nur 8-15% der Befragten bestanden darauf, dass Arbeiter von Arbeitern, Katholiken von Katholiken, oder Frauen von Frauen vertreten werden. 3. Verhinderung des Ausbaus einer abgehobenen Stellung der politischen Klasse, durch Verminderung der Machtansammlungen im System, wie Kohl sie bewirkt hat. Dazu wäre vor allem einer Verhinderung von Dauerherrschaft wichtig. Diese sollte freilich nicht schematisch nach einem grünen Vorschlag vorgenommen werden. Amerika hat die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf acht Jahre nach der Dauerherrschaft Roosevelts eingeführt, und beginnt an der Weisheit dieser Regelung zu zweifeln. Die USA leiden zur Zeit daran, dass ein durchaus fähiger und geschätzter Präsi-
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Klaus von Beyme
dent dem Wahlkampfzweier Kandidaten zusehen muss, die weniger souverän und kompetent wirken. Die Dauerherrschaft Kohls war zum Teil auch ein Produkt der Einheit. Die Union hätte sonst vermutlich spätestens 1994 die Wahlen verloren. Die alternative Regierungsweise muss ein wenig beschleunigt werden. Freiwillige Verzichtsankündigungen sind dabei hilfreich, wenn sie nicht so früh erfolgen, wie unlängst bei Sehröder mit seiner Ankündigung von "acht Jahren". Vor einer rechtlichen Begrenzung der Amtszeiten muss gewarnt werden. Hätte man Adenauer 1957 - auf dem Höhepunkt seiner Erfolge - verzichten lassen sollen? Zu den Regeln des parlamentarischen Systems würde eine Begrenzungsklauseln auch noch weniger passen als zum dualistischen präsidentiellen System, in dem der Präsident nicht als parlamentarischer Oppositionsführer sozialisiert worden ist. 4. Letztlich wird die Mobilisierung der Bürgertugend gegen das Verfallslaster beschworen (Noack 1998, Meny 1996). Eine starke öffentliche Meinung kann ganz sicher die Schließung der Lücke zwischen Idealen und Institutionen beschleunigen. Dazu sind investigative Medien nötig, die brutal - wie Larry King Life - den Präsidenten unterbrechen und fragen "What's your point, Mr. President? Die bloße Privatisierung einiger Kanäle hat die Tendenz zur Hofberichterstattung auf dem europäischen Kontinent noch keineswegs abgebaut. Hier muss eher an der politischen Kultur als an den Mediengesetzen gearbeitet werden. Das bedenkliche an der Korruption im Parteienstaat der modernen Demokratie erscheint eine Entwicklung, in der die Definition des Gemeinwohls dem Staat zu entgleiten beginnt. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung muss er sich jedoch immer wieder zur Appellationsinstanz aufschwingen. Die Gemeinwohlrhetorik der Parteien eilt ständig der tatsächlichen Orientierung am Gemeinwohl voraus. Seit Huntington (1981) wurde diese Diskrepanz von Sein und Sollen als "Ivi gap" bezeichnet (ideals vs. institutions). In öffentlichen Reinigungsprozessen wird die Kluft zwischen den republikanischen Idealen und den korrupten Institutionen wieder verringert. Dabei hat eine postpuritanische Gesellschaft wie die Amerikas ein paar Mobilisierungsvorteile. Es ist zweifelhaft, dass wir uns soziale Bewegungen wünschen sollten, die sich auf "das christliche Amerika" und die "wahre moralische Mehrheit im Lande" berufen. Aber eine Betonung der ethischen Dimension des Verfassungspatriotismus könnte auch bei uns konsensfähig gemacht werden. Die hier strukturell-funktional begründeten Tendenzen zur Korruptionsgesellschaft können so gehindert werden, zur Einbahnstrasse in immer mehr "abweichendes Verhalten" einer politischen Elite einzumünden, die sich schließlich tatsächlich als "politische Klasse" in einem wissenschaftlichen Sinn konstituierte.
Politische Klasse, Parteienstaat und Korruption
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Die politische Klasse aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie Von Gebhard Kirchgässner
I. Einleitung [ 1] Traditionell spielt die politische Klasse, d. h. spielen Politiker (Regierung und Parlament), Bürokraten oder Vertreter von Interessengruppen in der ökonomischen Theorie allenfalls eine untergeordnete Rolle. Zunächst versteht sich die Volkswirtschaftslehre weitestgehend als eine Lehre von der , Marktwirtschaft', d. h. es geht darum, die auf Märkten stattfindenden Vorgänge zu erklären und die Eigenschaften der Marktergebnisse herauszuarbeiten. Paradigmatisch hierfür ist die ,Theorie des Allgemeinen Gleichgewichts', die gleichsam den Kern der ökonomischen Theorie darstellt. 1 Zwar wird durchaus gesehen, dass der Staat die Rahmenbedingungen garantieren muss, unter denen sich freiwilliger Tausch in geregelten Bahnen vollziehen kann, aber das staatliche Handeln ist nicht Teil der ökonomischen Analyse. Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür liefert W. Eucken, der zwar sehr klare Vorstellungen darüber hat, wie der Staat in den Wirtschaftsablauf eingreifen soll, um den Wettbewerb auf den Märkten funktionsfähig zu erhalten, der aber dennoch als Ökonom dies in den "Datenkranz" verweist, welcher zwar historischem Denken, aber nicht theoretischer (ökonomischer) Analyse zugänglich sei? [2] Neben dieser ,liberalen' gibt es, was das Verhältnis zwischen Bürger und Staat betrifft, in der Ökonomie auch eine andere Tradition, die sich traditionell insbesondere bei Vertretern der deutschsprachigen Finanzwissenschaft, aber auch bei vielen Vertretern der (eher angelsächsischen) modernen ,Public Finance' findet. Dort wird im Rahmen einer (häufig als ,organisch' bezeichneten) Staatstheorie der Staat gleichsam als eigenständig handelndes Subjekt betrachtet, welches danach trachtet, die allgemeine Wohlfahrt zu maximieren. 3 Noch heute ist es z. B. im Rahmen der ,Theorie optimaler Besteuerung' durchaus üblich anzunehmen, dass die politischen 1 Siehe z.B. die klassische Arbeit von K. J. Arrow und G. Debreu (1954). Zur Einführung in die Allgemeine Gleichgewichtstheorie siehe z. B. L. W. McKenzie (1987). 2 Siehe W. Eucken (1940, S. 156 ff.).
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Entscheidungsträger eine (wohldefinierte) soziale Wohlfahrtsfunktion maximieren. Die Frage, wie dies überhaupt geschehen könnte, d. h. die Analyse des Handeins der staatlichen Akteure, wird dabei volJständig ausgeklammert. [3] Historisch gesehen war eine solche Betrachtungsweise für die aus der Kameralistik entstandene Finanzwissenschaft durchaus verständlich. Solange akzeptiert wurde, dass der jeweilige Herrscher von Gott eingesetzt war, solange sich also z. B. Monarchen als , von Gottes Gnaden' berufen fühlen durften, stand außer Frage, dass hinter dem Willen des jeweiligen Herrschers das ,Gemeinwohl' steht, dem sich die staatlichen und übrigen Instanzen unterzuordnen haben. Die Wissenschaft war in einem solchen Rahmen allenfalls eine ,Kunstlehre' guten Regierens, d.h. sie suchte eine Antwort auf die Frage, wie der Herrscher regieren solle, um seine Ziele zu erreichen. [4) Diese Auffassung wurde in dem Zeitpunkt fragwürdig, als die Monarchie entweder ganz abgeschafft oder in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt wurde und an ihre Stelle die (parlamentarische) Demokratie trat. In Anknüpfung an politische Denker der Aufklärung wie z. B. Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau wurde dann gefordert, dass der Wille des Volkes die Richtschnur staatlichen Handeins sein solle, da dieses der alleinige Souverän sei. Gleichzeitig wurde unterstellt, dass in einer Demokratie durch den Prozess der Regierungsauswahl sichergestellt wird, dass die von der gewählten Regierung verfolgte Politik im Interesse der Regierten, d. h. des Souveräns, ist. Hinter dieser Auffassung, die sich heute noch in weiten Teilen der Politikwissenschaft wie auch der Ökonomie findet, stehen zwei zentrale Annahmen: Zum einen wird davon ausgegangen, dass es so etwas wie ein eindeutig definiertes (oder zumindest definierbares) Gemeinwohl gibt, und zum anderen wird angenommen, dass die Politiker von sich aus ein Interesse daran haben, durch ihre Politik dieses Gemeinwohl anzustreben. [5] Selbstverständlich dürfte heute auch in einer Demokratie kaum jemand mehr die Auffassung vertreten, dass die Politiker (ausschließlich) die gesellschaftliche Wohlfahrt anstreben; dagegen gibt es schließlich genügend Evidenz.4 Diese Annahme wird deshalb in der Theorie optimaler Besteuerung wie auch in der in der Theorie des optimalen Abbaus natürlicher Ressourcen heute in aller Regel kontrafaktisch so verstanden, dass man sie ,nur' verwendet, um eine optimale Struktur abzuleiten, an der sich dann die 3 Zur Übersicht über die moderne Public Finance siehe u. a. siehe W. F. Richter und W. Wiegard (1993), zur Kritik daran aus politisch-ökonomischer Perspektive Ch. B. Blanlum (1994). 4 Siehe z. B. H. H. v. Amim ( 1997).
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Politik orientieren könnte bzw. die den Politikern im Beratungsprozess nahegebracht werden könnte. Selbstverständlich ist ein solches Vorgehen möglich. Man gibt damit freilich den Erklärungsanspruch der ,positiven' Ökonomie auf, d.h. man folgt damit W. Eucken (1940) und verzichtet darauf, das Handeln der politischen Akteure in die ökonomische Analyse einzubeziehen. Ob solche Vorschläge, die das Eigeninteresse der handelnden Akteure nicht in Rechnung stellen, überhaupt eine Chance haben, im politischen Prozess Berücksichtigung zu finden, sei einmal dahingestellt. 5 [6] Die Grundannahmen der (neo-)klassischen Ökonomie und der finanzwissenschaftlichen Tradition mögen zwar zunächst widersprüchlich erscheinen, sie sind aber durchaus miteinander verträglich. So wurde und wird der neoklassische Ansatz häufig (und oft durchaus erfolgreich) zur theoretischen Erfassung von ,Marktversagen' verwendet. Schwerpunkte dieser Untersuchungen sind das Auftreten von Externalitäten sowie die Problematik, die mit der Bereitstellung ,öffentlicher Güter' verbunden ist. Der häufigste Anwendungsbereich ist heute die Umweltökonomik: Umweltprobleme resultieren im wesentlichen aus bei der Produktion und/oder dem Konsum von Gütern auftretenden externen Effekten, bzw. die Umweltgüter wie z. B. saubere Luft oder sauberes Wasser werden auf dem Markt nicht in hinreichender Menge und/oder Qualität angeboten. Hat man ein solches Marktversagen aufgedeckt, so scheint es zunächst nur natürlich zu sein, nach dem Staat zu rufen, damit er Abhilfe schaffe. Dass dies gelingen kann, steht außer Frage, solange man - gemäß dem finanzwissenschaftliehen Ansatz unterstellt, dass der Staat tatsächlich die soziale Wohlfahrt maximiert. [7] Auch die marxistische Theorie hat hier keine grundsätzlich andere Position. Zwar vertreten die staatlichen Akteure in diesem Ansatz keine allgemeinen Interessen, sondern jene der herrschenden Klasse, d. h. heute der Kapitalistenklasse bzw. des Monopolkapitalismus, aber wie dies vor sich geht, wird kaum untersucht. So schreibt B. Jessop zurecht: "Ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen Annahmen und Erklärungsprinzipien haben Monetaristen, Keynesianer und Marxisten die gleiche Einstellung gegenüber der Art und dem Einfluss staatlicher Eingriffe in den Ablauf kapitalistischer Wirtschaften: Im Gegensatz zur Untersuchung der Marktkräfte wird der Staat als Untersuchungsobjekt merkwürdig vernachlässigt" ( 1977, S. 353). [8] Die beiden hinter dem traditionellen Vorgehen stehenden Annahmen sind keineswegs selbstverständlich, und ihre kritische Hinterfragung führt zu zwei zentralen Problemstellungen der politischen Ökonomie: (i) Gibt es Möglichkeiten, ausgehend von den Wertvorstellungen der Bürger im Rahmen des demokratischen Prozesses zu einer zumindest konsistenten Vorstellung von Gemeinwohl zu gelangen?, und: (ii) Wie verhalten sich die 5
Zur Analyse der wirtschaftspolitischen Beratung siehe G. Kirchgässner ( 1998).
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Politiker in demokratischen Systemen, wieweit berücksichtigen sie bei ihren Entscheidungen die Vorstellungen ihrer Wähler? Bezüglich der ersten Frage hat K. J. Arrow mit seiner im Jahr 1951 erschienenen Arbeit über "Social Choice and Individual Values'' (Gesellschaftliche Entscheidungen und individuelle Werte) gezeigt, dass es keinen politischen Entscheidungsmechanismus gibt, der (unter allen Bedingungen) auch nur minimale Rationalitätsund Demokratieanforderungen erfüllt. Dies spricht nicht grundsätzlich gegen die Verwendung demokratischer Entscheidungsverfahren. Nur muss man dabei nicht nur mit inkonsistenten Ergebnissen rechnen, sondern man muss diese auch akzeptieren, wenn man die Demokratie als solche nicht gefährden will. [9] Uns interessiert hier jedoch die zweite Frage. Mit ihr hat sich zuerst A. Downs mit seiner im Jahr 1957 erschienenen "Ökonomischen Theorie der Demokratie" befasst.6 Er ging von der (aus der Retrospektive eher trivialen, aber für seine Zeit fast revolutionären) Annahme aus, dass die Politiker sich von ähnlichen (eigennützigen) Motiven leiten lassen wie alle anderen Menschen auch, bzw. dass sich die Menschen bei der Bewältigung politischer Angelegenheiten nicht grundsätzlich anders verhalten als wenn sie ihre wirtschaftlichen Probleme regeln: Sie verhalten sich, um einen Sprachgebrauch von J. Rawls aufzugreifen, ,gegenseitig desinteressiert vernünftig' (1971, S. 168). A. Downs hat damit als erster das ökonomische Modell individuellen Verhaltens konsequent zur Analyse politischer Prozesse eingesetzt. [ 10] Die gegenseitig desinteressierte Vernünftigkeit ist eine vergleichsweise neutrale Annahme: Sie schließt moralisch besonders positives Verhalten wie Altruismus genauso aus wie moralisch verwerfliches Verhalten wie Neid und Missgunst. Zwar kann es durchaus sein, dass durch das Handeln eines Individuum andere geschädigt werden, aber dies ist nicht die Intention des Handelns, sondern aUenfalls eine nicht intendierte Nebenfolge eigeninteressierten Handelns. In vielen Fällen ist dies gesamtgesellschaftlich sogar vorteilhaft: Wird z. B. ein neues Verfahren entwickelt, mit dem das gleiche Produkt konstengünstiger hergesteHt werden kann, so erleiden durch die Einführung dieses Verfahrens in einem bestimmten Unternehmen dessen Konkurrenten einen Verlust. Man kann die Annahme aber auch verschärfen, indem man -möglicherweise hypothetisch - unterstellt, die politischen Akteure würden versuchen, andere Menschen bewusst auszubeuten. Diese ,Leviathan-Hypothese' findet sich in der ökonomischen Theorie der Verfas-
6 Dabei wird auf Überlegungen zurückgegriffen, die sich bereits bei H. Hotelling ( 1929) und J. A. Schumpeter ( 1942) finden. - Ganz ähnliche Überlegungen wie von A. Downs wurden etwa zur gleichen Zeit von Ph. Herder-Domeich entwickelt und unter dem Pseudonym Fred 0 . Harding ( 1959) veröffentlicht.
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II. Die ökonomische Theorie der Demokratie [ 13] Wie bereits ausgeführt wurde, wird in der insbesondere auf A. Downs ( 1957) zurückgehenden ökonomischen Theorie der Demokratie davon ausgegangen, dass die Politiker - wie alle anderen Wirtschaftssubjekte auch - ihren eigenen Nutzen maximieren. Dabei tritt jedoch das Problem auf zu bestimmen, worin der Nutzen der Politiker besteht bzw. wodurch er befördert wird. A. Downs unterstellt, dass der Nutzen der Politiker sich aus der Macht, dem Ansehen und dem Einkommen ergibt, die mit dem politischen Amt verbunden sind, und er nimmt (in erster Annäherung) an, 7 Siehe z. B. J. M. Buchanan (1987, 1987 a) sowie die Übersicht über die positive Variante dieses Ansatzes bei S. Vogt (1997). 8 Die klassischen Beiträge zu dieser Literatur stammen von G. Tullock (1967), A. 0. Krueger (1974) und R. Posner (1975). Übersichten über die Literatur finden sich bei R. D. Tollison (1982, 1997), M. A. Brooks und B. J. Heijdra (1989) sowie
S. Nitzan (1994).
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dass die Politiker umso eher in den Genuss dieses Nutzens gelangen, je höher der bei einer Wahl erhaltene Stimmenanteil ist. Daher versuchen sie, die Zahl der bei der jeweils nächsten Wahl auf sie entfallenden Stimmen zu maximieren. Hierfür müssen sie den Wünschen der Wähler (zumindest teilweise) entsprechen, da sich diese ebenfalls als rationale NutzenmaximiereT verhalten und diejenige Partei wählen, von der sie erwarten, dass sie in ihrer Politik ihren Interessen am ehesten entspricht. 9 Wenn die Politiker in ihrem Handeln diesen Interessen entsprechen, dann nicht deshalb, weil sie ,gute Menschen' sind und die soziale Wohlfahrt maximieren möchten, sondern weil sie ihre eigenen Interessen verfolgen und wiedergewählt werden möchten. Auch hier sind die nicht intendierten Konsequenzen des individuellen Handelns, in diesem Fall der Politiker, relevant. So wie der Bäcker sein Brot nicht in erster Linie deshalb backt, um die Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen, sondern um für sich einen möglichst hohen Gewinn (Nutzen) zu erzielen, so entspricht der Politiker den Wünschen seiner Wähler nicht deshalb, weil er diesen etwas Gutes tun möchte, sondern weil er über die Wiederwahl seinen eigenen Nutzen maximieren möchte. 10 Er lebt, um einen Sprachgebrauch von Max Weber (1919, S. 513) aufzugreifen, in erster Linie "von der Politik", und, wenn überhaupt, erst in zweiter Linie "für die Politik". Zwischen dem wirtschaftlichen Unternehmer und dem politischen Unternehmer besteht diesbezüglich kein substantieller Unterschied. Aufgabe einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist es zu gewährleisten, dass dieses Verfolgen individueller Interessen zu sozial erträglichen Ergebnissen führt, dass z. B. keine Monopolstellungen entstehen, sondern dass wirtschaftliche wie politische Unternehmer immer fürchten müssen, ihre Stellung einzubüßen, wenn sie sich nicht an den Interessen ihrer Konsumenten bzw. Wähler orientieren. [14] Dies mag so klingen, als ob es nur einer vernünftigen politischen Verfassung bedürfe, um sicherzustellen, dass die Politiker sich an den Interessen der Wähler orientieren. Tatsächlich aber kann selbst die beste Verfassung dies nur partiell garantieren, so wie auch die beste Wirtschaftsverfassung das Aufkommen von monopolistischen Situationen nicht gänzlich vermeiden kann. Um zu seinem Ergebnis zu gelangen, dass die Regierung den Präferenzen der Wähler (bzw. genauer des ,Medianwählers') bei ihrer Politik folgen muss, benötigt A. Downs eine Reihe sehr restriktiver Annahmen. 11 Lockert man diese Annahmen, so kann sich ein ganz anderes Bild ergeben. W. D. Nordhaus (1975) hat in seiner Theorie des politischen Kon9 Siehe hierzu auch die neuen Arbeiten von T. Besley und St. Coate (1997, 1998). 10 Das Beispiel vom Bäcker findet sich zuerst bei A. Smith ( 1776, S. 17), die Idee, dass dies auch auf Politiker anzuwenden ist, stammt von J. A. Schumpeter ( 1942, s. 448).
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junkturzyklus gezeigt, dass eine stimmenmaximierende Regierung unter Umständen entgegen den Wünschen der Wähler Konjunkturzyklen nicht dämpft oder ausgleicht, sondern sogar selbst erzeugt, um ihre Wiederwahlchancen zu verbessern. 12 Zu Beginn der Legislaturperiode wird versucht, über eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik die Inflationsrate zu senken, was mit einer Erhöhung der Arbeitslosenquote erkauft wird. Gegen Ende der Legislaturperiode wird auf eine expansive Politik umgeschaltet, um durch eine Steigerung des Wirtschaftswachstums die Arbeitslosigkeit wieder zu senken. Da man davon ausgeht, dass die Inflationsrate darauf erst verzögert reagiert, scheint es auf diese Weise möglich zu sein, zum Wahlzeitpunkt eine Kombination aus relativ geringer Arbeitslosigkeit (hohem Wirtschaftswachstum) und relativ geringer Inflation zu erreichen, um die Wiederwahlchancen zu verbessern. [15] Im Nordhaus-Modell kümmert sich die Regierung ausschließlich um die Maximierung ihres Wahlerfolgs bei den jeweils nächsten Wahlen. Zumindest solange die Wiederwahl nicht ernsthaft gefährdet erscheint, ist jedoch nicht einzusehen, weshalb sie dies tun sollte. Sie wird eher versuchen, vorrangig ihre eigenen Interessen bzw. diejenigen ihrer Klientel zu befriedigen, ohne jedoch dabei ihre Wiederwahl zu gefährden. In diesem Sinn nimmt D. A. Hibbs (1977) eine ältere, schon häufiger formulierte Hypothese auf, dass nämlich Linksregierungen - ceteris paribus - eine tiefere Arbeitslosenquote anstreben als Rechtsregierungen und dass sie bereit sind, dafür eine höhere Inflationsrate in Kauf zu nehmen. 13 Auch dies kann zur Erzeugung politischer Konjunkturzyklen führen. [16] Am ursprünglichen Modell des politischen Konjunkturzyklus gibt es einiges auszusetzen. Dies gilt insbesondere für die Art der Erwartungsbildung, die für die privaten Wirtschaftssubjekte unterstellt wurde. Die ,adaptive' Erwartungsbildung im ursprünglichen Modell von W. D. Nordhaus (1975) impliziert, dass sich die Wirtschaftssubjekte permanent in systematischer Weise täuschen lassen. Dies widerspricht offensichtlich der der ökonomischen Theorie zugrundeliegenden Annahme rationalen Verhaltens. In einer Reihe von Arbeiten 14 wurde jedoch gezeigt, dass eine derartige Erwartungsbildung das Zustandekommen solcher Zyklen zwar fördert, dass 11 Zu einer Diskussion und Kritik dieser Annahmen siehe G. Kirchgässner (1985). 12 Übersichten über die verschiedenen Modelle des politischen Konjunkturzyklus geben z. B. F. Schneider und B. S. Frey (1988) oder M. Paldam (1997); eine Zusammenstellung wichtiger Originalarbeiten findet sich in B. S. Frey (1997). 13 Siehe hierzu die ,klassische' Arbeit von E. S. Kirschen et al. (1964) sowie D. A. Hibbs (1992, 1994) und R. Di Tella und R. MacCulloch (1999). 14 Siehe z.B. U. liichler (1984), G. Kirchgässner (1984, 1986) sowie F. v.d. Ploeg (1987).
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sie aber auch bei ,rationalen' Erwartungen auftreten können. Dies gilt immer, solange es für die Regierung einen ausnutzbaren Unterschied zwischen dem kurzfristigen und dem langfristigen Austauschverhältnis zweier beliebiger, für die Wählerentscheidung relevanter Variabler gibt und solange die Regierung sich ihrer Wiederwahl nicht absolut sicher sein kann und deshalb in ihrer Zielfunktion Ereignisse in zukünftigen Legislaturperioden (zusätzlich) abdiskontiert. 15 So kann eine Regierung, die ihre Abwahl zumindest nicht ausschließen kann, bestimmte Ausgaben noch vor der Wahl tätigen, wenn sie gewährleisten will, dass die damit verbundenen Aktivitäten auch durchgeführt werden. 16 [17] Das Nordbaus-Modell geht von extrem strengen Annahmen über den Informationsstand und die Handlungsmöglichkeiten der Regierung aus. Geht man von realistischeren Annahmen aus, kann man lediglich unterstellen, dass die Regierung die kurzfristigen Auswirkungen ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf die wirtschaftliche Lage kennt, dass sie weiß, in welche Richtung bestimmte Veränderungen der wirtschaftlichen Variablen ihre Wahlchancen beeinflussen und dass sie - dank regelmäßig in ihrem Auftrag durchgeführter Meinungsumfragen - ihre augenblicklichen Wahlchancen einigermaßen korrekt einschätzen kann. Geht man von diesem Informationsstand aus, so gelangt man zu einer Klasse von Modellen des ,tatsächlichen Regierungsverhaltens', wie sie vor allem von B. S. Frey und F. Schneider entwickelt und für eine ganze Reihe von Ländern empirisch überprüft wurden. 17 In diesen Modellen werden zwei Situationen für das Regierungsverhalten unterschieden: Sind die durch die Popularitätsumfragen gemessenen Wiederwahlchancen der Regierung geringer als ein bestimmter vorgegebener Wert, so wird die Regierung ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, ihre Wahlchancen zu verbessern. Sie folgt damit einer Politik der ,Stimmenmaximierung'. Sie tut dies, indem sie ähnlich wie im Nordbaus-Modell eine expansive Wirtschaftspolitik betreibt, und zwar umso stärker, je näher der Wahltermin bereits ist. Kann die Regierung jedoch bei der kommenden Wahl einen deutlichen Vorsprung vor der Opposition erwarten, so ist es ihr möglich, entsprechend ihren eigenen (ideologischen) Vorstellungen bzw. denen ihrer Klientel zu handeln, ohne dadurch die Wiederwahl zu gefahrden. In solchen Situationen werden wie im Modell von D. A. Hibbs (1977) Linksregierungen der Vollbeschäftigung Vorrang vor Siehe hierzu G. Kirchgässner (1983). Siehe hierzu das Modell in G. Kirchgässner (1984, S. 19 ff.). R. Shachar (1993) weist darauf hin, dass solche Zyklen durchaus auch reale Effekte haben können. 17 Siehe 8. S. Frey und F. Schneider ( 1978) für das Vereinigte Königreich, ( 1978 a) für die Vereinigten Staaten und ( 1979) für die Bundesrepublik Deutschland sowie F. Schneider und W. W. Pommerehne (1980) für Australien. 15
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der Preisstabilität geben, während Rechtsregierungen Preisstabilität auch auf Kosten zusätzlicher Arbeitslosigkeit herbeizuführen suchen. Diese Politik der ,Ideologiemaximierung' erfolgt jeweils ungeachtet der langfristigen Konsequenzen und, solange die Wiederwahl nicht gefährdet erscheint, auch unabhängig von den Interessen der Wähler. [ 18] Bei aller Kritik, die an den einzelnen Modellen des politischen Konjunkturzyklus angebracht werden kann, wird doch deutlich, dass die traditionelle, in der Theorie der Wirtschaftspolitik (Konjunkturpolitik) und in der makroökonomischen Theorie implizit oder explizit gemachte Annahme, dass die Regierung von sich aus ein Interesse daran hat, den Wirtschaftsablauf zu stabilisieren, aufgegeben werden muss. Zwar mag es Konstellationen geben, bei denen es im Interesse der Regierung liegt, stabilisierend zu wirken. Aber es gibt auch Situationen, in welchen sie aus eigenem Antrieb heraus destabilisierend wirkt. Will man dies verhindern oder zumindest einschränken, so muss man möglicherweise den Handlungsspielraum der Regierung durch Verfassungsregeln (stärker als heute) begrenzen, wie dies z. B. von G. Brennan und J. M. Buchanan (1980) gefordert wird. [19] Auf ein weiteres Problem haben J. M. Buchanan und R. E. Wagner ( 1977, 1978, 1978 a) hingewiesen. Traditionell galt für den Staat die Regel des jährlichen Budgetausgleichs: Eine geplante Netto-Neuverschuldung war nur unter sehr restriktiven Bedingungen zulässig. Mit der Einführung der antizyklischen Fiskalpolitik nach keynesianischem Muster wurde diese Regel jedoch aufgeweicht: Der Haushalt sollte jetzt nur noch über den Konjunkturverlauf hinweg ausgeglichen sein. Sieht man den Wirtschaftspolitiker als wohlwoBenden (und gut informierten) Diktator, dann macht diese Aufweichung Sinn: Sie ermöglicht die Dämpfung konjunktureller Schwankungen. Bei demokratisch gewählten Politikern, die zum einen ihre Wiederwahl sichern und zum anderen ihre Klientel bedienen möchten, kann dies jedoch zu einem unerwünschten Wachstum der Staatsschuld führen. In der Rezession werden die Politiker Defizite gerne zulassen, da sie für sie fast nur Vorteile haben: Steuern müssen nicht erhöht werden, die (bisherigen) Staatsausgaben müssen nicht eingeschränkt und möglicherweise können sogar zusätzliche Ausgaben getätigt werden, welche der eigenen Klientel zugute kommen. In der Hochkonjunktur größere Überschüsse zu erzielen und diese zum Abtragen der Staatsschuld zu verwenden, ist dagegen kaum möglich. Schließlich müssten die Politiker trotz voller Kassen auf (mögliche) Geschenke an ihre Klientel verzichten. 18 Wenn aber die Rückführung 18 Ein Beispiel hierfür liefert die derzeitige Situation in der Schweiz. Im Jahr 2000 wurde eine erheblicher, nicht antizipierter Überschuss im Bundeshaushalt erzielt. Der Finanzminister, Bundesrat Kaspar Villiger, möchte damit vor allem Schulden zurückzahlen, da als Folge der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung in den neunziger Jahren die Staatsschuld stark angestiegen ist. Insbesondere die bürger-
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der Staatsschuld in der Hochkonjunktur nicht oder zumindest nicht im erforderlichen Ausmaß erfolgt, kommt es zu einem langfristigen Anwachsen der Staatsschuld. Tatsächlich konnte nach dem Übergang zur keynesianischen Doktrin in der Fiskalpolitik ein säkularer Anstieg der öffentlichen Schulden beobachtet werden. Auch hier bedarf es offensichtlich verfassungsmäßiger Regeln, um zumindest einen weiteren relativen Anstieg der Staatsschuld (z. B. im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt) zu verhindem. 19 111. Die ökonomische Theorie der Bürokratie
[20] Aus der ökonomischen Perspektive heraus betrachtet sind Bürokraten zunächst Leiter bzw. Angestellte in spezifischen Firmen, den staatlichen Bürokratien. Man kann davon ausgehen, dass sie für sich die gleichen Dinge anstreben, wie die Beschäftigten in privaten Firmen, d. h. insbesondere ein möglichst hohes Einkommen und angenehme Arbeitsbedingungen. Es gibt keine Gründe dafür, hier Unterschiede in der Motivation anzunehmen. Dagegen sind die Bedingungen, unter denen sie diese Ziele anstreben können, für die Bediensteten in staatlichen Bürokratien und insbesondere für deren Leiter sehr verschieden von den Bedingungen, unter denen in privaten Firmen gearbeitet wird. Private Firmen arbeiten in der Regel im Wettbewerb untereinander, und sie müssen ihre Produkte am Markt absetzen. Dies bewirkt einen Druck zur kostengünstigen Produktion. Die staatliche Bürokratie ist in aller Regel einziger Anbieter der von ihr bereitgestellten Güter, und sie setzt diese nicht auf einem Markt ab, auf dem sich Preise bilden, sondern sie finanziert sich vorwiegend oder vollständig aus Steuern. Über das Ausmaß der Produktion bestimmen damit auch nicht die Konsumenten dieser Güter bzw. Dienstleistungen, sondern (notwendigerweise) deren politische Vertreter. Die Bürokratie verkauft ihre Leistungen sozusagen als Ganzes an die Politiker. Natürlich versuchen diese die Bürokratie zu kontrollieren, da eine schlecht arbeitende Bürokratie ihre Wiederwahlchancen beeinträchtigt. Somit haben die Politiker ein Interesse daran, dass die Bürokratie effizient arbeitet. Eine effektive Kontrolle wird aber dadurch erschwert, dass die Information asymmetrisch verteilt ist: Darüber, wie eine effiziente Produktion der staatlichen Dienstleistungen aussieht, wissen die Politiker viel weniger Bescheid als die Bürokraten. Diese aber haben allenfalls ein sehr geringes Interesse daran, diese Information an die Politiker weiterzugeben.
liehen Politiker möchten diese Mehreinnahmen aber vor allem dazu verwenden, mit gezielten Steuersenkungen ihre Klientel zu entlasten. 19 Solche Regeln wurden z. B. für die Mitglieder der Europäischen Union durch die Maastricht-Kriterien geschaffen.
