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German Pages 148 Year 2015
Leonhard Fuest Poetopharmaka
Lettre
2015-01-06 11-44-11 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2386946248140|(S.
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Leonhard Fuest (Dr. phil. habil.) lehrt Literaturwissenschaften an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Medientheorie (»Poetopharmakologie«), Melancholieästhetiken und Devianzpoetiken in der Moderne, Kritische Theorie, Polemologie, Nanopoetologie sowie Hermetik.
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Leonhard Fuest
Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur
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»Die Welt ist mehr und mehr nur noch ein Computer. Es nützt uns nichts, wenn wir teilnahmslos sind, wir sind immer in alles eingeschlossen und können nicht mehr heraus.« Thomas Bernhard: Verstörung
Inhalt Dank | 9 I. Einleitung | 11 II. Poetopharmaka | 25 III. Alexipharmaka | 57 IV. Zoopharmaka | 81 V. Kosmopharmaka | 105 VI. Die Poetopharmazie im Internet | 121 VII. Literaturverzeichnis | 139
Dank Mein Dank gilt der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Ohne das Interesse und die Offenheit dieser Institutionen und der sie gestaltenden Menschen wäre der vorliegende Versuch so nicht entstanden. Ferner möchte ich folgenden Personen für Dialog und Unterstützung besonders danken: Roswitha Böhm, Julia Boog, Babak Dehkordy, Sebastian Dieterich, Ottmar Ette, Ada Fuest, Jürgen Gunia, Hermann Herlinghaus, Matthias Kamm, Johanna Langmaack, Matthias Mauser, Jan Philipp Reemtsma, Elke Serwe, Gianluca Solla und Christian Suhm. Dank schließlich auch den unerschrocken Studierenden an den Universitäten Hamburg und Greifswald. Freie und Hansestadt Hamburg, im Herbst 2014
I. Einleitung »Weil Gift ist zwischen uns …« Friedrich Hölderlin: Chiron
Die poetopharmaka wie Würfel einzuwerfen, gehorcht den strengsten Reinheitsgeboten der literarischen Tradition. Wie sollte auch anders das Erbe des Gutenbergzeitalters anzutreten sein, als gespannt und offen diese poetopharmaka ins Spiel zu bringen, und das heißt auch, das zu essentialisieren, was jenem wie jedem Erbe eingeschrieben ist: das Gift-gift1? Es geht jedenfalls um die Gabe, englisch gift, die immer auch Gift ist oder sein kann – und also um das pharmakon, das per definitionem zugleich Heilmittel und Gift ist. Und so tun sich schon bei der ersten Berührung mit dieser Semantik erhebliche Differenzen und Ambivalenzen auf, die man erforschen kann, ohne sie kontrollieren oder programmieren zu müssen. Gerade letzteres darf nicht nur, sondern muss einräumen, wer diesen pharmazeutischen Komplex von Heilmitteln und Giften (und/als Drogen) im Rahmen der Literatur erforscht. Und dies aus vielen Gründen, deren nicht unwichtigster darin besteht, dass die Kultur- und Literaturwissenschaften im digitalen Zeitalter die Chance und Verpflichtung haben, neue Methoden aufzugreifen, die neben der Historiographie, Editionsphilologie und Werkinterpretationen (nach diversen theoretischen Vorgaben) der Frage nach ihrer intermedialen und schließlich irreduzibel pharmazeutischen Funktion zuarbeiten. Dieser Auftrag impliziert bereits die dezidierte Politizität des literatur-, medien- und kulturtheoretischen Diskurses. Verkürzt gesagt, hat in der Folge der Bio- wie Psychopolitisierung2 der Theorie eine Befragung der conditio humana und des gesellschaftlichen Status quo durch das zu erfolgen, was man pharmako- oder narkopolitische Fragen nennen kann: Fragen also nach potenten Substanzen und Nicht-Substanzen, die in und zwischen Menschen, Nicht-Menschen, Medien und 1 | Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben I. Übers. von Andreas Knop und Michael Wetzel. München 1993, S. 93. 2 | Han fasst den Stand der Diskussion um den Übergang von der Biopolitik (Foucault, Agamben) zur Psychopolitik (Stiegler) zusammen und würdigt zur Konturierung des eigenen Psychopolitik-Begriffs in besonderer Weise den digitalen Wandel und dessen spezifische Funktionen in neoliberalen Machtregimen. Der hier vorzuschlagende Begriff der Narkopolitik sollte helfen, Hans kritische Potenzen zu diversifizieren und den Psyche-Begriff, vor allem bezogen auf seine Funktionalität, zu befragen. Vgl. Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a.M. 2014, bes. S. 37ff.
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Maschinen wirksam werden und immer auch als narkopolitisch relevante Agenten beschreibbar sind. Es wäre mithin nicht damit getan, die Heilmittel und Gifte in diversen Diskursen zu verwalten; stattdessen ist erst einmal die Narko(poli)tisierung als ein Vorgang ernst zu nehmen, der die Disziplinen selbst anregt, angreift und verwandelt. Höchste Zeit also, über ein paar giftige Gaben zu sprechen – und sei es, indem man mal wieder einen turn bemüht, was nur dann nicht lähmt, wenn man ihn wie einen Würfel einwirft (oder insgeheim dreht):
P harmacological Turn ? Würde man im Rahmen der Literatur- und Kulturtheorie einen pharmacological turn3 vertreten wollen, so liefe das auf ein Projekt hinaus, das sich der Frage aussetzen muss, ob es überhaupt die menschliche Intelligenz sein wird, die auf die programmatischen Implikationen und Konsequenzen eines solchen turn das Entscheidende antworten wird. Im Zeitalter der digitalen und kybernetischen Intelligenz sind bereits heute die human- und kulturwissenschaftlichen Diskurse einer radikalen Transformation unterworfen. Ganz offensichtlich geht es um eine Neuorientierung, bei der eine Menge alter Deklarationen und Rhetoriken verloren geht. Eben deshalb scheint die humanwissenschaftliche Intelligenz dazu aufgerufen, sich mit ingressiven und aggressiven Technologien und Programmen zu beschäftigen, auch und gerade um noch an Diskurse rühren zu können, die etwas mit dem humanum zu tun haben: dem Menschen inmitten seiner Programm- und Medienkulturen. Dass die analytischen Deklarationen der Philosophie ihre wirkungsvollen Höhepunkte hinter sich haben und die Zukunft zu verfehlen in Begriff sind, wie etwa Michel Serres behauptet4, mag ja mehr oder weniger aufwendig begrüßt oder bestritten werden. Aus philologischer oder besser poetologischer Perspektive wird die Philosophie, vor allem insofern sie ethisch und politisch Verantwortung sucht, weiterhin in Maßen zu berücksichtigen sein. Als Trauerarbeit ist sie dabei wohl am ernstesten zu nehmen – und zwar so, wie Jacques Derrida sie nicht zuletzt mit Blick auf die Phantome der Technomacht zu verrichten auffordert.5 Trauerarbeit ist und bleibt insbesondere auch deshalb zu leisten, weil der fortschreitende Verlust der archivarischen und testamentarischen Autorität des Gutenbergzeitalters zu
3 | Allein schon folgende Namen motivieren dazu: Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Giorgio Agamben, Roland Barthes, Bernard Stiegler, Avital Ronell, Peter Sloterdijk, Byung-Chul Han, Bettina Wahrig etc. 4 | »Das Objektive, das Kollektive, das Technologische, das Organisatorische – sie gehorchen heute diesen algorithmischen oder prozeduralen Kognitiven eher als den deklarativen Abstraktionen, wie sie mehr als zwei Jahrtausende von einer aus den Natur- und Geisteswissenschaften sich speisenden Philosophie gefeiert wurden. Die denn auch, weil bloß analytisch, diese Kognitive nicht heraufziehen sieht und das Denken selbst verfehlt – nicht nur seine Mittel, sondern seine Objekte, ja sein Subjekt. Sie geht an unserer Zeit vorbei.« Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Übers. von Stefan Lorenzer. Berlin 2013, S. 70. 5 | Vgl. Jacques Derrida: Marx‹ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Übers. von Susanne Lüdemann. Frankfurt a.M. 2004, S. 109.
I. Einleitung
verkraften ist.6 Natürlich kann man den unaufhörlichen Schwund einer potenten humanen Leserschaft (auch und gerade bei wachsender Zeichen- und Buchproduktion) noch für eine Weile ignorieren. Besser aber ist es, man ziehe frühzeitig gerade in der literaturwissenschaftlichen Forschung Konsequenzen aus der These, bereits die zeitgenössischen Leser würden immer erfolgreicher zum Analphabet herbeizitiert. Das programmatische Deaktivieren zeitraubender Kultur- und Lesetechniken wie Verlangsamen, Differenzieren, Fokussieren, Wiederholen und Erinnern wird eines nicht so fernen Tages auch die Praxis des Theoretisierens selbst heimsuchen, eine Praxis, die man im Zuge weiterer symptomatologischer Befragungen schon heute auf ein Spannungsverhältnis hin untersuchen sollte, das sich zwischen informatisierter, maschinierter und bürokratisierter Vernetzung einerseits und der rhetorischen, kritischen und dialogischen Kompetenz konturierbarer Individuen andererseits auftut. Es herrscht jedenfalls und immerhin ein eigentümlicher Rumor in den desorientierten Diskursen der Humanwissenschaften. Ein Überblick ist nicht so leicht zu haben, und vielleicht reicht hier erst einmal als Anregungsmittel diese oder jene streitbare Stimme. Wie etwa jene Giorgio Agambens, eines der letzten europäischen Humanisten, der dem zeitgenössischen Menschen zwischen den technischen Dispositiven die schwarze Messe liest: Auf der einen Seite existiert jetzt der Lebende, der mehr und mehr auf eine biologische Wirklichkeit und ein nacktes Leben reduziert ist, und auf der anderen der Sprechende, der durch eine Vielzahl technisch-medialer Dispositive auf künstliche Weise von sich selbst abgetrennt ist, in einer Erfahrung des zunehmend nichtigen Wortes, für das er unmöglich bürgen kann und bei dem so etwas wie eine politische Erfahrung immer prekärer wird. Wenn die ethische – und nicht nur kognitive – Verbindung von Worten, Dingen und menschlichen Handlungen zerbricht, erlebt man eine spektakuläre, noch nie dagewesene Wucherung des leeren Wortes einerseits und andererseits eine Wucherung gesetzlicher Regelungen, die beharrlich versuchen, jeden Aspekt jenes Lebens, auf das sie anscheinend keinerlei Zugriff mehr haben, zu verrechtlichen.7
Mit Dieter Mersch lässt sich das hier angesprochene, technomediale Dispositiv spezifizieren als »offene Konstellation aus diskursiven und nichtdiskursiven Elementen und ihren materiellen wie performativen Bedingungen […], deren maßgebliche Eigenschaft in ihrer Produktion von Macht besteht.«8 Unter dem Aspekt des immer schon ökonomisch eingespannten Dispositivs, so Mersch weiter, kann das »Techno-Logische« »so wenig von Epistemen und Diskursen wie von Praktiken der Macht abgelöst werden. Vielmehr haben wir es mit einem kompletten Gefüge 6 | So sieht es auch Sloterdijk, der folgert: »Alles deutet darauf hin, dass Archivare und Archivisten die Nachfolge der Humanisten angetreten haben. Für die Wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt wurden.« Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt a.M. 1999, S. 56. 7 | Giorgio Agamben: Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides. Übers. von Stefanie Günthner. Berlin 2010, S. 88f. 8 | Dieter Mersch: Ordo ab chao – Order from Noise. Zürich 2013, S. 26f.
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von Zurichtungen und Abrichtungen zu tun.«9 In der Folge dieser Zurichtungen spricht Mersch von einem kybernetischen »Fascismus«10, der auf die faktische Departizipation des humanen Subjekts im Rahmen digitaler Netzwerke hinwirkt und mithin unter anderem für die Schrumpfung humaner Individualität sorgt: Trotz aller Mystifikation von Individualisierung ist die Gegenwart vom Individuum so weit entfernt wie nie. Das Individuum markiert nunmehr, wie die Dinge in den technischen Systemen, einen Punkt, eine Dislokation, ausgestattet mit den Illusionen einer Wahlfreiheit […]. Der Einzelne ist eine Depositionalität, in den Worten von Deleuze ein ›Dividuum‹, dessen Stimme gerade nicht zählt, dessen Kontur verschwindet, um lediglich einen Zug im Spiel unaufhörlicher Pfadentscheidungen zu verkörpern.11
Und um es noch mit ein paar Erfahrungssätzen aus dem zeitgenössischen Schulbetrieb anzureichern: Mark Fisher bestätigt indirekt die Zurichtung durch die technomedialen Dispositive gerade dort, wo sie sich zu einer Unterhaltungsmatrix bzw. einem süchtig machenden Cyberjunk verdichten, der in einem kausalen Zusammenhang zu der gleichzeitigen Zunahme von Depression und Postlexie bei Teenagern steht: Am häufigsten bekommen Lehrer die Beschwerde zu hören, etwas sei langweilig. Aber die Schüler finden nicht so sehr den Inhalt des Geschriebenen langweilig, sondern den Akt des Lesens. Wir haben es hier nicht unbedingt mit altehrwürdigem Teenager-Stumpfsinn zu tun, sondern mit einem Missverhältnis zwischen einem post-lesekundigen ›Neuen Fleisch‹, das ›zu sehr vernetzt ist, um sich zu konzentrieren‹, und der einschließenden, konzentrierten Logik eines sich auflösenden Disziplinarsystems. Sich zu langweilen, bedeutet schlicht, nicht an die kommunikative, die Sinne stimulierende Matrix aus SMS, YouTube und Fast Food angeschlossen zu sein […]. Manche Schüler wollen Nietzsche auf die gleiche Weise wie einen Hamburger serviert bekommen. Sie verstehen nicht – und die Logik des Konsums verstärkt dieses Missverständnis –, dass Nietzsche gerade aus seiner Unverdaulichkeit und seinen Hindernissen besteht.12
Diese und andere Stimmen liefern Warnhinweise bezogen auf den Verlust von humaner Individualität und Gesundheit, von demokratischer Partizipation gerade an und in Netzwerken, einer ethisch reflektierten Sprache und der wichtigen Lese- und Deutungskompetenz. Natürlich wird über solche Diagnosen hinaus über geeignete Antworten auf die kybernetischen Technomächte, die durch sie begünstigte überbordende Bürokratisierung, ihre »Blödmaschinen«13 und giftsprühenden »Programmindustrien«14 zu diskutieren sein. Das Autorenkollektiv Tiqqun etwa 9 | Ebd., S. 27. 10 | Ebd., S. 45. 11 | Ebd., S. 44. 12 | Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Übers. von Christian Werthschulte u.a. Hamburg 2013, S. 33. 13 | Markus Metz und Georg Seeßlen: Blödmaschinen. Die Fabrikation von Stupidität. Berlin 2011. 14 | Bernard Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht. Übers. von Susanne Baghestani. Frankfurt a.M. 2009, S. 152.
I. Einleitung
favorisiert Revolten qua Verlangsamung, Verschleierung und Sabotage15 – und dies sind vielleicht nur Zeichen einer finalen »Ohnmacht«16. Und wenn man die Verlangsamung für unzeitgemäß hält, weil es schon wieder etwas Neues und Schnelleres gibt, dann scheint dies nicht im Widerspruch dazu zu stehen, dass auch dieser neue akzelerierende Realismus im Abyssus intellectualis17 landet – einem Abgrund, der schließlich wieder schweren Schrittes zu durchwandern ist, bis sich ganz langsam ganz anderes (als das Neue) auftut. Jedenfalls ist die Liste derjenigen, die sich um die wirkmächtigen Cyberformate, multimedialen Dispositive und instrumentalisierten Informations- und Programmindustrien sorgen, noch längst nicht abgeschlossen. Und die Frage nach geeigneten Widerständen gehört gerade im Zuge der Digitalisierung der humanen Intelligenz zu den wichtigeren Fragen, die nicht nur in ethischer, sondern auch immunologischer und technologischer Hinsicht zu stellen sein werden – und damit poeto-alexi-pharmazeutisch.
P oe topharmak a So scheint also in unserer anregenden, aber auch unheimlichen Zeit ein pharmacological turn plausibel zu sein, da es kaum eine unabweisbarere Frage gibt als die nach den heilenden, giftigen, berauschenden, verführenden und abhängig machenden Konzepten, die uns programmieren und unaufhörlich ›neue‹ Wirkungen erzeugen, welche übrigens von keiner staatlichen Institution wesentlich kontrollierbar sind und sein werden. Untersucht werden sollten sie aber schon, auch wenn, wie gesagt, ein entsprechender turn so viel Realitätssinn mitbringen muss, seine entscheidende Prüfung nicht mehr (allein) im Bereich human(wissenschaftlich) er Thesen und Gegenthesen zu erwarten. Es muss nolens volens die Geduld aufgebracht werden, auf posthumane Verrechnungen und Effekte zu warten, ohne übrigens zwingend Zuflucht nehmen zu müssen unter dem Dach neuer (alter) Ismen.18 In der Zwischenzeit – und für Zwischenzeiten und -räume kann der fehlbare Mensch immer noch selbst Sorge tragen – lässt sich eine Dynamik weiterentwickeln, wie sie auch Jacques Derrida mit einem Geschenk an das 21. Jahrhundert eingeleitet hat: nämlich das pharmakon Schrift als »Bewegung, Spiel und […] Differenz«19 zu definieren. Es ist derselbe Philosoph, der bereits in den 60er Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts in dem »nicht zufällige[n] Zusammentreffen von
15 | Vgl. Tiqqun: Kybernetik und Revolte. Übers. von Ronald Voullié. Zürich 2007. Die Thesen werden noch ausführlich alexipharmazeutisch behandelt. 16 | Mersch, Ordo ab chao – Order from Noise, S. 95. 17 | Armen Avanessian, Björn Quiring (Hg.): Abyssus Intellectualis. Berlin 2013. 18 | Das muss jedenfalls den Pharmazeuten nicht umtreiben. Er interessiert sich durchaus für diese und jene Neuen Realismen und Materialismen – und nicht zuletzt für den Posthumanismus, wie er noch im Buche steht. Vgl. z.B.: Stefan Herbrechter: Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt 2009. 19 | Jacques Derrida: Platons Pharmazie. In ders.: Dissemination. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 70-190, hier S. 143.
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Kybernetik und ›Humanwissenschaften‹ der Schrift« einen Verweis auf eine »viel tiefer gehende Erschütterung« gesehen hat.20 Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich – ob ihm nun wesensmäßig Grenzen gesetzt sind oder nicht – ein Bereich der Schrift sein. Selbst wenn man annimmt, daß die Theorie der Kybernetik sich aller metaphysischen Begriffe – einschließlich jener der Seele, des Lebens, des Wertes, der Wahl und des Gedächtnisses – begeben kann, die noch bis vor kurzem dazu dienten, die Maschine dem Menschen gegenüberzustellen, so wird sie dennoch am Begriff der Schrift, der Spur, des Gramma oder des Graphems so lange festhalten müssen, bis schließlich auch das, was an ihr selbst noch historisch-metaphysisch ist, entlarvt wird. Noch bevor man es als human […] oder als a-human bestimmte, wäre Gramma – oder Graphem – der Name für das Element. Dieses Element wäre kein einfaches […]. 21
Ziehen wir hieraus vor allem die Aufforderung zur Befragung dieser komplexen, beweglichen und ambivalenten Elemente oder besser gleich pharmaka der Schrift und schließlich der Medien. Und diskutieren wir nicht nur, machen wir die Probe auf das, was wir poetopharmakon nennen. Setzen wir mithin auf die Innovationskraft des Poetischen (der poiesis) selbst, fragen wir nach den giftigen und heilenden Effekten, experimentieren und üben wir. Es könnte auf ein Training hinauslaufen, das mehr als nur eine Athletik der Schrift22 verspräche – stattdessen ein Bündel poetopharmazeutischer Performativa. Die Entwicklung und Erprobung von poetopharmaka impliziert die Kombination von Poetik und Pharmazeutik – und zwar noch bevor es zu einer ausgemachten Poetopharmakologie kommen kann. Dieses methodische Zögern vor dem logos impliziert durchaus ein Selbstbewusstsein der Literaturtheorie, die ihre wie jede Wissenschaft konfrontiert sieht mit dem von Gilles Deleuze und Félix Guattari markierten Funktionsbegriff23: Wie funktioniert ein poetopharmakon? Wie funktioniert ein Text, Programm, Code? Das werden anregende Fragen sein, die man gerade dann noch stellen sollte, wenn man die hohe Kunst der Lektüre nicht vollends verloren geben will.
E ssenzen (D issenzen) Über theoretische Vertiefungen wie exemplarische Lektüren wird im folgenden das poetopharmakon gleichzeitig differenziert, essentialisiert und ›dissentialisiert‹, indem es in der Hauptsache zu einer paradigmatischen Auffächerung des Hauptbegriffs selbst wie seiner spezifizierten Derivate, alexipharmaka, zoopharmaka und kosmopharmaka, kommt. Diese Begrifflichkeiten werden allererst entwickelt über das literarische und theoretische Wissen, in welchem sich wiederum poetische 20 | Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 1983, S. 23. 21 | Ebd., S. 21f. 22 | Vgl. ebd. 23 | Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Frankfurt a.M. 2000, S. 236.
I. Einleitung
mit pharmazeutischen Aspekten mischen (lassen). Damit ist diese Arbeit weder eine naturwissenschaftlich motivierte noch eine literaturgeschichtliche Materialstudie.24 Vielmehr ist sie zunächst interessiert an einer poetopharmazeutischen Essentialität, die einer heuristischen Öffnung just dadurch zuarbeitet, dass sie um Distinktionen bemüht ist und durchaus zwischen Stoff, Inhalt und Form ebenso zu unterscheiden versucht wie zwischen Rezeption und Rezeptur. Das Suchen und Kombinieren von poetopharmazeutischen (Spuren-)Elementen erschöpft sich nicht in deren Verwaltung. Es wird um Transformationen gehen, wie sie sich zurzeit qua Digitalisierung von Literatur und ihren Wissenschaften vollziehen. Und um es bereits hier zu unterstreichen: Die Inkommensurabilität von Poesie und Chemie muss für eine sehr lange Zeit behauptet werden (und wird bis zum Ende der vorliegenden Studie nicht aufgegeben). Dass es Analogien gibt, davon kann man ausgehen, aber schon bei präziseren Fragen nach Funktion und vor allem Wirkung von literarischem und chemischem Stoff muss höchste Vorsicht walten. Abgesehen davon, wird gerade die dekonstruktive Prägung poetopharmazeutischer Methodik für einen so respektvollen wie selbstbewussten Abstand zur Chemie sorgen. Wichtiger aber ist, dass die Poetologie (sofern ihr logos überhaupt zu halten sein wird) selbst als ein funktionstüchtiger Diskurs anzusehen ist, dem seine Hinwendung zur Pharmazeutik und also zum pharmakon durch keinerlei Pharmakologie systematisch und methodisch erzwungen oder vorgeschrieben wird. Das hieße übrigens auch, die Literatur als Materiallager zu missbrauchen und ihre spezifisch performative Pharmazeutik schlicht zu verkennen. Kurzum, der poetopharmazeutische Ansatz dient der Bildung poetologischer Paradigmen, die sich der Literatur nicht zuletzt da vergewissern, wo sie um ihre (positiven und negativen) Wirkungen weiß, ohne indes immer deren Ursachen benennen zu müssen. Dass die hierfür notwendigen Differenzierungen und Distinktionen oftmals essentiell gerade da werden, wo sie sich ›dissentiell‹ zeigen, verdankt sich einem Wortspiel, mit dem ernst zu machen wäre. Gerade der Dissenz-Begriff, der theoretisch und methodisch aufs Engste mit dem Essenz-Begriff zu verschweißen sein wird, soll einem zentralen Anliegen dieser Arbeit dienen: das (post-)humane Subjekt in seinen Fähigkeiten zur Distinktion und Diskussion zu bestärken – und zwar gerade da, wo Widerstand nicht mehr offenkundig ideologisch gesetzt und zensiert, sondern systemisch (nicht mehr über den Diskurs, sondern den Code) als Störfall behandelt und das heißt getilgt wird. Es ginge mithin um eine polemogene Subjektivität, der die athletischen Schriften nicht allein zu passivem Konsum dienen, sondern im Zuge einer poiesis erst zu gestalten wären.
A nmischen , E inwerfen Eine der wichtigsten Aufgaben dieser Studie besteht also darin, das humane Subjekt, seine intellektuelle und emotionale Vitalität und Immunität zu stärken und zu 24 | Zu würdigen sind gleichwohl die auch für die Literaturwissenschaften relevanten, pharmaziehistorischen Arbeiten. Vgl. z.B. Christoph Friedrich und Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.): Gifte und Gegengifte in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 2012. Und Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.): Giftmischer, Exzentriker, Biedermänner. Das Bild des Apothekers in Prosa und Lyrik von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eschborn 2009.
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schützen gegen eine programmierte Influenza, eine immer schon pathogene Einflussnahme oder auch Kolonisierung des menschlichen Subjekts nach narkokapitalistischen Prinzipien, deren prominentes Ziel die kontrollierte Überführung von Konsum in Sucht ist.25 Da dies nicht durchgängig und überall schon der Fall sein muss (weil es noch Menschen gibt, die Verantwortung tragen) und die Vektoren der Programmierung noch umkehrbar sind (das muss jedenfalls behauptet werden), soll das hier auch heißen, nicht nur zu bewusstem Rezeptions- und Konsumverhalten anzuregen, sondern in (inter)mediale Produktionsprozesse einzugreifen, und das heißt auch: auf- und einzuwerfen und an- und aufzumischen. Das interaktive poetopharmakon wird entsprechend entwickelt. Es konstituiert sich und entfaltet seine Wirkung erst in aktivem Gebrauch (nicht im rein passiven Verbrauch), in Spiel und Bewegung. Dies provoziert eine Passionsgeschichte mit den dazu gehörenden produktiven und rezeptiven Bestandteilen. Gebrauch pointiert eine aufmerksame und differenzierte Erfahrung, zu der man sich entschließen muss. Anders gewendet: Gebrauch erhöht die Aufmerksamkeit für poetische Performativität, die, da sie sogar pharmazeutischer Natur sein soll, ver- und überführbar wäre in Semantiken und Gesten des Werfens (Auf-Ein-Werfen), der In(tro)und Pro-Jektion, wie auch in jene des Mischens (An-Auf-Unter-Mischen) im Spiel zwischen dem humanum und dem pharmakon.
N arkomplik ation Solche methodologischen Interjektionen, die doch erst einmal vom Weg der poetopharmazeutischen Stoff beschreibung abzuführen scheinen, folgen dem Auftrag, der diskursiven Scheinsouveränität potentiell endloser Explikation (vor allem als Beruhigungsmittel der Sprechenden) zunächst eine fragmentierende Anregung entgegenzusetzen. Gewiss klingen Sätze wie der folgende von Peter Sloterdijk verlockend: Weil die Explikation als Real-Analysis und Real-Synthesis zugleich in den Werkstätten wie in den Texten stattfindet, weil sie in technischen Verfahren sowie in den dazugehörigen Beschreibungen und Kommentaren vorwärtsgeht, entwickelt sie, wo immer sie angreift, eine Gewalt, die ins Reale und Mentale einschneidet. Sie verändert die kognitiven und materiellen Umwelten, indem sie sie mit Explikationsresultaten bevölkert. 26
Und wer wollte solchen Sätzen auch die Relevanz absprechen, wenn er in die Laboratorien der Naturwissenschaften, Technologien und Informatiken blickt? Aber welcher philosophische logos, welcher theologische Gott, welche kulturwissenschaftliche Explikation und welche poetische Signatur verdichten sich zu unabweisbaren Codierungen, die nicht nur die Türen jener Laboratorien, sondern auch die Köpfe und Festplatten ihrer Betreiber erreichen oder durchkreuzen würden? Statt so zu tun, als gäbe es hier eine funktionierende oder auch nur allenthalben erwünschte Kommunikation, wäre es besser, zuhöchst beunruhigt die Brüche zu gewärtigen und vor allem die Methoden zu prüfen – wäre es etwa besser, immer 25 | Vgl. auch Han, Psychopolitik, S. 26. 26 | Peter Sloterdijk: Sphären. Schäume. Bd. 3 Frankfurt a.M. 2004, S. 209.
I. Einleitung
wieder an die Stelle der scheinsouveränen Explikation die Komplikation zu setzen: oder besser, im Stile einer ludischen Kontamination, von einer Narkomplikation zu sprechen. Von diesem narko-poetologischen Komplizieren, das wir noch mit Gilles Deleuzes Hilfe unter die essentiellen Performativa unserer Poetopharmazeutik zählen werden27: von diesem Komplizieren, Diss- und Essentialisieren versprechen wir uns etwas ganz anderes und manchmal weit mehr als von Explikationen, ja sogar Interpretationen – auch wenn wir von letzteren kaum ganz lassen können. Es führt also besonders der Weg zur poetopharmazeutischen Codierung, auf dem mit diskursiven Brüchen (deren Gift-gift) so seriös gespielt wird, dass der theoretische Einsatz nicht zur selbstgefälligen Ruhe kommt, stattdessen in Bewegung bleibt und damit entwicklungsfähig.
D as gute , schlechte (und verbotene) pharmakon Dieser poetopharmazeutische Versuch markiert den Mittelteil eines größeren Projekts: der Poetopharmazie, einer bereits im Internet gegründeten Institution.28 Was diesem zweiten Schritt (als erstem Coup der poiesis) dort logisch vorausgeht, ist die Pharmakoanalyse, und was ihm folgt, ist die therapeutische Praxis. Methodisch heißt das zunächst, dass der seinerseits immer neu zu befragende analytische Komplex häufig genug beschnitten werden muss, um einen pharmazeutischen Vorstoß zu wagen, der zu Wirkungszusammenhängen führt, die sich nicht allererst als Derivate natürlicher Toxizität erweisen, wenn sie auch mit ihnen korrespondieren. (Es gehört mithin zur methodischen Vorschrift, die alexipharmaka, zoopharmaka und kosmopharmaka erst – jedenfalls zu Teilen – in poetologischer Hinsicht zu konstituieren.) Welches riesige und intrikate Feld sich im Rahmen einer allgemeineren interdisziplinären Pharmakoanalytik auftut, kann hier nur angedeutet werden. Wir orientieren uns an der bipolaren Axiomatik des guten und des schlechten pharmakon, die im Begriff vom pharmakon selbst zusammenfällt: als Heilmittel und Gift – eine Spannung, die in ihrer Dialektik und Ambivalenz beunruhigend bleibt, auch weil sie Entscheidungen fordert, die mit Blick auf die Analyse nicht selten zu früh oder zu spät getroffen werden. Das pharmakon ist Heilmittel und Gift – das bedeutet also: Ähnlich wie das Gift mit der Gabe gleichsam ringt, mühen sich die Heilmittel, abgrenzbar zu sein von schädlichen Mitteln: etwa sogenannten Rauschgiften und Betäubungsmitteln. Das gute pharmakon wäre also gegeben (dosiert) als Heilmittel, Arznei, Medikament. Die Disziplinen, die hier traditionell auf den Plan gerufen sind, sind jene, die für Gesundheit und Krankheit zuständig sind: Medizin und Pharmakologie im weitesten Sinne. Der allein hinter dem Feld »Heil« und »Heilen« steckende Anspruch nötigt Respekt und vor allem Verantwortung ab. Jede Disziplin, die sich dem »Heilen« zuwendet, muss ihre besten Gaben geben, denn nur sie sind erfahrungsgemäß gerade gut genug. Die andere Seite markiert das schlechte pharmakon: das Gift, das Toxische, das Krankmachende, Schwächende und Tötende. Dieses seinerseits von »Grenzobjek-
27 | Dies bereits im ersten Kapitel Poetopharmaka. 28 | poetopharmazie.de (2013).
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Poetopharmaka
ten«29 besiedelte Feld verlangt methodisch nach Detektionen, Klassifzierungen, aber auch Präventionen und Prohibitionen. Toxikologie, Kriminologie und Gerichtsmedizin sind zusätzlich auf den Plan gerufen. Und schließlich spielt hier längst die Drogensemantik mit hinein, die ja in gewisser Weise das ganze Feld noch extrem erweitert und unterwandert, gleichzeitig aber gar nicht so übel in jener Axiomatik traktiert werden kann, denn auch Drogen können immer beides sein: gute und schlechte pharmaka. Mit den Drogen, den Rauschgiften und Betäubungsmitteln, kommen viele Spezifizierungen in gesellschaftspolitischer, juridischer, kriminologischer und überhaupt institutioneller Hinsicht hinzu. Dass sie ebenso schlecht stillzustellen sind wie das pharmakon selbst, ja nicht einmal anständig theoretisierbar30, das zeigen die Definitionen, deren beunruhigendste Quintessenz wohl darin besteht, dass Drogen als parasitäre Phänomene ausgegeben werden. So hält Avital Ronell fest: Drogen können nicht sicher innerhalb der Grenzen traditioneller Disziplinen angesiedelt werden: Anthropologie, Biologie, Chemie, Politik, Medizin oder Jura könnten nicht einzig aufgrund der Stärke ihrer jeweiligen Epistemologie den Anspruch erheben, daß sie sie fassen oder ihnen entgegen wirken können. Indem man sich überall mit Drogen beschäftigt, agieren sie als ein radikaler nomadischer Parasit, den der Wille der Sprache losgelassen hat. 31
Und wenn man diesen Parasiten gleich in den pharmakon-Begriff einschleusen will, dann wohl so: »Das schlechte pharmakon kann stets das gute pharmakon befallen […]. Dieser Befall durch Parasiten ist zugleich zufällig und wesentlich.«32 Und ganz gewiss ist auch der vorliegende Diskurs dieser Parasitierung unterworfen. Es ist eben nur die Frage, wie das poetopharmakon darauf reagieren wird: als Gift-gift. Jedenfalls sind Drogen in einem engeren Sinne zwielichtige Agenten des Rausches und der Sucht, der »toxicomanie« und »addiction« – und doch hier mit einer gewissen prohibitiven Geste in Bann gesetzt, da sie jene Bipolarität oder gar Dialektik von Heilmittel und Gift wenigstens nicht schon im Titel dieser Ausführungen stören (angreifen, lähmen, betäuben) durften. Gewiss, eine hilflose Geste, die die Droge nicht wird unterdrücken können – gerade weil sie nicht mehr und nicht weniger ist als ein »Losungswort«33. Und doch: Das poetopharmakon muss immer wieder aus methodischen Gründen reduziert werden auf seine zwei Pole, vor allem um den Anschluss an die Frage nicht zu verlieren, ob es mögliche Transformationen poetischer Essenzen in intermedialer Hinsicht geben kann, von denen man wenigstens in Ansätzen behaupten könnte, sie schlügen in die eine oder andere Richtung aus: an- oder abregend, auf29 | Bettina Wahrig: Systeme in pragmatischer Hinsicht: Lehrbücher der Toxikologie in Deutschland, England und Frankreich 1785-1929. In: Christoph Friedrich und Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.): Gifte und Gegengifte in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 2012, S. 99-132, hier S. 115. 30 | Jacques Derrida: Die Rhetorik der Droge. In ders.: Auslassungspunkte. Gespräche. Wien 1998, S. 241-266, hier S. 242. 31 | Avital Ronell: Drogenkriege. Übers. von Matt Hartmann und Nikolaus Müller-Schöll. Frankfurt a.M. 1994, S. 69. 32 | Derrida, Rhetorik der Droge, S. 247. 33 | Ebd., S. 242.
I. Einleitung
putschend oder beruhigend, aber auch wohl und schlecht tuend etc. – und naturgemäß stoßen wir hier andauernd auf Gegensatzpaare in semantischer Schieflage, die keiner ›reinen‹ Oppositionslogik verpflichtet sind. Dennoch muss an dem heuristischen Phantasma einer wirksamen Ambivalenz (ihrerseits schwankend zwischen der Dialektik einerseits und einem zwingend ungehorsamen double-bind andererseits) festgehalten werden.
B e triebsgeheimnis Die Poetopharmazie könnte Labor, Giftküche, Apotheke und Drogerie zugleich sein – ein fast unmöglicher Ort, bestenfalls zu Teilen eingerichtet und diszipliniert durch den Status der Institutierung selbst. Sich ihrer ethischen und politischen Verantwortung vollkommen bewusst, dürfte sie niemals offensichtlich (bestimmte) Drogen produzieren; das müsste im Zweifel verboten werden. Die Pharmazie hat aber wie jede Institution ihre Betriebsgeheimnisse, und es ist nicht nur eine rhetorische Frage, wie weit sie diese Geheimnisse auch vor sich selbst bewahren muss, will sie fortbestehen.34 Es ist vorstellbar, dass sie (bestimmte) Drogen gerade deshalb produzieren würde, weil sie sich nicht einmal mit mehr oder weniger erfolgreich verdrängten Losungsworten abgibt (weil das poetopharmakon immer mehr zu sein hat als ein Losungswort) – weder ableitbar von ethischen, juridischen und politischen noch von natürlichen oder chemischen Begriffen. Sie würde insgeheim auch nach etwas suchen, das vollkommen in Einklang steht mit der folgenden Hoffnung von Gilles Deleuze: Man kommt ohne die Hoffnung nicht aus, dass die Wirkungen der Droge oder des Alkohols (ihre ›Offenbarungen‹) an der Oberfläche der Welt unabhängig vom Gebrauch der Substanzen für sich selbst erneuert und wieder erzielt werden können, wenn die Techniken gesellschaftlicher Entfremdung, die ihren Gebrauch bestimmen, in Mittel revolutionärer Erforschungen verwandelt sind. Darüber schreibt Burroughs sonderbare Seiten, die von dieser Suche nach der Großen Gesundheit, unserer Art des Frommseins, zeugen: ›Stellt euch vor, dass alles, was man mit chemischen Mitteln erreichen kann, auf anderen Wegen erreichbar wird …‹ Oberflächeneinschüsse, um die Durchbohrung der Körper zu verwandeln, o Psychedelie. 35
Diese Sätze sind nicht dazu da, interpretiert zu werden. Sie können methodologisch übersetzt werden, und dann kommt man sehr nüchtern dabei heraus, dass es erst einmal hilfreich ist, mindestens von guten und schlechten pharmaka zu träumen – seien sie Substanzen oder nicht. Aber natürlich bleibt da noch etwas anderes, ein Rest, der der Poetopharmazeutik vorbehalten bleibt. Dieser poetische Rest ist es, der das diskursive und rhetorische Geheimnis um die Drogen bedingt und bedroht, um schließlich den Blick frei zu machen auf das, wodurch das 34 | Zur konstitutiven Funktion des Geheimnisses aus pharmaziehistorischer Perspektive siehe auch Bettina Wahrig: Geheimnis und Publizität des pharmakon. Verhandlungen über den Umgang mit Giften im 18. Jahrhundert. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 45-59. 35 | Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Übers. von Bernhard Dieckmann. Frankfurt a.M. 1993, S. 202.
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Poetopharmaka
ganze poetopharmazeutische Abenteuer dynamisiert wird: Schläge (An-, Rück-, Gegenschläge) aller Art. Wenn Derrida im Zuge einer Hegel-Lektüre behauptet: »Der pharmazeutische Eingriff hat also nur in dem Maße Wirkung, wie er auf eine bestimmte Weise zurückgewiesen wird.«36, dann heißt das erst einmal, zu fragen, wie so ein Eingreifen, das zwischenhin in existentieller Konkurrenz zum Begreifen steht, eigentlich vor sich geht. Blitzschnell kann so ein Eingriff erfolgen, schnell wie ein Stromschlag. Das sollte auch derjenige wissen, der das pharmakon Schrift zu destillieren versucht. Denn er bleibt elektrisiert von solchen Sätzen: »Die Sprache der Elektrik läuft weder über die Stimme noch über die Schrift; gleichermaßen auf beide verzichtet die Informatik […].«37 Das poetopharmakon als inter- und biomediales pharmakon trägt längst die Signaturen des elektrischen Schlags, auch und gerade wenn es sich im Namen der Buchstaben dagegen wehrt, wenn es auf alle möglichen Gegenschläge sinnt. Diese Gegen-Schlag-Kraft des pharmakon ist immerhin bereits verbrieft. Derrida versiegelt dieses Geheimnis, nachdem er Platon zu einer analytischen und philologischen Arbeit in der eigens für ihn gebauten Pharmazie verpflichtet hat: Im stammelnden Nachklingen, im Vorübergehen einer derartigen philologischen Sequenz unterscheidet man in etwa dieses, auch wenn man es nur schlecht versteht: der logos liebt sich selbst […] … pharmakon heißt Schlag … ›so dass pharmakon bedeutet hätte: das, was mit einem dämonischen Schlag zu tun hat oder gegen einen solchen Anschlag als Heilmittel verwendet wird‹ … ein Gewaltstreich (un coup de force) … ein abgegebener Schuss (un coup tiré) … eine abgekartete Sache (un coup monté) … aber ein Fehlschlag (mais un coup pour rien) … ein Schlag ins Wasser … en hydati grapsei … und ein Schicksalsschlag (un coup de sort) … Theuth, der die Schrift erfand … den Kalender … die Würfel … kybeia … die kalendarische Zähleinheit (le coup du calendrier) … den überraschenden theatralischen Effekt (le coup de théâtre) … den Streich der Schrift (le coup de l’écriture) … den Würfelwurf (le coup de dés) … den Doppelschlag … kalaphos … glyph … colpus … Schlag… 38
Diese Sätze bereiten auf ganz neue und immer schnellere Schläge vor. Und es sind dies von außen kommende Schläge, die Platons Pharmazie ganz zum Schluss etwas ankündigen, das Platon und Derrida (und uns?) unheimlich sein muss. (Die beängstigende und ebenso weitsichtige Variante eines Anschlags auf einen eingehegten Kontrollbereich kann man übrigens präzise an und in Kafkas Bau studieren.) Diese Schläge (im Zeichen der Schrift) zu entziffern, wäre also eine Aufgabe – sie auszuhalten oder besser noch: zu kontern oder zu parieren, wäre eine zweite. Aber wirklich in dieser Reihenfolge? Denn noch einmal: Wie schnell geht das vonstatten, und wie schnell hat der Gegen-Schlag die Analyse überholt? In solchen Fragen artikulieren sich die Chancen und Gefahren des pharmazeutischen Unterfangens.
36 | Jacques Derrida: Glas. Übers. von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. München 2006, S. 131. 37 | Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. von Bernd Schwibs. Frankfurt a.M. 1995, S. 310. 38 | Derrida, Platons Pharmazie, S. 189.
I. Einleitung
Theuths W ürfel Ist es zuletzt nur eine psychopoetologische Frage (oder eine theutherapeutische Finte), wenn hier bereits zu Ehren des Theuth und des Hermes neben der Schrift das Würfelspiel als oder wie ein pharmakon ernst genommen würde? Finte schon deshalb, weil nichts über die Einsätze des Ein-Wurfs bekannt sein muss. Man muss schon differenzieren: So scheint es etwa weit harmloser, einen Würfel zu werfen, als einen Gift-gift-Anschlag durchzuführen. Aber lassen sich die Risiken kalkulieren? Und wenn der Würfelwurf selbst schon Gabe (gift) und Ereignis wäre? Das Ereignis und die Gabe, das Ereignis als Gabe, die Gabe als Ereignis müssen einfallartig, unmotiviert – zum Beispiel interesselos – sein. Entscheidend wie sie sind, müssen sie das Raster zerreißen und das Kontinuum einer Erzählung unterbrechen, zu der sie gleichwohl auffordern; sie müssen die Ordnung der Kausalitäten stören: augenblicklich. Sie müssen augenblicklich, auf einen einzigen Schlag, das Glück, den Zufall, das Wagnis, die τύχη mit der Freiheit des Würfelwurfs, mit dem Gabenwurf des Gebers oder der Geberin in Verbindung bringen. Die Gabe und das Ereignis gehorchen nichts anderem – außer Prinzipien von Unordnung, das heißt Prinzipien ohne Prinzip. 39
Aber werden wir prinzipiell von den Konstellationen lassen können, die nicht nur in Mallarmés Hermetik (gegen-)gezeichnet werden?40 Oder versprechen die Fäden und Kabel, die aus den poetisch konstellierten Labyrinthen führen, nichts anderes als den unmöglichen Ausgang aus einer chaotischen Welt? Weniger kryptisch gefragt: Ist es etwa nur ein Zufall, ein dramaturgischer Würfelwurf, dass die große amerikanische Serie The Wire, die auch eines der bedeutenden narkopolitischen Dramen des 21. Jahrhunderts darstellt – dass also diese Serie beginnt mit einem Gespräch über ein Würfelspiel, das gerade noch für einen Spieler tödlich geendet ist?41 Oder ist dieses Spiel absolut kein Zufall, stattdessen der kalkulierte Gegenpart zum Schachspiel, das seinerseits als Metapher für das toxische Strategiespiel der Gesellschaft fungiert? Der von Derrida angekündigte double-bind wird das pharmakon als Gift und Gabe dynamisieren, um mindestens gegen die Kausalitäten und Programme das aleatorische Schicksal zu setzen. Analyse und Erzählung finden erst dann statt, wenn das pharmakon als und wie ein Würfel eingeworfen wird. Nur dieser poetisch konfigurierte Rest als Widerstand42 gegen die (einfache) Lösung des pharmakon garantiert dessen Entwicklung.
39 | Derrida, Falschgeld, S. 160. 40 | Natürlich ist in Derridas Würfelspiel immer schon Stéphane Mallarmés Gedicht Ein Würfelwurf anwesend, gerade weil es sich nicht wie ein stabiles »Tetrapharmakon« dechiffrieren lässt: Derrida, Dissemination, S. 396. 41 | Vgl. David Simon: The Wire. Staffel I. (2002) 42 | Vgl. Jacques Derrida: Widerstände. In ders.: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Übers. von Hans-Dieter Gondek. Frankfurt a.M. 1998, S. 128-178, hier S. 177f.
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II. Poetopharmaka »[…] hier fehlte das treffende Verbum, finde nicht in den Mund wenn ich Tabletten einnehme: der Küchenboden übersät mit fassungslosen Medikamenten, habe geweint beim Verzehren von Aranzini […].« Friederike Mayröcker: ich bin in der anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk
Die Entwicklung von poetopharmaka ließe sich theoretisch verdichten in einer Pharmakopoetik.1 Wir kennen den Begriff »Pharmakopoetik« aus dem pharmazeutischen Diskurs, worin er schlicht übersetzt ist mit »Arzneiverordnungslehre«. (»Pharmakopöe« ist der Name für das Arzneimittelbuch.) Hier wird der Begriff der Poetik mit Blick auf die poiesis der Poesie pointiert. Die Poetik (von grch. poietike) ist die Lehre von der Dichtkunst – ihren Gattungen, Mitteln und nicht zuletzt ihren Wirkungen. Und die Pharmakopoetik kann als Lehre von einer Dichtkunst verstanden werden, die als Arzneimittel (Heilmittel oder Gift) verschreibbar (und geschrieben) ist. Sie ist also die Lehre von der Dichtkunst als pharmakon (poetopharmakon) und sieht sich im übrigen mit dieser Pointierung durchaus in der Tradition klassischer Poetiken. Impliziert wird hier aber auch die alte These, dass der pharmakologische Diskurs seinerseits just dort zu seiner vollen Entfaltung kommt, wo er sich als poetisch erkennt bzw. erweist, wo er also tatsächlich zur Arzneikunst wird. Auch die Worte eines Novalis stehen noch im Raum: »Die Arzneikunst ist eine zusammengesetzte Wissenschaft.« Und »Arzneimittel sind poetisch.« Und: »Sollte die Medizin nicht vorzüglich historisch und poetisch sein?« 2 Die Frage, warum eine gewisse pharmakopoetologische Ambition nicht gleich zum Titel der vorliegenden Überlegungen, also Pharmakopoetik, gereicht, verdankt sich zunächst einer interdisziplinären Bescheidenheit: Wie käme man dazu, gleich eine (poetologische) Arzneiverordnungslehre auszurufen? Zumal sie auch solche »pharmakopoetische[n] Gedanke[n]«3 zu verzeichnen hätte, die aus nichts anderem 1 | Vgl. zu diesem Definitionsversuch auch Leonhard Fuest: Für eine Pharmakopoetik. In Doris Titze (Hg.): Zeichen setzen im Bild. Zur Präsenz des Bildes im kunsttherapeutischen Prozess. Dresden 2012. S. 153-156. 2 | Novalis: Briefe und Werke. Hg. von Ewald Wasmuth. Bd. 3. Berlin 1943. S. 539f. 3 | »Ich hatte nicht die Absicht, die arme Charlotte zu heiraten, um sie auf irgendeine vulgäre, niederträchtige und riskante Weise aus dem Weg zu räumen, sie etwa zu töten, in-
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Poetopharmaka
als einer zwielichtigen Potentialität ihr Wesentliches zögen. Wichtiger aber noch ist dies: Käme es nicht viel eher darauf an, den Gestus der experimentellen Kombination von Poetik und Pharmazeutik zu wahren? Eine entsprechende Befragung beträfe das Verhältnis von Konstativität und Performativität des poetologischen Diskurses. Wo verlaufen die Grenzen zwischen pharmakopoetologischen Konstativa und poetopharmazeutischen Performativa? Und ab wann darf man mit Fug von einer poeto-inter-medialen Pharmakognosis 4 sprechen? Eben diesen Fragen zuzuarbeiten, statt sie mit systematischer Ungeduld zu beantworten, erzwingt der nach wie vor unabsehbare mediale Wandel, der sich ereignet. Definieren wir (noch) einmal: Was ist ein poetopharmakon? Das poetopharmakon ist ein poetisches Heilmittel und Gift (und/als Droge), das in einer Zone zwischen bios und Medium wirksam wird. Die Kombination des Poetischen mit dem Pharmazeutischen streut und reduziert gleichzeitig die komplexen Semantiken, die hinter beiden Begriffen liegen. Das poetopharmakon fragt vordergründig nach der Literatur, ihren Stoffen und Essenzen, im Zuge dessen, was wir am Ende des Gutenbergzeitalters zu gewärtigen haben. Es zeigt sich bestenfalls als intermediales Heilmittel und Gift, das seine Essentialität über seine (dissentielle) Poetizität oder auch Literarizität behauptet. Die Literatur hat die mannigfaltigsten und potentesten Gebilde der Schrift hervorgebracht und wird nun konfrontiert mit einer digitalen Kultur, die die Literatur nicht einfach nur zu umfassen, zu speichern und zu archivieren imstande ist, sondern ihr im selben Zuge existentielle Konkurrenz macht. Das poetopharmakon ist angesichts der digitalen Neugestaltung der Welt eine heuristische, experimentelle, generative und transformatorische Vokabel, die erzeugt, was sie beschreibt, die – noch einmal – buchstäblich eingeworfen wird.
S ignaturen des pharmakon Jedem aleatorischen Pragmatismus ist ebenso methodisch der schwindelerregende Abgrund der Tradition entgegenzuhalten. Die Schrift selbst ist in einer ägyptisch-platonischen Urszene (im Phaidros) als pharmakon (als Gift und Heilmittel) diskutiert worden. Jener ägyptische Theuth präsentiert sie als Heilmittel zur Unterstützung des Gedächtnisses, wird aber mit gegenteiliger Meinung konfrontiert, wonach das pharmakon das Gedächtnis und mithin die Fähigkeit zur lebendigen Wahrsage schwäche.5 Die Dichtung partizipiert an dieser doppelten dem ich ihr vor Tisch fünf Quecksilberbichlorid-Tabletten in den Sherry tat oder dergleichen; aber irgendein zartverbündeter pharmakopoetischer Gedanke klingelte sicherlich in meinem dröhnenden und umwölkten Gehirn.« Vladimir Nabokov: Lolita. Übers. von Helen Hessel u.a. Reinbek 1964, S. 82. 4 | Attraktiv ist der Begriff der »Pharmakognosis« bzw. »Pharmakognosie« in diesem Kontext, weil er Kenntnis und Erfahrung mit dem pharmakon verknüpft, noch bevor der logos ins Spiel kommt. Wobei einzuräumen ist, dass die Pharmakognosie längst als Bereich der pharmazeutischen Biologie definiert und spezifiziert wird. Wie (für den Philologen verführerisch) weit aber auch hier die Wortfelder reichen, zeigt schon Alexander Tschirch: Handbuch der Pharmakognosie. Leipzig 1909. 5 | Vgl. Platon: Phaidros. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1958, S. 55f.
