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German Pages 765 [768] Year 2007
Katrin Kohl Poetologische Metaphern
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Katrin Kohl
Poetologische Metaphern Formen und Funktionen in der deutschen Literatur
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018628-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Es geht in diesem Band um ›Übertragungen‹: im Denken und in der Sprache, zwischen Medien, zwischen Theorie und Praxis und von einer Zeit in die andere. Kontinuitäten sollen ins Blickfeld gerückt und Elemente literarischer Tradition verbunden werden, welche die Forschung tendenziell separaten Bereichen zuordnet: Mittelalter und Neuzeit, ›hohe‹ Dichtung und ›niedere‹ Trivialliteratur, Produktion und Rezeption. Es geht um Autoren wie Otfrid, Opitz oder Goethe und deren poetologisches Profil, um Formen, die Dichtung als gemeinschaftliches Ereignis inszenieren wie Drama, Meistersang oder Poetry Slam, aber auch um das poetologische Potenzial unterschiedlicher Medien wie Buch oder Internet. Vorausgesetzt ist ein eher deskriptiver als normativer Literaturbegriff, der grundsätzlich die Spannweite literarischer Möglichkeiten umfasst, ohne bestimmte Arten der Literatur durch disziplinäre oder ästhetische Vorgaben von vornherein auszublenden oder auszugrenzen. Im Zentrum steht allerdings – nicht zuletzt aus arbeitspragmatischen Erwägungen – die Poetik der ›hohen‹ Dichtung: Sie liegt in schriftlicher Form vor, hat in der Literaturgeschichtsschreibung das deutlichste Profil und ist am ausführlichsten erforscht. Auch ein qualitativer Aspekt spielt mit: Poetiken, in denen sich die Verfasser ›hohe‹ Ziele stecken und poetologisches ›Neuland‹ erkunden, sind besonders geeignet, die Abwandlungsmöglichkeiten und Anschlussfähigkeit poetologischer Metaphern aufzuzeigen. Die ›poetologische Metapher‹ bewegt sich zwischen Kognition und artikulierter Sprache und ist daher als Begriff offen: Kognitiv ermöglicht sie typischerweise unter Bezug auf physische Dinge und Prozesse die Strukturierung einer Vorstellung von Dichtung, und sprachlich erlaubt sie die wirksame Kommunikation dieser Vorstellung. Im Zuge der Konventionalisierung werden wirksame poetologische Metaphern zu poetologischen Topoi – lange Zeit diskreditiert als sterile Relikte aus der Zeit der Barockpoetik. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass solche Topoi unerlässliche Instrumente für die Konzeption und Vermittlung traditioneller poetologischer Vorstellungen sind. Und so wie konventionalisierte Alltagsmetaphern zu produktivem Leben erweckt werden können, birgt jede topisch gewordene poetologische Metapher das Potenzial für eine dichterische Revolution. Ebenso weit gefasst ist der Begriff von der Poetik. Er wird verstanden als werkinterner oder werkexterner Diskurs um Dichtung, der sinn-, funk-
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Vorwort
tions- und identitätsstiftend zwischen Autor, Werk, Rezipient und/oder Kontext vermittelt. Ohne an bestimmte Gattungen gebunden zu sein, kann sich eine poetologische Äußerung je nach Redezweck ›immanent‹ im dichterischen Werk, in einem eigenständigen Buch oder in einer Abhandlung präsentieren; auch ein Brief oder eine Rezension vermag in komprimiertester Form ein poetologisches Modell darzustellen. In Interaktion mit Dichtung, Rhetorik und Philosophie ist die Poetik eine unstabile Größe, die sich in einem Spannungsfeld unterschiedlichster Interessen konstituiert. Dabei lässt sich poetologische Kommunikation nicht auf eine lineare geschichtliche Abfolge reduzieren: Der Dichter reagiert nicht nur auf das Gegenwärtige oder unmittelbar Geschehene, sondern kann auch alte Vorstellungen aktualisieren und aus einem ›universalen‹ Fundus poetologischer Möglichkeiten eine neue dichterische Wirklichkeit schaffen. Grundsätzlich geht es in diesem Buch eher um die Erforschung der vielfältigen Ausprägungen und Funktionen von Metaphern in der Poetik als um die Geschichte spezifischer Metaphern. Das Buch ist als Netzwerk angelegt, und