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[21] Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass weder Mitarbeiter noch Leiter der bürokratischen Firma direkt oder indirekt am Gewinn beteiligt sind; sie werden vielmehr nach vorgegebenen schematischen Gehaltstabellen entlohnt. Es ist ihnen in aller Regel nicht möglich, durch besonders effiziente, d. h. kostengünstige Produktion ihr Einkommen zu erhöhen. Von den üblichen Regeln abweichende Gehaltserhöhungen sind zumeist nur dann möglich, wenn über eine Ausdehnung der Abteilung die Zahl der Untergebenen zunimmt, so dass sie in die nächst höhere Gehaltsgruppe aufsteigen können. Daher haben sie ein Interesse daran, die Produktion der bürokratischen Firma möglichst weit auszudehnen. W. A. Niskanen (1968, 1971) hat daraus ein Modell entwickelt, in welchem für die Leiter staatlieber Unternehmen Outputmaximierung als Zielfunktion unterstellt wird, im Gegensatz zur Annahme der Gewinnmaximierung bei den Managern in privaten Firmen. Nun ist der Output sicher nur ein Element in der Zielfunktion der Leiter öffentlicher Unternehmen, ein anderes Element sind, wie oben bereits erwähnt wurde, die Arbeitsbedingungen. Dies dürfte für sie umso wichtiger sein, je weniger es ihnen möglich ist, durch Ausweitung der Abteilung ihre Aufstiegschancen zu verbessern.20 [22] Diese Überlegungen zeigen, dass wir bei den Bürokraten ganz ähnliche Probleme haben wie bei den Politikern. In beiden Fällen können wir nicht von der öffentlich in aller Regel behaupteten Verfolgung des ,öffentlichen Wohls' ausgehen, was immer dies auch sei, wenn wir nach der Motivation ihres Handeins fragen, sondern wir müssen davon ausgehen, dass sie eigene (eigennützige) Interessen haben, die sie bei der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben verfolgen. Ja, man kann sogar weiter gehen und unterstellen, dass Bürokraten wie Politiker ihre Ämter genau deshalb angestrebt haben, weil sie der Auffassung sind, dass sie ihre eigenen Interessen dann besonders gut verfolgen können, wenn sie im politischen Bereich bzw. in der öffentlichen Verwaltung tätig sind. Selbstverständlich gibt es auch Schranken bei der Verfolgung eigener Interessen. In einer Demokratie ergeben sich diese dadurch, dass die Politiker bzw. die Parteien, denen sie angehören, wiedergewählt werden wollen. Dadurch entsteht Druck auf die Politiker und über diese auf die Verwaltung, von den Wünschen der Wähler nicht allzu weit abzuweichen. Diese Kontrolle wird aber in beiden Fällen dadurch erschwert, dass die hierzu notwendige Information asymmetrisch verteilt ist, d. h. dass sie eher bei denen zu finden ist, die kontrolliert werden sollen, als bei den Kontrolleuren, und dass erstere kaum ein Interesse daran haben, diese Information weiterzureichen.
20 Zu einer Übersicht sowie zu neueren Entwicklungen siehe z. B. W. Orzechowski (1977), K. 0 . Moene (1986) sowie J. Schimmelpfennig (1994).
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IV. Die ökonomische Theorie der Verfassung [23] Gegen den Einsatz des ökonomischen Ansatzes zur Analyse politischer Prozesse mag man vorbringen, dass Politiker häufig auch Idealisten sind, die sich tatsächlich darum bemühen, das Wohl der Bevölkerung zu mehren? 1 Ohne dies völlig verneinen zu wollen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dies eine empirische Frage ist. Wer diese Aussage vertreten will, muss zunächst zeigen, dass diese Annahme bei der Erklärung des Verhaltens von Politikern fruchtbarer ist als die Eigennutzannahme. Ein solcher Nachweis steht bisher noch aus. Es reicht nicht zu zeigen, dass sich die Wähler unter bestimmten Umständen altruistisch verhalten; dies wird heute kaum mehr bestritten. 22 Es geht in unserem Zusammenhang vielmehr um die Anhänger der politischen Klasse, der Politiker und Bürokraten sowie auch der Vertreter der Interessengruppen: Das Verhalten dieser Akteure müsste unter Rückgriff auf die Motivationsannahme des Altruismus besser erklärt werden können als mit der Annahme des Eigennutzes.23 [24] Aber selbst wenn dies der Fall wäre, gibt es viele Situationen, in denen es sinnvoll erscheint, selbst kontrafaktisch zu unterstellen, dass sich die Individuen eigennützig oder gar bösartig gegeneinander verhalten. Wenn man z. B. wissen will, ob bestimmte Regelungen im Familienrecht sinnvoll sind oder nicht, ist es von sekundärer Bedeutung, wie sich die Regelungen bei altruistischem Verhalten der beiden Partner bewähren. Solange diese sich so verhalten, sind solche Regeln zumeist gar nicht notwendig; man wird sich auch ohne staatliche Regeln einigen. Ist eine Ehe jedoch zerbrochen und begegnen sich die beiden möglicherweise sogar mit Hassgefühlen, ist es notwendig, dass die Regelungen des Familienrechts (z. B. zum Schutz des schwächeren Partners und der Kinder) funktionieren. In solchen Fällen muss geradezu gefordert werden, dass man bei der Analyse mit Hilfe des ökonomischen Verhaltensmodells zumindest eigennütziges, wenn nicht gar böswilliges Verhalten unterstellt. Und dies gilt nicht nur im Familienrecht, sondern generell bei der Analyse rechtlicher Bestimmungen. Viele spätere Änderungen von Gesetzen wurden nur deshalb notwendig, weil bei der ursprünglichen Fassung des Gesetzes übersehen wurde, dass Umgehungsmöglichkeiten existieren, die von (intelligenten) eigennützigen Staatsbürgern auch ausgenützt werden. [25] Ganz besonders gilt dies bei der Analyse von Verfassungsregeln. So formuliert bereits David Hume: "Politische Autoren haben die Maxime forSiehe z. B. J. Quiggin (1987). Siehe z. B. G. Kirchgässner ( 1996). 23 Bei aller Kritik an der Anwendung des Rational Choice-Ansatzes im Bereich der Politischen Wissenschaft wird diese Behauptung nicht einmal von D. P. Green und I. Shapiro (1994) aufgestellt. 21
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muliert, man solle beim Entwurf eines Regierungssystems und der Festlegung der verschiedenen Institutionen zur Überprüfung und Kontrolle in der Verfassung davon ausgehen, dass jeder Mensch ein Schurke sei, der bei all seinen Handlungen kein anderes Ziel außer seinen privaten Interessen verfolge. Gemäß diesem Interesse müsse er regiert und dadurch trotz seiner unstillbaren Habsucht und seines Ehrgeizes bewegt werden, zum öffentlichen Wohl beizutragen. Andernfalls, so wird behauptet, würden wir uns vergeblich der Vorteile jeder Verfassung rühmen und letzten Endes feststellen, dass die Sicherheit unserer Freiheiten und Besitztümer ausschließlich vom guten Willen unserer Herrscher abhingen; mit anderen Worten, wir hätten keinerlei Sicherheit dafür. Es ist daher ein berechtigter Grundsatz in der Politik, dass jeder Mensch als Schurke betrachtet werden sollte, obwohl es gleichzeitig etwas seltsam anmutet, dass ein Grundsatz wahr sein sollte, der ansonsten den Tatsachen nicht entspricht" (1741, S. 36 ff.). [26] Diese Aussage von David Hume bezieht sich zunächst auf alle Bürger; schließlich ist es die primäre Aufgabe einer Verfassung, den Kampf aller gegen alle zu verhindern, d. h. den Bürgerinnen und Bürgern gegenseitig Schutz zu bieten, damit sie ihre produktiven Kräfte im friedlichen Wettbewerb entfalten können und sie nicht zur Abwehr gegen die Angriffe anderer verbrauchen. 24 Da man hierzu eine übergeordnete Instanz benötigt, der man das Gewaltmonopol überträgt, benötigt man auch Absieherungen gegen ungerechtfertigte Eingriffe (Übergriffe) dieser Instanz. Dies gilt auch in Demokratien. Insofern bezieht sich die Aussage von David Hume auch auf die Regierenden. Und ganz ähnlich formuliert K. R. Popper: "Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?" (1945, S. 170.) Sieht man die Regierenden dagegen generell als altruistisch an, so müsste die Frage ganz anders lauten: Wie können wir der Regierung diejenigen Kompetenzen geben, die sie benötigt, um das Gemeinwohl herbeizuführen? Zwar dürfte diese Frage nur in den seltensten Fällen in einer solch expliziten Form formuliert werden, aber sie steht implizit häufig hinter Forderungen nach Ausweitung des Handlungsspielraums einer Regierung, wenn diese Forderung damit begründet wird, dass diese auf Grund mangelnder Kompetenzen nicht in der Lage sei, ihre eigentlichen Aufgaben zu erfüllen. [27] Die Ansichten, die hinter diesen beiden Fragen stehen, unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen werden, wie bereits erwähnt wurde, über die Handlungsmotive der Regierung (wie auch der übrigen Bürger) bzw. deren Veränderbarkeil unterschiedliche Annahmen getroffen, zum anderen aber, und dies ist vermutlich wichtiger, auch bezüglich des 24
Siehe hierzu auch J. M. Bucheman (1975).
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Risikoverhaltens. 25 Selbst wenn man der Überzeugung sein sollte, dass demokratisch gewählte Regierungen sich im Allgemeinen altruistisch verhalten, kann man für eine Beschränkung des Regierungshandeins plädieren, falls vermieden werden soll, dass im Falle eines immer noch möglichen Fehlverhaltens der Regierung für die Regierten (die Gesellschaft) erhebliche Schäden entstehen. Dies entspricht der Maximin-Regel der Spieltheorie: Verhalte Dich so, dass auch dann, wenn die schlimmste mögliche Entwicklung eintritt, für Dich noch das Beste herauskommt, d.h. wähle diejenige Alternative, die Dir unter den schlimmsten Bedingungen den dann eintretenden Schaden minimiert. Dies ist die Maxime, die hinter der oben aufgeführten Frage von K. R. Popper und der Feststellung von D. Hume steht. [28] Dies aber bedeutet, dass es Sinn macht, staatliches Handeln bzw. staatliche Handlungsmöglichkeiten unter der Annahme zu untersuchen, dass die entscheidenden Politiker zwar die Verfassung respektieren, sich im übrigen aber egoistisch, wenn nicht gar böswillig verhalten, selbst wenn man persönlich der Auffassung sein sollte, dass sich die Politiker tatsächlich in der Regel gutwillig verhalten.Z6 Und man sollte dann zumindest jene Handlungsmöglichkeiten ausschließen, die ,katastrophale' Ergebnisse ermöglichen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit hierfür gering sein sollte. Die ,Kosten' einer solchen Strategie können jedoch darin bestehen, dass eine ,gutwillige' Regierung in bestimmten Situationen bestimmte Maßnahmen nicht ergreifen kann, die im Interesse der überwiegenden Mehrheit oder möglicherweise sogar aller Bürger wären. [29] Dieser Wechsel der Perspektive hat z. B. im Bereich der (normativen) Theorie der Besteuerung konkrete Auswirkungen. So lehnt die klassische Finanzwissenschaft Zweckbindungen von Steuern ab. Sie sind im besten Fall unnötig und unschädlich, wenn nämlich mehr als die gebundenen Mittel für einen bestimmten Zweck ausgegeben werden sollen. 27 Im schlimmeren Fall sind sie schädlich, weil sie dazu führen, dass in einem 25 Zur Gegenüberstellung dieser beiden Auffassungen staatlichen Handeins durch zwei prominente Vertreter der beiden Ansätze siehe J. M. Buchanan und R. A. Musgrave (1999). 26 Dabei ist freilich die Frage offen, weshalb bzw. unter welchen Bedingungen sie sich an die Verfassung halten und wann sie sie brechen. (Dass dies - auch in der Bundesrepublik Deutschland - keine rein theoretische Frage ist, zeigt sehr deutlich der Fall Kohl.) Siehe hierzu allgemein U. Witt (1993). 27 Dabei sei hier unterstellt, dass kein ,Aypaper'-Effekt auftritt, d.h. dass die Zweckbindung nicht dazu führt, dass, obwohl mehr als die gebundene Summe für diesen Zweck ausgegeben wird, der ausgegebene Betrag höher ist als er bei gleichem Budget ohne Zweckbindung wäre. Zu diesem Effekt, der insbesondere bei Finanzzuweisungen zwischen verschiedenen Ebenen auftritt, siehe J. R. Hines und R. H. Thaler (1995) sowie die Übersicht über die verschiedensten empirischen Untersuchungen von B. E. Dollery und A. C. Worthington (1996).
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bestimmten Bereich mehr ausgegeben wird als ohne eine solche Bindung. Sie verhindem in diesem Fall die optimale Aufteilung der Staatseinnahmen auf die einzelnen Aufgabenbereiche. Im Anschluss an die Arbeiten von G. Brennan und J. M. Buchanan (1977, 1980) sieht die moderne politische Ökonomie Zweckbindungen jedoch in einem etwas anderen Licht: Sie ermöglichen es den Bürgern sicherzustellen, dass ihr Steuergeld für ganz bestimmte Zwecke ausgegeben wird, für die sie es verwendet sehen wollen. Insbesondere in der direkten Demokratie ergibt sich dadurch eine zusätzliche direkte Gestaltungsmöglichkeit für die Stimmbürger. Damit steht dem möglichen wirtschaftlichen Effizienzverlust ein möglicher politischer Effizienzgewinn gegenüber. V. Die Theorie des Rent-Seeking [30] Wenn Individuen ihre Ressourcen einsetzen, um ihre Interessen zu verfolgen, haben sie im demokratischen Staat prinzipiell zwei Möglichkeiten: Sie können versuchen, ihre Ziele über den Markt zu erreichen, was die übliche Art und Weise ist, private Güter zu erlangen, oder sie können versuchen, über den politischen Prozess öffentliche Güter zu erlangen. Ein rationales Individuum wird beide Wege verfolgen, um seinen Nutzen zu maximieren, und es scheint gesellschaftlich sinnvoll zu sein, dass derjenige Weg gewählt wird, welcher die (gesellschaftlichen) Transaktionskosten minimiert. [31] Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, über den politischen Prozess private Güter zu erlangen. Man kann z. B. versuchen, spezielle Regulierungen zu erreichen, die einem Individuum (bzw. einem Unternehmen) eine Monopolposition als Anbieter eines bestimmten Gutes garantieren, oder man kann versuchen, öffentliche Subventionen für private Güter zu erlangen. Im zweiten Fall werden ,indirekte Extemalitäten' im Sinne von H. Bonus (1980) erzeugt: Die Nutzen sind nach wie vor privat, aber die Kosten werden über die staatliche Finanzierung externalisiert, obwohl der Konsum rivalisiert und Ausschluss möglich wäre. Beispiele für solche indirekten Extemalitäten sind subventionierte öffentliche Theater oder Opernhäuser. Solche Einflussnahmen auf den politischen Prozess sind in aller Regel weniger für einzelne Individuen, als vielmehr für bestimmte formelle oder informelle Interessengruppen (,Klubs') interessant. Es geht um Umverteilung zugunsten bestimmter Individuen oder Gruppen durch die Erlangung von Renten: um ,Rent-Seeking' .28 28 Mit dem gleichen Argument kann freilich auch Werbung für private Güter als gesellschaftliche Verschwendung betrachtet werden. Dies gilt zumindest, soweit den Konsumenten durch die Werbung nicht zusätzliche neue Information über bestimmte (neue) Produkte vermittelt wird und/oder es dabei (fast) ausschließlich um 5 v. Arnim
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[32] Zunächst könnte man davon ausgehen, dass es sich hier um eine der in einer Demokratie üblichen Umverteilungsaktivitäten handelt, d.h. um eine Bewegung entlang der Paretogrenze.29 Das spezifische allokative Problem des Rent-Seeking besteht jedoch zum einen darin, dass die erzeugten indirekten Externalitäten zu Überkonsum und damit zu allokativen Verzerrungen führen. Noch bedeutender ist, dass der Aufwand, welchen die Individuen bzw. Gruppen treiben müssen, um diese Renten zu erhalten, aus gesellschaftlicher Sicht Verschwendung darstellt, da mit dem gleichen Aufwand Güter produziert werden könnten. Rent-Seeking führt daher zu einer Bewegung weg von der Paretogrenze. [33] Für unsere Fragestellung ist jedoch vor allem bedeutsam, dass RentSeeking-Aktivitäten in vielen Fällen so ausgestaltet sind, dass sie nicht nur im Interesse der betroffenen Gruppen(mitglieder), sondern auch der Regierung und/oder der Bürokratie liegen. In den Beiträgen zur politischen Ökonomie des Rent-Seeking wird dementsprechend (zur Vereinfachung) unterstellt, dass die Interessengruppen die Regierung bestechen, damit diese ihnen gefügig wird? 0 Diese ,Bestechung' muss nicht in Geld erfolgen, und sie muss auch nicht illegal sein. Sie kann durchaus auch darin bestehen, dass dem entsprechenden Politiker Unterstützung für seinen nächsten Wahlkampf zugesichert wird.
VI. Abschließende Bemerkungen: Zur Bedeutung moralischen Verhaltens [34] Wie oben ausgeführt wurde, besteht der wesentliche Unterschied zwischen der (modernen) politisch-ökonomischen Perspektive und einer Reihe traditioneller Auffassungen bezüglich des Handeins der politischen Klasse darin, dass konsequent davon ausgegangen wird, dass deren Mitglieder (genauso wie alle übrigen Bürgerinnen und Bürger) zunächst und vor allem nach der Mehrung ihres eigenen Nutzens streben. Nun könnte man einen Widerspruch zu dieser Konzeption darin sehen, dass sich genau diese Annahme bei der Analyse des Wählerverhaltens als fragwürdig erwiesen hat: Das inzwischen weithin akzeptierte , Paradox des Nichtwählens' besteht darin, dass es sich als unmöglich herausgestellt hat, die in vielen demokratischen Staaten beobachtbare hohe Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen mit Hilfe eines Modells strikt (bzw. im engen Sinne) eigeninteressierten Verhaltens zu erklären. 31 Konsequenterweise weicht man daher auf Bedie Erringung oder Festigung von Marktanteilen in einem im wesentlichen gesättigten Markt geht. 29 Zur Übersicht über diese Aktivitäten siehe G. Kirchgässner und W. W. Pommerehne ( 1992). 30 Siehe z. B. H. Ursprung (1990).
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gründungen aus, die moralisches Verhalten implizieren,32 und bei der Erklärung der Wahlentscheidung spielt die Annahme ,expressiven Verhaltens' eine wesentliche Rolle.33 Konsequenterweise fordert daher auch B. S. Frey (1997 a), dass man sich beim Entwurf von Verfassungen nicht (ausschließlich) daran orientieren dürfe, dass alle Menschen, Politiker wie Bürger, ,Schurken' seien, weil man damit ihren Spielraum für nicht eigeninteressiertes (bzw. intrinsisch motiviertes) Verhalten zu stark einschränke. [35] Tatsächlich ist, wie in G. Kirchgässner (1996) ausgeführt wurde, nicht eigeninteressiertes (und in diesem Sinne moralisches) Handeln der Bürgerinnen und Bürger nicht nur eine empirische Tatsache, sondern es ist auch notwendig für das ,gute' Funktionieren einer modernen demokratischen Gesellschaft. Dies gilt im politischen Prozess für die Wahlbeteiligung, aber auch bei wirtschaftlichen Transaktionen: Nicht umsonst spielt der Begriff des , Vertrauens' in jüngerer Zeit eine wesentliche Rolle in der sozialwissenschaftliehen Diskussion?4 Daher kann man durchaus fragen, ob nicht zum einen das Verhalten nicht doch vom Bezugsrahmen abhängig ist, Menschen sich also bei der Behandlung politischer Probleme anders verhalten als bei der Lösung wirtschaftlicher Probleme, bzw. warum hier für Wähler ein ganz anderes Verhalten unterstellt wird als für Politiker. [36] Eine genauere Analyse dieser Fragen zeigt jedoch, dass man zur Erklärung nicht darauf zurückgreifen muss, dass sich die Individuen bei politischen Entscheidungen grundsätzlich anders als bei wirtschaftlichen Entscheidungen verhalten, sondern dass es hinreichend ist, die unterschiedlichen Handlungsbedingungen in Rechnung zu stellen. Man kann ohne Probleme Adam Smith (1759, S. 1) folgen und unterstellen, dass bei den Individuen neben Eigeninteresse auch andere, altruistische Motivationen eine Rolle spielen. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen welche Motivationen dominant werden. Die Kernfrage ist dabei, wie , teuer' welches Verhalten in welcher Situation ist. Ein Unternehmer, der z. B. aus moralischen Gründeu seinen Arbeitnehmern höhere Löhne bezahlt und sich deshalb mit höheren Kosten konfrontiert sieht, muss, falls er wegen der Konkurrenz durch andere Unternehmen diese Kosten nicht auf die Preise überwälzen kann, damit rechnen, dass er Verluste macht und in Konkurs geht. In dieser Situation ist ein derartiges ,moralisches' Verhalten langfristig nicht möglich. Dagegen kann sich ein Wähler immer wieder moralisch
Siehe z.B. G. Kirchgässner (1990). Dies gilt bereits für W. H. Riker und P. C. Ordeshook ( 1968); siehe auch H. Margolis (1981, 1982) oder G. Kirchgässner (1996). 33 Siehe insbesondere G. Brennan und L. Lomasky (1993). 34 Siehe z. B. F. Fukuyama (1995), I. Bohnet ( 1997), Ch. Engel (1999) oder E. Glaeser et al. (2000). 3!
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verhalten und zur Wahl gehen, ohne dass daraus negative Konsequenzen für ihn entstehen. [37] Die zentrale Frage bei dieser Problemstellung ist, welche Konsequenzen nicht-eigennütziges Verhalten für die Individuen hat. In typischen wirtschaftlichen Entscheidungen führt eine nicht am Eigeninteresse orientierte Entscheidung zu einem Nutzenverlust; im Grenzfall kann dies - z. B. bei einer falschen Investitionsentscheidung - zum Verlust des gesamten Vermögens führen. Die Entscheidung eines einzelnen Bürgers, an einer Wahl oder Abstimmung teilzunehmen, hat jedoch weder für ihn selbst noch für das Gemeinwesen insgesamt Konsequenzen, da der Einfluss einer einzelnen Stimme in aller Regel vernachlässigbar gering ist; er befindet sich in einer , Kleinkostensituation'. 35 In solchen Situationen ist es vergleichsweise , preisgünstig', sich moralisch zu verhalten, während dies in den typischen ökonomischen ,Hochkostensituationen' sehr teuer kommen kann. Daher ist zu erwarten, dass sich die Individuen bei wirtschaftlichen Entscheidungen kaum, bei Wahlen oder Abstimmungen sehr viel eher an moralischen Kategorien orientieren. 36 [38] Im Gegensatz zu den Entscheidungen der Wähler sind die Entscheidungen welche die Politiker zu treffen haben, in aller Regel keine Kleinkostenentscheidungen. Vielmehr stehen wie bei wirtschaftlichen auch bei den politischen Unternehmern (riskante) Investitionsentscheidungen im Vordergrund. Der Unterschied ist lediglich der, dass bei wirtschaftlichen Entscheidungen der (wesentliche) Ertrag direkt in finanziellen Einheiten anfallt, während die Entscheidungen politischer Unternehmer zunächst darauf abzielen, die Wiederwahl zu sichern, aus der sich die Politiker dann (auch finanzielle) Erträge erhoffen. Die Frage, ob sich jemand für eine politische oder eine wirtschaftliche. Laufbahn entscheidet, muss dann nicht davon abhängen, ob jemand eher eigennützig oder eher altruistisch motiviert ist, sondern kann damit erklärt werden, wo die einzelne Person ihre relativen Vorteile sieht. Das Verhalten ist damit nicht deshalb vom Bezugsrahmen abhängig, weil sich die Individuen in anderen Umgehungen grundsätzlich anders verhalten, sondern ,nur' deshalb, weil andere Beschränkungen für ihr Handeln gelten. [39] Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die wirtschaftlichen Unternehmer stärker eigennutzorientiert handeln als die politischen Unternehmer. Dafür könnte sprechen, dass man in Experimenten festgestellt hat, dass sich Wirtschaftsstudenten in der Situation eines Gefangenendilemmas weniger Zum Begriff der Kleinkostenentscheidung siehe G. Kirchgässner ( 1992). Da ihr Verhalten für sie selbst keine Konsequenzen hat, können sie sich bei Wahlen und Abstimmungen freilich auch sehr viel eher verantwortungslos verhalten. Darauf hat bereits J. M. Buchanan (1954) hingewiesen. 35
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kooperativ verhalten als andere Studierende. 37 Auch hat sich gezeigt, dass die Umweltverwaltungen eher ,grün' orientiert sind als die allgemeine Verwaltung bzw. als ihre politischen Prinzipale. Dies führt z. B. dazu, dass die von den Delegationen der verschiedenen Länder ausgehandelten Umweltschutzabkommen zumindest gelegentlich weitergehend sind, als den betroffenen Regierungen lieb ist. 38 Dagegen spricht andererseits, dass viele Politiker ihre Position (durchaus im legalen Rahmen) für die Aufbesserung ihrer finanziellen Situation gut zu nutzen wissen. 39 Sie stehen darin wirtschaftlichen Unternehmern kaum nach. Selbst wenn es unter ihnen einzelne Idealisten geben sollte, macht es aus den oben angegebenen Gründen daher Sinn, bei empirischen Analysen ihres Verhaltens von der Annahme der "gegenseitig desinteressierten Vernünftigkeit", und bei der Analyse von Verfassungsregeln sich auch zu fragen, zu welchem Ergebnis diese führen, wenn sich (gewählte) Politiker als machtbesessen und/oder habgierig entpuppen sollten. Um den Handlungsspielraum der Politiker unter ,normalen' Bedingungen nicht zu stark einzuschränken, muss man ja nicht unbedingt eine Minimax-Strategie verfolgen. Man sollte die Verfassungsregeln aber zumindest so konzipieren, dass sie die wirklich kritischen Situationen verhindem helfen.
Zusammenfassung Während die traditionelle ökonomische Theorie sich weitestgehend auf die Vorgänge auf Märkten konzentriert und alles andere in den ,Datenkranz' verwiesen hat, analysiert die Neue Politische Ökonomie politische Prozesse, wobei sie gleichwohl mit dem ökonomischen Verhaltensmodell arbeitet. In dieser Arbeit wird die dabei verwendete Sichtweise der politischen Akteure, deren Handeln dabei untersucht wird, an vier theoretischen Ansätzen aufgezeigt: der ökonomischen Theorie der Demokratie, der Bürokratietheorie, der Theorie der Verfassung sowie der Theorie des Rent-Seeking. In allen Fällen wird unterstellt, dass die Akteure vorwiegend bestrebt sind, ihren eigenen Nutzen zu mehren, und dass die Verfolgung allgemeiner Interessen in ihrem Handeln bestenfalls von sekundärer Bedeutung ist, auch wenn sich die Berücksichtigung dieser Interessen (möglicherweise) als nicht-intendierter Nebeneffekt ihres Handeins ergibt. Beispielhaft wird auch aufgezeigt, welche Konsequenzen sich daraus für die ökonomische und die politische Theorie (im Gegensatz zu den traditionellen Ansätzen) ergeben. 37 Siehe hierzu G. Marwell und R. Ames (1981) sowie R. H. Frank, Th. Gilovich und D. T. Regan (1993). 38 Siehe hierzu R. D. Congleton ( 1995). 39 Für die Bundesrepublik Deutschland ist dies recht gut dokumentiert. Siehe hierzu insbesondere H. H. v. Amim (1993, 1997, 1998).