II. Poetopharmaka
Notierung ihres Mediums »Schrift« (gutes und schlechtes pharmakon), und es ist noch zu klären, inwieweit sie deren zu beschreibende Wirkungen verstärkt oder abschwächt. Die durch Theuth und schließlich Hermes angedeutete Figuration erinnert also insgeheim an die hermetische Zurichtung des pharmakon Schrift. Und besonders die Literatur weist traditionell hermetische Spurenelemente einer Pharmazie und Alchemie auf und arbeitet unermüdlich, exoterisch oder esoterisch, daran, die entsprechenden topoi zu transformieren bzw. neu zu interpretieren. Natürlich gibt es da spezifische pharmakognostische Verdichtungen: Besonderes Augenmerk wäre etwa zu richten auf die Paracelsus- und Böhme-Rezeption sowie die Rezeption der Kabbala in der Literatur. Dort finden sich poetisierte Elemente- und SignaturenLehren, die Verhandlungen des Konnexes zwischen Kosmos, Körper und Zeichen aufweisen.6 Diese hermetische Tradition wird hier indes nicht systematisch rekapituliert – und zwar auch deshalb, weil damit ein Geheimwissen transportiert wäre, das sich einer langen Liste aufgeklärter Anklagen gegen Obskurantismus und Esoterik einheimsen würde.7 Statt diese Diskussionen zu rekonstruieren, wären solche modernen Vorstöße zu würdigen, die die Tradition durchaus pragmatisch befragen und nutzen.8 Abgesehen davon, dass bei aller Skepsis hermetische Spurenelemente in den folgenden Lektüren zu finden sein werden, soll an dieser Stelle ein modernisierter Begriff der Signaturenlehre erhalten bleiben, der antworten können müsste auf die These, dass auch in klassischen und modernen Poetiken angelegt ist, was Koschorke angesichts der »Remodellierung der Erlebnissphäre durch die Repräsentanten« behauptet: »Die Literatur, Zwischenträgerin im intersubjektiven Verkehr, wirkt auf die Subjekte zurück, greift in sie ein, präfiguriert ihr affektives und soziales Verhalten.«9 Der Frage, ob man über die soziale Wirkungsweise von Literatur hinaus forschen sollte, indem man der Sprache selbst eine psychosomatische Qualität unterstellt, kann redlicherweise nur über Historisierungen und gattungspoetologische Differenzierungen begegnet werden – und zwar auch deshalb, weil nicht jede Rezeptur zu allen Zeiten gleich rezipiert wird. Es wäre also etwa nach den jeweiligen Lesetechniken zu fragen. Das leise Lesen des Romans (im und seit dem 18. Jahrhundert) produziert eine ganz andere pharmazeutische Qualität des pharmakon Literatur als etwa der Vortrag eines Prosatextes im Rahmen eines heutigen Poetry Slams oder der Lektüre eines Eintrags in einem sozialen Netzwerk im Internet. Und so ließe sich systematisch fortfahren. Solche gattungstypologischen und historiographischen Ambitionen seien indes von der Pointe unterbrochen, dass die pharmazeutische Qualität eines Textes in den Wechselwirkungen von Schreiben und Lesen zu suchen ist. Und die Signatur in der Lesart Giorgio Agambens hat hier einen wichtigen Platz, kenn6 | Vgl. Giorgio Agamben: Theorie der Signaturen. In ders: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a.M. 2009. S. 41-100. 7 | Vgl. z.B. die kritischen Einlassungen zur Hermetik von Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München 1992. 8 | Vgl. z.B. Jürgen Gunia: Gesundheit erregen. Über homöopathischen Schriftgebrauch. In: poetopharmazie.de (2013). 9 | Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003. S. 162.
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zeichnet sie doch eine spezifisch dynamische Struktur der Sprache. In seiner Theorie der Signaturen heißt es einmal mit Blick auf Aby Warburg, dieser bemühe eine »parawissenschaftliche Terminologie«, in der die »Pathosformeln ›abgeschnürte Dynamogramme‹« genannt würden, womit angedeutet sei, »daß sie ihre Wirksamkeit in der Begegnung mit dem Künstler (dem Forscher) jedesmal von neuem erwerben.« 10 Die hier wie auch in anderen Texten Agambens mitschwingende Frage nach den produktiven Erfahrungen mit Texten liegt dicht bei der Frage nach den Wirkungen – und zwar in diesem Fall der Signaturen des poetopharmakon. Es wäre im folgenden darauf zu achten, was ein grob historisierendes Überschlagen einiger poetopharmazeutischer Semantiken vom 18. bis 21. Jahrhundert an dynamischen Momenten liefert, Momenten, die vielleicht das Zeug zu einer Signatur haben. Die zunächst folgenden Lektüren ersetzen damit auf keinen Fall die Derivate alexipharmaka, zoopharmaka und kosmopharmaka; sie bereiten (auf) sie vor. Große Lücken in literarhistorischer Hinsicht werden sich zwangsläufig auftun11, sind aber auch methodisch begründet. Schließlich beerbt diese Forschung zwar die Methodik der kontextualisierenden Lektüre wie auch der Sammlung zuhandenen Materials, aber weist besserenfalls deren Gaben auch als Gifte aus für ein Denken, das der Heuristik die Bürokratie vorzieht.
M ateria C ruda Es ist durchaus keiner Relativierung des poetopharmazeutischen Projekts geschuldet, wenn in einem ersten fragmentarischen Lektüreschritt12 die ironische Potenz eines ursprünglich ganz ernst gemeinten Substanz- oder gar Essenzbegriffs aufgegriffen wird: nämlich die der Materia Cruda. Es lässt sich der Begriff so auffassen, wie ihn leicht spöttisch ein gewisser Doktor der Medizin einem Apotheker gegenüber benutzt, um den Gegenstand zu bezeichnen, auf den letzterer seit längerem besteht: eben eine »materia cruda«13, eine rohe, vorläufige Materie, die zunächst schlicht identisch mit der prima materia der Alchemisten ist, eine Materie mithin,
10 | Agamben, Theorie der Signaturen, S. 70. 11 | Um sie systematisch zu schließen, müssten über die im vorliegenden Buch zu findenden Namen hinaus mindestens noch die folgenden berücksichtigt werden: Grimmelshausen, Goethe, Moritz, Hoffmann, Flaubert, de Quincey, Fontane, Huysmans, Perutz, Artaud, Pynchon, Wallace etc. Diese Liste abzuarbeiten, bringt indes nur etwas, wenn dies in Rücksprache mit einem Avataren (etwa der Pharmakeia) geschieht, der nicht zuletzt mit dem Wort »Kanondiskussion« einen methodologischen Gewinn für die Entwicklung von poetopharmaka verbindet. 12 | Die folgenden Überlegungen zu Jean Paul decken sich zu Teilen mit folgender Lektüre: Leonhard Fuest: Materia Cruda. Zur Essentialität des poetopharmakon. In: Ottmar Ette u.a. (Hg.): LebensMittel. Essen und Trinken in den Künsten. Zürich 2013, S. 81-90. 13 | Jean Paul: Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte. Sämtliche Werke. Bd. 6. München 1963, S. 714.
II. Poetopharmaka
die zuallererst da und allerlei sein kann,14 deren Krudität nun aber hier eben nicht ohne Doppelsinn angesprochen sein mag.15 In Jean Pauls Roman Der Komet findet sich ein Apotheker und Alchemist, Nikolaus Marggraf, der in einer kleinen deutschen Stadt mit dem vielsagenden Namen Rom lebt, ein schwärmerischer Mann, der irgendwann erfahren hat, dass seine Mutter ihn als unehelich gezeugtes Geschöpf unter dem Herzen in die Ehe mit einem Apotheker importiert hat und sein leiblicher Vater ein ihm unbekannter Aristokrat sein muss. Dieser Nikolaus Marggraf fühlt sich schon längst zu Höherem berufen und hat sich zur Erklimmung der gesellschaftlichen Leiter als Alchemist zunächst vergeblich an der Erzeugung von Gold versucht, um es später mit der synthetischen Herstellung von Diamanten zu probieren – und dies tatsächlich mit Fortune. Daraufhin kann sich Marggraf zum Markgrafen erklären und mit einer bunten Schar durch die Lande reisen, ohne im Rahmen der Narration so recht irgendwo anzukommen – wie ein Komet, dessen telos unsichtbar bleibt. In diesem voluminösen Roman wird beileibe keine platte Verballhornung der Alchemie betrieben ebenso wenig wie eine wenigstens phantastische Illuminierung (wie dies etwa bei E.T.A. Hoffmann zu beobachten wäre). Aus einer ironischen Distanz wird tatsächlich ein nicht unbeträchtliches Wissen zu diesem Thema aufgebracht, nicht zuletzt, um der poetischen Selbstinszenierung einen allegorischen Masterplan zu liefern. Das große opus braucht viel Zeit und Geduld und konstituiert sich in einer schwindelerregenden, setzenden und vernichtenden Dynamik der Ironisierung und Allegorisierung.
A lchemie und I ronie Zunächst lässt sich behaupten, dass im Zuge des 18. und 19. Jahrhunderts bei vielen Romantikern wie auch bei Goethe eine Renaissance der Alchemie zu verzeichnen ist. Diese Rezeption korrespondiert unter anderem mit dem Aufkommen dessen, was bis heute als Romantische Medizin bezeichnet und unter anderem mit dem Brownianismus, dem Mesmerismus bzw. Magnetismus und der Homöopathie as-
14 | Nach C.G. Jung ist folgendes hinzuzufügen: »Die Basis des opus ist die materia prima, welche eines der berühmtesten Geheimnisse der Alchemie ist. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als sie den unbekannten Stoff darstellt, welche die Projektion des autonomen seelischen Inhaltes trägt. Ein solcher Stoff konnte natürlich nicht angegeben werden, weil die Projektion vom Individuum ausgeht und infolgedessen in jedem Fall wieder anders ist. Es ist darum auch nicht korrekt, zu behaupten, die Alchemisten hätten nie gesagt, was die prima materia sei; im Gegenteil haben sie nur zu viele Hinweise gegeben und sich dadurch endlos widersprochen. Für den einen war die prima materia das Quecksilber, für andere Erz, Eisen, Gold, Blei, Salz, Schwefel, Essig, Wasser, Luft, Feuer, Erde, Blut, Lebenswasser, Lapis, Gift, Geist, Wolke, Himmel, Tau, Schatten, Meer, Mutter, Mond, Drache, Venus, Chaos, Mikrokosmos.« C.G. Jung: Psychologie und Alchemie. Düsseldorf 1995, S. 364f. 15 | »Singe nur dein altes Lied von Goldmachen und Goldsäuere und materia cruda vor den Herren bis auf den letzten Vers wieder ab, während ich draußen am Punsch arbeite.« So Worble zu Nikolaus. Jean Paul, Der Komet, S. 715.
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soziiert wird.16 Und so kann man nicht zuletzt Jean Pauls Komet als ein Fundstück bezeichnen, das einer Wissenskonstellation entsprungen scheint, in der naturwissenschaftliche, technische, wie auch medizinische Diskurse mit psychologischen, magisch-esoterischen und poetologischen Diskursen verknüpft sind. Um es anders zu sagen: Auch hier, um 1800, haben Medizin und Medium, Poesie und Magie mehr als zufällige exoterische und esoterische Berührungspunkte. (Der Roman ist in Teilen 1820 und 1822 erschienen, aber schon seit 1806 konzipiert.) Im Vorwort erzählt Jean Paul etwa, er wolle mit seinem ausschweifenden Roman eigentlich nicht vielmehr als »starken Kometenwein für Leser von Magen und Kopf« hinterlassen. Kurz ich wollte in meinem Alter, worin andere Schreiber und Philosophen und Dichter, geistig wie körperlich, durch lauter Funken-Geben zu hohlbauchigen und gekrümmten Feuerzeugen geschlagen und ausgetieft sind, mich als runden Wilsonschen Knopf elektrisch zeigen und vollgeladen mich entladen und unausgesetzt blitzen; – aber, wie ich freilich deshalb mich an den galvanischen unsterblichen Säulen eines Gargantua und Don Quixote unaufhörlich zu laden suchte, dies läßt sich vorstellen.17
In einer weiteren Vorrede beschwört der Verfasser neben der Lehre des Astrologen, Alchemisten und Mediziners Paracelsus auch die Heilmethode des antiken Asklepios, der bekanntlich seinen Patienten im Schlaf erschien, um ihnen die entsprechenden pharmaka zu verschreiben. Hier wird das Ganze einmal so gewendet: Der Verfasser zeigt in einem Brief an einen Polizeidirektor, der bereits gegen die gefährlichen Auswüchse des Magnetismus auf den Plan gerufen ist, die noch größeren Gefahren der Traumgeberei an. Zwar habe schon Paracelsus es verstanden, »jedem die Leute, die er im Traume sehen wollte, darin erscheinen zu lassen; aber hier kam es doch auf den Mit-Willen des Schläfers an.« Und es gebe ja durchaus heilsame Effekte dieser Kunst, für die der Verfasser selbst einstehe, da auch er »mehre Heilkräuter und Freudenblüten« aufzeigen könne, »deren schlafendes Knospenauge ein wohlwollender Traumgeber in den fremden Schlaf einimpfen kann«, aber, so fährt er fort, wiege denn »einiger mögliche gute Gebrauch den grenzenlosen Mißbrauch auf, der mit Traumgeben zu treiben ist? Ist es hier mit Träumen wohl anders beschaffen als mit Büchern? Auch diese teilen Lichter und Freuden und Sitten und Herzstärkungen in jeder Messe aus […]; aber was kann auf der anderen Seite leichter und weiter Irrtümer, Beleidigungen, freche Anfälle aller Art, Herzschwächungen und Herzgifte und kurz alles Böse verbreiten als gerade die Bücher […]?«18 Damit ist der poetopharmazeutische Diskurs angestoßen. Und es kommt zu dessen Erweiterung und Spezifizierung dort, wo der Placeboeffekt der Traum- und poetischen Gaben hervorgehoben und aus ökonomischen Motiven gegen die Verwendung realer pharmaka ausgespielt wird. Ärzte könnten doch ihren Patienten die Pillen vorträumen, statt sie ihnen zu geben, und man könnte solcherart »auch der 16 | Vgl. hierzu z.B. Roland Schiffter: » … ich habe immer klüger gehandelt … als die philisterhaften Ärzte …« Romantische Medizin im Alltag der Bettina von Arnim – und anderswo. Würzburg 2006. 17 | Jean Paul, Der Komet, S. 569. 18 | Ebd., S. 692.
II. Poetopharmaka
Staatskasse (wie schon jetzt, aber ohne Vorteil der Kranken geschieht) Arzeneien ansetzen, die gar nicht gegeben worden, sondern nur geträumt.«19 Auf die Kraft der bewussten und unbewussten Projektionen lässt sich nicht verzichten. Die wirkmächtigste Substanz indes dürfte jene materia cruda sein, das Geheimnis eines phantasiebegabten Apothekers, den manche übrigens für verrückt halten. Mit dem Diamanten, den Nikolaus herstellt, ist eine poetische Transformation abgeschlossen und eine weitere eingeleitet, die das ganze Leben des Besitzers der sogenannten Hundeapotheke betrifft. Nach seinem geglückten Coup gesteht er unter dem Einfluss von »Gedächtniskügelchen« manch prekäres Faktum, aber sein Geheimnis gibt er nicht preis. Neben der Kohle und dem Wasserstoff kennt er nun einen dritten Stoff, den er aber »auf keine Weise nennen« werde, zumal er »ihn nicht einmal recht anzugeben weiß.« Und weiter: Neben meinem faulen Heinze steht der kleine babylonische Turm, der meine Feuer- und Wolkensäule und mein Leuchtturm ist, der wahre Torre del Filosofo des Ätna; aber ob ich gleich bisher nur Kupfergeld daran wenden konnte, so hat er doch schon Prinzmetall geliefert. Ich merke selber, daß ich nicht deutlich werde [und hier steht als Fußnote eine durchaus seriös wirkende wissenschaftliche Übersetzung der Metaphern, da beispielsweise der Turm als »voltaische Säule« definiert wird; L.F.]; aber dies kann auch meine Absicht nicht sein. Die verwickelten Nebenwege bei der Sache sind so wenig zu zählen, daß man auf den Gedanken verfallen könnte, ein höherer Genius, wovon wir gar keinen Begriff haben, fließe durchsichtig mit ein. Wer weiß inzwischen das Gegenteil so entschieden? – Wenn vollends tausend unbemerkte Handgriffe dazukommen, die man unter dem Demantschaffen unbemerkt macht; oder wenn gar (was das Wahrscheinlichste, aber eben nicht das Mitteilbarste bei so weit aussehenden Operationen ist) irgend magnetische Bezüge (Rapports) meines Körpers mit Leitern und Nichtleitern, die ich scheidekünstlerisch bearbeite, mich gleichsam zum Alleinschöpfer der Steine hinaufschraubten; ja wenn auch kein anderes Wunder bei der Sache mitwaltete als das alltägliche, daß nur gewissen Menschen Säen und Pflanzen gerät oder vor Weibern in gewissen Verhältnissen der Wein unter dem Abziehen umschlägt, wie mir dann selber der erste Diamant gänzlich umgeschlagen: so muß ich meine Versuche wenigstens noch oft und mit gleichguten Ausgängen wiederholen, bevor ich ein bestimmtes gutes Rezept zum Machen eines Diamanten mitzuteilen vermag. 20
Der redliche und doch ganz undeutlich bleibende Scheidekünstler bestätigt nun immerhin, dass im alchemistischen Prozess Imagination und Projektion unauflöslich mit dem Stoff zusammenhängen. Dazu passt übrigens C.G. Jungs ganz unironische Beobachtung: So ist die ›imaginatio‹ oder das Imaginieren auch eine physische Tätigkeit, die sich in den Kreislauf stofflicher Veränderungen einschalten läßt, solche bewirkt und von ihnen auch wieder bewirkt wird. Der Alchemist stand auf diese Weise nicht nur in Beziehung zum Unbewußten, sondern unmittelbar auch zum Stoffe, den er durch Imagination zur Veränderung zu bringen hoffte. […] ›Imaginatio‹ ist also ein konzentrierter Extrakt der lebendigen körperlichen sowohl wie seelischen Kräfte. 21 19 | Ebd., S. 698. 20 | Ebd., S. 794. 21 | Jung, Psychologie und Alchemie, S. 322.
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Und diese Überlegungen müssen schon reichen bezogen auf den ironischen Aufweis der alchemistischen Tradition. Jean Paul verwandelt seinen dickleibigen Roman in eine alchemistische Séance, welche die Gestalt eines substantiellen Imaginationsexzesses annimmt, der es zwar nicht mehr zu dem ungebrochenen Glauben der alten Alchemisten bringt, aber gerade in der Konterkarierung der Idee unmittelbarer Wechselwirkungen von Imagination und Stoff poetische Mittler (poetopharmaka) installiert, in denen im Zweifel die unhintergehbare Rhetorizität der Pharmazeutik aufscheint, die niemals unterschätzt werden sollte, auch weil sie sehr gewinnbringend sein kann.22 Ein Zusatz sollte hier indes nicht fehlen: Beunruhigend bleibt doch, dass die Alchemie im Laufe der Moderne nicht einfach von der Chemie ersetzt, von der aufgeklärten Philosophie verbannt und nurmehr einer kruden Esoterik überantwortet wurde. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es in der Literatur zu einer besonderen Beerbung der Alchemie, und zwar nicht zuletzt in Form der »Trias von Psycho-, Techno- und Sprachmagie« 23, wie dies Robert Stockhammer in seinem Buch Zaubertexte herausgearbeitet hat. Ganz besonders die »technomagischen Aspekte der Alchemie« bleiben virulent. »Die Alchemie, der noch eine neuere Geschichte attestiert, ›primitive versions of the modern conception of energy‹ entwickelt zu haben, liefert Bildspender für eine umfassende Attraktion des Energiebegriffs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: ›Begriffe wie Kraft und Energie sind durchaus magisch.‹« 24 Und das sind Hinweise darauf, dass wir es mit solcherart gewandelten, alchemistischen Spurenelementen in dem Maße zu tun bekommen, in dem wir uns den Axiomen einer gegenwärtigen Pharmako-Medialität nähern. Doch zunächst zurück zu den pharmaka romantischer Rhetorik.
22 | Schließlich geht es auch hier um Geld. Zu dem Konnex von Alchemie (Magie) und Ökonomie ließe sich auch dieser Weg bis in die Moderne gehen: »›Einige Nachgiebigkeit dem erloschenen Laboratorium des großen Werkes gegenüber, bestünde darin, ohne Herd die Manipulationen, Gifte – anders erstarrt als zu Edelsteinen – wiederaufzunehmen, um mit der einfachen Intelligenz fortzufahren. Da für das geistige Forschen insgesamt nur zwei Wege offen sind, an denen sich unser Bedürfnis – mithin die Ästhetik aber auch die politische Ökonomie – verzweigt: so war in dieser letzten Hinsicht prinzipiell die Alchemie der glorreiche, frühreife und undeutliche Vorläufer. Alles, was unmittelbar, rein, als Mangel eines Sinns, vor der Erscheinung, jetzt der Menge, dem sozialen Bereich wiedererstattet werden muss. Der nichtige Stein, genannt der der Weisen, träumt vom Gold: Aber er kündigt, im Finanziellen, den zukünftigen Kredit an, wobei er dem Kapital vorausläuft oder es auf die Unterwürfigkeit von Geld reduziert! Mit welcher Unordnung wird das um uns her gesucht, und wie wenig begriffen!‹« Stéphane Mallarmé, Magie, zit.n. Derrida, Falschgeld, S. 153. 23 | Robert Stockhammer: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur 18801945. Berlin 2000, S. 170. 24 | Ebd., S. 180f.
II. Poetopharmaka
P harma zeutische R he torik Neben all den medialen und ironischen Distanzierungen, die das pharmakon in der Welt der menschlichen Subjekte markieren, drängt sich die Frage nach den Wirkungen auf – und zwar der Buchstaben selbst. Die folgenden Überlegungen25 sollen deshalb nicht nur eine gewisse Pharmakognosie in Friedrich Hölderlins Hyperion, sondern auch die immense pharmazeutische Performativität dieser Dichtung aufweisen. Hölderlin gehört zu den intensiven Dichtern, die Gifte und/als rettende Gaben in existentielle Passionsgeschichten eintragen und damit einer therapeutischen Auffassung von Literatur das Wort reden.26 Auch und gerade als Patient 27 hat er eine Dichtung hinterlassen, die schon zu Lebzeiten mächtigen Eindruck auf aufmerksame und heilkundige Geister wie etwa Bettine von Arnim gemacht hatten.28 Gegen Anfang des zweiten Buches im ersten Band des Hyperion hebt einerseits die Erzählung der keimenden Liebe zu Diotima an; andererseits bricht in diesen Beginn das Bewusstsein vom Ende, das heißt Diotimas Tod, ein. Es ist gleichsam ein saturnischer Ring, der auch in poetologischer Hinsicht als essentiell gelesen werden kann und einen entsprechenden Rest hinterlässt: »Lieber Bruder! ich tröste mein Herz mit allerlei Phantasien, ich reiche mir manchen Schlaftrank; und es wäre wohl größer, sich zu befreien auf immer, als sich zu behelfen mit Palliativen; aber wem geht’s nicht so? Ich bin denn doch damit zufrieden.«29 »Größer« handelt der bewunderte Empedokles, der dieses Palliativum verschmäht, da er den Freitod wählt. Auf ihn bzw. den Tod des Empedokles wird im Hyperion hingewiesen: [D]ie Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet! Und nun sage mir, wo ist noch eine Zuflucht? – Gestern war ich auf dem Ätna droben. Da fiel der große Sizilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach. O wie gerne hätt’ ich solchen Spott auf mich geladen! aber man muß sich höher achten, denn ich mich achte, um so ungerufen der Natur ans Herz zu fliegen, oder wie du es sonst noch heißen magst, denn wirklich! wie ich jetzt bin, habe ich keinen Namen für die Dinge und es ist mir alles ungewiß. 30
25 | Die Hölderlin-Lektüre deckt sich teilweise mit Leonhard Fuest: Hölderlins Palliative. Muße und Medikation im Hyperion. In Thorsten Unger u.a. (Hg.): Arbeit und Müßiggang in der Romantik. (Im Druck). 26 | Vgl. zu entsprechenden Kon- und Intertexten z.B. Christian Oestersandfort: Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung. Tübingen 2006, bes. S. 172ff. 27 | Zur traumatischen Medikation Hölderlins vgl. Jan E. Schlimme und Uwe Gonther: Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. In dies. (Hg.): Hölderlin und die Psychiatrie. Bonn 2010, S. 51-111, bes. S. 103. 28 | Vgl. nicht nur die Lobgesänge auf Hölderlin, sondern auch die therapeutischen Ambitionen in Bettine von Arnim: Die Günderode. Frankfurt a.M. 2006, S. 428f. 29 | Friedrich Hölderlin: Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen. In: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 2. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1994, S. 70. 30 | Ebd., S. 166.
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Ohne hier nun eine Interpretation des Hölderlinschen Empedokles einschieben zu wollen, sei wenigstens kurz auf den Stellenwert des Gifts hingewiesen. Theresia Birkenhauer hat das Gift in den Tragödienentwürfen sowohl als eine rhetorische als auch als dramaturgische Chiffre herausgestellt, ein poetisiertes Gift also, das gerade in seiner doppelten Notierung als todbringendes Übel und heilbringende Gabe essentiell ist: Demnach wäre vom zwiespältigen pharmakon zu sprechen, und zwar nicht zuletzt in der Weise, wie der »angebliche Schüler des historischen Empedokles, Gorgias von Leontinoi, [es] beschrieben hat: Wie der Arzt um die Wirkung der Pharmaka weiß und so Macht über den Körper gewinnt, weiß der Redner um die Wirkung der Rede und gewinnt Macht über die Seele.«31 Und im übersetzten Original heißt es: Wie nämlich von den Drogen (pharmaka) die einen diese, die anderen jene Säfte aus dem Körper austreiben und die einen der Krankheit, die anderen dem Leben ein Ende bereiten, so rufen auch von den Reden die einen Kummer, die anderen Vergnügen, weitere Furcht und wieder andere Zuversicht bei den Zuhörern hervor, und noch andere wirken wie Drogen auf die Seele ein und bezaubern sie durch schlechte Überredung. 32
All diese rhetorischen oder poetischen pharmaka kennt und nutzt Hölderlin. Und just von jenen faulen Zaubermitteln der »schlechten Überredung« wird sein Hyperion sich später noch mit Grausen abwenden und es mit der Athletik und Diätetik der Kriegsarbeit versuchen. Zunächst aber sei unterstrichen: Die hier konstatierte Bipolarität von Heilmittel und Gift korrespondiert mit den grundlegenden Bestimmungen der Schrift als pharmakon in Platons Phaidros33, jenem Dialog, den wir auch im Hintergrund des Hyperion annehmen dürfen. So lässt sich festhalten, dass Hölderlin in seinen parallel entstandenen Projekten Hyperion und Empedokles das pharmakon als Essenz der Heilkunde, der Schrift, Rhetorik und Poesie reflektiert. Empedokles übrigens vereinigt diese Aspekte in Person, da man ihn als pharmakos, als Heilbringer und Sündenbock, auffassen kann, der konfrontiert wird mit der Sprache als Gabe und Gift. Sein Freitod wäre im übertragenen Sinne die letzte Entgiftung eines Vergifteten, aber auch eine letzte Verausgabung eines Begabten.34 In jedem Fall erscheint der Freitod dieser Figur dem Hyperion vorbildlich, wenn auch nicht erreichbar. Auch er macht zwar im Zuge der letzten Schlacht den verzweifelten Versuch, im Kampf umzukommen, also gleichsam als pharmakos oder auch homo sacer35 eine Art von Selbstopferung vorzunehmen, aber es gelingt ihm nicht. Was ihm indes mit der Ankündigung seiner Verzweiflungstat gelungen ist, ist die tödliche Vergiftung Diotimas. Schon allein vor diesem Hintergrund nimmt es nicht mehr wunder, dass Hyperion nurmehr noch von Schlaftrunk und Palliativum spricht. Nachdem die gespro31 | Theresia Birkenhauer: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles. Berlin 1996, S. 405. 32 | Ebd., S. 312, FN. 281. 33 | Vgl. Platon, Phaidros, S. 55f. 34 | Vgl. Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 406f. 35 | Vgl. zu diesem Terminus Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002.
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chenen und geschriebenen Worte Heil und Gift gebracht haben werden, bleibt ein Schreiben, das sich in einem double-bind artikuliert und dabei offen lässt, ob es über gewisse poetologische Spezifizierungen seinerseits zum Palliativum taugt oder allererst dazu da ist, die Differenz zum natürlichen Stoff zu markieren, jenem Anderen der Sprache, das einfach wirken kann, weil es auf ein Ensemble überschaubarer und einfacher Elemente reduzierbar ist.
Palliativ und L e the Man wird das noch berücksichtigen müssen: Palliativum kommt von lat. pallium, das übersetzt »Mantel« bedeutet. Die Palliative ummänteln nurmehr das in unaufhaltsamer und irreparabler Trauer lebende und schreibende Subjekt, ohne es noch heilen zu können. Demnach wäre Hyperion ein pharmakologisch und poetologisch geschulter Patient und Diagnostiker zugleich. Die doppelte Bindung, die er zu seinem wesentlich differentiellen pharmakon Schrift unterhält, belehrt ihn nicht nur einfach über die Höhen und Tiefen, die diesem pharmakon eingeschrieben sind, sie ist ihm zugleich das einzige Medium, in dem er sich immer wieder neu konstituiert, ohne es freilich souverän bzw. vernünftig zu beherrschen, ohne also das Gift von der Gabe endgültig trennen und ohne sich selbst eindeutig positionieren zu können. Der double-bind des pharmakon kann nicht – um es in Anlehnung an die Résistances, Widerstände Jacques Derridas zu sagen – auf sich genommen werden, er kann nur ertragen werden.36 Der double-bind wäre zwar immer auch als pathologisches Stichwort denkbar, wichtiger aber ist er als Chiffre einer Passionsgeschichte, deren Elemente sich in keinem Sortiment stillstellen lassen. Damit aber wären wir endlich bei dem Konnex von Pathos, Passion, Passivität und Palliativität angekommen. Der Elegiker Hyperion ist mit dem ihm eigenen Pathos, welches ja nichts anderes als die Widerfahrnis bedeutet, in eine bestimmte Form der Passivität gezwungen. Die Klage bedarf der distanzierten Passivität und basiert mithin auf einer Analyse, die sich der Anschauung verdankt. Was sich dem Kläger und Analytiker dartut, ist zumeist das Übermächtige und Schicksalhafte, das ihm widerfährt. Seine Diagnosen müssen als Kehrseiten seiner Begeisterung gesehen werden, welche das Große hymnisch feiert: die Natur, die Freundschaft, die Liebe. Zwischen den Extremen der Begeisterung und Klage findet sich kein umrissener Ort der Ruhe, selbst da das Subjekt im distanzierten Modus der Anschauung verweilt. Die Sprachhandlung selbst gestattet keine Ruhe. Die Sprache ist das Medium der Heimsuchung, die auch und gerade dann stattfindet, wenn das Subjekt des Schlafes bedarf. Daher also das Bedürfnis nach Schlaftrünken, wenn die Stimmen der Phantome nicht verstummen wollen. Daher das Palliativum als letztes und profaniertes Mittel des Elegikers, um im Schlaf Atem zu holen. Das Palliativum und/als Schlaftrunk ersetzt nun vor allem ein berühmtes, mythologisch ›getestetes‹ Schlafmittel: die Lethe. Hyperion setzt den Fluss und die Flüssigkeit der Lethe in einem mythopharmakologischen Vergleich über den »edeln Freudenwein«, in welchen sich das »gärende Leben« angeblich verwandeln
36 | Vgl. Jacques Derrida, Widerstände, S. 177.
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soll, nachdem »unsere Hefe gesunken« sei.37 Diesem profanen Versprechen oder Angebot setzt Hyperion Uranias und zuletzt Diotimas Lethe entgegen: Sie war mein Lethe, diese Seele, mein heiliger Lethe, woraus ich die Vergessenheit des Daseins trank, daß ich vor ihr stand, wie ein Unsterblicher, und freudig mich schalt, und wie nach schweren Träumen lächeln mußte über alle Ketten, die mich gedrückt. O ich wär ein glücklicher, ein trefflicher Mensch geworden mit ihr!38
Harald Weinrich erinnert an das »Geschlecht der Nacht«, welchem die Lethe entstammt, und daran, dass Lethes Mutter die »Zwietracht (griechisch Eris, lateinisch Discordia) [ist] – das ist der dunkle Punkt in dieser Verwandtschaft.« Vor allem aber sei die oder der Lethe der »Name eines Unterweltflusses«, »der den Seelen der Verstorbenen Vergessen spendet. […] In seinem weichen Fließen lösen sich die harten Konturen der Wirklichkeits-Erinnerung auf und werden so liquidiert.«39 So wichtig auch Hyperion – und die diversen Nennungen der Lethe im Text bezeugen dies – die Lethe als mythische und pharmazeutische Referenzfigur ist, so wenig lässt er mit seinem dunklen Nachsatz im Konjunktiv daran zweifeln, dass die Zwietracht als Mutter der Lethe dem Vater des Krieges zugetan gewesen sein wird; und angesichts dieser unheiligen Allianz ist das Heilsversprechen schon kein Versprechen mehr, sondern nurmehr noch verschütteter Wein. Hienieden gibt es kein Vergessen in der und durch die Liebe, auch weil sie diesseits oder jenseits der Rhetorik keinen körperlichen Ausdruck findet im Gegensatz etwa zu den Kriegshandlungen.
P oleros und Panacee Dem früh sich abzeichnenden, fatalen Vergiftungsprozess zum Trotz soll es mithin über Selbsttechniken, eine bestimmte Körperarbeit, eine Athletik und Gymnastik gerichtet werden – das Schicksal. Und es wäre auch in rhetorischer Hinsicht vom polemos zu schwärmen, gerade weil man ihn (auf)mischen könnte mit einem gewissen poleros 40, welcher in den Krieg um Unabhängigkeit ein unheimliches Begehren einschreibt. Es ist der Krieg selbst, der Hyperion zunächst einmal als das Komplement der wahren Liebe erscheint. Er nennt ihn Arbeit, weil er ähnlich wie Schlegels Julius glaubt, man müsse sich die wahre Liebe erarbeiten. Zwischen Liebe und Krieg baut Hyperion also die Brücke der Arbeit. So schreibt er an Diotima: »Beim Himmel! ich bin überreif zur Arbeit. Meine Seele tobt nur gegen sich selbst, wenn ich nicht bald durch ein lebendiges Geschäft mich befreie. Hohes Mädchen! wie konnt ich bestehen vor dir? Wie war dirs möglich, so ein tatlos Wesen zu lieben?«41 Und so dreht sich alles um Kriegsarbeit, die legitimiert wird durch Freiheits- und Unabhängigkeitsideale. Der einstige »müßige Hirtenknabe« lässt nun die Kontempla37 | Hölderlin, Hyperion, S. 68. 38 | Ebd. 39 | Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997, S. 18f. 40 | Derrida, Widerstände, S. 139. 41 | Hölderlin, Hyperion, S. 118.
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tion hinter sich, nicht indes, wie Diotima es wollte, um Lehrer zu werden, sondern um zu arbeiten wie sein Vorbild Alabanda, der »in lebendiger Arbeit die Natur erprüfte und mit Meer und Luft und allen Elementen schon rang«.42 Das Ringen mit den Elementen, auf denen der ganze Text ja auch in poetologischer (vielleicht auch poetopharmakologischer) Hinsicht fußt, ist also an die Stelle ihrer differenzierenden Beobachtung und Beschwörung getreten. So kommt es zu einer Ebnung der Differenz im Namen des revolutionären und emanzipatorischen Gewaltakts – zu einer Verheerung ethischer und poetischer Qualitäten: wie der Muße, aber auch der Theorie und Poesie: Ich bin zu müßig geworden, rief ich, zu friedenslustig, zu himmlisch, zu träg! – Alabanda sieht in die Welt, wie ein edler Pilot, Alabanda ist fleißig und sucht in der Woge nach Beute; und dir schlafen die Hände im Schoß’? und mit Worten möchtest du ausreichen, und mit Zauberformeln beschwörst du die Welt? Aber deine Worte sind, wie Schneeflocken, unnütz, und machen die Luft nur trüber und deine Zaubersprüche sind für die Frommen, aber die Ungläubigen hören dich nicht. – Ja! sanft zu sein, zu rechter Zeit, das ist wohl schön, doch sanft zu sein, zur Unzeit, das ist häßlich, denn es ist feig!43
Nun also regiert die Streitaxt. Theorie, Poesie – nunmehr keine Gaben mehr, sondern nur noch Gifte, Drogen im schlechten Sinne, unnütze und faule Zauberformeln, die den Willen zur Tat vergiften. Und so kann Hyperion bald das attente antidot präsentieren, das jenes »Glück« erzeugt, dass er »in voller Arbeit lebe.«44 Und tatsächlich kommt es dann auch zu Beschreibungen eines strukturierten Arbeitstages, an welchem Hyperion mit seinem Heer den Kampf übt und Strategien ersinnt – wirksame übrigens: Wir nehmen dem Zufall die Kraft, wir meistern das Schicksal. Wir lassen Widerstand nach unserem Willen entstehn, wir reizen den Gegner zu dem, worauf wir gerüstet sind. Oder sehen wir zu und scheinen furchtsam und lassen ihn näher kommen, bis er das Haupt zum Schlag uns reicht, auch nehmen wir ihm mit Schnelle die Fassung und das ist meine Panacee. Doch halten die erfahrneren Ärzte nichts auf solche allesheilende Mittel.45
Polemos wird zum Panacee, zum Allheilmittel, auch wenn der nüchterne Verstand sich der medizinischen Einreden erinnert. Das Panacee des buchstäblichen Kriegs dürfte (freilich nur für den Bedürftigen) der Tod sein. Und auf ihn läuft es hinaus. Hyperion macht es etwas umständlich: Er wird die Variante des Freitods nach dem Vorbild des Empedokles als letzte Gabe und Gift in Betracht ziehen, erst da das Kriegsideal von der barbarischen Wirklichkeit eingeholt wird. Das impliziert: Der emanzipatorische Arbeitsbegriff (der wichtig ist für die Konstituierung des modern werdenden Subjekts – übrigens samt einer disziplinarischen Drogenpolitik) wird in einem desaströsen Kriegsrausch korrumpiert. Und eben dieses Resultat lässt Hyperion »den sogenannten Tod suchen«, auch weil er nicht zur Normalität des bürgerlichen Lebens zurückmag: »Sind wir denn, wie leibeigene 42 | Ebd., S. 117. 43 | Ebd., S. 107. 44 | Ebd., S. 121. 45 | Ebd., S. 126.
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Knechte, an den Boden gefesselt, den wir pflügen?« 46 Auch dann noch wird übrigens die Sprache als »großer Überfluß« 47 kein Heil mehr bieten. Deshalb versucht Hyperion sich in den Tod zu schicken, wie einen homo sacer oder pharmakos. Und er sendet diesen Tod auch an Diotima, er gibt ihr seinen und nicht nur seinen, sondern auch ihren Tod. Nicht zuletzt hier, angesichts der Briefe samt ihrem pharmakon Schrift, wird das »Tropium« 48 zum Gift, da es weit weg von der realen Schlacht tödlich wirkt. Die Briefe an Diotima wetteifern um Leben und Tod: Der Brief mit dem Sterbensvorsatz wird nicht mehr eingeholt von dem Brief mit dem Lebensvorsatz. Das Gift, das Hyperion Diotima schickt, ist stärker als das Gegengift. Was für die Schlacht gilt, gilt auch für den Briefverkehr (jenseits des Lustprinzips): »So straft ein Gift das andre […].«49 Und obwohl der schwerverletzte und untote Hyperion noch einmal nach alter Manier die heilsamen Elemente müßiger Naturschau beschwört, die bei allem Streben und Sinnen doch immer schon da sind, laboriert doch auch diese botanische Balsamierung an des Schreibens Überfluss, worin kein trockenes Plätzchen mehr zu finden ist. Nun bleibt als Orientierung nur noch das Leben im Dazwischen, der Blick gerichtet auf das »Schattenland«, dem kaum eine rechte »Heilkraft« zugesprochen wird.50
C hirons R este Zum Schluss gibt es Asche. Diotima schreibt kurz vor ihrem Tod: »Dein Mädchen ist verwelkt, seitdem du fort bist, ein Feuer in mir hat mählich mich verzehrt, und ein kleiner Rest ist übrig. Entsetze dich nicht! Es läutert sich alles Natürliche, und überall windet die Blüte des Lebens freier und freier vom gröberen Stoff sich los.«51 Und so ist das Produkt des Hyperionschen Feuers seine Schrift selbst als hypomnestische Aschespur. Schließlich erinnert er sich, dass er, nachdem er noch einmal Diotimas jenseitige Stimme gehört hatte, daraufhin selbst »Worte sprach […], wie mir dünkte, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es auffliegt und die Asche hinter sich läßt –.«52 Die doppelte Qualität dieses pharmakon Schrift zeigt sich nun auch darin, dass es Diotimas Stimme – wie gesagt: aus dem Jenseits – archiviert und iterierbar macht – nicht also ohne einen gewissen phantomartigen Effekt: »Ein sanfter Schrecken ergriff mich und mein Denken entschlummerte mir.«53 Damit schließt sich der Kreis dieser Passionsgeschichte: Der auf Diotimas Einflüsterung einsetzende Schrecken und Schlummer findet seine stoffliche Entsprechung und Wiederholung in der Einnahme der Schlummertrünke und Palliative. Das wäre der stoffliche Rest, symbolisch oder vielleicht nur metonymisch von
46 | Ebd., S. 135. 47 | Ebd., S. 132. 48 | Ronell, Drogenkriege, S. 41. 49 | Hölderlin, Hyperion, S. 138. 50 | Ebd., S. 148. 51 | Ebd., S. 158. 52 | Ebd., S. 174. 53 | Ebd.
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der Asche durchmischt, die das Feuer der Kriegs- und Sprachhandlungen hinterlässt. Die Palliative, die vorübergehend Linderung bringen, verweisen auf die Unheilbarkeit oder auch Permanenz der Krise, die bei Hölderlin psychologisch und politisch (bio- und narkopolitisch) zu lesen ist. Trotzdem oder gerade deshalb setzt er diese Krise auf die Gesetzestafel der Natur – eine Erkenntnis, die ausgerechnet der Zustand der Muße gewährt. Das gleichnamige Gedicht Die Muße (von 1797 oder 1798) ruft nämlich in der zweiten Strophe den »geheime[n] Geist der Unruh« auf. Dieser »alte Erobrer« sei es, Der die Städte, wie Lämmer, zerreißt, der einst den Olympus Stürmte, der in den Bergen sich regt, und Flammen herauswirft Der die Wälder entwurzelt und durch den Ozean hinfährt Und die Schiffe zerschlägt und doch in der ewigen Ordnung Niemals irre dich macht, auf der Tafel deiner Gesetze Keine Sylbe verwischt, der auch dein Sohn, o Natur, ist Mit dem Geiste der Ruh’ aus Einem Schoße geboren. – 54
Dass die Muße und mit ihr die Theorie wie Poesie nie unbeanstandet sind (letztere sind, wie angedeutet, vergleichbar mit jenen Drogen, die in der Moderne dann besonders scharf verurteilt werden, wenn sie dem Arbeitsideal in die Quere kommen), vielfach bedroht von Unruhe und Aggression – das zeigt Hölderlin übrigens auch in seinem Nachtgesang Chiron, worin der gleichnamige Zentaur auftaucht als ein Heiler, der sich mit den »Kräutern des Walds« 55 gut auskennt, gleichwohl fast umnachtet ist, auch weil er vergiftet wurde – und alle Kräuter der Welt gegen dieses Gift nicht ankommen. Der Mythos besagt, dass Herakles ihn versehentlich mit einem giftigen Pfeil (mit Schlangengift) verwundet habe. Hölderlin münzt nun diesen Zufall ins Schicksalhafte um, womit der für die vielleicht heilsame Theorie, Wissenschaft und Dichtkunst stehende Chiron das Gift als notwendiges Distinktionsmerkmal gegenüber der Sphäre der Praxis markiert, für die der Held Herakles steht.56 Tat und Theorie sind mithin vom pharmakon getrennt und durch selbiges verbunden. Das pharmakon wird hier zum Medium. In der doppelten Beschaffenheit dieser modernen Mitgift spiegelt sich das schöpferische Motiv des Theoretikers ebenso wie seine Zerrissenheit und Hilflosigkeit: Nun sitz’ ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe schafft, Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun;
54 | Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. In: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 1. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992, S. 196. 55 | Ebd., S. 314. 56 | Vgl. auch den Stellenkommentar des Herausgebers, ebd., S. 804.
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Poetopharmaka Und ferne lausch’ ich hin, ob nicht ein Freundlicher Retter vielleicht mir komme. 57
Zum Ausgang des auch im Fall Chiron steckenden double-bind formuliert Burdorf die Hoffnung: »Der Schmerz der Zweigestaltigkeit des Lehrers kann […] möglicherweise überwunden werden, sofern nicht Helden, sondern Heilkünstler als die prominentesten Schüler des Kentauren erkannt werden.«58 Vielleicht wird man es nüchterner wenden müssen: Allein das pharmakon überlebt in seiner zwieschlächtigen Figuralität und Medialität. Und Hyperion weiß das und arrangiert sich. Man erinnere sich: Mit den Palliativen ist er doch ganz »zufrieden«. Das folgt zunächst der Einsicht, dass das Palliativum das einzige Mittel ist, das weder großes Heil- noch Gegenmittel ist und keinerlei Auf-Lösungen bietet, sondern einen kleinen Rest bezeichnet, der wie und als ein Stoff (Mantel) für etwas Schutz und Linderung sorgt. So wie Hyperion die nicht aufgehende Rechnung mit der unberechenbaren Natur gemacht hat, so sind ihm auch die unberechenbaren Effekte der Schrift bekannt geworden. Mag es einerseits der Wein sein, der zur rechten Zeit genossen, eine Mußestunde einleiten kann, in welcher das Entziffern der Hieroglyphen der Natur zu einem Spiel wird, das in derselben Weise mit dem pharmakon Schrift gespielt wird, so kann es andererseits eine Briefzeile sein, die die zarteste wie robusteste Natur zu Fall bringt. Schwer (voraus) zu sagen, wie sich die natürlichen und poetischen Elemente mischen und wie sie wirken. Es ist zu resümieren, dass Hölderlins Differenzierungen keinem Kalkul, keiner Hoffnung auf eine Lösung, unterliegen, sondern stattfinden und in der Schwebe lassen, was an ihnen Symptomatik und was Analytik ist. Und gerade in diesem Wechselspiel behaupten sie sich selbst als poetopharmaka: Das eben, Lieber! ist das Traurige, daß unser Geist so gerne die Gestalt des irren Herzens annimmt, so gerne die vorüberfliehende Trauer festhält, daß der Gedanke, der die Schmerzen heilen sollte, selber krank wird, daß der Gärtner an den Rosensträuchern, die er pflanzen sollte, sich die Hand so oft zerreißt, o! das hat manchen zum Toren gemacht vor andern, die er sonst, wie ein Orpheus, hätte beherrscht, das hat so oft die edelste Natur zum Spott gemacht vor Menschen, wie man sie auf jeder Straße findet, das ist die Klippe für die Lieblinge des Himmels, daß ihre Liebe mächtig ist und zart, wie ihr Geist, daß ihres Herzens Wogen stärker oft und schneller sich regen, wie der Trident, womit der Meergott sie beherrscht, und darum, Lieber! überhebe sich ja keiner. 59
57 | Ebd., S. 314. 58 | Dieter Burdorf: »… ein schmerz,/Wenn einer zweigestalt ist«. Zu Hölderlins Ode Chiron. In: Hölderlin Jahrbuch, 36, 2008-2009. Tübingen 2009, S. 139-151, hier S. 150. 59 | Ebd., S. 48.
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M oderne D rogerien Um nun den Sprung in die Moderne zu wagen, sollte die essentielle und letztlich durch nichts zu kontrollierende Rhetorizität des poetopharmakon im Blick bleiben – nur etwas weiter ver-rückt in jene unheimliche und parasitäre »Rhetorik der Droge«60. War schon in Hölderlins überbordenden Entwicklungen immer neuer Heil- und Rauschmittel kaum noch Halt zu finden, so verschärft und profaniert der ausgemachte Drogendiskurs zugleich die zwielichtige Ambivalenz des pharmakon. Aus dem 19. und 20. Jahrhundert sollen gleichsam in erster Lesung ein paar kanonische Drogentexte hinzugezogen werden (die zweite Lesung findet sich unter den kosmopharmaka). Im Zuge der folgenden Überlegungen61 soll es aber weiterhin nicht um eine literarhistorische Motivsammlung gehen, sondern um eine intensive Befragung der modernen conditio humana, die von Rauschgiften und Betäubungsmitteln so tief gezeichnet scheint, dass bereits das entsprechende Subjekt kaum mehr etwa psychoanalytisch zu perspektivieren ist, stattdessen durchaus pharmakoanalytisch.62 Dem toxischen Subjekt der Moderne, das immer weniger bei der Konstituierung seiner selbst mitzureden hat, überdies, freilich spielerisch, Literatur und Philosophie als pharmaka zu verschreiben, ließe sich auch als alexipharmazeutische Maßnahme beschreiben. Es müsste indes zuvor eine Lektüre entwickelt werden, die es erlaubt, die toxischen Rückstände gerade dort ernst zu nehmen, wo sie über jede Dialektik hinaus den Stoff bilden, aus dem die Widerstände sind, die allererst der Integrität und Immunität des Subjekts zuarbeiten könnten.
F auler H asch -Z auber Von wichtigen modernen Dichtern und Denkern der Droge63 erfährt man gewiss am meisten über die Qualitäten des Rausches, die sich jenseits der scheinbar nüchternen Arbeitswelt samt ihrer Moral entfalten. Drogen und Literatur weisen per se Gemeinsamkeiten in Sachen »Desozialisierung«64 auf, womit immerhin ex negativo eine Lozierung dieser Stoffe und Protagonisten vorgenommen ist: am Rande oder gar jenseits der (bürgerlichen) Arbeits- und Disziplinargesellschaft. Die hier 60 | Derrida, Rhetorik der Droge. 61 | Diese Drogenlektüren haben zu Teilen Vorläufer in Leonhard Fuest: Toxische Muße. Von wirksamen Rückständen in Literatur und Theorie. In: Mirko Gemmel und Claudia Löschner (Hg.): Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur. Berlin 2014. 62 | Für eine umfassende »Pharmako-Analyse« treten auch ein Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992. S. 386. 63 | Wenn man von Drogen in der Literatur sprechen will, dann fällt rasch auf, dass die wichtigsten Vertreter aus weitreichenden historischen Gründen nicht zuerst in der deutschsprachigen Literatur zu finden sind, sondern vielmehr in englischsprachigen und französischen Texten. Autoren wie Baudelaire, de Quincey, Artaud, Burroughs, Huxley, Michaux etc. qualifizieren besonders eindrücklich Substanzen und Wirkungen. Vgl. hierzu Stephan Resch: Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Frankfurt a.M. 2007. S. 7f. 64 | Ronell, Drogenkriege, S. 135.
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zu betrachtenden Drogentexte entziehen sich überdies der Kontrolle, nicht nur indem sie bewusst ein pathetisches Fest der Distanz feiern, sondern ausgerechnet auch, indem sie in gewisser Weise verführen: zu müßigen Rhythmen und Taktlosigkeiten. Warum daher nicht von einem faulen Zauber sprechen? Solcherart mag der Drogenrausch in alltäglichem Sprachgebrauch disqualifiziert werden; es kann aber auch die Qualität eines Zaubers (einer Magie, eines pharmakon) gerade da erhellt werden, wo er solche Sensationen offenbart, die nur im Zustand der Passivität erfahrbar sind.65 Das trifft freilich nicht auf alle Drogen zu. Aber zum Beispiel auf Haschisch. In Les Paradis artificiels (1860) zeigt sich Charles Baudelaire bis heute als einer der präzisesten Psychologen und Poetologen der Droge. Bereits im ersten Teil zum Haschisch führt er den Leser ins Zwielicht: Er würdigt die ästhetische Qualität des Rausches, problematisiert aber auch die Schwächung des Willens durch das Haschisch. Zwar bestehe das Verdienst der Droge darin, die »Einbildungskraft« zu steigern, gleichzeitig aber lähme sie das Vermögen, »sich diese zunutze zu machen.«66 Die Droge verbannt ihren Konsumenten mithin in die Passivität, schlimmstenfalls in die Ohnmacht, eine Wirkung, die er auch für das Opium behauptet. Diese unökonomische Passivität gepaart mit der Flüchtigkeit der rauschhaften Sensation scheint ihre Aufwertung in der literarischen Verarbeitung selbst zu finden. Was also macht der Dichter aus dem Rausch? Zunächst einmal: Nicht jedermann ist nach Baudelaire geeignet für den Haschischrausch. Allein dem traurigen und empfindsamen Geist ist es vergönnt, die mächtigen Intensivierungen seiner Wahrnehmungen zu erfahren. Und so kann sich Ungewöhnliches ereignen: An einer Stelle etwa beschreibt er die berauschte Verlebendigung eines Gemäldes, während derer es dazu kommt, dass die dort dargestellten »Nymphen in leuchtenden Fleischtönen […] einen mit großen Augen voll tieferer Klarheit als Himmel und Flut« betrachten67. Diese Nymphen wie die später herbeizitierte Undine signieren vor allem das Element des Wassers, das Baudelaire für das wichtigste Element des Rausches hält. Das Wasser ist das verführerische und verderbliche Hauptelement der narkotischen Szene – und der Dichtung selbst.68 Und es wäre hier nicht nur an die zwielichtige Quellnymphe Pharmakeia zu erinnern (von der noch zu sprechen ist), sondern auch, wie es Cornelia Wild in ihrer Baudelaire-Lektüre zeigt, an die Mythologie und Etymologie des Narzissmus: Narcissus bzw. Narkissos geht auf grch. narkê, Schlaf, Betäubung, zurück.69 Der Blick des Narzissus ins Wasser ist ein narkotischer: Denn während Narziss trank, so die Ovidsche Urszene, berückte ihn, der nicht wusste, dass allein der Wasserspiegel ihn äffte, der Anblick seiner schönen Gestalt dermaßen, dass sein staunen65 | Zu den bereits in der antiken pharmakon-Semantik steckenden Aspekten des Zaubers vgl. auch Hermann Herlinghaus: Pharmakon und pharmakos. Annäherung an ein literarisches Feld epistemischer Grenzerweiterung. In: Ottmar Ette (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Berlin, Boston 2012. S. 128-141, hier S. 135. 66 | Charles Baudelaire: Die künstlichen Paradiese. In ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Band 6. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois. München, Wien 1989. S. 101. 67 | Ebd. S. 89. 68 | Zum Element Wasser und der dazugehörigen Nymphe in der Literatur vgl. Roberto Calasso: Die Literatur und die Götter. Übers. von Reimar Klein. München 2003, bes. S. 35. 69 | Cornelia Wild: Später Baudelaire. Praxis poetischer Zustände. München 2008. S. 193.