das Metaphernregister ermöglicht es dem Leser, Metaphern durch verschiedene Kapitel zu verfolgen. Die ersten zwei Kapitel sind der Poetik und der Metapherntheorie gewidmet, während die restlichen Kapitel aus jeweils anderer Perspektive die Bedeutung und Wirkungsweise poetologischer Metaphern in der deutschsprachigen Literatur verfolgen. Dabei behandelt das Kapitel zur Poetik vor allem kanonische Schriften der griechischen und römischen Antike sowie die Bibel, die der späteren westlichen Poetik einen enormen Reichtum an produktiv abwandelbaren poetologischen Metaphern zur Verfügung stellten. Die Beschränkung auf die Literatur einer Sprache in den späteren Kapiteln hat den Nachteil, dass sie die poetologischen Übertragungsprozesse zwischen Sprachkulturen ausblendet, andererseits aber den Vorteil, dass sie diachronische Kommunikationsprozesse in einer spezifischen Sprachtradition im Blick behält. Im dritten Kapitel geht es um grundsätzliche Voraussetzungen und Wirkungsweisen der poetologischen Metapher: in der Geschichte der Poetik und in den poetologischen Gattungen, in den Medien der Dichtung, in der diachronischen Vermittlung von poetologischen Vorstellungen und in der Kommunikation zwischen Autor, Werk und Rezipient. Das vierte Kapitel erforscht vornehmlich aus der Perspektive des Autors die ›Welt‹ poetologischer Metaphern: Ausgegangen wird von einem anthropologisch orientierten, universalistischen Ansatz, um zu zeigen, wie prinzipiell jeder Aspekt des menschlichen Lebens poetologische Möglichkeiten birgt. Das fünfte Kapitel untersucht Funktionen strukturgebender Metaphern und insbesondere ihren Beitrag zu Prozessen der Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung. Das sechste Kapitel bietet Schnappschüsse aus der Geschichte der deutschen Poetik: In neun Texten aus verschiedenen Zeiten der deutschen Poetikgeschichte werden die jeweils maßgeblichen poeto-
Vorwort
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logischen Metaphern und ihre kontextspezifische Funktion untersucht – ohne dass allerdings damit eine systematische Geschichte deutscher Poetik geliefert werden soll. Das Abschlusskapitel eröffnet Perspektiven auf poetologische Fragestellungen um die Jahrtausendwende. Den Anstoß zu dem Buch bildete meine Beschäftigung mit der kognitiven Metapher im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Magisterarbeit zum Thema Metaphors of Business. A Study of German and English Business Language (University of Westminster, London 1992), in der die Idiomatik der wirtschaftsorientierten Alltagssprache im Vordergrund stand. Der Transfer zur Poetik erfolgte in einer Reihe von Tagungsbeiträgen zu einzelnen Autoren und Zeitabschnitten besonders im 18. und 20. Jahrhundert, die auswahlweise und in veränderter Form hier Eingang gefunden haben. Ein Projekt, das sich mit ›Übertragungen‹ so vielfältiger Art zu befassen sucht, führt über eigene Kompetenzen weit hinaus. Zu Dank verpflichtet bin ich vielen Kollegen an der Universität Oxford, die geduldig Fragen zu ihren Spezialgebieten beantwortet beziehungsweise Teile dieser Arbeit kritisch gelesen haben, besonders Armand D’Angour, David Cram, Kevin Hilliard, Nigel Palmer, Ritchie Robertson, Annette Volfing und Helen WatanabeO’Kelly – wobei allein die Autorin für verbleibende grobe Verallgemeinerungen und etwaige Fehler verantwortlich ist. Mark Elliott hat im Laufe seiner Promotion zur Lyrik der Nazizeit (German Poetry beyond the Boundaries of the Nazi Era: The Modernist Legacy, Oxford 2006) wichtige Anregungen geliefert. Helen Fronius, Anna Linton und Ruth Owen haben bei der Sammlung und Bearbeitung des literarischen Materials assistiert, Steffan Davies und Bent Gebert bei der Erstellung der Register; Sonia Brough hat das gesamte Manuskript kritisch gelesen und produktiv kommentiert. Danken möchte ich John White, der mich zuerst an die deutsche Barockliteratur und deren komplexe Beziehungen zur modernen Literatur heranführte; Margaret Kohl für ihre Beratung in theologischen Fragen; Ulrike Draesner für Einblicke in die