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Zum Abschluss wird erörtert, inwieweit diese Annahmen wann zu modifizieren sind, da sich die politischen Akteure möglicherweise nicht immer nur eigennützig verhalten. 40 Literaturangaben H. H. v. Amim (1993), Der Staat als Beute: Wie Politiker in eigener Sache Geschäfte machen, Knaur, München 1993.
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Politische Klasse und Wahlrecht Von Merith Niehuss
I. Das Werden des Berufspolitikers im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 Es ist noch nicht sehr lange her, dass die politische Klasse im definitorischen Stnne dieser Tagung als eine in sich homogene Gruppe fassbar ist, eine Gruppe mit parteiübergreifend vergleichbarer Herkunft und Bildung, mit der gleichen Sprache, mit mehr oder weniger gleichem Einkommen und einem vergleichbaren persönlichen Interesse des Machterhalts. Bismarck hatte in seinen Verfassungsentwürfen von 1867 und 1871 den bezahlten Berufspolitiker bewusst vermieden 1• Diäten gab es erst ab dem Jahr 1906. Dies sollte den Typus des Berufspolitikers, der auf dieser Tagung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, verhindern, sollte die Wähler zwingen, ihre Stimme lokalen Honoratioren zu geben, die durch Besitz oder Einkommen finanziell unabhängig waren und es sich leisten konnten, zu den Reichstagssitzungen nach Berlin zu reisen und die dort ihren Aufenthalt auch bezahlen konnten. Der idealtypische Abgeordnete war für Bismarck zu jener Zeit der ostelbische Großgrundbesitzer: wohlhabend und konservativ, preußisch und monarchistisch. Seine Parteibindung war hingegen nur mittelbar von Interesse, denn sowohl die Abgesandten des Bundesrates als auch die Regierungsmitglieder, die Staatssekretäre und leitenden Beamten, wurden nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit ausgewählt, sondern nach ihrer Persönlichkeit. Die Rolle der Parteien war in der Verfassung nicht verankert. Gleichzeitig sollte die Wahl von Honoratioren auch bezwecken, dass die sich allmählich ausprägende Parteibindung der Wähler wieder gelockert würde; daher blieb es auch im Reichstagswahlrecht von 1871 bei einem Mehrheitswahlrecht, wie schon zum Parlament des Norddeutschen Bundes, 1 Vgl. zum Wahlrecht im Folgenden: Ritter, Gerhard A., unter Mitarbeit von Merith Niehuss: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918, München 1980, S. 26 ff. Zur Diskussion um die Einführung von Diäten vgl. H. Butzer: Diäten und Freifahrt im Deutschen Reichstag. Der Weg zum Entschädigungsgesetz von 1906 und die Nachwirkung dieser Regelung bis in die Zeit des Grundgesetzes, Düsseldorf 1999.
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Merith Niehuss
in dem der Wähler seine Stimme einem Abgeordneten gab, nicht einer Partei. Erreichte in einem Wahlkreis kein Abgeordneter mehr als die erforderlichen 50% der Stimmen, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten nötig, ein zweiter Wahlgang also, in der eine große Zahl Wähler ihr Votum neu überdenken mussten, weil sie sich nunmehr ja nur noch zwischen zwei Kandidaten entscheiden konnten und der Kandidat ihres Wunsches unter Umständen eben nicht mehr dabei war. Auch dies diente also zur Lockerung der Parteibindung der Wähler. Noch vor der Wahl, nämlich bereits bei der Kür der Abgeordnetenkandidaten, setzte hingegen der Einfluss der bisweilen mächtigen Interessenverbände ein. Weit entfernt von jeglichen breit gestreuten Parteiinteressen suchten sie, Kandidaten ihrer Wahl bis zur Abstimmung zu bringen. Die Gründung eigener Wirtschaftsparteien scheiterte jedoch immer wieder am fehlenden Zuspruch größerer Wählermassen. So versuchten sie es mit klarer Einflussnahme bei der Kandidatenkür der Parteien. Der "Zentralverband deutscher Industrieller" schickte beispielsweise 1877 und 1878 eine größere Zahl seiner Anhänger in die damals noch offenen Parteisitzungen nationalliberaler und konservativer Ortsverbände und erreichte auf diese Weise die Nominierung etlicher Kandidaten, die eine starke Schutzzollpolitik befürworteten2. Als die Parteiorganisationen sich zunehmend abschlossen und zu eigenen Körperschaften wurden, griffen die Interessenverbände zu dem Verfahren der Interpellation: Sie legten ihre zumeist wirtschaftspolitischen Forderungen den Wahlkreiskandidaten der Parteien vor und befragten sie hierzu. Anschließend forderten sie ihre Anhänger auf, den Kandidaten ihrer auf dieser Interpellation beruhenden Auswahl auch zu wählen. Auf diese Weise gelang es beispielsweise den Vertretern der Tabakbranche in den achtziger Jahren, eine genügende Anzahl Kandidaten gegen das angestrebte Tabakmonopol der Regierung zu mobilisieren. Auch der "Bund der Landwirte" setzte so seine Verbandspolitik vor allem bei den ländlichen Wahlkreiskandidaten durch. Dieses System der Interpellationen nahm bisweilen beträchtliche Ausmaße an. Ein Kandidat konnte ohne weiteres von 20 bis 25 Verbänden "interpelliert" werden, wobei die Forderungen manchmal groteske Züge erreichten, wenn etwa der Bund der Radfahrer oder die organisierten Impfgegner interpellierten 3 . Andere mächtige Verbände wie etwa die Angestellten- oder Beamtenverbände versuchten, ihren Einfluss direkt bei der Parteileitung geltend zu machen, da ihre Anhängerschaft in den einzel-
2 Vgl. zum Folgenden Nipperdey, Thomas: Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 319-337, hier S. 326. 3 Ebd. S. 327.
Politische Klasse und Wahlrecht
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nen Wahlkreisen nicht genügend Stimmen aufbringen würde, um die Direktwahl eines Kandidaten zu bewirken. Geld spielte dabei auf unterschiedliche Weise eine Rolle. Werbekampagnen, die sich an die Wähler richteten, hatten immer dann wenig Erfolg, wenn lediglich reine Unternehmerinteressen durchgesetzt werden sollten. Die Wahlkampffinanzierung einzelner Kandidaten, die dann die Interessen des zahlenden Verbandes vertreten sollten, machten erst im ausgehenden Kaiserreich Sinn, als die Wählkampfe der schwächelnden Liberalen gegen die immer mächtiger werdende SPD intensiviert werden mussten und nun richtig Geld kosteten. Zur Reichstagswahl 1912 finanzierte der "Zentralverband deutscher Industrieller" 120 Kandidaten, von denen dann immerhin 41 gewählt wurden4 . Um diese Zeit massiver Einflussnahme der Interessenverbände auf die Politik blieb es dann auch nicht aus, dass diese Verbände teilweise miteinander koalierten, um gegnerische Interessenverbände zu bekämpfen. Bekannt geworden ist 1909 das Kartell von Angestellten- und Beamtenverbänden, Handwerker- und Handelsorganisationen unter dem Namen "Hansabund", der die linksliberalen Parteien stützte. Hiergegen formierten sich 1913 der Zentralverband deutscher Industrieller und der Bund der Landwirte unter dem Namen "Kartell der schaffenden Stände", das dann von seinen Gegnern als "Kartell der raffenden Hände" karikiert wurde5 . Zunehmend jedoch stellten die Interessenverbände den Parteileitungen Gelder zur Verfügung, um den Wahlkampf zu führen und erwarteten nurmehr eine generelle Übereinstimmung in wirtschaftspolitischen Belangen als Gegenleistung. Bei dieser Form der Einflussnahme durch Spenden ist es dann bis heute geblieben; vor allem auch deswegen, weil das neue Weimarer Wahlsystem nach 1918 den direkt gewählten Abgeordneten nicht mehr kannte. Die von der SPD durchgesetzte reine Verhältniswahl mit starren Parteilisten und die starke Stellung der Parteien im Wahlsystem wie in der Verfassung, ließen eine andere Beeinflussung als die einer Gesamtpartei nun nicht mehr zu. So gesehen ist das System der Parteispenden, also eine indirekte Einflussnahme, ein Ergebnis des Verhältniswahlrechts; ein absolutes Mehrheitswahlrecht hatte bislang eine direkte Einflussnahme ermöglicht. Wohl hat Bismarck bei der Einführung dieses personenbezogenen Mehrheitswahlrechts die finanzielle Beeinflussung durch Verbände nicht voraus4 Vgl. hierzu den vertraulichen Rechenschaftsbericht über die "Tätigkeit der Kommission für den industriellen Wahlfonds" des Zentralverbandes deutscher Industrieller, abgedruckt in: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich 18711914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Göttingen 1992, S. 167-173, hier S. 171. 5 Nipperdey, Interessenverbände, S. 334.
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ahnen können. Er wollte durch die Wahlrechts-erzwungene Honoratiorenwahl vor allem zwei Gruppen schädigen: zum einen die Liberalen, die Vertreter des intellektuellen und aufstrebenden Bürgertums, mit denen er noch im preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt denkbar schlechte Erfahrung gemacht hatte und natürlich den Regimegegner, die aufstrebende Sozialdemokratie, die politische Vertretung der Handwerker und Arbeiter, des besitzlosen Proletariats. Die prominenten Vertreter der Liberalen waren häufig Professoren oder auch Juristen, Beamte also, für die besondere Klauseln galten. Sie waren wohl wählbar als Abgeordnete, mußten aber ihr Mandat niederlegen, sobald sie entweder zu Beamten berufen wurden oder als Beamte befördert wurden. In einer sogenannten Ersatzwahl konnten sie sich dann erneut zur Wahl stellen. Dies sollte in erster Linie die politische Unabhängigkeit von Beamten sicherstellen und gleichzeitig verhindern, dass allzu viele Staatsdiener im Reichstag saßen6 . (Eine noch deutlichere Benachteiligung von Beamten im passiven Wahlrecht wurde kurzfristig von der britischen Besatzungsmacht in den von ihnen besetzten Gebieten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. Die Briten beriefen sich hierbei auf die Tradition ihres eigenen relativen Mehrheitswahlrechts und, ähnlich wie Bismarck, auf die politische Unabhängigkeit von Staatsdienern.) Anders herum lautete die Argumentation für das Wahlrecht aktiver Soldaten: sie durften im Kaiserreich nicht wählen, konnten sich also nicht zu einer bestimmten Partei bekennen, waren aber zu Abgeordneten wählbar. Am wenigsten entsprachen die sozialdemokratischen Abgeordneten Bismarcks Vorstellung von Volksvertretern im Reichstag. Sie vertraten die Interessen des Klassenfeindes 7 , des besitzlosen Proletariats, der Habenichtse im Deutschen Reich. Als die Arbeiterführer und frühen Abgeordneten der Partei August Bebel und Wilhelm Liebknecht sich auch noch positiv zur Pariser Kommune von 1870 äußerten, schien ihre Verfassungsfeindlichkeit gegenüber dem neugegründeten Deutschen Reich hinreichend dokumentiert. So verbrachten die beiden prominentesten Vertreter der Sozialdemokratie die Zeit der Reichsgründung in Festungshaft in Erwartung des "Leipziger Hochverratsprozesses" gegen sie. Die Partei kämpfte hingegen weiter offen und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, forderte die "Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit 6 Hier irrt Nipperdey, der von dem Wahlrecht die "Beamten-Abgeordneten" begünstigt sieht. Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 105. 7 Vgl. zu dem Begriff der Klassengesellschaft allgemein: Ritter, Gerhard A./Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, 1871-1914, Bonn 1992, S. 130148.
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mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrages"8. Die Interessengegensätze zwischen Bürgerlichen und Sozialisten hätten größer nicht sein können.
II. Die ausgegrenzte Sozialdemokratie Die politische Konstellation in der Gründungsphase des Deutschen Reichs, am Anfang des deutschen Parlamentarismus, schien nicht gerade dazu angetan, eine einheitliche "politische Klasse" als Berufspolitiker zu gerieren. Zu groß war die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Interessengruppierungen und als ihr Abbild zeigte sich auch im Reichstag ein unüberbrückbarer Klassengegensatz zwischen den Abgeordneten der Sozialisten und den Vertretern des liberalen wie konservativen bürgerlichen Lagers. Man sprach nicht miteinander. Als August Bebel, inzwischen charismatischer Arbeiterführer und national wie international eine Berühmtheit - es muss um 1910 gewesen sein -nach langer Krankheit wieder das Reichstagsgebäude in Berlin betrat, fragte ihn Reichskanzler Bethmann-Hollweg nach seinem Befinden. "Bebel, den Zeit seines Lebens so leicht nichts hatte umwerfen können, war verwirrt und errötete. Nach über vier Jahrzehnten Parlamentszugehörigkeit war es das erste Mal gewesen, dass ein Minister ein persönliches Wort an ihn gerichtet hatte." 9 Diese Episode spiegelt eindrucksvoll, was wir gemeinhin unter Klassengesellschaft verstehen. Dennoch sah man bereits um diese Zeit an einigen Stellen zaghafte Ansätze zur Aufweichung dieser Klassengesellschaft innerhalb der Gruppe der Politiker. In den süddeutschen Landtagen 10 beherrschten nach der Jahrhundertwende die Nationalliberalen die Politik und mussten heftig die Wahlgesetze manipulieren, um mit ihrer an sich sehr schmalen Wählerbasis an der Macht bleiben zu können. Besonders in den bayerischen Gebieten wie z. B. hier in Speyer, regte sich dabei nicht nur der Protest der Sozialdemokraten sondern auch der der katholischen Zentrumspartei. Die Sozialdemokratie war in diesen Gebieten relativ schwach, weil das Zentrum große Teile der katholischen Arbeiter und kleinen Selbstständigen band. Eine geschlossene Gruppe Industriearbeiter fehlte weitgehend in Süddeutschland und die "kö8 Aus dem Gothaer Programm 1875, zit. nach Görtemaker, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, Bonn 1994 (4. Aufl.), S. 284. 9 Zit. nach: Brandt, Brigitte: Einleitung zu: Bebe!, August: Aus meinem Leben, Bonn 1986, S. XVII. 10 Vgl. zu den Wahlabsprachen in den süddeutschen Landtagen Niehuss, Merith: Die Stellung der Sozialdemokratie im Parteiensystem Bayerns, Württembergs und Badens, in: Ritter, Gerhard A. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990, s. 103-126. 6 v. Amim
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niglich bayerische Sozialdemokratie" musste auch programmatisch emtge Zugeständnisse an die traditionellen süddeutschen Wirtschaftsverhältnisse machen, um erfolgreich sein zu können. Eine Änderung des Wahlgesetzes zu Ungunsten der Nationalliberalen lag aber im Interesse beider Parteien, des Zentrums und der SPD. Um eine Stimmenmehrheit im Landtag zu erhalten und damit das Wahlgesetz ändern zu können, waren Wahlabsprachen nötig: die Wähler beider Parteien sollten in bestimmten Wahlkreisen ihre Stimme nur dem einzigen aufgestellten Kandidaten jeweils einer der beiden Parteien geben, um dessen Erfolgschancen jeweils gegen den nationalliberalen Kandidaten zu erhöhen. Diese Wahlabsprachen waren in dreierlei Hinsicht ein riskantes und unorthodoxes Spiel. Zum einen mussten sich die Parteiführer miteinander besprechen, was - siehe obenstehendes Beispiel von Bebe! - an sich schon mehr als ungewöhnlich war und selbstverständlich streng geheim erfolgte. Am einfachsten traf man sich damals ungestört auf Eisenbahnfahrten zu gemeinsamen Landtagssitzungen. Die Eisenbahn war für Abgeordnete umsonst und sie machten eifrig Gebrauch von ihren Freifahrscheinen und die Konstruktion der Wagen - in die Coupes konnte man nur von außen einsteigen und war daher auf der Fahrt völlig ungestört - erlaubte ein geheimes tete-a-tete. Zum Zweiten waren die Gespräche von den jeweiligen regional übergreifenden Parteileitungen keineswegs toleriert, waren also auch innerhalb der Partei geheim zu halten. Georg von Vollmar, herausragende Figur der bayerischen Sozialdemokratie, begründete nicht nur mit diesen Wahlabsprachen sondern mit seiner ganzen pragmatischen Landtagspolitik einen eigenen Reformkurs, den er zwar eloquent darlegte, mit dem er aber Zeit seines Lebens bei der Berliner Parteispitze auf harsche Ablehnung stieß 11 • Auch das Zentrum hatte Probleme sich vor der zumeist konservativen Parteispitze zu rechtfertigen. Auf dem Straßburger Katholikentag jedoch argumentierte die Parteileitung geschickt und prägte das Wort von dem "Großteufel Sozialdemokratie", den man zu Treiberdiensten für die christliche Sache habe gewinnen können 12• Drittens mussten letztlich auch die Wähler diesen Kurs mitmachen. Zunächst, 1899, erfolgten die Wahlabsprachen bei dem in Bayern herrschenden indirekten Wahlrecht auf der Ebene der Wahlmänner, die zunächst nur jeder für sich überzeugt werden mussten. 1905 aber wagte man sich an Absprachen bereits auf der Ebene der Urwähler - und sie funktionierten. Dies 11 Vgl. als einzige Biographie immer noch: Jansen, Reinhard: Georg von Vollmar. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1958 sowie die sogenannten "Eldoradoreden" Georg von Vollmars, benannt nach einem Lokal, in: Vollmar, Georg von: Reden und Schriften zur Reformpolitik, ausgewählt und eingeleitet von Willy Al brecht, Bonn, Bad Godesberg 1977. 12 Jansen, Vollmar, S. 67.
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allerdings "schwächte das kämpferische Klassenbewusstsein". Die Freude über die erreichte Verdoppelung der Mandate wurde getrübt durch die "Selbstverständlichkeit, mit der die eigenen Leute auf diese rein wahltaktisch-opportunistische Zusammenarbeit mit dem Zentrum eingegangen seien" 13 • Die Wähler waren hier, so scheint es, bezüglich ihrer pragmatischen Einstellung zur Politik, ihren Parteifunktionären um einiges voraus. Sie hatten den Reformkurs der Sozialdemokratie bestätigt und die Abgeordneten arbeiteten entgegen ihrer theoretisch eng am Marxismus orientierten Parteilinie in der Tagespolitik mit. Allein, die oben geschilderten Klassengegensätze unter Abgeordneten ließen sich auch in Süddeutschland nicht so einfach überwinden. Der Schwur des Verfassungseides eines Sozialdemokraten in die Hand des württembergischen Königs brachte die radikale Linke der Partei heftig in Wallung: "Mit einem Patsch in die Hand des Königs fing alles an ..." wetterten sie 14• Als 1911 der Kaiser und die Kaiserin München besuchten und unter anderem die Gemeinderatsmitglieder zu einem Galadiner einluden, wurde, so hieß es in der bürgerlichen Presse, der sozialdemokratische Gemeindebevollmächtigte Witti "in ein Gespräch gezogen" - offenbar mit nichtsahnenden Bürgern. Die Presse ereiferte sich darob so sehr, dass Genosse Witti gerichtlich gegen sie vorgehen musste 15 • 111. Die ausgegrenzten Frauen
1908 wurde das Reichsvereinsgesetz verabschiedet, das Frauen nun erstmals erlaubte, in politischen Vereinen und Parteien tätig zu werden. Politisch engagierte Frauen feierten ihren Erfolg und traten voller Begeisterung den politischen Parteien bei - die Begeisterung dort hielt sich allerdings in Grenzen. Die Konservativen lehnten die Mitarbeit von Frauen innerhalb der Partei rundweg ab; politisch interessierte Frauen aus konservativen Kreisen schlossen sich im "Deutschen Frauenbund" zusammen (der 1910 etwa 11.000 Mitglieder umfasste), wo sie sich bemühten, Frauen zwar noch nicht "in die Politik herein", aber doch immerhin "an die Politik heran" zu führen 16• Auch das katholische Zentrum verhielt sich sehr zögernd, obwohl es etlichen Zuwachs aus den Reihen der katholischen sozial engagierten Frauen hätte gewinnen können. Hier schlossen sich Frauen ebenfalls zu13 Hirschfelder, Heinrich: Die bayerische Sozialdemokratie, 1864-1914, 2 Bde. Erlangen 1979, S. 479. 14 Zit. nach Niehuss, Sozialdemokratie, S. 124. 15 Vgl. das Beispiel bei Niehuss, Merith: Parteien, Wahlen, Arbeiterbewegung, in: Prinz, Friedrich/Kraus, Marita (Hg.): München - Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1886-1912, München 1988, S. 44-53, hier S. 49. 16 Bremme, Gabrie1e: Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluss der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament, Göttingen 1956, S. 121.
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nächst parteinah aber noch nicht parteiintern (ab 1909 wurden sie im katholischen Windhorstbund aufgenommen 17) zusammen. Die Nationalliberalen hielten sich ähnlich bedeckt, allein die linksliberalen Parteien nahmen Frauen zahlreich auf. Gefördert und angeregt durch die Person des Parteiführers Friedrich Naumann trat Helene Lange 18, Lehrerin und Seminarleiterin, Herausgeberin der Zeitschrift "Die Frau" und nahezu charismatische Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, der Freisinnigen Vereinigung bei: "Ich ging am Tage des Inkrafttretens des Reichsvereinsgesetzes in die Versammlung eines Berliner Lokalvereins in dem freudigen Gefühl, eine neue Welt zu betreten" 19, schrieb sie 1908. Dort vermisste sie allerdings sehr bald den Feuereifer und die Intensität der Diskussionen, die sie aus dem Vereinsleben ihrer Frauenvereine kannte. "Dazu kam für uns der einigermaßen niederschmetternde Eindruck der Schwunglosigkeit, des Stumpfsinns und der Geistesträgheit des politischen Vereinslebens. Manchmal war das einzig Intensive dieser Versammlungen - der Rauch", schrieb sie einigermaßen ernüchtert20 und musste feststellen, dass auch diese Partei durchaus nicht bereit war, sich aktiv für die Belange ihrer neugewonnenen Mitglieder einzusetzen. In der Tat empfanden alle neu eingetretenen Frauen, die voller Hoffnung und Schaffenskraft in die Politik gestürmt waren, die Parteipolitik als ein Desaster. Als die Freisinnige Vereinigung mit anderen linksliberalen Parteien 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei fusionierte, nahm Helene Lange dies zum Anlass für eine bittere politische Abrechnung. Lediglich eine Reihe von "Unverbindlichkeiten" die Frauenfrage betreffend, seien in das neue Parteiprogramm eingeflossen: Erweiterung der Rechte der Frauen . . . aktives und passives Wahlrecht der Frauen für die Kaufmanns- und Gewerbegerichte . . . Heranziehung der Frauen zur Kommunalverwaltung ... "Ein paar magere Sätze am Schluß einer langen Reihe gewichtiger und vollklingender Forderungen. Hinterher kommt nur noch der Weltfriede."21 Auch die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für Frauen fand noch keinen Widerhall in den Reihen männlicher Liberaler. Immerhin gelang bis zum Jahr 1912 eine Parteitagsresolution, in der die Parteigenossen aufgefordert wurden, "die Frauen im Kampf um ihre politischen Rechte bis zur vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung zu unterstützen. " 22 17 Schenk, Herrad: Die feministische Herausforderung. 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland, München 1992, S. 41 . 18 Vgl. als Biographie zuletzt: Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln u. a. 2000. 19 Lange, Helene: Lebenserinnerungen, Berlin 1921, S. 238. 20 Ebd. 21 In: Die Frau 1909/10, S. 291 f. Vgl. auch Gerhard, Ute: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990, S. 285. 22 Zit. nach Gerhard, Unerhört, S. 286.
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Auf Seiten des "Klassenfeindes", der Sozialdemokratie, sah das Bild zunächst anders aus. In seinem Bestseller "Die Frau und der Sozialismus" hatte August Bebe! bereits 1879 die politische Gleichberechtigung der Frau eingefordert23 und die benachteiligte Stellung der Arbeiterin in der Gesellschaft analysiert. Man kann also sagen, dass der Boden für Frauen in dieser Partei auch vor 1908 bestens bestellt war. Mit dem neuen Vereinsgesetzes wurden alle Sonderorganisationen sozialdemokratischer Frauen, wie sie bislang wegen des restriktiven Vereinsrechts in den meisten deutschen Staaten bestanden hatten, aufgelöst und die Partei konnte bis 1909 insgesamt über 60.000 weibliche Mitglieder verbuchen 24 • Sie sollten sich nun nach ihrem offiziellen Parteieintritt der "Frauenagitation" widmen und waren autorisiert, auf lokaler Ebene eigene "Zusammenkünfte einzurichten, welche ihrer theoretischen und praktischen Schulung dienten." 25 Die Wahlrechtsforderung für Frauen war bereits auf dem Erfurter Parteitag 1891 präzise formuliert worden und 1895 brachte die SPD als erste und einzige Partei einen Gesetzesantrag im Reichstag auf Verleihung des Reichstagswahlrechts für Frauen ein 26 . Der Widerstand gegen ein gleichberechtigtes Frauenstimmrecht kam demnach allein aus den Reihen bürgerlicher Parteien. Argumente gegen die Gewährung eines Frauenwahlrechts gab es eigentlich keine - es war eine Frage der gesellschaftlichen Befindlichkeit. Politik war nun einmal Männersache, ebenso wie der Krieg und Frauen sollten sich auf Haushalt und Mutterpflichten, allenfalls auf ehrenamtliche Wohlfahrtstätigkeit beschränken. Die politisierende Frau galt als Inbegriff des Schreckgespenstes der Emanzipation27. Und das nicht nur in Deutschland sondern überall in Europa. Der Begriff der Suffragette, der von den englischen Wahlrechtskämpferinnen herrührt, die so manch einen Demonstrationszug durch die Londoner Innenstadt veranstalteten und zum Bürgerschreck avancierten, hat bis heute eine negative Konnotation. Engagierte Frauen wehrten sich mit immer denselben Argumenten. Sicherlich seien Frauen verschieden von Männem; eben genau darum benötigten sie eine eigene, weibliche, Vertretung in der Politik, denn "noch weniger wie ein Stand den anderen (kann) ein Geschlecht das andere vertreten" 28 . Warum sollten Männer in der Lage sein, 50. Aufl. Stuttgart 1910, S. 290 ff. Niggemann, Heinz (Hg.): Frauenemanzipation und Sozialdemokratie, Frankfurt a.M. 1981, S. 299. 25 SPD-Parteitag~beschlüsse von 1908 und 1909, zit. nach Frevert, Ute: FrauenGeschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 136. 26 Bremme, politische Rolle der Frau, S. 118. 27 Schenk, feministische Herausforderung, S. 38. 28 Bäumer, Gertrud: Zur Frage der Frauenpartei, in: "Die Frau", Jg. 32, 1925, 23
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die Interessen von Frauen mit zu vertreten? "Wann übertrug die Frau dem Manne das Mandat? (... ) Es ist ein altes Argument, daß die Arbeiter durch ihre Arbeitgeber zu repräsentiren seien, das Argument hat aber die Arbeiter nicht überzeugt, und mit Energie haben sie diese Vertretung zurückgewiesen. Und die Frauen sollten sie acceptiren? Nimmermehr!" 29 Auch sind Frauen nicht weniger politisch gebildet als Männer. "Aber nein, du darfst nicht wählen und wenn du zu den edelsten und reinsten Menschen gehörst, aber der trunkene Lastträger, er giebt seine Stimme für den Vertreter seiner Rechte ab. Nein, du darfst nicht wählen, und wenn du alle Weisheit und alle Erkenntniß dieser Welt besäßest; aber der verdummte Bauer, dessen Erkenntnißvermögen nicht über die Scholle Ackers reicht, die er pflügt, er hat bestimmend einzuwirken auf die Gesetze, die die Existenz der Frau bedingen."3o Selbstverständlich waren nicht alle, wohl aber die meisten bürgerlichen Männer so restriktiv gegenüber einer weiblichen Vertretung in der Politik eingestellt, und selbstverständlich auch waren es sehr viele, wohl die überwiegende Mehrheit, der bürgerlichen Frauen. Die Frauenrechtlerinnen mussten nicht nur gegen den männlichen Protest ankämpfen sondern immer auch Überzeugungsarbeit bei ihren Geschlechtsgenossinnen leisten. 1918 fiel das Wabirecht den Frauen in den Schoß. Die Oktoberverfassung von 1918 sah noch kein Frauenstimmrecht vor, da alle Parteien rechts von der SPD sich dagegen aussprachen. Jedoch wurde diese Politik von den revolutionären Ereignissen im November überrollt. Die Diskussion um die Abdankung des Kaisers und um die Wahlrechtsfrage spitzte sich am Abend des 8. November 1918 zu. Auf einer Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses um 6 Uhr abends konnten sich weder die Zentrumsfraktion noch die Nationalliberalen durchringen, das von den Sozialdemokraten vorgeschlagene Frauenwahlrecht im Reich und in Preußen einzuführen. Allenfalls würden sie die Abstimmung darüber innerhalb der Parteien freistellen. Die Sozialdemokraten rückten indes nicht mehr von ihrer Forderung ab, obwohl, wie Eduard David es an dem Abend ausdrückte, "wir dafür nicht so sehr gekämpft haben, (denn) das Frauenwahlrecht würde in seiner Praxis wohl für die Zentrumspartei am meisten zur Geltung kommen." 31 Nach der Abdankung des Kaisers am 9. November war die Oktoberverfassung obso29 Dohm, Hedwig: Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, Berlin 1876, S. 164; abgedruckt auch in: Quellen zur Geschichte der Frauen, S. 322. 30 Ebd. S. 320. 31 Vgl. Dokument Nr. 143 in: Die Regierung des Prinzen Max von Baden, bearbeitet von Erich Mattbias und Rudolf Morsey, Düsseldorf 1962 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, Bd. 2), S. 607.