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der Blick und sein ganzer Körper erstarrten.70 Und man kann auch dies folgern: Drogen sind mit ihrer Tendenz, ganz auf die Verführung und Befriedigung des konsumierenden Egos zu setzen, gleichsam narzisstische Substanzen. Und dies mag auch dann gelten, wenn das Ich sich in der narkotischen Sensation zu verlieren scheint, wie das Baudelaire einmal mittels einer Poe-Passage nachgehalten hat: Stundenlang saß ich in unermüdliches Nachdenken versunken über einem kindischen Zitat am Rande oder im Text eines Buches, das mich nicht losließ; – oder ich betrachtete geistesabwesend lange Sommerstunden hindurch einen seltsamen Schatten, der sich schräg über die Wandbespannung oder den Fußboden schob; – eine ganze Nacht hindurch starrte ich in die aufrechte Flamme einer Lampe oder in die Glut des Kamins; – ganze Tage verträumte ich über dem Duft einer Blume; – eintönig wiederholte ich mir irgend ein gewöhnliches Wort, bis sein Klang, aber- und abermals wiederholt, aufhörte, dem Geist noch etwas, das auch nur von ferne einem Sinn glich, zu bieten […].71
Die Leere, die sich gleichsam meditativ über die Wiederholung herstellt, füllt eine narko-narzisstische Szenerie, die wie eine Insel im Strom der rasenden Moderne liegt. Der verlangsamte Rausch wahrt eine eigenartige Unschuld, und so bleibt Baudelaires Blick geprägt von einer Faszination, die zwar die kritische Distinktion des nüchternen und eben auch ökonomischen Blicks nicht aufzuheben vermag, die aber auch seine schlussendlichen Aufrufe zur Arbeit und Hygiene nicht überzeugend wirken lassen.72 Und das hat wiederum nicht einfach etwas mit einer labilen Affektlage zu tun, sondern mit den persuasiven Potenzen, die in der Ästhetisierung bzw. Inszenierung des Rausches qua Literatur stecken. Bei Baudelaire tritt also eine trunkene Melancholie in Kraft, die die Standbilder der Moderne meißelt, welche so traurig wie spöttisch die Bemühungen des nüchternen Diskurses belächeln. Zu diesem Behufe wird eine der wirkmächtigsten Tropen der Melancholie auf den Plan gerufen: die Allegorie, welche den Rausch gleichsam adelt. Die Allegorie bezeichnet Baudelaire nämlich als eine »der ursprünglichsten, natürlichsten Formen der Poesie«, welche in der »vom Rausch erleuchteten Intelligenz ihre rechtmäßige Herrschaft zurückgewinnt. Das Haschisch überzieht dann das ganze Leben wie mit einem magischen Firnis, es verleiht ihm feierliche Farben und erhellt es in seiner ganzen Tiefe.« 73 Und selbst die Grammatik wird so »eine Art beschwörender Zauberkunst; die Worte erstehen von den Toten mit Fleisch und Bein bekleidet, das Substantiv in seiner substantiellen Majestät, das Adjektiv, ein durchscheinendes Gewand, das die Dinge wie eine Glasur umhüllt und färbt, und das Verbum, der Engel der Bewegung, der den Satz vorantreibt.« 74 Solche Verschränkung von Droge als Substanz und Trope darf nicht nur als Beleg dienen für eine schwerhäuptige Schwärmerei eines aus dem Ruder laufenden Subjekts am Beginn der Moderne, sondern trägt dazu bei, die Verlockungen 70 | Ebd. 71 | Baudelaire, Die künstlichen Paradiese, S. 86. 72 | Zu diesen Widersprüchen vgl. auch Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008, bes. S. 104. 73 | Baudelaire, Die künstlichen Paradiese, S. 90. 74 | Ebd.
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der reinen und natürlichen Muße nüchtern zu sehen, da von Stund an auch die Paradiese nurmehr als künstliche installiert sind. Die moderne Literatur setzt also an die Stelle der Kontemplation den faulen Zauber, der einerseits schon gewisse Züge einer morbiden Phantasmagorie trägt, andererseits auf die Kraft der narzisstischen Verführung setzt. Dieses poetische oder mediale Narkotikum lockt, nimmt ein und stellt still. Aber, wohlgemerkt, das alles geht bislang nur über den Rückgriff auf die profane Substanz. Und das kann selbst den müßigen Dichtern nicht als ultima ratio genügen.
G if tige R hy thmen Einer der besonders neugierigen Nachfahren Baudelaires in Sachen Kunst und Droge ist gewiss Henri Michaux, der in seinem Buch Unseliges Wunder. Das Meskalin ein Kapitel zum indischen Hanf verfasst, um seine Erfahrungen mit dieser Droge von denen mit Meskalin abzugrenzen. Bemerkenwert sind für ihn die »Ruhestunden der großen abschließenden Reglosigkeit (Kif bedeutet im Arabischen Ruhe), wo man nicht einmal den Arm heben würde, um eine bevorstehende Sintflut abzuwenden.« 75 Auch wenn er in seinen weiteren Qualifizierungen der Rauschzustände noch zu dynamischeren Bildern greift, in denen er meint, »das Haschisch zu Arbeiten veranlassen« 76 zu können, bleibt doch eine Szene am bemerkenswertesten: In einer inneren Schau sah ich einen aufgebaumten Wiedehopf, der sich anschickte, seine Beute zu verzehren. Der Abstand zwischen der äußersten Spitze seines Schnabels, in dem er einen Wurm hielt, und seiner Kehle, durch die der Wurm hindurch sollte, stürzte mich in eine unsägliche Meditation, die ständig intensiver wurde durch diejeinge des reglosen Vogels, denn auch er dachte nach, in einer Zeit, die unermeßlich zu sein schien, die dennoch nicht auszureichen schien für die Lösung des schwierigen Problems, das uns erstarren ließ, den Vogel und mich, die wir beide unwahrscheinlich ruhevoll und aufmerksam waren.77
Angesichts dieser »Unermesslichkeit« ist sich Michaux der Tatsache sehr wohl bewusst, dass es beim Drogenkonsum um Wirkungen auf Wahrnehmungsmodalitäten geht. Er bestätigt damit die These von Deleuze und Guattari: »Wenn Drogenexperimente jeden gezeichnet haben, auch diejenigen, die keine Drogen nehmen, so deshalb, weil sich dadurch die Wahrnehmungskoordinaten von Raum und Zeit geändert haben […].« 78 Es wäre nun zuzuspitzen: Vor allem die hohen Geschwindigkeiten der Moderne sind ihrerseits womöglich nichts anderes als Produkte einer toxischen Hexerei und nur in Ausnahmfällen über den faulen Zauber eines literarisch auf bereiteten Haschischrausches zu drosseln. Michaux betont noch einmal zu letzterem: »Keine fieberhafte Unruhe plagt uns. Das Innere des Kopfes, dieser Ort der Metaphysik 75 | Henri Michaux: Unseliges Wunder. Das Meskalin. Übers. von Gerd Henniger. München, Wien 1986. S. 93. 76 | Ebd., S. 89 77 | Ebd. 78 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 339.
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und des Kalküls, ist vielleicht das einzige, was ich an diesem kaum bekannten Haschisch vermissen werde, wenn ich es aufgebe.« 79 Ein schon ironischer Widerstreit zwischen Kalkül und Rausch findet hier hinter wechselnden Masken ein und desselben Kopfes statt. Der Substanz zu entraten, läuft auf den Verlust der Rechnung hinaus, was freilich unglaubwürdiger klingt als der Eindruck, mit dem Stoff entwiche auch die Metaphysik aus dem geplagten, nüchternen Hirn. Aber das sind womöglich nur müßige Nebelwerfereien. Daher zurück in die konkretere Zeiterfahrung, zurück zu jener unermesslichen Langsamkeit, die der Haschischrausch verstattet und welche schon der wachsenden Geschwindigkeit einer produktiven, scheinbar rational funktionierenden und scheinbar nüchternen Welt entgegensteht: Offenbar gibt es hier Probleme mit Takt und Maß. Dass Drogen (ob substantieller oder nonsubstantieller Provenienz) in dem Maße negative Effekte zeitigen, in dem sich die Geschwindigkeiten der Wahrnehmung erhöhen, scheint hier, wie gesagt, das weit größere Problem zu sein als gewisse ökonomische Verwirrungen, für die das müßige Haschisch sorgt. Selbst und vielleicht ausgerechnet die Nüchternen können unter bestimmten Autotoxikationen leiden: Gefühle, die passenderweise schlechte genannt werden, fördern vielleicht gleichfalls die Bildung gewisser Nerventoxine, die geeignet sind, die Kontrollen negativ zu beeinflussen, indem sie eine Beschleunigung, eine Überstürzung von Vorstellungen und Eindrücken auslösen, welche das Urteilsvermögen, das unfähig ist, letztere in Betracht zu ziehen, lähmt und verwirrt. Nicht mit fortgerissen werden, sondern Herr über die eigene Geschwindigkeit zu bleiben, würde demnach, ob die Beschäftigungen der Menschen nun metaphysischer Natur oder erdgebunden sind, ihre untergründige Sorge, ihre geheime und beständige Aufmerksamkeit sein. 80
Ein konkretes »Gegengift« verrät Michaux übrigens auch, das er einsetzt gegen alle überstürzenden und darin erst qualvoll lähmenden Effekte: die »Rhythmen« 81. Bei ihm waren es besonders die musikalischen Rhythmen, die ihn einmal aus einem maßlosen Meskalintrip befreit haben.82 Und auch diese Beobachtung verleitet zu einem Innehalten. Ein weiterer prominenter Haschischkonsument erzwingt dies: Die allererst ästhetisch zu qualifizierenden Rhythmen als Gegengifte gegen die entfremdete Taktung, welche die Moderne für die Arbeitenden und Süchtigen (zwischen denen keine substantiellen Unterschiede bestehen müssen) vorgesehen hat, nimmt nämlich auch Walter Benjamin ernst, da er von der »rhythmischen Seligkeit« seines poetisierten Rausches schwärmt: Man müßte, um den Rätseln des Rauschglücks näher zu kommen, über den Ariadne-Faden nachdenken. Welche Lust in dem bloßen Akt, ein Knäuel abzurollen. Und diese Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust. Wir gehen vorwärts; wir entdecken dabei aber nicht nur die Wirkungen der Höhle, in die wir uns vorwagen, sondern genießen 79 | Michaux, Unseliges Wunder, S. 95f. 80 | Ebd., S. 146f. 81 | Ebd., S. 140. 82 | Vgl. ebd., S. 141.
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Poetopharmaka dieses Entdeckerglück nur auf dem Grunde jener anderen rhythmischen Seligkeit, die da im Abspulen eines Knäuels besteht. Eine solche Gewißheit vom kunstreich gewundenen Knäuel, das wir abspulen – ist das nicht das Glück jeder, zumindest prosaförmigen, Produktivität? Und im Haschisch sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz. 83
Auch hier bleibt zunächst einmal die Substanz der Droge bedeutsam, ohne welche das moderne, künstliche Paradies nicht denkbar ist, das seinerseits umwölkt von allegorischen Potenzen im Reich der Zeichen seine ansprechende Heimstatt findet. Statt nun aber an dieser Stelle die weitere Ausleuchtung der Allegorie zu betreiben, soll dem Rhythmus wie einer Gift-gift-Spur gefolgt werden. Das lohnt sich, weil ausgerechnet über den Rhythmus die Substantialität der Droge überführbar wäre in eine andere Art des Essentiellen. Anders ausgedrückt: Gerade über den Rhythmus wären Drogen substituierbar.
B e wusstsein als D roge Für diese These ist es sinnvoll, die Frage nach Rhythmen in berauschter oder nüchterner Ästhetik vor dem Hintergrund des Begriffs der »Idiorrhythmie« zu diskutieren, wie ihn Roland Barthes in seinem Buch Wie zusammen leben erläutert: Dieses »Phantasma« der »Idiorrhythmie«, ein Wort, das sich aus griechisch »idios«, eigen, eigentümlich, und »rhythmos« zusammensetzt 84, sieht Barthes in einem »negative[n] Verhältnis zur Macht« 85. »Was die Macht in erster Linie auferlegt, ist ein Rhythmus (von allem möglichen: des Lebens, der Zeit, des Denkens, des Diskurses).« 86 Demnach wäre also auch die dezidierte Eigenrhythmik des Rauscherlebens dadurch zu charakterisieren, dass sie sich vor allem der Macht entzieht, auch und gerade weil sie sich dieser als »allgemeine Unbeständigkeit« 87 gegenüberstellt. Der Müßiggänger, der Berauschte und der Künstler sind also bestenfalls Idiorrhythmiker – bestenfalls deshalb, weil zumindest der Drogenkonsument just dann, wenn er süchtig geworden ist, womöglich einen grausameren Arbeitgeber und Machthaber kennenlernt als jeder Fließbandarbeiter. Deshalb ist auch nicht unbedingt diese oder jene Substanz das geeignete Gegengift zu Macht und Entfremdung, sondern der Rhythmus als ästhetisches und strukturelles Phänomen selbst. Interessant ist dabei, dass hiermit ein eigenständiger Essenzbegriff ästhetischer Provenienz am Horizont auftaucht. Auf dem Weg dahin ist zunächst folgender Abzweigung zu folgen: Roland Barthes formuliert durchaus kein Plädoyer für Drogen, macht sich stattdessen daran, all die positiven Eigenschaften, die bestimmte Drogen der Raserei der Moderne entgegensetzen, intellektuell zu substituieren. In seinem Buch Das Neutrum behauptet er: »Ich fasse Bewußtsein (das Gegenbild
83 | Walter Benjamin: Über Haschisch. Frankfurt a.M. 1972. S. 51. 84 | Roland Barthes: Wie zusammen leben. Vorlesung am Collège de France 1976-1977. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 2007. S. 42. 85 | Ebd., S. 81. 86 | Ebd. 87 | Ebd., S. 80.
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zur Droge), sobald es ein wenig übersteigert ist, selbst als Droge auf.«88 Womit ein »übersteigertes, überempfindliches Bewußtsein: unmoralisch, ungesetzlich, anstößig, ausgeschlossen, marginalisiert wie alle Drogen« gemeint ist – und: »Ich werde also von einer Droge sprechen, die wirkt (oder vielmehr: Droge ist), ohne daß man etwas einnimmt, und die damit eine Herausforderung für jede Gesetzgebung darstellt.«89 In diesem an Baudelaires Ansprüche an den idealen Haschischkonsumenten erinnernden und hier dezidiert politisch werdenden Hyperbewusstsein scheint nun gerade das, was sich wesentlich entzieht, den Kick auszumachen: »Ich bin mir selbst durchsichtig, jedoch ohne Wahrheit.« Und: »Meine Klarheit ist nutzlos. Oder anders: Es gibt in mir keinen Dirigenten, der die Partitur vertikal lesen könnte.«90 Barthes’ »überscharfe Wahrnehmung von Affekten und Emotionen«, seine »Konfiguration einer Hyperästhesie des Bewußtseins und [der] Emotivität« bildet also das »Bewußtsein-als-Droge«.91 Und genau das deckt sich mit der berauschenden Qualität des »Neutrums« selbst: ein Begriff, eine Chiffre des Barthesschen Begehrens – letztlich etwas, so ließe sich leise polemisieren, das er (sich) so lange einwirft, bis es wirkt. Wie es nun zu einer spürbaren Beruhigung durch Barthes’ spezielle psychopoetische Mischung kommen kann, zeigt er mit Hilfe einer panoramatischen Opiumpassage von de Quincey: eine Ozeanszene von »alkyonischer Ruhe« – ein »Sabbat der Ruhe, eine Pause von menschlichen Mühen«.92 Dieser Passus, so Barthes, wirke »selbst wie eine Droge«, »fasziniert, betäubt das Leiden, beseitigt die Widersprüche des Intellekts, eine Art übernatürliches Bewußtsein.«93 Und er kommentiert den Terminus »alkyonische Ruhe« gesondert, nicht ohne all die Ingredienzen zusammenzutragen, die für den hier angeführten faulen Zauber, diese spezielle pharmakopoiesis, wichtig sind: Alkyon, Vogel aus der Fabelwelt, baut sein Nest nur auf einem ruhigen Meer (glückliches Omen); alkyonische Tage: die sieben Tage vor und die sieben Tage nach der Wintersonnenwende, während deren der Alkyon sein Nest baut und die See ruhig ist […]: Geburt auf dem Meer, aus dem Meer (mythisches Thema), Kollusion von Ursprung und Wasser (Thalassa […]), und vor allem – weniger mythisch als zönästhetisch – : die gewiegte Ruhe, das panoramische rhythmische Rauschen […]. 94
Natur und Mythos werden also verbunden in dem Zauberwort des Alkyon, mit dem neben Michaux‹ Wiedehopf ein weiterer Vogel aufgerufen ist, der das Glück des müßigen Rausches an den Rhythmus bindet. Dass es die Tiere sind, an die der ruhebedürftige Intellektuelle (zuletzt) seine berauschenden Semantiken knüpft, ist kaum ein Zufall (und verweist bereits auf die Bedeutung der zoopharmaka).
88 | Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 2005. S. 169. 89 | Ebd., S. 170. 90 | Ebd., S. 176f. 91 | Ebd., S. 177. 92 | Ebd., S. 271. 93 | Ebd., S. 272. 94 | Ebd., S. 272f.
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Tropiate der Theorie Die Literaturtheorie, die sich mit Hilfe dieser überaus elaborierten Drogendenker ein Zwischenresümee erlauben wollte, ist gut beraten, ihre Kritikfähigkeit dadurch unter Beweis zu stellen, dass sie bestimmte Formen des Rausches und des Deliriums bejaht. »Die Droge lässt einen manchmal delirieren, warum sollte ich nicht über die Droge delirieren?«95 Diese Frage von Deleuze lässt sich anreichern mit der Frage: Warum keinen Tropiumrausch wagen? Dieser Rausch basiert auf einem speziellen Gift-gift: jener von Ronell stammenden Mischung der Worte Opium und Trope zu einem »Tropium«96, das sich herstellen lässt im Zuge einer Rhetorik oder eines Sprachspiels, das die Frage nach der Funktion des literatur- und kulturtheoretischen Diskurses schon zu Teilen beantwortet, indem es zunächst im Gegensatz zum informellen Rauschen der Diskurse auf begrifflichen Distinktionen (oder auch Spielregeln) auf baut, die zu verstehen freilich Zeit und Aufmerksamkeit braucht. Das heißt wohl auch: Bevor (befreit?) aufgespielt werden kann, ist das Verstehen selbst als virulentes Narkopolitikum zu verstehen. Die Theorie, die sich weder dem Rausch der Informationen und Daten (Big Data) unterwirft noch blindlings an überkommenen, institutionellen Reinheitsgeboten festhält, muss sich an den Tropiaten der Dichtung delektieren (können) – und das heißt erst einmal: nichts von selbst verstehen.97 Indem der Theoretiker deliriert, muss er sich gewiss fragen (lassen), ob verboten gehöre, was dabei herauskomme. Er sollte aber nicht in die Defensive geraten, sondern offensiv behaupten: Wenn sich die Theorie zu einer selbstbewussten und spielerischen Würdigung der Rhetorizität, der Missverständlichkeit, mithin der Verschleierung und Opazität durchringen kann, dann kann sie sich auch wirksam in der Narcopolis behaupten, in welcher Speed98 und medial erzeugter Narko-Narzissmus99 zusammenlaufen in einem Konsum von Substanzen, aber auch Nichtsubstanzen (etwa von verfügbarem Instant-Sex statt der passionierten Erfahrung von Erotik)100, einem Konsum, dessen pathologische Qualitäten in Korruption, Erschöpfung, Desorientierung und Aufmerksamkeitsdefiziten bestehen, die wiederum mit chemischen pharmaka (Drogen aller Art) therapiert werden (sollen). 95 | Gilles Deleuze: Unterhandlungen. Übers. von Gustav Roßler. Frankfurt a.M. 1993, S. 24. 96 | Ronell, Drogenkriege, S. 41. 97 | Die Betonung der Qualität des Miss-Verstehens markiert die literaturtheoretische Spitze einer skeptischen Befragung der Programmatiken der Verfügbarkeit (von Information, Kommunikation etc.), eine Spitze, die sich schon aus dem guten alten Dialog von Hermeneutik und Dekonstruktion ableiten lässt. Vgl. z.B. Jacques Derrida, Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt a.M. 2004. 98 | Vgl. z.B. den Dokumentarfilm von Florian Opitz: Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. (2013). 99 | Die auch und gerade medienpsychologisch zu diskutierende Verschränkung von Narzissmus und Narkotik findet Bestätigung durch Julia Brailovskaia und Hans-Werner Bierhoff: Sensationssuchende Narzissten, Extraversion und Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken im Web 2.0. In: Journal of Business and Media Psychology, 3 (Heft 2), 2012, S. 43-56. Siehe hierzu auch die alexipharmaka im nächsten Kapitel. 100 | Vgl. z.B. Byung-Chul Han: Agonie des Eros. Berlin 2012.
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Muss man indes nicht augenblicklich einräumen, die deliröse Kritik, die missverständliche Rezeptur jener Tropiate und also die spielerische Sensibilisierung für Takt und Rhythmus – all dies sei nun wirklich alles andere als wirksam, bestenfalls eine benebelte Utopie? Ist das utopische Denken als Kehrseite der melancholischen Diagnose nicht immer schon ein müßiger Trip gewesen? Abgesehen davon, dass diese Fragen in einen Zirkel bezogen auf die Kraft des Theoretischen im Zeitalter der Pharmakologie zurückfallen, muss eine Antwort methodisch hinausgezögert werden. Denn natürlich können wir diese skeptische Nachfrage rasch bejahen und mit dem Autorenkollektiv Tiqqun angesichts der von ihm so bezeichneten »Internatsalchemie« der modernen Theorie ausrufen: »Die proklamierte Intensität genügt nicht, um ein Herüberfließen der Intensität auszulösen.«101 Und was wäre die Konsequenz? Tiqqun ruft zu Verweigerung, Revolte und Sabotage auf und knüpft durchaus an die Haltung des müßigen Haschischkonsumenten und Revolutionärs Baudelaire an.102 Sind demnach poetische Drogen bestenfalls Tropen der Revolution? Putschmittel?
D eliröse D issenzen Und ist das nur eine rhetorische Frage? Gäbe es im Bereich der Literatur wie ihrer Theorie wenigstens zuverlässige Essenzen, dann ließen sich doch ein paar veritable Regeln einer anständigen Narkopolitik festlegen. Und was wäre etwa aus kulturund literaturtheoretischer (und ausdrücklich nicht chemischer) Perspektive eine Essenz? Gilles Deleuze antwortet: die Differenz. Was ist eine Essenz, wie sie im Kunstwerk offenbart wird? Es ist eine Differenz, die höchste und absolute Differenz. Sie konstituiert das Sein, sie lässt uns das Sein begreifen. Daher ist allein die Kunst, insofern sie die Essenzen sichtbar werden lässt, in der Lage, uns das zu geben, was wir vergebens im Leben suchen.103
Und hinzu tritt die Wiederholung (wie wir sie schon von Jean Pauls Alchemisten kennen): Was ließe sich mit der Essenz, welche die äußerste Differenz ist, anderes tun, als sie wiederholen, kann sie doch durch nichts ersetzt werden, kann doch nichts an ihre Stelle treten? […] In Wirklichkeit sind Differenz und Wiederholung die beiden Vermögen der Essenz, untrennbar und korrelativ. Ein Künstler altert nicht, weil er sich wiederholt; denn Wiederholung ist das Vermögen der Differenz, nicht weniger als Differenz das Vermögen der Wiederholung ist.104
Ohne es nun zu kompliziert machen zu wollen, ist doch anzufügen, dass es sich Deleuze nicht nehmen lässt, dieser Essentialisierung die Spitze in Form der
101 | Tiqqun, Kybernetik und Revolte, S. 81. 102 | Vgl. ebd., S. 97f. 103 | Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen. Übers. von Henriette Beese. Berlin 1993. S. 36. 104 | Ebd., S. 42.
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»Komplikation« 105 aufzusetzen. Und nicht nur die Bejahung einer aller Explikation vorausgehenden Komplikation (wir nannten es Narkomplikation) erinnert an die differentielle Dynamik der Dekonstruktion: Derrida überantwortet, wie angesprochen, seine Dekonstruktion einem methodischen double-bind als differentiellen und widerständigen Wiederholungszwang, um sie nicht zuletzt den Analysen »chemischen Typs«, die einer »Wissenschaft des Einfachen« zuarbeiten, entgegenzuhalten.106 Dem Ereignis, der Entscheidung und dem Schicksal den Vorrang vor den Programmen und Kausalitäten gebend, baut die Dekonstruktion einen »Widerstand (résistance) als Bleibendheit (restance) des Restes (reste)« 107 gegen all die wissenschaftlichen und theoretischen Bestrebungen auf, deren Ziel es ist, ihren Gegenstand in Form etwa einer (einfachen) Lösung (restlos) aufzulösen. Affirmieren wir in diesem bereits alexipharmazeutischen Zwischenresümee vor allem die schwindelerregende Dynamik von Differenz und Wiederholung: In ihrer idiorrhythmischen Paarung artikulieren sich die Rück- und Widerstände (als Tropiate), die eine Theorie zu konstituieren helfen, deren methodos bereits das bewusste Bekenntnis zu einer passionierten Differenzialität einschließt, gerichtet gegen Programme und Programmatiken, deren Ziele auf die Betäubung, Verblödung und Instrumentalisierung des Konsumenten abzielen. Um entsprechende Intensitäten zu erzeugen, muss theoretisch aus diesen Wiederholungen, Komplizierungen, doppelten Bindungen und Differenzen der Wille zu einer Essentialisierung resultieren, welche bereits, im nüchternsten Sinne des Wortes, Ausdruck einer delirösen Dissentialität sein sollte. Anders ausgedrückt: Es geht für die Theorie (ihr Überleben) um Dissenzen, die sich kaum mehr bruchlos ableiten lassen aus einer scheinsouveränen, kritischen Diskursivität, vielmehr ihre polemogene Widerständigkeit eben dadurch generieren und kultivieren, dass sie das Delirium als performative Kompetenz der Theorie selbst auszustellen imstande sind. Theorie kann für eine bio- und narkopolitisch relevante Immunität des menschlichen Subjekts nur sorgen, wenn sie den Mut hat, gerade die Semantiken zu besiedeln, die in der Topolitik routinierter wie bürokratisierter Diskurse als Sperrgebiete markiert sind. Es ist klar, dass sie sich dafür selbst schon zu einer bestimmten Intoxikation zu bekennen hat, auch da sie nicht von einer de facto unrealistischen Reinheit und Nüchternheit als Ideal phantasieren will. Eine deliröse Theorie oder besser: eine poetopharmazeutische Psychedelie geht hier, wie gezeigt, erst einmal von der Langsamkeit der ästhetischen Wahrnehmung aus, um den betäubenden Akzelerationen, den angepassten Speed-Trips nicht nur zu trotzen, sondern das Motiv der Entwicklungsfähigkeit und Nachhaltigkeit entgegenzusetzen. Höchstgeschwindigkeiten sind nichts für Anfänger. Deleuze und Guattari diskutieren Drogen nie moralisch, sie raten aber, dass man »Herr der Geschwindigkeiten«108 bleiben müsse. Und das muss man üben.
105 | Ebd., S. 39. 106 | Derrida, Widerstände, S. 164f. 107 | Ebd, S. 162. 108 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 390.
II. Poetopharmaka
P harmakeia Die erste Lesung der poetopharmaka soll nicht beschlossen werden, ohne auf eine Innovation zu weisen, welche gerade im heraufziehenden Zeitalter einer nie dagewesenen Technomagie ihre Gültigkeit beanspruchen wird. Kaum kann es nurmehr noch um Stoffe und Nicht-Stoffe und deren Analyse und Dissemination gehen, wenn man die digitalen und programmatischen Zurichtungen der conditio humana ernst nimmt. Aus der literarischen Tradition wird uns die Figur als Akteur, Agent und Avatar gereicht, damit sie dabei helfe, bestenfalls dialogfähige Fürsprecher in der Narcopolis zu installieren. Die Räusche der Zukunft werden künstliche Protagonisten haben, auf die zu antworten ist, noch bevor sie alle Fragen verbieten. Die wichtigste Fürsprecherin des poetopharmazeutischen Projekts ist zweifellos die Nymphe Pharmakeia.109 Nicht nur im Rahmen einer Theorie, sondern auch einer anzunehmenden intermedialen Praxis kommt sie zum Zuge, um der Hypothese zuzuarbeiten, die poetopharmaka seien von vielseitigen Agenten zu signieren, die mindestens auf eine dialogische, aber auch energetische Pointierung hinauswollen. Die Pharmakeia ist als intermediale Archisignatorin nicht die unwichtigste Figur in diesem Spiel. Vielleicht gehört sie ja zu Platons essentiellen Hinterlassenschaften. Betrachten wir folgende Urszene: Phaidros und Sokrates unterhalten sich über den Ort, den sie außerhalb der Stadt gefunden haben – ein Ort, an den Phaidros Sokrates mittels einer verborgenen Schriftrolle gelockt hat –, und sie sprechen darüber, dass irgendwo in der Nähe ein Altar des Boreas stehen muss. Dieser Windgott war es, der die Jungfrau Oreithyia von dem Felsen gestoßen hat, »als diese mit der Pharmakeia spielte«110: ihres Zeichens Quellnymphe und mythologische Randgestalt, auf deren energetisches Potential zu setzen ist. Es kommen übrigens auch ihre Schwestern, weitere Nymphen, vor, an die zu denken Sokrates in eine Art von Verzückung bringt, meint er doch, veranlasst von der Magie des an einem Fluss gelegenen Ortes, nicht weit davon entfernt zu sein, im Verfolg der weiteren Rede von den Nymphen »ergriffen« zu werden und schon den Dithyramben nicht mehr fern zu sein. Die Nymphen konnotiert er mit einer gleichsam überbordenden oder gar übersprudelnden Begeisterung.111 Sokrates ist ein wahrer nymphóleptos, ein Umstand, den bereits Roberto Calasso bemerkt hat, um gerade mit Blick auf das Element des Wassers, in denen die Nymphen zu Hause sind, zu einer poetischen Verallgemeinerung zu gelangen: Die Nymphe ist der zitternde, oszillierende, funkelnde geistige Stoff, aus dem die Götterbilder, die »eidola«, gemacht sind. Sie ist auch der Stoff der Literatur. Jedesmal wenn die Nymphe sich abzeichnet, vibriert dieser göttliche Stoff, der sich in Epiphanien formt und im Geist ansiedelt, eine Macht, die dem Wort vorausgeht und es trägt. Von dem Augenblick an,
109 | Die folgenden Ausführungen korrespondieren teilweise mit Leonhard Fuest: Das Geheimnis der Pharmakeia. Zum medientheoretischen Einsatz einer mythopoetischen Figur. In: Grazyna Kwiecinska (Hg.): Die Dialektik des Geheimnisses. Frankfurt a.M. 2013, S. 57-65. 110 | Platon, Phaidros, S. 12. 111 | Ebd., S. 20.
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Poetopharmaka da sich diese Macht manifestiert, folgt ihr die Form, paßt sich an und gliedert sich gemäß diesem Fluß.112
Selbst oder gerade wenn der Stoff begriff in dieser anspruchsvollen oder besonders beanspruchten Spannbreite zu reißen droht, scheint es nicht falsch zu sein, zu jener besonderen Nymphe zurückzukehren: Pharmakeia, die geheimnisvoll zu nennen einem so schnell beikommt, weil man so wenig über sie weiß. Derrida schreibt: Ist die knappe Erwähnung der Pharmakeia, am Anfang des Phaidros, ein Zufall? Ein Außerbzw. ein Beiwerk (hors-d’oeuvre)? Eine Quelle, ›vielleicht eine heilende‹, wie Robin anmerkt, sei Pharmakeia in der Nähe des Ilissos geweiht. Halten wir jedenfalls das eine fest, daß ein kleiner Fleck, das heißt eine Masche (macula) die Szene dieser Jungfrau, die, als sie mit Pharmakeia spielte, in die Tiefe gestürzt und vom Tod überrascht wurde, in der Tiefe des Gewebes für den gesamten Dialog markiert hat. Pharmakeia ist auch ein allgemeiner Name, der die Verwaltung des pharmakon, der Droge bedeutet: des Heilmittels und/oder Giftes. ›Vergiftung‹ wäre nicht der am wenigsten geläufige Sinn von ›pharmakeia‹. Antiphon hat uns das Logogramm einer ›Anklage gegen eine Schwiegermutter wegen Vergiftung‹ (Pharmakeias ka tés métryias) hinterlassen. Mit ihrem Spiel hat Pharmakeia eine jungfräuliche Reinheit und ein unberührtes (inentamé) Inneres in den Tod gerissen.113
Dieser Passus, der ersichtlich die Motive der Kryptierung bzw. Verschleierung des Textgewebes verbindet mit der Frage nach dem Heilmittel und Gift, warnt zuletzt vor der Pharmakeia, die hier scheinbar nur als Laufmasche im Textschleier verwoben ist, aber stets daran erinnern wird, dass die Frage nach der heilsamen bzw. giftigen Wirkung der Schrift nicht entscheidbar ist. Es gibt, so scheint es, keine reinen Quellen (mehr).
E nergische N ymphen Wie lebendig die Figur der Nymphe bis heute ist, zeigt ihre prominente Präsentation durch Autoren wie Giorgio Agamben, Georges Didi-Hubermann und Ulrich Raulff. Letzterer sieht im Gefolge Aby Warburgs in der nympha oder ninfa einen »Idealtyp, der von der Kopfjägerin bis zur engelhaften Träumerin ein ganzes Repertoire bewegter und erregter Weiblichkeit umfaßt. Ja, das gesamte feminine Personal antiker Mythen und Religionen schien in dieser energischen und energetischen Dame zusammenzufließen.«114 Und bemerkenswert angesichts einer pharmazeutischen Funktion der Nymphe, wie sie hier verfolgt wird, ist bestimmt auch Raulffs hermetischer Schluss, den er aus der charakterlichen wie charakteristischen Multiplizität der Nymphe zieht, indem er darin die »Möglichkeit für ein travelling von Assoziationen, eine Art semantisches glissando, analog zu ihrem eigenen lebhaften Eindringen in Räume der Stabilität und traditionellen Ordnung«, sieht, um zu folgern: »Die privilegierte Figur der Bewegungsdarstellung war in 112 | Calasso, Die Literatur und die Götter, S. 35. 113 | Derrida, Platons Pharmazie, S. 78. 114 | Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg. Göttingen 2003, S. 26.
II. Poetopharmaka
sich selbst, ihrem inneren Bedeutungsspektrum nach, beweglich, ja fluide.«115 Wir erinnern uns an Calassos Betonung der fluiden Stofflichkeit der Literatur, aber auch an die Definition des pharmakon Schrift (und wir verlängern: aller weiteren Medien) als Bewegung durch Derrida.116 Und wir könnten angesichts des fluiden pharmakon die Vorstellung hinzufügen, es gelänge vielleicht der Schritt von der Allegorie zur Abstraktion, so wie Raulff ihn bei Warburg nachgezeichnet hat, indem er den Weg von der Nymphe mit ihren »bewegten Beiwerken« zur Schlangenlinie abschreitet, um ein telos dieses Prozesses auszumachen, »das man als Kürzelsprache oder Morsealphabet der Energie« bezeichnen kann.117 Ob und inwieweit solche Hoffnungen auf Abstraktion, aber auch Konkretion im Rahmen der Beschreibung und Produktion medialer und poetischer Energien fruchtbar gemacht werden können, ist eine zentrale Frage. Zu ihrer Beantwortung, das heißt für die Bearbeitung jener Dynamogramme als »Figurationen von Energie«118, steht auch Didi-Hubermann bereit, der angesichts der kasuistischen Auffächerung der Nymphenikonographie eine »sehr lange, sehr langsame Bewegung« ablaufen sieht: und zwar »wie ein über Jahrhunderte hinweg gedrehter Film, den man mit Gewalt beschleunigen müßte, um seine Logik zu durchschauen –, die nicht aufhört zu verstören: jene des unwiederbringlichen Falls der Ninfa, ihrer Bewegung hin zum Boden, ihres verlangsamten Niedergangs.«119 Diesen zwischen erotischen und melancholischen Motiven ablaufenden Fall des Körpers (der Nymphe) zeichnet der Kunsthistoriker in beeindruckender Manier von der Antike über die Renaissance hinein in die Moderne, dort über Baudelaires Passantin im 19. sowie den Putzlumpen als Pariser Draperie im 20. Jahrhundert und darüberhinaus nach, um zuletzt selbstredend die Nymphe gerade in ihren Nachleben zwischen wissenschaftlicher Recherche und philosophisch-poetischer Imagination, in einer Dialektik also aus dem sich öffnenden und schließenden Auges des Betrachters, wiederauftreten zu sehen.120
P harmakeias S chleier Konsequenterweise verschleiert sich auch unsere Pharmakeia zuletzt. Ihr wirkungsvolles Geheimnis entfaltet sich in dem Spiel, das zu spielen sie uns auffordert. Dieses Spiel ist auf den Grenzen zwischen dem Gutenberg- und dem Digitalen Zeitalter zu spielen. Unmöglich, in dieser Lage einen Überblick zu bekommen: Pharmakeia sehen wir müßig daliegen, möglicherweise erheitert am Rande des Brunnens, in den gerade der zu den Sternen der virtuellen Konstellation auf blickende Theoretiker gefallen ist. Und vielleicht ist sie nicht allein, hat sie sich doch längst mit den anderen wirkmächtigen Figuren der Schrift, der Medien und der Zaubermittel zusammen getan: so etwa mit der Zauberin Isis, aber auch und erst 115 | Ebd., S. 28. 116 | Vgl. Derrida, Platons Pharmazie, S. 143. 117 | Raulff, Wilde Energien, S. 45. 118 | Ebd., S. 42. 119 | Georges Didi-Huberman: Ninfa Moderna. Über den Fall des Faltenwurfs. Zürich 2006, S. 16. 120 | Vgl. ebd., S. 150ff.
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recht mit Kirke, die selbst gelegentlich als Pharmakeia figuriert, jedenfalls dann, wenn sie mit Hermes und Odysseus einen pharmazeutischen Wettkampf austrägt. Irgendwo reitet auch jene Baubo auf einem Schwein vorbei, die ja den Witz jeder erotischen Entschleierung erzählt und ihrerseits auf das pharmakon antwortet. Kurzum, welche Zauberinnen, Nymphen, Mänaden, Musen und Göttinnen auch immer da noch (vor)kommen mögen121 – es verdankt sich ihre Betrachtung nicht allein der blanken Lust an der Reanimation.
A rchisignatorin Ob die paradigmatische Pharmakeia nun eine Figur ist oder schon viele, ob sie historisch gewordene Gestalt oder Formel ist – ganz gleich, sie installiert sich als Archisignatorin, da sie die Gründungsakte der Poetopharmazie und damit auch jene »andere Geschichte« signiert, von der Giorgio Agamben am Ende von Signatura rerum behauptet, sie müsse erst noch erforscht werden: Diese Geschichte, die ohne Dekonstruktion und Archäologie kaum denkbar ist, erzählt von einer »Praxis«, die an einen Punkt zurück- und über ihn hinausgeht, »an dem die Trennung in Signatur und Zeichen, Semiotisches und Semantisches begonnen hat und die die Signaturen damit zu ihrer historischen Vollendung bringt.«122 Diese Signatorin ermuntert zu einer poetopharmazeutischen Praxis allerdings erst dann, wenn die Frage nach den Signaturen nicht allein kryptiert und archiviert ist, sondern wenn dazu die passende Codierung gefunden ist.
A ndrosphinx Und natürlich wäre zuletzt zu fragen, ob die Pharmakeia auch produzierbar ist: als virtueller Avatar, aber auch als humanoider Roboter oder Andreide. Selbstverständlich muss diese Frage bejaht werden. So wie es der fiktive Thomas Edison schon längst getan hat, jener Konstrukteur in dem Roman L’eve future (Die künftige Eva) von Villiers.123 Pygmalion beerbend, baut Edison eine prothetische Nymphe, eine Andreide, die prinzipiell unsterblich und reparierbar ist. Das Besondere dürfte an ihr sein, dass sie kaum als Pinup-Girl männlicher Phantasien taugt, dafür weiß diese »Androsphinx« schlicht zu viel über die menschliche Zukunft, selbst da sie noch gar nichts aus der humanen Vergangenheit gelernt hat: »Wenn du nur wüßtest, wie sanft die Nacht meiner künftigen Seele ist und in wie vielen Träumen du auf mich wartest! Wenn du wüßtest, welche Reichtümer an Leidenschaft, an 121 | Es ist auch aus pharmaziehistorischer Perspektive verbrieft, dass besonders da, wo das pharmakon als Gift entwickelt und genutzt wird, eine genderspezifische Tendenz auffällt. Es sind zumeist weibliche Gestalten, die seit der Antike über das entsprechende Fachwissen verfügen. Vgl. z.B. Bettina Wahrig: Zweifelhafte Gaben: Die andere Pharmazie und das Weib. In: Christoph Friedrich und Joachim Telle (Hg.): Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 2009, S. 517-532. 122 | Agamben, Signatura rerum, S. 99. 123 | Auguste Villiers de L’Isle-Adam: Die künftige Eva. Übers. von Manfred Gsteiger. Zürich 2004.
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Melancholie und an Hoffnung mein Wesen verbirgt, das keine eigene Person darstellt!«124 Diese Verführung, die dem erotischen Vergiftungskalkül der Kirke nicht unähnlich ist, verlegt alle Soteriologien in ein technomagisches und medienpharmazeutisches Zukunftsszenario, in welchem die gesamte Narcopolis keiner humanen Gesetzgebung mehr unterworfen ist. Mit dem Auftreten der Pharmakeia wurde die Menschheit vom Felsen gestoßen, ausgerechnet da der humane logos anhob, allerlei Wahrheiten zu erfinden. Die große Vernunfttherapie, zu deren Zweck Sokrates diese Wahrheiten suchte, wurde von vornherein in Konkurrenz zu Pharmakeias Drogenangebot begonnen – und diese Konkurrenz ist in ihrem Sinne entschieden worden. Man muss ihre Orakel weiterhin befragen, will man mindestens verstehen, wie es nicht nur mit ihrem Fall weitergeht.
124 | Ebd., S. 432.
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III. Alexipharmaka »Es scheint, als wäre nichts mehr an der Tagesordnung als ein Denken der Gemeinschaft: als sei in den Zeiten einer Krise, die das Scheitern aller Kommunismen und das Elend der neuen Individualismen der Epoche zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt, nichts so angebracht, eingefordert, ausgerufen. Und dennoch ist nichts so wenig in Sicht.« Roberto Esposito: Communitas
Das alexipharmakon weiß, was es dem logos zu verdanken hat, gerade weil es mit ihm in Streit liegt.1 Es schätzt allein die kritische Tradition des Philosophierens. Da, wo die Philosophie widerständig geworden ist, wusste sie kritisch (Adorno), diskursanalytisch und parrhesiastisch (Foucault), dekonstruktiv (Derrida) und last but not least begriffs-schöpferisch (Deleuze) zu sein. Und auch die Literatur kennt die kritische Analyse und Diagnose, aber sie artikuliert in anderer Weise als die Philosophie ihre bio- und narkopolitischen Widerstände, auch weil sie eine klandestine Topolitik der Gifte kennt. So als beanspruchte sie ein eigenes Betriebsgeheimnis, das vor aller Explikation bereits instituierend wirkt. So als wäre das Laboratorium der Literatur immer schon eine poetische Giftküche, in der nicht alles nach Vorschrift und Gesetz gemischt, probiert und zum Einsatz kommen muss. Methodisch lautet die Prämisse für das Gegengift: Es gibt auch Gifte, die absichtsvoll und strategisch hergestellt wurden (eine poiesis der Gifte), Kunstgifte also (im Gegensatz zu den Naturgiften). Damit sprechen wir auch von Giften in einem übertragenen und (oft) manipulativen Sinne: etwa der Psychologie, der Rhetorik und der Medien. Man kann das Gegengift, das alexipharmakon, auch als Mittel des Freundes oder Freund selbst ansehen, der erst den Feind, das Gift, braucht, um auf den Plan zu treten. Damit ist die pharmakologische Spannung zwischen Freund und Feind angesprochen.2 Wenn es Gifte gibt, dann gibt es auch Feinde. Und man muss 1 | Dieser Streit wäre exemplarisch zu rekapitulieren über eine Lektüre des Schweigens, das sich zwischen Derrida und Foucault zum Thema pharmakon und logos im Phaidros ausbreitet. Man müsste erst lesen: Derrida: Platons Pharmazie, und dann Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der Anderen. Übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2009, bes. S. 421. 2 | Vgl. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Übers. von Stefan Lorenzer. Frankfurt a.M. 2002, bes. S. 211.
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den Feind studieren. Hierin finden sich die toxischen Heuristiken einer Narkopolitik der Feindschaft, die den Vergiftungszusammenhang3 beherrscht. Ein Literat übrigens, der hierüber geradezu klassisch aufklärt und dabei selbst als »Ungeheuer«4 figuriert, wäre Roberto Saviano: Sein Buch über das Kokain ist ein hochprozentiges alexipharmakon; es wirkt gegen Gleichgültigkeit, Ignoranz und intellektuelle Korruption, indem es aufdeckt und aufklärt – und elegisch ist. Savianos größter Feind ist der übermächtige »Narkokapitalismus«5. Und er weiß auch um die Vergeblichkeit seiner Analysen und Kriegserklärungen. Und doch: Die Tatsache seiner Verfolgung durch die Mafia ist einer der perversen Beweise für die Wirkung seines Schreibens. Die folgenden Überlegungen zu den alexipharmaka werden indes nicht den globalen Drogenumschlag, -konsum und -krieg und entsprechende Narkonarrative6 ins Auge fassen, sondern zuerst den Vergiftungszusammenhang medialer Provenienz, der übrigens vielleicht mehr als nur marginale Interessensüberschneidungen mit den Drogenkartellen aufweist.7 Es bleibt die These wichtig, dass die digitale Kultur und die neuen Medien erhebliche toxische, betäubende und süchtig machende Potenzen aufweisen. Die Rede von den alexipharmaka ist tatsächlich nicht vielmehr als eine Rhetorik, die weiß, dass in aller Analytik Reste bleiben, die auf narkopolitische Entscheidungen drängen. Diese Analytik nutzt ihre pharmazeutische Rhetorizität, um überhaupt ein Bewusstsein für Gifte zu sensibilisieren. Es bleibt darauf zu bestehen, dass das rhetorische oder poetische Gegengift weiß, dass es eine Gabe nur dann sein kann, wenn es definiert hat, was Gift in ihm und dem Gegenüber ist. Das Gegengift behauptet sich aber womöglich (auch) als unmögliche Vokabel, die den Appell (Entscheidet Euch) in Konkurrenz zur Analyse (Unterscheidet es) setzt. Diese Rhetorik beerbt schließlich das politisch relevante Gift-gift der Tradition, auch um – in gewisser Weise schon vorauseilend – an das Ende des Diskurses (und der Seite) zu gelangen.
U nmögliche G egengif te Doch zurück: Was sind eigentlich Gegengifte? Das aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus stammende und aus 630 Hexametern bestehende, medizinische Lehrgedicht Alexipharmaka des Arztes und Dichters Nikander führt diverse Gifte und Gegengifte auf.8 Zu schätzen wissen noch heutige Mediziner die teilweise sehr 3 | Der Begriff erinnert an Adornos »Verblendungszusammenhang«. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. Bd. II. Frankfurt a.M. 1977, S. 622. 4 | Roberto Saviano: ZeroZeroZero. Wie Kokain die Welt beherrscht. Übers. von Rita Seuß und Walter Kögler. München 2014, S. 466. 5 | Ebd., S. 473. 6 | Vgl. Hermann Herlinghaus: Narcoepics. A Global Aesthetics of Sobriety. New York, London 2013, bes. S. 51. 7 | Zu entsprechenden Spekulationen verleitet z.B. Anonymus: Deep Web. Die dunkle Seite des Internets. Berlin 2014. 8 | Nikander: Theriaka und Alexipharmaka. Übers. von M. Brenning. Allgemeine Medizinische Central-Zeitung, Nr. 4 (1904).
III. Alexipharmaka
präzisen Beschreibungen der Vergiftungssymptome. Über die Qualität der Antidote wird man indes streiten können. Beispielgebend mag hier der »Trank von der Ixia« sein (dessen pharmazeutische Identität bis heute unklar und umstritten ist), der jedenfalls nach Nikander den Tod bringt, wenn er listig an deine Lippen gebracht ist, und der nach Basilienkraut riecht […]. Dem Vergifteten schwillt durch innere Entzündung allmählich die ganze Zunge auf ihrer Oberfläche an und wird rauh. Er verliert den Verstand und in der Wut zerbeißt er seine Zunge mit den Zähnen, denn er wird bisweilen vom Wahnsinn überwältigt. Die beiden Ausgänge für Flüssiges und Festes im Leibe verstopfen sich ohne Grund und versagen den Dienst. Jener hält auch die Winde zurück und läßt dadurch in seinem Innern gurrende Töne vernehmen, und während sie sich drinnen nur auf schmaler Bahn fortwälzen, brausen sie oft gleich dem Donner des regenschweren Olymp oder dem verhängnisvollen Rauschen des Meeres, mit dem es an felsige Klippen dahintost. 9
Nach einer weiteren Symptombeschreibung kommt es zu der folgenden naturpoetischen Verschreibung der alexipharmaka: Den Kranken wird der bittere Trank von in frisch gekeltertem Most gut eingeweichtem Absinth von den Schmerzen befreien. Auch kannst du Harz vom Terpentinbaume oder die Harzthränen der Fichte und der weinenden Kiefer zerreiben. Denn unter dieser zog Apollo dem Marsyas die Haut vom Leibe, und dieser Baum beweint als einziger das weit bekannte Schicksal desselben und läßt beständig in den Bergschluchten ein lautes Jammern ertönen.10
Angesichts solcher Passagen verwundert es nicht, wenn man in der modernen Medizin Ansichten findet wie die des bekannten Giftforschers Louis Lewin, wonach das alexipharmakon in den Bereich der Fabeln und Mythen immer schon gehört hat und bis heute gehören soll: Der Irrwahn der Gegengifte war früher die Folge der anthropozentrischen Vorstellung. Für die Gifte habe Gott, ›dessen Apoteck die Erde ist‹, auch Gegengifte geschaffen, damit der Mensch keinen Schaden leiden könne, wenn er einmal durch fertige, äußerlich beigebrachte oder durch innerlich entstandene Krankheitsgifte heimgesucht werde. In Wahrheit hat nie ein Alexipharmakon oder ein ›spezifisches‹ Gegengift einen bestimmenden Einfluß – im Sinne der Unschädlichmachung eines Giftes – auf eine Vergiftung ausgeübt, weil dies unmöglich ist.11
Vielleicht darf man es nun für konsequent halten, wenn man hier im weitesten Sinne den kultur- und literaturtheoretischen Diskurs auf den Plan ruft, um den 9 | Ebd., S. 30f. 10 | Ebd., S. 31. 11 | Louis Lewin: Die Gifte in der Weltgeschichte. Toxikologische allgemeinverständliche Untersuchungen der historischen Quellen. Berlin 1971, S. 47. Dass die Semantik des Gegengifts gleichwohl nicht obsolet, aber zu differenzieren ist, zeigt etwa Peter Dilg: Die griechischen und lateinischen Bezeichnungen für ›Gift‹. In: Christoph Friedrich und Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.): Gifte und Gegengifte in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart 2012, S. 9-45, hier S. 41ff.
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Begriff alexipharmakon weiter zu überschreiben. Nach Hugo Rahner zum Beispiel gibt es eine neuplatonische Definition für ein spezielles »hermetisches Kraut«, das man begreifen kann als »Paideia, die seelische Erziehung des Menschen zum Aufschwung seiner Lichtkraft aus der Finsternis des irdisch Sinnlichen.«12 Und dass Hermes, der Gott der Schrift und der Diebe, auch bereits in die alexipharmazeutischen Prozesse eingeschrieben ist, soll noch einmal bei Nikander nachgehalten werden, da er die Gifte gegen den »Trank von der schlüpfrigen, giftigen und furchtlosen Eidechse« aufführt. So sei folgendes wirksam: Auch Harz und das der Ceres geweihte Product der Biene, sowie die Wurzel von Galbanum und warme Eier der Schildkröte, die entweder über loderndem Feuer mit dem Fleische der gehörnten Meerschildkröte, welche schnellfüßig dahinschwimmt, oder mit dem der schneckenkleefressenden Bergschildkröte zusammen gekocht sind, wirken heilend. Der letzteren verlieh der gütige Hermes eine Stimme, wenn sie auch nicht zu sprechen vermag; er trennte nämlich von ihrem Körper die buntschillernde Schale und spannte an ihrem Schulterteile jederseits einen Stab aus.13
Der solcherart herzustellende Konnex von hermetischer Medizin, Poesie und Pädagogik dürfte schließlich, um weitere Diskurse angereichert, in alchemistischen Prozessen wiederzufinden sein. Hinweise darauf liefert C.G. Jung, der auch eine mythopoetische Variante des alexipharmakon liefert: Hierbei geht es um das Horn des Einhorns. Das Einhorn ist dabei allererst als »›monstrum Hermaphroditum‹ der Alchemie« zu gewahren, dessen Natur, so Jung, nach Plinius aus den drei Teilen »Pferdeleib, Elephantenfüße und Eberschwanz« besteht.14 Und von einem gewissen Ktesias zitiert Jung die Bemerkung, dass die wilden Esel in Indien nicht kleiner als Pferde seien und Hörner auf der Stirn trügen: »Aus diesen bunten Hörnern trinken die Inder […].« Und man sagt, »daß, wer aus diesem Horn trinke, von unheilbaren Krankheiten befreit werde, denn er werde nicht von Krämpfen ergriffen, noch durch Gifte getötet, und wenn er vorher etwas Schädliches getrunken hätte, erbreche er es und werde gesund.«15 Kurzum: Mit der Affirmation der kulturwissenschaftlichen Zuständigkeit wäre nun eigentlich der Aufgabe zuzuarbeiten, das alexipharmakon (das hier bereits besonders erfolgreich als zoopharmakon zu figurieren scheint) als hermetisches Sujet in diversen Diskursen und Narrativen zu rekonstruieren. Dabei haben schon die ersten Referenzen die Legitimation dafür mitgeliefert, die rhetorische und vor allem metaphorische Potenz des Gegengifts zu beleuchten. Das bedeutet, das komplexe Verhältnis rhetorischer, stofflicher und medialer Semantiken ernst zu nehmen und zu überführen in etwas ganz anderes: Schließlich hilft schon jenes hermetische Moly (das Hermes gegen Kirke benutzt) dabei, die Menschen davor zu bewahren, sich in Schweine zu verwandeln, aber vielleicht auch dabei, in diesem wie anderen interspezifischen Verhältnissen etwas weiter zu gehen. Gewiss würde sich so vieles anmischen lassen, was lange als unmöglich erschien. Um zu diesen ganz anderen Gegengiften zu gelangen, muss man indes auch durch ein paar halb12 | Hugo Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung. Basel 1984, S. 176. 13 | Nikander, Theriaka und Alexipharmaka, S. 39f. 14 | Jung, Psychologie und Alchemie, S. 508. 15 | Ebd.