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Iet und nach der Konstituierung des revolutionären Rates der Volksbeauftragten veröffentlichte dieser am 12. November 1918 einen Aufruf an das Deutsche Volk, der im Reichs-Gesetzblatt veröffentlicht wurde. In den beiden letzten Sätzen hieß es: "Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens zwanzig Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. Auch für die Konstituierende Versammlung ( ...) gilt dieses Wahlrecht." 32 1919 wurde es in den Ländern und in der Weimarer Verfassung verankert33 . Zu diesem Zeitpunkt saßen schon Frauen in der Nationalversammlung und stimmten mit darüber ab. Der Antrag der Abgeordneten Minna Cauer, eine der führenden radikalen Frauenrechtlerinnen, auf Einführung einer Frauenquote auf den Parteilisten wurde allerdings von Hugo Preuß, dem "Vater" der Weimarer Verfassung, als "undurchführbar" abgelehnt34 . Die Wahl zur Nationalversammlung mobilisierte die Menschen wie wohl niemals zuvor und die politisch engagierten Frauen nutzten jede Möglichkeit für ihre Wahlwerbung. Das neue Verhältniswahlrecht würde erstmals nach starren Parteilisten erfolgen. Es galt für die Frauen deshalb zunächst, innerhalb der Partei einen möglichst günstigen Listenplatz als Abgeordnete für die Nationalversammlung zu bekommen. Frauen wurden durch dieses Wahlrecht in gewisser Weise begünstigt. Der Wähler und die Wählerin gaben ihre Stimme nur für eine Partei ab. Die Kandidatinnen mussten sich nicht mehr wie im Kaiserreich innerhalb eines Wahlkreises der Konkurrenz mit Vertretern anderer Parteien stellen und als Einzelperson um die Gunst der Wähler werben, sondern konnten, falls sie einen oberen Listenplatz erreicht hatten, von den Stimmen für "ihre" Partei profitieren. Insgesamt nominierten die Parteien erstaunlich viele Frauen auf guten Listenplätzen, sogar solche Parteien, die sich noch wenige Monate vor der Wahl dezidiert gegen ein Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten. Diese relativ starke Stellung der Frauen in dieser ersten Wahl mit weiblicher Wahlbeteiligung ist wohl auf die Angst der Parteien zurückzuführen vor dieser "großen Unbekannten", der weiblichem Wählerschar, die man noch so gar nicht einschät32 Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, erster Teil, bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff, eingeleitet von Erich Mattbias, Düsseldorf 1969 (=Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus, a. a.O., Bd. 6/1), s. 37 f. 33 Vgl. die endgültige Fassung der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung ebd. Dok. 35, S. 233 sowie § 12 der Reichsverfassung mit der Bestimmung der Länderwahlrechte, die sowohl das Verhältniswahlrecht wie das Frauenwahlrecht festlegte, in: ebd. Bd. 6/II, Dok. I 05, s. 252. 34 Staatssekretär Hugo Preuß zur Einführung des Reichswahlgesetzes auf einer Kabinettssitzung am 26.11.1918, abgedruckt in: ebd., Bd. 6/1, Dok. 31 , S. 221.
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zen konnte. Die Sozialdemokratie war 1919 durch 22 Frauen vertreten, das entspricht 13,3% der MSPD-Abgeordneten 35 . Der Anteil von zusammen 9,6% weiblichen Abgeordneten, der 1919 insgesamt erreicht worden war, wiederholte sich nicht; der Prozentsatz pendelte sich bei 7% ein - er wurde erst in der Bundesrepublik 1983 (!) wieder erreicht. Der prozentuale wie nominale Schwund weiblicher Abgeordneter im Weimarer Reichstag hat viele Gründe: Frauen waren von der Gunst der Parteien abhängig, wenn sie einen Listenplatz haben wollten; wenn die Wahlergebnisse schlecht ausfielen, kippten sie schnell von ihren dritten und vierten Listenplätzen. Das geschah so bei der SPD, die bis 1924 von 165 Mandaten auf 100 fiel und stärker noch bei der DDP, die zwischen 1919 und 1930 von 74 auf 14 Mandate schrumpfte. Ein zweiter Grund lag in der Neuartigkeit ihrer Aufgabe. Sie drangen in eine Männerwelt ein und mussten sich den längst erprobten und eingefahrenen organisatorischen und sozialen Strukturen des Politik-Machens unterwerfen. Der langsam entwickelten, inzwischen eingefleischten und weitgehend kodifizierten Struktur männlicher Umgangsweisen fühlten Frauen sich oft nicht gewachsen, zumal unter den Bedingungen der nachrevolutionären Ereignisse. Marie Baum beschreibt dieses Gefühl in ihren Erinnerungen: "In der Atmosphäre des Parlaments (... ) berührten mich die bis zur Roheit im Ausdruck, ja bis zu Tätlichkeiten gesteigerten Entladungen politischer Leidenschaft abstoßend. Einmal versuchte ich die Seniorin der bürgerlichen weiblichen Abgeordneten, Frau Agnes Neuhaus, zum Eingreifen zu veranlassen. Sie zögerte noch, als ein erfahrener Parlamentarier uns mit der Bemerkung, das Parlament ertrüge keine Improvisationen, den Mut benahm. War es recht, daß wir uns abschrecken ließen? Waren denn diese unwürdigen Ausbrüche nicht auch "Improvisation"? Und sollte man dem Ungewöhnlichen nicht durch anderes Ungewöhnliche begegnen dürfen? Mit einem quälenden Gefühl nur kann ich feststellen, daß es uns eben an der nötigen Kraft dazu gefehlt hat. "36 In der Tat waren es schlechte Zeiten für die zarten Ansätze einer Frauenpolitik. Die Versorgungsnot der Kriegszeiten war noch nicht behoben, da tobten schon die Straßenkämpfe; die Arbeitsplätze waren noch nicht auf die Friedensproduktion umgestellt, da fraß die Inflation schon die geringen Löhne; die neue Republik saß noch nicht fest im Sattel, da wurde sie bereits von Putschversuchen bedrängt. Der Friedensschluß von Versailles schließlich ließ die Sozialdemokratie auf längere Sicht an der "Bürde der Macht" scheitern. Lida Gustava Heymann kom35 Vgl. die folgenden Angaben in: Parlamentarierinnen in deutschen Parlamenten 1919-1983, Bonn 1983 (= Deutscher Bundestag - Verwaltung - Hauptabteilung wissenschaftliche Dienste, Materialien, Nr. 82), S. 9-20 sowie die Angaben bei Bremme, politische Rolle der Frau, S. 121-125. 36 Baum, Marie, Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950, S. 225.
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mentierte den Beginn weiblicher Parlamentstätigkeit so treffend wie bissig: "Man gab den Frauen die politische Gleichberechtigung in einer Zeit, als Männerpolitik bankrott war, als der Parlamentarismus einen Tiefstand erreicht hatte (... ). Einsichtige wußten, daß mit dem Stimmrecht der Frauen allein und mit der Verleihung einiger Renommierposten an sie wirklich so gut wie gar nichts für die staatliche Erneuerung im Sinne eines Kulturfortschrittes erreicht wurde, und war es schon in den ersten Jahren der Republik mit der Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland kümmerlich bestellt, so wurde diese von Jahr zu Jahr weiter untergraben bis zum Schluß, rein äußerlich gesehen, nichts mehr übrig blieb." 37 Aus dieser Position der Minderheit heraus wie auch unter dem Druck des Handeln-Müssens in dieser Notzeit gab es eine parteiübergreifende Zusammenarbeit von Frauen, die von den einzelnen Fraktionen auch gutgeheißen wurde. Das ist bemerkenswert, denn zur Zeit des Kaiserreiches hatte es wie bereits erwähnt zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie eine unüberwindbare Gesprächsbarriere gegeben. Die Frauen hatten in ihrer Verbandstätigkeit trotz aller Uneinigkeit in vielen Fragen, schon während des Kaiserreichs wenig Berührungsängste. Auch die radikalen bürgerlichen Aktivistinnen pflegten vielfältige freundschaftliche Beziehungen nicht nur zu Zentrumsfrauen sondern auch durchaus zu Sozialistinnen 38 . Die Freundschaft zwischen der bürgerlichen Elly Heuss-Knapp, der Ehefrau des späteren Bundespräsidenten und der Ehefrau des Sozialdemokraten Eduard David oder auch mit der Frau des späteren Reichspräsidenten Ebert ist hier kein Einzelfall, wenngleich man die Klassenschranken zwischen Bürgerlichen und Sozialistinnen auch nicht unterschätzen darf. Im Verlauf der kurzen Geschichte der Weimarer Republik zogen sich dann jedoch die Sozialdemokratinnen in die Parteipolitik zurück und den in ihrer Zahl arg dezimierten bürgerlichen Parlamentarierinnen gelang es in keiner Weise, das von Helene Lange beschriebene Konzept der "geistigen Mütterlichkeit" in die Politik einzubringen: denn eigentlich wollten diese Abgeordneten nicht bei der Sozial und Familienpolitik stecken bleiben, wollten vielmehr Politik als Ganzes mitbestimmen, wollten sich einbringen in die Diskussionen um Wirtschaftsformen, um Krieg und Frieden, wollten dem allen ihre weibliche Note verleihen, wollten Politik "humanisieren" und den "weiblichen Kultureinfluss" überall zur Geltung bringen 39 • "Für einen besonderen, qualitativ anders gearteten politischen Gestaltungswillen ließ dieses System jedoch keinen Raum, die Frauen konnten sich, wenn 37 Heymann, Lida Gustava und Augspurg, Anita: Erlebtes - Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850-1940, hg. Von Margit Twenmann, Meisenheim am Glan 1972, S. 190. 38 Vgl. z.B. Heymann, Erlebtes- Erschautes, passim. 39 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 166.
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überhaupt, nur in eingefahrenen Gleisen bewegen, in Formen, die ihnen nicht gemäß waren und bald zu einer Resignation auf beiden Seiten führten."40 Darum blieben sie in der Tagespolitik um Frauenfragen gefangen und mussten die große Politik wie eh und je den Männern überlassen.
IV. Die ausgegrenzten Bürgerbewegungen Frauen vermochten es also nicht, ihr Konzept der "geistigen Mütterlichkeit'' in die Politik einzubringen. Auf lange Sicht waren nur jene Frauen als Politikerinnen erfolgreich, die sich den Verhaltensweisen und den eingefahrenen Strukturen ihrer Berufspolitiker-Kollegen anpassten. Innerhalb der Parteien jedoch gelang ihnen im Verlauf der späteren Bundesrepublik und als Konsequenz einer zweiten Emanzipationsbewegung, der "zweiten Frauenbewegung" seit den 1970er Jahren durchaus ein zunehmend erfolgreicher Einbruch in die bislang männerdominierte Politikdomäne. Im Verlauf der Bundesrepublik stieg auch die Bedeutung der verfassungsrechtlich inzwischen fest verankerten Parteien erheblich. Aus der Vielzahl größerer, kleiner und kleinster Parteien der unmittelbaren Nachkriegszeit gingen schließlich die beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU als Sieger hervor. Sie hatten es innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten geschafft, mit Hilfe des Länder- und Bundeswahlrechts und dessen massiver Manipulation, die kleine Konkurrenz bis auf die verbliebenen Freien Demokraten aus dem Felde zu schlagen oder zu schlucken41 . Auf der Basis einer bislang von den großen Parteien nur unzureichend betreuten Wählergruppe, der jungen, modernen Wählerinnen und Wähler sowie auf der Basis eines bislang ebenso vernachlässigten Politikfeldes, nämlich der Umweltpolitik, gelang es erst in den 1980er Jahren der Grünen Partei, Einzug in einige Länderparlamente und schließlich in den Bundestag zu halten. Aber dieser Prozess ist nicht Thema dieses Vortrages. Ich möchte mich abschließend vielmehr jenen engagierten Politikerinnen und Politikern widmen, die keinen Eingang in die Welt der Berufspolitiker fanden, weil sie sich bereits im Vorfeld deren Organisationsdiktat, der Gründung einer Partei, nicht unterwarfen. Damit sind vor allem die Bürgerrechtsbewegungen der ehemaligen DDR gemeint, jene politischen Vereinigungen, die den Zusammenbruch des alten Regimes begleitet und wesentlich gefördert und Bremme, politische Rolle der Frau, S. 123. Vgl. hierzu Merith Niehuss: Die Parteien und der Kampf um die Macht in den Ländern Nachkriegsdeutschlands 1946-1955, in: Amim, Hans Herbert von/Gisela FärberiStefan Fisch (Hg.): Föderalismus - hält er noch, was er verspricht? Seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte ausländischer Erfahrungen, Berlin 2000 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 137), S. 197- 213. 40
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damit der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands entscheidend den Weg bereitet haben. Entstanden im Jahr der aufkeimenden Regimeopposition in der DDR, formierte sich das Neue Forum 1989 nicht als Partei: "Wir hatten es einfach satt, hinter farbigen Fahnen herzulaufen. Das haben unsere Eltern schon gemacht, und wir haben es vierzig Jahre mitgemacht und mitangesehen oder nicht verhindert. Wir haben es satt, auf diese Weise geführt zu werden, von wem auch immer. "42 Dietlind Glüer vom Rostocker Neuen Forum formulierte diese grundlegende Andersartigkeit der Bürgerbewegungen gegenüber den traditionellen (westlichen) Parteien so: "Wir brauchen meines Erachtens eine unabhängige Plattform, auf der sich der einzelne nicht gleich wieder vereinnahmt sieht in einem Machtgefüge (. ..). Eine Bürgerbewegung geht davon aus, daß viele eine Antwort geben können auf die lebensnotwendigen Fragen unseres Volkes." Und an anderer Stelle: "Selten ist deutlicher geworden, als auf dem Weg zur deutschen Einheit, wie parlamentarische Machtkämpfe an den Sorgen und Nöten der Menschen vorbeigehen. Politmanager verlieren leicht die ,Bodenberührung'! Hingegen kann und darf es einer Bürgerbewegung nicht um die Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden gehen, sondern vielmehr um die gemeinsame Suche nach Lösungen für die Probleme, welche vor uns allen tatsächlich stehen. " 43 Das Neue Forum war seit dem September 1989, ähnlich wie die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte oder der Demokratische Aufbruch, eine basisdemokratische Sammlungsbewegung. All diese Bewegungen brachten sich energisch und phantasievoll in die Diskussion um die Erneuerung der zerfallenden DDR ein. Ihre Vertreter nahmen an den Diskussionen des Zentralen Runden Tisches, der auf Initiative der Bürgerbewegungen entstanden war, im Januar 1990 unter Ministerpräsident Hans Modrow teil. In dieser Phase nahmen die Bürgerbewegungen allmählich eine befürwortende Position zur deutschen Einheit ein. Es begann der Wahlkampf zur Volkskammerwahl im März und damit begann für die Bewegungen der steinige Weg einer formaleren Organisationsstruktur, der, unmerklich zuerst, auf Kosten der Bedeutung ihrer Basisorganisationen ging. Um diese Zeit stand eine Regierungsbeteiligung dieser bislang "außerparlamentarischen" Opposition in der DDR an. Einige Vertre42 Pflugbeil, Sebastian: Wir müssen die Revolution mit den Genossen machen, Interview vom 26.10.1989, zit. nach: ders.: Das Neue Forum, in: Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, hg. Von Eberhard Kuhrt u.a. im Auftrag des Bundesministerium des Innem, Opladen 1999, S. 507-536, hier S. 508. 43 Erstes Zitat vom 28. Dezember 1989; zweites vom Oktober 1990, beide zitiert nach: Probst, Lothar: Ostdeutsche Bürgerbewegungen und Perspektiven der Demokratie. Entstehung, Bedeutung und Zukunft, Köln 1993, S. 116.
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ter von Bürgerbewegungen nahmen an einer "Regierung der Nationalen Verantwortung" als Minister ohne Geschäftsbereich teil, "deren wesentliches Ziel in einer sorgfaltigen und ruhigen Vorbereitung auf die Vereinigung bestand."44 Im Frühjahr erfolgte eine DDR-weite Abschätzung der Mitgliederzahlen des Neuen Forum. Es stellte sich heraus, dass diese zwischen dem November 1989 und dem Frühjahr 1990 auf ein Zehntel zusammengeschmolzen waren. 45 Zur Volkskammerwahl am 18 März 1990 fusionierten das Neue Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte zum Bündnis 90. Dieser Schritt war sehr umstritten in den Ortsgruppen und das Wahlergebnis war niederschmetternd: 2,9% der gültigen Stimmen landesweit - nur 12 von 400 Abgeordneten gehörten jetzt den Bürgerbewegungen an 46 . Zu den Landtagswahlen am 14. Oktober 1990 weichte dieses Wahlbündnis auf. In Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern kandidierte das Neue Forum nunmehr getrennt von anderen Bürgerbewegungen, kam allerdings nur in Sachsen über die 5-%-Hürde. Das Bündnis 90 kandidierte in alter und z. T. veränderter Kombination zum Teil mit und zum Teil ohne die Grünen. In Sachsen-Anhalt und Thüringen schlossen sich Grüne und Neues Forum zusammen und erreichten einen Einzug in die Landesparlamente. In Mecklenburg-Vorpommern als einzigem der späteren neuen Bundesländer erreichte keine der genannten Gruppierungen die 5- %-Hürde; gemeinsam hatten sie fast 10% der Wählerstimmen47 . Bereits im Oktober 1989 gründete sich der Demokratische Aufbruch, eine weitgehend der evangelischen Kirche nahestehende Gruppierung, der es - allerdings unter heftigen Zerwürfnissen, bereits im Dezember 1989 gelang, ein Parteiprogramm zu verabschieden. Ihr gehörten unter anderem Eberhard Neubert, Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann an, der ebenfalls als Minister ohne Geschäftsbereich in die Modrow-Regierung einzog. Auf diesem Parteitag in Leipzig jedoch brachen die unterschiedlichen Meinungen über den Prozess der Vereinigung beider deutscher Staaten erneut auf und führten zu einer Destabilisierung der gesamten Partei. Hier fiel dann auch das Wort: "Wir haben die Tradition unterschätzt", das sich auf die westdeutsche Parteientradition bezog, "in die sich einzuordnen nun unausweichlich geworden war. ( . .. ) Allein schon der Umstand, dass der DA eine Partei geworden war, veranlasste einige Sympathisanten zur Abkehr. "48 Verschiedene Kräfte innerhalb der Bewegung versuchten, sich dem bundesdeutschen "Links-Rechts-Schema" zu entziehen und sich nicht Pjlugbeil, Das Neue Forum, S. 519. Ebd. 46 Vgl. zu den Wahlergebnissen Ritter/Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946-1990, s. 190 ff. 47 Vgl. zu den Wahlergebnissen: Ritter, Gerhard A./Niehuss, Merith: Wahlen in Deutschland 1990-1994, München 1995, S. 32-34. 44 45
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in die Nähe einer der großen Parteien zu stellen. Sie wollten auch eine zu schnelle Wiedervereinigung verhindern, eigene Konzepte entwickeln, konnten sich aber nicht durchsetzen. Der nach etlichen Parteiaustritten stark dezimierte Demokratische Aufbau schloss sich schließlich der christdemokratisch dominierten "Allianz für Deutschland" in der Volkskammerwahl 1990 an und trat bei den nachfolgenden Wahlen nicht mehr in Erscheinung. Eine ganz ähnliche Entwicklung nahm die Bewegung "Demokratie Jetzt", von der die Initiative zu den Gesprächen des "Runden Tischs" unter Ministerpräsident Modrow ausging. Ludwig Mehlhorn, einer der Initiatoren dieser Gruppe, formuliert knapp und präzise die Gründe für das Scheitern all dieser oppositionellen Gruppen: "Eine Epoche war in ihr Endstadium getreten. Aber die beinahe kampflose Preisgabe des Machtmonopols der SED lag außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass die Sowjetunion - auch unter Gorbatschow - ihre Hegemonie über Ost- und Mitteleuropa ohne Krieg beenden würde. Daraus folgt, dass wir konzeptionslos ins Jahr 1990 gingen. Wir wollten durch Reformen zwar nicht mehr das System der DDR retten, betrachteten aber für eine längere Übergangszeit die Existenz des Staates DDR als notwendigen Faktor für die europäische Stabilität ( ... )."49 Ihre Konzepte und zaghaften Versuche der Neuorganisation des Staates, dem sie dann allerdings kein geschlossenes Gegenmodell entgegenstellen konnten, wurden von den Ereignissen überrollt und ließen sie schließlich als "konzeptionslos" vor der allzu rasch vollzogenen Einheit der beiden Deutschlands dastehen. Auch ihre Organisationsform wurde im Nachhinein lediglich an der westdeutschen Parteientradition gemessen. Bestehen blieb, dass sie als politische Opposition an jeglicher übereinstimmender Programmatik gescheitert waren, als Parteien sozusagen versagt hatten. Dabei wollten sie nie Parteien sein. Bei all diesen oppositionellen Bewegungen dominierten "subkulturelle Orientierungen und eine große Distanz zu jeder Form formaler Organisation. (. . .) Die Überwindung der parteizentrierten politischen und sozialen Verhältnisse durch die Kraft der Gemeinschaft" war ihr Konzept und der Umbruch in der Sowjetunion mit all seinen fatalen Konsequenzen zwang sie erst, "sich als politische Opposition zu verstehen und zu organisieren.''50 Eine neue politische Kultur, ein Diskussionsforum ohne Parteibindung, eine gesellschaftliche Bewegung zu repräsentieren, würde, dessen waren sich viele der Mitglieder bewusst, eine 48 Neubert, Eberhart Der "Demokratische Aufbruch", in: Opposition in der DDR, S. 537-571, hier S. 551. 49 Mehlhom, Ludwig: "Demokratie Jetzt", in: Opposition in der DDR, S. 573606, hier S. 584. 50 Glaeßner, Gert-Joachim: Der schwierige Weg zur Demokratie. Vom Ende der DDR zur deutschen Einheit, Opladen 1991, S. 46 f.
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parteiliche Organisationsform ausschließen, weil es ihrer Bewegung den besonderen Charakter benehmen würde. In der Volkskammerwahl vom März 1990 entschied sich die Wahlbevölkerung für die rasche Einheit, propagiert und vertreten durch die großen Westparteien 51 • Die Bürgerbewegungen mutierten zur politischen Randerscheinung, zu Splitterparteien und in der Opposition zum "Gewissen der DDR"52 : was ihnen blieb war ihre intellektuelle Kapazität, mit der sie noch im Jahr 1990, danach immer schwächer werdend, Kritik an der unhinterfragten Übernahme der westlichen politischen und gesellschaftlichen Werte übten. Ihre besten Köpfe wanderten in die traditionellen großen Parteien.
51 Vgl. hierzu Jung, Matthias: Parteiensystem und Wahlen in der DDR. Eine Analyse der Volksammerwahl vom 18. März 1990 und der Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 27/90, S. 3-15. 52 Müller-Enbergs, Helmut: Die Rolle der Bürgerbewegungen in der Volkskammer, in: Glaeßner, Gert-Joachim (Hg.): Eine deutsche Revolution. Der Umbruch in der DDR, seine Ursachen und Folgen, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 94-107, hier s. 96.
Das demokratische Defizit Was rördert und was hindert die Entwicklung von Demokratie-Kompetenz? Von Thomas Leif Ganz gleich ob es um die Bedrohung der Demokratie durch rechtsextreme Gewalt, die negativen Auswirkungen der "Agrarfabriken", das Chaos in der Steuerpolitik oder die kranke Gesundheitspolitik geht. In den meisten Politikfeldern wird nicht sinnvoll gestaltet, sondern der status quo der Mangelverwaltung konserviert. An diesen Zustand hat man sich gewöhnt. Ein Jahrzehnt lang sind die Ursachen von Politikverdrossenheit beschrieben, diskutiert und verhandelt worden. Fast ohne Konsequenzen: der massive Anstieg der Nichtwähler, der dramatische Rückgang von Stammwählern, die Auszehrung der Mitgliedschaft und der Ansehensverlust der politischen Akteure insgesamt haben keine nachhaltigen Impulse zum Umdenken gesetzt. Obwohl die Gesellschaft den Parteien mit großer Distanz und Skepsis begegnet, haben die bestimmenden Akteure in den Parteien noch keine Anstrengungen unternommen, ihre Politik auf diese neue Ausgangslage abzustimmen: Öffnung hin zur Gesellschaft, Diskursorientiertung, ernsthafte Bürgerbeteiligung und effiziente Kontrolle auf allen Ebenen der Politik alle Chancen zur Rückgewinnung von Vertrauen und damit verbundener größerer Gestaltungs-Autonomie werden ausgeschlagen. Diese Lageeinschätzung führt zu einem zentralen Gedanken, der im Kern das demokratische Defizit in Deutschland umreißt: In der Stimmungs-Demokratie wandelt sich die Rolle der Parteien, die mit einem Verfassungsprivileg ausgestattet sind und deshalb über erhebliche Gestaltungsmacht verfügen. Der Funktionswandel der Parteien, die mit ihren Inszenierungen oft den Gesetzen der Medien und nicht eigenen Überzeugungen folgen, wirft die Frage auf, ob die Steuerung der Gesellschaft durch die Parteien noch ausreichend gesichert ist. Weil die wesentlichen Impulse für die Politikgestaltung von außen kommen und nur langsam in die Apparate eindringen, ist ein demokratisches Defizit zu konstatieren. Öffentliche - vor allem von den mächtigen
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Medien gesteuerte Prozesse - und nicht interne Impulse durch geregelte Verfahren, prägen die personelle und politische Ausstattung der Parteien. In vielen Feldern reagiert die Politik nur noch auf Krisentendenzen. Meistens jedoch erst sehr spät, wenn sich das Privileg des Nichthandeins nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Mit einigen Kernaussagen versuche ich zu skizzieren, wie so die demokratische Entwicklung geprägt wird und welche Rolle die Wähler als Konsumenten in der Stimmungsdemokratie spielen. Vorrangig geht es um die Frage, welche Faktoren Demokratie-Kompetenz - und damit die politische Zivilgesellschaft- fördern oder aber behindern. I. Wir leben in einer Stimmungs-Demokratie, in der die politische Gestaltung des Alltagslebens und die Reflexion darüber, welche Werte und Haltungen die Gesellschaft prägen sollen, immer unwichtiger werden. Fast so wie auf der Achterbahn der erlebnishungrigen Freizeitgesellschaft wechseln die Themenkonjunkturen, die Politiker in Atem halten. Ganz gleich, ob es um die Entführten in Jolo geht, die Bedrohung durch Kampfhunde, die Steigerung der Benzinpreise (durch die Ökosteuer) oder der plötzliche Wille den Rechtsextremismus durch das Verbot einer Partei - der NPD wieder aus den Schlagzeilen zu verdrängen. Keines der Themen und der damit verbundenen Problemzusammenhänge wird wirklich gelöst oder konsequenzt bearbeitet. Aktionismus, gespeist von dem Wunsch ein Thema möglichst rasch "zu beerdigen" und sich vom Handlungsdruck der Medien zu entlasten, ist das politischen Instrument der Politiker, die mit der Strömung in der Stimmungsdemokratie mitschwimmen. Getrieben von der Angst in den Stimmungswellen unterzugehen oder ins Abseits getrieben zu werden. 2. Ein wesentliches Handwerkszeug in dieser Stimmungs-Demokratie zu überleben, ist die Nutzung der Umfrageforschung. Der innere Kompass für die Relevanz von Problemen wird nicht mehr durch eigene Anschauung und daraus folgende gründliche Analyse, sondern aus der Vordergründigkeit von Umfragedaten bestimmt. Die Tendenz der Oberflächlichkeit in der Gesellschaft korrespondiert mit der Zufälligkeit der Umfrageforschung. Die Meinungsforscher - die Betonung liegt auf Meinung - erklären den Politikern dann, was geht und was nicht (mehr) durchzusetzen ist. Eine weitreichende Fehlberatung hat Elisabeth Noelle Neumann der Politik eingepflanzt: "Die Bürger wollten keinen Streit". Aus dieser These abgeleitet wurde dann die Abneigung jedes Diskurses, die Ausdünnung des Positionsaustauschs, die Langeweile und der intellektuelle Kleinmut in der Politik; jede Kontroverse und Polarisierung von Positionen - die Grundlage aus der neue Ideen entstehen können - steht deshalb unter dem Vorbehalt der negativen öffentlichen Wirkung. Auch in dieser Frage könnte die deutsche
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Öffentlichkeit mehr Aufklärung brauchen und selbstbewußter zwischen Schlagzeilen-Streit und ernsthafter Auseinandersetzung unterscheiden. Zwar ist es richtig, dass Wähler Parteien bestrafen, die "wild" diskutieren. Dies bedeutet aber nicht, dass zivilisiert und argumentiv geführter Streit vom Dogma der Geschlossenheit bereits im Keim erdrückt werden darf. Möglichst wenig reflektierter Streit über Konzepte bringt aber besonders viel Unklarheit und produziert eine passive Beobachterposition, das Gegenteil von demokratischer Mitwirkung. Daraus entsteht ein nicht unerhebliches demokratisches Defizit; die Wahrnehmungsfilter und die Problemspeicher der Politiker werden diffus, brüchig, zufällig -fast orientierungslos. Die Entwertung der Politik durch die Selbstbeschränkung der Akteure - quasi als Gestaltungsinstrument - ist deshalb heute Teil des politischen Geschäfts. 3. Die Stimmungs-Demokratie produziert einen neuen Politiker-Typus, der sozusagen die Leitwährung der Berliner Republik bestimmt: der Pragmatiker des Augenblicks, der dem Volk auf allen Bühnen vermittelt: "Hier stehe ich, ich kann auch anders." Der heute vom Kanzleramt zelebrierte Pragmatismus ohne eindeutig identifizierbare Prinzipien soll nicht oberflächlich erscheinen. Entscheidungen werden getroffen - wie etwa der Weg hin zu einer sinnvollen Verbraucherpolitik. Die Ausgestaltung der Schlagzeile bleibt aber offen. Die genaue Justierung der Politik bleibt lange Zeit offen. Die großen Linien wie etwa die Neustrukturierung der Rentenpolitik - sind am Ende des Justierungsprozesses wohl nicht einmal von Insidern zu erkennen. Die Protagonisten des Pragmatismus pur versuchen nun mit großer Anstrengung sich eine Philosophie anzueignen, die die Fragwürdigkeit einer Politik ohne intellektuelle Leitplanken und visionäre Verkehrszeichen, abfedern soll. Kein leichtes Unterfangen. Die neue Politik setzt auf Allianzen auf Zeit, um konkrete Probleme zu lösen, den viel beklagten Reformstau aufzulösen. Wechselnde Bündnisse (auf Zeit) sind die Träger des neuen Pragmatismus. Dieser Regierungsstil, der Ziele vorgibt und dann um Unterstützung wirbt, hat sogar einen neuen Namen für diese Netto-Botschaft der reduzierten Ansprüche kreiiert: Netzwerk-Demokratie heißt das Zauberwort. Assoziiert wird dieser Politik-Entwurf mit der Leitidee der ,,Zivilgesellschaft". Noch handelt es sich dabei lediglich um einen Suchbegriff, der mehr Fragezeichen als Antworten produziert. Programmatisch unterfüttert und mit konkreten policy-Projekten versehen, ist dieser Begriff noch nicht. Netwerk-Demokratie reduziert sich (weitgehend) auf Kommunikation. Relevant ist nur noch, . was sich in den auf Verkürzung abonnierten Medien 7 v. Amim
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kommunizieren lässt oder was die Groß-Agenturen der Kommunikation auf die Agenda setzen (lassen). Der Inszenierungsdruck führt zudem dazu, dass Politik bereits in der Konzeptionsphase nicht mehr den Inhalt, sondern die Vermittlungschancen in den Medien im Auge hat. Das heißt, die Medien bestimmen mit ihrem gnadenlosen Regelwerk, "was geht und was geht nicht", den "content" von Politik wesentlich. Diese Verzerrung der Politikgestaltung, die oft schon die Kommunalpolitik im Wechselspiel mit der regionalen Monopolzeitung prägt und sich noch perfekter in den elektronischen Medien fortsetzt, ist verfassungspolitisch nicht abgesichert. 4. Die Politik ist heute gleichzeitig überfordert und unterfordert. Dieses demokratische Paradox führt zu weitreichenden Konsequenzen.