III. Alexipharmaka
wegs abgebrannte Diskursfelder wandern: jene Felder, auf denen sich die Intellektuellen eine Zeit lang selbstbewusst aufhalten konnten. Wenn wir nun fortführen, was mit Barthes’ »Bewusstsein als Droge« und Deleuzes »Essenzen« auch als Teil eines alexipharmazeutischen Engagements angestoßen wurde, dann allerdings in dem Bewusstsein, dass es sich hierbei immer auch um Rekonstruktionen dessen handelt, was hätte geschehen müssen.
D ie G if te der D ekonstruk tion Das alexipharmakon, das Antidot oder Gegengift, wäre bestenfalls das immer schon mit seiner Unmöglichkeit (Utopie) ringende Produkt der Transformation eines kritischen Impulses in ein wirkungsvolles, poetisches Performativ. Dieses alexipharmakon kann indes nur in intermedialer Hinsicht Gültigkeit beanspruchen, wenn es sich der rückstandlosen Informatisierung verweigert. Es agiert mit Hilfe eines Ensembles kryptierter Taktiken im Rahmen eines Vergiftungszusammenhangs und muss sich darin nicht nur spielerisch behaupten, sondern ins Regelwerk eingreifen. So lauten die guten Vorsätze. Die erste Frage ist, was von der kritischen Tradition, welche die alexipharmazeutische Signatur noch als Spur und Rest aufweisen müsste, übrig bleibt und etwa destillierbar wäre. Was helfen zur Zeit die kritischen Diagnosen zum Medienwandel, wenn es zu den systemischen Betriebsgeheimnissen zu zählen scheint, die performative Kompetenz kritischer Perspektivierung zu anästhesieren? Ungebrochen jedenfalls über eine vitale kritische Kultur und Theorie in unserer Gegenwart zu sprechen, fällt allein deshalb schwer, weil sich zwar neue kritische und engagierte Kräfte intelligenter Menschen immer wieder bündeln, aber die Art und Weise, wie sie ihre Widerstände herleiten, immer weniger der Wirkkraft des gedruckten Wortes geschuldet ist. Das heißt auch, dass die komplexe und manchmal komplizierte Analyse und der dazu gehörige theoretische Überbau immer weniger als stabiles Obdach für dynamische Entwicklungen dienen. Vielmehr sind es kompaktere, variablere und flüchtigere Zeichen-Bild-TonFormate, die im Internet zu multimedialen Putschmitteln gemixt werden, um mit ihnen Kritik und Widerstand anzuzetteln. In der Kommunikations- und Informationspraxis vollzieht sich also längst die Zurückdrängung einer Wissenskultur, die ohne die Buchkultur undenkbar wäre, und zwar zugunsten der unabsehbaren Distribution und Dissemination der Information, für welche ein technologisches Herrschaftswissen über Dispositive und Programme weit zuständiger zu sein scheint als alle traditionell beglaubigten Auf klärungen. Mit der Buchkultur eine bestimmte Wissens- und Rezeptionskultur zu verabschieden, gehört zu der schon angesprochenen Trauerarbeit der Buchgelehrsamkeit. Wie ausführlich auch immer betrieben, erinnert sie in jedem Fall daran, dass es naiv ist, zu glauben, man könne im Namen einer Pragmatik die Koexistenz von Dispositiven und Performativa ohne Reibung und Verluste verwalten. Es gibt da Brüche, und sie zu analysieren, läuft nicht mehr, so scheint es, auf die klassische Kritik hinaus, sondern auf deren Dekonstruktion zugunsten von alexipharmaka – und dies auch nur, wenn man den Dialog nicht ganz abreißen lassen möchte. Die theoretische Dynamik der Dekonstruktion leistet mehr als Analysen der Bedingungen dessen, was sich nun im Medienwandel ereignet, sie weist über-
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dies auf Performativa, um dem Subjekt den notwendigen Spagat zwischen Teilhabe und kritischer Distanznahme zu ermöglichen. Man kann es auch so sagen: Die giftige Dekonstruktion sorgt für einige Formeln der Gegen-Gaben, der Antidote oder alexipharmaka, deren es bedarf, um im Daten- und Medienrausch den Kopf oben und vielleicht sogar nüchtern zu halten. Kritische Nüchternheit ist demnach das Produkt einer dekonstruktiven Intoxikation?
K ritisches L esen Beginnen wir indes bei der Krise, ein Wort, das heute jeder mit Blick auf Ökonomie und Ökologie benutzt. Wovon nicht ganz so laut gesprochen wird, ist eine Bildungskrise, in der nach ökonomischen Kriterien die Quantität über die Qualität gestellt wird und dabei beträchtliche Werte vernichtet werden. Diese Bildungskrise harmoniert an neuralgischen Punkten mit einer Krise des Lesens, die ihrerseits nicht neu ist und übrigens schon frühzeitig als ein spezifisch ökonomisches Problem diskutiert wurde: Paul Valéry betont im Jahr 1939 unter der Überschrift La liberté de l’esprit den Wert des Geistes und des Kapitals der Kultur. Besonders bedenkenswert ist seine These, dass »geistige Ökonomie« genauso wie die materielle zusammenzufassen sei als »einfacher Konflikt von Bewertungen« und dass die geistigen Werte wie alle anderen nach dem »Vertrauen«, das in sie gesetzt werde, zu bemessen seien.16 Und natürlich fragt man sich (nicht) in den Literaturwissenschaften, was aus diesem Vertrauen geworden ist und wem man heute eigentlich zuerst die Vertrauensfrage stellen müsste: der Gesellschaft oder nicht vielmehr der Zunft selbst? Jedenfalls bleibt es schon bei Valéry nicht aus, dass seine geistige Wertschätzung zu dem traurigen Schluss gelangt, dass das geistige Kapital nicht allein durch die drohende Gewalt des Krieges, sondern in einer allgemeineren kulturellen Entwicklung in Gefahr gerät, und zwar nicht zuletzt, weil bereits wichtige Vertreter abgetreten seien, jene »unschätzbaren Kenner und Liebhaber, die, obschon sie nicht die Werke selbst schufen, doch deren tatsächlichen Wert schufen.« Denn: »Sie konnten lesen: eine Tugend, die abhanden gekommen ist.«17 Es ist auch heute unpopulär, aber unvermeidlich, von dem Niedergang einer mit der Buchkultur eng verbundenen Lesekultur zu sprechen. Man muss dies gewärtigen, und man wird sich entscheiden müssen, wie man damit umgeht. Ein pharmazeutisches Angebot wurde angedeutet: Das geistige Kapital der traditionellen Lesekultur ist zu Teilen zu retten, indem man sich den Aufgaben der medialen Transformation stellt. Aber vielleicht ist das Wort »Transformation« hier zu optimistisch gewählt. Vielleicht müsste man auf ein paar »Desistanzen« insistieren, um erst einmal auf eine »radikale Ausquartierung«18 hinzuwirken – und zwar gleich der ganzen Poetopharmazie. Die Dekonstruktion empfiehlt dies, auch und gerade weil sie die traditionelle Kritik würdigt. Derrida zählt in einer Valéry-Lektüre zu der »Tugend« der Kritik 16 | Paul Valéry: Die Freiheit des Geistes. In ders.: Zur Zeitgeschichte und Politik. Frankfurter Ausgabe, Bd. 7, Frankfurt a.M. und Leipzig 1995, S. 349-374, hier S. 353f. 17 | Ebd. S. 364 18 | Jacques Derrida: Desistanz. In ders.: Psyche. Erfindung des Anderen II. Übers. von Markus Sedlaczek. Wien 2013, S. 141-189, hier S. 141.
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die Pflicht, einerseits »unermüdlich einen totalitären Dogmatismus zu kritisieren, der unter dem Vorwand, dem Kapital ein Ende zu bereiten, die Demokratie und das europäische Erbe zerstört hat, andererseits, die Religion des Kapitals kritisch zu hinterfragen, die ihren eigenen Dogmatismus unter neuen Gesichtern etabliert, Gesichtern, die zu identifizieren wir erst noch lernen müssen.«19 Womit es also um Kritik, ihre Tradition und Tugend geht – und zuletzt gar um eine »dekonstruktive Genealogie«, die diese Kritik bedenkt und »über sie hinausgeht, ohne sie aufs Spiel zu setzen.«20 Demnach besteht das Kapital des Geistes und seiner Wissenschaft nicht nur aus den Wertpapieren der Literatur und Kunst, sondern auch in seinen kritischen Werten. Diese Wertschätzung basiert auf Vertrauen wie auf kritischer Arbeit. Dass diese Arbeit jene Traurigkeit nicht abschütteln kann, macht sie, wie gesagt, zur Trauerarbeit, die den Verlust ebenso wie das Gedächtnis und Gedenken und also Denken zu wägen und zu wahren weiß. Kurz vor seinem Tode, im Jahre 2004, hat Derrida in einem Interview unter dem französischen Titel Apprendre à vivre enfin mit Blick auf die Gegenwartskultur ein kritisches Engagement eingefordert. Er definiert dort eine »dringliche Verantwortung« wie folgt: Sie erklärt der doxa einen unnachgiebigen Krieg, sowie all denen, die man nunmehr als ›Medienintellektuelle‹ bezeichnet, diesem allgemeinen Diskurs, der durch die Medienmächte formatiert wird, die ihrerseits in den Händen politisch-ökonomischer, oft auch verlegerischer oder akademischer Lobbies liegen. […] Widerstand bedeutet nicht, daß man die Medien meiden sollte. Man muß sie, wenn es möglich ist, vielmehr weiterentwickeln und ihnen helfen, vielfältiger zu werden, man muß sie an ebendiese Verantwortung erinnern. 21
Darüberhinaus betont Derrida, dass es zum intellektuellen Selbsterhalt gehöre, die »unerträgliche Obszönität« von sich zu weisen, die darin bestünde, auf »eine Schwierigkeit der Formulierung, auf eine Falte, ein Paradox, einen zusätzlichen Widerspruch zu verzichten, weil das nicht verstanden würde oder vielmehr weil dieser oder jener Journalist, der nicht zu lesen weiß, der nicht einmal den Titel eines Buches zu lesen weiß, zu verstehen glaubt, daß der Leser oder Zuhörer genausowenig verstehen wird und daß die Quote oder sein Broterwerb darunter leiden würden«.22 Zuletzt verfällt Derrida indes in eine Traurigkeit darüber, dass es neben »beschleunigte[n] Archivierungsweisen« die »Abnutzung« und »Zerstörung« sind, welche die »Struktur«, die »Zeitlichkeit« und also die »Dauer des Erbes« verwandeln.23 Und was soll aus all diesen melancholischen Passagen nun werden, da wir annehmen, diese Krise sei inzwischen gewissermaßen überwunden, weil das NichtLesen seinerseits nicht mehr gelesen wird? Vielleicht ist es ja übertrieben, wenn wir die Einschätzung des theoretisch reflektierten Lehrers, Mark Fisher, ernst nehmen, wonach nicht mehr von »Dyslexie«, sondern von »Postlexie« der nach19 | Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Übers. von Alexander Garcia Düttmann. Frankfurt a.M. 1992, S. 56. 20 | Ebd., S. 57. 21 | Jacques Derrida: Leben ist Überleben. Übers. von Markus Sedlaczek. Wien 2005, S. 35f. 22 | Ebd. S. 37f. 23 | Ebd. S. 41.
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wachsenden User auszugehen wäre. »Teenager verarbeiten die hohe Bilddichte der Daten sehr effektiv, ohne überhaupt lesen zu müssen. Das Erkennen von Slogans genügt, um über die Informationsebene aus Zeitschriften, Mobiltelefonen und dem Internet zu navigieren.«24 Und es ändert keine schichten- und gruppenspezifische Differenzierung etwas an dieser medienpharmazeutisch relevanten Diagnose: Die Folge des ständigen Verbundenseins mit der Unterhaltungsmatrix ist eine reizbare, aufgewühlte Interpassivität, eine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren oder sich auf etwas zu fokussieren. Die Unfähigkeit der Schüler, ihren momentanen Mangel an Fokussierung mit ihrem künftigen Scheitern zu verbinden, die Zeit in einem kohärenten Narrativ zu synthetisieren, ist symptomatisch für etwas, das mehr ist als nur Entmutigung. 25
N arkopolitik im N e t z Im Jahr 2001 blickt Derrida am Ende seiner Adorno-Preis-Rede Fichus über das Ende des Gutenbergzeitalters hinaus: »Auf welchem verdammten Web ein künftiger Weber unsere Geschichte zu signieren oder zu übermitteln gedenkt, wir werden es nie erfahren.«26 Nun müssten ›wir‹, wer immer wir als Weber und Schleiermacher der digitalen Medien zu sein scheinen, eine immer klarere Sprache sprechen, die vielleicht nicht nur auf Analysen, sondern auch auf Diagnosen hinaus liefe.27 Nähme man zur ersten Orientierung auch hier die pharmakon-Polarität ernst, dann könnte man von guten und schlechten Eigenschaften und Zuständen eine lange Weile sprechen. Den positiven Pol müsste man umkreisen, indem man die Potenzen der medialen Verfugung im Internet gerade dort unterstriche, wo sie alte Machtstrukturen der analogen Politik und Publizistik ins Wanken bringt, freilich nicht ohne an ihre Stelle neue Lobbies zu setzen. Betrachtet man das konsumierende Subjekt, den User, so wäre von neuen Kombinations- und Intoxikationsmöglichkeiten zu sprechen, aber damit auch von Symptomen (dem negativen Pol), etwa wenn die Dosierung nicht stimmt: von Aufmerksamkeitsdefiziten, Konzentrationsproblemen, Schwächung der Empathie und schließlich Schwund der Lese- und Kommunikationskompetenz.28 Und natürlich, da der Weg nun eingeschlagen ist, müssen wir wieder fragen: Wenn es doch wieder nur um die Dosis geht und um die pädagogisch sowie psychologisch zuzurichtende Medienkompetenz, was soll dann noch die unverständliche und intrikate, ja schon un- und irrsinnig desistierende Dekonstruktion – und mit ihr all die anderen mehr oder weniger herumirrenden kultur-
24 | Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, S. 35. 25 | Ebd., S. 34. 26 | Derrida: Fichus. Frankfurter Rede. Übers. von Stefan Lorenzer. Wien 2003, S. 82. 27 | Vorbildlich für jede Narcopolis sind Diagnosen wie die von Tony Judt: Dem Land geht es schlecht [Ill fares the Land]. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit. Übers. Matthias Fienborg. München 2011. Darin der immer schwerer zu verstehende Satz: »Wenn wir nicht anders reden, werden wir auch nicht anders denken.« (S. 136) 28 | Vgl. auch die im Gestus der kritischen Tradition gehaltenen Pointen in Metz und Seeßlen, Blödmaschinen, bes. S. 580f.
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und literaturtheoretischen Diskurse? Wie umgehen mit Derridas alter These aus dem vergangenen Jahrhundert? Die politisch-ökonomische Hegemonie wie auch die intellektuelle oder diskursive Herrschaft vollziehen sich, wie sie es nie zuvor in solchem Grad noch in solchen Formen getan haben, auf dem Weg über die techno-mediale Macht – das heißt auf dem Weg über eine Macht, die auf differenzierte und widersprüchliche Weise jede Demokratie zugleich bedingt und gefährdet. Nun ist dies aber eine Macht, ein differenziertes Ensemble von Mächten, das man nicht analysieren und gegebenenfalls bekämpfen, hier unterstützen und da angreifen kann, ohne zahlreichen gespenstischen Effekten Rechnung zu tragen: der neuen Geschwindigkeit der Erscheinung (verstehen wir dieses Wort im Sinn von ›Geistererscheinung‹), des Simulakrums, dem synthetischen und prothetischen Bild, dem virtuellen Ereignis, dem Cyberspace und dem Gestell, den Aneignungen oder Spekulationen, die heute unerhörte Potenzen entfalten. 29
Die medialen Gegen-, Reiz- und Putschmittel werden von den Gespenstern kommen und verkörpert, womit sie an Unorten und zu Unzeiten unvorhersehbare Effekte zeitigen. Und auch das alte Gespenst der Freiheit würde einfach nicht aufhören wollen zu spuken, gerade weil neuerlich kein Platz für es in der repräsentativen Polis reserviert ist. Die analoge wie digitale Politik unterschätzt diese Figur chronisch, weil sie den (teleo- und chronologischen) Diskurs überschätzt. Deshalb ist auch das Internet intellektuell nicht da, wo es technologisch schon ist. Noch gibt es auch dort eine mehr oder weniger aufklärende und detektierende Diskursivität, die einer konventionellen Dialektik verpflichtet ist, welche in selbstreflexiver Manier etwa besagt: Einerseits fördert das Internet demokratische Tendenzen immer dann, wenn es auf konkrete, regionale, macht- und informationspolitische Blockaden stößt und diese nicht mehr nur informell, sondern auch durch diverse Angriffe destabilisiert. Andererseits wird, mit Blick auf das Phänomen oder vielleicht Phantasma postideologischer Meinungspluralität, das Medium selbst zur diffusen, manipulativen Message. Unbegrenztheit vermählt sich hier mit einer Beliebigkeit, die allerdings von machtvollen, verschleierten, wirtschaftlichen und politischen Strukturen geprägt ist, welche sich scheindemokratische oder plebiszitäre Prozesse, wie etwa die Wahl, nicht selten in manipulativer Manier zu eigen machen, um das zu präsentieren, was die User am häufigsten gewählt und zu wählen haben. Individuelle, freie und kritische Partizipation ist damit eine problematische Vokabel geworden, behauptet auch Mersch, forciere sie doch nurmehr noch mit der Ausrichtung der Netze zugleich die Obligationen des Sichanschließen-müssens und damit die Weise der Kommunikation, von der nicht abgewichen werden kann. Es geht also technisch nicht allein um die Bereitstellung oder Organisation einer Möglichkeit des Austauschs, der Aufzeichnung oder Sammlung und Konvertierung von Daten, die so oder anders genutzt werden könnten; es geht im Grunde überhaupt nicht um Information als Information, sondern um die ›bedingungslose‹ Aufrechterhaltung ihrer Zirkulation. Das meint ›Fascismus‹: Die ›Anforderung‹ des Modells ist die ›Forderung‹ seiner Erfüllung. 30
29 | Derrida, Marx‹ Gespenster, S. 80f. 30 | Mersch, Ordo ab chao – Order from Noise, S. 49f.
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Das Subjekt kann in dieser Umgebung also noch zwischen diversen Narkotika wählen, hat aber keinen Einfluss mehr auf die eigene demokratische Teilhabe im Sinne einer politisch wirksam werdenden, alexipharmazeutischen Transformation von Kritik. Denn auch und nicht zuletzt in den Sozialen Netzwerken beherrschen längst programmatisch zugerichtete Suchtmittel und/als Währungen die Szene, welche geprägt und in Umlauf gebracht werden von einer kryptierten Gouvernementalität, die kein Interesse an kritischer Teilhabe hat, sehrwohl aber an Kontrolle: Wir sind unsere eigenen Kontrolleure, und zwar dadurch, dass wir nichts weiter tun, als die technischen Systeme zu benutzen oder sie für unsere Zwecke auszubeuten. Demokratie, die stets eine Theorie der Teilhabe und der Widerständigkeit mit einschloss, kehrt dabei ihren eigenen Sinn um, weil nunmehr der Begriff des Widerstands mit dem der Störung oder Hemmung zusammenfällt. Ihre Ausräumung oder Reparatur, d.h. die Wiederherstellung der Funktionen, liegt im Interesse der Optimierung der Netze, die wiederum die Illusion der Freizügigkeit und Partizipation steigert. Tatsächlich verstärkt sie, im Resultat, die faktische Departizipation. 31
Wenn man das ernst nimmt – und zwar auch als Kommentar zur Zukunft wirksamer Kritik in den neuen Medien- und Programmgesellschaften –, dann muss man in der Sprache einer Medienpolitik eine postdemokratischen Zukunft befürchten, die Krisen und Kriege erzeugen wird, für die die Kampfstoffe heute entwickelt werden (das Internet ist, wie man weiß, eine militärische Erfindung).
M ediale K ampfmittel Hiermit wäre immerhin eine haltbare Aufgabe für die künftige Intelligenz anzudeuten: digitale Kampfmittel, Manipulationstechniken und/als pharmaka zu studieren. Womit neuerlich gefragt ist, welche Gutenberg-Texte denn da noch weiterhelfen. Eine schwierige Frage, denn schon heute sehen wir, dass selbst die intelligenten Kritiken am Netz innerhalb kürzester Zeit eine gewisse Patina ansetzen. Wenn wir Sorgen tragen wollen um die richtigen pharmaka und deren Dosen, dann müssen wir bereits etwa die folgende Malaise ernst nehmen, wie sie Peter Matussek aufzeigt: Jeder Mausklick führt unter dem Versprechen des Assoziationsreichtums nur um so tiefer in die Dissoziationswüste. Der Eindruck bewegter Vielfalt ist […] ein reines Oberflächenphänomen, das keine Heterotopien bietet, sondern nur die im wesentlichen immer gleiche Topographie der Angstreaktion auf den leeren Raum, der mit den panikartigen Versuchen, ihn zu füllen, nur um so mehr verödet. Das substanzlose ›Angeregtsein‹, das schon Georg Simmel dem modernen Menschen attestierte, findet im World Wide Web sein potenziertes Medium. 32
31 | Ebd., S. 56. 32 | Peter Matussek: Computer als Gedächtnistheater. In: Götz-Lothar Darsow (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter. Stuttgart-Bad-Cannstatt 2000, S. 81-100, hier S. 99.
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Diese Dissoziation ist also offenkundiger Teil der angesprochenen Probleme des Gedächnisses, der Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit. So sieht auch Bernard Stiegler in den zeitgenössischen Medien samt ihren Programmen und Programmatiken die Verursachung eines globalen Aufmerksamkeitsdefizitssyndroms, dem nur durch intellektuelle Strategien zur Mehrung der Intelligenz zu begegnen wäre: Er behauptet mithin, dass der »Diskurs über Gleichgültigkeit und Sorge […] in erster Linie ein pharmakologischer« sei, und fügt hinzu: Die Gesellschaften der Gegenwart bedürfen einer Soziotherapie, die die theoretische und praktische Ausarbeitung einer Entwicklungspharmakologie voraussetzt, so wie man seit Piaget auch von der Entwicklungspsychologie spricht. […] Untersuchungen zu den synaptogenetischen Effekten der Medien auf die Aufmerksamkeit führen vor Augen, daß es so etwas wie Epochen des pharmakon gibt. Es ist daher die vordringliche Aufgabe der öffentlichen und privaten Mächte, der Psychomächte und der Noomächte, für die öffentliche Gesundheit, das heißt für die Gesundheit der Jugendlichen und der Erwachsenen, vor allem aber für das wertvollste lebendige noetische Potential Sorge zu tragen: für die nachwachsenden Generationen der nicht-inhumanen Wesen sowie letztendlich für das Überleben der gesamten Gattung der Nicht-Inhumanen, das ohne eine globale Steigerung der Intelligenz nicht gewährleistet werden kann. 33
Das Problem wäre nun, wie diese Mehrung von Intelligenz auch und nicht zuletzt in den modernen Medien, und da vor allem im Netz, konkret herstellbar oder vollziehbar wäre, wenn doch von erheblichen Widerständen der medialen Betäubungsmittelindustrie auszugehen ist. Welcher Drogenkrieg muss im Namen welcher Intelligenz geführt werden? Wer soll ihn mit welchen Mitteln beginnen? Ist dieser Krieg ein Weltkrieg oder nur eine Revolte einer zwangsläufig sich als solche zu bekennenden Minderheit? Was wird aus der ganzen Globalisierungsrhetorik und jenem grenzüberschreitenden, universalisierenden, auch universitären ›Wir‹, das produktiv zu werden hätte im Zuge der Bildung und Mehrung einer widerstandsfähigen humanen Intelligenz? Ähnliche Fragen darf man auch Giorgio Agamben stellen. Was bedeutet es konkret, dem Auftrag nachzukommen, dem System der kapitalistischen »Medienspektakelreligion« eine »Profanierung« angedeihen zu lassen? Dies ausgehend von folgender These: »Die Vorkehrungen der Medien haben […] den Zweck, die profanatorische Macht der Sprache als reines Mittel zu neutralisieren und zu verhindern, dass sie die Möglichkeit eines neuen Gebrauchs, einer neuen Erfahrung des Wortes auftut.«34 Im übrigen dient nach Agamben die Profanierung selbst bereits als »Gegendispositiv«, um auch weitere Dispositive dem Gebrauch zurückzugeben und so im alltäglichen »Nahkampf« zu bestehen.35 Hier wird der Kampf als notwendiger Bestandteil einer ernstzunehmenden pharmakologischen Sorge des Subjekts in Betracht gezogen, aber es bleibt doch die Frage der konkreteren Umsetzung im Umgang mit den Medien und Dispositiven unbeantwortet. Um 33 | Stiegler, Von der Biopolitik zur Psychomacht, S. 180f. 34 | Giorgio Agamben: Profanierungen. Übers. von Marianne Schneider. Frankfurt a.M. 2005, S. 87. 35 | Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Übers. von Andreas Hiepko. Zürich, Berlin 2008, S. 33f.
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welche »neue« Erfahrung des Wortes kann es gehen, wenn etwa die digitalen Dispositive hierbei ein bedeutendes (nicht unbedingt sinnvolles) Wörtchen mitzureden haben? Kurz, die vom Gutenbergzeitalter geschulten Mahner stehen am Rande des digitalen Datenmeeres und weigern sich, die Surf bretter zu besteigen, und wenn sie es doch tun, dann mit derselben Scheinsouveränität eines kritiklosen digital native, der glaubt, er entscheide frei, wenn er diese oder jene programmierte Welle nimmt. Das alles mag man mehr oder weniger altbacken kritisieren oder nicht – wenn ja, dann jedenfalls nicht mehr im Namen einer stabilen Buch- und Wissenskultur. Schließlich mag auch stimmen, was Tiqqun behauptet, dass nämlich »das Ende des Buches sich nicht in seinem plötzlichen Verschwinden aus dem gesellschaftlichen Verkehr, sondern im Gegenteil in seiner totalen Verbreitung äußert.«36 Großer Schlussverkauf also. Und so bleibt das Entsetzen einer prekären Intelligenz, die die Gifte wittert und hilflos um sich blickt. Hochgiftig ist dieses »verdammte Web« also besonders aus einer archivarisch-humanistischen Perspektive, die noch vom ver- und aufrührerischen Stellenwert von solchen kritischen Äußerungen zu träumen weiß, die sich zu Hochzeiten sogar zu kritischen Theorien destillieren ließen. Von solchen Theorien will die Melancholie nicht mehr weichen, da der Vergiftungszusammenhang sich nicht auflöst, nur weil man ihn benennt. Die digitalen Medien archivieren diese und viele andere Kritiken, aber in aufregende, geschweige denn nachhaltig wirkende Steine des Anstoßes verwandeln sie diese Museumsstücke kaum.
D igitale N arkotik a Aus einer Stück für Stück zu schärfenden narkopolitischen Perspektive, die die analoge Welt in methodischer Hinsicht nicht allein von der digitalen zu trennen, sondern beide auch zu verbinden (vermischen) hat, müssen weitere gute Vorsätze geprüft werden – wie etwa: Die alexipharmaka setzen sich (ein) gegen die Stoffe und Dispositive, die Dummheit, Gleichgültigkeit und Stumpfsinn bewirken. Ein resthumanistischer Auftrag, der selbst nach seiner verdienten Ironisierung anschließbar bliebe an Richard Rortys Definition der wesentlichen Aufgabe der Literatur und ihrer Wissenschaften: nämlich bei der Minimierung von Grausamkeit zu helfen.37 Wo Grausamkeit im Internet und den Dispositiven zu finden wäre, ist gewiss systemisch zu verbinden mit der Frage danach, wo sie nicht nur punktuell, sondern generell verschleiert wird. Diese Schleier indes einfach zu heben, wird, wie gesagt, in Form listenreich codierter Intoxikationen verhindert. Wir können uns hier eine gewisse Redundanz nicht ersparen, auch weil wir dem schnell Konstatierten mehr denn je methodisch zu misstrauen haben, gerade wenn wir prominente Wirkungen von Giften ernst nehmen wollen: die Lähmung und Betäubung etwa. Intellektuelle Lähmung und affektive Betäubung können im Internet erzeugt werden durch eine (immer schon hochdosierte) hochgeschwinde Performativität und überbordene Informativität – und rufen damit, gleichsam 36 | Tiqqun: Theorie vom Bloom. Übers. von Urs Urban. Zürich, Berlin 2003, S. 9. 37 | Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übers. von Christa Krüger. Frankfurt a.M. 1992, bes. S. 229f.
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als ihre Gegengaben, Techniken der Differenzierung und Verlangsamung auf den Plan. Man könnte auch zuspitzen, es ginge hierbei letztlich um den Erhalt des überlebenswichtigen Schmerzes. »Der Schmerz«, schreibt Byung-Chul Han, »dieses Schwellengefühl angesichts des Anderen, ist das Medium des Geistes. Geist ist Schmerz. Hegels Phänomenologie des Geistes beschreibt eine via dolorosa. Die Phänomenologie des Digitalen ist dagegen frei vom dialektischen Schmerz des Geistes. Sie ist eine Phänomenologie des Gefällt-mir.«38 Hans Dialektik setzt sich solcherart aber noch nicht dafür ein, für diese schmerzfreie Zone des Digitalen Reizmittel zu ersinnen und zu erproben – bislang.
N arko -N arzissmus Die zu differenzierende Betäubungsthese ist natürlich nicht neu. Mag sein, dass die einen das mit Blick auf das Pragma der Dosierung schnell ablehnen und die anderen schon nichts mehr verspüren, weil die Gewöhnung und Programmierung längst entsprechend weit fortgeschritten sind – so lohnt es sich gleichwohl, für eine Fortführung wenigstens der durchaus nicht selbstverständlichen Diagnostik zu kämpfen. Gerade deshalb soll das Phänomen der digitalen venena narcotica, s. stupefacientia39 noch einmal an den Narzissmus (Narko-Narzissmus) gebunden und zunächst ein weiteres psychopolitisches Symptom hinzugezogen werden: Zu Recht weist Han hier nämlich auf den Zusammenhang von Depression und Narzissmus hin und erinnert an eine bestimmte Müdigkeit: »IFS (Information Fatigue Syndrom), die Informationsmüdigkeit, ist die psychische Erkrankung, die durch ein Übermaß an Information verursacht wird. Die Betroffenen klagen über zunehmende Lähmung analytischer Fähigkeit, Aufmerksamkeitsstörung, allgemeine Unruhe oder Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen.« 40 Und er fügt hinzu: Zur Informationsmüdigkeit gehören auch Symptome, die charakteristisch sind für die Depression. Die Depression ist vor allem eine narzisstische Erkrankung. Zur Depression führt der überspannte, krankhaft übersteuerte Selbstbezug. Das narzisstisch-depressive Subjekt vernimmt nur den Widerhall seiner selbst. […] Unsere Gesellschaft wird heute immer narzisstischer. Soziale Medien wie Twitter oder Facebook verschärfen diese Entwicklung, denn sie sind narzisstische Medien.41
Vor allem die Sozialen Netzwerke begünstigen also die narko-narzisstische Betäubung, insofern sie das performing self bestätigen, das sich – und sei es als briefmarkengroßer Avatar – entwirft und inszeniert, um damit Aufmerksamkeit zu erregen, die vor allem über die bereits angesprochene Währung, besonders das Prinzip der Quantität selbst, qualifiziert wird. Je höher die Zustimmung, desto größer die Belohnung. In diesem Rausch bläht sich das Ego narzisstisch auf, weit davon entfernt, 38 | Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013, S. 70. 39 | So eine sprechende, toxikologische Bezeichnung für betäubende Gifte. Wahrig, Systeme in pragmatischer Hinsicht, S. 122. 40 | Han, Im Schwarm, S. 78. 41 | Ebd., S. 80.
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als komplexe Persönlichkeit gelesen zu werden. Die psychosozialen Wirkungen des digitalen Narzissmus (nicht nur) auf das kommunikative Verhalten in der realen Welt geben keinen Anlass zu Optimismus. Dafür verantwortlich sind nicht allein diese oder jene dissozialen Giftmischer, Programmierer und Programmatiker, die etwa Jaron Lanier auf seiner Suche nach einem »neuen digitalen Humanismus«42 dingfest zu machen sucht; verantwortlich sind auch die Konsumenten selbst: als bewusste oder unbewusste Produzenten von medialen Narkotika. Gewiss, so lange die narko-narzisstischen Subjekte ›gut drauf‹ sind, gerade weil sie die Beschränkungen und Betäubungen genießen, wird man den Begriff der Vergiftung zu bagatellisieren suchen. Erst existentielle Krisen werden die Betäubung und Lähmung mit frisch erwachenden und dann womöglich überwältigenden Schmerzen aufund unterbrechen. Sie kommen aus der analogen Welt und müssen nicht allesamt nach einem Big-Data-Prinzip vorab ermittelt worden sein. Und in intellektueller Hinsicht können wir uns kaum mit der Stilkritik begnügen, dass der Narzissmus der Netzwerke bereits einer von der Stange ist: konfektioniert, zugerichtet und alles andere als revolutionär. Das intellektuelle Subjekt hat in diesen Zusammenhängen beinahe ausgedient. Wenn wir im folgenden immer noch von alexipharmaka sprechen wollen, betätigen wir daher bewusst ein utopisches Phantasma. Wir begrüßen dazu die Phantome der Dekonstruktion – gerade weil sie uns an unsere Pflicht erinnern, wenigstens Sorge zu tragen um eine gewisse methodologische Provokation, die, wenn sie schon nicht schmerzt, doch ein bisschen reizt.
G egen -P hantome Derrida hatte es ja schon angedeutet: Man muss sich einmischen. Und dazu muss man etwas anmischen und darf sich gewisse dekonstruktive Unzuständigkeiten (Desistanzen) nicht ersparen, im Gegenteil: Die Differenzierungen und Spiele des dekonstruktiven pharmakon dürfen weder schmerzfrei sein noch machen. Man hätte sich zum Beispiel der folgenden Passage auszusetzen: Und […] käme man nun auf den Gedanken, daß allein von etwas derartigem wie der Schrift – oder wie dem pharmakon – aus die eigentümliche Differenz zwischen dem Drinnen und dem Draußen angezeigt werden kann; käme man schließlich auf den Gedanken, daß die Schrift als pharmakon sich nicht einfach einen Platz zuweisen läßt, einen situs, innerhalb dessen, was sie situiert, sich nicht unter die Begriffe subsumieren läßt, die von ihr her entschieden werden, der Logik, die sie nur beherrschen wollen kann, indem sie selbst noch aus ihr hervorgeht, bloß ihr Phantom überläßt, es wären merkwürdige Bewegungen, worunter man zu beugen (plier) hätte, was man nicht einmal mehr schlichtweg Logik oder Diskurs nennen könnte. Um so mehr, als das, was wir gerade unvorsichtig Phantom genannt haben, nicht mehr, mit derselben Sicherheit, von der Wahrheit, der Wirklichkeit, dem lebendigen Leib etc. unterschieden werden kann. Man muß akzeptieren, daß in einer bestimmten Weise mit dem Lassen des eigenen Phantoms dieses eine Mal nichts gerettet werden soll. Mit dieser kleinen Übung [Hervorheb. von L.F.] wird dem Leser immerhin eines genügend klar geworden sein: 42 | Jaron Lanier: Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Übers. von Michael Bischoff. Berlin 2010, S. 38.
III. Alexipharmaka Die Auseinandersetzung (l’explication) mit Platon, so wie sie in diesem Text umrissen wird, untersteht bereits nicht mehr den anerkannten Modellen des Kommentars, der genealogischen oder strukturalen Wiederherstellung eines Systems […]. Es geht hier um etwas ganz anderes.43
Eine Passage, die man wiederholt lesen muss, damit das und der Andere seine Kontur gewinnt und wirksam wird, immer wissend, dass mit dem pharmakon das Leben selbst auf dem Spiel steht – und sei es das Leben der eigenen Phantomatizität, die als »methodische Provokation« 44 dafür zu sorgen hat, dass diese Pharmazeutik nicht stillstehen wird. Es ist wichtig, zur Anrufung dieser Phantome und »Gegen-Phantome« 45 eine eigene Technik zu entwickeln, um die ganze Poetopharmazie methodisch der diskursiven Heimeligkeit zu entziehen. Wieder ginge es darum, auch und gerade im Zuge einer pharmakologischen Sorge allen Substanzen und Evidenzen in phantomatischer Manier Konkurrenz zu machen. Und dies im übrigen auch – Derrida hat ja den Leib ausdrücklich mit einbezogen –, um einer gewissen immunologischen Pflicht nachzukommen. Für diese Pointe sorgt auch die erhellende Kommentierung der Derridaschen pharmakon-Definition durch Roberto Esposito: Wie Derrida argumentiert hat – in einer Form, die zugleich die Logik und das Vokabular der Immunitätssemantik wiedergibt –, ist das pharmakon dasjenige, was sich seinem Anderen entgegensetzt, nicht, indem es dieses ausschließt, sondern es einschließt und als sein Stellvertreter ersetzt. […] Das pharmakon ist zugleich das Übel und das, was sich ihm widersetzt, indem es sich seiner Logik beugt. Es selbst als das Andere und das Andere als es selbst – der Punkt, wo das Eine ins Zweifache eingeht und dabei doch Eines bleibt; das Ein-Zweifache, weder Eins noch Zwei, und dennoch beide, die auf der Linie ihres Gegensatzes zur Deckung kommen. Eine Differenz, die sich in keiner Identiät fassen lässt – und sei es jene widersprüchliche der coincidentia oppositorum. Als Übel und Antidot, Gift und Gegenmittel, Trank und Heiltrank ist das pharmakon keine Substanz, sondern eher eine Nicht-Substanz, eine Nicht-Identität, eine Nicht-Essenz. Vor allem aber etwas, das sich zum Leben vom Grunde seiner Verkehrung aus verhält. Es affirmiert es nicht, eher negiert es dessen Negation, um es zuletzt zu verdoppeln […].46
Wenn also im pharmakon die heilenden und giftigen Potenzen gleichermaßen anwesend sind, sich aber weder eindeutig identifizieren noch fixieren, sondern nur im Zuge einer supplementären Szene herauf beschwören lassen, dann fragt sich tatsächlich, was sich an diesem Prozess überhaupt noch kontrollieren lässt. Das unheimliche Andere, das hier nicht (immer) im Zeichen der Logik eröffnet wird, birgt das Versprechen einer Erfahrung, in welcher vielleicht auch bereits die Profanierung der medialen pharmaka aufscheint, die ihrerseits bislang vergeblich auf den Gebrauch (im Gegensatz zum Verbrauch) zielt. Diese Rezeption und Produktion des pharmakon als radikal offenen Prozess zu begreifen, heißt jeden43 | Derrida, Platons Pharmazie, S. 115f. 44 | Derrida, Rhetorik der Droge, S. 251. 45 | Ebd. 46 | Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Übers. von Sabine Schulz. Berlin 2004, S. 178.
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falls, eben nur jene Konstante zu akzeptieren: das Desistante, Unkontrollierbare, das schon Derrida im Zuge seiner »Übung« aus Diskurs und System aussteigen lässt. Wohl also den Wechselwirkungen Rechnung zu tragen und auch begreiflich zu machen, dass jedes pharmakon schon sein eigenes alexipharmakon (jedes Phantom sein Gegen-Phantom) beschwört und dabei befindlich in steter Bewegung und Spiel – darum ist es Derrida zu tun. Dieses pharmakon unter eine risikominimierende doxa zu beugen, fällt ihm nicht ein. Wollten wir nun aber, gerade wenn wir uns den Medienkomplexen stellen, an ein paar fasslicheren Spielregeln arbeiten, welche versuchsweise die Dialektik von Heilsamkeit und Giftigkeit der pharmaka schärfer konturieren, so bedürfte auch jenes Spiel, ausgemachtes Gift zu heilsamen Zwecken einzusetzen, distinkter Bestimmungen, mithin der Quantifizierungen und Dosierungen. Das wäre gut gemeint. Wenn wir indes hier schon einräumen müssten, dass wir mit einem solchen Vorsatz einem »verkrampften Kalkül der Dialektik« aufzusitzen in Begriff sind – und es besser wäre, wir insistierten oder desistierten auf eine »arhythmische Zäsur« 47 – wo führt das hin?
P oe to -P l acebo Es bleibt erst einmal die These zu akzeptieren, dass Schrift und Medien weder definierbar noch kontrollierbar werden, nur weil man Standards aus den Semantiken der Gattungs- und Affektlehren zusammenfügt (nach der Fragestellung: Welche allo- und homöopathischen Funktionen haben bestimmte Genres und Gattungen, denen man nach wirkungsästhetischen und affektpoetologischen Gesichtspunkten diese und jene Eigenschaften zuorden können sollte?). Gewiss, man kann so verfahren, und es wird sogar so ähnlich verfahren: Man blicke etwa auf die Verfahren der Programmindustrien, in denen es ja um nichts anderes als berechenbare Effekte von Genres geht. Aber es gibt da ja noch jenes Andere, auf das Derrida und Esposito aufmerksam machen. Und dieses Andere ist für den geschulten oder geübten Rezipienten der poetopharmaka erfahrbar. Mag übrigens sein, wir haben es hier tendenziell mit einer alternativen Sicht (Medizin, Pharmazie) zu tun, die eher nach homöopathischen denn nach allopathischen Aspekten ausgerichtet ist. Zwar haben beide Diskurse einen systematischen Charakter, aber die Homöopathie (die unter alexipharmazeutischen Gesichtspunkten einiges mit der Immunologie gemein hat) kennt gleichfalls die Verflüssigung des Gifts bis zu einem Grade, von dem die moderne Medizin behauptet, hier sei keine Wirkung mehr zu erzielen, weil die Substanz in keinem relevanten Maße mehr vorhanden sei. Damit – und das wird ja auch deshalb kritisiert – kommen die Placeboeffekte und mit ihnen Suggestion und Imagination ins Spiel. Und wie, falls überhaupt, funktioniert die Autosuggestion wenn nicht über eine zunächst einmal hierfür sensibilisierende Übung? Wobei wohl stets vorauszusetzen wäre, dass es einer narkopolitischen Entscheidung gleichkommt, sich der Substanzen samt ihren auf Ursache-Wirkung-Relationen basierenden Rezepturen immer wieder bis an die Grenze des Schmerzes zu entschlagen und damit – kritisch – den passiven Status des konsumierenden Patienten zu befragen.
47 | Derrida, Desistanz, S. 180.
III. Alexipharmaka
Der Einsatz des Medienspielers läuft jedenfalls auf die Bestimmung der Grundlagen der Übungen hinaus. Und über die existenzphilosophische Bedeutung der Übung an sich besteht ja kein Zweifel mehr. Derrida hat, wie gezeigt, selbst bereits von einer gewissen Lektüre-Übung gesprochen. Und ich erinnere daran, dass Peter Sloterdijk Derrida zum sophistischen Trainer oder Meister erhoben hat, der »eine neo-akrobatische Form von sophistischer Wissenskunst bzw. eine fortwährend zu übende und nur in der Übung existente philosophische Sophistik« vertrete.48 Mit Blick auf Derridas poetopharmazeutisches Engagement mag es so gewendet werden: Die Dekonstruktion ist nur zu Teilen noch ein Diskurs, vielmehr ist sie eine pharmazeutische paideia, welche an der Grundlegung einer hermetischen Athletik des Users arbeitet.49
H erme tische Paideia Dass und wie die Übung selbst schon zum poetopharmakon werden kann, zeigt eine Episode aus der Geschichte der alexipharmaka: Nach Hugo Rahner kann das wohl berühmteste Gegengift der Antike, Moly, welches Hermes dem Odysseus gab, damit dieser sich gegen die Verzauberung durch Kirke schützen konnte – dieses Gegengift also kann aufgefasst werden nicht so sehr als pharmazeutischer Begriff oder Pflanzenname, vielmehr als »ein allgemeiner dichterischer Ausdruck für Gegenmittel, abgeleitet von molyein, entkräften, abschwächen.«50 Neben der poiesis des Moly steht nun noch die paideia. Und es laufen, wie schon einmal erläutert, einige Deutungen des Kirke-Mythos darauf hinaus, Moly als eine wunderliche Pflanze mit schwarzen Wurzeln und weißen Blüten zu betrachten, welche zu ziehen dem Menschen aufgegeben sei. Und vor allem in der neuplatonischen Version steht das »hermetische Kraut« für die »Paideia, die seelische Erziehung des Menschen zum Aufschwung seiner Lichtkraft aus der Finsternis des irdisch Sinnlichen.«51 Die schwarzen Wurzeln wollen also qua Er-Ziehung gleichsam entkräftet werden zugunsten der lichten Offenbarung (und hier auch: Aufklärung), welche die weiße Blüte verkörpert. Noch einmal: Es würde eines langen und aufwendigen Weges bedürfen, um hermetische wie auch kryptische topoi in der Geschichte der Schrift- und Medienreflexionen bis zu Derrida einerseits und in der Geschichte der Heilverfahren andererseits zu identifizieren. Hier soll es genügen, das pharmakon in der paideia selbst zu suchen, womit wir auch bei Bewegung und Spiel angekommen sind. Gerade letzteres erlaubt das Motto: Keine Angst vor Geheimnissen; die Programmierung ist nicht abgeschlossen; man muss entschlüsseln und kann verschlüsseln. Die hermetische Codierung des alexipharmakon wäre Teil einer Gift-gift-Übung. 48 | Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a.M. 2011, S. 455. 49 | Was hier also wie auch im Praxisbereich der poetopharmazie.de erst entwickelt wird, sind praktische Konsequenzen aus der Versöhnung des späten Derrida mit dem späten Foucault, wonach die athletische und therapeutische Sorge nicht von der medien-pharmazeutischen Rezeption (als Übung) zu trennen ist. 50 | Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, S. 169. 51 | Ebd. S. 176.
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Poetopharmaka
Die praktisch-pharmazeutische Funktion der paideia kann auch mit Hilfe Michel Foucaults unterstrichen werden: Er erinnert nämlich in seinem Text Über sich selbst schreiben an das »ethopoetische« Schreiben, welches er in einer Übungsreihe begriffen sieht: Meditation, Schreiben, Übung in der realen Situation bzw. Probe, oder auch: »Arbeit des Denkens, Arbeit durch Schreiben, Arbeit in der Realität«52 . Oder aber das Schreiben wird in einer kreisförmigen Struktur eingefügt: Meditieren, Schreiben, Lesen, Meditieren, Lesen, Schreiben, Lesen, Meditieren etc. Dieses ethopoetische Schreiben kam im 1. und 2. Jahrhundert auf und war nicht zu verwechseln mit den hypomnemata und der Korrespondenz. Die hypomnemata können Rechnungsbücher oder Notizbücher sein, bilden den Rohstoff für systematischere Abhandlungen, aber auch hier wieder für »eine Übung, die immer wieder absolviert werden sollte: lesen, wieder lesen, meditieren, Gespräche mit sich selbst und anderen führen usw.«53 Lesen und Schreiben sind hierbei nicht zu trennen. Foucault präzisiert, Seneca lesend: Das Schreiben hat die Aufgabe, aus dem Gelesenen ein ›corpus‹ zu machen […]. Und darunter ist kein Korpus von Lehren zu verstehen, sondern – gemäß der so oft verwendeten Verdauungsmetapher – nichts anderes als der Körper dessen, der sich die Lesefrüchte durch Transkribieren aneignet und sich ihre Wahrheit zu eigen macht. Das Schreiben verwandelt das Gesehene und Gehörte in ›Kräfte und Blut‹.[…] Daraus entsteht im Schreibenden selbst ein Prinzip rationalen Handelns. 54
Danach produziert das Schreiben in besonderer Weise pharmaka, die zuvor in anderer Gestalt rezipiert wurden. Was auch hier wieder im Vordergrund steht, ist nicht so sehr die zu spezifizierende Essenz, sondern ihre Entfaltung im Lese- und Schreibprozess, welcher wiederum immerhin zu gewünschten Resultaten gelangt – und tendenziell wohl, so scheint es, in gewisser Weise kontrollierbar, weil rational ausfällt. Das wiederum eindeutig festzuhalten, dürfte schwerer fallen, als hier das existentielle Motiv der Konstituierung des Subjektkörpers qua Transformation zu unterstreichen. Zu dieser Transformation gehört jedenfalls neben dem ›Was‹ des Lehrsatzes das ›Wie‹ der Aneignung: und also die Übung. Die alexipharmaka sind also auch Übungen der Mediennutzung, welche sich zu Teilen durchaus an den Tugenden der alten Rezeptionskultur orientieren sollten. Hier wäre zu beerben: Lesen, Wiederholen, Meditieren – Übersetzen ins Medium oder Gespräch (Schreiben, Sprechen). Diese Übung, die sich der Tradition verpflichtet weiß, dient der Konzentration und schärft die kritische Perspektive. Nun muss aber noch Entscheidendes hinzukommen: und zwar jene Performativa der Mediennutzung. Man müsste etwa von einer Phänomenologie des Klickens und Wischens ausgehen. Solche und andere Performativa, die ja in permanentem Wandel befindlich sind, sind alles andere als erfasst und kontrolliert. Kein Grund also, »die Emergenz neuer Kompetenzen« zu ignorieren.55 Und erst recht kein Grund,
52 | Michel Foucault: Über sich selbst schreiben. In ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 2003, S. 350-370, hier S. 353. 53 | Ebd., S. 354. 54 | Ebd., S. 358. 55 | Serres, Erfindet euch neu!, S. 61.
III. Alexipharmaka
die Spiele (Games) zu unterschätzen – auch weil einige von ihnen behaupten, nicht nur gut und heilsam, sondern in jeder Hinsicht besser zu sein.56 Nicht zuletzt das Spiel, das bessere Spiel (the better game=the better drug), erzwingt das Experiment mit den poetopharmaka. Und dazu ist es anregend, einige Übungen als Destillate dekonstruktiver Performativa aufzufassen. Konkret heißt das, etwa den Bau einer Webseite, die Entwicklung eines Spiels, die Kombination digitaler pharmaka etc. ihrerseits als Performances auszuführen, deren wesentliches Movens einer disseminativen, aleatorischen, polerotischen, provokativen und irritierenden Dynamik folgt. Konservative Kritik, wohlfeiler Pragmatismus und weitere konventionell-konsumistische Narkoprogrammatiken kranken ihrerseits an der Tatsache, dass ihre Spielräume rasend schnell veröden. Und also funktionieren nicht selten Programmierer, hetzen Konsumenten, erstarren Kritiker und merken die angepassten Pragmatiker immer weniger. Nur der dekonstruktiv geübte Spieler und Athlet stärkt Zug um Zug seine Widerstandskräfte in einer Welt, aus welcher sich das humanum zurückzieht. Die Spuren(elemente) seines Widerstands sind wesentlich unheimliche alexipharmaka.57
V omitive Zu viel Pädagogik ist freilich nicht, was das Publikum will. Und welche geisteswissenschaftlichen Disziplinen haben noch die Ambition, aus dem Verzicht auf den Massengeschmack eine durchsetzungsfähige Tugend zu ziehen? Vielleicht sind gerade hier jene angedrohten, dekonstruktiven Zäsuren, die Dialektik wie Diskurs immer schon unterbrachen, ernster zu nehmen. Es müsste darauf insistiert oder »desistiert« werden, dass es jedenfalls keine Pädagogik der Mediennutzung geben kann, bevor nicht gewisse Einwürfe als Auswürfe gewaltsam erzwungen wurden. Der Spieler muss besonders darauf achten, nach bestimmten Regeln zu spielen, ohne blindlings zu funktionieren. Dafür kann er nicht nur etwa als ein Würfelspieler gedacht werden, sondern auch als taktisch kluger und agiler Athlet – ein Kämpfer, ein Ringer, ein Boxer (ein Schattenboxer), der einzustecken und auszuteilen vermag – und doch noch »mehr« versteht.58 Und auch zu dieser interdisziplinären Gewalt ermutigt die Dekonstruktion. Denn alles, was die Dekonstruktion an reizenden und provozierenden Gaben und Figuren aufzuweisen hat: die Brüche, die Schläge, die Differenzen, die Knoten des double-bind – diese und mehr sind vor-
56 | Im speziellen wäre hier an die Health-Games zu erinnern – wie etwa Superbetter von Jane McGonigal. Hierzu und zu weiteren Heilsversprechen der Games vgl. von ders.: Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern. [Reality Is Broken. Why Games Make Us Better and How They Can Change The World]. Übers. von Martina Gaspar. München 2012. 57 | Dass wir uns hier stets ›nur‹ im homöopathischen Rahmen bewegen können (aber immerhin bewegen), bestätigen auch kritische Gameentwickler wie etwa Paolo Pedercini, der auf seiner Seite behauptet, »homeopathic remedies to the idiocy of mainstream entertainment« zu entwickeln. Siehe molleindustria.org (2014). 58 | Vorbildlich: Jan Philipp Reemtsma: Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali. Hamburg 2013.
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zügliche Dissentialisierungen des pharmakon selbst und also Ingredienzen einer polemogenen Performativität. Und gewiss helfen da manchmal die guten alten Gespenster und ihre immer noch giftigen Rhetoriken. Ein hierin vorbildlicher Giftspritzer der Philosophie ist bekanntlich Friedrich Nietzsche, der sich trefflich auf diskursive »Wirkungen«59 verstand, wie er sie etwa in Zur Genealogie der Moral im Umgang mit dem ubiquitären asketischen Ideal beschrieben hat: In der Verantwortung des übermächtigen asketischen Priesters liegt nach Nietzsche nicht nur die Erzeugung oder doch Verstärkung von allen möglichen Depressionen, sondern auch deren scheinbare Therapie durch allerlei Narkotika wie etwa den übermäßigen Affekt (»Betäubung von Schmerz durch Affekt« 60), aber auch durch die Arbeit bzw. die »machinale Thätigkeit«, welche »wie die absolute Regularität, der pünktlich-besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur ›Unpersönlichkeit‹, zum Sich-selbst-Vergessen, zur ›incuria sui‹« benutzt wurden »im Kampf mit dem Schmerz«.61 Nietzsches Antidote gegen die Betäubungsmittel der asketischen Gouvernementalität verweisen gewiss nicht nur an die Adresse des Dionysos und etwa die Rhythmen der Musik, sondern auch an die einer auf- und erbrechenden Rhetorik, wie sie sich hier noch über die Idealismen der modernen Literatur ergießt: Ich zweifle nicht daran, wozu allein moderne Bücher (gesetzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nachwelt mit strengerem härteren gesünderen Geschmack giebt) – wozu alles Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte: zu Brechmitteln, – und das vermöge seiner moralischen Versüsslichung und Falschheit, seines innerlichsten Feminismus, der sich gern ›Idealismus‹ nennt und jedenfalls Idealismus glaubt.62
Statt in einer historisierenden Logik Nietzsches unzuständige Gesundheitsphilosophie zu restituieren, soll hier vor allem die verblassende ästhetische Sensibilität und Polemogenität unterstrichen werden, die dazu befähigen, überhaupt auf mediale pharmaka (poetopharmaka) intensiv zu reagieren. Gesundheit nach Nietzsche setzt das Erbrechen (Brechen und Brüche) voraus. So sind jene Vomitive nützlich, wenn man den Mut hat, sie zu diesem Zwecke zu konsumieren. Das Gift muss erbrochen werden; erst dann ist Gesundung möglich. Und doch, angesichts der massenhaften und rasanten Zirkulation der medialen pharmaka ist offensichtlich, dass die Blumen auch dieser Rhetorik welken. An uns wäre es, gerade ihre trockenen Überreste als Mittel und Medien zu verwenden. Und das könnte etwa bedeuten, Nietzsche und andere Haudegen in Wilhelm Raabes Apotheke Zum wilden Mann63 zu begrüßen und hierin mindestens ein alle59 | Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgo Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 5. München u.a. 1988, S. 395. 60 | Ebd., S. 374. 61 | Ebd., S. 382. 62 | Ebd., S. 386. 63 | Raabes Apotheke wird zwar gleich zu Beginn umtost von einem Herbststurm, bleibt aber ansonsten recht behaglich (so ähnlich übrigens wie die Apotheken bei Jean Paul und Theodor
III. Alexipharmaka
gorisches Vorbild für die Einrichtung einer Kampfschule in den hinteren Räumen der Poetopharmazie zu sehen. Das Spiel, das darin gespielt würde, dissentialisiert Performativa der Mediennutzung, die wie gut platzierte ludische Schläge (Coup & Pun[s]ch) dabei helfen mögen, Betäubungen auf- und also die dafür verantwortlichen Gifte zu erbrechen. Wenn wir also noch präziser fragen nach Gegenmitteln in einem multimedialen Zusammenhang, der so machtvoll ist, weil er es versteht, Kontrolle durch systematische Betäubung und Süchtigmachung seiner User herzustellen, dann müssen wir auch fragen, ob wir nicht allmählich einen unschlagbaren Club zu gründen haben.
F ight C lub Die ersten Regeln des Fight Club im gleichnamigen Film64 lauten, dass niemand über den Fight Club sprechen darf. Die Schläge, die dort ausgeteilt werden, sind Gaben, die nicht jeder kennen muss. Die Amateurkämpfer brauchen keine Drogen, die sie betäuben, sondern das Gegenteil: Schläge, die sie schmerzlich spüren lassen, dass sie leben. Diese Kämpfe führen schließlich zu Sabotage und Revolution. (Pharmaka kommen dabei nicht so sehr als Drogen, sondern als Kampfmittel zum Einsatz.) Das Autorenkollektiv Tiqqun hat sich vergleichbaren Zielen verschrieben. In Kybernetik und Revolte ist es die Kybernetik selbst, die als politisches Modell aufgefasst wird, gegen welches revoltiert werden muss. An die Stelle des Liberalismus sei dieses Modell getreten, »das sich hinter den Namen Internet, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, ›Neue Ökonomie‹ oder Gentechnologie verbirgt. Der Liberalismus ist heute nur noch eine remanente Rechtfertigung, beziehunsgweise das Alibi des alltäglichen Verbrechens, das von der Kybernetik begangen wird.«65 Der ideologische Kern dieser »kybernetischen Hypothese« sieht vor, »die biologischen, physischen und sozialen Verhaltensweisen als voll und ganz programmiert und neu programmierbar zu betrachten.«66 Demnach sei die Kybernetik der »konsequenteste Antihumanismus, der die allgemeine Ordnung der Dinge aufrechterhalten will und sich zugleich damit brüstet, das Humane überschritten zu haben.«67 Auswirkungen dieser Entwicklung bestehen in Taktungen und Verschaltungen der arbeitenden Subjekte nach einer reibungslosen Programmatik. Tiqqun will dies so bekämpfen:
Fontane). Und wenn der Erzähler sich daran erinnert, wie er einst dem »geheimnisvollen Wirken des Mannes hinter dem Arbeitstische wild und dumm« zugesehen habe (S. 164), dann muss man freilich besondere Anstrengungen der Lektüre unternehmen, um diese Wildheit in die revolutionären Bedingungen moderner Offizin-Politiken zu überführen, wie sie hier prolongiert werden. Wilhelm Raabe: Zum wilden Mann. In ders.: Sämtliche Werke. Bd. 11. Göttingen 1973. 64 | David Fincher (Regie): Fight Club (1999). 65 | Tiqqun, Kybernetik und Revolte, S. 11. 66 | Ebd., S. 13. 67 | Ebd., S. 16.
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Poetopharmaka In der Sprache der kybernetischen Hypothese kann ich die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla auf molekularer Ebene auf zwei Weisen schaffen. Erste Geste, ich fabriziere Reales, ich mache kaputt und ich mache mich kaputt, indem ich kaputtmache. Alle Formen von Sabotage haben hierin ihre Wurzel. […] Zweite Geste, ich reagiere nicht auf die menschlichen oder maschinellen Feedback-Schleifen, die mich erfassen wollen, wie Bartleby ›möchte ich lieber nicht‹, ich halte mich abseits, ich gehe nicht in den Raum der Ströme ein, ich schließe mich nicht an, ich bleibe. Ich benutze meine Passivität als Wirkungskraft gegen die Dispositive. Weder 0 noch 1, ich bin das absolute Nichts. Erster Akt: ich genieße auf perverse Weise. Zweiter Akt: Ich halte mich zurück. Jenseits. Diesseits. Kurzschluß und Abklemmen.68
Diese narkopolitische Revolte qua Verweigerung wird nun durch allerlei irritierende Vokabeln angereichert: Vokabeln wie Panik, Vernebelung, aber auch Rhythmisierung und schließlich Langsamkeit: Die Geschwindigkeit unterstützt die Institutionen. Die Langsamkeit unterbricht die Ströme. Das im eigentlichen Sinne kinetische Problem der Politik liegt somit nicht darin, zwischen zwei Arten von Revolte zu wählen, sondern sich einer Pulsation zu überlassen und andere Intensivierungen als die zu erforschen, die von der Zeitlichkeit des Notfalls erfordert werden. Die Macht der Kybernetiker bestand darin, dem Gesellschaftskörper einen Rhythmus zu geben, der tendenziell jegliches Atemholen verhindert.69
Gegen diese narkotisierenden Techno-Rhythmen werden hier »andere Rhythmen« aufgerufen, die zu einem »dissonanten Tempo« verleiten und einem »Sicheinlassen auf die Improvisation.« 70 Und hierbei dürfen Nebelwerfen und Schleiermachen nicht fehlen: Undurchsichtig wie der Nebel zu werden, bedeutet zu erkennen, daß man nichts repräsentiert, daß man nicht identifizierbar ist; es bedeutet, den nicht aufaddierbaren Charakter des physischen Körpers und des politischen Körpers auf sich zu nehmen und sich für noch unbekannte Möglichkeiten zu öffnen.71
Es ist offenkundig, dass diese Sätze nicht über die Qualifizierung als ohnmächtige Totalverweigerung abzutun sind (denn dann müsste man schon bereit sein, alle deklarativen Sentenzen als ohnmächtig fortzuwischen – angesichts der Kybernetik). Andererseits fragt sich, ob sie als Essenzen und Dissenzen der alexipharmaka definierbar wären. Hilfreich sind sie. Und es ist doch bemerkenswert, dass in den zeitgenössischen Debatten eigentlich keine starken Antworten auf diese radikalen Verneinungen des Vergiftungszusammenhangs zu finden sind, so wenig wie es intellektuell attraktive Bejahungen desselben gibt. Die Kybernetik und die durch sie geprägten Dispositive und Institutionen führen im Kommunikationsgebaren nurmehr zu Kalkulationen, für die Argumente Tand sind. Tiqquns An- und Ausfälle als paranoid zu denunzieren, wäre ebenso billig wie der »Bürgerkrieg«, den das Kollektiv selbst an anderer Stelle tatsächlich sogar 68 | Ebd., S. 97. 69 | Ebd., S. 108. 70 | Ebd., S. 109f. 71 | Ebd., S. 116.
III. Alexipharmaka
gegen die Dekonstruktion führt: Diese ziehe sich zurück, lösche Intensitäten aus, erzeuge keinen neuen, beschäftige sich nur mit Texten, Filmen, Musik, desavouiere Erfahrung und fördere so eine »Militanz der Abwesenheit« 72 . Immerhin ein paar starke Reflexe auf nichts als eine Theorie. Wenn aber Texte, Filme und Musik (freilich im Zuge eines entsprechenden Selbstwiderspruchs) mehr als nur entwertet werden sollen, dann muss die Leistung solcher Angriffe anderweitig legitimiert werden. Sollte also Tiqqun in Stadt und Garten gehen und Barthes’ These Wie zusammen leben73 so prolongieren, dass man davon lernen kann, und mithin automatisch jene Kriegsrhetorik (gegen nichts als Texte) tilgen – und übrigens die besseren pharmaka entwickeln und vertreiben –, dann wäre doch das Ganze des weiteren Bemerkens wert. Aber ohne die besseren Drogen und ohne überzeugende Einladungen zum parrhesiastischen Dialog, den zu gestalten zu den wahren biopolitischen Herausforderungen gehört, entstehen weder Autorschaft noch Autorität, die zu heilsamer, humaner Polemogenität (ver)führen könnten. Wer an die Stelle der Sabotage keine intermedialen Transformationen zu setzen sucht, der verfüge sich in seine autotoxischen Aporien und wüte weiterhin in den Faulbetten der Theorie. Und wer das nicht will, ohne schon seine Ratlosigkeit überwunden zu haben, der frage derweil ein bisschen nüchterner nach ein paar praktikablen Mischungsverhältnissen, wie sie etwa Sloterdijk sucht: Sind wir nicht alle, die so leichtsinnig waren, ins Freie zu kommen, aus dem Takt gebrachte, auf Entzug gesetzte Anstaltsinsassen – wenn auch keine ganz hoffnungslosen Fälle, solange wir uns als Zwischenhändler der Ersatzdroge Lebenskunst auf dem Markt behaupten? Wir bringen unsere Tage damit zu, unseren Drogenstandard auf dem niedersten erträglichen Niveau einzupendeln; das definiert, was in unserer Region Realität heißen soll. Es kommt jetzt alles darauf an, nicht mehr Sorgen zu haben als Likör, aber auch nicht mehr Likör als Sorgen. Solange es gelingt, diese Regel zu beachten, bleibt die Tragödie auf Distanz. Mit dem Abstand zu den Extremen, den uns die willkommene Nüchternheit und der Wille zur Realitätsprüfung gewähren, gewinnen wir die Freiheit zur Teilhabe an der Menschenwelt.74
Zu diesem Ensemble von Ersatzdrogen gehört zweifellos die dynamische, polemogene und unheimliche Dekonstruktion, die man nicht mit simplen disziplinären Gewaltstreichen wird entkräften können, auch weil sie inzwischen schon ganz woanders ist: in der Pharmazie, wo sie den Coup als pharmakon zu entziffern und zu generieren imstande ist (dabei im Ungewissen lassend, ob es wirklich nur Simulakren sind, die da zu erwarten sind). In der Poetopharmazie, in welcher jener Fight Club seinen Raum hat (nicht mehr, nicht weniger) wird auch Tiqqun mindestens als Sparringspartner theoretischer Spiegelfechterei begrüßt. Denn einige Finten dieser Haudegen können einer Medienathletik einverleibt werden, welche nun also folgendes vorsähe: Verlangsamung rezeptiver Tätigkeiten, Vernebeln, Kryptieren, Komplizieren und Rhythmisieren (Idiorrhythmisieren), Improvisieren, das aleatorische Anmischen und Einwerfen – kurzum: mediale Taktiken, die auch den Schmerz wach halten und eben darin alexipharmazeutisch wirksam werden. 72 | Tiqqun: Anleitung zum Bürgerkrieg. Übers. von Renée Verdan. Hamburg 2012. S. 64f. 73 | Roland Barthes: Wie zusammen leben. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 2007. 74 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. Frankfurt a.M. 1993, S. 159.
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F lügelschl ag gegen D oping Das humane Subjekt zu einem Kämpfer zu erziehen, der sich der programmierten Zumutungen und Zurichtungen seiner Umgebung erwehren kann, indem er differenziert und dissentialisiert, könnte – oberflächlich betrachtet in einer paradoxen Manier – nur dann gelingen, wenn zu seinen wichtigsten Übungen eine gewisse »Depersonalisierungsübung« zählt – wie sie Gilles Deleuze für geboten hält: [E]in Individuum erwirbt erst wirklich einen Eigennamen, wenn es die strengste Depersonalisierungsübung hinter sich hat, wenn es sich den Vielheiten öffnet, die es von einem Ende zum anderen durchziehen, den Intensitäten, die es durchlaufen. […] Man ist ein Ensemble freigesetzter Singularitäten geworden, ein Ensemble von Namen, Vornamen, Fingernägeln, Dingen, Tieren, kleinen Ereignissen: das Gegenteil eines Stars.75
Damit unser Kämpfer also nicht als narko-narzisstisches Subjekt Gefechte führt, die nicht einmal Auswirkungen auf ihn selbst haben, ihn nicht berühren, verändern oder zeichnen, damit dieser Kämpfer sich nicht nur (auch wenn hier ungewiss ist, was dieses »nur« heißt) an (s)einer vomierenden Rhetorik berauscht, wird er dieses Problem zu berücksichtigen haben: Das Problem ist nicht, dieses oder jenes im Menschen zu sein, sondern eher ein Unmenschlich-Werden, ein universelles Tier-Werden: nicht sich für ein Tier halten, sondern die menschliche Körperorganisation auflösen, diese oder jene Intensitätszone des Körpers durchqueren: dabei entdeckt jeder Zonen, die seine sind, und Gruppen, Populationen und Arten, die sie bevölkern.76
Oberflächlich betrachtet, müsste es schon reichen, intensiv und doch entspannt in Bewegung zu geraten, um eine weitere methodische Provokation einzuführen, die das Andere der anstrengenden Athletik markiert und, wer weiß, schon ein alexipharmakon mindestens gegen das Doping zu bieten hätte. Was immer hier indes versprochen werden mag, Deleuzes anim(alis)ierende Depersonalisierungsübung bringt ähnlich wie Derridas Anrufung der Gegenphantome zuletzt einen gelassenen Zungen- und Flügelschlag in das alexipharmazeutische Engagement. Zeit genug also, es spielerisch, über eine allegorische Rezeptur, so zu wenden: Vergesst ecce homo, versucht ecce animot.
75 | Deleuze, Unterhandlungen, S. 16. 76 | Ebd., S. 23f.
IV. Zoopharmaka »Warum sollte ich nicht von der Droge sprechen, ohne Drogen zu nehmen, wenn ich darüber wie ein kleiner Vogel spreche?« Gilles Deleuze: Unterhandlungen
Mit dem zoopharmakon werden die Tiersemantiken ins Spiel geholt, aber nicht domestiziert, da die Tiere in einer kaum nur metaphorischen oder symbolischen Manier zu Agenten und Repräsentanten der Heilung und des Gifts werden. Die Tiere, ihre Gaben und Gifte, zudem abhängig von ihrer poetischen Medialisierung aufzufassen, potenziert die Komplizierung ihrer Verhältnisse zu den Menschen. Die animalische Pharmakognosie steht in einer vielleicht erst poetisch vermittelbaren Spannung zu jenem humanen logos, an welchen sich nicht zuletzt die Philosophen nurmehr noch zitternd wie an einen Spiegel halten, da sie sich dringend fragen müssen, ob sie eigentlich einen Hahn zu opfern haben, und wer dazu die Klinge führen müsste und ob das auch per Mausklick geht. Es scheint mithin auch hier geboten, auf jenen berühmten Hahn anzuspielen, den Sokrates vor seinem Tod dem Asklepios zu opfern aufforderte, und zwar im Namen eines Philosophierens, das im logos ein Heilmittel der Vernunft sieht, um welches lebenslänglich Sorge zu tragen ist – auch wenn das utopisch ist und es niemals falsch sein kann, noch die Götter um Beistand zu bitten. Für den Menschen bleibt die heilsame und mutige Wahrsage (jene parrhesia), das hat Foucault zum Ende seines Philosophierens mit Blick eben auf jene Urszene eindrucksvoll unterstrichen.1 Den Hahn und die anderen Opfertiere indes darf man ebensowenig vergessen wie dies: dass sich Tiere und Maschinen für den logos nicht interessieren – und eben dieser Umstand nicht unwichtiger wird. Nicht nur die Hähne2 also weisen den Menschen naturgemäß die Grenzen auf, deren Respektierung lebensnotwendig ist. Und hier können wir trotz der erheblichen Barrieren, die es da gibt, den logos beugen unter das zoopharmakon, das einer intermedial reflektierten (gespenstischen) Spezifizierung des poetopharmakon gleichkommt. Gerade in einem potentiell ununterbrochenen Dialog zwischen angreifenden und abwehrenden Agenten entspinnt und disseminiert sich eine viel1 | Vgl. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Übers. von Jürgen Schröder. Berlin 2010, S. 130ff. 2 | Es gibt viele. Nach dem sokratischen wäre gewiss jener »rote Hahn« hervorzuheben, der bereits auf der ersten Seite in Theodor Fontanes Der Stechlin einen globalen Rumor anzeigt.
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versprechende Semantik, von der allerlei zu erwarten und zu fürchten ist. Nicht unwichtig ist es, dass es oft genug um Mikro- oder Nanoprozesse geht: um parasitäre, bakterielle, virale und toxische Vorgänge, die es darauf abzusehen scheinen, nur schwer entdeckt und schon gar nicht kontrolliert werden zu können.
A nimalische H ybridisierung Pointiert werden soll von vornherein die Hybridisierung der menschlichen Verhältnisse, auch und gerade insofern sie sich als Animalisierung und Parasitierung der entsprechenden Grenzen ereignet.3 Die Menschen müssen sehen, wo sie bleiben. Im Wechselspiel immer neuer Immunitäten und Kommunitäten verschärft sich generell die Befragung der resistenten Eigenschaften einer conditio humana 4, der zunehmend konvergierende Technologien etwa nach dem NBIC-Schema (nano, bio, info, cogno) buchstäblich auf und in den Leib geschrieben werden.5 Das, was sich im Zuge einer programmatischen Programmierung hinter den trans- und posthumanistischen Diskursen verdichtet, fragt nicht, ob es für die menschliche Kultur relevant sein könnte: Es kolonisiert sie bereits. Der zoopharmakon-Diskurs markiert mit seinem Interesse an den schwer zu fassenden, hybriden Konstruktionen einen tendenziell dystopischen Einsatz – aber in bester Absicht, als bezwecke er bereits eine spezielle Impfung.6 Was uns neben dem Aufweis entsprechender Figuren und Topoi vorschwebt, ist mithin eine (inter) spezielle Pharmazeutik, die zwischen Medium und Substanz vielleicht nur noch schwer zu unterscheiden wissen wird. Im Zuge einer methodisch reflektierten Essentialisierung, aber auch Parasitierung diverser Semantiken soll gleich zu Beginn dem »viellogischen« und viellologischen Projekt, das Ottmar Ette im Rahmen seines lebenswissenschaftlichen Engagements beschrieben hat 7, ein winziger, keineswegs unerhörter, aber so gut wie unhörbarer deal (der es besserenfalls zu einer klandestinen Unterhandlung bringen könnte) angetragen werden: Tausche ein kleines »l« gegen ein kleines »h« (es würde für unsere Ohren sogar schon der reine Schmuggel dieses »h« genügen). So würde das liebe Vieh unmerklich und doch 3 | Einige der hier formulierten Thesen haben ihre Vorläufer in: Leonhard Fuest: Übung mit Chimäre: Vom Nutzen der zoopharmaka für die Kulturtheorie. In: Ottmar Ette und Uwe Wirth (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Literaturtheorie. Berlin 2014. 4 | Von immer größerer Bedeutung ist der immunologische Diskurs. Siehe dazu Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Berlin 2004. Und Peter Sloterdijk: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993-2012. Berlin 2013, bes. S. 76. 5 | Vgl. Arianna Ferrari: Die Verbesserung der Natur in der Vision konvergierender Technologien. In: Christopher Coenen u.a. (Hg.): Die Debatte über ›Human Enhancement‹. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen. Bielefeld 2010, S. 287-306, hier S. 287. 6 | Dass hiermit eine wichtige Funktion der Literatur und ihrer Theorie benannt ist, bestätigt auch Johannes Türk: Die Immunität der Literatur. Frankfurt a.M. 2011, vgl. S. 15. Zur kulturtheoretischen Weitung der Perspektive vgl. zudem Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin 2011. 7 | Vgl. Ottmar Ette: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur. Berlin 2013.
IV. Zoopharmaka
nicht spurlos in der vieh(l)logischen Arche verschwinden – und möglicherweise hier und da ein wenig glühen. Auch deshalb wäre noch von ein paar heilsamen Glühwürmchen zu sprechen. Vielleicht bleibt es aber auch nur bei einem entfernten Schwärmen, so wie es etwa zu gewärtigen ist, wenn die Bienen ihre Arbeit aufnehmen. Aber auch die Schlupf- und Grabwespen – und andere intelligente Kleinstwesen. Zwischen den diffusen Geräuschen und undeutlichen Lichtspielen tauchen womöglich auch Chimären auf, um ein paar notwendige Zweifel an aller programmatischen Orientierung aufkommen zu lassen – etwa mit Friedrich Hölderlins Worten: [M]an ringt so lange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reelles findet zur Erkenntnis und Beschäftigung. In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenns dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, daß er dafür sich interessieren kann, und dafür leben. 8
Und weil ein paar Sprünge einer Einübung in diesen chimärischen Diskurs dienlich sind, schließen wir ein Zitat Friedrich Kittlers an: Wie wir alle wissen und nur nicht sagen, schreibt kein Mensch mehr. Schrift, diese seltsame Art Software, laborierte wohl an ihrer unheilbaren Verwechslung von Gebrauch und Erwähnung. Bis in die Tage von Hölderlins Hymnen scheint die bloße Erwähnung etwa eines Blitzes noch hinreichende Evidenz für seinen möglichen poetischen Gebrauch gewesen zu sein. Heute dagegen, nach der Verwandlung dieses Blitzes in Elektrizität, läuft menschliches Schreiben durch Inschriften, die nicht nur mittels Elektronenlithographie in Silizium eingebrannt, sondern im Unterschied zu allen Schreibwerkzeugen der Geschichte auch imstande sind, selber zu lesen und zu schreiben. 9
Wenn man also genau hinsieht und zuhört, drängt sich mit wachsender Wucht die Frage auf: Wer oder was macht Schreiben? Wer oder was mischt sich ein? Was mischen er, sie oder es an? Wann läuft das Anmischen auf ein Einmischen hinaus?
K entauren Wenden wir uns noch einmal Friedrich Hölderlins Chiron zu, jenem mythischem Kentauren.10 Dieser aus menschlichem Oberkörper und dem Unterkörper des Pferdes bestehende Kentaur war in der Medizin ebenso zuhause wie in anderen Wissenschaften, der Astronomie etwa, und in den Künsten. Was er da anzumischen hatte, war so überzeugend, dass ihm viele bedeutende Schüler zugerechnet werden wie Herkules, Jason, Odysseus, aber auch Asklepios. Und gerade mit Blick auf letzteren lässt sich die heilerische Autorität des Kentauren unterstreichen, da er, wie Hölderlin an anderer Stelle, in der dritten Pythischen Ode nämlich, betont, doch 8 | Hölderlin, Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen, S. 522. 9 | Friedrich Kittler: Es gibt keine Software. In ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Berlin 2013, S. 285-300, hier S. 285f. 10 | Hölderlin, Sämtliche Gedichte, S. 314.
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den »starkgegliederten Asklepios«, »Künstler der Schmerzlosigkeit« und »Bezwinger der Seuchen« aufzog.11 Und doch, so sagt Dieter Burdorf, weit mehr als alle Sphingen oder Nixen »konfrontiert uns die vom Mythos gestellte Aufgabe, einen Kentauren zu imaginieren, mit einem Denkbild der Zerrissenheit.«12 Und Burdorf spannt gleich einen wichtigen Bogen, da er hinzufügt, dass »erst die digitalisierte Animationstechnik« imstande sei, »diesen Riss zu kitten und Wesen aller Gestalt auf die Leinwand zu werfen. Noch Pier Paolo Pasolinis Film Medea von 1969 dagegen macht den Riss sichtbar, wenn Chiron, der Erzieher des Jason, auf merkwürdige Weise aus zwei senkrecht in der Mitte durchgeschnittenen und neu zusammengeklebten Filmbildern zusammengesetzt zu sein scheint.«13 Und welche medialen Mixturen werden diese Zerrissenheit heil machen bzw. heilen können – oder auch das Gegenteil bewirken? Wenn die moderne Medialität wie auch Technik, also etwa jene Animationstechnik, heilsam bzw. giftig sein soll, dann vielleicht nur deshalb, weil hier eine animierende Animalität wirksam wird? Und wer oder was animalisiert die Animateure, die ihrerseits vielleicht schon keine Menschen mehr sind? Wer programmiert die Programmierer? Pasolini hat auf die so giftigen wie heilsamen Hybride nicht mehr gewartet und doch gerade in seiner Verschattung für winzige tierische Lichtblicke gesorgt.
C himären Um die entsprechende Pharmazeutik zu dynamisieren, ist es hilfreich, mit Jacques Derrida eine »Art Übung mit einer experimentellen Chimäre«14 zu beginnen. Nur im Zuge jener mehr oder weniger hermetischen paideia wäre eine Bändigung zu haben. Diese Pädagogik wird zu einer veritablen Pharmazeutik über eine interspezielle Animalisierung. Dafür muss von Derridas »animot« als einem »chimärische[n] Wort«15 gesprochen werden. Derrida macht damit einen gewaltigen Zirkus, ohne allerdings den Dompteur zu geben. Im Gegenteil bleibt er ein animalischer Advokat: La bête que donc je suis: Das Tier, das ich also bin/dem ich folge, so lautet der Titel, unter dem folgendes steht: Das vielfache animot/TierWort würde immer noch darunter leiden, ständig den Herrn und Meister hinter seinem Rücken zu spüren. Es hätte die Nase voll, auf diese Weise domestiziert, gezähmt, dressiert, folgsam, diszipliniert, gebändigt zu sein. Statt dieser Menagerie, mit der böse Zungen meine Autobibliographie vergleichen könnten, werde ich nur die Idee, oder eher den unklaren Einsatz eines philosophischen Bestiariums, des Bestiariums am Ursprung der Philosophie, in Erinnerung rufen. Es wäre kein Zufall, daß es sich zunächst in den Gestaden eines unentscheidbaren pharmakon aufgedrängt hat.16
11 | Hölderlin, Hyperion, Empedokles, Aufsätze, Übersetzungen, S. 725. 12 | Burdorf, »… ein schmerz,/Wenn einer zweigestalt ist«, S. 140. 13 | Ebd. 14 | Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Übers. von Markus Sedlaczek. Wien 2010, S. 61. 15 | Ebd., S. 71. 16 | Ebd., S. 68.
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Mit Blick auf Sokrates hatte Derrida in Platons Pharmazie sein animot vorbereitet, ohne dass es schon essentiell gewesen wäre: »Gleichzeitig und/oder Zug um Zug versteinert und erweckt, anästhetisert und sensibilisiert, beruhigt und ängstigt das sokratische pharmakon.«17 Und er erinnert an die Selbstzuschreibungen des Sokrates etwa als »narkotischer Zitterrochen« oder »Kuhfliege« und folgert: »Die gesamte Konfiguration des Sokrates fügt sich somit zu einem Bestiarium. […] Ist es verwunderlich, daß das Dämonische in einem Bestiarium seine Signatur erhält? Von dieser zoopharmazeutischen Ambivalenz und dieser anderen sokratischen Analogie aus lassen sich die Grenzen des anthropos bestimmen.«18 Und von hier aus entwickeln sich auch die zoopharmaka zu virulenten Agenten. Statt sie systematisch in der Geschichte der Naturkunde, der Biologie und Pharmakologie zu suchen und statt ihren Einsätzen und Opfern in den Labors der Pharmaindustrie nachzuspüren, ist auf die hybride Mischung aus Medialität und Figuralität zu setzen: mithin auf Derridas ecce animot, seinen Einsatz für die und sein Ringen mit eben der Chimäre, jenem Mischwesen aus Löwe, Ziege und Drache (bzw. Schlange). Es wäre damit neuerlich ein Widerstand zu markieren – und zwar nicht zuletzt gegen das Kittlersche Urteil, es schriebe niemand mehr, da doch gerade dort geschrieben zu werden scheint oder zu schreiben lohnend wäre, wo ein menschliches Subjekt die Grenzen zwischen den Tieren und den Maschinen todernst nimmt, auch indem es sein Schreiben reanimalisiert. Dafür stellen wir uns den Philosophen Derrida vor, wie er, nackt und beschämt vor seiner Katze stehend, an einen Krieg erinnert, nämlich den »veritablen Krieg der Arten«19. Und in diesem Krieg, der unausgesetzt und nicht selten im Verborgenen tobt, kommt es eben auch zu einer Produktion von Figuren der Tierheit, die derart neu sind, dass sie als monströs genug erscheinen, um nach einem Namenswechsel zu rufen; dieser zunehmend glaubwürdigere Science-Fiction hätte mit der zähmenden Domestizierung, der Dressur, der Neutralisierung und der Akkulturation begonnen und würde mit der medizinisch-industriellen Ausbeutung, den massiven Eingriffen in die Umwelt und die Reproduktion, den Genübertragungen, dem Klonen usw. fortsetzen. 20
Vielleicht wäre nun weder ein großer Zirkus noch ein zoologischer Themenpark angebracht.21 Und wenn doch, dann nur um theoretisch auf den Widerstreit zwischen der Zurichtung der Zukünfte und der Alterität der Ankünfte gefasst zu sein. Der Krieg findet in den Gehegen, Manegen, Medien und Laboratorien statt. Und just an oder in diesen Unruheherden werden die zoopharmaka als poetopharmaka kultiviert. Nur in diesem Sinne wären auch Destillate aus Derridas »Zoo-auto-biobiblio-graphie«22 zu ziehen – und zwar gerade insofern, als sich dieses Schreiben seinem eigenen widerständigen Status bewusst ist. Einfach geht das nicht vonstat17 | Zitiert nach ebd., S. 69. 18 | Ebd. 19 | Ebd., S. 58. 20 | Ebd., S. 124. 21 | Vgl. auch die vom »platonischen Zoo« ausgehenden, (post)humanistischen Bedenken von Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, S. 49f. 22 | Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 62.
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ten: Denn um es mit dem neuerlichen Blick auf Derridas Résistances und den dazu gehörigen restances zu sagen: Da wo sein Schreiben einer »Analyse chemischen Typs«23 und damit einfacher Elemente widersteht, da wo sein methodisch passionierter double-bind in seine Rechte tritt – da bäumt es sich nicht nur in dämonischteuflischer Manier auf, sondern es macht auch Jagd: Das, was die Dekonstruktion drängt, […] das, was in ihr dem Trieb und dem Puls ihrer eigenen Bewegung gleicht, ein rhythmisch treibender Zwang, Jagd zu machen auf den Wunsch nach einer einfachen und sich selbst gegenwärtigen Ursprünglichkeit, nun, genau das – und dies ist der double bind […] – drängt sie zu einer analytistischen und transzendentalistischen Überbietung. Zu einem Hyperbolismus der Analyse, der in den Augen mancher bisweilen die Gestalt eines Hyperdiabolismus annimmt. 24
Vergessen wir nicht: Die Chimäre speit Feuer und muss von Bellerophon, auf dem Pegasus reitend, eigens getötet werden. Und das unterstreicht nur, dass in Zeiten solcher Unruhen vielleicht animalisiert und tierisch übertrieben werden muss (freilich nicht immer im Modus konventioneller Tierliebe, wie sie Thomas Bernhard nicht ohne Übertreibung geißelt, wenn er auf den Hund kommt: »Die sogenannte Tierliebe hat schon so viel Unheil angerichtet, daß wir, wenn wir tatsächlich mit der größtmöglichen Intensität daran denken würden, augenblicklich ausgelöscht werden müßten vor Erschrecken.«25) Diese panischen Übertreibungen machen neuerlich aus gewissen Mäusen Elefanten und überzüchten Monster aller Art. Sie verweisen solcherart auf umstrittene Grenzen und sie fordern Entscheidungen – so etwa, inwieweit dieser Krieg einen etwas angeht. Und wenn ja, müsste man doch um Wirkungen Sorge tragen, wenn man nicht als scheinbar souveränes Opfertier einer narkomedialen Kultur seine narzisstische Selbstfeier mit einer programmierten Narkose verwechseln will. Dafür bzw. dagegen sind die zoopharmaka mindestens da (also auch als alexipharmaka beschreib- und einsetzbar). So ist besonders jener Zusatz ernst zu nehmen, dass der ganze Zirkus besonders da aufgeführt zu werden verdient, wo gezeigt wird, dass seine Wirkung mit zunehmenden Winzigkeiten zu wachsen scheint. Noch zwei weitere Magier haben auf eine ähnlich gelagerte Science fiction aufmerksam gemacht, in der es um eine Entwicklung geht, »die vom Pflanze-, Mineral- oder Tierwerden zu Arten des Bakterie-, Virus-, Molekül- und Unwahrnehmbar-Werdens führt«26 – eine Entwicklung, die trefflich pharmakoanalytisch zu beschreiben wäre, auch und indem man sich auf entsprechende Experimente beruft: »Wenn Drogenexperimente jeden gezeichnet haben, auch diejenigen, die keine Drogen nehmen, so deshalb, weil sich dadurch die Wahrnehmungskoordinaten von Raum und Zeit geändert haben und uns in ein Universum von Mikrowahrnehmungen führen, wo Arten des TierWerdens durch Arten des Molekül-Werdens ersetzt werden.«27 Man kann sagen, 23 | Derrida, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, S. 165. 24 | Ebd., S. 166. 25 | Thomas Bernhard: Beton. Frankfurt a.M 1985, S. 76. 26 | Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Übers. von Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992, S. 339. 27 | Ebd.
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dass mit solchen Einsätzen dem gesamten poetopharmazeutischen Projekt eine wissenschaftspolitische Perspektive gegeben wird, welche über die unheimliche Potentialität der Dissenzen hinaus auf die Notwendigkeit einer ungeheuerlichen Destituierung weist: Es gibt eine Politik des Tier-Werdens und auch eine Politik der Zauberei: diese Politik entfaltet sich in Gefügen, die weder zur Familie noch zur Religion oder zum Staat gehören. Sie bringen eher Gruppen zum Ausdruck, die minoritär, unterdrückt oder verboten sind, die revoltieren oder sich am Rande der anerkannten Institutionen befinden und umso geheimer sind, weil sie extrinsisch oder anomisch sind. Wenn das Tier-Werden die Form einer Versuchung annimmt, die Form von Ungeheuern, die in der Phantasie vom Dämon heraufbeschworen werden, so deshalb, weil es in seinen Ursprüngen wie in seiner Entwicklung von einem Bruch mit den zentralen Institutionen begleitet wird, die bereits bestehen oder sich zu bilden versuchen. 28
G rillen In der Narcopolis finden die Revolutionen im Kleinen statt. Daher springen wir ein paar Grillen hinterher, übrigens auch weil der »rasche, leichtfüßige Sprung«29 zu einer der honorigen Gesten des Denkens im 21. Jahrhundert gehört – so sieht es jedenfalls der große Italo Calvino (voraus). In seiner beeindruckenden Erzählung Il visconte dimezzato (Der geteilte Visconte) gibt es nicht nur die traurig-komische Geschichte von einer vollständigen Zerrissenheit, eine Geschichte, in der um ein Haar beinahe der Erzähler selbst mit giftigen Pilzen vergiftet worden wäre, in dem aber auch ein Spinnengift für Aufsehen sorgt – es geht hier auch um die Wissenschaft und Medizin, vertreten durch Doktor Trelawney, lange Jahre Reisegefährte des berühmten James Cook, den es nach Terralba verschlagen hat, wo er sich weniger als Arzt denn als Forscher in diversen Naturerkundungen ergeht: »Zuerst handelte es sich um eine Erkrankung der Grillen, eine unmerkliche Krankheit, an der nur eine Grille unter tausend litt, ohne irgendeinen Schaden davonzutragen; und der Doktor Trelawney wollte sie alle auffinden und eine geeignete Kur finden.«30 Neben dieser poetischen Grillenfängerei wäre noch über das zweite, nicht viel größere Sujet zu sprechen: die »Irrlichter« nämlich, die den ganzen Text abschließen und illuminieren: »[…] und ich blieb hier zurück, in dieser unserer Welt voller Verantwortung und Irrlichter.«31 Und zwischen den Irrlichtern und Grillen, denen hier das wissenschaftliche und poetische, überlebenswichtige und vielleicht aussichtslose Aufmerken dient, müssten die sokratisch-derridaschen Zikaden auf den Plan gerufen werden, die dem Mythos nach, so Derrida, »früher Menschen waren, welche dazu fähig waren, für ihr Singen zu sterben« – und er resümiert: »Als Mensch bin ich eine Zikade, ich rufe mir in Erinnerung, was ich bin, eine Zikade,
28 | Ebd. S. 337. 29 | Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Übers. von Burkhart Kroeber. Frankfurt a.M. 2012, S. 26. 30 | Italo Calvino: Der geteilte Visconte. Übers. von Oswald von Nostitz. Frankfurt a.M. 2013, S. 25. 31 | Ebd. S. 95.
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die sich daran erinnert, ein Mensch gewesen zu sein […].«32 Und wenn wir solche metamorphotischen Memoiren aufleben lassen, dann dürfen wir auch nicht jene Grabwespe vergessen, die (nicht nur) in der Fußnote eines Buches mit dem Titel Im Licht der Finsternis von Anita Albus eine unheimliche Transformation durchmacht, um mehr als nur zu beleuchten, welche Folgen es hat, wenn Marcel Proust sich kurz vor seinem Tod mit einem solchen Insekt identifiziert: eine winzige, parasitäre, ungeheure Fußnote33.
G lühwürmchen Dies alles im Sprung formuliert, angesichts der anbrechenden, »erstaunenden Nacht«, in der schon der heilkundige Kentaur Chiron saß, um an die Schwierigkeiten des Überlebens zu erinnern. Die Frage nach dem Über- und Nachleben stellt jüngst auch wieder Georges Didi-Huberman in seinem zoopharmazeutischen Buch mit dem Titel Überleben der Glühwürmchen.34 Seine differenzierte Beleuchtung dieses Sujets lässt sich hier schlaglichtartig rekonstruieren: Zunächst nimmt Didi-Huberman den Weg von Dantes lucciole über Pasolinis L’articolo delle lucciole von 1975, 32 | Derrida, Das Tier, das ich also bin, S. 86f. 33 | Anita Albus erinnert in ihrem Buch: Im Licht der Finsternis. Über Proust. Frankfurt a.M. 2011, daran, dass Marcel Proust, der Todesahnungen voll, seinem Verleger Gallimard folgendes schrieb: »Andere als ich, und ich freue mich darüber, genießen die Welt. Mir selbst ist Bewegung, Rede, Denken, sogar das schlichte Wohlbefinden der Schmerzlosigkeit versagt. So gleichsam aus mir selber verbannt, flüchte ich mich in die Bände, die ich betaste, da ich sie nicht mehr zu lesen vermag, und lasse ihnen die Vorsorge der Grabwespe angedeihen, über die Fabre die von Metschnikoff zitierten wundervollen Seiten geschrieben hat, die Sie sicherlich kennen. Verkrumpelt wie sie und von allem beraubt, beschäftige ich mich nur noch damit, ihnen durch die Welt der Geister die Entfaltung zu sichern, die mir versagt ist.« (S. 127) Der Kommentar von Albus macht auf einen kleinen Übersetzungsfehler aufmerksam, der dafür gesorgt hat, dass in der deutschen Ausgabe der Schrift des Mikrobiologen Elie Metschnikoff aus der Grabwespe eine Schlupfwespe geworden sei. Ihre Anmerkung mutiert ihrerseits zu so etwas wie einer parasitierenden Epistel, da sie so fortfährt: »Auch in der Suche nach der verlorenen Zeit hat das Schmarotzerwesen Schlupfwespe die fürsorgliche Grabwespe verdrängt. Die Verwechslung mutet um so merkwürdiger an, als guêpe fouisseuse wörtlich ›wühlende Wespe‹ heißt und jedem Wörterbuch zu entnehmen ist, daß sich die Schlupfwespe mouche vibrante oder ichneumon nennt. Das Quiproquo von Grab- und Schlupfwespe ist jedoch eine uralte Geschichte. Grabwespen gehören zur Familie der Sphegidae, Schlupfwespen zur Familie der Ichneumonidae. Vom Namen der letzteren schreibt Brehm, er führe ›auf eine uralte Sage aus der Zeit des alten Ägypten zurück, derzufolge der Ichneumon, ein marderartiges Raubtier, schlafende Krokodile überfallen und in ihren Leib kriechen soll, um die Eingeweide zu fressen. Etwas ähnliches gilt immerhin für die Ichneumonwespen, wenigstens insoweit als sie im Larvenzustande im Leib anderer Insekten hausen und deren Körperinneres verzehren. Ob aber der Name wirklich so entstanden ist, muß als zweifelhaft gelten, denn Aristoteles, der schon gewisse Insekten Ichneumon nannte, hat unter diesem Namen wahrscheinlich gar nicht unsere Schlupfwespen, sondern wohl Grabwespen verstanden.‹« (S. 127 f) 34 | Georges Didi-Huberman: Überleben der Glühwürmchen. Übers. von Markus Sedlaczek. München 2012.
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um dann über diverse Stationen, vor allem einer Würdigung der melancholischen Prospekte Giorgio Agambens, in unsere Nächte zu gelangen. Die Glühwürmchen sind hier als faszinierende Wesen in allen möglichen Semantiken anzutreffen: grundständig natürlich als Leuchtkäfer oder lampyridae, die schon bei Pasolini aus den verschmutzten Städten verschwinden oder gar Selbstmord begehen oder sich verpuppen und so zu »Nymphen« mutieren.35 »Unter solchen Umständen versteht es sich von selbst, dass die Glühwürmchen eine anachronistische und atopische Gemeinschaft bilden.«36 Diese unmögliche minoritäre Gemeinschaft überhaupt studieren zu wollen, bedeutet, dass man sich in die Nacht begeben muss, abseits aller Scheinwerfer. Leicht geht das nicht, denn eben diese grelle, über- und gleichzeitig unterbelichtete Kultur war es, die Pasolini zu der Überzeugung kommen ließ, dass die Glühwürmchen verschwunden sind – und zwar (mit den Worten Didi-Hubermans) »in dieser Epoche der industriellen und konsumistischen Diktatur, in der sich letztlich jeder wie eine Ware im Schaufenster zur Schau stellt, was aber eben alles andere ist als zu erscheinen.«37 Die Menschen, nurmehr noch »seltsame Maschinen, die aneinanderstoßen«38, so Pasolini, haben die Fähigkeit verloren, sich in der Nacht dieser depravierten Kultur Zeichen der Menschlichkeit zu geben. Die Glühwürmchen sind verschwunden, das bedeutet: die Kultur, die Pasolini bis dahin als eine – populäre oder avantgardistische – Praktik des Widerstands betrachtete, ist ihrerseits zu einem Werkzeug der totalitären Barbarei geworden, indem sie sich nurmehr in einem kommerziellen und der Prostitution ähnlichen Reich der verallgemeinerten Toleranz abgekapselt hat. 39
Und doch müssen wir uns unverdrossen an die Glühwürmchen halten: »Schwache Lichter oder irrende Seelen.«40 Und halten uns auch an ihre teuflischen Stoffe: »Schon 1887 hatte der Physiologe Raphael Dubois bei Leuchtkäfern ein Enzym isoliert, das er Luciferase nannte und das bei der Biolumineszenz der Glühwürmchen auf ein chemisches Substrat, das Luciferin, einwirkt (wir kehren immer wieder zum Teufel und zur Hölle zurück, deren Feuer – und schlechtes Licht – nie weit ist.)«41 Solcherart werden wir mit einer hyperdiabolischen Essenz gestärkt, um schließlich mit Didi-Huberman »unseren Pessimismus zu organisieren […] und gegen die Herrlichkeit der Herrschaft und ihre grellen Lichtbündel zu protestieren.«42 Und was wäre es anderes als a gift, eine Gabe oder eben eine gebende Bejahung, die schon Derrida an seine giftigen Widerstände knüpfte, wenn Didi-Huberman folgendes schreibt: Nur von uns hängt es ab, die Glühwürmchen nicht verschwinden zu sehen. Dazu müssen wir selbst jedoch all dies auf uns nehmen: die Bewegungsfreiheit; den Rückzug, der keine 35 | Ebd., S. 46. 36 | Ebd. 37 | Ebd., S. 35. 38 | Ebd., S. 28. 39 | Ebd., S. 38. 40 | Ebd., S. 13. 41 | Ebd., S. 47. 42 | Ebd., S. 145.
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Poetopharmaka Selbstbezogenheit sein darf; die diagonale Kraft; die Fähigkeit, immer wieder ein Stück Menschlichkeit in Erscheinung treten zu lassen; das unzerstörbare Begehren. Wir müssen also – im Rückzug von Herrschaft und Herrlichkeit, in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft – selbst zu Glühwürmchen werden und dadurch von neuem eine Gemeinschaft bilden, eine Gemeinschaft des Begehrens, der gegenseitig zugesandten Schimmer, des Tanzes trotz allem, der Weitergabe des Denkens. Es gilt also, in der von Schimmer durchzogenen Nacht von neuem Ja zu sagen und uns nicht damit zu begnügen, das Nein des uns blendenden Lichts zu beschreiben.43
Es kann nur einen winzigen Zusatz geben, der im Sinne der angesprochenen Atopik fragt: Und gibt es denn dieses »wir«, geben wir uns dieses »wir«, das da in Bewegung kommt, das tatsächlich gar einen Protest nicht nur zu formulieren, sondern zu transformieren wüsste, ein »wir«, das das Vermögen und die Freiheit höher ansiedelte als die traurige Macht, die nur dazu da ist, das Vermögen zu beschneiden? Wer ist dieses »wir«, das manchmal auch auftritt als das Subjekt einer Schrift, wo doch die Schreibmedien auf dieses Subjekt verzichten zu können im Begriff sind? Und sind die Gaben dieses humanen »wir« nicht immer schon Gifte, die zu schlucken nurmehr noch simuliert wird (damit nichts passiert)? Und wenn »wir« unser Bestiarium, unseren Zirkus, ja auch unser, mit W.G. Sebald zu sprechen, »Nocturama«44 weiterbevölkern mit all den minoritären, winzigen Wesen, die wir selbst immer schon zu sein hätten – ist das nicht eine unmögliche Arbeit: bestenfalls ein rührendes nanopoetologisches Engagement – sicherlich gut gemeint, aber vollkommen wirkungslos? Just die Wirkungslosigkeit ist hartnäckig zu verneinen, gerade weil die zoopharmaka nicht nur Mittel zu etwelchen menschlichen Zwecken sind. Auf den pharmakognostischen Lehrpfaden der Tiere entspinnen sich heilsame Dialoge just dann, wenn der Mensch – ausgerechnet im Namen der Kunst – den Krieg zu unterbrechen imstande wäre.45
S endungen der M aus Vielleicht sollte man weniger der Menschen denn der heilsamen Delphine, Hunde, Katzen und Singvögel und anderer Tiere gedenken, die unermüdlich für die Menschen im therapeutischen Einsatz sind. Gewiss auch der Insekten und Reptilien, deren Gifte zu Gaben der Humanmedizin werden. All diese Beziehungen lassen sich dokumentieren, beschreiben, analysieren – und immer wieder überführen in poetische Lehrstücke wie etwa Jean-Henri Fabres Erinnerungen eines Insektenforschers oder Hugh Raffles’ Insektopädie 46 . Die poetopharmazeutische Dynamisierung des zoopharmakon bleibt hier indes, im Sinne ihrer immer schon intermedial orien43 | Ebd., S. 139. 44 | W.G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt a.M. 2003. S. 10. 45 | Vgl. auch Lisa Jevbratt: Interspezies-Kollaboration. Kunstmachen mit nicht-menschlichen Tieren. In: Jessica Ullrich (Hg.): Tierstudien. Animalität und Ästhetik. Berlin 2012, S. 105-122. 46 | Vgl. Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers. Übers. von Friedrich Koch. Berlin 2013. Und: Hugh Raffles: Insektopädie. Übers. von Thomas Schestag. Berlin 2013.
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tierten Detektionen und Transformationen, allererst den schwer zu fassenden, minoritären und hybriden Schwärmen und Meuten auf der Spur. Über eine weitere konzentriertere Lektüre wäre dies voranzutreiben. Die zoomagische Dichtung Yoko Tawadas liefert hierfür ausreichend Anlass und eine Menge Stoff. Tawadas Texte schließen sich dem Kafkaschen Projekt einer kleinen Literatur47 allein aus analytischen bzw. diagnostischen Gründen an. Die japanisch und deutsch schreibende Autorin gehört zu den Expertinnen des Kleinen. Hierin experimentiert sie, genauer: in und zwischen den Schriftzeichen, den Stoffen, Materialien und Medien. Ihr verdanken wir einige Innovationen im Kleinen: etwa die erste Holztaste für den Computer.48 Hinzu kommt eine ganze Menge an Tieren, Medien und Gespenstern. Es wimmelt in ihren Texten nur so. Nichts ist kompatibel und berechenbar, alles will eben deshalb genau betrachtet sein. Der Roman Das nackte Auge 49 konserviert die Spurenelemente der Suchbewegung eines entfremdeten Subjekts, dem alle Koordinaten der Welt- und Selbsterfahrung so weit schleierhaft werden, dass nicht allein die Grenzen in topographischer, sozialer und medialer Hinsicht zur Disposition stehen, sondern auch – um es ins Monströse zu wenden – in anthropo-techno-animalischer wie auch in mytho-pharmako-poetologischer Hinsicht. Vereinfacht gesagt, wird nicht nur die Welt, sondern bereits das Subjekt Tawadas selbst bevölkert oder gezeichnet von oft sehr kleinen Partikeln, Maschinen, Tieren und Geistern. Dass dies von einem Auge, das nackt ist, versuchsweise in den Blick genommen wird, heißt bereits, dass sich etwas Unsichtbares und schier Unmögliches ereignet, angesichts dessen das Auge erblindet. Ein Auge, das nackt und bloß bleibt, erblindet irgendwann, weil es austrocknet. Deshalb ist auch die Blindheit das Fatum dieses Romans. Wenn ein Auge austrocknet, hat es keine Tränen mehr. Das Weinen aber, so Derrida, charakerisiert erst das menschliche Auge: »Allein er, der Mensch, weiß zu sehen, daß die Tränen das Wesen des Auges sind – und nicht die Sehkraft.«50 Und so ist also das tränenlose, erblindende und nackte Auge eines weiteren homo sacer bereits Konstituens des nagenden Zweifels an der conditio humana selbst. Wir müssen aber klein anfangen: Ein erster Schritt führt zu den Nagetieren im Text: Im Zuge einer allegorischen Verdichtung wird in Das nackte Auge eine Flaneurin als Maus präsentiert, die in der Stadt Paris eine zu Teilen bereits posthumane Existenz fristet. Diese Maus, die eigenlich eine Ratte sein soll und ein Mensch ist, vagiert zwischen den überirdischen künstlichen Paradiesen (besonders den Kinos) und den unterirdischen Höhlen, parasitierten Kellerräumen (vergleichbar jenen, wie sie Dostojewskijs Mann aus dem Kellerloch bewohnt, jener leberkranke
47 | Franz Kafka, dessen Literatur Deleuze und Guattari bekanntlich mit dem Attribut des Kleinen belegt haben, erweist sich bis heute mit seinen mikropoetischen Innenansichten der Moderne als Analytiker mit einem Hang zur Prophetie – nicht zuletzt dort, wo er Tierstimmen vernehmbar macht. Vgl. also Kafkas einschlägige Tiertexte wie auch Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka: Für eine kleine Literatur. Übers. von Burkhart Kroeber. Frankfurt a.M. 1976. 48 | Vgl. Yoko Tawada: Talisman. Tübingen 1996, S. 139. 49 | Yoko Tawada: Das nackte Auge. Tübingen 2010 (überarb. Neuauflage). 50 | Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden: Das Selbstportrait und andere Ruinen. Übers. von Andreas Knop und Michael Wetzel. München 1997, S. 123.