Einerseits suggerieren Politiker Lösungskompetenz, - etwa in Fragen der Europäischen Union (EU) und andererseits wissen sie genau, wie begrenzt ihr Handlungsradius etwa in Brüssel wirklich ist. Daraus entsteht eine Placebo-Politik, die viele Bürger wohl nicht durchschauen, aber sie haben -wie in einem Trivialroman, der Wahrheiten mit fundamentaler Bedeutung präsentiert - ein ungutes Gefühl. Sie spüren, (auch ohne alle Details aller Verordnungen zu kennen), dass Politiker sich immer wieder übernehmen, nicht authentisch wirken und selbst nicht überzeugen können, weil sie selbst nicht überzeugt sind. Die Folge: ein rasanter Verlust von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, den wichtigsten Rohstoffen der Politik. Das Chaos der europäischen Politik ist zugespitzt eine Vernichtungsmaschine der Legitmität von Politik. Daraus entsteht eine Gemengelage, die Politik generell anzweifelt, gelegentlich verachtet, auf jeden Fall aber unterfordert. In diesem Klima entscheidet diejenige Partei die Wahlen, die durch die wenigsten Skandale oder die geringsten Zumutungen, das geringste Nichtwähler-Potential produziert. Wahlentscheidend sind diejenigen, die nicht zur Wahl gehen; Adenauers Erkenntnis hat über die Jahre an Bedeutung gewonnen. Denn auch in der vielbeschworenen Bürgerschaft ist der Reformdrang der Bürger begrenzt. Der Wähler als Konsument mag keine Zumutungen, vor allem kein Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten und Privilegien. Vertrauen in die Politik ist heute ein Mythos. In der Netzwerk-Demokratie gibt es deshalb - so die Idee - höchstens Vertrauen auf Zeit, jenseits von verlässlichen Grundorientierungen und verbindlichen Werthorizonten. Wahlentscheidungen könnten künftig auch an die Frage gekoppelt werden: "mit welcher Partei verknüpfe ich das geringste Mißtrauen?" 5. Dieser gültige politische Rahmen - ohne lebendige Opposition und mit schwachen Regierungsparteien - ist der Boden für eine Kultur der Beliebigkeit, in der die Politik des rasenden Stillstands betrieben wird. Die "Slatkoisierung der Container-Gesellschaft" und die Sehnsucht nach ständi-
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ger Unterhaltung und Ablenkung ist durchaus ein stimmiges Bild für den aktuellen Zustand einer Gesellschaft, die aus den Fugen gemeinsamer Werte geraten ist. Was für die Gesellschaft gilt, bestimmt auch die Politik: "Anything goes." Zum "Pragmatismus pur" gehört auch die Delegation von Verantwortung. So wird immer wieder vom "aktivierenden Staat" gesprochen, der Impulse verleiht und in die Gesellschaft positiv ausstrahlen solL Mustert man aber die deutsche Behördenpraxis, fällt auf, dass der Staat sich zunächst selbst aktivieren müsste, um wieder neue Legitimation zu gewinnen. - Allein die Verwaltung gibt - so der Bundesrechnungshof- jedes Jahr 10 Milliarden zu viel aus. - Die Zahl der Gutachten, Veranstaltungen, Kongresse auf allen politischen Ebenen zu allen möglichen Themen ist kaum überschaubar. In vielen Themenfeldern gibt es excellente Lösungsvorschläge. Aber die Zahl der verschleppten Themen von der Steuervereinfachung, der Ganztagsschule, der Gewalt in Schulen, der Hochschulreform oder der Familienförderung ließe sich beliebig verlängern. 6. Eine wichtige Konstante der Stimmungs-Demokratie ist die Kluft zwischen Reden und Handeln. So wird einerseits immer wieder der "starke Staat" reklamiert und von mal zu mal auch postuliert. Tatsächlich bleibt eine systematische Deregulierung staatlicher Aufgaben nicht ohne Konsequenzen. Der finanzielle Spielraum ist nicht nur in den Kommunen äußerst begrenzt, weil der Löwenanteil der Budgets bereits gebunden ist. Die Privatisierung staatlicher Aufgaben müsste auch zu mehr öffentlicher Verantwortung als Ergebnis des public-private-partnerschip führen. Aber auch dies ist eine Legende, wenn man den im internationalen Vergleich gemessenenen, äußerst geringen Anteil der Wirtschaft an Aufgaben für die Gemeinschaft sieht. Alle reden von "Amerikanisierung". Im Feld des sozialen Engagements und der Förderung von "Freiwilligendiensten" könnten deutsche Unternehmen von ihren amerikanischen Partnern noch eine Menge lernen, wie die Bosch-Stiftung in einer Studie eindrucksvoll nachgewiesen hat. 7. Unsere Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Parteien, als zentrale Akteure im politischen Geschehen funktionieren. Die Leistungsbilanz der Parteien sieht allerdings - bezogen auf die input- und Output-Orientierung düster aus. Die Parteien nehmen mit Verfassungsrang an der politischen Willensbildung teil. Das Parteienprivileg der Verfassung ist allerdings auch an Pflichten gebunden. Nur 9 Prozent der Bürger sind überhaupt bereit, in Parteien mitzuwirken. Der tatsächlich aktive Teil ist verschwindend gering und sinkt beständig. 7*
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Das wahre Ausmaß der Krise der Parteien und die Konzentration auf oligarchische Prozesse wird in den Parteien und der Öffentlichkeit noch völlig unzureichend wahrgenommen. Einige Eckpunkte markieren das von der Parteienforschung leider nicht genau belichtete Bild: - Die seit Jahren anhaltende Auszehrung der Mitgliederbasis, fehlende Identifikation und geringe Organisationskraft Dazu die übertriebene Binnenorientierung, unklare Auftrags- und schwache Arbeitsorientierung sowie die unzureichende Nutzung vorhandener Personal- und Fachressourcen. - Die gravierende Überalterung - mehr Mitglieder in der SPD sind über 80 als unter 25. - Das Ausbluten intellektueller Kapazitäten in den Parteien. (Ideen, Konzepte, schwache Innovationskraft und unzureichende Lernfähigkeit (Konzentration auf alte Themen und Abschottung neuer Ideen, da diese die alten Fehler deutlich machen) - Die Zentrierung auf wenige Eliten - meist in einflussreichen Ämtern oder Funktionen - und der krasse Bedeutungsverlust der Partei-Gremien, besonders der ritualisierten Parteitage. - Zweifelhafte Aushöhlung innerparteilicher Demokratie, die - wie etwa im Fall der Regionalkonferenzen der CDU mitten in der Spenden- und Führungskrise - allein Alibicharakter haben. - Fehlrekrutierung und Zufallsauswahl von Personal. Fachliche Qualifikation tritt zu Gunsten innerparteilicher Befriedungsprozesse in den Hintergrund. Personalentscheidungen dienen vorrangig der individuellen Machtsicherung; relevante Konkurrenten überleben nur selten in einer hoch entwickelten innerparteilichen Mobbing-Kultur. - Zu geringe Kundenorientierung und Dienstleistungsqualität Binnenorientierung überlagert alle Aktivitäten, Aspekte von change-management, coaching oder Supervision sind in Führungsgremien nicht einmal denkbar.
Das heißt zugespitzt: der herausgehobene verfassungsrechtliche Rang der Parteien - steht im Widerspruch zu ihren faktischen Willensbildungsprozessen und ihrer Lösungskompetenz für das Gemeinwesen. Nur eine starke Grundierung der Paneiarbeit durch den Willen der Bürger und ihre intensive Einbindung, legitimiert aber die weitreichende Machtstellung der Parteien. Dies ist die oft nur mitgedachte aber nicht offen ausgesprochene Begründung für die überfälligen gesellschaftliche Öffnungsprozesse, die den Parteien bevorstehen. Die praktische Hinwendung zu einer Bürgergesellschaft bringt automatisch eine Rückgabe von Macht hin zu den Bürgern mit sich.
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Nicht zuletzt auf Grund dieser "Entmachtung" kommen Partei-Reformprozesse so langsam voran. 8. Auffällig ist auch das Implementierungsdefizit im Feld der Parteireformen nach erkannten Problemlagen und beschlossenen Maßnahmen.
Auf die seit langem bekannten, sich aber im Laufe der Jahre verschärfenden Tendenzen, hat die politische Klasse mit Reformversprechen reagiert, diese aber bewußt verschleppt oder im Stadium der Ankündigung belassen.
+ In der SPD liegt das Konzept SPD 2000 seit fast zehn Jahren vor; alle dort formulierten Vorschläge stehen jetzt wieder - leicht variiert - mit dem Begriff "Netzwerkpartei" auf der Tagesordnung. Was alles nicht geschehen ist, lässt sich in dem Beschlusspaket des SPD-Parteivorstands mit dem vielversprechenden Titel "Ziele und Wege der Parteireform" aus dem Jahr 1993 nachlesen. Karlheinz Blessing (Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993) sollte heute einmal reflektieren, was Anfang der neunziger Jahre bereits als besonders dringend empfunden wurde.
+ Der Kurzzeit-Generalsekretär der CDU verlangte bei den Feiern zum 50. Geburtstag der Union in Goslar mehr direkte Mitsprache der CDUBasis. Zudem forderte er Möglichkeiten der Mitglieder auf die Personalauswahl der Partei Einfluss zu nehmen. Ganz so, als ob es die Diskussion nicht schon seit Jahren gäbe. Aber offenbar ging der abgestrafte Generalsekretär zu weit. Die Studie der Konrad-Adenauer Stiftung mit dem Titel "Die Reformdiskussion in den Volksparteien" (Interne Studien 80/ 1995) ist ein spannendes Beispiel für die skizzierte Misere. Jürgen Rüttgers hatte ebenfalls 1993 - auf dem Höhepunkt der Debatte - besondere Weitsicht bewiesen, als er die "Dinosaurier der Demokratie" beschrieb. Seine "Wege aus der Parteienkrise und Politikverdrossenheit" führten offenbar in die Sackgasse der Nichtbeachtung.
+ Die FDP mutiert sogar zum neuen Typ der Marketing-Partei, durchsetzt mit Show-Anteilen und einem parlamentarischen Arm der sich am Unternehmerlager orientiert. Die Berliner Werbeagentur "Goldener Hirsch" übernimmt faktisch die Aufgabe einer Programm-Kommission. Dabei hatte Guido Westerwelle genau ein Jahr vor seiner geschickten Machtübernahme - im Zwiegespräch statt auf einem Parteitag - "Wider die Verkastung der Politik" gewettert. Sein mutiges Thesenpapier vom Januar 2000 blieb allerdings ein folgenloser PR-Gag. + Basisdemokratie ist bei den Grünen schon längst zum historischen Alibi geworden, das Festhalten an diesem Klischee ist allerdings für Engagierte mehr als eine Mogel-Packung. Kuhn und Künast geben den Takt an; Minister werden ausgewechselt und Parteisprecher rasch bestimmt. Die Strippen werden im Auswärtigen Amt gezogen: eine Tendenz, die möglicherweise noch undemokratischer ist, als die Praxis in den Altparteien.
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Basisdemokratie führt so zu Intransparenz und kaschiert nicht legitimierte Macht. Und die kritischen Grünen machen mit beim Spiel "Mehr Demokratie wagen" .. .
Das führt zu einer weiteren Kemthese: In den Parteien gibt es eine pathologische Lernunfähigkeit, wenn es um die inneren Belange, die innere Demokratisierung und die Öffnung hin zur Gesellschaft geht. Die Reformen, die sie der Bevölkerung als Norm aufgeben, die Bereitschaft zur Innovation, erfüllen sie selbst nicht. Die starke Tendenz der BündeJung von Parteientscheidungen an der Spitze von Amtsträgern, führt dazu, dass Ministerpräsidenten, Bürgermeister und der Kanzler etc. überhaupt kein Interesse an einer vitalen, und damit - aus ihrer Sicht - unberechenbaren Partei haben. Viele Akteure in dieser Position verbrauchen deshalb mehr Energie für die Ruhigstellung und Kalmierung ihrer Partei als für ihre Aktivierung. Viele Funktionäre in Ministerien und im engeren Mitarbeiterstäben werden deshalb mit Kontrollaufgaben betraut, die als Frühwarnsysteme gegen Innovation und Fortschritt funktionieren. Das führt ebf. zu demokratieunverträglichen Entwicklungen. In Folge der so produzierten Passivität der Basis sind Wahlkämpfer immer häufiger auf die kommerzielle Überzeugungsarbeit und die über die Medien vermittelte Kommunikation angewiesen. Aber auch die "bezahlte Kommunikation" als Ersatz stößt rasch auf ihre Grenzen. Nicht aktiv zu sein oder zu werden, kann in dieser Situation eine durchaus rationale Entscheidung sein. Keine Partei kann aber auf einen kleinen Kern von Aktiven verzichten. Für diese wichtige Gruppe gibt es zwei Anreizsysteme. Erstens gibt es das Bedürfnis nach einer ideologischen Belohnung durch den Einsatz für wichtige politische Ziele oder Grundwerte. Zweitens interessiert sich der kleine Kreis der "Basis-Aktiven" für Ämter und Mandate oder andere konkrete N utzenkalküle. 9. Politik in der Stimmungsdemokratie wird austauschbar, die Parteien werden immer ähnlicher, weil die Programmaussage - nicht nur in Form von Parteiprogrammen - zur Nebensache wird. Die SPD etwa arbeitet derzeit an einem Grundsatzprogramm, dass nach Wunsch ihres Vorsitzenden im Klima der Geschlossenheit und ohne Streit möglichst unaufflillig abgewickelt werden soll. Die politischen Eliten trauen den Programmen nicht mehr, weil verbindliche Normen und Werte, den Handlungsspielraum möglicherweise einschränken könnten. Zur Partei neuen Typs passen auch keine Festlegungen. Schon das Berliner Programm der SPD war folgenlos. Das scheint auch heute die stille
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Botschaft zu sein. Heute werden Leitideen, Grundorientierungen, Überzeugungen nicht mehr gebraucht. Der Begriff des "demokratischen Sozialismus" soll folglich nur aus "emotionalen Gründen" wieder in den Text aufgenommen werden. Ein inhaltlicher Konflikt sollte um jeden Preis verhindert werden. Die Entwertung der Programme zur notwendigen Randgröße ist die zwingende Konsequenz einer Politik, die sich allein auf die permanente Gegenwart bezieht, Vergangenheit vergisst und Zukunft ausblendet, variable Werte und geschmeidige Grundannahmen braucht. Die plötzliche Abkehr von der wfontaine-Linie ohne einen formalen Beschluss oder einer programmatischen Festlegung zeigt, wie unbedeutend Programme sind. Grundsätzliche Korrekturen sind im freien wuf des Tagesgeschäfts -ohne Diskurs - möglich. Am Beispiel der CDU-Spendenaffare lässt sich jedoch auch nachzeichnen, dass die Bürger ein kurzes Gedächnis haben und auch ohne politische Konsequenzen die Politik zustimmend begleiten. Die Rechtsstaatpartei CDU schont Helmut Kohl - als Personifizierung des Rechtsbruchs -, jongliert zwischen zaghafter Aufarbeitung und entschlossener Verdrängung. Trotz Aktenvernichtung und Verfassungsbruch: in der CDU regt sich - besonders im Licht der Vorgänge in Hessen - kein erkennbarer Widerstand. Nicht einmal von der AG Juristen in der CDU. 10. All diese Entwicklungen können nur korrigiert werden, wenn das Bewusstsein über diese Zustände breiter und differenzierter wird. Da die Parteien nachweisbar (vgl. die Farce von Untersuchungsausschüssen als Instrument in der aktuellen Auseinandersetzung) nicht dazu in der Lage sind, ihre eigenen Dinge zu regeln (vgl. Finanzaffären) brauchen wir eine Stiftung "Demokratie-Test" mit ausgewiesenen, akzeptierten Beobachtern des politischen Geschehens, die ihre Legitimation aus ihrer Biografie ableiten können. Sie sollten jedes Jahr entlang vorab festgelegter Kriterien einen "Demokratie-Bericht" vorlegen, der problematische Tendenzen etwa im Verlust der innerparteilichen Demokratie - dokumentiert und Alternativen aufzeigt. Dies ist kein Allheilmittel, aber die öffentliche, gründlich abgewogene Kritik könnte das Verhalten der Parteien in ihren inneren Angelegenheiten positiv generieren und prägen. Insgesamt müssten intelligente Formen des politischen Controllings stärker in die Politik eingeführt werden. Dann würden Versprechen wie die - Verkleinerung und Verjüngung der Parlamente und der
- Rückzug der Parteien aus öffentlichen Ämtern - wie vor Jahren u. a. von Jürgen Rüttgers proklamiert, möglicherweise mehr als Lippenbekenntnisse für Momente.
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11. Nur Formen direkter Demokratie - von Volksentscheiden über Veränderungen im Wahlverfahren - (Kumulieren und Panaschieren) also die Erweiterung der Partizipationschancen auf allen Ebenen könnte die Demokratie vitalisieren. Dabei geht es - bei aller ernstzunehmenden Kritik und zahlreichen Einwänden - nicht nur um die unmittelbaren Effekte, sondern auch um die indirekte Verhaltensänderung der Parteien selbst, die sich auf direkte Beteiligungsformen innerparteilich einstellen müssen. Die Niederlage des SPD Generalsekretärs Müntefering mit seinen Öffnungsversuchen hin zur Gesellschaft in seinem eigenen Bezirk, zeigt die Stärke der Beharrungskräfte. Die Abberufung des CDU Generalsekretärs hat einen ähnlichen Hintergrund. Sein Reform-Eifer- zuletzt in Goslar präsentiert - ging vielen zu weit. 12. Trotz aller Kritik und der Skepsis darf nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass viele Bürger sich recht bequem in der Stimmungsdemokratie eingerichtet haben. Es ist viel einfacher aus der zynischen Beobachterperspektive die negative Leistungsbilanz der Politik zu beklagen, als selbst mitzumachen und anzupacken. Vom Fernsehsessel lässt sich vortrefflich über die korrupte Politik schimpfen. Dampf ablassen ist das eine, die Pflichten des mündigen Bürgers wirklich wahrnehmen, eine ganz andere. Um diese unproduktive Verzerrung aufzuheben, wäre es ratsam, die Entwicklung hin zu einer kommunitaristischen Gesellschaft mit einem Bündel von Maßnahmen zu fördern. In Form von Bürger-Subventionen müssten Hilfen zur Aktivierung im großen Stil bereitgestellt werden. Soziales Kapital benötigt in einer durch und durch ökonomisch bestimmten Gesellschaft, einen höheren Stellenwert. - Aus der Geislingen-Studie (vgl. Bericht 2000) kann man lernen, das vorhandene Potentiale in der Gesellschaft erschlossen, betreut, begleitet und unterstützt werden müssen -etwa in Form von "Community organizing"Prozessen. Die vorhandenen Kräfte in den Kommunen etwa für Nachbarschaftshilfe und den Einsatz für Benachteiligte werden hier mobilisiert und fruchtbar gemacht. - Die deutschen Tafeln haben reichlich Unterstützung aus der Industrie und eine Consulting-Beratung von McKinzey bekommen. Die Arbeit floriert und spricht besonders solche Bürger an, die sich früher nicht engagiert haben. - Anschubfinanzierungen, Projekthilfen etc. für vorbildliche Projekte wären denkbar. Die Bürger müssen also in die Verantwortung genommen werden; warum dies nicht geschieht - sozusagen als lebendiger Kontrast zur Parteiendemokratie - sollte hier ausgeführt werden.
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13. Wir brauchen eine neue Leitkultur, die demokratisches Engagment positiv sanktioniert. Demokratiepolitisch ist Deutschland ein Entwicklungsland. Wir brauchen die öffentliche Würdigung von aktiven Menschen . Das gilt für Bürgermeister kleiner Gemeinden, die nicht aus opportunistischen Gründen oder vordergründigen Interessen aktiv sind, genauso wie für Initiativen, die Rechtsextremismus aktiv bekämpfen. Jahrelang gab es eine systematische Delegitimierung etwa der politischen Bildung, die mit Sparmaßnahmen überzogen wurde. Jetzt - mitten in der Diskussion um Rechtsextremismus - erinnern sich Politiker an die Bedeutung von Wissensvermittlung und Gemeinschaftserfahrung. Fast jeder weiß, dass die Tendenz des "bowling alone" auf Dauer Demokratie aushöhlt. Es gibt - begleitet von großem PR-Getöse - den Wettbewerb Jugend forscht und andere Forscherpreise. Dagegen steht ein weitgehend unbekannter Demokratieförderpreis. Die öffentliche Anerkennung - als Teil kultureller Prägung der Gesellschaft - für Partizipation und Teilhabe muss verbessert werden. Sozusagen zur inhaltlichen Grundierung einer Republik, die demokratisches Engagment fordert und fördert. 14. Netzwerkparteien wollen Kommunikations-Parteien sein, die sich auf öffentliche Inszenierung ihrer Ideen stützen. Die Rolle der Medien in der demokratischen Gesellschaft muss mit all ihren Auswirkungen intensiver untersucht und öffentlich kritischer betrachtet werden. Denn die rollende Unterhaltungsmaschine (TV und 300 HF-Programme) bringt zuviel Ablenkung und zu wenig Aufklärung. Die Medien produzieren zu viel Süßstoff. Dies wird zwar von einigen Politikern - etwa von Johannes Rau und zuvor von Roman Herzog gesehen. Aber es ist ja kein Zufall, dass solch kritische Analysen nicht ernsthaft in den zuständigen Gremien besprochen werden. Politiker lernen immer früher, dass sie ihre Themen und Schwerpunkte nach der jeweiligen Medientauglichkeit und nicht nach politischer Notwendigkeit auswählen. Nach dem Motto - erst der soundbite oder die Schlagzeile und dann folgt der tiefere Sinn und die Aussage. Benjamin Barber - der für die starke Demokratie streitet - sieht die Medien in den USA schon längst als J. Gewalt und nicht wie hier zurückhaltend als 4. Gewalt. Die praktischen Auswirkungen dieser Tendenz trifft durchaus den Kern der Demokratie, wird aber nicht in seinem Ausmaß wahrgenommen. 15. Demokratiehemmende und fördernde Faktoren, das einfordern von mehr Engagment der Bürger und das Mustern der Praxis eingefahrener Akteure, benötigen mehr Aufmerksamkeit, andernfalls treiben wir mit verschärftem Tempo in eine Stimmungs-Demokratie, die den Vorgaben der Verfassung nicht mehr entspricht. Eine schleichende Infektions-Gefahr - zumal
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die alte Definition von Max Weber - Politik sei das Bohren harter Bretter heute nicht mehr stimmt. Heute ist alles anders: Die Bretter werden immer härter und die Bohrer immer schwächer.
Politische Klasse und Ämterpatronage Von Michael Kloepfer
I. Zum Faktum der parteipolitischen Ämterpatronage Was kann man gegen die um sich greifende parteipolitische Ämterpatronage unternehmen? Diese Frage stand vor einigen Jahren im Mittelpunkt einer parlamentarischen Anfrage der Fraktion der Grünen an die Regierung Kohl. Die damalige Bundesregierung antwortete, eine Ämterpatronage gebe es nicht, man brauche deshalb nichts gegen sie zu unternehmen. 1 Diese Antwort war evident falsch und kann - auch bei wohlwollender Interpretation - nur als Wirklichkeitsverweigerung der damaligen Regierung verstanden werden. Seitdem die Grünen allerdings in Landesregierungen wie jetzt auch in der Bundesregierung vertreten sind, fragt sich jedoch, ob sie sich nicht gerade in Sachen Ämterpatronage längst als besonders gelehrige Schüler der etablierten Parteien erwiesen haben. a) Jedenfalls ist das Faktum der immer noch zunehmenden Ämterpatronage unbestreitbar. Es wird z. B. davon berichtet, dass unter den parteipolitisch gebundenen Beamten in Bayern knapp 90% Mitglieder der CSU seien. Entsprechendes gilt für die SPD-Mitglieder in der Hamburger Verwaltung. Und jeder weiß, dass in vielen Bundesländern selbst in unteren Besoldungsgruppen die Mitgliedschaft in der jeweils "richtigen" Partei oft ausschlaggebende Bedeutung hat. Das Vorrücken parteipolitischer Ämterpatronage nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der Rechtsprechung - in den oberen Instanzen nahezu völlig unverhüllt - ist unbestreitbar. Die kommunale Selbstverwaltung ist ein EI Dorado parteipolitischer Patronage, vor allem im Sinne der Versorgungspatronage. Fast noch krasser - und für die Begünstigten noch lohnender - ist die Partei- und Versorgungspatronage bei Unternehmen der öffentlichen Hand und den privatisierten Staatsunternehmen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind längst zum abschreckenden Musterbeispiel parteipolitischer Ämterpatronage (z. B. der bei Vergabe von Intendanten1 Antwort der vormaligen Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des MdB Häfner (Die GRÜNEN) zum Ausmaß der Ämterpatronage auf Bundesebene (BT-Drs. 111164 v. 13.4.1987): "Ein parteipolitischer Zugriff auf öffentliche Ämter findet nicht statt.", (BT-Drs. 11/209 v. 30.4.1987).
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Posten) geworden, wobei hier noch der faktisch dominante und nicht mehr verfassungskonforme Parteieneinfluss auf die Programmgestaltung hinzukommt. Auch viele Kultureinrichtungen und Hochschulen tragen zunehmend Zeichen parteipolitischer Ämterpatronage; der bisweilen anzutreffende unselige Trend zu politischen Tendenzuniversitäten kann diesen Einfluss noch befördern. Kurzum: Das Faktum der umfassenden Ämterpatronage ist unbestreitbar. b) Polemisch gesagt, ist an die Stelle des formalen bzw. faktischen EinParteienstaats von NS-Deutschland und DDR in der Bundesrepublik Deutschland ein Parteienstaat mit dominierendem Einfluss der Parteien insgesamt geworden. Dabei soll der wichtige Unterschied allerdings nicht vernachlässigt werden, dass es sich im heutigen Deutschland um mehrere und vor allem - meistens - um demokratische Parteien handelt. Gleichwohl ist das Faktum der parteipolitischen Ämterpatronage als gemeinsames strukturelles Kennzeichen der beiden deutschen Diktaturen wie auch - wenngleich in anderer Gestalt - der Bundesrepublik Deutschland zu erkennen. II. Formen der Ämterpatronage Versteht man Ämterpatronage allgemein als die Besetzung von Stellen im Öffentlichen Dienst aus unsachlichen, leistungsfremden Gründen zur Förderung gemeinsamer Interessen, sind eine Fülle von Varianten der Ämterpatronage erkennbar. Zu unterscheiden ist insbesondere die individuelle und die institutionelle Ämterpatronage. a) Die individuelle Ämterpatronage zur Förderung individueller Interessen hat nahezu archaische Dimensionen (etwa beim Nepotismus2 ) . Die Patronage von Familienangehörigen, von Freunden, von Angehörigen des gleichen Ortes oder der gleichen Schule, von Mitgliedern des gleichen Clubs (z. B. Sportclub, Studentenverbindung, Wohltätigkeitsverein) scheint eine Grunderscheinung des menschlichen und sozialen Zusammenlebens zu sein. b) Davon ist die institutionelle Patronage (nicht immer schart) zu unterscheiden, bei der es um die Förderung institutioneller Interessen, z. B. von Kirchen, Verbänden und Gewerkschaften geht, die interessiert sind, ihre Anhänger in wichtigen Funktionen des Öffentlichen Dienstes zu wissen. Der -jedenfalls früher - relativ starke Einfluss z. B. der Großkirchen bei der Besetzung von Richterstellen im Bundesverfassungsgericht wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bildet hier ein wichtiges 2
Eschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 18 ff.