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Mann, der ebenfalls als depravierter Flaneur auftritt und sich für eine »gesteigert erkennende Maus«51 hält). Tatsächlich ist Hoshi eine junge Vietnamesin, die in den 80er Jahren eine Odyssee unternimmt, welche in ihrer Heimat Vietnam beginnt und zunächst nach Ostberlin führt. Von dort wird die Protagonistin im Zustand der Alkoholbetäubung nach Bochum geschmuggelt bzw. verschleppt, um später in einer schon magischen Szene nach Paris zu gelangen. Dort lebt sie ohne Ausweispapiere in wechselnden, unbeständigen Beziehungen zu anderen Menschen, Migranten, aber auch sozial Deklassierten, bevor sie wieder nach Deutschland gelangt, um zuletzt in einer vexierhaften Verstellung zu verfinstern.
K unstr atten Um nun rasch Maus und Ratte aus den Löchern des Textes zu locken, ist folgendes wichtig: Im Zuge einer erträumten Rede vor einem ausgesuchten DDR-Publikum spielt die Protagonistin auf den Vietnamkrieg an, der ihre Heimat in ein Land verwandelt hat, in welchem »viele Menschen wie Mäuse im Labor geopfert« worden seien.52 Um die sich hieran anschließende »tödliche Stille« im Saal zu übertünchen, versucht sie es mit einem »Witz«: »Übrigens bin ich nach dem chinesischen Kalender eine Ratte. Ein Lehrer von mir, der deutsch spricht, empfahl mir, mich in Berlin als Maus und nicht als Ratte zu bezeichnen, weil die Ratte in Deutschland ein verhasstes Tier sei. Also, verehrte Genossen und Genossinnen, wir waren Mäuse für militärische Experimente, aber keine Ratten!«53 Auch hiernach lacht niemand. Die Stimmung ist vergiftet. Zweifellos sind Ratten durch eine besondere Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit ausgezeichnet, auch als Parasiten beschreibbar, nicht selten mit Plagen und Epidemien konnotiert, dabei Überlebenskünstler in allen menschlichen Kriegen – und übrigens ausgestattet mit Schwänzen, denen man schon unterstellte, sie seien Syntheziser, die nonhumane Musik spielen.54 Bei Tawada wird die Ratte überdies rückgebunden an den chinesischen Tierkalender, womit ihr ein Platz in einer Jahrtausende alten, symbolischen Ordnung eingeräumt wird. Ihre profane Überschreibung zur Maus als Strategem der kulturellen Anpassung funktioniert nicht mal als Witz. Diese Maus ist in einer Welt angekommen, in der den kleinen Tieren (und stammen sie auch von Dostojewskij oder Kafka) kein großer Bahnhof beschert wird. Gleichsam Kafkas unglücklicher und unmöglich bleibender Mäusesängerin Josefine folgend, bleibt Tawadas traurig assimilierte Kunstmaus eine Protagonistin, die den Blick von unten konsequent durchhält. Nur mit Blick auf diese Animalität konstituiert sich eine schon posthumane Flanerie, in der, ähnlich wie beim traditionellen Lumpensammler, ein winziger, aber wirksamer Rest präpariert wird. Dafür muss das Große naturgemäß relativiert werden: die große Stadt Paris, 51 | Fjodor M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Übers. von E.K. Rahsin. München 1985, S. 14. 52 | Tawada: Das nackte Auge, S. 21. 53 | Ebd., S. 22. 54 | Vgl. Reza Negarestani: Cyclonopedia. Complicity with anonymous Materials. Melbourne 2008, S. 52.
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die großen Leinwände in den Kinos, auf denen die große Catherine Deneuve zu den großen Gesten intermedialer und intertextueller Interpretation einlädt. Hier darf man sich nicht blenden lassen, will man sehen, was sich an Entscheidendem an Rand oder Grenze abspielt: wie etwa jener »Spatz«, der sich mit seinem unhörbaren »t« in den »Spaziergang« schmuggelt.55
F l anerie mit V ögeln In ihren Verwandlungen beschäftigt sich Tawada mit dem Zusammenhang von Magie und Tierlaut, so wie sie ihn aus dem Schamanismus kennt: Hiernach hätten Tier- und besonders Vogelstimmen immer etwas mit Geheimnissen zu tun: »Das germanische Wort für den Zauberspruch ist galdr; man gebraucht es zusammen mit dem Verbum galan, ›singen‹, das speziell auf die Schreie der Vögel angewendet wird.«56 Und überhäufen wir das Tschilpen des unscheinbaren Spatzen mit einer weiteren magischen Reflexion: Eliade schreibt, ein zukünftiger Schamane müsse im Verlauf der Initiation die Geheimsprache erlernen. Die Geheimsprache sei oft durch die Nachahmung von Tierschreien entstanden. Sie sei eine mimetische Sprache, die den Klang der Natur nachahmt. Da sie in direkterer Verbindung mit der Natur und mit den Toten stehe als die menschliche Sprache, gelte sie als Medium der Prophezeiung. Im aufgeklärten Kontext der Moderne aber hat diese Art Geheimsprache keinen kulturell anerkannten Ort mehr. Die Redewendung ›einen Vogel haben‹ zeigt, daß die Vogelsprache eine andere Sprache ist als die der Vernunft. 57
Das Tschilpen eines Spatzen wird nicht gerade unter die großen geheimen Vogelschreie zu zählen sein. Und doch bleibt ungewiss, wie monströs ein solcher Spatz in den Ohren und Augen einer Maus sein mag, die alles andere als verrückt ist, nur weil sie dauernd Tiere sieht und hört. So räsonniert die Heldin über ihren Pariser Ausgangspunkt: den Keller, worin sich Ratten und Mäuse befinden, und sie fragt sich, ob die Tiere ursprünglich aus dem Wald oder immer schon aus Kellern kommen, um für den zweiten Fall »Sozialkeller für Nagetiere«58 zu fordern. Die Protagonistin wird sich indes nie allein mit Vorschlägen zur Güte aus dieser parasitären Kellersituation befreien können. Dies allein schon deshalb, weil sie selbst als Laborratte tätig wird, hat sie zwischenzeitlich doch einen Job als Versuchsperson für dermatologische Experimente angenommen. Und ausgerechnet, da sie nun an einem Experiment teilhat und damit Geld verdient, schafft sie erstmals Bedingungen für ein Auftreten, das Hoffnung auf ein humanes Flanieren machen kann, da sie nun in der Mitte des Trottoirs geht und ihren Blick nicht mehr gesenkt hält.59 Dieser soziale Aufstieg von – um im animalischen Bild zu bleiben – der Kellermaus zur Laborratte wird in einer benachbarten Impression konterkariert von folgendem Satz: »Wenn eine Naturwissenschaftlerin eines Tages als Laborratte aufwachen 55 | Tawada: Das nackte Auge, S. 28. 56 | Yoko Tawada: Verwandlungen: Tübinger Poetik-Vorlesung. Tübingen 1998, S. 18. 57 | Ebd., S. 20. 58 | Tawada: Das nackte Auge, S. 54. 59 | Vgl. ebd., S. 80.
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würde, würde sie sofort Selbstmord begehen. Ich würde als Ratte weiterleben, bis die Menschen mich töten würden.«60 Maus oder Ratte: Es geht nurmehr um das nackte Überleben – und damit auch um das, was bleibt – als restance und résistance einer Technik, die ein interspezielles Subjekt selbstbewusst konstituiert. Die Laborratte begegnet uns ein letztes Mal, als ein weiterer Versuch auf dem nackten Rücken der Protagonistin durchgeführt wird. Dabei macht der Arzt einen Scherz über die zivilisierten menschlichen Rücken, die zu unterscheiden seien von denen der Ratten, »denn sie sind zu anpassungsfähig, wie das dumme Volk.«61 Gewiss führt die hiernach statthabende zoopolitische Disputation zum Verlust des Jobs der Heldin, aber schon längst nicht mehr auf den Weg zu Emanzipation und Freiheit. Alles was sich hier in makropolitischen und ideologischen Begriffen zu den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts zwischen Europa und Asien, USA und Vietnam etc. rekapitulieren ließe, zielt nicht auf die Erhellung der zentralen Perspektive (gleichsam den sehenden Fleck) dieses nackten Auges. Worum es geht, dürfte sich auf der mikrotopologischen und -typologischen Ebene bereits als biopolitische Quintessenz andeuten: Die Welt ist ein Laboratorium, und es kommt darauf an, in welchem Stall du geboren wurdest. Wenn die Probe mit dem Tier (auch dem im Menschen) gemacht wird, ist es gut, wenn du kritisch fragst, gewiss, aber lass auch immer eine Hintertür oder ein Loch offen, um im Zweifel deine Haut zu retten. Dafür ist es unabdingbar, das eigene »Tierwerden«62 selbst zu kultivieren. Ob sich diese Aussicht halten lässt, muss sich erweisen. Unsere Mausfrau hat jedenfalls schon einmal den Blick für das Kleine eingeübt, etwa auf jenes »Schaufenster mit Miniaturen, die Hunde darstellten«63. Und das unhörbare »t« im Spatz des Spaziergang darf ja auch nicht vergessen werden.
H ermes ’ S childkröte Es verdichten sich die Hinweise auf ein zoomagisches Wissen jenseits des Labors als paradigmatischem Ort der naturwissenschaftlichen und biopolitischen Gouvernementalität: Die Tiere selbst werden zu wildernden Chiffren solcher Diskurse, die sich Geheimnissen verdanken: »Wer das Blut einer getöteten Schlange trinkt, versteht die Sprache der Vögel und wird ein Prophet.«64 Solche esoterischen Aussagen verbinden Naturphilosophie und Heilkunst nach dem Vorbild alter asiatischer Lehren und präparieren vielleicht schon die poetologische Signatur dieser Dichtung. Wusste die Protagonistin bereits, dass sie im chinesischen Kalender eine Ratte ist, so schöpft sie ihr Heilwissen um das zoopharmakon des Schlangenbluts aus ähnlichen Quellen. An anderer Stelle ist auch vom »Schildkrötenblut« die Rede und davon, dass man Schlangen und Schildkröten in Paris am ehesten in einem »Fachgeschäft für Buchbinder« kaufen könne.65 Wie diskret hier obskure Winke gegeben werden: Denn zu erinnern ist an die poetologische Funktion der Schildkröte in 60 | Ebd., S. 82. 61 | Tawada, Das nackte Auge, S. 98. 62 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 317. 63 | Tawada, Das nackte Auge, S. 68. 64 | Ebd., S. 93. 65 | Ebd., S. 80.
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Tawadas Verwandlungen: daran also, dass die »ältesten chinesischen Ideogramme, die man gefunden hat, […] in Schildkrötenpanzer oder in Tierknochen eingeritzt«66 waren. Und dies darf auch mit jener Schildkröte aus dem antiken Mythos kombiniert werden, aus deren Panzer Hermes eine Leier machte – jener Hermes, dem unter anderem die Erfindung der Schrift nachgesagt wird.67 Der Verweis auf die geheim bleibende, also hermetische und animalische Materialität der Schrift über die Kulturgrenzen hinweg zeigt sich im Corpus der Schildkröte beim Buchbinder. Und also: Der Text generiert geheime Topoi und Rezepte einer wirkungsvollen Imagination vorzüglich unter Bezugnahme auf Tiersemantiken. Solcherart konfiguriert sich ein poetisches zoopharmazeutisches Wissen, mit dessen Hilfe das Überleben möglich wird.68 Melken wir indes noch die Bienen, wie immer sie es treiben: Ein mongolischer Imker kommt in das Bordell. Ich bin nicht sicher, ob er wirklich ein Mongole ist, aber der Schauspieler heißt ›Tschingis Chan‹ oder so ähnlich. Trotz seines riesigen Körpers sieht er liebenswürdig aus, aber die Frauen im Bordell fürchten sich vor ihm. Er hält in seinem kleinen, schwarz lackierten Kästchen etwas, was summt. Bestimmt eine Biene, vielleicht eine elektrische, denn ihr Summen hört sich künstlich an.69
Nur die von Deneuve gespielte Heldin des Films Belle de Jour empfängt diesen Imker. »Der Film zeigt uns nicht, was mit den beiden passiert, nachdem Séverine ihren Unterleib den Bienen überlassen hat.« 70 Zuletzt wird diese Passage noch mit einer »Geschichte ohne Wurzel und Blätter« 71 verwoben, aus der unsere erzählende Maus als Mongolin und Tochter des Imkers hervorgeht und an die Tür jener Kunstfigur Deneuve tritt – wohl auch um nun ihre eigenen elektrischen Bienen und Drohnen und anderes insektengleiches, intelligentes Gerät zu entsenden oder auch lustvoll zu disseminieren. Tatsächlich ist dies eine energiegeladene, emblematische Szene, die das Alte mit dem Neuen, die Natur mit der Kunst, die alten Magien (Esoterik) mit den neuen Magien (Elektrizität und Medialität) in einer Narration zusammenschweißt. Und doch fragt sich, wo es hin soll mit diesem Wissen, denn der Roman rettet zwar sich selbst als poetisches Anarchiv, aber kaum seine Protagonistin, die sich im gespenstischen Zwielicht von Blindheit und Einsicht auflöst. Die eine oder die andere Seite des pharmakon ist immer das Gift. Gifte befanden sich ja schon auf der Haut der Maus. Und als Hoshi von den französischen Behörden wegen ihres illegalen Status festgehalten wird, konstatiert sie: »Hypnose
66 | Tawada, Verwandlungen, S. 33. 67 | Zum Mythos vgl. z.B. Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. Stuttgart 1974, S. 242-246. Vgl. zur Bedeutung der Hermetik auch Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos: Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit. München 2005. 68 | Vgl. zum Überlebenswissen auch in diesem Fall Ottmar Ette: Zeichenreiche: Insel-Texte und Text-Inseln bei Roland Barthes und Yoko Tawada. In: Christine Ivanovic (Hg.): Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk Yoko Tawadas. Tübingen 2010. S. 207-230. 69 | Tawada, Das nackte Auge, S. 117. 70 | Ebd., S. 118. 71 | Ebd.
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und Medikamente waren ihre Waffen.« 72 Nachdem sie sich befreit hat, geht die toxische Reise weiter durch ein Paris, in dem alle Flanerie der Betäubung gewichen scheint: Zuletzt geht die Maus nurmehr noch mit einem gewissen Wodka-Geist namens »Monsieur Gorbatschow«, der ihr »ein Heiler« war, auf die Straße und in entwürdigende Szenen hinein.73 Hier, in der Intoxikation, ist der Tiefpunkt erreicht: »Gorbatschow hatte eine Nebenwirkung, die seinen Ruhm verletzen konnte. Nach dem Aufwachen hatten meine Knochen an Dichte verloren, und meine Haare hingen glanzlos hinunter.« 74 Und doch: »Ich war glücklich, während ich trank, und begriff, dass das Wort Glück eine chemische Bedeutung hat.« 75 Man unterschätzt solche Sätze, wenn man sie lediglich als psychopolitische Chiffren einer Depravierung liest. Wenn man indes das pharmazeutische Wissen des Textes würdigt, dann ahnt man, dass hier lediglich ein Pol des unentscheidbaren pharmakon angedeutet ist. Das will heißen, dass der Text, wie gezeigt, auch den anderen Pol kennt, also das (mehr oder weniger) esoterische Heilwissen. Und es wäre zuletzt die Frage zu stellen, ob die pharmazeutischen Essenzen überhaupt noch aus dem Reich der Chemie stammen und nicht vielmehr dem der poetischen poiesis selbst. Damit wäre auch hier auf eine poetopharmazeutische Essentialität zu spekulieren, die den Text auch dann noch signiert, wenn die Narration über das Schicksal seiner Figuren entschieden haben wird. Wichtig bleibt, dass die Qualität dieses poetischen Wissens sich wesentlich aus dem Reich der Tiere herschreibt. Das poetische Humanwissen qualifiziert sich (reich an Arten und Weisen) über die Tiersemantik. Und damit kommen wir zu einer letzten animalischen Monstration:
G host-D og -W erden Gewiss müsste man zum Schluss auf den Hund im Text kommen, womit Tawada eine je schon domestizierte Chiffre präsentiert, die gewissermaßen an der Leine des melancholischen telos ihren letzten Dienst verrichtet. Vielleicht als Ghost Dog ließe sich der Hund auf- und gleichzeitig erhalten, indem er in die gespenstische Peripherie von einem mächtigen, übrigens nicht minder phantasmatischen Tiger verdrängt wird: Wieder gibt es eine pharmazeutische Miniatur: Bei Kaffee und im Zigarrettenrauch sitzend, bemerkt die Maus: »Ich liebte den Duft der Gauloises, fürchtete mich aber vor diesem Namen, der mich aus irgendeinem Grund an einen alten Tiger erinnerte.« 76 Der Name scheint durch das von Brand und Asche geschwängerte Element der Luft einer Art Einflüsterung entgegenzueilen, wie sie nur von Gespenstern stammen kann. An anderer Stelle war es übrigens die Furcht vor einem metonymischen Objekt, das eine weitere Raubkatze symbolisierte: der Löwe. Auf der ersten Seite des zentralen poetologischen Textes Der Klang der Geister von Yoko Tawada geht er in den Tagen der Kindheit wieder: Sie erinnert sich an den Schrecken, der sie angesichts von Löwenmasken überfiel, während sie echte Löwen nie fürchtete: Durch die Masken und Medien spricht immer schon et72 | Ebd., S. 128. 73 | Ebd., S. 155. 74 | Ebd., S. 156. 75 | Ebd., S. 157. 76 | Tawada, Das nackte Auge, S. 149.
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was »Un-Menschliches«, dessen gespenstische Qualität »von einem Fisch, einem Baum, einem Tier oder einem Geist« stammt.77 Und dann entfaltet Tawada zwischen alten Mythen und Ritualen und modernen Medien und Dispositiven eine eigene, wesentlich ungreif bare Geisterlehre. Dabei ist zu betonen, dass die japanische Autorin aus einer technikaffinen Kultur stammt, die, wie sie an anderer Stelle im Zuge eines Vergleichs zwischen Weihnachtsbaumbeleuchtungen in Deutschland und Japan ausführt, es gewohnt ist, in der Elektrizität selbst eine besondere Spiritualität zu entdecken.78 Und um nun schlussendlich zum Hund zu kommen. Im Zwiegespräch mit ihrer Projektionsfigur Deneuve phantasiert die Ich-Erzählerin einmal über das Tierwerden: »Was für ein Hund sollte ich werden?« Und: »Wenn es nieselte, dachte ich viel an das Dasein als Hund. Unter einem heiteren Himmel änderte ich meine Meinung schnell und dachte, es wäre vielleicht doch besser, an der Universität zu studieren.« 79 Der Hund als Melancholiesymbol wird auch das Schlusstableau dieses Textes zieren: nämlich an der anspielungsreichen Seite der blinden Dame, die noch an Tschechows Dame mit dem Hündchen erinnert. Ähnlich wie Deleuze und Guattari betont Tawada mit ihrer Frage nach dem Tier in metamorphotischer Hinsicht, dass es in Abgrenzung zum Studium mit seinem logos und dessen Großem und Ganzem womöglich allererst um ein zoopharmazeutisches punctum gehen sollte, das unheimlich wirkungsvoll ist. Zum Vergleich: Schon der Flaneur und Killer Ghost Dog in dem Film Ghost Dog: The Way of the Samurai (1999) von Jim Jarmusch wurde ja allererst zum gespenstischen Hund, um zu überleben. (Die besten Freunde sind ihm Tauben, Hunde und Kinder.) Und es mag sein, seine Spektralisierung verdankt sich einer geheimwissenschaftlichen Molekularisierung: hin zu dem, was Deleuze und Guattari den »MolekularHund«80 nennen. »Und das ist für uns das Wesentliche: Tier werden kann man nur, wenn man, durch welche Mittel und Elemente auch immer, Korpuskeln aussendet, die in ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe der Tierpartikel eingehen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, in die Nachbarschaftszone des Tiermoleküls. Man wird nur auf molekulare Weise Tier.«81 Es geht darum, die Signaturen des Gewimmels zu entziffern, mehr noch: bewegliche Subjekte zu lokalisieren, bevor man sich ihnen anschließt, gleichgültig, welcher Spezies sie angehören: Die fast unsichtbare, kleine Maus taumelt und hetzt durch die Straßen. Selten nur hebt sie den Kopf und erinnert an die humane Flanerie, für die alles zuletzt zu schnell geworden ist. Und es wird klar: In der Bewegung der Maus konstituiert sich kein präsentes, souveränes, humanes Subjekt mehr. Die Entfremdungen sind zu weit fortgeschritten. Tawada hat die Grenze zwischen Mensch und Tier überschritten, um an eine Interspezies zu gemahnen, welche zunehmend den Programmierkulturen überantwortet wird – dies indes nie rück- und widerstandslos. Die Maus lehnt zuletzt eine Heimkunft in einem Wohnzimmer ab, »in dem die Farbe des Naturholzes und die schwarze Farbe der digitalen Technik
77 | Tawada, Talisman, S. 109f. 78 | Vgl. ebd., S. 137f. 79 | Tawada, Das nackte Auge, S. 147. 80 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 374. 81 | Ebd.
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herrschten.«82 Um dieser Dialektik im Stillstand: Natur und Technik im programmierten Konsumareal des Wohzimmers, zu entgehen, zieht sie das molekuar- und nanopoetische Tier-Werden vor. Tawada liefert exemplarische zoopharmaka, die damit keiner Wissenschaft entstammen, sondern einer experimentierfreudigen Poesie.
I nterspezielle Z oogr ammatik Jacques Derrida und Elisabeth Roudinesco fragen: »Woraus wird Morgen gemacht sein?«83 Und es wäre rasch eine mögliche Antwort in Derridas Verweis auf seine eigene Grammatologie zu entdecken: »Ich machte seinerzeit geltend, daß die ›Begriffe Schrift, Spur, Gramma oder Graphem‹ über den Gegensatz ›menschlich/ nicht menschlich‹ hinausgehen würden.«84 Der Dialog, in dem er sich hieran erinnert, handelt von den Tieren, genauer von der Gewalt gegen Tiere. Die Grenzen, um die es geht, verlaufen zwischen Menschen und Nicht-Menschen, und das heißt: Menschen, Tieren und Maschinen. Und da ist noch jenes Wesen, das sich schon längst in den Diskurs als ungebetener Gast gestohlen hat: das Gespenst (ghost, spectre, phantom). Sein Auftritt dynamisiert die Zoo-pro-grammatik, damit sie als Nomenklatur einer Heimsuchung wirksam wird.85
Tr aumprogr ammierung Die heimsuchenden Fragen richten sich erneut an Cyborgs, Hybride und Androide.86 Pharmakeia und Androsphinx haben sie schon angekündigt, und nun wäre noch ernster zu machen mit Blick auf eine prominente Auseinandersetzung mit den Cyborgs: Donna Haraways Manifest für Cyborgs aus dem Jahre 1984 vertritt die These: »Im späten 20. Jahrhundert […] haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs.«87 Es ist bekannt, dass Haraway diese Cyborgisierung im Namen des Feminismus in gewisser Weise begrüßt, da nicht mehr ohne die Technik die ungerechten Zuschreibungen von Geschlechterrollen und vor allem eine entsprechende Prekarisierung der Frauen aufgehoben werden können. Es gibt da folgende Aussicht: »Das Gender des Cyborgs ist eine lokale Möglichkeit, die global Vergel82 | Tawada, Das nackte Auge, S. 177. 83 | Jacques Derrida, Elisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Stuttgart 2006. 84 | Ebd., S. 111. 85 | Vgl. auch einen ersten Versuch, der sich mit dem folgenden zu Teilen deckt: Leonhard Fuest: Die Träume des Cyborg. Für eine Zoogrammatik der Heimsuchung. In einem geplanten Sammelband zu Gespenstern, hg. von Gerald Siegmund u.a. 86 | Zu einer entsprechenden Typologie vgl. Christoph Vallant: Hybride, Klone und Chimären. Zur Transzendierung der Körper-, Art- und Gattungsgrenzen. Würzburg 2008. 87 | Donna Haraway: Ein Manifest für Cyborgs: Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. Übers. von Fred Wolf. In dies.: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M. 1995, S. 33-72, hier S. 34.
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tung üben wird.« 88 Für die technologisch gestütze, gewaltsame Revolutionierung der Machtverhältnisse steht der hybride, weibliche Maschinenmensch in den Startlöchern: Die Cyborg ist eine überzeugte AnhängerIn von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität. Sie ist oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Cyborgs sind nicht mehr durch die Polarität von öffentlich und privat strukturiert, Cyborgs definieren eine technologische Polis, die zum großen Teil auf einer Revolution der sozialen Beziehungen im oikos, dem Haushalt, beruht. Natur und Kultur werden neu definiert. 89
Es fragt sich indes, wie lange die ethisch, juridisch und politisch auszufechtende Gendernemesis noch anhalten wird, da der Krieg zwischen den Geschlechtern zunehmend überlagert wird vom Krieg zwischen den Arten. Verdichten wir mithin unsere Unruhe: Sind Cyborgs heimsuchbar? Und wer sollte sie heimsuchen? Wir, die sogenannten echten Menschen, die Real Humans oder Äkta Människor90 – so der schwedische Originaltitel einer TV-Serie, die das Verhältnis zwischen den Menschen und humanoiden Robotern, sogenannten »Hubots«, auslotet, wobei die sogenannten »echten Menschen« bereits als immer prekärer werdende Gruppe spezifiziert werden, die von den Hubots auch als »Bio-Hubots« bezeichnet werden? Sind Cyborgs traumatisierbar? Das müsste doch ausgeschlossen sein: Schließlich wird die Verbesserung und Erweiterung (Enhancement91) des Menschen – immer auch pharmazeutisch – deshalb vorangetrieben, um ihm Leid, Schmerz und natürlich Traumata zu ersparen. Können Cyborgs wenigstens träumen? Sollten sie träumen können? Und wenn sie träumen, träumen sie dann wie oder als Menschen? Sind (für uns) diese Träume deutbar? Oder ist diese Frage zu vernachlässigen, weil wichtiger ist, ob Träume programmierbar sind? Denn wenn schon heute Programme geträumt werden müssen, bevor sie programmiert werden, muss man dann nicht fragen, ob Traum und Programm in einem programmierbaren Verhältnis stehen – oder eben doch nur (an)deutbar? Auf Traumdeutungen verstehen wir uns ja seit einiger Zeit, glauben wir – müssen wir jetzt an einer Traumprogrammierung arbeiten? Oder müssen wir, die echten Menschen, doch angesichts einer solchen programmatischen Zukunft erst einmal ausrufen: Nous sommes fichus: Wir sind fertig, am Ende? Womit wir auf Derridas Frankfurter Adorno-Rede mit dem Titel Fichus anspielen und jenen Satz seines Vaters, den dieser kurz vor seinem Tode sagte »Je suis fichu.« »Ich bin fertig.«92 Diese Erinnerung sucht Derrida heim, während er Adorno gerecht zu werden versucht, indem er einen Traum Walter Benjamins liest, in welchem das Wort fichu mit all seinen erträumten Notationen auftaucht. Im Zuge einer »Politik des Traums«, die den Traum charakterisiert als ein »Element«, 88 | Ebd., S. 71. 89 | Ebd., S. 35. 90 | Lars Lundström (Buch, Regie): Äkta Människor.(2012). 91 | Grundlegend: Christopher Coenen u.a. (Hg.): Die Debatte über ›Human Enhancement‹. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen. Bielefeld 2010. 92 | Jacques Derrida: Fichus. Frankfurter Rede. Übers. von Stefan Lorenzer. Wien 2003, S. 27.
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das »durchlässig ist für die Trauer, die Heimsuchung, das Geisterhafte aller Geister und allen Geistes«93 – im Zuge dieser Traumpolitik spricht Derrida zuletzt auch von einem »erträumten Buch«, in dessen letztem Kapitel von den Tieren die Rede sein soll und Sätzen wie diesem: »Der Faschismus beginnt, wenn man ein Tier, ja das Tier im Menschen beschimpft.«94 Aber was soll der Faschismus mit den Cyborgs zu tun haben? Was mit ihren Träumen, auch und gerade insofern wir in Begriff wären, sie zu programmieren? Fragen wir die Experten in Sachen transhumanistischer Technologie und Ideologie.
Tr anshumane S ingul aritäten Generell gilt die Warnung vor einer Vereinfachung der Debatte in Sachen Transund Posthumanismus, die zwei schlichte Positionen zu bieten hätte: eine positiv gestimmte, fortschritts- und technikaffine, trans- und schließlich posthumane Zukunftsgläubigkeit, und ein kritisch-konservatives Bestehen auf eine Humanität, die gerade in ihrer evolutionären Unvollkommenheit und Fragilität zu erhalten ist. Die Wirklichkeit wie ihre Diskursivierung dürften um so vieles komplexer sein, dass auch die Gespenster neuerlich genug Spielräume hätten, um darin alle bereits angetragene Metaphorizität abzuschütteln, alle diskursiven Schleier abzulegen, und nackt und buchstäblich wie einst etwa die Semprunschen und Klügerschen Gespenster nach der Shoah zu inkompatiblen Akteuren zu avancieren. Wenn wir uns ganz im Licht des Tages endlich von den Gespenstern des 20. Jahrhunderts als Referenten einer programmiert-programmatischen Zukunft des Menschen im Verhältnis zur Maschine und zum Tier verabschieden wollten (ohne es naturgemäß zu können), auch um einer anderen Singularität der künftigen Heimsuchungen gerecht zu werden bzw. für sie offen zu bleiben, dann müssen wir redlicherweise die Versprechen des Human Enhancement des 21. Jahrhunderts ernst nehmen, dann müssen wir also den Cyborgs Gastfreundschaft gewähren. Methodisch wird dies allein schon deshalb erzwungen, weil z.B. das Wort Singularität neuerlich reserviert wurde als ein prospektiver Begriff, den etwa der amerikanische CyberTheoretiker Ray Kurzweil so durchspielt: In der Singularität werden unser biologisches Denken und Dasein mit unserer Technik verschmelzen. Das Ergebnis ist eine nach wie vor menschliche Welt, allerdings jenseits unserer biologischen Wurzeln. Danach wird kein Unterschied mehr sein zwischen Mensch und Maschine, oder zwischen physikalischer und virtueller Realität. Falls Sie sich fragen, was dann überhaupt noch einen Menschen ausmacht – nun, es ist einfach folgende Qualität: Unsere Spezies strebt von Natur aus danach, ihre physischen und geistigen Fähigkeiten über alle gegebenen Grenzen hinweg zu erweitern. 95
93 | Ebd. 94 | Ebd., S. 39. 95 | Ray Kurzweil: Menschheit 2.0. Die Singularität naht. Übers. von Martin Rötzschke. Berlin 2013, S. 10.
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Die Singularität wäre also ein zukünftiges, »einzigartiges Ereignis mit einzigartigen Auswirkungen«96, dessen »Prinzipien« absehbar sind etwa darin, dass es »Mitte der 2020er Jahre […] funktionierende Software-Nachbildungen der menschlichen Intelligenz geben [wird]«, was auch bedeutet, »dass Computerintelligenz nicht mehr von der Intelligenz biologischer Menschen unterscheidbar ist.«97 Interessant für die Psychologen und Philosophen dürfte folgende Spezifizierung sein: »Maschinen werden unsere emotionale Intelligenz durchschauen und besitzen. Darunter zu verstehen ist die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle zu erkennen und darauf zu reagieren.«98 Das kann man diskutieren, wenn man von der Programmatik der Träume spricht. Aber resümieren wir vorerst Kurzweils »wichtigste Aussage«: jene nämlich, »dass die neue Intelligenz für eine weiterhin menschliche Mensch-Maschinen-Zivilisation steht. In anderen Worten: Die Maschinen werden menschlich sein, auch wenn sie nicht biologisch sind.«99 Nun, man sieht rasch, dass man hier im Namen diverser Disziplinen und auch der Logik differenzieren müsste. Und doch mag bei allem methodologischen Unbehagen die viel unheimlichere Impression für eine Weile Bestand haben, dass solche Sentenzen vertraut klingen. Das hat etwas mit der jahrzehntelangen Durchdringung unserer Vorstellungswelten mit der Science Fiction zu tun; das hat außerdem etwas mit den Implikationen unserer Computertechnologie zu tun, will heißen, dem täglichen Umgang mit einer künstlichen Intelligenz; und schließlich hat die Kulturtheorie selbst seit längerem einen immer dringlicher werdenden Kontakt zu den Konzepten des Human Enhancement aufgebaut. Und wo bleiben nun die Tiere?
S chafs - und A pothekertr äume Philip K. Dick hat im Jahre 1968 einen zukunftsträchtigen Roman mit dem Titel Do Androids Dream Of Electric Sheep? (Träumen Androiden von elektrischen Schafen?) publiziert und die im Titel gestellte Frage nicht so recht beantwortet. Seine Hauptfigur Rick Deckard fragt zwar noch einmal: »Träumen Androiden eigentlich?«, und antwortet sich auch selbst: »Anscheinend schon.«100 Aber ob sie wie er, der Jäger von illegalen, humanoiden Robotern, ihrerseits von elektrischen Schafen träumen, das fragt er nicht. Die Frage ist indes naheliegend, denn Deckard selbst ist Besitzer eines elektrischen Schafs, kurzzeitig nennt er sogar eine echte schwarze, nubische Ziege sein eigen, die allerdings von einem weiblichen Androiden, mit welchem er zuvor eine sexuelle (romantische?) Begegnung hatte, (aus Eifersucht?) getötet wird; und ganz am Ende findet er noch eine Kröte, die sich allerdings auch als Imitat entpuppt. Die Traumfrage stellt sich aber auch in einer Situation, in der Deckard liest, dass sein ärgster Gegenspieler womöglich ein »Apotheker vom Mars« sein soll – jedenfalls ein Androide, der über »verschiedene Drogen und Medikamente« 96 | Ebd., S. 23. 97 | Ebd., S. 26. 98 | Ebd., S. 30. 99 | Ebd., S. 31. 100 | Philip K. Dick: Blade Runner. [im Original: Do Androids Dream Of Electric Sheep?]. Übers. von Norbert Wölfl. München 2002, S. 203.
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verfügt, die vor allem die seinen Artgenossen abgehenden Gemeinschaftsgefühle erzeugen sollen.101 So mischt sich just die Frage nach der Medikation von Androiden in jene Frage nach der Rolle, die natürliche und künstliche Tiere für Mensch und Nicht-Mensch spielen. Eine komplexe, interspezielle Gemengelage also. In dieser Nachkriegsszenerie des 21. Jahrhunderts begehren zunächst die Menschen die rar gewordenen natürlichen Tiere, um sich solcherart als Menschen definieren zu können; und wenn sie sich diese echten Tiere nicht leisten können, kaufen sie sich immerhin täuschend echte Imitate. Die Tiersemantik ist überdies dazu da, die nicht-humane Spezies der Androiden abzugrenzen. Dieses wird mit einem Test ermittelt, in welchem Fragen zur Empathie vorzüglich geknüpft werden an Bilder und Szenen, in denen es um Tiere geht. Fühlt ein kommunizierendes Wesen keine Empathie für Tiere, ist es kein Mensch – und damit auch im Zweifel auszuschalten. Die Industrie arbeitet indes an einer permanenten Verbesserung der Androiden, und der ganze Roman lässt zuletzt keinen Zweifel daran, dass die Grenzen zwischen natürlicher und technischer Spezies bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit verwischt sein werden – und zwar nicht zuletzt wegen des Einsatzes von pharmaka. Die titelgebende Frage des Romans ist dabei so aufschlussreich wie verwickelt. Erstens geht es um die Fähigkeit einer humanoiden Maschine, zu träumen; sodann geht es darum, von etwas zu träumen – und zwar im doppelten Wortsinne: einen bestimmten Trauminhalt zu haben, aber auch etwas im (Tag-)Traum zu erträumen und also zu wünschen. Es wird mithin gefragt, wie die neue Spezies zu sich selbst steht, was sie begehrt, was ihr überhaupt lebenswichtig ist, worauf sie zielt, was sie weiß und ahnt, ihr bewusst und unbewusst ist – und was ihr widerfährt (Pathos) und was ihr geschickt wird (Schicksal). Mit dem Traum wird der ganze Menschheitstraum (seine Komödie, seine Tragödie) aufgerufen und gleichzeitig spezifiziert über ein Objekt, das seinerseits bereits als Natur- und Lebensersatz das Resultat einer Innovation ist, die einer historischen Reaktion oder besser Rekreation entspricht. Das elektrische Schaf wäre also das Produkt einer Schubumkehr, die alte, buchstäblich rührende Phantasien einer in die Defensive geratenen Menschheit befriedigt. Dicks dystopischer Roman spielt mithin den Krieg zwischen den Arten durch. Und es ist interessant, dass der Romantitel in neueren Publikationen zugunsten jenes Titels verschwunden ist, den man seit der Verfilmung durch Ridley Scott verwendet: Blade Runner. Machte man sich die Mühe und vergliche die Stellung der Tiere in Roman und Film, so käme man zu dem Schluss, dass es im Film zwar eine Menge sichtbarer Tiere gibt, aber ihre Bedeutung beschränkt wird zugunsten der Handlung, der Technik und der (nicht-)menschlichen Protagonisten. Im Buch indes wird das animalische telos der Menschheit im Modus des Gespenstischen markiert, da von einer toten Spinne die Rede ist, der kurz vor ihrem Tod vier ihrer acht Beine seitens eines empathielosen Androiden abgeschnitten wurden. Dazu resümiert der Erzähler wie ein Menetekel: »Der Verfall hat schon vor langem eingesetzt und wird weitergehen. Die tote Spinne hat das Regiment übernommen.«102 Und dann wird eine apokalyptische Szene beschrieben, in welcher nurmehr noch Teile toter Tiere aufgehäuft werden. 101 | Ebd. 102 | Ebd. S. 234.
IV. Zoopharmaka
Gewiss bemüht sich Dick, die von ihm aufgeworfene Frage nach dem Traum der Androiden zu überführen in einen posthumanen und postanimalischen Alptraum, der negative Utopie in sozialer, Science Fiction in technologisch-ästhetischer Hinsicht und sogar Beitrag zu einer postreligiösen Esoterik ist. Hier soll nun vereinfachend resümiert werden, dass das Buch mit einem elektrischen Schaf beginnt und einer elektrischen Kröte endet: Wappentiere einer futurologischen Traumnovelle, die aus dem Totenreich des Gutenbergzeitalters eben die Fragen in die Zukunft schickt, wie sie parallel zu ihr von Philosophen wie Derrida angesichts des Tieres zum Beginn und zum Ende des Philosophierens gestellt wurden. Werden die Cyborgs oder die Androiden oder wie man die verbesserten, erweiterten und eines Tages überschriebenen Menschen auch immer nennen wird, noch von Tieren träumen – und sei es von künstlichen Tieren? Werden dies nur Wunschoder auch Alpträume sein? Und werden Drogen dafür mitverantwortlich sein?
Pans Par asiten Die pharmazeutischen Phantome, die aus der Zukunft kommen, werden tierische und poetisierte Züge aufweisen. Das Tier, das nicht antwortet, wird sich nicht im (philosophischen) Diskurs bannen oder gar domestizieren lassen, stattdessen in einem poetischen Denken gewürdigt werden können. Es wird keine programmierbare Kommunikation mit Tieren und (poetischen) Texten geben. Das wird sich nicht fügen. Denn was wir als Zoo-Grammatik einer animalisch animierten Heimsuchung bezeichnen, bezieht noch für eine Weile ihren Stoff und ihre Struktur aus jenen Schreibmaschinen, die wie die Dicksche von Schafen träumen (übrigens auch Wanzen jagen)103, die wie das Sprachtier Derrida das chimärenhafte animot als letztes Spurenelement in den Diskurs werfen, die wie Gilles Deleuze und Félix Guattari jenen »Molekular-Hund«104 von der Leine lassen, oder die wie der amerikanische Gegenwartsautor Max Barry in seinem Roman Machine Man einen »Überhund«105 auf einen Prothesenmann hetzen, der seinerseits ein Nachfahre jenes »Prothesengott[s]«106 zu sein scheint, wie ihn Sigmund Freud in seinem Text Das Unbehagen in der Kultur bereits 1930 charakterisierte – und damit natürlich den Menschen meinte: »recht großartig, wenn er alle sein Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.«107 Das zu ändern, war und ist bis heute und wird das ehrgeizige Ziel der Menschen bleiben – in und durch alle möglichen Kriege hindurch. Das Tier aber, so resümiert Lena Kugler mit Blick auf die Kieferprothesen und Hunde des alten Freud – das Tier als »heterogenes Un/Tier« bleibe »in der menschlichen Narration« letztlich doch dies: »Ersatz für das, was durch die Grenze/den Schnitt/die Sektion abgetrennt wurde, eine nie genau sitzende, stets neu anzupassende Prothese, mit 103 | Wanzen, genauer Aphidien, parasitieren schon den Beginn des Romans Der dunkle Schirm von Dick, einer starken Mischung aus Drogenroman und Science Fiction: Philip K. Dick: Der dunkle Schirm. Übers. von Karl-Ulrich Burgdorf. Frankfurt a.M. 2014, bes. S. 5-9. 104 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 374. 105 | Max Barry: Maschinenmann. Übers. von Friedrich Mader. München 2012, S. 214. 106 | Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a.M. 1994, S. 57. 107 | Ebd.
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der wir – und zwar nur mühsam – über uns Menschen sprechen.«108 Aber es wäre naiv, würden wir uns auf diese Anpassungsarbeit allein in humananalytischer Hinsicht einstellen wollen. Denn das Zeitalter der Psychoanalyse scheint, wie gesagt, einem anderen zu weichen: dem der »Pharmakoanalyse«109. Weder Mensch noch Tier noch Maschine präferierend, wird man von den Stoffen, die zwischen ihnen zirkulieren und sie permanent neu definieren, mehr als nur zu träumen haben. Man wird die Grammatiken der Heimsuchung zu entziffern haben als Signaturen oder Codes der zoopharmaka, deren Texturen immer auch in unberechenbaren Poesien verdichtet sein werden, ohne je restlos analysierbar zu sein. So als wäre es unbestreitbar, dass gerade das animalisierende pharmakon nichts anderes sei als ein besonders agiles und wirksames Gegenphantom. Mit diesem Phantom ist immer schon das Medium aufgerufen, in welchem es sich erst konstituiert. Das Gespenst signiert das Medium als pharmakon. Dabei verabschiedet es sich allmählich vom Geistigen und wendet sich eher dem Parasitären zu, ja wird selbst zum Parasiten, der, sichtbar oder nicht, den Wirt, der gerade die Tür geöffnet hat, heimsucht und vergiftet. Der Parasit macht dabei gelegentlich »Lärm«, schreibt Serres, »wie die knabbernden Ratten. Er produziert Gifte, Entzündungen, Fieber. […] Er greift in die Netze ein, unterbricht die Nachrichten, schmarotzt an den Übertragungen. […] Das Phänomen der Ausbreitung ist sein eigentliches, eigentümliches Geschäft. Seine Aneignung.«110 Die parasitären pharmaka mit all ihren monströsen Wirkungen sichtbar zu machen, ist das Verdienst zukunftstauglicher Fiktionen.111 Ihr disseminales Moment setzt sich früh und deutlich in poetischen Semantiken durch. Da es vollkommen ungewiss bleibt, wie diese pharmaka zu beherrschen sein sollten, wird es auch um immer neue Hermetiken gehen. Hermes, so wertvoll er in all den alexipharmazeutischen und immunopädagogischen Szenen des Mythos und der Literatur bleibt, ist aber auch der Vater des Pan, jenes »Herrn der Panik«, »Fürsten der Angst und der Totalitäten«, seinerseits umringt von den bocksbeinigen Satyrn, jenen »gefährlichen Wesen«.112 Auch Hermes’ Mitgift kann also nicht beschränkt werden auf eine verbriefte Gabe.
108 | Lena Kugler: Freuds Chimären. Vom Narrativ des Tieres in der Psychoanalyse. Zürich 2011, S. 239. 109 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus. S. 386. 110 | Michel Serres: Der Parasit. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 1987, S. 217. 111 | Die dystopischen Phantasmagorien einer parasitierten, mutierten und monströsen Menschen- und Tiernatur finden sich jüngst exemplarisch verdichtet etwa in dem Film District 9 (2009) von Peter Jackson. 112 | Serres, Der Parasit, S. 31.
V. Kosmopharmaka »Nimm doch noch ne Spica: iss gut gegn Galaxien!« Arno Schmidt: Die Schule der Atheisten
Mit dem kosmopharmakon ist eine theoretische Chiffre auszubuchstabieren, die den Höchst- und Tiefstpunkt des poetopharmazeutischen Diskurses markiert und darin wesentlich ironisch ist. Bei der Zusammenführung dieser kaum zu bändigenden Semantiken, pharmakon und Kosmos, geht es vorderhand um Konstellationen, Transgressionen und Mutationen, wie sie in szientifischen und ästhetischen Drogenkontexten aufgerufen werden. Das kosmopharmakon pointiert vor allem das phantasmatische Potential der Droge, nicht ohne für einen heilsamen Abyss zu sorgen. So ähnlich wie die religiösen Semantiken die All-heit als Gott-heit im Sinne eines Opiats feilbieten, so ähnlich bietet die Droge vor jeder zu spezifizierenden Wirkung die Erfüllung eines Traums, in welchem die Grenzen des Subjekts überund die Huxleyschen Pforten der Wahrnehmung durchschritten werden können. Jede Droge impliziert ein transzendierendes Versprechen, dessen konstellativer utopos der Kosmos ist. Mit Derrida kann man die religiöse Spannung in der Drogenfrage solcherart unterstreichen: Wenn sich der Himmel der Transzendenzen nicht bloß von den Göttern, sondern von jeglichem anderen entvölkert, dann tritt eine Art fataler Logik an diese Leerstelle, und das ist der Fetischismus der Drogensucht. Nicht die Religion als Opium fürs Volk, sondern die Droge als Religion für atheistische Dichter – und für einige andere, die mehr oder weniger Atheisten, mehr oder weniger Poeten sind …1
Man bräuchte aber kaum das kosmopharmakon als Chiffre, wollte man nur gewisse religiöse Motivkomplexe in der Drogenliteratur rekonstruieren. Es soll daher auch etwas lesbar und analysierbar machen, das sich erst ankündigt. Demnach wäre das kosmopharmakon nicht nur ein chemischer Türöffner zum Kosmos, der dem Individuum buchstäblich in die Hand und in den Leib gegeben wird, um dann in deliröser Manier die große Grenzüberschreitung anzustoßen. Es wäre auch Teil einer wissenschaftlichen Bemühung, die den Menschen beglücken und heilen will, indem sie ihn kleinschrittig, Gen für Gen, Code für Code überschreibt – an ganz andere Autoritäten. Die größte und beste Lösung des kosmopharmakon wäre die Abund Auflösung des humanum selbst. Das heißt in methodischer Hinsicht, man 1 | Derrida, Rhetorik der Droge, S. 253.
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kann zwar eine Weile über motivische und strukturelle Entsprechungen zwischen Kosmosemantiken und Drogentrips sprechen; man wird aber rasch sehen, dass die Um-Setzungen und Verlagerungen von Drogenphantasien in bestimmte technologische Kontexte einen neuen Autonomiestatus anstreben. Es ist kein Wunder, dass schon bei Burroughs die Replikanten in die Drogensemantiken einsteigen, um damit eine techno-futorologische und dystopische Figuration zu eröffnen, die sich von humanwissenschaftlichen Diskursen weder kontrollieren noch gar berühren lässt. Und deshalb noch einmal: Hybride Gestalten, Cyborgs, Surrogate und weitere trans- und posthumane Figuren sind die Protagonisten eines realisierten (drogeninduzierten) Traums: in Mikro- und Makrokosmen, gleichwie und wo die anfällige Hülle des menschlichen Körpers de facto abzustreifen und neue Erfahrungsräume zu erobern sind. Die künstlichen Paradiese sind Maschinenparks geworden. Und das kosmopharmakon selbst wäre nicht viel anderes als die ironische Matrix eines posthumanen Heilsversprechens, das es zwar schon länger gibt, dessen Einlösung aber inzwischen im Reich der Alltagsdispositive begonnen hat. Naturgemäß muss differenziert werden: Pharmaka haben einen oft versteckten, aber (eben deshalb) strategisch wichtigen Platz sowohl in der Science Fiction wie auch in u- bzw. dystopischen Entwürfen eingenommen. Sie figurieren etwa als Substanzen und Medien im Zuge der Adaption humaner Biomasse an diverse Technologien. Sie besetzen die Schnitt- und Schaltstellen, um Bioadaption zu ermöglichen, wie etwa bei Wiener, Gibson und besonders im Film Matrix deutlich wird. Sie treten im Zuge des Neuorenhancement als Smart Drugs auf, oszillierend zwischen Programmcodes, elektrischen Impulsen und biochemischen Nanopartikeln. Wo das pharmakon anfängt und wo es aufhört, welche Räume und Disziplinen es kreuzt: Virtualität und Realität, Kybernetik, Bio- und Gentechnologie, aber auch Phantasmatik, Ekstatik, Ritual und Poetik – das zu entscheiden muss theoretisch möglich bleiben, wird aber im Ergebnis bis zur Unkenntlichkeit verschmolzen. Die angesprochene Ironie kommt nicht zufällig über diese Angelegenheit. Methodisch muss die aufmerksame Ironikerin 2 auf den Plan treten, die die Ironie als Trope des Wahnsinns3 sehr ernst nimmt, auch weil sie nicht kompetent sein muss, die hierin schon sehr lange wütende Dynamik von Selbstschöpfung und -vernichtung4 zu kontrollieren. Die Ironie als Trope der Droge taucht in depravierter Manier auch in der Deleuzeschen Distinktion, bezogen auf Konsum und Sucht, zwischen Selbstzerstörung und Selbstmord auf.5 Keine andere Logik als die des ironischen Schwindels kann gelten, wenn es um die ästhetische Fixierung des Drogentrips geht, der im Wechsel das Ich und die Welt totalisiert und auslöscht. Auch das kosmopharmakon folgt dieser Rhetorik, indem es als Komplement eines
2 | Vgl. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 127. 3 | Vgl. Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. In ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Übers. von Jürgen Blasius. Frankfurt a.M. 1993. S. 83-131, hier S. 114. 4 | Vgl. Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 2. München u.a. 1967, S. 172. 5 | Vgl. Gilles Deleuze: Zwei Fragen zur Droge. In ders.: Schizophrenie und Gesellschaft. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 2005. S. 144-147, hier S. 146.
V. Kosmopharmaka
anderen Wahnsinns gilt: nämlich des noch näher zu beschreibenden Wahnsinns der Materie.6 Niemand wird sagen können, was es bedeutet, wenn man den Worten das letzte Wort verweigert, weil die wahnsinnige Materie keine Vernunft annehmen wird. Die Ironie erzwingt immerhin keine Aussicht auf ein letztes Wort. Deshalb gehört sie auch neben der Dialektik und vor allem dem dekonstruktiven double-bind zu den essentiellen Denkfiguren, die dabei helfen, den Wahnsinn auszuhalten und gar jene Deleuzesche »Hoffnung« zu nähren, »dass die Wirkungen der Droge oder des Alkohols (ihre ›Offenbarungen‹) an der Oberfläche der Welt unabhängig vom Gebrauch der Substanzen für sich selbst erneuert und wieder erzielt werden können.« 7 Ob diese Ironie deshalb schon als ein probates »Mittel revolutionärer Erforschungen« 8 anzusehen ist, das wird sich erweisen.
K osmisches L achen Es wäre zunächst noch einmal zu unterstreichen, dass der utopische und dystopische Diskurs, der den Kosmos mit dem pharmakon zu verbinden hilft, in unserer Zeit eine Renaissance erfährt, weil die Kybernetik mit den konkreten Dispositiven an eine posthumane Zukunft gemahnt, in der der Mensch als Subjekt (gar Individuum) nicht mehr im Mittelpunkt steht, dafür aber neu konstellierte Erfahrungsräume erschlossen werden. Kreativität und Kosmos verschmelzen daher in frohen posthumanen Botschaften.9 Das heißt, der Kosmos als metaphysische und wissenschaftliche All-Heil-Chiffre befördert einen Diskursmix, der allererst der Legalisierung und Empfehlung von pharmaka dient, die oft im Verborgenen die entscheidenden Arbeiten leisten. Humanphilosophische Diskurse, so könnte man vereinfachend hinzufügen, dienen höchstens noch der Verschleierung einer wachsenden Departizipation und Desingularisierung toxisch präparierter Subjektivität. Das spiegelt sich bereits in Huxleys Brave New World wider, in der das Soma entschieden als dehumanisierendes pharmakon für das »Glück« (das im Gegensatz zu »hoher Kunst« und Wissenschaft steht) der gezüchteten Halbwesen sorgt.10 Gewiss zeigt Huxley eine gewisse Besorgnis, wenn er in seinem Laborexperiment demonstriert, wie alle Versuche menschlichen Widerstands in Korruption und Medienspektakel enden. (Der Melancholiker knickt ebenso wie der Intellektuelle ein, der sich nach Island wünscht; und der Wilde endet als exotisch-bizarres Schaustück im Reality-TV.) Huxley hat damit kein Antidrogenmanifest geschrieben. Ausgerechnet die Frage nach dem pharmakon hat ihn bekanntlich nicht losgelassen, so dass er in einem zweiten Anlauf, in dem Roman Island nämlich, noch einmal eine affirmative Drogensemantik aufwirft, deren neurotheologische Nobilitierung 6 | Vgl. Nick Land: No Future. In: Armen Avanessian, Björn Quiring (Hg.): Abyssus Intellectualis. Berlin 2013. S. 208-214, hier S. 213. 7 | Deleuze, Logik des Sinns, S. 202. 8 | Ebd. 9 | Vgl. Patricia MacCormack: Kosmogenetische Akzeleration: Zukünftigkeit und Ethik. In: Armen Avanessian (Hg.): Akzeleration. Berlin 2013. S. 78-93, hier S. 92. 10 | Aldous Huxley: Schöne neue Welt. Übers. von H.E. Herlitschka. Frankfurt a.M. 1953, S. 218.
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kaum ohne kosmische Dimensionen auskommt. So lässt er den finalen Trip seines Protagonisten in etwa so aussehen: Zunächst wird das »Firmament von Seligkeit und Verstehen«, das den Drogenrausch beschirmt, von einem »Gewirr erinnerter Vorstellungen« und einem »Katzenjammer einstiger Gemütsbewegungen« verdunkelt.11 Doch dann setzt sich eine kosmische Seligkeit durch, die das Subjekt zu »reinem Geist« werden lässt – »grenzenlos, homogen, erfüllt von leuchtender Seligkeit, von einem jeder Erkenntnis baren Verstehen.«12 Und: »Es gab jetzt nichts außer einer kristallklar transparenten Seligkeit.« »Und wieder brach er in kosmisches Gelächter aus.« Und: »Hinter seinen Lidern floss ein Meer leuchtender Seligkeit gleich einem aufwärts strömenden Katarakt. Floss aufwärts von Vereinigung zu noch völligerer Vereinigung, von Unpersönlichkeit zu einer noch vollkommeneren Transzendenz des Selbst.«13 Interessant ist noch, dass Transparenz und Ordnung des Rauschglücks poetopharmazeutisch unterstützt werden von Johann Sebastian Bachs viertem Brandenburgischen Konzert: »Die Musik, die der Stille am nächsten kommt, die trotz ihrer ungeheuer durchgearbeiteten Struktur reinem, unverdünntem Geist am nächsten kommt.«14 Und in diesem Hörgenuss reiner Konstellation verfugen sich dann auch fließende mit festen Strukturen – wie etwa jenes »unerschöpfliche Wasserspiel, das sich in bewussten Ornamenten, in einem Gitterwerk lebendiger Sterne versprühte.«15 Dass schließlich Eidechsen als »komplizierte Maschinen« auftauchen und sich eine Gottesanbeterin nebst Gatte als »zwei kleine, in Betrieb gesetzte Alptraum-Modelle, zwei Minimaschinen zum Kopulieren« hinzugesellen16 – das verweist auf die Heimsuchung, die Huxley gegen die eigene programmatische Intention in dieser kosmologischen Rauschanordnung anzettelt. Das wäre bereits ein zukunftsweisender horror autotoxicus.17 Ganz offenkundig hat Huxleys »Neurotheologie« mit dafür gesorgt, dass die Diskussionen von Drogen bis heute immer auch religiös und politisch geprägt sind.18 Dies geschieht weiß Gott nicht einfach in einem psychedelischen Furor, sondern in nüchternen Bemühungen, die Pharmakologen, Neurologen und Priester anstrengen: um Lösungen zu finden, damit die prekäre Verfasstheit des humanum hienieden verbessert werden kann. Das kosmopharmakon wäre mithin eine radikale Chiffre für die Er-Lösung (als Droge). Es wird sich indes quasi-maschinell permanent selbst dekonstruieren und erst darüber ungeahnte Wirkungen erzeugen.
11 | Aldous Huxley: Eiland. Übers. von Marlys Herlitschka. München 1984. S. 317. 12 | Ebd., S. 318. 13 | Ebd. 14 | Ebd., S. 319. 15 | Ebd., S. 323. 16 | Ebd., S. 327f. 17 | Zur immunologischen Definition dieses Ausdrucks vgl. Esposito, Immunitas, S. 229. 18 | Vgl. Nicolas Langlitz: ›Better Living Through Chemistry‹ – Entstehung, Scheitern und Renaissance einer psychedelischen Alternative zur kosmetischen Psychopharmakologie. In Christopher Coenen u.a. (Hg.): Die Debatte über ›Human Enhancement‹. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen. Bielefeld 2010, S. 263-286, hier S. 268f.
V. Kosmopharmaka
N aked J unk Auch wenn man nun im Rahmen einer abstrakten bzw. theoretischen Spekulation den Kosmos als konstellative und soteriologische Chiffre des Drogendiskurses verorten kann, ist es vielleicht interessant, neben und in ihm den (organreichen) Körper in den Fokus zu rücken, und zwar nicht zuletzt dergestalt, wie er in Rausch und Abhängigkeit zugerichtet wird. Gewissermaßen als Komplement zu Huxleys tendenziell sauberen Laborvisionen kann man Naked Lunch von William S. Burroughs hinzuziehen, auch wenn sich zuletzt aus dieser Nackten Gabe nicht unbedingt ein Elixier destillieren lässt, das dem nackten und heiligen Menschen zu überreichen wäre, jenem homo sacer, den Giorgio Agamben als zugerichtete Figur aus den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts gehoben hat, um es dem globalisierten Posthumanismus des 21. Jahrhunderts in die heiligen und heilenden Hände zu legen. Dass das nackte poetopharmakon Burroughs’ wirkungslos scheint, bezeugt nämlich schon seine kosmomediale Botschaft: Ein paar gefühlsselige Typen kommen auf die Idee, unbedingt etwas Erbauliches senden zu müssen, und verstehen überhaupt nicht, dass Senden AN SICH schlimm ist. Die Wissenschaftler werden verlauten lassen: ›Mit dem Senden ist es wie mit der Atomkraft … man muss sie sich nur richtig zunutze machen.‹ Und genau dann mixt ein analfixierter Technokrat sich ein Kaisernatron und verwandelt die Erde per Knopfdruck zu kosmischem Staub. (›Rülps … Den Furz werden sie noch auf dem Jupiter hören.‹) … Künstler werden das Senden für einen kreativen Akt halten. Sie werden überschwenglich von einem ›neuen Medium‹ herumkrakeelen, bis ihnen niemand mehr zuhören will … Die Philosophen werden sich lang und breit über das Mittel zum Zweck auslassen, ohne zu wissen, DASS SENDEN KEIN MIT TEL ZU ETWAS ANDEREM SEIN KANN ALS ZU MEHR SENDEN, GENAU WIE JUNK.19
Von dieser auch heute noch gültigen Analyse ausgehend, lässt sich Burroughs’ ganzer Text als ironischer und nackter Drogentext lesen, dessen abstoßende und schmerzliche Wirkungen eben nur in der empfänglichen Lektüre entfaltet werden können, derweil sie sich den betäubenden Wohltaten der begrifflichen Abstraktion entziehen. So ist auch das poetische Programm seines eigenen Romans als Mitgift-Gift zu verstehen: »Naked Lunch ist eine Blaupause, ein Ratgeber … Schwarze, insektenhafte Gelüste öffnen Blicke auf gewaltige Landschaften eines fernen Planeten … Von abstrakten Konzepten, nackt wie Algebra, bleibt schließlich nicht mehr als ein Klumpen schwarzer Scheiße und ein paar alternde cojones …«20 Diese idiosynkratische Kosmopoetik ist an keiner Stelle naiv und feiert gewiss nicht das Fest einer möglichen Rehumanisierung der Verhältnisse. Dafür laufen nicht nur zu viele missbrauchte, kaputte und gespenstische Junkies durch den Text, sondern auch Mischwesen und Replikanten aller Art und eben jene Botschafter, die noch dies hinzufügen: »Der Sender ist kein menschliches Wesen … Er ist Das menschliche Virus. […] Das entartete Abbild der Menschheit breitet sich Schritt für Schritt und Zelle für Zelle aus […]. Das menschliche Virus kann inzwischen isoliert und behandelt werden.«21 19 | William S. Burroughs: Naked Lunch. Übers. von Michael Kellner. Reinbek 2011, S. 208. 20 | Ebd., S. 275. 21 | Ebd., S. 209.
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Mit diesen Hinweisen auf eine global-humane Pandemie werden Jahre später wichtige Zukunftsvisionen bestückt sein: An Dicks Blade Runner, Gibsons Neuromancer und schließlich den Film Matrix fühlt man sich erinnert. Allein der Blick auf die Agenten in diesem Film22 zeigt es: Sie selbst bezeichnen sich als »cure«, als Heilmittel gegen das Virus, das die Menschen in ihren Augen für den Planeten sind. Der Maschinen-Agent als selbsternannter Heiler teilt diese seine Wahrheit dem seinerseits unter einer starken Droge – die als Wahrheitsserum wirken soll – stehenden Morpheus mit, der das gleichsam erträumte Medium des Films darstellt und seinen Auserwählten Neo (beschreibbar schon als neo-humanoides kosmopharmakon) aufruft – und zwar mittels der roten Pille, die den Trip in die Wirklichkeit ermöglicht. Matrix repräsentiert einen einzigen kosmopharmazeutischen Vergiftungszusammenhang. Der Film wäre nicht allein als dystopische Science Fiction zu analysieren, sondern im gleichen Maße als Drogenfilm. Schließlich werden schon an den Beginn des Films die Cyberdrogen gesetzt, da der künftige Erlöser als nebenberuflicher Dealer auftritt, der sie verkauft (nachdem er sie aus einem als Buch getarnten Kästchen gezogen hat, auf dem der Titel Simulacra steht). Dann verläuft die Filmhandlung über zentrale Stationen der chemischen wie digitalen Drogeneinnahme (die rote und blaue Pille am Eingang des Kaninchenbaus [als wahre Realität], die Plätzchen des Orakels und Morpheus’ Intoxikation) und endet in der Transformation des sterblichen Subjekts in einen unsterblichen Superhelden. Dazwischen öffnet oder offenbart sich die Matrix als Raum eines drogeninduzierten Trips, auf dem neben der Überwindung der Schwerkraft im Kampftraining auch ›profanere‹ Cybersex-Attraktionen wie die Blondine im roten Kleid geboten werden. Gegen die Vergiftung durch die Matrix kann hier nur die religiös inspirierte, nostalgische Hoffnung durch Neo und Trinity erneuert werden, den utopischen Träumen des Morpheus entsprungen, um Licht zu bringen (wie einst Moly). Und es ist fraglich, ob die religiösen Gegengifte wirken werden – jedenfalls am Ende des ersten Teils der Matrix-Trilogie. Das Elend auch dieser Ex-Junkies, die zwar entgiftet sind, aber nun zurechtkommen müssen im Elend des Diesseits, harrt der Erlösung. Die Matrix als Vergiftungszusammenhang leuchtet zuletzt noch einmal auf. Zurück bleibt der homo sacer bei seinem letzten Naked Lunch.
D rogenadaption Angesichts der soteriologischen Exitstrategien kann man sich nun nicht mehr den Fehler leisten, weitere techno-poetische Diversifizierungen zu unterschätzen. Drogen und Maschinen dienen demselben Prospekt. Oder um es mit Burroughs zu animalisieren: »Eine Denkmaschine wäre vielleicht empfänglich für die Lustgefühle, die Kokain auslöst, die ersten Regungen einer schrecklichen insektoiden Lebensform.«23 Mit dem Konnex von Droge, Maschine und Mensch sind große Forschungen verbunden, die in gewissen Teilen der Literatur lebhaften Anklang gefunden haben. Oswald Wiener etwa gehört zu den deutschsprachigen KosmoIronikern, die zwischen Poetik und Technik keine unüberwindlichen Differenzen
22 | Andy und Lana Wachowski: The Matrix. (1999). 23 | Burroughs, Naked Lunch, S. 37.
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sehen – im Gegenteil. In seinem Prosawerk Die Verbesserung von Mitteleuropa findet man diesen Konnex, vor allem da es um den Entwurf des Bioadapters geht: [D]er bio-adapter wird in grosserie hergestellt; abgesehen von den medizinisch-mechanischen effektor-moduln werden ausschließlich mikrominiaturisierte monolitihisch integrierte schaltkreise verwendet. jeder adapter greift auf einen ausreichenden vorrat transformierbarer betriebskraft in gestalt menschlicher nahrung, eigener betriebsenergie, pharmazeutischer stoffe und ersatz-materie als rohstoff zurück. chemische einheiten zur regeneration von stoffwechselprodukten sind vorgesehen. 24
Die pharmaka helfen nun hier nicht mehr nur dabei, die kosmologische Konstellation erfahrbar zu machen, sondern im Gegenteil den Kosmos selbst abzuwerten: [E]s ist die auffassung des designers des bio-adapters, dass erst die einheit mensch-adapter den anforderungen einer verantwortungsbewussten anthropologischen kritik standhalten kann – aber daneben auch dem gesund-heroischen ideal eines den kosmos regierenden homo sapiens erstmalig genügt, und zwar durch trockenlegung des kosmos einerseits, und zum anderen durch liquidation des homo sapiens. der mensch, ausserhalb seines adapters ein preisgegebener, nervös aktivierter und miserabel ausgerüsteter (sprache, logik, denkkraft, sinnesorgane, werkzeug) schleimklumpen, geschüttelt von lebensangst und von todesfurcht versteinert, wird nach anlegen seines bio-komplements zu einer souveränen einheit, die des kosmos und dessen bewältigung nicht mehr bedarf, weil sie auf eklatante weise in der hierarchie denkbarer wertigkeiten über ihm rangiert. 25
Diese Rhetorik, die Wiener zum mad scientist zu machen droht, will gleichwohl mit Blick auf die poiesis des Bio-Adapters ernst genommen werden. Die neuen Technologien und Intelligenzen, für die er sich interessiert, sind Sache eben dieser poiesis und nicht mehr der Philosophie. Die Poesie verantwortet sich den harten Wissenschaften gegenüber und mischt sich nach Kräften in diese ein. Ziel ist auch hier die Überwindung der logozentristischen Orientierung des bedürftigen Menschen im Universum und dessen Überführung in einen agreablen posthumanen Zustand. Und das ist eben nicht ohne Ironie zu haben, die den Begriff kosmopharmakon signiert, damit er nur liefert, was er verspricht, wenn dies um den Preis seiner Negation geschieht. Der Konsument verwandelt sich, um in einem Kosmos seine jahrtausendealte Bestimmung zu finden, für die er sich just dann, wenn das entsprechende Heureka! ausgerufen werden könnte, nicht mehr interessiert. Indem der Mensch sich mit der Maschine verfugt und zum hybriden ›Übermenschen‹ wandelt, triumphiert er über die Natur und wird sich selbst zum All-Heil-Mittel, ohne dieses Selbst in seiner nunmehr befriedigten Bedürftigkeit noch durchmessen zu können. Nurmehr Zitat des humanum, simuliert er berauschende Bedeutungen im Welt- wie Selbstverhältnis. Die Wienersche Bioadaption bleibt zuletzt so profan wie der Gebrauch der Droge selbst. Es erhöht sich mit ihr die Anzahl der Methoden der Abwicklung.
24 | Oswald Wiener: Die Verbesserung von Mitteleuropa. Reinbek 1985, S. 177. 25 | Ebd.
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K osmosonorität Also ist auch das kosmopharmakon nichts als eine bittere Pille, die immer nur die nämliche Ironie traktiert? Treffen wir noch eine andere Pfadentscheidung, die vielleicht ein kleines Licht sichtbar und hörbar werden ließe. Deleuze und Guattari haben frühzeitig damit begonnen, die menschliche Psyche mit Maschinen zu bevölkern, für animalisierende Depersonalisierungsübungen zu plädieren und ein schöpferisch verspieltes Philosophieren in ein kosmopharmazeutisches Ritornell zu überführen. Auch hier muss man den methodologischen Grundgedanken ernst nehmen, dass es, wenn nicht bereits um Enhancement, so doch immerhin um Drogensubstitution geht, will heißen: Ersetzung der chemischen Droge durch eine phantasmatische oder ästhetische Konstellierung – eines freilich nun erst wieder neu zu entwickelnden kosmopharmakon. Deleuze hat, wie gesagt, die Hoffnung auf eine entsprechende Substitution geäußert. Um sie zu nähren, ist es wichtig, den Drogendiskurs mit jener Kombination von Forschung und Revolte zu konfrontieren. Dies gilt übrigens auch und gerade, da man zunächst konzediert, dass Deleuze keine weiteren konkreten Vorschläge zu solchen revolutionären Offenbarungen als Drogenersatz macht. Aber man kann bestimmte Passagen wie solche Vorschläge lesen oder behandeln. Vielleicht lässt sich mit einer gewissen Konsequenz von der poiesis des kosmopharmakon sprechen, wenn man folgenden Zusatz von Deleuze und Guattari zu Paul Klees »Zwitschermaschine« hinzuzieht: Und warum ein so gewaltiges Wort wie Kosmos, um von einem Vorgang zu sprechen, der präzise sein soll? Klee sagt, daß man eine ›Gebärde in Stößen‹ ausführt, um sich von der Erde zu lösen, daß man sich ›unter dem Diktat von Schwungkräften, welche über die Schwerkräfte triumphieren‹, über sie erhebt. Er fügt hinzu, daß der Künstler damit beginnt, um sich zu schauen, in alle Milieus, um die Spur der Schöpfung im Geschaffenen zu erfassen, die natura naturans in der natura naturata; und dann, nachdem er sich ›in den Grenzen der Erde‹ eingerichtet hat, interessiert er sich für das Mikroskopische, für Kristalle, Moleküle, Atome und Teilchen, allerdings nicht für die wissenschaftliche Genauigkeit, sondern für Bewegung, ausschließlich für die immanente Bewegung; der Künstler sagt sich, daß diese Welt verschiedene Aspekte gehabt hat, daß es noch andere Aspekte geben wird und auf anderen Planeten schon andere gibt; schließlich öffnet er sich dem All, dem Kosmos, um die Kräfte in einem Werk einzufangen (ohne dass die Öffnung zum All nur eine Träumerei wäre, mit der man nicht die Grenzen der Erde erweitern könnte); und für ein solches Werk werden nur ganz einfache, reine, nahezu kindliche Mittel benötigt […]26
Die Korrespondenzen auch mit Derridas Bestimmung des pharmakon als Bewegung und spielerische Differenz sind unübersehbar und befördern die Suche nach den poetischen Alternativen zu den chemischen Substanzen. Um die Dynamik entsprechender Konstellierungen zu beleben, widmen sich Deleuze und Guattari besonders eindringlich der Musik. Schon die »Klangmoleküle der Popmusik« können »ein Volk neuer Art ausschwärmen lassen, dem Radiobefehle, Computerkontrollen und die atomare Bedrohung völlig gleichgültig sind.«27 Die Musik scheint 26 | Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 460. 27 | Ebd., S. 472.
V. Kosmopharmaka
inzwischen schwer zu kontrollieren zu sein. War das kosmische Ordomodell der Bachschen Musik bei Huxley noch Garant für einen luzide konstellierten Rausch, der die Erkenntnis nicht nur nicht ausschließt, sondern erst ermöglicht, so gehen Deleuze und Guattari mit ihrem Ritornell-Modell noch weiter, indem sie über die kristallinen Ordnungen hinausweisen auf eine besondere Beweglichkeit. Die radikalste Konsequenz ziehen sie, wenn sie, in unserer Terminologie, das kosmopharmakon durch Zugabe des zoopharmakon anreichern. Das Insekt ist eher geeignet, uns die Wahrheit hören zu lassen, daß alle Arten des Werdens molekular sind (siehe die […] elektronische Musik). Das Molekulare ist imstande, das Elementare und das Kosmische miteinander kommunizieren zu lassen – gerade weil es eine Auflösung der Form bewirkt, die die unterschiedlichsten Längen- und Breitengrade, die verschiedensten Schnelligkeiten und Langsamkeiten miteinander in Verbindung bringt und ein Kontinuum sicherstellt, weil es die Variation weit über seine formalen Grenzen hinaus ausdehnt. 28
Und zur Spezifizierung des musikalischen Anteils: Das gleiche, was einen Musiker dazu bringt, die Vögel zu entdecken, bringt ihn auch dazu, das Elementare und Kosmische zu entdecken. Beide bilden einen Block, eine Faser des Universums, eine Diagonale oder einen komplexen Raum. Die Musik sendet molekulare Strömungen aus. Sicher ist die Musik, wie Messiaen sagt, kein Privileg des Menschen: das Universum, der Kosmos, besteht aus Ritornellen. In der Musik geht es um ein Deterritorialisierungsvermögen, das die Natur, die Tiere, die Elemente und Wüsten ebenso durchdringt wie den Menschen. Die Frage ist eher, was am Menschen nicht musikalisch ist und was es in der Natur bereits ist. 29
Mit dieser Eröffnung der kosmischen Dimension verbinden Deleuze und Guattari ihre Überlegungen zur musikalischen Form des Ritornells. Mit dem Ritornell lassen sich drei methodische Schritte verbinden: 1. der Sprung aus dem Chaos in die Ordnung; 2. die Territorialisierung der Ordnung mittels »Klangmauern« (wozu auch die Anleitung zur »Herstellung eines Golem« passt: Dafür »zieht man einen Kreis, oder besser, man geht wie beim Ringelreihen der Kinder im Kreis herum, man kombiniert rhythmisierte Konsonanten und Vokale, die sowohl den inneren Kräften der Schöpfung wie den unterschiedlichen Teil eines Organismus entsprechen.«30); und schließlich 3. die Öffnung des Kreises, »um sich mit den Kräften der Zukunft, mit kosmischen Kräften zu vereinen.«31 Das Ritornell enthalte diese »drei Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so.«32 Hier ist durchaus die technische Seite dieser experimentellen Dynamik hervorstechend, da sie die Semantik des Kosmos eben nicht mystifiziert, sondern auf ihre Verlockungen methodisch antwortet. Im musikalischen Spiel mit Tönen und Sprache – und sei dies schon an Stromkreise angeschlossen – orientiert sich 28 | Ebd., S. 421. 29 | Ebd. 30 | Ebd., S. 424. 31 | Ebd., S. 425. 32 | Ebd.
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der Mensch, indem er über sich hinausgeht. Das beste Substitut der Droge läuft über eine Musikalisierung des kosmopharmakon – etwa als elektromusikalisches UNIVRS33. Den Ordogedanken mythologisch und kybernetisch zu begreifen und daraus einen Kosmos abzuleiten – diesen Versprechen und Verfahren setzen Deleuze und Guattari ein musikalisches kosmopharmakon entgegen oder doch an die Seite: ein pharmakon, das zudem zoopharmazeutisch dann wird, wenn es den Ordogedanken hinter sich lässt, wie die elektronische Musik besonders gut zeigen kann, da sie sich in ihren Klangwelten (gleichsam) zu der Natur zurückwendet, auch indem sie herkömmliche Gattungs- und Formgesetze zu überschreiten scheint. Die zoo-elektronische Kosmosonorität eröffnet Zugänge zu Klangräumen, die zweifellos fruchtbare Stätten auch einer künftigen Literarizität sein können. Und wären das die Signale einer Revolution? Müsste dann nicht auch der Wahnsinn der Materie therapierbar sein?
H orrorpharma zie Wenn es noch einer Demontage der konstellierenden Versprechen der kosmopharmaka bedürfte, dann finden wir sie in der essayistischen Prosa von Nick Land. Sein kosmopharmakon setzt sich zusammen aus vergifteten Dystopien. Gibsons Neuromancer steht ebenso wie Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus Pate bei der Kreation einer hyperviral und hypermedial verseuchten Cybergothic-Welt, in der das humanum längst deformiert und parasitiert ist – und das kosmopharmakon folglich nichts anderes mehr als einen absoluten Horrortrip erzeugt. Aus Differentialität und Komplexität, wie wir sie noch mit Deleuze als Teile eines pharmazeutischen Gegenprogramms zu den narko-narzisstischen Betäubungsmitteln der Programmindustrien postulieren wollten, destilliert Land ein apokalyptisches Ensemble von Giften. In seinem Text No Future heißt es: Komplexität ist kein Problem, sondern ein Schlamassel, Giftmüll, Genremix. Anders als die folgsame Kreatur, nach der die moderne Wissenschaft verlangt, zuckt und spuckt die niedere Materie, selbstassemblierende neoparasitäre Schwärme. Sie verbeißt sich, verbreitet Krankheiten. Turbulentes Dröhnen digital unaufgelöster recyclones. Teleshoppingseuchen pulsieren durch cybergothic Schaltanlagen. Gesichtsloser Horror. 34
Wir sind also angekommen im naturalisierten Cyberspace, in dem intelligente und programmierte Lebewesen ein unfassbares Gouvernement bilden, das keine humanen Gesetzestexte mehr spiegeln können. Materie, Technik und Kybernetik entlassen Signaturen, deren Magie nur noch in Horrorszenarien vermittelt werden kann: Warum die Helikopter, die künstlichen Körperteile, die manisch entmenschlichte Maschinenmusik? Es gibt da ziemlich verstörendes Material über die Kybernetik des Erbrechens.
33 | Alva Noto: UNIVRS. Berlin 2011. 34 | Land, No Future, S. 209.
V. Kosmopharmaka Obsessive Wiederholungen. Der Text wird vom mutagenen Fall-Out eines virtuellen Thermokataklysmus zersetzt. 35
Die virtuellen Naturkatastrophen emanieren bzw. verkörpern die kosmopharmaka als Vomitive, die aber keine Entgiftungen mehr nach sich ziehen. Land generiert nurmehr noch Erregungszustände einer entbundenen Matrix, die das humanum angreift, indem sie es in nano- und kosmologischen Dimensionen völlig ent- und ausstellt. Nachdem du die gefrorenen Security-Codes aufgeschmolzen hast, kapierst du, dass das Universum die Spitze eines Eisbergs ist, die aus dem Chaos ragt und in dunkler Materie schwimmt. Jenseits des Sternenbrands können seltsame Dinge vorkommen, die in einem neuen Terrain aus indeterministischen, irreversiblen und auto-delinearisierenden Prozessen entstehen. Offene Systeme oder fragmentierte Individuen. […] Das Leben als Problem, das nach einer Lösung sucht, eine Variationsebene, der protobiotische Materie hinzugefügt wird, ein kontinuierliches Fallen, eine von Beginn an auto-eskalierende Krise der Überproduktion. 36
Die Lösung als Auflösung des Problems ist aber seinerseits nur noch (wie) ein kosmischer Trip. Die passenden Drogen werden produziert in einem globalisiert-kapitalistischen Vergiftungszusammenhang, der sich selbst nurmehr noch cyberkatastrophisch hervorbingt und permanent überfordert. »[K]apitalistischer Landnahmeprozess, Netzexplosion und digitale Revolution laufen parallel zu dem Aufstand, der aus der dunklen Seite des Gehirns aufsteigt.«37 Und so wie auch diese Revolution ihre homunculi entlassen wird, so steht es auch mit jenem Phantasma der Kontrolle nicht zum Besten, an welches sich bis heute die politischen und philosophischen Humandenker klammern: »Der dem Untergang geweihte Teil des intensiv virtualisierten techonomischen Apparats untergräbt die ausfransenden Reste anthropomorpher Steuerung. Kontrolle löst sich ins Unmögliche auf.«38 Die Maschinisierung hat längst die Naturgesetze umgeschrieben und transmutiert unaufhaltsam: »Das ZNS ist eingebrannt und pulsiert mit dem Cyberspace-Virus. Motorenleistung befeuert die Technotrance-Matrix.«39 Ob eine ordnende oder rekonstruierende Lektüre solcher Horrorchiffren überhaupt sinnvoll ist? Die Antwort liegt in dem Trick, zuletzt das Wort kosmopharmakon noch darüber zu stülpen – nicht um zu beherrschen, sondern im Gegenteil selbst das Ende noch der Explikation und Differenzierung einzuläuten. Denn um es noch einmal zu unterstreichen: Nicht zuletzt die zeitgenössischen und zukünftigen Technologien und Konsumgüter, wie etwa der Computer selbst, sind als kosmopharmazeutische Gestelle aufzufassen, die jede »theopolitische Aktion unter zunehmend dysfunktionalen defensiven Konvulsionen in maschinische Hybriditäten aufspalte[n].« Mit dem Resultat: »Azephalisierung=Schizophrenie: eine Zerstückelung des Kapitals durch makrobakterielles Bottom-up-Tele-Shopping, das die
35 | Ebd., S. 208. 36 | Ebd., S. 209f. 37 | Ebd., S. 211. 38 | Ebd., S. 212. 39 | Ebd., S. 213.
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Auflösung von Konzernen nach sich zieht.«40 So ist es. Keine Kritik, keine Analyse – nurmehr noch das unentscheidbare pharmakon selbst wird hier in einer vollkommen destabilisierten kosmologischen Konstellation ausgegeben. Nick Lands kosmopharmaka funktionieren tatsächlich als oder wie Drogen. Deleuzes Wunsch, Drogen zu substituieren, und sein Vorschlag, lieber über Drogen zu delirieren, als sie zu nehmen – hier scheint es am Ende der humanen Sprache eine ernst zu nehmende Annäherung zu geben. Obwohl bzw. gerade weil Nick Land seine Horrorpharmazie selbst fliehen muss (er hat sein akademisches Schreiben im Jahr 2007 eingestellt und soll nach Shanghai geflohen sein, um dort als Journalist zu arbeiten), sollten seine unter dem Titel Fanged Noumena 41 gesammelten Schriften zu den avanciertesten und wirksamsten pharmaka (als Schriften) zählen, die das schon von Derrida prophezeite Überleben der Schrift als Programm und pharmakon im posthumanen Zeitalter (be)zeugen. Gerade da übrigens, wo Land in eine nanopartikuläre Textproduktion gerät, indem er etwa eine hypervirale Textcodierung vornimmt (züchtet), schließt er an das Projekt der delirösen Drogensubstitution qua poetopharmakon an, wie es Deleuze schon vorbildlich in Burroughs’ Cut-up-Verfahren realisiert sah: Land zeigt dies etwa in dem Text Hypervirus. Bereits auf der von binären 1-0-Codes übersäten ersten Seite heißt es im Original: »Having no proper substance, or sense beyond its re re re replication, yes no no usage of virus is ever metaphorical. The word ›virus‹ is more re re virus.«42 Schon dieser kleine semiotische Immunkonflikt beschreibt den horror autotoxicus der dehumanisierenden Sprache, welcher das Schauspiel der Schrift dramatisiert, das man übrigens an jenen letzten Akt in Derridas Platons Pharmazie anschließen kann, jene Szene, in der Platon als Schrift-Pharmazeut nurmehr noch die unheimlichen Schläge gegen die Tür hört. Jetzt weiß man, wer klopft: ein Heer von Hyperviren. Nicht nur, dass Land weitere Codierungen vornimmt, die sich bereits der konventionell geschulten humanen Leserschaft entziehen, wäre noch zu verzeichnen, sondern auch dass er in größerem Stil Anbauten an Derridas Pharmazie vorzunehmen scheint – und zwar im Stil einer (im übrigen bereits dem Derridaschen »Anarchiv« verschriebenen) Cyberspace Anarchitecture as Jungle War43, so der Titel eines weiteren Landschen noumenon als poetopharmakon. Das kosmopharmakon wird, so wäre zu resümieren, in Lands Lesart zu einer hochgiftigen Mixtur, in der zwar die kosmischen Konstellationen erhalten bleiben, aber kein humanes Wesen mehr, das diese Konstellationen nachzeichnen könnte. Die Ironie, die diesen Vorgang dynamisiert, findet ihr telos im Wahnsinn der Materie.
K osmopharma zotik Den double-bind und die Ironie fortzusetzen, kann nur deshalb gelingen, weil auch die Zukunftslosigkeit, die Land uns nahelegt, kein Ende des kosmopharmazeuti40 | Ebd., S. 212. 41 | Nick Land: Fanged Noumena. Collected Writings 1987-2007. Windsor Quarry, New York 2011. 42 | Ebd., S. 383. 43 | Ebd., S. 401.
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schen Deliriums erzwingt. Deshalb soll – und sei es aus Trotz – ein früherer, hier vorläufig letzter Poetopharmazeut aufgerufen werden, wenn auch nur in telegrammatischer Manier: Arno Schmidt. Seine Texte bestätigen oft genug den beschriebenen posthumanen Horror. Auch bei ihm, der übrigens wie einige der genannten Dichter Kenner von H.P. Lovecraft ist, finden wir befremdliche Kreaturen aller Art sowie sprachliche Vorgänge, die sich dem kulturellen Gedächtnis einschreiben, indem sie es in oft mikrospektakulärer Manier kontaminieren. Auch Schmidt ruft zuletzt in poetologischer Hinsicht die Parasiten, die Viren und Bakterien auf den Plan, um seiner Zeit voraus zu eilen. Auf letzteres legte es Arno Schmidt indes auf vielerlei Arten an, etwa schon dadurch, dass er die Handlung seines Spätwerks Die Schule der Atheisten in das Jahr 2014 gelegt hat, jenes Jahr, in dem er 100 Jahre alt geworden wäre. Im Text selbst verdichtet sich die ironische Chiffrierung des zunächst ja gut zu solchen ›runden‹ Datierungen passenden kosmopharmakon nicht zuletzt in einer Figur: Cosmo Schweighäuser nämlich, der am Ende des Prosawerkes als Nachtwächter die großen Offenbarungen verschweigen wird, stattdessen ein paar Lichter anzünden oder aufstecken in der Dämmerung der enthausten Menschheit. Seinerseits schon mutiertes Produkt einer radioaktiv verseuchten Welt, die sich in zwei Machtbereiche aufteilt (einen amerikanischen und einen chinesischen) – ist dieser Cosmo als Untergebener einer monströsen Herrscherin, der entschleierten Isis von USA, allererst, wie es schon der Titel Schule der Atheisten nahelegt, dazu da, Teil einer Profanierung aller möglichen All-Heilmittel (des religiösen Glaubens) zu sein. Dies also als Nachtwächter unter den letzten Menschen in der norddeutschen Provinz (nicht so weit entfernt übrigens von jenem Ort, an welchem Huxleys Wilder sein Leben aushaucht): eine ko(s)mische Lichtgestalt. Groß von Wuchs, auch mit einem riesigen Namen ausgestattet, ist Cosmo gleichwohl eine Randfigur (freilich nicht so randständig und erst recht nicht so winzig wie die »Sprachdeute«44 Seng Wu, auf deren gespenstische Schultern insgeheim ein paar Zukunftshoffnungen zu legen wären)45. Am Rande leuchtet also der seltsame Cosmo und deutet daraufhin, dass die ganze Sache mit dem Kosmos nur komische Kosmetik sein könnte. Und doch geht es um mehr: Cosmopharmazotik könnte man im Scherz sagen. Dies empfiehlt die »pharmazotich[e]«46 Reflexion des Protagonisten Kolderup, der folgenden göttlichen Rat wiedergibt: »Nimm doch noch ne Spica: iss gut gegn Galaxien!« 47 Spica ist die Kornehre, der hellste Stern im Sternbild der Jungfrau. Dabei geht es freilich weniger um Korn und Stern, denn um die Jungfrau. Grundständig weist die Schmidtsche Pharmazote auf die Essentialität des Humors (wie er schon im Kometenwein Jean Pauls zu finden war). Der Humor ist gerade, insofern er zotig ist, dazu angetan, Distanz zum Chaos der modernen Welt herzustellen, aber auch um zu sublimieren: sexuell annotierte Anzüglichkeiten und Derbheiten vom Stapel zu lassen. So wird Arno Schmidts berüchtigte Nympholep44 | Arno Schmidt: Die Schule der Atheisten. Novellen=Comödie in 6 Aufzügen. Bargfeld 1994. S. 144. 45 | Dies gilt auch für die etwas prominentere, gleichwohl nicht gerade jedem sichtbare Julia aus Schmidts Julia, oder die Gemälde. Diese gespenstischen Nymphen muss man sich im Verbund mit der Pharmakeia vorstellen und zur Unzeit beschwören. 46 | Ebd., S. 140. 47 | Ebd.
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sie in der Schule vor allem befördert durch eine aphrodisierende Pharmazotik, die der auch immer wieder als APO bezeichnete Apotheker Dümpfelleu beizubringen hat. In ihm hätten wir vielleicht einen jener revolutionären Drogisten, wie sie Deleuze gesucht hat, um Drogen poetisch zu substituieren. In seiner Apotheke findet man etwa: »FLORES CHAMOMILLAE VULG. CONC. ET GR. M. PULV. ANTUM SATURNINUM HERBA CENTAURI MINORIS FRUCTUS ANISI STELLATI OLEUM CAJEPUTI RECTIFICATUM.«48 Diese »wahnwitzije[n] Auf-Schriftn«49 deuten schon an, in welchen Gebieten dieser Apotheker besonders bewandert ist: nämlich in phantastischen phytopharmaka, die vor allem für diverse Leiden den Unterleibs verschrieben werden, das heißt vor allem Sexualität und Verdauung betreffen. Und es werden ja auch in dem ganzen Prosawerk bevorzugt Vorgänge in diesen Bereichen diskutiert und geschildert. Der Apotheker verbindet mit seiner zumeist paracelsischen, phantastisch-alternativen Arzneikunde aber auch ein Medienangebot. So bietet er nicht nur das eine oder andere »Arcanum« feil, sondern auch »[p]olaroide Nacktheitn«.50 Daneben Kräuter in allen möglichen Darreichungsformen – wie etwa auch seine mythopoetisch erzeugte »›JASON’=Salbe; (mit andern Wortn: Dérjenijn nachgebildet, die Medea einst Ihrem Liebstn zusteckte, um Ihn zu jener bekanntn PflügeProbe zu befähijn: da ward Er, am ganzen Leibe, wie=Horn!; (gleichzeitich gut gegen den Biß liebestoller Mädchin)).«51 Dümpfelleu, der auch Dichter, Journalist und germanistisch aufgeschlossener Archivar der eigenen Zunft ist 52, gehört zwar zu den Figuren der zweiten Reihe in diesem Prosawerk, es verdichten sich indes in dieser liebestollen und pharmaziekundlichen Gestalt Tendenzen des Schmidtschen Schreibens, die es über die Grenzen des Gutenbergzeitalters hinauskatapultieren. Denn auch Schmidt hat diese Zeit kommen sehen und die Schriftsprache als lebendig wimmelndes, in- und disseminatives Mit-Gift-gift vermacht. Zur Beglaubigung dieser These springen wir aus der Schule hinaus, hin zu jenen Etyms, wie sie in Zettel’s Traum auftreten – und zwar als Antagonisten der DP: »DP«?: »Ich nenn bei mir die ›Seher‹ so, weeßDe; die Orffeuse; die Bäcker, die ihre eigenen Brötchen anbeten : die Dichter, die sich einbilden, vom Priester herzukommen: D(ichter)=P(riester). Darfst auch an ›DePe‹ denken; oder ›Displaced Persons‹: ›Deplacierte Persönlichkeiten‹. Eine gut umschriebene literarische Einheit; die De daran erkennst, daß se erstaunlich viel vom ›Mythos‹ halten, & mit dem ›Zweiten Gesicht‹ kokettieren.« 53
Gegen die Mythologien und Kosmologien dieser Dichter-Kaste kommen schließlich die ganz und gar unfügsamen Etyms zum Einsatz, von denen jene DP’s »nach Hexenslust geprellt & beschabernackt«54 werden. Und das vermögen diese Etyms, weil sie zwar ähnlich wie Freuds Unbewusstes situiert, aber sprachlich ganz anders 48 | Ebd., S. 112. 49 | Ebd. 50 | Ebd., S. 113. 51 | Ebd. 52 | So finden sich bei ihm entsprechende Literaturhinweise wie etwa: »›DAS CHARAKTERBILD DES APOTHEKERS IN DER LITERATUR‹. Berlin, 1898; iv + 285 Ss., 8°. Von H. MAUBACH; (Apotheker in Lüdenscheid).« 53 | Arno Schmidt: Zettel’s Traum. Bd. 1. Bargfeld 2010, S. 22. 54 | Ebd., S. 31.
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codiert, ja substantialisiert sind, hat man doch etwa bereits über eine KlopstockLektüre »Assoziations=Belege« finden können: und zwar »für die Begattungslustigkeit, ja, letzten Endes für die Möglichkeit der gewerbsmäßigen Züchtung von Etyms!«55 Jeder Text sei mithin »doppelsinnig=gestaucht, bawdy=verrenkt, zu lesen«. Und im Dialog wird spezifiziert: »Du unterscheidest : zwischen ›Wirtswort‹; und, subjektiv=bedingten ›Etym=Parasiten‹? Sodaß also Diejenigen, Die=Du vorhin DP’s gescholten haßD, eigentlich – weil unkritisch – besonders anfällig sein müßten –?«56 Und: »Demnach wären Deine Etyms aber – : gar keine sonderlichen Freunde der Mädchen. Mehr wie massiert angreifende Bakterien=Heere?«57 Und ja, so ließe sich grundständig weiter definieren: »Die ETYMS, denen wir uns nunmehr nähern, täten wir vermutlich érsteinmal gut : als symbiotisch halb=selbständige Fremdwesen zu betrachten. Franziska hat, mit ihrem Wort von den ›Bakterien‹ genau das epidemische, das welthaushaltlich=unheimliche getroffen.«58 Damit aber hätten wir eine Szene, in welcher das Etym als bakterielles Kleinstlebewesen das Laboratorium der Poetopharmazie bestückt. Und es wäre noch zu klären, ob mit diesem unberechenbaren Protagonisten ein entwicklungsfähiges Element für eine intermediale Transformation gefunden ist. Dass jedenfalls auch hier von einem »verdammten Zauber«59 die Rede ist, passt bei aller Ironie wie schon bei den Alchemisten und ihren romantischen und modernen Nachfahren in Schmidts grundsätzliche Bestätigung einer medial reflektierten Magie als Geheimlehre seiner Dichtung. Die hier nur angedeutete Etymtheorie wäre nicht nur in der intendierten Abgrenzung zu Freuds Psychoanalyse zu diskutieren, sondern auch zur Pharmakoanalyse nach Deleuze und Guattari, die ihrerseits Antworten finden müsste auf ein parasitäres Gewimmel, das das Ende der humanen Kontrolle über die Grammatik und schließlich die eigene Spezies ankündigt. Vielleicht geht es aber gar nicht mehr (nur) um Analysen, sondern um die Weiterentwicklung und Dynamisierung der Schmidtschen Pharmazotik, deren nicht unwichtigstes Pendant schließlich auch die Derridasche Polerotik sein dürfte. Und das kosmopharmakon? Verlohnt es denn noch, es zum und im Munde zu führen? Nach Arno Schmidts (h)ausgemachter Hermetik bestimmt. An anderer Stelle bietet er etwa folgendes an: »(geheimnisvoll=abschließend): Herder?: Ein Riesengestirn; die planetengroßen Ebenen seiner Kontinente dicht besetzt mit Kräutern, gesellig schwebenden Halbgräsern, abgerundeten Haiderasen, unter einer brennenden Sonne, oder gegossenen Gewitterwolken: Gewürz geht um, über allen grauen Nicht=Hainen.«60 Und so endet alles im Zwielicht.
55 | Ebd., S. 30. 56 | Ebd. 57 | Ebd., S. 30f. 58 | Ebd., S. 31. 59 | Ebd. 60 | Arno Schmidt: Herder/oder Vom Primzahlmenschen. In ders.: Belphegor. Karlsruhe 1961, S. 58-114, hier S. 113.
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W.W.+W.W.+W.W. Wie, wenn wir nurmehr noch das Derridasche Totengeläut hören? Fort sind jene, die glaubten, dass die Blume bedeute, symbolisiere, metaphorisiere, metonymisiere, dass man dabei sei, die Signifikanten und die antiken Figuren in einem Register zu erfassen, die Blumen der Rhetorik zu klassifizieren, sie zu kombinieren, zu ordnen, sie um den phallischen Bogen/die phallische Arche herum (arcus, arca, άϱχή, es ist nicht wichtig, wenn man sich verfängt) zu einer Garbe oder einem Strauß zu binden.61
Und was soll da noch zu tun sein? Neuerlich in den Garten gehen, Pflanzen ziehen und ernten? Phytopharmaka entwickeln? Schmidts Phallogamen mit Derridas Kryptogamen kreuzen? Insektoiden Robotern hinterherschauen? Oder doch nur ein paar pansonoren Klängen lauschen? Grashalme zupfen? Oder eine Signatur vergraben: einen Poetopharmacode? Etwa: W.W.+W.W.+W.W.62
61 | Derrida, Glas, S. 48. 62 | Dies setzt sich zunächst zusammen aus den Initialen von Walt Whitman und Walter White, die den poetopharmazeutischen Geheimcode in der großen Drogen-Serie Breaking Bad (von Vince Gilligan, 2008-2013) markieren. An diesem Code lässt sich eine Giftspur ablesen, welche von dem Gedicht Whitmans When I heard the learned Astronomer bis zu Whites Tod reicht. Statt einer Rekonstruktion der entsprechenden Dramaturgie reicht schon die Verortung dieser Codierung: ein unterirdisches Drogenlabor, in welchem Gale Boetticher, Whites zeitweiliger Assistent, aus guten Gründen von der wahren Magie der Chemie, wie sie hier zur Anwendung kommt, schwärmt und dies mit Hilfe von Whitmans ebenfalls begründeter Poesie beglaubigt. Die Deklamation eines zu den Sternen aufschauenden Gedichts aus jenen Leaves of Grass wird der Ausgangspunkt für eine poetische Rache sein, die zuletzt auch über die kristallinen Strukturen des Crystal Meth kommt. Es wäre zu folgern: Das bessere pharmakon ist das poetopharmakon. Das bleibt das Gesetz nicht nur des Kleingedruckten. Und das dritte W.W.? Das steht für den WürfelWurf. Zur Sicherheit.
VI. Die Poetopharmazie im Internet »Fort sind also, ausnahmslos und als solche, die Archäologen, die Philosophen, die Hermeneuten, die Semiotiker, die Semantiker, die Psychoanalytiker, die Rhetoriker, die Poetologen, vielleicht sogar alle Leser, die noch glauben, an die Literatur oder woran auch immer.« Jacques Derrida: Glas
Die Poetopharmazie ist ein Ort, der der Forschung und Entwicklung ebenso verpflichtet ist wie dem Experiment und dem Spiel. Um entsprechende Spielräume zu eröffnen, müssen die architektonische Anlage sowie die technische Ausrüstung der Pharmazie permanent weiterentwickelt werden. Inspiriert von all den Laboratorien und Apotheken der literarischen Tradition, besonders von der Derridaschen Pharmazie (als Theater und Anarchiv) und der Landschen Cyberspace Anarchitecture, will die virtuelle Poetopharmazie bereits ihre Instituierung als experimentellen Gestus aufgefasst wissen. Um die Versuche jener Tradition fortführen und vorantreiben zu können, muss die Institution selbst zum sichtbaren Teil einer teils bedrohlichen, teils befreienden Entwicklung werden, wie sie das Internet und die anderen neuen Medien längst in Gang gesetzt haben. Mitentwickeln heißt auch Miterzählen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Poetopharmazie eine narrative Institution, die die Lebendigkeit und Wirksamkeit ihrer Statuten abzuleiten weiß aus deren Geschichte(n). Damit zählt die Poetopharmazie auch zu jenen Agambenschen »Zone[n] der Unentscheidbarkeit«, in denen »die Geste des Lesens und die des Schreibens ihr Verhältnis umkehren«.1 Das Internet ist ein programmatischer und programmierter Ort, in welchem das letzte Wort über die Vektoren der Programmierung nicht gesprochen ist und sein sollte. Was dort codiert, geschrieben, gelesen, gehört und betrachtet wird, muss nicht nur beschrieben und analysiert, sondern auch beantwortet, korrigiert und kultiviert werden. Die Poetopharmazie ist mithin keineswegs eingerichtet worden, um den neuen Entwicklungen der digitalen Kultur blindlings hinterherzulaufen. Ihre Transformationen brauchen die Zeit, die die Tradition des Gutenbergzeitalters freigiebig einräumt, auch und gerade da es sein Ende zu akzeptieren beginnt. Jedes Erbe, so wissen wir inzwischen, ist ein Gift-gift. Die
1 | Agamben, Signatura rerum, S. 69.
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Poetopharmazie verschreibt sich diesem double-bind des pharmakon, indem sie sich unaufhörlich und wandelbar einschreibt.
A lte A potheke Und selbst im Internet gibt es schon Geschichte: In dem ersten Rohbau der Poetopharmazie, wie er sich auf der Website dekonstrukte.de2 darstellt, habe ich in den Jahren 2010 und 2011 unter anderem die unten stehenden, vorläufigen Plakatierungen der Paradigmenbildung vorgenommen, deren (An-)Archivierung hier ihren Platz hat. Es ist dies eine versuchende Geste der Konservierung, infiziert von der munteren Stimmung des Auf bruchs, die in jenen essayistisch-fragmentarischen Pharmacetten anwesend ist.
A narchivierte P harmace tten Die intermediale Poetopharmazie ist eine Institution, in der flottierende Elemente der Theorie und der Literatur gebunden, geprüft und transformiert werden. Diese Elemente sind traditionell stillgestellt worden zwischen Begriffen wie »Ästhetik«, »Ethik«, »Politik«, »Existenz«, »Leben«, »Natur« und »Medium«. Sei es die dorthin gehörende poetische Figur oder der philosophische Begriff – sie auf ihre Substanz wie Wirksamkeit zu untersuchen, ist die erste (klassische) Aufgabe. Die zweite (neue) Aufgabe besteht in ihrer Transformation zum Zwecke der Neuausrichtung, Belebung und Intensivierung ihrer Wirkungen – und zwar unter de facto unabsehbaren multimedialen Bedingungen. (Das impliziert übrigens gewisse Barbarismen.)3 Billet: Niemand sagt, es gäbe zur Pharmazie einen Schlüssel, den man nur finden müsse, um sie dann aufzuschließen und gleich in die vollen Regale zu greifen. Nein, so etwas gibt es nicht. Die Pharmazie will gebaut werden. Und heute können wir nicht einfach den Bauplan (und nicht hier!) auf den Tisch legen und sagen: Na dann geht es eben so. Heute bemühen wir uns mit diesem Billet (als Memorandum) um eine Einladung, die ergeht an jene kryptierten, alchemiekundigen Zwerge, von denen schon Heinrich Heine berichtet, sie seien verschwunden, weil die Menschen sie so fürchterlich betrogen und beleidigt hätten. Pharmakonfession: Die Signatur des poetopharmakon als dessen intelligibles und dynamisches Wesen kennt nicht nur Stein, Sand, Wachs und Papier, sondern auch und mindestens eine Hand, wenn nicht gar eine Stimme. Dass es keine Wirkung ohne Konfession gibt, will heißen, dass jede Ursache bereits konfessionell (beschreibbar) ist – auch das fällt in den Bereich »freudiger Esoterik« (Agamben), die noch gilt, gerade da sie profaniert ist. Dass sie sich am deutlichsten dort artikuliert, 2 | Das Wirtsdispositiv dekonstrukte.de existiert seit 2008 und hat einen ersten Call for Pharmacy 2011 unternommen. 3 | Ein solcher Barbarismus besteht schon darin, dass die in den folgenden Absätzen ausbleibenden Einzelnachweise die digitalen Attacken auf die humane Urheberschaft nachäffen.