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Beispiel. Wenn man schon zwischen zwei Übeln zu wählen hätte, wäre grundsätzlich die institutionelle Patronage der individuellen Patronage vorzuziehen, weil der Verbandseinfluss doch regelmäßig noch rationaler und strukturierter (z. B. durch Entscheidungstindung in Verbandsgremien etc.) ist als die Individualpatrnage. Unter dem Aspekt der Machtgewinnung im staatlichen Entscheidungsapparat ist allerdings die institutionelle Patronage weitaus problematischer. c) Weitere Differenzierungen bei der Beschreibung der Ämterpatronage sind vorstellbar, z. B. Herrschafts-, Versorgungs-, Proporz-, Paritäts-:\ Umsetzungs-4 oder Kompensationspatronage (s. u.), Abwehr- bzw. Wohlstandspatronage, wobei die "Wohltat" hier nur zu leicht zur Plage wird. d) Auch die Wirtschaft (insbesondere durch Wirtschaftsverbände und Großunternehmen) betreibt Patronage bei der Vergabe öffentlicher Ämter. Davon ist die verbreitete (vor allem individuelle) Patronage bei der Vergabe von Stellen in der Wirtschaft (Wirtschaftspatronage) zu trennen. Wegen des Prinzips der Privatautonomie ist die Wirtschaftspatronage anders zu behandeln als die Ämterpatronage. Die Wirtschaftspatronage wird häufig durch das ökonomische Gesetz der Personalwirtschaft begrenzt, dass leistungsblinde Patronage sehr schnell sehr kostspielig werden kann. 111. Funktionen der Parteipatronage
Die parteipolitische Ämterpatronage ist nur eine, allerdings besonders verbreitete und kritisierte Form der institutionellen Ämterpatronage. Gemessen an der Patronage durch andere Institutionen, vor allem aber gemessen an der individuellen Patronage, hat die Parteipatronage nicht selten noch eine gewisse Sachnähe zu den Funktionen des öffentlichen Dienstes, missachtet aber auch das Leistungsprinzip. a) Die parteipolitische Ämterpatronage hat zunächst die Funktion der Attraktivitätserhöhung für die Parteimitglieder:5 Die Parteien sind zunächst einmal Organisationen zur Förderung gemeinsamer Interessen. Ohne idealistische Motive bei einem Teil der Parteimitglieder prinzipiell bestreiten zu wollen, kann doch als typische Motivation vieler Parteimitglieder folgende Formel gelten: Tausche Mitgliederbeiträge und vor allem Parteimitarbeit gegen Karrierechancen. Ähnlich wie bei einem Automobil-Club, für den man Mitgliedsbeiträge zahlt, u. a. um im BeEschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 13. Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (367). 5 Eschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 15; v. Amim, Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980, S. 14. 3
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darfsfall einmal abgeschleppt zu werden, sind Parteien auch so etwas wie ein politischer Abschleppverein auf Gegenseitigkeit - eine freie Karrierefahrt für freie Parteibürger. Insoweit hat die Ämterpatronage für die Parteien eine entscheidende Bedeutung. Ohne die Möglichkeit einer parteipolitischen Ämterpatronage würden die politischen Parteien wahrscheinlich - jedenfalls langfristig - den größten Teil ihrer Mitglieder verlieren. Insoweit hat die Ämterpatronage eine wesentliche Funktion, das bisherige, ausufernde Parteiensystem zu erhalten. Im Sinne der Gesamtfragestellung unserer Tagung dient es maßgeblich auch zur Erhaltungs- und Ergänzungsrekrutierung der politischen Klasse als solcher. b) Damit deutet sich eine weitere wichtige Funktion der Ämterpatronage an. Diese liegt in den Funktionen der Machtsicherung und Machtverbreitung der politischen Parteien. Die Parteimitgliedschaft von Bewerbern ermöglicht aus der Sicht der politischen Parteien als Patrone eine Gefolgschaftsprognose bezüglich der Protegierten. Insoweit ist die Bindung von öffentlichen Stellen mit eigenen Gefolgschaftsleuten eine personale Form der Herrschaftsausbreitung und -Stabilisierung. Da Parteien Organisationen zur Machterlangung und -Verteidigung sind, ist für sie die Ämterpatronage hierfür - vorbehaltlich des Illoyalitätsrisikos der Begünstigten - ein grundsätzlich recht wirksames Instrument. Mit ihm kann auch die oft beklagte Distanz zwischen politischer Führung und Bürokratie abgebaut werden. Allerdings fragt sich, ob die nahezu grenzenlose Parteipolitisierung der Bürokratie hierfür nicht ein zu hoher Preis ist. c) Obwohl somit die parteipolitische Ämterpatronage durchaus eigener Rationalität folgt, ist sie - bis auf den Bereich der politischen Führung einschließlich der sog. politischen Beamten (s. u.) - wegen der in ihr liegenden Gefahren, ihrer Leistungsfeindlichkeit,6 aber auch zur Verhinderung der Allmacht7 politischer Parteien zu bekämpfen. Auch den Parteien bekommt es nicht gut, wenn sie zum Sammelbecken von Opportunisten werden. Mit der Berücksichtigung von Leistungsgesichtspunkten bei der Auswahl (nur) unter verschiedenen Parteimitgliedern lässt sich die Schädlichkeit von parteipolitischer Ämterpatronage zwar relativieren, aber nicht beseitigen. d) Die Parteien rechtfertigen ihre Patronage häufig damit, dass sie eigentlich nur auf ein entsprechendes Vorgehen ihres politischen Gegners reagieren (kompensatorische Ämterpatronage). Sie seien also gleicherma6 Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (370); v. Amim, Ämterpatronage duch politische Parteien, 1980, S. 15; Lorig/Mayer-Schlöder, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, VR 1992, 55. 7 Seemann, Gewaltenteilung und parteipolitische Ämterpatronage, Die Verwaltung 1981, 133 (138).
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ßen zu Patronage "gezwungen", sollte der öffentliche Dienst nicht unter den einseitigen Einfluss der jeweils anderen Partei fallen. Diese Argumentation insbesondere als "vorweggenommene" Abwehr ist nicht nur eine sich selbst vollziehende Prognose, sondern auch ein perpetuum mobile der Selbsterzeugung von "Legitimation" für das problematische Verhalten von Parteien. Mindestens als zweiter Schritt wäre die Patronage durch die regierende "legitimiert". Ich tue Schlechtes, weil auch Du Schlechtes tust. Dieser Teufelskreis muss durchbrachen werden.
IV. Politische Abhilfe in der Parteiendemokratie a) Eine politische Möglichkeit hierzu wäre ein Selbstbeschränkungsabkommen der politischen Parteien zur Begrenzung der Ämterpatronage, in dem diese vereinbaren könnten, eine bestimmte Quote (z.B. 50%) von Neubesetzungen nicht mit Parteimitgliedern zu besetzen. Auf diese Weise könnte die Verteilungsmasse für die Parteien und damit auch das Feld für eine kompensatorische Ämterpatronage begrenzt werden. Außerdem hätte diese Lösung den Vorzug, dass sie auf der Zustimmung der Parteien beruhen würde, also insoweit keinen Widerstand der politisch maßgeblich Betroffenen zu erwarten hätte. Im übrigen könnten die Parteien sich im Glanze weiser Selbstbeschränkung sonnen. Jedenfalls könnte so der Chancengleichheit zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen ein Stück nähergekommen werden. Ob in einem solchen Selbstbeschränkungsabkommen zusätzlich eine Verteilung der (nach der vereinbarten Quote) mit Parteimitgliedern besetzbaren Posten je nach Stärke der politischen Parteien vorgesehen werden sollten, wäre eine offene Frage. Diese zielt auf eine Chancengleichheit zwischen Parteimitgliedern verschiedener Parteien. Die proportionale Verteilung von Ämterposten z. B. nach dem letzten Wahlergebnis erscheint zwar besonders demokratisch, weil sie der Besetzung des Parlaments nachempfunden ist. Sie wird in vergröberter Form teilweise auch bei der Besetzung von Richterposten im Bundesverfassungsgericht sowie - eingeschränkt - bei den Obersten Gerichtshöfen des Bundes praktiziert. Gleichwohl taucht die grundsätzliche Frage auf, ob eine solche parlamentarische Verteilungsstruktur in der Personalpolitik von Verwaltung und Justiz grundsätzlich sinnvoll und - jedenfalls bezüglich der kleineren Parteien - überhaupt praktikabel wäre. b) Das sog. Beutesystem8 (wie insbes. in den USA) gibt der jeweils siegreichen Partei die Möglichkeit, alle politisch wesentlichen Ämter nach 8 Zum "Spoils System" der USA: Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1976, S. 46 ff.
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Neuwahlen zu besetzen: The winner takes it all. Ausgewogenheit zwischen den Parteien ist bei einem solchen System altemierender Patronage9 ungleich schwieriger herzustellen (etwa nur sukzessive aufgrund von Regierungswechseln in größeren Zeiträumen) oder - auf das gesamte Bundesgebiet bezogen - durch unterschiedliche "Beuteberechtigte" in den verschiedenen Bundesländern). Von daher könnte das Proporzdenken z. B. beim BVerfG oder beim öffentlichen Rundfunk als u. U. geringeres Übel gegenüber dem Beutesystem betrachtet werden. Die politisch ausgewogene Besetzung scheint insgesamt wohl noch besser als eine einseitige, obwohl letztere natürlich deutlichere politische Akzente setzen könnte. c) Die vorgebrachte Kritik an der parteipolitischen Ämterpatronage und die vorgestellten Vorschläge beruhen nicht auf einem antiparteilichen oder gar antiparlamentarischen Affekt. Dem falschen Satz: "Die Partei, die Partei, die hat immer recht", sollte nicht der ebenso unhaltbare Satz: "Die Partei, die Partei, die ist immer schlecht", gegenübergestellt werden. Die folgenden Ausführungen zielen vielmehr darauf, die politischen Parteien auf ihre Verfassungsposition zurückzuführen, die in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG hinreichend deutlich auf eine bloße Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes eingeschränkt ist. Von dieser Mitwirkungsfunktion der Parteien im modernen parlamentarischen System von Massendemokratien geht eine wertvolle und grundsätzlich unverzichtbare Rolle, insbesondere der Ermöglichung von politischen Alternativen für die Wahlbürgerschaft aus, auch wenn von freien Wahlgemeinschaften wohltuende punktuelle Belebungen des politischen Systems ausgehen können. Sichtweisen, die den "reinen" Staat als Ideal den "unreinen" erdhaften Parteien gegenüberstellen, sind gewiss vorgestrig. Der Staat ist eine Selbstorganisation seiner Bürger, die nun keineswegs immer selbstlos und idealistisch denken und handeln. Wer nur noch den Staat und keine Parteien mehr kennt, spricht in der Regel nicht mehr von Demokratie. Ohne Parteien und ihren Wettbewerb wäre der geordnete Machtwechsel in Demokratien nicht organisierbar. So unverzichtbar die Parteien in der Demokratie als solche sind, so verzichtbar sind aber ihre Auswüchse: Die Aufgaben- und Ausgabenexpansion der Parteistiftungen, die staatliche Parteienfinanzierung und deren ungezügelte Ämterpatronage sind nicht zur Erfüllung der Mitwirkungsbefugnis des Art. 21 Abs. I S. 1 GG erforderlich. Vielmehr sind diese Auswüchse für die Gemeinschaft schädlich und deshalb zu bekämpfen und zu beseitigen, jedenfalls aber zu begrenzen. 9 Eschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 12, in Abgrenzung zur "konkurrierenden Patronage" nach dt. Muster.
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V. Rechtswidrigkeit d~r Ämterpatronage a) Die parteipolitische Ämterpatronage verstößt gegen Verfassung und Gesetz und zwar im wesentlichen aus drei Gründen: Erstens wird das in Art. 3 Abs. 3 GG (und teilweise aus Art. 33 Abs. 3 GG) ableitbare absolute Differenzierungsverbot wegen politischer Anschauungen verletzt. 10 Zweitens, weil das verfassungsrechtlich (Art. 33 Abs. 2, Abs. 5 GG) vorgegeben und im einfachen Beamtenrecht bzw. im Öffentlichen Dienstrecht verankerte Leistungsprinzip des Öffentlichen Dienstes bei parteipolitischer Motivation missachtet wird 11 und drittens, weil durch parteipolitische Protektion die Gefahr aufkommt, dass der verfassungsrechtlich (Art. 33 Abs. 5 GG) ableitbare und im einfachen Recht ausdrücklich verankerte Satz missachtet wird, dass Beamte Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei sein sollten 12 (siehe auch §§ 35 Abs. I BRRG, 52 Abs. I BBG). Ist also die Parteimitgliedschaft des Bewerbers der entscheidende Grund für die Einstellungsentscheidung, ist diese ermessensmissbräuchlich und deshalb rechtswidrig. In der Realität werden natürlich häufig Mischformen vorliegen, d.h., z.B. Erwägungen der fachlichen Eignung werden sich untrennbar mit parteipolitischen Erwägungen mischen (etwa bei der Auswahl unter mehreren Parteimitgliedem). Auch dann ist aber die Entscheidung rechtswidrig, wenn und weil parteipolitische Erwägungen bei der EntsteHungsentscheidung maßgeblich mitgespielt haben. 13 b) Das sog. Parteienprivileg des Art. 21 GG rechtfertigt keine parteipolitische Ämterpatronage. 14 Das Parteienprivileg im technischen Sinne beschreibt die Sonderzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei Parteiverbolen (Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG), d.h. den Umstand, dass Parteien anders als Vereine nicht vom Bundesminister des Innem, sondern nur vom Verfassungsgericht verboten werden können. Inzwischen scheint der Begriff des Parteienprivilegs sich zunehmend - nicht zuletzt aufgrund des Parteieinflusses auf die öffentliche Meinung - zu verselbständigen und zur diffusen Legitimation der allgemeinen Besserstellung von 10 Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (368); v. Amim, Ämterpatronage duch politische Parteien, 1980, S. 19; Lorig!Mayer-Schlöder, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, VR 1992, 55 (57). 11 liittger, Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht, JR 1977, 223 (230); Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (368). 12 Lorig!Mayer-Schlöder, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, VR 1992, 55 (57). 13 Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (368) m. w.Nachw. 14 Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (1984), § 13 IV. 6. a (S. 466). 8 v. Amim
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politischen Parteien zu werden. Diese Ausweitung verrät elementare juristische Unkenntnis. Die Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. I S. I GG als Funktionsgarantie zielt durch die Fokussierung auf bloße Mitwirkung bei der politischen Willensbildung gerade nicht auf eine Besserstellung der Parteien, sondern auf eine Gleichstellung mit anderen Faktoren der politischen Meinungsbildung. Im übrigen werden die Parteimitglieder durch das Verbot der parteilichen Ämterpatronage nicht benachteiligt: Ihnen droht keine Besetzungssperre. Gleichberechtigt mit anderen können sie bei hinreichender Leistung in entsprechende Stellen rücken. Der Fortfall des bisherigen faktischen Privilegs ist kein Verbot. Auch soweit Beamte bzw. Richter von politischen Gremien gewählt werden, erlaubt dies nicht eine Parteipatronage. c) Das Grundgesetz hat diese auch nicht konkludent billigend in Kauf genommen, als es Personalentscheidungen in Form von Wahlentscheidungen (z. B. bei Richterwahlen) in die Hand von Politikern legte. Die Verfassung hat das Bild des verfassungs- und rechtsgebundenen Funktionsträgers vor Augen, der sich z. B. an die Bestimmungen der Art. 3 Abs. 2, 33 Abs. 2 GG hält. d) Einige Ausnahmen vom Verbot der Parteipatronage mögen im Bereich der sog. politischen Beamten gelten. Die der Regierung zustehende Befugnis nach §§ 31 Abs. 1 BRRG, 36 BBG etc., solche Beamte jederzeit in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen, wird mit der Notwendigkeit legitimiert, die fortdauernde Übereinstimmung der Bürokratie mit der Regierungspolitik durch Besetzung entsprechender Schlüsselstellen zu sichern. Daraus könnte man die (zusätzliche) Eignungsvoraussetzung der Übereinstimmung mit der Regierungspolitik bei solchen Positionen ableiten. Die Mitgliedschaft in den Regierungsparteien mag hierbei eine gewisse Indizwirkung entfalten. Allerdings darf die Regierung getrost davon ausgehen, dass auch Nicht-Mitglieder ihre Politik unterstützen können. Deshalb ist auch hier eine vorweggenommene Auswahlbeschränkung nur auf Parteimitglieder von vomherein unzulässig.
VI. Durchsetzbarkeil des Verbots der Ämterpatronage a) Der Tatbestand ist klar: Das Verbot der Ämterpatronage wird ständig und massenweise von allen (Regierungs-) Parteien verletzt. Dies gilt bis hinein z. B. in die höchsten Gerichte und führt zu der Frage, ob hierdurch jedenfalls in evidenten Fällen das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt wird. Auch das Bundesverfassungsgericht muss sich fragen (lassen), ob der oberste Verfassungshüter selbst eigentlich verfassungsmäßig besetzt ist.
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Diesem Tatsachenbefund massenweiser Rechtswidrigkeit ist allerdings die ernüchternde Erkenntnis gegenüberzustellen, dass das Verbot der Ämterpatronage nach geltender Rechtslage faktisch kaum durchsetzbar erscheint. Der Grund für die schwache Durchsetzbarkeil liegt vor allem darin, dass parteipolitische Motive der Einstellungsbehörde regelmäßig nicht (bzw. nicht hinreichend) bewiesen werden können. 15 Sie werden fast nie von der Behörde genannt, sondern routinemäßig mit scheinbar sachlichen Erwägungen getarnt. Gerade bei Einstellungen von Personal sind die niedergeschriebenen Gründe häufig nicht die wahren Gründe. b) Der bei der Besetzungspraxis auftretende geschilderte Mangel an Wahrhaftigkeit ist Gift für das politische System. Mehr als alles andere zerstört Scheinheiligkeit die Legitimität. Der Umstand der offenkundigen, aber nicht hinreichend beweisbaren Rechtswidrigkeit der Besetzungspraxis im deutschen öffentlichen Dienst schadet in hohem Maße dem Rechtsbewusstsein, 16 dem Ansehen des Staates und seines öffentlichen Dienstes. Dabei spendet aber immerhin der nicht ganz seltene Umstand etwas Trost, dass das Amt den Inhaber formt und der Parteimann so zum Staatsmann oder zum wahrhaft unabhängigen Richter werden kann. In seltenen Fällen nimmt diese Metamorphose von Parteibegünstigten - etwa bei Bundesverfassungsrichtern - sogar Formen des Aufstands gegen ihre politische Herkunft an.
VII. Möglichkeiten zur Bekämpfung der Ämterpatronage
Die effektive Bekämpfung der Ämterpatronage erweist sich als außerordentlich schwierig, zumal ja ein rechtliches Verbot dieser Patronage bereits besteht. Gewiss ist es schwer oder vielleicht sogar fast unmöglich, zerfallendes Amtsethos der Einstellungsbehörden durch administrative Maßnahmen zu substituieren. Aber auch wenn die Abhilfe schwierig erscheint, ist kein Platz für Verzagtheit oder gar Resignation. Innovation tut auch hier not. Und das Luthersche Apfelbäumchen muss auch hier gepflanzt werden. a) Auf staatliche Kontrollen bei der Bekämpfung der Ämterpatronage zu setzen, kann sich als trügerisch erweisen, wie insbesondere das Beispiel der Kommunalaufsicht in der Ämterpatronage im kommunalen Bereich zeigt. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass gerade die Aufsichtsbehörden selbst als höhere Behörden meistens sogar einem erhöhten Parteieneinfluss unterliegen. Auch die Rechnungshöfe haben sich bisher nur sehr zurückhaltend mit unsachlichen Einstellungen befasst. Lorig/Mayer-Schlöder, VR 1992, 55 (56). Seemann, Gewaltenteilung und parteipolitische Ämterpatronage, Die Verwaltung 1981, 133 (139). 15
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b) Vom Ansatz her scheint die Konkurrentenklage eine erfolgversprechende Bekämpfungsmöglichkeit zu sein, 17 da hierdurch das Eigeninteresse unsachlich übergangener Bewerber zur gerichtlichen Erzwingung der objektiven Rechtmäßigkeit von Einstellungen genutzt wird. Allerdings sollte hierfür die Konkurrentenklage attraktiver gemacht werden. Insbesondere sollte ihre bislang faktische Blockierbarkeit dieser Klagemöglichkeit durch schnelle Ernennung eines protegierten Konkurrenten 18 dadurch verhindert werden, dass die angefochtene Ernennung künftig durch verwaltungsgerichtliche Entscheidung wieder rückgängig gemacht werden kann. 19 Damit wird die Wirksamkeit der Konkurrentenklage zu einer echten Verdrängungsklage gesteigert. Allerdings könnte dies im Ergebnis dazu führen, dass künftig weniger Konkurrentenklagen als bisher im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entschieden werden, weil die Ernennung noch rückgängig zu machen ist. Ein weiteres Hindernis bei Konkurrentenklagen ist nicht selten die Befürchtung, sich insbesondere bei einem Streit um Beförderungen bei seinen Kollegen unbeliebt zu machen und sich vor allem mit seinem Arbeitgeber anzulegen und sich möglicherweise künftige andere Beförderungschancen zu verbauen. 20 Hier mag die Einführung von Verbandsklagemöglichkeiten insbesondere für Steuerzahler-2 1 und Beamtenvereinigungen gegen unsachliche Einstellungsentscheidungen eine gewisse Abhilfe bringen können. c) Das entscheidende Problem bleibt aber auch bei der Konkurrentenklage die außerordentlich schwierige Beweissituation für das Vorliegen unsachlicher, parteipolitischer Erwägungen. Angesichts der offenkundigen Beweisnot bezüglich parteilicher Ämterpatronage ist daran zu denken, mit Beweiserleichterungen, insbesondere mit einer Umkehrung der Beweislast dieses Grundübel zu bekämpfen oder doch wenigsten einzudämmen. Der Staat müsste das Vorliegen hinreichend sachlicher Gründe für seine Personalentscheidungen darlegen. Es liegt ja auch regelmäßig gewiss nicht fern, aus dem Faktum der Parteimitgliedschaft eines eingestellten Bewerbers die (widerlegbare) Vermutung einer unsachlichen Anknüpfung der Einstellungsbehörde hieran abzuleiten. d) Denkbar wäre auch die Einsetzung eines neuartigen unabhängigen Beauftragten zur Bekämpfung von Ämterpatronage, an den sich auch un17 Battis, Recht des öffentlichen Dienstes, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band II, 2. Auf!. (2000), S. 1085. 18 sog. Grundsatz der Ämterstabilität, vgl. BVerwGE 80, 127; krit.: Köpp, in Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 6. Auf!. (1999), Abschn. III Rn. 14. 19 v. Amim, Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980, S. 33. 20 Wichmann, Parteipolitische Patronage, ZBR 1988, 365 (377). 21 v. Amim, Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980, S. 32.
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sachlich übergangene Bewerber wenden könnten, der aber auch selbstständig missbräuchliche Einstellungsentscheidungen aufdecken könnte. Gelänge es, einen solchen Beauftragten ähnlich effektiv zu machen wie die bisherigen Datenschutzbeauftragten, wäre schon viel gewonnen. e) Zu denken ist schließlich auch an eine strafrechtliche Lösung - freilich als ultima ratio. Schon heute wird bereits die Auffassung vertreten, die Einstellung von Bewerbern aus parteipolitischen Erwägungen stelle eine Untreue nach § 266 StGB 22 dar. In der Praxis ist eine entsprechende Strafverfolgung allerdings nicht bekannt. Um Einwänden insbesondere bezüglich der Weite und Unbestimmtheit des Untreue-Tatbestandes zu entgehen, wäre die Einführung eines Straftatbestandes für die Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes aus erkennbar unsachlichen Gründen erwägenswert.Z3 Nicht selten ist der Unterschied im kriminellen Vorwurfsgehalt zwischen Ämterpatronage - insbesondere bei der individuellen - und Korruption ohnehin kaum noch zu erkennen. f) Bei allen diesen institutionellen und rechtlichen Möglichkeiten sollte
man den außerordentlich wichtigen potentiellen Einfluss der öffentlichen Meinung bei der Bekämpfung von Ämterpatronage nicht vernachlässigen. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk wegen der eigenen Parteiverstrickungen sich dabei naturgemäß schwer tut, könnte die Presse hier u. U. wahre Wunder bewirken. Zwar wird sie immer nur besonders krasse Einzelfälle aufgreifen können, aber die Furcht, dass unsachliche Personalentscheidungen "in die Presse" kommen könnten, würde voraussichtlich einen wohltuenden generalpräventiven Effekt entfalten können.
VIII. Zurückdrängong von Parteimitgliedern im Öffentlichen Dienst Eine effektive Bekämpfung der parteipolitischen Ämterpatronage würde zu einer erheblichen Zurückdrängung von Parteimitgliedern im Öffentlichen Dienst führen. Und umgekehrt: die Zurückdrängong von Parteimitgliedern im Öffentlichen Dienst würde die Reichweite und Wirksamkeit der Ämterpatronage begrenzen. a) Deshalb scheint ein Verbot von Parteimitgliedschaften im Öffentlichen Dienst jedenfalls in besonderen Neutralitätspflichten unterliegenden Teilen (z. B. Justiz, Rechnungshöfe etc.) nahezuliegen. Dagegen könnten 22 Schmidt-Hieber/Kiesswetter, Parteigeist und politischer Geist in der Justiz, NJW 1992, 1790, 1794. 23 Lüttger, Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht, JR 1977, 223 und FS f. Eduard Dreher, 1977, S. 587.
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sich unterschiedliche Verfassungsbedenken (insbesondere aus Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG), aber auch aus Art. 33 Abs. 2 GG - Ausscheidung von Bewerbern aus nicht leistungsbezogenen Gründen - und schließlich aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG24 - Behinderung der Parteiarbeit - ergeben. Hinzu kämen u. U. Bedenken aus den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtenturns sowie aus den Rechten, die Art. 48 GG jedermann einräumt, der ein Abgeordnetenmandat anstrebt, die jedoch nach Art. 137 Abs. 1 GG durchaus auch eingeschränkt werden können. Ob diese Einwände in jedem einzelnen Aspekt und Fall durchschlagen, erscheint - z. B. bei Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG - ungewiss. Jedenfalls kennen ausländische Rechtsordnungen demokratischer und rechtstaatlicher Staaten solche Verbote der Parteimitgliedschanen im Öffentlichen Dienst. b) Verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch unbedenklicher könnte eine quotenbezogene Regelung sein, die den Parteimitgliedern und den Nicht-Parteimitgliedern entsprechende Teile der Positionen im Öffentlichen Dienst vorbehält. Die Frauenquote - jedenfalls heute abgedeckt durch Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG -, aber auch die landsmannschaftliehe Quote des Art. 36 Abs. 1 GG zeigen, dass eine quotenorientierte Einstellung im Öffentlichen Dienst, d.h. eine Stellenverteilung entsprechend dem jeweiligen Bevölkerungsanteil nicht per se verfassungswidrig ist, sondern als Beitrag zur "Verteilungsgerechtigkeit" im Öffentlichen Dienst ausgestaltet werden kann. Dies um so mehr, als das Quotenkriterium ·zu den bisherigen Auswahlkriterien des Öffentlichen Dienstes hinzutreten würde. Ein Quotenkriterium müsste sich im übrigen auch nicht streng an dem Anteil von Parteimitgliedern an der Gesamtbevölkerung orientieren (ca. 3%), sondern könnte auch darüber hinausgehen und z. B. 25% der Stellen Parteimitgliedern vorbehalten. Dies wäre angesichts des bisherigen verfassungswidrigen Zustandes - 3 % der Bevölkerung stellen über 90% bestimmter Gruppen im Öffentlichen Dienst- schon ein ganz erheblicher Fortschritt, der näher zum Grundgesetz hinführen würde. Probleme der informationellen Selbstbestimmung etc. 25 bei der dann notwendigen Offenbarung von Parteimitgliedschanen würden entfallen, wenn die Quotenregelung gesetzlich als Eignungsregelung ausgeführt würde. Dabei ist die Frage danach, ob man Mitglied einer Partei ist, sicherlich unproblematischer als die Frage danach, welche Partei dies im einzelnen ist.
24 Benda, in: Baum/Benda/Isensee/Krause/Merritt, Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 38. 25 Hartleb, Die Frage nach der Parteizugehörigkeit im öffentlichen Dienst, (Diss. München, 1968), S. 63 ff.
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Gewiss sind auch bei solchen Quotenregelungen Umgehungsmöglichkeiten vorstellbar (z. B. durch parteinahe "Freundeskreise"). Gleichwohl wären Quotenregelungen als relativ einfach zu handhabende Maßnahmen ein substantieller Fortschritt bei der Bekämpfung der Ämterpatronage.
IX. Schluss Gegenüber allen Vorschlägen zur Bekämpfung der parteipolitischen Ämterpatronage mag man einwenden, sie gingen von dem utopischen Phantom rein sachlicher Personalentscheidungen aus. Zu absoluter Objektivität ist der Mensch aber gar nicht fähig, der sich regelmäßig - jedenfalls unbewusst und ungewollt - auch von nicht leistungsbezogenen Kriterien lenken lässt (Aussehen, Auftreten etc.). So wahr dies sicherlich sein mag, kann hieraus aber kein Freibrief für (bewusst) unsachliche parteipolitische Entscheidungen abgeleitet werden. Die Unmöglichkeit völliger Objektivität menschlicher Entscheidungen sollte uns auch nicht daran hindern, weiter über Möglichkeiten zur Bekämpfung unsachlicher Entscheidungen nachzudenken.
Zusammenfassung 1. Ämterpatronage bedeutet die Besetzung von Stellen im Öffentlichen Dienst aus unsachlichen, leistungsfremden Gründen regelmäßig zur Förderung gemeinsamer Interessen des Einstellers und des Einzustellenden. Sie ist in hohem und immer noch steigenden Maße in Deutschland wie aber auch in anderen Staaten verbreitet. Sie dringt auch in die unteren Besoldungsgruppen der Verwaltung, in der Rechtsprechung, in der kommunalen Selbstverwaltung aber auch in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Kultureinrichtungen, Hochschulen und insbesondere auch in den Eigenbetrieben der öffentlichen Hand etc. bzw. in privatisierten ehemaligen Staatsbetrieben immer stärker vor. 2. Bei der Patronage ist die individuelle Ämterpatronage zur Förderung individueller Interessen (Verwandt- und Bekanntschaften) und die institutionelle Ämterpatronage zur Förderung institutioneller Interessen insbesondere von Organisationen (z. B. Kirchen, Verbände, etc.) zu unterscheiden. Ämterpatronage ist rechtlich anders zu behandeln als die verwandte Wirtschaftspatronage, weil diese sich grundsätzlich auf die Privatautonomie berufen kann, sich aber häufig wegen ihrer Leistungsblindheit als unökonomisch erweist. 3. Die Ämterpatronage durch politische Parteien ist nur eine, allerdings besonders verbreitete und kritisierte Form der (institutionellen) Patro-
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nage. Sie hat Funktionen der Attraktivitätsgewinnung von politischen Parteien für Mitglieder, vor allem aber die Funktionen der Machtverbreitung und Machtsicherung. Parteien sehen ihre Patronage häufig als kompensatorische Patronage, um auf eine entsprechende Patronage durch den politischen Gegner zu reagieren. 4. Eine sinnvolle Abhilfe könnten Selbstbeschränkungsabkommen politischer Parteien zur Begrenzung der Ämerpatronage darstellen. Die Kritik an der parteipolitischen Ämterpatronage hat keine antiparlamentarischen Affekt, sondern zielt darauf, die politischen Parteien auf ihre verfassungsrechtliche Position zurückzuführen. 5. Die Ämterpatronage verstößt gegen die Verfassung und geltendes Gesetzesrecht. Sie stellt eine rechtswidrige Ausübung des rechtlich gebundenen Einstellungsermessens der zuständigen Behörde dar und missachtet den für die Einstellung im öffentlichen Dienst maßgeblichen Leistungsgrundsatz. Die Anerkennung politischer Parteien in Art. 21 GG rechtfertigt keine parteipolitische Ämterpatronage. Das Parteienprivileg bedeutet nicht Einstellungsbevorzugung für Parteimitglieder. Lediglich im Bereich der eigentlichen politischen Führung sowie der sog. politischen Beamten erscheinen parteipolitische Einstellungserwägungen legitim. Außerhalb dieses Bereichs sind auch Wahlentscheidungen über die Besetzung von Stellen im Öffentlichen Dienst (z. B. Richterwahlen) an das Verbot der parteipolitischen Ämterpatronage gebunden. Dieses Verbot bedeutet keine Berufssperre für Parteimitglieder, die vielmehr (nur) nach ihren Leistungen beurteilt werden müssen. 6. Das Verbot der Ämterpatronage wird massenhaft verletzt. Es ist nach geltender Rechtslage praktisch kaum durchsetzbar, weil unsachliche, insbesondere parteipolitische Motive von der Einstellungsbehörde regelmäßig nicht geäußert werden und deshalb nicht bewiesen werden können. Parteipolitische Erwägungen werden fast immer mit scheinbar sachlichen Erwägungen getarnt. Gerade diese Scheinheiligkeit und der Umstand der offenkundigen, aber nicht beweisbaren verbreiteten Rechtswidrigkeit der Besetzungspraxis im deutschen öffentlichen Dienst schadet in hohem Maße dem Rechtsbewusstsein und dem Ansehen des Staates und seines öffentlichen Dienstes. 7. Die effektive Bekämpfung der Ämterpatronage erweist sich als außerordentlich schwierig, zumal ein umfassendes rechtliches Verbot ja bereits besteht. Zur Abhilfe ist insbesondere an die verwaltungsrechtliche Konkurrentenklage durch übergangene Mitbewerber zu denken, aber etwa auch an die Einführung von Verbandsklagemöglichkeiten von Steuerzahler- und Beamtenvereinigungen gegen unsachliche Einstellungsentscheidungen. Allerdings können auch solche Klagen an den typischen
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Beweisschwierigkeiten bei der Enttarnung parteipolitischer Einstellungen grundsätzlich nichts ändern. Dazu bedürfte es einer Umkehrung der Beweislast oder sonstiger Beweiserleichterungen. Eine wichtige Rolle kann die Aktivierung der öffentlichen Meinung (und gflls. auch der Opposition) gegenüber unsachlichen Ämterbesetzungen spielen. Denkbar erscheint auch die Einsetzung eines Beauftragten zur Bekämpfung der Ämterpatronage sowie die Einführung eines Straftatbestandes für die Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes aus erkennbar unsachlichen Gründen. Insbesondere ist der Unterschied im Vorwurfsgehalt zwischen Ämterpatronage und Korruption häufig kaum noch zu erkennen. 8. Das vereinzelt im Ausland bekannte Verbot einer Parteimitgliedschaft für Angehörige des öffentlichen Dienstes (insbesondere von Richtern) könnte möglicherweise auf Verfassungsbedenken stoßen. Verfassungskonform wäre hingegen die Einführung von Quoten für Parteimitglieder (z. B. entsprechend des Anteils von Parteimitgliedern an der Gesamtbevölkerung) einzuführen. Selbst wenn Umgehungsmöglichkeiten (z. B. durch "Freundeskreise") nicht auszuschließen sind, könnte eine solche Quotierung jedoch als relativ einfach handhabbare Maßnahme einen erheblichen praktischen Fortschritt in der Bekämpfung der Ämterpatronage bringen.
Politische Klasse und Öffentlichkeit Von Ulrich Sarcinelli
I. Öffentlichkeit und Demokratie "Ich hätte vielleicht längst meinen ersehnten Olympiasieg gefeiert, weil ich in der DDR nicht mit dem Druck des öffentlichen Lebens hätte klarkommen müssen." Mit diesen Worten zitierte die Süddeutsche Zeitung (28.9.2000) das wieder um ihren olympischen Lorbeer gebrachte Schwimmidol Franziska van Almsick. - Mag der Druck der Öffentlichkeit als Erklärung für mindere Leistung einer Spitzensportlerio noch abgenommen werden, so können Spitzenpolitiker bei vergleichbarer Begründung für eine politische Niederlage wohl kaum mit Nachsicht rechnen. Öffentlichen Druck auszuhalten gehört inzwischen zur erwarteten Kompetenzausstattung politischer Akteure in der Mediengesellschaft Man kann darüber streiten, ob und wieviel Sport und Öffentlichkeit miteinander zu tun haben. Nicht zu bestreiten ist, dass Demokratie und Öffentlichkeit zusammengehören. Demokratische Politik ist zustimmungsabhängig und deshalb auch gegenüber der Öffentlichkeit begründungspflichtig. Politik und Öffentlichkeit, in der Demokratie sind das zwei Seiten einer Medaille. "Ohne die Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit, ohne die Freiheit der modernen ,Massenkommunikationsmittel' Presse, Funk und Film kann öffentliche Meinung nicht entstehen, sind die Entwicklung politischer Alternativen sowie , Vorformung des politischen Willens' nicht möglich, kann es keine Publizität des öffentlichen Lebens geben ... "(Hesse 1995: 169) Eine Meinungsfreiheit gewährleistende Öffentlichkeit ist deshalb für die demokratische Ordnung des Grundgesetzes "schlechthin konstitutierend", um die vielzitierte, erstmals im Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 (208)) verwendete Formel des Bundesverfassungsgerichts zu gebrauchen. Haftet dem Begriff Öffentlichkeit nicht zuletzt in der Tradition von Jürgen Habermas' (1990) Klassiker über den Strukturwandel der Öffentlichkeit ein aufklärerischer Impetus an, so soll hier eine sozialwissenschaftliehe, eher funktionalistische Arbeitsdefinition zugrundegelegt werden, wie sie am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin von Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt erarbeitet wurde. Danach wird Öffentlichkeit als "ein Kommunikationssystem verstanden ... , in dem Akteure über
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politische Themen im Horizont eines Publikums, das durch ,prinzipielle Unabgeschlossenheit' (Habermas) gekennzeichnet ist, kommunizieren ... Die Rückbindung von Herrschaftspositionen und von politischen Entscheidungen an die Präferenzen der Bürger begründet den strategisch wichtigen Stellenwert von Öffentlichkeit als intermediäres System: Über das Kommunikationssystem Öffentlichkeit können sich die Bürger und Akteure des politischen Systems wechselseitig beobachten." (Gerhards 1998: 269) Etwas schwerer fällt es, eine befriedigende Definition für den Personenkreis zu finden, der im Mittelpunkt der Tagung steht, für die politische Klasse. Der Begriff der politischen Klasse bleibt auch in der Fachdiskussion unscharf. In der Vorinformation zur Tagung wird eine Definition von politischer Klasse vorgeschlagen, der nur zum Teil gefolgt werden kann. "Zur politischen Klasse", so heißt es dort, zählen wir diejenigen, die (in der Terminologie von Max Weber) nicht (nur) für die Politik, sondern von der Politik leben, also Berufspolitiker mit eigenen, sozusagen klassenspezifischen Interessen." (Tagungsinformation) Berufspolitiker ja, das ist ein empirisch klar umgrenzbarer Kreis von sog. Positionseliten, also Amts- und Funktionsträger in Regierung, Parlament und Parteien vor allem. Diese haben gewiss auch bezogen auf die Öffentlichkeit Interessen. Vor allem wollen sie Aufmerksamkeit generieren, Themen setzen, um Zustimmung zu erreichen. Ob man dies dann aber als klassenspezifische Interessen im Sinne einer "Kohärenz des Denkens und Handelns" (v. Beyme 1993: 14) bezeichnen kann, muss bezweifelt werden. Bisher ist es jedenfalls noch nicht gelungen, die ,politische Klasse' "als eigenständigen Faktor im politischen Prozeß zu konzipieren". (Klingemann/Stöss/Weßels 1991 : S. 27) Der gleichgerichtete Kampf politisch rivalisierender Akteure (Herzog 1991: 13) um das knapper werdende Gut Aufmerksamkeit, um ein positives Medienimage und Publikumserfolge, schafft noch keine politische Klasse. Jedenfalls ist dies in einer offenen Gesellschaft mit einer halbwegs funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit ziemlich unwahrscheinlich. Angesichts dieser konzeptionellen Unsicherheit erscheint es ratsam, ganz neutral von Akteuren bzw. von Eliten zu sprechen. Dass man plitische Funktionseliten braucht, um die gerade auch in funktional differenzierten politischen Systemen nicht aufhebbare Differenz zwischen Regierenden und Regierten zu überbrücken, darüber dürfte leicht Konsens herzustellen sein. (Grimm 2000)
II. Auf dem Weg zur "plebiszitären Führerdemokratie"? Allerdings bietet der eingangs bemühte Max Weber doch interessante Anknüpfungsmöglichkeiten für die Problematisierung des Verhältnisses von politischer Klasse oder sagen wir neutral von politischen Eliten und Öffentlichkeit. Max Weber hatte große Sympathie für ein Demokratiemodell, das
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man im Zusammenhang mit dem modernen Medienbetrieb heraufdämmern sieht. Weber plädierte für eine "plebiszitäre Führerdemokratie" (Weber 1980, S. !56 f.), nach seinem Verständnis eine Variante charismatischer Herrschaft. Danach herrscht der politische Führer "kraft der Anhänglichkeit und des Vertrauens seiner Anhängerschaft und des Vertrauens seiner politischen Gefolgschaft zu seiner Person als solcher". (Ebenda, S. 156) Vom Plädoyer für die plebiszitäre Führerauswahl versprach sich Weber "die Institutionalisierung eines Prinzips, das gegen die Einengung des freien Zugangs zur Macht durch Parteibürokratie und Parlament einerseits und gegen die ,Meritokratie' in der Politik andererseits gerichtet ist." (Schluchter 1985, S. 101 f.) Max Weber verstand plebiszitäres Führerturn vor allem als Gegengewicht zu Berufspolitik, Verwaltungsdominanz und Partikularinteressenübergewicht (im Rahmen der parlamentarischen Mehrheitsherrschaft) nach dem Ende der Monarchie und den Anfängen von Parlamentarisierung und allgemeiner Demokratisierung in der frühen Weimarer Republik. Zwar sind die historischen Zeitumstände nicht vergleichbar. Und auch mit dem Führerbegriff kann heute nicht mehr in gleicher Weise wie zu Webers Zeiten unbefangen umgegangen werden. Dennoch impliziert Webers Plebiszitarisierungsidee zwei auch aktuell relevante Problemstellungen: Fördert der moderne Medienbetrieb nicht eine zunehmende Personalisierung von Politik bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Institutionellen, des Prozeduralen, der Legitimation über Köpfe zu Lasten der "Legitimation durch Verfahren"? (Luhmann 1983) Verändert die medienbedingte Tendenz zur Plebiszitarisierung von Politik, d. h. zur Legitimierung über die Medien und damit über das Medienpublikum, die Bedingungen für die Elitenrekrutierung im Sinne einer Öffnung und Lösung von institutionellen Verkrustungen? Ergeben sich hier neue Chancen zu einer intensivierten - allerdings über die Massenmedien laufenden - Responsivität des politischen Personals oder führt medienbewußtes Akteursverhalten zu neuen Abhängigkeiten? Anders gewendet kann man allerdings auch fragen: Geht demokratische Herrschaft in der Mediengesellschaft an der Regierung, dem Parlament und den Parteien vorbei? Diese Fragen sind demokratietheoretisch und -praktisch von Bedeutung und empirisch nicht ganz leicht zu beantworten. Jedenfalls ist demokratische Elitenherrschaft nur dann akzeptabel, wenn es sich um offene, Zu- und Abwahl ermöglichende Verfahren handelt. Denn Elitenherrschaft setzt als System institutionalisierter Freiheit zweierlei voraus. Das Handeln der Akteure muss auf den Willen der Bürger gestützt werden. Zugleich muß das Funktionieren demokratischer Institutionen gewährleistet sein. Peter Graf Kielmansegg hat dies einmal als die "Synthese von Demokratieprinzip und Ämterverfassung" (Kielmansegg 1988: 64) bezeichnet. Verschieben sich tatsächlich die Gewichte im demokratischen Legitimationsprozeß weg von den Verfahren, den Institutionen und hin zu den
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Medien, weg von der ,Repräsentation' zum medialen Quasi-Plebiszit? Verweist nicht auch der Blick auf Zusammensetzung und Verhalten der sichtbaren politischen Eliten in der modernen Mediengesellschaft auf einen "Legitimitätswandel" (Sarcinelli 1998 a) unseres demokratischen Systems? Um diesen Zusammenhang soll es im folgenden gehen. Zunächst wird nach Tendenzen einer Veränderung der politischen Elite gefragt. (Kap. 3) Kapitel 4 thematisiert dann den Zusammenhang von Akteuren, Öffentlichkeit und institutioneller Verantwortung. Die Vermutung, dass sich nicht alle Akteursgruppen in gleicher Weise den Gesetzmäßigkeilen des modernen Medienbetriebes anpassen, dass es vielmehr auch institutionell bedingt unterschiedliche Anpassungsleistungen gibt, steht im Mittelpunkt dieses Abschnittes, der sich exemplarisch mit öffentlichkeitsrelevantem Akteursverhalten im Kontext von Regierung, Parlament und Parteien beschäftigt.
111. Von der politischen Elite zur Medien(polit)prominenz a) Politische Akteure als Medienprominente Folgt man dem Tenor zeitdiagnostischer Betrachtungen, so sind die Befunde bzw. Trends eindeutig: Unter dem Diktat des modernen Massenkommunikationssystems, allen voran dem Fernsehen, vollzieht sich ein ,,Strukturwandel politischer Herrschaft" (Macho 1993), eine Mutation der politischen Elite zur medienfixierten Polit-Prominenz; entwickelt sich Politik zu einem Starsystem (Kepplinger 1997) mit vermeintlich steuerungssouveränen Akteuren (Beck 1986: 314); drohen infolge des "Überhandnehmens(s) einer persönlichkeitsorientierten Politik" unzivilisierte Verhältnisse (Sennett 1986: 364), ein neuer Typus politischer Ordnung, den der italienische Rechtsphilosoph Danilo Zolo als "demokratische Fürstenherrschaft" (Zolo 1997) bezeichnet; eine Art plebiszitarisiertes System auf der Basis von Fernsehlegitimität Es ist ein Merkmal solcher weitgehenden Zeitdiagnosen, dass ihre Langlebigkeit und ihr hoher rhetorischer Gebrauchs- und Unterhaltungswert in keinem Verhältnis zur empirischen Fundierung stehen. Räumt die politische Elite unter den spezifischen· Bedingungen eines modernen Massenkommunikationssystems tatsächlich der Medienprominenz den Platz? Wie verändern sich Rekrutierung, Perzeptionen, Kompetenz und Kommunikationsweisen des politischen Führungspersonals unter dem ,Diktat' des modernen Medienbetriebs? Überhaupt die Frage: Was machen die Medien mit und aus dem politischen Führungspersonal? Was machen Führungseliten mit den Medien? Welches Bild politischer Akteure vermitteln Medien mit welchen Folgen? - Nur auf einige für unseren Fragezusammenhang interessante Aspekte soll hier eingegangen werden.
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Eine der wenigen empirischen Studien zur Prominenzierung in der Mediengesellschaft stammt von Birgit Peters (1996). - Die Daten sind zwar schon über zehn Jahre alt und auch die Generalisierung der Befunde ist nicht ohne weiteres gegeben. Dennoch ist die Studie unter empirischen wie auch systematischen Gesichtspunkten von Interesse. - Als Prominente werden von Peters solche Personen bezeichnet, "die dadurch hervorragen, dass sie dauernd präsent sind." (32 f.) Während Eliten von Fachkreisen und Gremien ausgewählt würden, kennzeichne den Prominentenstatus eine große Laienöffentlichkeit Peters rekurriert dabei auf das Öffentlichkeitsmodell von Gerhards und Neidhardt. "Da öffentliche Aufmerksamkeit knapp ist, stellt der Besitz von Prominenz ein Beziehungskapital dar, das unabhängig davon wirkt, was ihr Träger jeweils sagt und tut. Die Aufmerksamkeit gilt dem Prominenten selber . .. " Der Prominente sei, so Gerhards und Neidhardt, Teil der öffentlichen Agenda und werde im Maße seiner Prominenz selber zum Issue. (Gerhards/Neidhardt 1990: 36.) Seine öffentliche Beachtung ist demnach nicht zwingend an Positionen geknüpft. Infolgedessen erweise sich der Prominentenstatus grundsätzlich als instabil. Er könne jederzeit aufgehoben werden. (Peters 1996: 33) Vor allem zwei Befunde verdienen hier Beachtung. Der erste Befund: Die Medien übernehmen erst den zweiten Schritt in der Elitenrekrutierung. Die gesellschaftlichen Teilbereiche (insb. Parteien, gesellschaftliche Organisationen etc.) bilden spezifische Eliten aus. Erst nach der Nominierung der Prominenzkandidaten innerhalb des Subsystems kommen die Medien ins Spiel, indem sie durch medienspezifische Selektionsmechanismen (s. u. a. Nachrichtenwert Personalisierung) einem Teil des Führungspersonals die Plattform für Massenpublikumsresonanz bieten, einem anderen nicht. Man kann das auf die Formel bringen "Beifall nach Auslese" im Gegensatz zu "Beifall statt Auslese". (Peters 1996: 117) Dabei verleihen die Medien Publizität, während es letztlich das (Medien-)Publikum ist, das Prominenz verleiht. Wer also prominent sein oder werden will, muss sowohl medienadäquat als auch publikumsgerecht agieren. Hier konkurrieren dann politische Akteure mit Vertretern aus Sport, Showbit und anderen Anbietern von Information und Unterhaltung. Generell werden der Prominenz hohe expressive, d.h. Unterhaltungsleistungen - gemessen mit den Eigenschaften "unterhaltsam" und "interessant" - zuerkannt. Bei der politischen Prominenz kommt noch die Zuweisung hoher moralischer Kompetenzen hinzu. Peters vermutet, "dass das Publikum mit Prominenz mehr verbindet oder von ihr mehr erwartet als reinen Unterhaltungswert, nämlich Orientierungsfunktion." (159) Der Einfluss auf politische Meinungsbildung wird dann als wahrscheinlich angesehen, wenn hohe moralische Qualitäten, ausgeprägte Unterhaltungskompetenz und gute Expertenfähigkeiten zusammenkommen. (Peters 1996: 193; dies. 1994: 209)
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Zwar ist zu vermuten, dass inzwischen auch bei der internen Vorauswahl von Führungspersonal (z. B. Kandidatennominierungen für Parlamentswahlen) Öffentlichkeitskompetenz eine Rolle spielt. Denn politische Kompetenz ohne Medienkompetenz ist halbierte Kompetenz. Doch abgesehen von einzelnen Akteursäußerungen und journalistischen Beobachtungen fehlen dazu noch entsprechende systematische empirische Untersuchungen. Zudem spricht einiges für die Vermutung, dass sich Urteile über die Starqualität eines politischen Akteurs auch verselbständigen können und auf die Einschätzung der Problemlösungsfähigkeit von Politikern abfärben. In verschiedenen Studien akzentuiert der Publizistikwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger in dieser Richtung. Die Kompetenzzuschreibung für Politiker als Stars sei nicht notwendigerweise an Ämter geknüpft. Ja die Urteile über die Starqualität politischer Akteure färbe auf die Einschätzung von deren Problemlösungskompetenz ab. Einerseits sei Fernsehperformanz eine Voraussetzung für Starruhm, andererseits sei Starruhm eine Ursache von Kompetenzvermutungen. (Kepplinger 1997: 180 und 188) Zwischen Politik und Medien gibt es für Kepplinger kein ausgewogenes Verhältnis des Gebens und Nehmens, sondern eine einseitige Ausrichtung der Politik an den Mechanismen des Mediensystems. Politische Akteure suchten Publizität und Publikumserfolge mit Hilfe der Massenmedien. Sie inszenieren und mediatisieren Ereignisse in Kenntnis der journalistischen Selektionskriterien. Sie betreiben politisches "Ereignis-Management". Zunehmend überlagere "die Rationalität der Darstellung die Rationalität des Dargestellten" (176), unterwürfen sich die Politiker den Erfolgsbedingungen der Medien. Was unter dem Erfolgskriterium Aufmerksamkeit für den Akteur rational sei, habe jedoch weittragende Nebenfolgen. Die ohnedies erodierende Legitimationsbasis der Politik werde geschwächt, Politikverdrossenheit erzeugt. (202) Es finde eine "Demontage der Politik" (Kepplinger 1998), so der Titel seines Buches, statt. In einem Rückblick auf seine kurze Politikerkarriere hat der Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem, ein ausgewiesener Medienrechtler im übrigen, seine diesbezüglichen Eindrücke auf die Formel gebracht: "Politiker befinden sich in den Fesseln der Mediengesellschaft". (Hoffmann-Riem 2000: 109) b) Medienzentrierte Elitenspiele und institutionelle Kontexte
Konzentriert sich Peters' Studie ausdrücklich auf die medienöffentliche Kommunikation von Eliten und die damit in Verbindung stehenden Prominenzierungsregeln, so ist diese Perspektive von vorneherein medienzentriert und sind politisch-institutionelle Faktoren ausgeblendet. Dass die politische Prominenz den ,Seiltanz in der Medienarena' nicht ohne institutionelles Sicherungsnetz, Halteseil oder auch Zwangskorsett vollführt, dafür geben die einschlägigen Elitenstudien klare Anhaltspunkte. So verweisen Hoffmann-
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Lange und König darauf, dass für Sichtweisen und Verhalten politischer Eliten "der institutionelle Kontext", in dem diese tätig sind, wichtiger sei als etwa soziale Herkunft. (Hoffmann-Lange/König 1998, S. 451) So wird in der Potsdamer Elitenstudie einerseits ein sehr grundlegender, lebenszyklischer Einstellungswandel der deutschen Führungselite hin zu plebiszitären Demokratievorstellungen konstatiert. Andererseits kann nachgewiesen werden, dass mit der Dauer der Zugehörigkeit eines Mitglieds der Führungsschicht im Amt, "die Akzeptanz der repräsentativen, auf politische Führung angelegten Demokratie" zunimmt. (Bürklin/Rebenstorf u. a. 1997, S. 418) Beide großen Untersuchungen, die zweite Mannheimer Elitenstudie von Hoffmann-Lange ( 1992) wie auch die aktuellere Potsdamer Elitenstudie von Bürklin, Rebenstorf u. a. ( 1997) heben zudem auf ein dichtes Kornmunikationsnetzwerk ab, in das die Eliten eingebunden sind, wobei dem politischen Elitensektor eine zentrale Bedeutung bei der Koordination gesellschaftlich bedeutsamer Entscheidungen zukommt. Im Gegensatz zum medienvermittelten Bild entscheidungssouveräner - oder bisweilen auch entscheidungsschwac her- Politprominenz spricht viel dafür, "dass die Entscheidungsstrukturen von Politikfeld zu Politikfeld variieren können" und "dass die relevanten Akteure in nationalen Politikfeldern nicht Individuen sondern Organisationen (v.a. Interessengruppen und politische Parteien) sind". (Hoffmann-Lange/König 1998, S. 452) Auf diesen Aspekt der institutionellen Kontextbindung des Kommunikationsverhaltens politischer Eliten wird später noch am Beispiel von Regierung, Parlament und Parteien einzugehen sein. c) Politikvermittlungsexperten in der Legitimatorischen Grauzone
Allerdings stellt dies einen generell zu beobachtenden Trend nicht in Frage. Die Ausweitung des Mediensystem, die Zunahme der Anbieter und die wachsende Unübersichtlichkeit der Angebote setzen auch die politischen Anbieter auf dem Medienmarkt unter Professionalisierungsdruck, wenn es darum geht mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Hier gilt es eine Personengruppe in Augenschein zu nehmen, die - zumindest in Deutschland und ganz im Gegensatz zu den USA - gemeinhin nicht zur politischen Klasse bzw. zur politischen Elite gerechnet wird. Die Rede ist von den sog. poitischen Öffentlichkeitsarbeitern. Dabei handelt es sich um eine heterogene Personengruppe, die als politische Berater, als Pressereferenten, Marketingstrategen, Imagespezialisten, Spindoktors oder wie auch immer bezeichnet, in jedem Falle also als "Politikvermittlungsexperten" (Tenscher 1999), fungieren. Der "Logik des politischen Systems verpflichtet" und mit den Entscheidungsregeln im politischen System vertraut besteht ihr Wert für Politiker vor allem darin, "daß sie die Logik des Mediensystems kennen und dessen Regeln professionell beherrschen" (Jarren/Röttger 1999: 9) und 9 v. Amim
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für ihre Auftraggeber nutzen. Welche Faktoren eine Information zu einer Nachricht machen, wie aus einem Thema ein politisches Event wird, wie personalisiert und dramatisiert wird, wie Timing und Themen der Berichterstattung beeinflußt werden können, wie Meinungen gemacht und Stimmungen erzeugt werden können - dies gehört zu ihrem Kompetenzbereich. Inzwischen gibt es schon eine breitere Forschungsdiskussion, was die Leistungen von Öffentlichkeitsarbeit anbelangt. ( Bentele 1998 a, 1998 b; Röttger 1997) Der publizistische und wissenschaftliche Streit darüber, wer wen beeinflußt oder vermeintlich gar determiniert im Verhältnis von Öffentlichkeitsarbeit und Medien, soll hier vernachlässigt werden. Für unseren thematischen Zusammenhang von besonderem Interesse erscheint jedoch die demokratietheoretische Positionierung dieses Personenkreises. Bei Politikvermittlungsexperten/Öffentlichkeitsarbeitern handelt es sich jedenfalls um strategisch gut plazierte, vielfach auch einflußreiche Akteure, deren Aufgabe es zwar ist, öffentliche Resonanz zu erzeugen, die selbst öffentlich aber kaum in Erscheinung treten. Verfassungsrechtlich und gewiß auch arbeitsrechtlich ist die Sache klar. Es sind abhängig Beschäftigte, intern eingebunden oder extern beauftragt, Personen also ohne eigenes politisches Mandat. Nicht gewählt sondern angestellt für die öffentlichkeitswirksame "Politikdarstellung", zuständig also für den öffentlichkeitsadressierten Legitimationsprozeß, für "Darstellungspolitik" also. (Sarcinelli 1987: 66; 1994) Dennoch bleibt die Frage, ob hier eine neue Elite "in der Grauzone politischer Legitimation" (Tenscher 2000: 13; Sarcinelli/Tenscher 2001) entsteht, öffentlichkeitsrelevant aber nicht sichtbar, den Legtimationsprozeß in starkem Maße beeinflussend, aber selbst nicht legitimiert. Mag sein, dass hier ein gewisser Kampa-Mythos aufgebaut wird. "Kampa" hieß bekanntlich die aus der Partei ausgelagerte Organisationseinheit, die für die SPD im Bundestagswahlkampf 1989 hochprofessionell und wohl auch erfolgreich die Kampagnenplanung entwickelt und organisiert hat. - Dass Öffentlichkeitsarbeiter tendenziell unter Manipulationsverdacht stehen, hat sicherlich mit einer gewissen Geheimniskrämerei zu tun, die hierzulande um dieses Tätigkeitsfeld gemacht wird. In den USA und z. T. auch in Großbritannien gehört es mittlerweilen zu den image- und chancenfördernden Faktoren für Spitzenkandidaten, sich in der Öffentlichkeit mit möglichst renommierten Politikberatungsfirmen und Politikvermittlungsexperten zu schmücken. Bisweilen treten die spin-doctors selbst als Stars auf, wird spindoctoring selbst zum öffentlichen Thema. Demgegenüber bekennt man sich in Deutschland noch eher verschämt zur Professionalisierung der Politikvermittlung. Auch empirisch ist dieses Feld bisher wenig erschlossen. Erste vergleichende Untersuchungen über die Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen in unterschiedlichen nationalen Kontexten zeigen, dass es beispielsweise zwi-
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sehen PR-Experten in den USA und Deutschland erkennbare Unterschiede gibt. Spielen in Deutschland parteipolitische Handlungsorientierungen nach wie vor eine große Rolle, so sind in den USA die Kommunikationsrollen und -stile doch wesentlich stärker medienorientiert (Pfetsch I 998; 2000) Dies stellt zwar die These von der Amerikanisierung der politischen Kommunikation nicht gänzlich in Frage. Es macht aber doch deutlich, dass die unterschiedlichen institutionellen Kontexte der politischen Systeme (parlamentarisches vs. präsidentielles Regierungssystem) und vor allem auch der Mediensysteme (kommerzielles vs. duales Mediensystem) die politischen Stile und Handlungsorientierungen der Akteure beeinflussen. Dennoch gilt: "Trotz differenter nationaler Kommunikationskulturen fungieren die Medien in beiden Ländern als strategische Ressource, die politische Handlungsfähigkeit erhöhen, wenn nicht gar gänzlich herstellen soll." (WZB Bericht 2000: 130)
IV. Akteure, Öffentlichkeit und politisch-institutionelle Verantwortung Dass der institutionelle Kontext also für das öffentlichkeitsorientierte Handeln und Verhalten von Eliten eine wesentliche Rolle spielen, diesen Befund können wir auch aus eigener empirischer Forschung bestätigen. Die noch nicht publizierten Ergebnisse eines DFG-Projekts, das am Institut für Politikwissenschaft der Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau durchgeführt wurde und in dem insg. über 120 Spitzenakteure, aktive und ausgeschiedene, in Intensivinterviews zu den Interaktionen zwischen Politik, Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus, zu den Strategien und Spielräumen der Inszenierung in der politischen Kommunikation befragt wurden, gehen ebenfalls in diese Richtung. Aus juristischer Perspektive bedarf die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen für das Kommunikationsverhalten keiner näheren Begründung. Auf politikwissenschaftlicher Seite geriet diese Selbstverständlichkeit allerdings unter dem Druck eines mehr und mehr verhaltenswissenschaftlich ausgerichteten Approach eine Weile aus dem Blick. Im Zuge der Renaissance eines "aufgeklärten Institutionalismus" (vgl. Sarcinelli 1991) wächst seit einigen Jahren wieder das Bewußtsein dafür, dass institutionelle, organisatorische und inhaltliche Fragen nicht getrennt werden können. (Vgl. v. Beyme 1999: 19) So sind die institutionellen Bedingungen auch in der Mediengesellschaft für das Verhalten von Akteuren wichtig. Aber der institutionelle Rahmen und die Gewichte verändern sich unter dem Mediatisierungsdruck. Exemplarisch soll dies in kurzer Auseinandersetzung mit drei gängigen Thesen demonstriert werden. Es handelt sich dabei um mehr oder weniger verbreitete und z. T. schon populäre Sichtwei9*
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sen zur Veränderung des politischen Prozesses unter den Bedingungen moderner Medienöffentlichkeit Erstens um die These, die Kanzlerdemokratie mutiere zur Fernsehdemokratie oder Telekratie; zweitens um die These, das parlamentarisch-repräsentative System entwickle sich zu einem medial-präsentativen System; und drittens um die These vom Wandel der Parteiendemokratie in eine Mediendemokratie. Da der Verfasser selbst in verschiedenen Publikationen zur Verbreitung dieser Thesen beigetragen hat, seien um so mehr einige skeptische und differenzierende Anmerkungen erlaubt. Diese laufen in allen drei Fällen darauf hinaus, dass das relativ einfache medienöffentliche konfliktarische Erscheinungsbild politischer und handlungssouveräner Akteure der Komplexität zunehmend vernetzter, stark kooperativer und verflochtener Entscheidungssyteme und -prozesse kaum mehr gerecht wird. a) Regierung: Von der Kanzlerdemokratie zur "Telekratie "? Schon seit geraumer Zeit beschäftigen sich Sozial- und Politikwissenschaftler mit den Wechselwirkungen zwischen Medienöffentlichkeit und Regierungsstil. Für westliche Demokratien wird dabei vielfach eine "Transformation demokratischer Führung" (Plasser 1993) konstatiert, ein Wandel nach amerikanischem Muster: Präsidiales Regieren, das sich vor allem in der "Schwächung des kollektiven Elementes zugunsten des individuellen, also zugunsten der Vorherrschaft des Regierungschefs" (Pokuntke 2000: 363) seinen Ausdruck findet. Wesentlicher Teil dieses neuen Stils sei das Prinzip "Going public", sei Darstellungspolitik als politische Verhaltensmaxime und "Lieblingsstrategie" (Kernell 1993), ein Stil, bei dem sich die Grenzen zwischen Wahlkampf und Regieren verwischen. Fixiert auf die politische Spitze, im deutschen System vor allem auf die Person des Regierungschefs, wird ein "telekratischer" Führungs- (Sarcinelli 1999 a) und "scheinplebiszitärer Repräsentationsstil" (Jäger 1992) konstatiert. Die Bundestagswahl 1998 habe nicht nur einen ,normalen' politischen Wechsel eingeleitet, sondern auch eine Art Systemveränderung signalisiert. Das "System Kohl" habe "seine Legitimationsbasis in den traditionellen Institutionen, Mechanismen und Verfahren und insbesondere auch über Jahrzehnte gepflegten persönlichen Loyalitäten der alten Parteiendemokratie" gehabt. Die wichtigste Währung dieses Parteienstaatsmodells sei "im Zweifelsfall der Stimmzettel der Parteitagsdelegierten und die Loyalität der politischen Freunde in der weiten Unionslandschaft" Das "System Schröder" hingegen legitimiere sich im Wesentlichen über die Mediengesellschaft Seine Machtprämie sei zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich Medienkompetenz und Medienpräsenz. Ähnlich wie im Amerika Clintons und im Großbritannien Blairs stütze sich dieses System vor allem auf den "plebiszitären Schulterschluß einerseits und auf die quasi-präsidiale Moderation
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konkurrierender Interessen und Machtansprüche andererseits." (Sarcinelli 1999a: 5 f.) Mit dem bereits zitierten italienischen Rechtsphilosophen könnte man dieses System als eine neue Art "demokratischer Fürstenherrschaft'' bezeichnen, dessen Grundlage "das besondere Charisma der teledemokratischen Führungspersönlichkeit" ist, ein System also auf der Basis von "Fernsehlegitimität". (Zolo 1997: 200) Nun veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel (Leinemann 2000) zum zweiten Jahrestag der Übernahme der Kanzlerschaft durch Gerhard Sehröder unter dem Titel "Der lernende Kanzler" einen längeren Bericht, in dem die Verwunderung über den neuerlich veränderten Stil des Kanzlers zum Ausdruck gebracht wird. Aktueller Anlass war die Reise des Regierungschefs durch die neuen Bundesländer. Sein öffentliches Auftreten, der Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus, die Würdigung der Aufbauleistungen, die Ermutigung der Menschen, dies alles wurde in dem Artikel als eine Art Kanzlermetamorphose dargestellt, frei nach dem Motto "vom Salesman zum Statesman". Und Sehröder wird mit den Worten zitiert: "Du kannst nicht nur mit den Medien auskommen. Die SPD ist wichtiger als eine gute Story auf der Seite drei." (Schröder, in: Leinemann 2000: 30) Was als neue Ernsthaftigkeit, als Stilwechsel, als das Einschwenken des Medienkanzlers und Spezialisten für "Darstellungspolitik" in das harte Geschäft der "Entscheidungspolitik" (vgl. Sarcinelli 1987: 66; 1994a) erscheinen mag, hat schlicht mit den institutionellen Bedingungen des Regierens in unserer Demokratie zu tun. So ist für "Regierungskommunikation" (Gebauer 1998) ein hoher Grad formaler Vorgaben für innerstaatliche Verfahrensabläufe typisch. Auf der Darstellungsebene ist der Kanzler zwar einer der wenigen sichtbaren Akteure aus der komplexen Netzwerkdemokratie. Auf der Entscheidungsebene ist er jedoch trotz seiner verfassungsrechtlichen Vorrangstellung (Richtlinienkompetenz) in korporatistische Strukturen und vielfach konkordante Willensbildungs- und Aushandlungsmechanismen eingebunden. Das ihm prinzipiell zustehende Mittel, durch eine spektakuläre Chefsachenentscheidung "den gordischen Knoten der Politikverflechtung zu durchtrennen und Hierarchie gegen Konkordanz zu setzen" (Korte 2000a: 37; 2000b) funktioniert auf Dauer nur bei fein dosierter Anwendung. Denn auch unter den Bedingungen einer modernen Medienöffentlichkeit kommt erfolgreiches Regieren nicht ohne institutionelle Absicherung, ohne formelles und informelles Komplexitätsmanagement unter Beteiligung vieler Akteure in einem bundesstaatliehen Mehrebenensystem aus. b) Parlament: Von Repräsentanten zu Präsentanten?