VI. Die Poetopharmazie im Internet
wo sie schweigt, schreibt sie in die Tradition ein, die mithin radikal, also den radices verschrieben, ist – und immer bestens vernehmbar. Drogen: »Die Alchemisten wollen das schlechthin Unmögliche und sie wissen, daß das, was sie wollen, logisch und real ausgeschlossen ist. Darum liegen Erhöhung und Absturz, Ekstase und Depression wie in keiner Geistesströmung – außer der Mystik – so nahe zusammen wie in der Alchemie.« (Hartmut Böhme in einem Aufsatz über hermetische Ikonologien) Umgekehrt wird womöglich auch ein Schuh daraus: Der Melancholiker wird nolens volens zum Alchemisten, da er die utopoi seiner Lektüren in pharmaka transformiert und schließlich konsumiert. Mehr oder weniger drogenabhängig sind die Schriftinterstellaren, die in der Welt nicht leben und im Text nicht sterben können. Ins Astropolitische gewendet: Das einstige Wieoben-so-unten ist endgültig degradiert zum Wie-nirgends-so-überall. Fairschreibungspflicht: Die Poesie des Rezepts zielt auf die letzte Wirkung, die sich am Ende der Geschichte (an dem nach Agamben Poesie, Philosophie und Religion als Wirkungsmächte ausgedient haben) versprechen lässt. Das poetische Rezept sowie seine Rezeption erhöhen die Fähigkeit des Aufmerkens. (Wenn das nicht geschieht, muss es behauptet werden.) Es gibt mithin eine Ethik und Politik der Verschreibung. Jemandem die Poesie zu verschreiben und ihm damit zu verordnen, sich der Schrift zu verschreiben, ist eine so kraftvolle wie hilflose Geste. Denn das Verschreiben, das sich immer auch im Sinne der Verfehlung verschreiben kann, kann keine Garantie für das definitive Eintreten einer bestimmten Wirkung oder eines Ereignisses übernehmen. Damit ist und bleibt aber die Verschreibung immer eine Fairschreibung insofern, als sie dem Ereignis, das per definitionem nicht programmierbar ist und sein darf, den gebührenden Respekt zollt. Die Verschreibung macht also niemandem etwas vor, sie ist das Ereignis selbst. Es gibt zu ihr keine Alternative, will man überhaupt (sich) (ver)schreiben. Trockenlieben: Es ist Barthes’ Einschätzung zu bestätigen, dass die Literatur im Sterben liegt. Die literarischen Werke sind bereits veraltete Schriften, welkende Blätter. Nun wissen wir aber, dass nicht selten eben das Austrocknen der Pflanzen Voraussetzung für ihren Einsatz als Arznei bildet. Und wenn man dies nicht als Augentrost auffassen will, dann soll man sich nicht scheuen, (auf) zu begehren: Gerade weil die Literatur verkümmert, ist sie begehrenswert. Es entbrennt zu ihr eine »erschütternde Liebe, so wie man liebt und in die Arme nimmt, was sterben wird.« In dem von Barthes so bezeichneten »ergänzungsbedürftigen Dossier« zum Veralten wäre überdies zu diskutieren, in welchem Verhältnis das Altern zur Heilung steht. Einerseits ist das Alter anfällig für die Krankheit, andererseits ist es Kraft seiner potentiellen Erfahrung prädestiniert, über ein gewachsenes Heilwissen und die entsprechenden Erfahrungen zu verfügen. Das Veraltete ist immer das Alte und wird abgewertet von denen, die das bzw. ihr Neues über alles Alte per definitionem stellen. Und dann kann es doch wieder sehr leicht geschehen, dass gerade die Rückbesinnung auf das (scheinbar) Veraltete zum neuesten Schrei reizt: Hildegard von Bingen reloaded. Allegorie als Sedativum: Nach Deleuze ist das Symbol ein »Prozess von Handeln und Entscheiden«, die Allegorie hingegen sei nicht aktiv, sondern präge ein Den-
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ken, »das unaufhörlich aufschiebt. Es hat die Entschlusskraft durch die Urteilskraft ersetzt.« Man nehme hinzu die Allegorien des Lesens von Paul de Man, in welchen deutlich wird, dass die Texte sich selbst dekonstruieren und zu aporetischen Orten werden, an denen (vor allem über eine Hierarchie von Bedeutungen) nicht mehr entschieden wird und es tatsächlich nicht mehr entschieden weitergeht. Also fließt die Kraft des Urteilenden vor allem in ein nachdenkliches Zögern. In jedem Fall haben Allegorien sedierende Wirkungen. Sie beruhigen, insofern sie (gerade über ihre temporalen Elemente) die Kontemplation (Denken, Anschauen) befördern. Regelrecht narkotisch und also lähmend und betäubend können sie kaum wirken, da es ihnen an anästhetischer Schlagkraft fehlt. Gewiss, insofern die Allegorie als Trope der Melancholie (Benjamin) gehandelt wird, mag sie, langfristig genommen, einschläfernd und gar mortifizierend wirken. Aber dafür müssen Art und Dauer der Dosierung extrem hoch und lang eingestellt werden. Alles in allem gehören Allegorien eindeutig zu den gut verträglichen Beruhigungsmitteln. (Allegorisches Exempel: Im Gespräch mit dem Zitterrochen S. dezentriert P. die Pharmakeia, um sie zuletzt den entscheidenden Schlag (coup) ausführen zu sehen.) Lösen, Binden: Das Deklarieren bestimmter theoretischer Sätze, wie etwa eines Satzes von Gilles Deleuze über die Vorzüge des Stotterns, hat zugleich bindenden und lösenden Charakter. Allein das implizierte Versprechen der Wahrheit bei gleichzeitiger Lösung von jeder konventionellen Losung, nach der der »richtige« Weg zur Wahrheit vorgegeben wird, bindet und befreit. Die hierbei frei werdenden, gleichwohl Form annehmenden Energien haben die Tendenz, knapp und zerstreut zu sein. Und dies ist nicht (mehr) zu beklagen. (Zumal schon Barthes mit seiner Lust am Text zeigt, dass diese Lust sich sehr wohl fragmentarisch äußern kann.) Der disseminierende flow der Zeichen und Formate im Rahmen der Neuen Medien zeitigt mehr als nur eine Auslöschung der Statuten und Institutionen des klassischen Gedächtnisses; er lässt auch eine Kombinationskunst neu entstehen, wie wir sie aus der Renaissance kennen. Wir betreten mithin ein Zeitalter, in dem die Magie in Verbindung mit einer unabsehbar anschwellenden Medialität neue Bedeutungen und Facetten annimmt, womit im übrigen auch der Blick auf die Natur frei wird. Medien und Natur bilden korrespondierende Konstanten und zugleich Grundlagen einer künftigen Heuristik. Potenzmittel: Da wir im Begriff sind, die Serienproduktion unserer poetopharmaka anzuleiern, um damit Rausch und Heilung unter die Menschen zu bringen (endgültig), bekennen wir uns auch zu den strengen Gesetzen der Anökonomie, und da vor allem zu dem Grundsatz: alles liefern, nichts erwarten. Wir schieben in unserem strategischen Denken die Konsequenzen konsequent hinaus, denn wir sind von der Teleologie als Prinzip zutiefst gelangweilt, nicht aber vom Glück(en). Das Ganze bedeutet auch, dass die Gegenüberstellung von konventioneller Wirtschaft und Wissenschaft (heute) wirklich überholt ist: Die Wissenschaft unterscheidet sich von der Wirtschaft nur graduell bezogen auf ihre (bedarfsorientierte) Produktivität. Die Wissenschaft ist ineffizienter als die Wirtschaft. Eine andere wesentliche Qualität kommt ihr nicht zu. Gerade deshalb lieben wir die »absolut hilflose« (T. Bernhard) Wissenschaft (zumal des verstorbenen Geistes bzw. lebendigen Gespenstes), und das heißt, dass ihre Schwäche eine wenn auch aus Unvermögen entstandene Tendenz zur Anökonomie aufweist. Wir nun transformieren diese
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Passivität in schiere Potenz, die ja nicht nur bei Agamben als Signatur des alten Studiums, sondern auch in der alten Homöopathie als Teil des Mittels auftaucht. Die poetopharmaka sind mithin Potenzmittel, die als Ver-Aus-Gaben Rausch und Heil erzeugen – wie gesagt: endgültig. Wahrheitsserum: Bringen wir endlich Bewegung in die Pharmazie. Es wird nun ersichtlich, dass einige der hier produzierten pharmaka Wahrheitsseren sind, deren Formel das Ereignis einer Begegnung zweier nur scheinbar heterogener Begriffe, Worte oder Wesen ist: Die Pharmakeia Derridas trifft auf die Parrhesia Foucaults. Endlich versöhnen sich die beiden, mehr noch, sie versprechen sich und einander. Das bedeutet, dass das Wahrsprechen an seinen Quellen Heilmittel und Gift zugleich wähnt und ist. Und auch: Wahrhaftige Wirkungen birgt jede Quelle, jedes Zeichen und Medium. Wichtiger indes als die Spekulationen über Ursachen und Wirkungen ist die Vermählung von Pharmakeia und Parrhesia als Ereignis: eine dynamische Veranstaltung, auf der es allererst um eines geht: um Reize. Die Besucher dieser Hochzeit in der Pharmazie werden gereizt, weil sie erfahren, dass es noch Zeichen und Wahrheit gibt. Was da alles möglich ist: Sie begehren die Parrhesia, weil Pharmakeia es ihnen eingibt; sie begehren die Pharmakeia, weil Parrhesia ihnen winkt. Freude, aber auch Angst, Wut, Traurigkeit – wozu immer da noch gereizt wird: Eines bleibt gewiss, es ist dies eine veritable Hochzeit. Dumm also, wer nicht aufsteht, nicht wenigstens probiert. Antidot: »Die Profanierung ist das Gegendispositiv.«, schreibt Agamben. Die Dispositive, die Sprache etwa, die Schrift und das Internet, sollen qua Profanierung dem Gebrauch zurückgegeben werden. Es sollen solcherart Mittel für den alltäglichen »Nahkampf« mit den Dispositiven zur Verfügung gestellt werden. Wir denken da an den Zaubertrank, den schon Asterix, ein verdienstvoller Gallier, trefflich zu nutzen wusste. Dieser Zaubertrank wird als ein Antidot (wie Moly gegen Kirke von Hermes) bereitgestellt, um zum Beispiel die Dissemination zu stimulieren, welche in den Subjektivierungs- und Desubjektivierungsprozessen statt hat. Vorderhand zeigt sich diese Dissemination als ein behendes Hakenschlagen, um in den sakralisierten Dispositiven, vor allem auf deren Pinnwänden, nicht festgenagelt zu werden, toten Schmetterlingen gleich, die ins Netz gegangen sind. Für diesen Kampf um unser Überleben brauchen wir einige ausgesuchte und hochentwickelte Antidote – Gegen-Gaben, Putsch-Mittel. Wir wissen von Agamben auch, dass Zauberei darin besteht, den Dingen geheime Namen zu geben. Unser wirksamstes Antidot trägt eine scharlachrote Signatur. Mehr sei nicht verraten. Quintessenz: Da sich die Quintessenz, quinta essentia, bekanntlich aus der Zusammenführung insbesondere von Quecksilber (Mercurium) und Schwefel (Sulphur) herleitet, ist es keine Frage, dass einer der Archisignatoren dieses alchemistischen Erfolgsrezeptes besondere Beachtung verdient (auch weil ungewiss sein muss, welche Finger er bis heute in welchen Spielen und Stoffen hat): Hermes, dessen Signatur nicht einfach nur liquid ist, sondern vermutlich wesentlich disseminativ. Naturgemäß ist dies nur jenen, die ein besonderes Verhältnis zum Zeichen des Zwillings aufweisen, sofort eingängig. Das macht aber nicht viel (aus). Denn erstens sind alle Essenzen nach Deleuze sowieso nicht nur individuell, sondern auch individuierend – mithin der persönlichen Aufmerksamkeit und Bildung übereignet. Und zweitens
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zeigt sich am Ende dieses so speziellen wie elementaren poetischen wie auch alchemistischen Prozesses, dass die Quintessenz als doppelt notierter Stein der Weisen eine Transmutation bewirkt, die Glück und Verderben gleichermaßen nach sich ziehen kann. So gesehen, ist die quinta essentia (wie jede poetische Weisheit) der unmögliche Urstoff aller pharmaka. Der besondere Klick: Dass laut Agamben »die Signatur der Ort ist, an der die Geste des Lesens und die des Schreibens ihr Verhältnis umkehren und in eine Zone der Unentscheidbarkeit eintreten«, mag behilflich sein bei der These, dass bereits das Anklicken des Menüpunktes »Pharmazie« einem Ereignis gleichkommt, bei dem das Klicken zum besonderen Kick wird, weil der K(l)ickende nicht nur etwas ank(l) ickt, anstößt, aufmacht und einlässt, sondern zuletzt auch etwas einschreibt und einwirft, das sich als differentielle Spur (in ihm) dartut. Diesen K(l)ick nun in die Sprache der Erfahrung zu übersetzen, ist angesichts der Geschwindigkeit des Vorgangs nicht so einfach. Das Zucken des Zeigefingers und der Sprung des Blicks vom Punkt zum sich instantan auftuenden Feld gehen schnell vonstatten; und eine bemerkenswerte Verlangsamung tritt erst post festum in Kraft, und zwar in Form von längst beschriebenen (ästhetischen) Wahrnehmungen: Betrachten, Hören, Lesen. Der Klick ist ein beinahe unmerkliches Ereignis, eben eine Art des Zuckens. Sein Sprung von Punkt zu Fläche kennt keine Tiefe und entzieht sich so dem Gedächtnis. Der Klick findet (im Gegensatz etwa zu dem manchmal schicksalsschweren Aufschlagen des Buches) keinen Eingang in die Erzählung – und doch gibt es dieses Spurenelement: Als ich auf den Untermenüpunkt »Formeln« klickte, schon ein wenig müde geworden, verwirrt ob meiner Stultitia, stieß ich auf die Formulierung »Der besondere Klick« und erfuhr, dass ich nicht nur für den Moment, sondern für den Rest meines Lebens mit der Erkenntnis leben musste, dass das Irreparable die wichtigste Bedingung der Möglichkeit eines Weiterklickens sein würde, das sein Gelingen nicht mehr unter Beweis würde stellen müssen, stattdessen konjugiert sein würde mit einer Traumsequenz in Wilhelm Raabes Altershausen, deren die Welträtselsnuss betreffendes Credo in der aktualisierten Fassung bereits wirksam geworden sein sollte – als ein: ›Also heißt es Weiterklicken!‹.
N eue A potheke Die seit 2013 im Internet befindliche Poetopharmazie 4 ist ein weiterentwickelter Forschungsgenerator, der die drei Abteilungen Analysis, Poiesis und Praxis nicht nur zum Zweck der Ordnung des Diskurses eingerichtet hat, sondern auch zum Zweck einer so vitalen wie nachhaltigen Kombinatorik. Alle drei Abteilungen fordern einander heraus: Erkenntnisse und Analysen etwa zum Drogenkonsum fragen nach poetischen Konkurrenzprodukten (›bessere‹ Drogen oder Gegengifte). Das poetische Gegengift erfordert dann welche Performative, um einer Therapie oder Übungsreihe einverleibt werden zu können? Damit wäre die Praxis gefragt. Und so fort: Analysen zu Giften, Drogen, Heilmitteln, Medien, sowie zu psychischen wie sozialen Phänomenen wie Rausch, Sucht, Korruption, Narzissmus etc. verknüpfen sich mit dem Auftrag der poetischen Produktion und praktischen The4 | poetopharmazie.de (2013)
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rapie. Diese Trias, die ein breites Spektrum von pharmaka diskutiert, generiert und implementiert, steht da als heuristisches und kombinatorisches Mobile und erhält die Poetopharmazie auf die Dauer, weil es sie, so oder so, in Bewegung hält. Auch hier gibt es zunächst wieder eine Reihe von allegorischen Essenzen, die zwar für sich sehr klar und deutlich sprechen, aber gleichzeitig das ganze Projekt strategisch verschleiern. Im folgenden sollen nur wenige der neueren poetopharmaka zusammengetragen werden (auch weil die Leserin des vorliegenden Buches viele Zitate aus den vorangegangenen Versuchen kennen müsste). Es handelt sich dabei um essentielle Zitate, die, mit neologistischen Chiffren versehen, planvoll und zugleich aleatorisch eingeworfen werden – und zwar in eine kontrollierte Umgebung, deren Mechanismen der Verwertung und Verfügung immer schon unterbrochen werden sollten. Das ist Teil des Spiels. Nur weil man nicht schnell versteht und nicht rasch verfugen und vernetzen kann, was die poetopharmaka essentialisiert, überantwortet man sie nicht der Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit. Im Gegenteil. DERRIDOT: »Sie sollten aber vor allem nicht glauben, daß ich Ihnen hier, im Hinterzimmer von Jesu Pharmazie, die Geschichte eines gênet/Ginsters erzähle, dessen Färbung, dessen Pharmakon, mich vor allem interessiert. Und es ist wahr, daß ich nichts getan haben werde, falls es mir nicht gelungen sein sollte, Sie mit gênet/ Ginster zu affizieren, Sie einzufärben, zu bepinseln, zu verleimen, Sie sensibel zu machen, Sie zu verwandeln, jenseits all dessen, was sich hier, vom eigensten Affekt dieses Textes her, kombiniert.« (Jacques Derrida, Glas, S. 118.) A.S.PIRIN: >SUSE zum APO: […] » wozu soll das GrünZeug gut sein ?« APO (zählt erst rasch ein paar verdiente Apotheker her: in RAABE’s ›Zum Wilden Mann‹; SPITZWEG; ANTOINE AUGUSTIN PARMENTIER; PENZOLDT, ›Die Leute aus der MohrenApotheke‹; der ALTE DESSAUER habe 1 AppotékerrTochter geheiratet : ANNA LOUISE FÖSE; (und bei ›Herrn Punttila‹ sogar ein ›Apotherkerfräulein‹, Susi !): »Ch hatt gedacht : für’n KaddowwlSalat (oder=so). – (:man thue den Saft in ein leeres/hohles Ei [hier vom Original abweichende Schreibart, L.F.]. Gebe gleiche Theile Honich & Mentha acquatica hinzu. Die Wurz’l verkohlt, und mit dem Fett einer Schwarzn Sau gemischt, macht ein gewisses HaarKleidchen fester=dikker, (größere Wirkung, wenn das Auftragn id Sonne geschieht !). Vermittelst eines nicht=unsimplen KunstGriffes gegnüber den hüftähnlich=hohlen Blättern, dient es, mit Sinngrün (=Vinca minor) gemischt, zur Verminderung der Milch bey den Frauen. Widergelbsucht steckt man es id Nase. – (?): häufich um alte DenkMale, und auf fettn Hügeln –«; (hier lungert sein Blikk auf Susen=rum): » der ausgepreßte Saft erweitert das Loch … (?) : !!! – » (man vernimmt nur noch den (echohaft=verdoppltn ? der zweite iss jedenfalls schwächer !) Schall einer Maulschelle : ›!‹ –)< (Arno Schmidt, Die Schule der Atheisten, S. 131) CALVINUM: »Manchmal scheint mir, als ob eine Pestepidemie über die Menschheit gekommen wäre und sie gerade in ihrer charakteristischsten Fähigkeit getroffen hätte, das heißt eben im Gebrauch der Worte, eine Pest der Sprache, die sich als Verlust von Unterscheidungsvermögen und Unmittelbarkeit ausdrückt, als ein Automatismus, der dazu neigt, den Ausdruck auf die allgemeinsten, anonymsten
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und abstraktesten Formeln zu verflachen, die Bedeutungen zu verwässern, die Ausdrucksecken und -kanten abzuschleifen und jeden Funken zu ersticken, der beim Zusammenprall der Worte mit neuen Situationen entsteht. Ich will hier nicht der Frage nachgehen, ob die Ursache dieser Epidemie in der Politik zu suchen ist, in der Ideologie, in der bürokratischen Gleichschaltung, in der Homogenisierung der Massenmedien oder in der Art, wie die Schule eine Kultur des Mittelmaßes verbreitet. Was mich interessiert, sind die Möglichkeiten zu einer Heilung. Die Literatur (und vielleicht nur sie) kann Antikörper bilden, die sich der Ausbreitung dieser Sprache entgegenstellen.« (Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 76) SAVIANUM: »Der Zuhörer oder Leser kann sich das Erzählte zu eigen machen, um in einer Situation, die noch in der Zukunft liegt, entsprechend zu handeln. Diese verschwimmenden Ränder hat jede Erzählung, und sie liegen im Bewusstsein dessen, der diese Erzählung hört. Eine Erzählung hören und sie sich zu eigen machen ist, als würde man eine Formel erhalten, um die Welt wieder ins Lot zu rücken. Oft denke ich, dass eine Erzählung wie ein Virus wirkt, denn auch eine Erzählung kann ansteckend sein. Sie kann die Welt verändern, indem sie die Menschen verändert. Deshalb habe ich meinen letzten Monolog der italienischen Verfassung gewidmet, den Gesetzen, die nicht tote Buchstaben sind, sondern lebendiger Ausdruck des Denkens. Sie sind das Gegenmittel zu dem Schrecklichen, was in unserem Land passiert.« (Roberto Saviano, Der Kampf geht weiter, S. 30f.) DERRIDOT 2: »Nichts ist der Dekonstruktion ferner, auch wenn es in manchem anders erscheinen mag, nichts ist ihr fremder als die Chemie, als jene Wissenschaft der Einfachen [F.N. ›Science de simples‹, im Sinne der einfachen Elemente, wie sie durch chemische Analysen gewonnen werden. ›Simples‹ bezeichnet aber auch die ›Heilpflanzen‹ oder ›Heilkräuter‹.] […] Was ist die Dekonstruktion der Gegenwärtigkeit, wenn nicht die Erfahrung dieser hyperanalytischen Zerlegung des Einfachen und des Ursprünglichen? Die Spur, die Schrift, die Marke: das ist im Herzen der Gegenwart, im Ursprung der Gegenwärtigkeit eine Bewegung der Verweisung auf den anderen, auf anderes, eine Referenz als différance, die einer Synthesis a priori gleichen würde, wenn sie der Ordnung des Urteils unterstünde und wenn sie thetisch wäre. Doch in einer prä-thetischen und prä-judikativen Ordnung ist die Spur vielmehr eine irreduzible Verbindung, und eben aufgrund dieser ursprünglichen Zusammensetzung widersteht sie einer Analyse chemischen Typs […].« (Jacques Derrida, Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse, S. 164f.)
D as POLEROS-E xperiment im S ozialen N e t z werk In der Narcopolis des Internet bietet die Poetopharmazie an, was sich nicht zwischen Heil und Schaden stillstellen lässt. Irgendwann wurde aber auch klar, dass sich die Pharmazie nicht nur auf eigenen Webseiten in deklarativer Monumentalität genügen sollte, sondern auf die Frage nach der Vernetzung selbst verstärkt einlassen musste. Dafür eröffnete sie eine Dependance gleich in dem bekanntesten und
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berüchtigsten aller Sozialen Netzwerke: Facebook. Allen erheblichen narkopolitischen Skrupeln zum Trotz sollte zunächst der Versuch unternommen werden, die Relevanz und Wirksamkeit verbriefter Sentenzen in Serie zu prüfen. Dafür wurden solche neologistisch betitetelten Zitate als polerotische Essenzen eingestellt, die zumindest schon einmal in paradigmatischer Hinsicht den großen Dachbegriffen Heilmittel/Gift/Droge sowie Medien und Internet zuarbeiten. Mit deren Serialisierung sollte bestenfalls ein Gift-gift gegen die narko-narzisstischen Suchtmacher des konventionellen Konsums installiert werden. Aber was heißt genauer polerotisch? Um die intellektuelle Agilität und Mobilität des Users zu fördern, wurde jener bereits zitierte Derridasche »poleros«5, eine Mischung aus polemos und eros, zum Namen und Gebot der Serie erklärt. Die polerotische Dissentialität stärkt das begehrende und streitbare Subjekt, das sich im Nahkampf mit den Dispositiven zu behaupten, das heißt vor allem, sich gegen Sucht und Betäubung durchzusetzen weiß – um dann weiterzugehen und sich besonders der delirösen Leidenschaft des Studiums mit nüchterner Aufmerksamkeit widmen zu können. POLEROS 1: »Dasselbe Wort (›Lösung‹) steht somit für die Droge und für das Ende der Analyse.« (J.D.) POLEROS 2 (Savianum): »An den Handelsrouten des weißen Pulvers dranzubleiben, ist für mich die einzige Möglichkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die menschlichen Schwächen in Augenschein zu nehmen, die Physiologie der Macht, die Brüchigkeit aller Beziehungen, die Unbeständigkeit aller Verbindlichkeiten, die unermessliche Macht von Geld und Gewalt und die absolute Ohnmacht all dessen, was ich einmal über Schönheit und Gerechtigkeit gelernt habe.« POLEROS 3 (Giftige Merschung): »Wir sind unsere eigenen Kontrolleure, und zwar dadurch, dass wir nichts weiter tun als die technischen Systeme zu benutzen oder sie für unsere Zwecke auszubeuten. Demokratie, die stets eine Theorie der Teilhabe und der Widerständigkeit mit einschloss, kehrt dabei ihren eigenen Sinn um, weil nunmehr der Begriff des Widerstands mit dem der Störung oder Hemmung zusammenfällt. Ihre Ausräumung oder Reparatur, d.h. die Wiederherstellung der Funktionen, liegt im Interesse der Optimierung der Netze, die wiederum die Illusion der Freizügigkeit und Partizipation steigert. Tatsächlich verstärkt sie, im Resultat, die faktische Departizipation.« POLEROS 4 (Antiderridot): Die »Droge« in der »Rolle eines ermatteten Phantoms«? »Es würde sich hierbei eher um eine methodische Provokation, um eine Technik zur Anrufung des Phantoms handeln; zur Anrufung des Geistes (ghost, spirit), der Inspiration und des Diktats. Oder genauer gesagt, und das macht die Sache noch verzwickter, ginge es um eine Methodologie des Gegen-Phantoms. Was ist ein Gegen-Phantom? Ein Phantom, das man gegen ein anderes ausspielt, aber auch das Phantom des Phantoms, das Alibi-Phantom, das andere Phantom. Hätte man also nur die Wahl zwischen Phantomen und Phantomsimulakren?«
5 | Derrida, Widerstände, S. 139.
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POLEROS 5 (Deleuzung): »Narzissmus, Autoritarismus der Süchtigen, Erpressung und Gift: Sie schließen sich den Neurotikern an in ihrem Unternehmen, der Welt auf die Nerven zu fallen, ihre Infektion unter die Leute zu bringen und ihren Fall aufzudrängen (somit dasselbe Unternehmen wie die Psychoanalyse als kleine Droge).« POLEROS 6 (Agamben complex): »Um sie [die Frage der Profanierung der Dispositive] richtig stellen zu können, müssen jene, die sie sich zu eigen machen, in der Lage sein, sowohl in die Subjektivierungsprozesse als auch in die Dispositive einzugreifen, um jenes Unregierbare zum Vorschein zu bringen, das zugleich Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik ist.« POLEROS 7 (Derridoloron): »Keine Freundschaft ohne mögliche Verletzung. Das erweist die Spannung zwischen Freundschaft und Feindschaft als eine pharmakologische: Freundschaft, um die davongetragenen Wunden zu heilen, Freundschaft, um der Untat oder dem möglichen Verbrechen entgegenzutreten, tröstende, trauernde, wiedergutmachende Freundschaft – immer unterstellt, dass es keine andere gibt.« POLEROS 8 (Huxshake): »Dort ist die Hölle, Nacht, dort ist der Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch, Verwesung – pfui, pfui! Pah! Pah! Gib etwas Bisam, guter Apotheker, meine Phantasie zu würzen!« POLEROS 9 (Houellensoma): »[D]ie Wirkungsweise der antidepressiven und angstlösenden Medikamente wurde maßgeblich verbessert. ›Ein Milliliter erfrischt die Gemüter‹. […] Brave New World ist für uns in jeder Hinsicht – sei es, was die genetische Kontrolle, die sexuelle Freiheit, den Kampf gegen das Altern oder die Freizeitkultur betrifft – ein Paradies, in Wirklickeit ist es genau die Welt, die wir anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg.« POLEROS 10 (Fisherman’s Enemy): »Das Cyberspace-Kapital funktioniert, indem es seine Nutzer süchtig macht. William Gibson hat dies erkannt, als er in Neuromancer beschrieb, wie ausgelaugt sich Case und die anderen Cyberspace-Cowboys fühlen – als ob Insekten unter ihrer Haut krabbeln, wenn sie nicht mehr an die Matrix angeschlossen sind. (Die Amphetaminsucht von Case ist lediglich ein Substitut für die Sucht nach einer weitaus abstrakteren Geschwindigkeit). Falls man so etwas wie eine hyperaktive Aufmerksamkeitsstörung als Pathologie beschreiben will, dann ist es eine […] Folge des Ausschlusses von den Unterhaltungs-Kontroll-Schaltkreisen einer hypermediatisierten Konsumkultur. Gleichzeitig ist das, was man als Dys-lexie bezeichnet, in vielen Fällen eher eine Post-lexie. Teenager verarbeiten die hohe Bilddichte der Daten sehr effektiv, ohne überhaupt lesen zu müssen. Das Erkennen von Slogans genügt, um über die Informationsebene aus Zeitschriften, Mobiltelefonen und dem Internet zu navigieren. ›Noch nie war die Schrift Sache des Kapitalismus. Dieser ist von Grund auf Analphabet.‹, behaupten Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus. ›Die Sprache der Elektrik läuft weder über die Stimme noch über die Schrift; gleichermaßen auf beide verzichtet die Informatik.‹ Das ist auch der Grund, warum so viele erfolgreiche Geschäftsleute dyslexisch sind […].«
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POLEROS 11 (Fuestox Complic.): »In einer idiorrhythmischen Paarung artikulieren sich die Rück- und Widerstände, die eine müßige Theorie zu konstituieren helfen, eine Theorie, deren Methode selbst das bewusste Bekenntnis zur Muße, einer passionierten Passivität und Differenzialität, einschließt, indem sie diese Zeichen des Widerstands mindestens als Mittel gegen die Vereinfachungen wirksam werden lässt, auf welchen nicht zuletzt die konsumistischen Konzepte basieren, die an die Stelle der selbstbewussten Muße die angepasste Betäubung setzen. Nicht zuletzt die pharmako-medialen Angebote unterstützen einen betäubenden Narzissmus, der den Nutzern eine Ruhe durch Unberührtsein verspricht. Und die Literatur wie ihre Theorie arbeiten im Zuge einer bestenfalls riskanten, verspielten und opaken Differenzierung diesen narzisstischen Vereinfachungen und Verblödungen entgegen, auch wenn sie ihrerseits kaum ohne narko-narzisstische Effekte auskommen. Es gibt keinen archimedischen Punkt außerhalb des Vergiftungszusammenhangs, gewiss, aber das heißt ja nicht, die kritische Perspektive aufzugeben.« POLEROS 12 (Deleuzoon): »Mit welchem Recht sollte ich nicht von der Medizin sprechen, ohne Mediziner zu sein, wenn ich darüber wie ein Hund spreche? Warum sollte ich nicht von der Droge sprechen, ohne Drogen zu nehmen, wenn ich darüber wie ein kleiner Vogel spreche? Und warum sollte ich nicht einen Diskurs über etwas erfinden, auch wenn dieser Diskurs vollkommen irreal und artifiziell ist, ohne dass ich Titel vorweisen muß, die mich dazu berechtigen? Die Droge läßt einen manchmal delirieren, warum sollte ich nicht über die Droge delirieren? Was kommt Ihr immer mit Eurer ›Realität‹ an? Platter Realismus.« POLEROS 13 (Nick-Landopin): »Komplexität ist kein Problem, sondern ein Schlamassel, Giftmüll, Genremix. Anders als die folgsame Kreatur, nach der die moderne Wissenschaft verlangt, zuckt und spuckt die niedere Materie, selbstassemblierende neoparasitäre Schwärme. Sie verbeißt sich, verbreitet Krankheiten. Turbulentes Dröhnen digital unaufgelöster recyclones. Teleshoppingseuchen pulsieren durch cybergothic Schaltanlagen. Gesichtsloser Horror.« POLEROS 14 (Superbetterburroughs): »Ein paar gefühlsselige Typen kommen auf die Idee, unbedingt etwas Erbauliches senden zu müssen, und verstehen überhaupt nicht, dass Senden AN SICH schlimm ist. Die Wissenschaftler werden verlauten lassen: ›Mit dem Senden ist es wie mit der Atomkraft … man muss sie sich nur richtig zunutze machen.‹ Und genau dann mixt ein analfixierter Technokrat sich ein Kaisernatron und verwandelt die Erde per Knopfdruck zu kosmischem Staub. […] Künstler werden das Senden für einen kreativen Akt halten. Sie werden überschwenglich von einem ›neuen Medium‹ herumkrakeelen, bis ihnen niemand mehr zuhören will … Die Philosophen werden sich lang und breit über das Mittel zum Zweck auslassen, ohne zu wissen, DASS SENDEN KEIN MITTEL ZU ETWAS ANDEREM SEIN KANN ALS ZU MEHR SENDEN, GENAU WIE JUNK.« POLEROS 15 (Sebaldrian): »Dann sagte sie, so leise, daß man es fast nicht hören konnte: What was it that so darkened our world? Und Elias antwortete ihr: I don’t know, dear, I don’t know.«
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POLEROS 16 (Naked Antidot): »Was weiß ich schon von diesem zerstörten gelben Gesicht eines jungen Junkies, der von Rohopium lebt? Ich habe versucht, es ihm zu erklären: ›Eines Morgens erwachst du mit deiner Leber im Schoß‹, und wie man Rohopium behandelt, damit es nicht das reine Gift ist. Aber seine Augen werden glasig, und er will es nicht wissen. Junkies sind so, die meisten von ihnen wollen nichts wissen … und sie interessieren sich für nichts …« POLEROS 17 (Adornsirup): »Gleichwohl muß eine Theorie des Fortschritts absorbieren, was an den Invektiven gegen den Fortschrittsglauben triftig ist, als Gegengift gegen die Mythologie, an der sie krankt.« POLEROS 18 (Wienerzedrin): »Frankensteins Monster ist in geringerem grad künstlich als die bewohner der Braven Neuen Welt. gewisse hervorbringungen von tieren wird man künstliche nennen. immer häufiger können menschen auf veränderungen ihrer umwelt, nach aussen hin tatenlos, durch readjustierung ihrer bewertungen reagieren; der gefühlte sinn hängt am rigor der noch nicht modellierten internen mechanismen.« POLEROS 19 (Naked-Security-Agency-Wahrheitsserum): »Zwei Agenten haben einander ihre Sexpraktiken und damit ihre Identität offenbart; um sich vor feindlichen Abhörmikrophonen zu schützen, ficken sie sich atomare Geheimnisse in einem so komplizierten Code zu, dass nur zwei Physiker auf der ganzen Welt behaupten, diesen zu verstehen, und jeder der beiden bestreitet kategorisch, dass der andere dazu fähig sei. Später wird der Agent, für den die Informationen bestimmt waren, wegen unerlaubten Besitzes eines Nervensystems gehängt.« POLEROS 20 (Hoeldicodendron): »Nun sitz’ ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe schafft, Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun; Und ferne lausch’ ich hin, ob nicht ein Freundlicher Retter vielleicht mir komme.« POLEROS 21 (Pasquinillen): »Viele radikale Philosophen (wie Agamben, Berardi oder Stiegler) beklagen die Ent-Erotisierung des Körpers durch digitale Arbeit und Informationsüberflutung in einer hypersexualisierten Medienlandschaft; als politische Antwort schlagen sie nicht viel mehr als einen ›erotischen Aufstand‹ des nackten Lebens vor. Doch wenn Biomacht sich einer Abstraktionsmaschine verdankt, bedeutet Widerstand nicht, mehr Körper, mehr Affekt, mehr Libido etc. einzufordern, sondern das entfremdete Vermögen zur Abstraktion zurückzugewinnen, das heißt die Fähigkeit, Dinge zu differenzieren, einzuordnen, wahrzunehmen. Abstraktion darf nicht als Bewegung gegen das ›Leben‹ verstanden werden, sondern ist eine gewaltsame Wendung des Seins gegen seinen Grund (Identität, Geschlecht, Klasse, Spezies etc.)« POLEROS 22 (MacCormax+): »Wenn wir verantwortungsbewusste posthumane Wesen sein wollen, müssen wir nahe Zukünfte, kleine taktische Ziele und den
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strategischen Zusammenhang zwischen all den Dingen ins Auge fassen, die die Ausdruckskraft anderer Lebensformen steigern und mit diesen Knotenpunkte auf dem Weg zu einer in höchstem Maße kreativen, freudvollen Zukunft bilden – einer Zukunft, die das bloß Humane nicht denken kann.« POLEROS 23 (Deguaphon): »Es ist nicht sicher, ob die Klangmoleküle der Popmusik nicht doch hier oder da, hier und heute, ein Volk neuer Art ausschwärmen lassen, dem Radiobefehle, Computerkontrollen und die atomare Bedrohung völlig gleichgültig sind.« POLEROS 24 (Landmeth): »Climbing out of a recombination apparatus of TA TA TA tape recorders and cut ups, hypervirus infected Burroughs in 1972, at the cusp of K(ondratieff)-wafe 9 (the threshold of postmodernity). It rapidly reprocessed its target into an intelligent no yes yes no no nova-war laboratory, volatilizing the history of language into involutionary word-virus. Mutation rat rat rat rates jump. Vector switches through Butler, Gibson, and Cadigan fine-tune its synergetic interexcitation, silt-up cybershift-inducing K(uang)-potential, and trend-lock onto 110010100100101011110100 […] K-punk pulses with telematically-accelerating neoreplicator plicator plicator contamination.« POLEROS 25 (Zizac): »Diese Spannung zwischen Institutionen und dem Widerstand Einzelner schränkt den politischen Raum von ›The Wire‹ auf einen bescheidenen sozialdemokratischen, individualistischen Reformismus ein: Individuen können versuchen, das System zu reformieren, doch letztlich gewinnt immer Letzteres. Was dieser Begriff nicht wirklich einfangen kann, ist die Art und Weise, wie diese Individuen ihre Unschuld in ihren Kämpfen verlieren – nicht so sehr in dem Sinn, dass sie korrupt werden, sondern eher in dem Sinn, dass, selbst wenn sie ehrlich und gut bleiben, ihre Handlungen schlicht irrelevant werden oder lächerlich fehlzünden, indem sie genau der Kraft einen neuen Schwung verleihen, gegen die sie sich richten.« POLEROS 26 (Ronellexan): »Drogen können nicht sicher innerhalb der Grenzen traditioneller Disziplinen angesiedelt werden: Anthropologie, Biologie, Chemie, Politik, Medizin oder Jura könnten nicht einzig aufgrund der Stärke ihrer jeweiligen Epistemologie den Anspruch erheben, daß sie sie fassen oder ihnen entgegen wirken können. Indem man sich überall mit Drogen beschäftigt, agieren sie als ein radikaler nomadischer Parasit, den der Wille der Sprache losgelassen hat.« POLEROS 27 (Wallacybin): »Das unglaublich starke DMZ wird anscheinend als para-methoxyliertes Amphetamin eingestuft, Pemulis sieht nach seinen langwierigen und quälenden Recherchen in den Monographien von MED.COM aber eher Ähnlichkeiten mit der anticholinergisch-delirösen Klasse; es ist weit wirksamer als Meskalin, MDA, DMA, TMA, MDMA, DOM, STP, das injizierbare DMT, Ololiuqui, das Scopolamin des Stechapfels, Fluothane, Bufotenin (alias ›Jackie-O.‹), Ebene, Psilocybin oder Cylert; chemisch ähnelt es einem Tragelaphen aus Lysergid und Muscimoloid, unterscheidet sich aber beträchtlich von LSD-25, insofern seine Wirkungen weniger optischer und räumlich-zerebraler als vielmehr zeitlich-zerebraler, fast ontologischer Natur sind und eine Art phenylalkylaminmanipulierte Schnel-
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ligkeit fingieren, in deren Folge der Halluzinogenivore seine Beziehung zum normalen Zeitverlauf als radikal (sowie euphorisch, und hier zeigt sich die muscimolanaloge Wirkung) verändert wahrnimmt.« POLEROS 28 (Savianox): »Für mich ist das Wort ›Narcokapitalismus‹ ein Brocken, der immer größer wird. Ich kann ihn nicht runterschlucken und riskiere, daran zu ersticken. Alle Wörter, die ich kaue, bleiben an diesem Brocken haften, und er wächst wie ein Tumor. Ich möchte ihn hinunterschlucken und ihn den Magensäften überlassen. Ich möchte es auflösen, dieses Wort, und seinen Kern erfassen. Aber es geht nicht. Es ist auch zwecklos, weil mir klar ist, dass ich ein Stäubchen weißes Pulver finden würde.« POLEROS 29 (Infinitejeststream): »Aber dann kann ich machen, was ich will, es wird immer schlimmer, es ist immer öfter da, ein Vorhang geht runter, und das Gefühl verschlimmert die Angst vor dem Gefühl total, und nach ein paar Wochen geht es dann überhaupt nicht mehr weg, dieses Gefühl, und ich bin da gefangen drin, ich bin da drin, und alles muss da erst durch, um reinzukommen, und ich hab keine Lust zu kiffen, und ich will nicht arbeiten oder weggehen oder lesen oder TP sehen oder weggehen oder zu Hause bleiben oder was tun oder nichts tun, ich will überhaupt nichts, ich will nur noch, dass das Gefühl weggeht. Aber es geht nicht weg. Es gehört zu dem Gefühl, dass ich irgendwie das Gefühl habe, ich würde alles tun, damit es bloß weggeht. Verstehen Sie? Alles. Verstehen Sie?« POLEROS 30 (Derrident): »Die Macht der Medien ist heterogen; manchmal kann sie sich selber kritisieren, an den verschiedenen Stellen ihres großen Körpers. Wird sie am Ende nicht auf längere Sicht hin beurteilt, aufgrund von Kriterien, die für sie zwangsläufig unentzifferbar sind? Trägt sie zu Massenerfolgen bei, die man im nächsten Augenblick bereits vergessen hat, ist sie dann nicht selber dem Vergessen geweiht? Die unzeitgemäßen Vorstöße, die ihren Lesbarkeitsrastern sich entziehen, können sich eines Tages durchsetzen, ohne dass Widerspruch noch irgend möglich ist. Wenn es um den Weg geht, den ein Werk noch vor sich hat, kann, wie man weiß, der Rang von zehn Lesern zuweilen eine entscheidendere Rolle spielen als die gerade erreichte Zahl von zehntausend Lesern.« POLEROS 31 (Bolanorum): »Am Ursprung meines ganzen Übels, dachte er, steht meine Bewunderung für einige Drogensüchtige (nicht für drogensüchtige Künstler, sondern stinknormale Drogensüchtige, Typen, die man selten fand, Typen, die sich buchstäblich von sich selbst ernährten, Typen wie schwarze Löcher oder ein schwarzes Auge, ohne Arme und Beine, ein schwarzes Auge, das sich nie öffnete oder schloss, das Verlorene Stammesgedächtnis, Typen, die ebenso sehr an der Droge zu hängen schienen wie die Droge an ihnen).« POLEROS 32 (Derrithoth): »Diese Pharmazie ist auch, wir haben es gespürt, ein Theater.« POLEROS 33 (Deleuzakton): »Ob fiktiv oder real, belebt oder unbelebt, man muss seine Fürsprecher erfinden. Das ist eine Serie. Wenn man keine Serie erzeugt, auch wenn sie vollkommen imaginär ist, ist man verloren. Ich brauche meine Für-
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sprecher, um mich auszudrücken, und sie würden sich nie ohne mich ausdrücken: Man arbeitet immer zu mehreren, auch wenn das nicht sichtbar ist.« POLEROS 34 (Foucox): »Jedenfalls vermeidet man dadurch, dass man der Wahrheit folgt, die Beschädigung/Zerstörung der Seele, welche die Meinung der Menge hervorruft. Hier haben wir anhand des Vergleichs mit dem Körper jene Vorstellung, dass die Seele durch Meinungen, die nicht auf ihre Wahrheit hin geprüft, getestet und erprobt wurden, verdorben, zerstört, beschädigt wird. Und natürlich ist diese Krankheit nicht mit medizinischen Mitteln zu behandeln. Aber wenn es stimmt, dass sie von der falschen Meinung hervorgerufen wird, von der Meinung aller und eines jeden, dann ist es die mit der ›aletheia‹ [Wahrheit] bewaffnete Meinung, der vernünftige ›logos‹ […], der in der Lage sein wird, jene Zerrüttung zu verhindern oder die Seele aus ihrem Zustand der Zerrüttung zu einem Zustand der Gesundheit zurückkehren zu lassen.« POLEROS 35 (Marincoloxan): »Eine neuere Erscheinung sind diejenigen Süchtigen, die ich Cybersozioholiker nenne – Menschen, die wie besessen eine oberflächliche und zum großen Teil bedeutungslose Kommunikation über soziale Netzwerke und andere Kommunikationskanäle betreiben. […] Diese unzähligen Cybersozioholiker sind nur eine Untergruppe der viel größeren Gruppe von internetabhängigen Cyberholikern, genauso wie die Cyberpornoholiker und die Cyberspieloholiker. […] Ihre Ärzte sind Teil eines ›Gesundheitssystems‹, das Geld generiert, indem es Menschen möglichst viele Medikamente verschreibt, ohne sie wirklich zu heilen; und so verordnet man ihnen Beruhigungsmittel und Schlafmittel, um ihre Körper auch nach einem langen Arbeitstag der Paralyse vor dem Bildschirm weiterhin ruhigzustellen. Dieses Gesundheitssystem ist nur ein kleiner Teil einer ganzen Industrie, welche die Süchte der Konsumenten bedient, ohne sie jemals zu heilen – denn genau diese verstärkten Süchte sind ausgezeichnete Geldmaschinen.« POLEROS 36 (Derridoppelherz): »Wenn man einen double bind nicht auf sich nehmen kann, sondern ihn auf tausenderlei Art aushält, wenn alle Passionen unvertretbar der Singularität zugesprochen werden, wenn ein double bind niemals einzig und allgemein, sondern die unendlich teilbare Dissemination von Knoten, von Tausenden und aber Tausenden von Knoten einer Passion ist, so heißt das, dass es ohne ihn, ohne diesen double bind und ohne die Prüfung der durch ihn bestimmten Aporie nur Programme oder Kausalitäten gäbe, doch keine Schicksale, und dass keine Entscheidung jemals stattfinden würde, keine Verantwortung, ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass kein Ereignis, dass nichts stattfinden würde. Nicht einmal die Analyse. Nicht einmal die Stätte.« POLEROS 37 (Reemtspax): »›Aushalten‹ ist Anästhesie und Verdummung. Denn der Schmerz ist die Kränkung, die immer nur zur Hälfte aufs Konto der anderen geht – die zweite Hälfte ist der Zweifel, ob man nicht zu Recht die Niederlage erleide. Man hat zum Schaden auch noch den Zweifel, der sich plötzlich nicht mehr in Schach halten lässt. Der Weg aus Niederlagen ist nicht, sie zu akzeptieren und die ›Zähne zusammenzubeißen‹, sondern die Unabwendbarkeit ihrer Folgen sich gefallen zu lassen und das Leben mit den eingetretenen psychischen Verschiebun-
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gen einzurichten. ›Was nicht tötet, härtet ab‹, das ist Unsinn, nicht aber ist Unsinn, einzusehen, dass das, was nicht tötet, das Leben zu ändern imstande ist.« POLEROS-SCHLUSS: Nun ist die Zeit gekommen, da Polemos und Eros sich voneinander trennen und ihren Fight Club schließen. Gewiss, zuletzt rufen sie noch einmal aus: ›Und denkt daran, wir müssen Asklepios einen Avataren opfern!‹ Aber das wäre es auch schon. Mehr haben sie uns wohl nicht zu sagen. Die Serie, in deren Namen sie verschmolzen, hat uns manches gelehrt: vor allem, dass es sich lohnt zu kämpfen – für die Differenz – ›weil Gift ist zwischen uns‹. Und dass man also nicht alles schlucken muss. Erst Fragen einwerfen, dann pharmaka einwerfen – falls noch nötig. Und nur die zu fragen und zu antworten nicht müde werden, werden ›echte‹ und ›wahre‹ Freunde sein und haben. Viel Stoff also – und nie versiegendes Begehren. Ach, und in der Poetopharmazie bleibt das Licht an. Danke für die Disziplin(en).6
P.S. Es bereitet ein kleines Vergnügen, diese Sätze hiermit in einem Buch unterzubringen (das man auch dann lesen kann, wenn alle Stecker gezogen sind). Wenigstens ein paar pharmazeutische hypomnemata zum Zwecke der Übung und des Spiels zu konservieren, das dürfte doch das Wenigste gewesen sein. Das Wissen um diese finale Übertragung ins Buch wirkte bereits wie ein ironischer ›Muntermacher‹, als ich diese Sätze im Frühling und Sommer 2014 veröffentlichte und alsbald merkte, dass im Rahmen einer statistischen Nomenklatur keine bedeutenden quantitativen Effekte erzeugt wurden. Will man narko-prominente Angebote in Sozialen Netzwerken erfolgreich platzieren, muss man sich an eine goldene Regel halten: Es darf nicht kompliziert sein. Die Komplikation ist ein homöopathisch dosiertes Gift für den Massengeschmack – will heißen, es wirkt meistens so gut wie nicht. (Im Internet wird es auch kaum zu einer digitalen Kanondiskussion kommen – oder?) Facebook richtete mir gleichwohl nach den ersten 40 Likes für die Seite eine eigene Statistik ein, ein Kontrollinstrumentarium, das mir exklusive Aufschlüsse über (für Dritte unsichtbare) User-Bewegungen gab – und das zum Zwecke eines geschäftlichen Pakts, in dem ich animiert wurde und werde, nun die 100 zu schaffen. Bis heute (Hundstage, August 2014) habe ich es nicht dahin geschafft. Im Gegenteil habe ich die Poetopharmazie auf Facebook einer zeitweiligen (?) Ruinierung überantwortet. (So als wäre die verstörende, anarcho-dekadente Devise des jungen Fürsten Saurau noch dringend dem phytopharmazeutischen Bekenntnis des Kafkaschen Ruinenbewohners7 aufzupfropfen: »Diese glänzende Wirtschaft habe ich ruiniert! Diesen ungeheuren Land- und Forstwirtschaftsanachronismus!« 8) Die Pharmazie ist verwaist, und an einigen Stelle beginnt schon Gras über die Polerotik zu wachsen. Natürlich wissen Leserinnen und Leser von ausladenden Romanen den Charme solcher nur scheinbar fatalen Chronotopoi zu genießen. Denn 6 | Poleros-Einträge der Poetopharmazie auf facebook vom 1. April bis 9. Juli, 2014. 7 | Vgl. Franz Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 9. Tagebücher. Bd. 1: 19091912. Frankfurt a.M. 1994, S. 17. 8 | Thomas Bernhard: Verstörung. Frankfurt a.M. 1967, S. 119.
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das Unkraut sprießt auch, um neues Leben diesseits und jenseits der ausgetretenen Pfade anzukündigen, wie etwa das vorliegende Buch, das (als Buch) wiederum nicht überschätzt werden sollte. Denn man bleibt doch ganz unfreiwillig an die Ästhetik der Ruine verwiesen, weil die Poleros-Einträge, gerade da sie in einem konventionellen Sozialen Netzwerk stehen, nicht nur das vorliegende Buch ruinieren. Sie wollen zwar nicht auf die simple Botschaft hinaus, dass es zuletzt sowieso um nicht viel mehr als um ein paar Inschriften gegangen sein wird. Aber sie können ebensowenig das Gegenteil glaubhaft vertreten, weil das Gegenteil abhanden gekommen ist. Das ist der Ruin. Das kommunitäre Wir ist weitgehend unglaubwürdig geworden, die Beschwörungen des solidarisierenden logos unzuständig. Tatsächlich sind heute fast alle gegen alle9 – verurteilt zu einem nicht enden wollenden immunitären Konflikt, der nicht zugunsten der humanen Spezies ausgehen wird. Und das ist nicht nur eine Frage der Biologie. So betrachtet, war es gewiss mehr als nur ein informeller Witz, die poetopharmaka in ein Soziales Netzwerk zu setzen. Freilich nicht, um das letzte Wort zu haben. Wie auch? »Das ganze Wortinstrumentarium, das wir gebrauchen, existiert gar nicht mehr. Aber es ist auch nicht möglich, vollständig zu verstummen.«10
P.P.C. (P r ä /P ost/C ode) Die Poetopharmazie wird trotzdem dem logos des roten Hahns Echoräume zur Verfügung stellen. Im Dialog mit der Künstlichen Intelligenz könnte dabei theoretisch noch zur Sprache kommen, dass die parrhesia bereits das halbe Betriebsgeheimnis dieser Pharmazie ausmacht. Die andere Hälfte speist sich aus der Einsicht, dass die wachsende Gleichgültigkeit dem spezifisch Humanen gegenüber es erzwingt, die aus der Rhetorik herleitbare, technische Seite der Figuration ernster zu nehmen: Es ist dies eine pharmazeutische Figuration im Rahmen der digitalen Dialogizität. Die hierin bereits angelegte Drogenersatzfunktion (poetopharmakon = the better drug) kann nicht, wie Deleuze es implizit vorschlägt, im Phantasma des Reinen spezifiziert werden (»Die reinen Ereignisse begründen die Sprache […].«11, heißt es in Logik des Sinns), sondern viel eher in der Serreschen Definition des Codes: als nicht nur das (signierte) »lebende Einzelne«, sondern als »der« und also »dieser Mensch«: »Was bin ich, ich selbst, einzigartig, Individuum und Gattungswesen zugleich? Eine unbestimmte Chiffre, entzifferbar, unentzifferbar, offen und verschlossen, sozial und schamhaft, zugänglich-unzugänglich, öffentlich und privat, 9 | Sloterdijk fasst das so zusammen: »Wir wollten, als Bürger neuzeitlicher Vernunftkultur, noch Seelen sein und haben uns als Benutzer von Immunsystemen expliziert; wir wollten an den Unverwundbarkeitsgarantien der Form aller Formen teilhaben und haben uns als Nervensysteme bloßgestellt; wir wollten uns im Ganzen verankern und haben uns in die Vielheiten der Systeme mit ihren spezifischen Umwelten zerstreut. Auf dem Höhepunkt des WeltseeleElans wollten wir sogar ein Universum konzipieren, in dem alles mit allem kommuniziert, und haben uns eine Welt explizit gemacht, in der fast alles sich gegen fast alles wehrt.« Sloterdijk, Sphären III, S. 249. 10 | Bernhard, Verstörung, S. 146. 11 | Deleuze, Logik des Sinns, S. 207.
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intim, geheim, unbekannt, bisweilen sogar mir selbst, und zugleich ausgestellt. Ich existiere, also bin ich ein Code, berechenbar, unberechenbar.«12 Nicht zuletzt die Literatur hat diese Codierung seit langem vorbereitet und bietet einen unerschöpflichen Schatz von Quellcodes, in denen der Mensch sich benennt und verwandelt. Sie hat uns aber auch auf das vorbereitet, was nach der Codierung (so ganz anders) kommt.
12 | Serres, Erfindet Euch neu!, S. 72f.
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Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
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Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken
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Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Juli 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6
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