Ein ähnlicher Differenzierungsbedarf ergibt sich bei einer Auseinandersetzung mit der These, dass sich unter dem Druck der Medienöffentlichkeit
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auch ein "Legitimitätswandel" vollziehe, sich "das parlamentarisch-repräsentative System in ein medial-präsentatives System" (Sarcinelli 1998 a: 550) verwandle. Ein System, "in dem parlamentarische Repräsentation und politische Institutionen an legitimatorischer Bedeutung verlieren und die moderne Machtprämie, nämlich Medienpräsenz, zum Wert an sich wird?" (Ebenda) Nun hat Parlamentarismuskritik im Allgemeinen und Kritik an den Abgeordneten gerade in Deutschland Tradition, wobei vor allem die Sozialstruktur dieses Elitensektors, die Diäten- bzw. Versorgungsregelungen, dann aber auch das öffentliche Erscheinungsbild des Parlaments kritisch thematisiert wurden und werden. Der rapide Wandel der medialen Umwelt, die verschärfte Konkurrenz zwischen potentiellen Informationsund vor allem Unterhaltungsanbietern und nicht zu Ietzt damit in Verbindung stehende veränderte Rezeptionsgewohnheiten eines mehr und mehr , medienverwöhnten' Publikums zwingen selbst Parlamente, sich mit Möglichkeiten einer mediengerechten Professionalisierung zu beschäftigen. Dies betrifft sowohl unterschiedliche Formen von parlamentarischer Öffentlichkeitsarbeit, als auch Verfahrensreformen mit dem Ziel, das (medien)-öffentliche am parlamentarischen Geschehen zu sichern. (Marschall 1999; Czerwick 1998; Sarcinelli 1994 b) Maßgeblich dafür ist nicht die von Ernst Fraenkel für die kontinental-europäischen Länder als chronisch bezeichnete allgemeine "Parlamentsverdrossenheit". (Fraenkel 1991 : 137 ff.) Empirisch läßt sich diese jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland nicht nachweisen. (Gabriel 1997: 422) Dennoch ist nicht zu übersehen, dass das Vertrauen in die Abgeordneten und in das Parlament nicht besonders groß ist und die Reputation des Parlaments mit der allgemeinen Wertschätzung politischer Institutionen sinkt. (Marschall 1999: 76 f.) Methodisch ist dabei interessant, dass es ein durchaus gespaltenes Parlamentarierbild gibt. Je genereller und institutionenbezogener gefragt wird, desto negativer das Image. Je mehr hingegen nach Personen und konkreten Erfahrungen gefragt wird, desto positiver die Einschätzungen. Gestützt wird die diffuse Parlamentarierschelte vor allem durch die Parlamentsberichterstattung. Denn letztlich sind es die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, die das ,Bild' des Parlaments in der Öffentlichkeit prägen. Die Orientierung der Parlamentsberichterstattung am Plenum mit der impliziten Erwartung einer möglichst medienattraktiven Versammlungsöffentlichkeit kultiviert dabei überkommene, klassisch-liberale Parlamentarismusvorstellungen (in der Tradition von Miii): Das Parlament als oberstes Entscheidungszentrum mit dem Plenum als Ort einer politischen Versammlungsöffentlichkeit, im Idealfalle eine Art Forum rationaler Argumentation und Überzeugungskommunikation für Volksvertreter, die sich parteipolitisch unabhängig und "nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art 38 GG) nach streitiger Debatte entscheiden. Was wie eine Karrikatur alltäglicher Parlamentspraxis anmuten mag, verfassungsrechtlich allerdings durchaus eine gewisse
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Grundlage hat, erweist sich in hohem Maße als mediengerecht Denn dieses Parlamentarismusmodell entspricht durchaus einem verbreiteten Politikverständnis in der Bevölkerung, das an der "Funktionslogik" (Werner Patzelt) des parlamentarischen Regierungsystems ziemlich vorbeigeht. Auch für Medien ist die plenumzentrierte Perspektive allemal attraktiver als die Realität eines parteipolitisch überlagerten, gewaltenverschränkten, parlamentarischen Regierungssystems mit unübersichtlichen Fronten und Entscheidungsverfahren, mit parlamentarischer Mitregierung und unspektakulärem KleinKlein etc. Das klassisch-altliberale Parlamentarismusmodell kommt demgegenüber den medialen Aufmerksamkeitsmechanismen entgegen, weil Repräsentation personalisiert und das Parlament als Versammlung von mehr oder weniger prominenten Akteuren begriffen bzw. dargestellt wird. Schließlich läßt sich die spektakuläre Plenarsitzung mit Konzentration auf wenige ,Elefanten' leichter mediengerecht in Szene setzen als der langwierige und vielfach langweilige arbeitsparlamentarische Alltag parteipolitisch disziplinierter Fraktionsmitglieder hinter den zahlreichen verschlossenen Türen eines hochdifferenzierten Gremien- bzw. Gruppenparlaments. (Schütt-Wettschky 1984) Das eher schlichte Bild plenumszentrierter parlamentarischer Öffentlichkeit spiegelt jedoch nur einen schmalen Ausschnitt der Kommunikationsleistungen von Parlamentariern wider. Zwar hat parlamentarische Politik ihre Exklusivität wenn nicht verfassungsrechtlich, so doch realpolitisch weitgehend verloren und ist der "Rückgang der Bedeutung des Parlaments als Institution" und· der "Rückgang der Bedeutung der Parlamentsdebatten für die öffentliche Meinungsbildung" nicht zu übersehen. (Hesse 1995: 246 f.) Zugleich aber steigt die Bedeutung des Parlaments als zentrale kommunikative Schalt- und Politikvermittlungsstelle, als politische Kommunikationsagentur und als leistungsfähiger Knotenpunkt im Netzwerk politischer Kommunikation (Patzelt 1998) Die Bedeutungszunahme kommunikativer Anforderungen hat den Parlamentssoziologen Dietrich Herzog veranlaßt, den beiden repräsentationstheoretischen Grundfiguren des "trustee" (Repräsentation als unabhängige treuhändensehe Anwaltschaft) und des "delegate" (Repräsentation als abhängige Delegation einer Wählergruppe oder Partei) einen dritten Repräsentationstypus, nämlich den des "Politik-Vermittler(s)" und "strategischen Koordinator(s)" (Herzog 1989: 329; ders. 1993: 27) hinzuzufügen. Parlamentarisch-repräsentatives Handeln ist heute mehr denn je kommunikatives Handeln. Aber nicht alle Arenen (Sarcinelli/Tenscher 2000) politischer Kommunikation auf der parlamentarischen Ebene sind öffentlich. Öffentlichkeitsadressiert ist die "Darstellungskommunikation", Arbeits-, Durchsetzungs- und Entscheidungskommunikation sind es jedoch in der Regel nicht. (Patzelt 1998: 437) Wir haben es demnach mit einem "parlamentarischen Kommunikationsdilemma" (Marschall 1999: 83) zu tun. Auf öffentliche Resonanz angewie-
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sen, verzerren die Strukturen der Medienöffentlichkeit die parlamentarische Außenkommunikation und verstärken falsche Parlamentarismusvorstellungen. Während die auf der Fernsehbühne agierenden, i. d. R. prominenten Parlamentarier als handlungssouveräne Akteure erscheinen, unterliegen sie mehr und mehr den Handlungsbedingungen kooperativer Politik in Verhandlungssystemen. In dem Maße aber, wie die parlamentarische Kontrolle im Rahmen kooperierender Staatstätigkeit sinkt, steigt die Bedeutung des Parlaments "als Forum öffentlicher Diskussion". (Benz 1998: 217) Es bleibt das wohl kaum auflösbare Dilemma parlamentarischer Regierungsweise in der Mediendemokratie: Effektivität durch Konsens einerseits und Publizität durch Dissenz andererseits. c) Parteien: Von der Parteien- zur Mediendemokratie?
Parteien sind nicht die einzigen Akteure im intermediären System. Sie teilen sich die Aufgabe der Politikvermittlung mit Verbänden, Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und mit den Medien. Einen besonderen Zusammenhang herzustellen zwischen Parteiendemokratie und Mediendemokratie macht dennoch Sinn. Zum einen: Realpolitisch gesehen ist das grundgesetzlieh verbürgte Mitwirkungsrecht (Art. 21) an der politischen Willensbildung ein typischer Fall von konstitutionellem "Understatement", wo sich doch die Parteien ,fettfleckartig' in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen breit gemacht haben. So hat es jedenfalls Richard von Weizsäcker in seiner Parteienkritik einmal umschrieben. Zum anderen sind es wesentlich die Parteien, die "den Kreislauf politischer Kommunikation zwischen Staatsorganen und Öffentlichkeit" (Oberreuter 1992: 27, 31 ), zwischen der "Volkswillensbildung" und "Staatswillensbildung" (Grimm 1991: 265, 274) zu lösen haben. Ihnen also, den Parteien, kommt eine "besondere kommunikative Scharnierfunktion" (Sarcinelli 1998c: 277) zu. Nun operieren Parteieliten heute in einem veränderten und sich weiter verändernden politisch-kulturellen Umfeld, und sie agieren auch in einer sich rapide wandelnden medialen Umwelt. Von ihrer Entstehung an waren Parteien Repräsentanten grundlegender gesellschaftlicher Konfliktlinien. Und trotz starker Angleichung der Mitglieder- und Wählerbasis sind sie zwar auch heute noch "weltanschaulich und sozialstrukturell deutlich identifizierbare" politische "Tendenzbetriebe". (Mintzei/Oberreuter 1992: 487) Zugleich ist unverkennbar, dass die politisch-weltanschaulichen Profile schwächer und die gesellschaftliche Verankerung lockerer werden. Die Erosion soziamoralischer Milieus, die Abschwächung von Tradition und "ansozialisierten" Zugehörigkeitsgefühlen - man denke an den Mitgliederschwund, schwindendes parteipolitisches Engagement, zunehmendes Wechselwählerverhalten - hat auch Folgen für das Verhalten der Parteieliten. Es
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begünstigt zweifellos ein stärker öffentlichkeits- und damit auch ,marktorientiertes' Verhalten. Die herkömmliche intensive Parteibinnenkommunikation wird tendenziell geschwächt und gerät in ein zunehmendes Spannungsverhältnis zu einer professionelleren medienzentrierten Außenkommunikation. Die Gewichte verschieben sich zu Lasten der internen Absicherung, zu Lasten der innerparteilichen Gremien und insbesondere zu Lasten der mittleren Funktionärsschicht einerseits und zugunsten einer kleinen, vor allem an (medien)öffentlicher Resonanz interessierten Parteiprominenz. Dies alles geschieht in einem medialen Umfeld, in dem die Partei- und Tendenzpresse praktisch keine Rolle mehr spielt. Für die Herstellung von Öffentlichkeit, ja weithin sogar für die Parteibinnenkommunikation sind auch Parteieliten - ebenso wie das Publikum - auf die allgemeinen Massenmedien angewiesen. Ein Öffentlichkeitsmarkt, den sie keineswegs exklusiv bedienen, geschweige denn steuernd in der Hand haben; ein ,Markt', der hart umkämpft, permanent bedient werden will und in hohem Maße stimmungslabil ist. Denn politische Eliten haben zwar als Positionsinhaber von Spitzenämtern in Staat und Partei, wie gezeigt wurde, einen Prominenzierungsvorteil. Doch in einem mehr und mehr kommerziell bestimmten, zunehmend auch unterhaltungsorientierten Medienmarkt kann Politik, und das gilt besonders auch für Parteipolitik, nicht mehr automatisch auf die Einlösung von Exklusivitätsansprüchen rechnen, die Medienaufmerksamkeit sichern. Die Versuchung für politische Eliten, sich der Medienlogik zu unterwerfen, um Publizität zu erreichen, dürfte insofern größer werden. Schlußbemerkungen
Politische Akteure sind und müssen, wollen sie erfolgreich sein, bis zu einem gewissen Grade "Goffmenschen" (ein Begriff in Anlehnung an das Interaktionsmodell von George Goffman), also "Schau-Spieler" sein. (Hitzler 1992; Hoffmann 1999) Doch nicht alles ist "Kampagne" (Baringhorst 1998 a; 1998 b), "Bühne", "Inszenierung", "Unterhaltung", "Theater" (Meyer 1992; Meyer/Kampmann 1998), um nur die gängigsten Zuschreibungen und Metaphern bei der Auseinandersetzung mit "Darstellungspolitik" (Sarcinelli 1987; 1994) zu bemühen. Der Zeithorizont medialen Interesses ist kurz und die Aufmerksamkeit für Themen und Akteure hängt auch vom Thema selbst, vom Entscheidungstyp (von Beyme/Weßler 1998), von der Problemlösungs- und Entscheidungsphase (Problemfindung und -definition, politisch-administrative Politikimplementation, Entscheidung etc.) sowie vom Grad der jeweiligen Dramatisierung bzw. Dramatisierbarkeit ab. An der mediengerechten Dramatisierbarkeit allein kann sich das politische Entscheidungssystem aber nicht orientieren. Und deshalb ist das politische
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Führungspersonal auch in Phasen selektiver oder nicht vorhandener Aufmerksamkeit institutionell eingebunden und muß streckenweise mehr Kommunikations- und Durchsetzungfähigkeit nach innen als öffentliche Präsenz in den Medien unter Beweis stellen. Insofern greift auch die verbreitete Vorstellung, die Währung in der Mediengesellschaft, ja der "Imperativ des Erfolgs" (Macho 1993, S. 767) sei nicht mehr Macht sondern Aufmerksamkeit, zu kurz. (Vgl. z.B. Müller 1999, S. 136) Als System der Selbst- und Fremdbeobachtung wie auch der Selbst- und Fremddarstellung, spielen die Medien eine große, zweifellos auch wachsende, aber keinesfalls die exklusive Rolle, die ihnen vielfach auf der Basis sozialtechnologischer Kurzschlüssigkeit zugemessen wird. Denn für die politische Prominenz ebenso wie für die Bürgerinnen und Bürger gilt: "Ohne Problemlösungskompetenz ist Medienkompetenz auch in der Mediengesellschaft halbierte Kompetenz." (Sarcinelli 1999b, S. 8) Dennoch lassen sich Tendenzen im Wechselverhältnis von Eliten und Öffentlichkeit nicht übersehen: - die Tendenz zur Synchronisierung von politischer Logik und Medienlogik; - die Tendenz zur Personalisierung in Verbindung mit einer medienspezifischen Prominenzierung; - die Tendenz zu einer Schwächung des Institutionellen, der Gremien, der "Legitimation durch Verfahren" (Niklas Luhmann) zugunsten einer Legitimation über die Medien; - die Tendenz zur Verwischung der Grenzen zwischen Information und Unterhaltung und Talkshowisierung des öffentlichen Diskurses; - die Tendenz zur Aufsplitterung der Öffentlichkeit in immer kleinere Nische mit der Folge, dass die Neigung, sich immer stärkerer Reize zur Überwindung der Medienbarriere zu bedienen, gefördert wird. Insgesamt - und damit kommen wir nochmal auf Max Weber zurück stehen politische Akteure in der Mediengesellschaft unter verstärktem Plebiszitarisierungsdruck. Ralf Dahrendorf hat das so umschrieben: Die Protagonisten des neuen Politikertyps gehen "am liebsten direkt zum Volk" (Dahrendorf 1998) In der Sprache der Kommunikationssoziologie: Politische Öffentlichkeit wird sich mehr noch am Laienpublikum orientieren. Insofern werden die Verhältnisse zwar nicht amerikanisch, aber sie werden amerikanischer. Dass dies langfristig eine große Herausforderung für das politische Personal, für die zentralen Institutionen wie für die Demokratie überhaupt bedeutet, daran besteht kein Zweifel. Es führt zu Machtverschiebungen, Machtverlusten auch, die insbesondere die mittlere Führungsschicht nicht kampflos hinnimmt, wie die Reaktionen auf Modernisierungsbemühungen in den Parteien zeigen. Der Apparat wehrt sich.
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Vorsicht scheint jedoch geboten, dies alles nach bewährter kulturkritischer Tradition per se als Demokratieverlust zu beurteilen. Plebiszitarisierung heißt auch, die Reichweite für Themen und Akteure zu erweitern. Dies muß nicht zwingend Verflachung bedeuten, auch wenn die Versuchung zu medieninszenierten politischen Schaukämpfen groß ist. Die Chance zu verstärkter Responsivität, zur intensiven Rückbindung politischer Eliten an das Wahlvolk ist zumindest technisch so groß wie noch nie in der Geschichte. Noch weithin unausgeschöpft ist dabei das kommunikative und interaktive Potential der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Ob die moderne medientechnische Infrastruktur nicht nur von politischen Eliten und professionellen Organisationen sondern auch von den Bürgern politisch genutzt werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie ernst Bürger von Akteuren genommen werden, wenn sie sich denn einmischen und beteiligen wollen. Will man die Demokratie auch in der modernen Mediengesellschaft zukunftsfähig machen, so führt an einer Intensivierung der politischen Kommunikation ebenso wenig wie an einer Ausweitung und qualitativen Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Partizipation kein Weg vorbei.
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I. Einleitung Im Winter 1918 wies Max Weber in seiner berühmten Rede "Politik als Beruf' vor Münchner Studenten erstmalig darauf hin, dass sich im Gefolge des modernen Parlamentarismus und der sich ausbreitenden massendemokratischen Parteienherrschaft ein Wandel vom älteren Freizeit- und Gelegenheitspolitiker hin zum Vollzeit- und Berufspolitiker vollziehen würde 1• Seit jener Rede zählt die Webersehe Unterscheidung zwischen denjenigen Parlamentariern, die "für" die Politik und denjenigen, die "von" der Politik leben würden, zu den geflügelten Worten der Politikwissenschaft Allerdings musste erst noch ein weiteres halbes Jahrhundert vergehen, bis sich tatsächlich seit den Siebzigern des letzten Jahrhunderts so etwas wie ein Arbeitsmarkt für Berufspolitiker, also der politischen Klasse, in Deutschland herausbildete. Dabei handelt es sich um einen Stellenmarkt auf Landes-, Bundes- und Europaebene, der rund 2.600 gewählten Abgeordneten als Berufspolitikern eine dauerhafte Beschäftigung mit einem vergleichsweise hohen Erwerbseinkommen beschert. Weitere gut dotierte Posten kämen zu diesem Arbeitsmarkt Politik noch hinzu, wenn man die Spitzenwahlämter auf kommunaler und Kreisebene sowie die Landratsposten mit hinzuzählen würde. Wird, wie im Falle der Politik, eine anfangs nur befristete Freizeitbetätigung zum bewusst erwählten und dauerhaft ausgeübten Beruf, geht es dabei um weitaus mehr als nur um Gelderwerb oder materielle Lebensunterhaltssicherung. Denn ein Beruf prägt und liefert die Basis für individuelle und kollektive Identitätsfindungsprozesse. Und was für den Fragehintergrund noch viel wichtiger ist, bildet der Beruf in nicht durch Geburtsprivilegien geprägten offenen Gesellschaften einen Verteilungsschlüssel für Lebenschancen und für die Organisation sozialer Ungleichheit. Der Auf- und Abstieg in der gesellschaftlichen Einkommens-, Einfluss- und Statuspyramide wird nämlich im Wesentlichen über die Zugehörigkeit zu Berufen gesteuert. 1 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. Von Johannes Winkelmann, 3. Aufl. Tübingen 1991, S. 512 ff. 10 v. Amim
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Insofern tragen Berufsgruppen untereinander einen Geltungs- und Verdrängungswettbewerb um die besten Plätze auf der Sonnenseite der Gesellschaft aus. Daran gemessen ist der Beruf des Politikers zwar relativ einkommensstark, ohne jedoch gleichermaßen über einen reputierlichen gesellschaftlichen Status zu verfügen. Dies wirft die Frage auf, warum gerade bei Politikern Einkommenshöhe auf der einen Seite und geringes gesellschaftliches Ansehen auf der anderen Seite so eklatant auseinander klaffen. Eine Antwort hierauf soll die Einordnung der Berufspolitiker in das Prestige- und Statusgefüge anerkannter Berufe geben. Hierbei ist das berufssoziologische Professionskonzept besonders aufschlussreich, weil es sich mit solchen höherrangigen Berufsgruppen befasst, denen es - anders als den Politikern offenkundig gelingt, materielle Besserstellung mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung zu verbinden.
II. Der gesellschaftliche Reputations- und Integritätsverfall der Berufspolitiker Fragt man nach dem Stellenwert und dem Platz, den Politiker in der Gesellschaft einnehmen, dann ist bekanntlich deren Ruf alles andere als gut beleumundet. Es kommt hinzu, dass sich das Bild, welches Politiker in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit abgeben, krass verschlechtert hat. Das war nicht immer so. Wie Abbildung 1 aufzeigt, bejahte die westdeutsche Bevölkerung zunächst in wachsendem Maße über die fünfziger und sechziger Jahre hinweg die Frage, ob man große Fähigkeiten besitzen müsse, um Bundestagsabgeordneter in Bonn zu werden. Dieser von zyklischen Schwankungen bestimmte Trend erreichte 1972 mit 63 Prozent Zustimmung seinen Gipfelpunkt, um dann jedoch abzustürzen und 1996 bei einem Tiefstpunkt von 25 Prozent zu landen. Umgekehrt stieg der Anteil derjenigen, die diese Aussage verneinten, zwischen 1972 und 1996 von 23 auf 59 Prozent an. Eine nicht minder krasse Kehrtwende vollzog sich in Ostdeutschland, wo sich die Zustimmung zu dieser Frage zwischen 1991 und 1996 von 44 auf 22 Prozent halbierte. Sprechen damit die Bundesbürger ihren politischen Repräsentanten mit großer Mehrheit die Amtsbefähigung ab, verneint eine Zweidrittelmehrheit unter der Bevölkerung 1998 die Aussage, dass heute bei uns in der Bundesrepublik im Großen und Ganzen die richtigen Leute in den führenden Stellungen vorzufinden seien. 1979 bejahten dies immerhin noch 48,6 %, während dieser Wert 1998 bei 27,1 % landete (Abbildung 2). Im Osten sind es 1998 gar 66%, die diese Aussage verneinen.
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Quelle: Noelle-Neumann/Köcher (Hrsg.), Jahrbücher der Demoskopie
Abb. l: Befähigungsprofil von Bundestagsabgeordneten "Glauben Sie, man muss große Fähigkeiten besitzen, um Bundestagsabgeordneter in Bonn zu werden?"
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