Poetik als Praxis; Peter Brugger, Georgina Krebs und Chris McManus für Hinweise auf neuropsychologische Ansätze zur Metapher; Wilfried Barner, Meredith Lee und Hans Dieter Zimmermann für Anregungen und weiterführende Ratschläge; Gerhard Lauer und Sandra Pott für spannende Gespräche zu unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen; dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung, dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und dem Gleimhaus Halberstadt sowie den jeweiligen Organisatoren für fruchtbare Tagungen; dem Projekt 6 (Lyrik) der DFG-geförderten Forschergruppe Narratologie unter Leitung von Jörg Schönert und Peter Hühn für die Einladung zur Teilnahme an ertragreichen Diskussionen über lyrische Kommunikation; Jutta Bendt für einen Einblick in die Problematik der Archivierung digitaler Projekte. Besonderer Dank gebührt Jeremy Adler, der über Jahre hin meine Arbeit kontinuierlich mit produktiver Kritik begleitet und mit seiner breit angelegten For-
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Vorwort
schung in der Theorie und Praxis der Dichtung mein Interesse an literarischen Abenteuern geweckt hat; und nicht zuletzt meinen Studenten an der Universität Oxford für ihre Denkanstöße besonders zu Grundsatzfragen. Für ihre Hilfsbereitschaft danke ich Jill Hughes und den anderen Mitarbeitern der Taylor Institution Library der Universität Oxford sowie den Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Staatsbibliothek zu Berlin. Ferner danke ich dem Arts and Humanities Research Council, der British Academy und dem DAAD für Forschungsstipendien sowie dem Institute of Germanic and Romance Studies für einen Beitrag zu den Publikationskosten. Jesus College Oxford und die Universität Oxford gewährten Forschungsstipendien und Beiträge zu den Publikationskosten sowie einen zweijährigen Forschungsurlaub, ohne den das Projekt auf Teilfragen hätte beschränkt werden müssen. Für die so anregende wie hilfreiche Betreuung in der Publikationsphase danke ich Heiko Hartmann. Zu Dank verpflichtet bin ich vor allem meiner Familie: Ohne die tatkräftige Unterstützung von Tristam Carrington-Windo und die Toleranz von Alice, Eliot und Agnes hätte ich das Projekt nicht fertigstellen können. Ihnen ist das Buch gewidmet. Oxford, Oktober 2006
Katrin Kohl
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Die Macht der Metapher im Diskurs um Sprache, Dichtung und Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Spielraum der Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Platon: Poetik als Agon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Aristoteles: Poetik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Horaz: Poetik als Dichtkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Longinus: Poetik als Widerhall des Erhabenen . . . . . . . . . . . . 5 Die Bibel: »Im Anfang war das Wort« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Der Kampf um die deutsche Dichtung im Zeitalter des Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Nietzsche und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Poetik und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II Das kreative Potenzial der Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Metapher im Bereich der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Spekulative Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Philosophische Aufwertungen von Sprache und Phantasie . . 4 Die Metapher im Bereich der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Metapher als sprachliches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher . . . . . . III Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft . . . . . . . . . 1 Geschichte deutscher Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Formen der Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Medien der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Natur und/oder Kunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient . . . . . . .
29 36 45 53 58 61 74 82 87 96 102 109 116 120 138 146 159 170 190 194 205 228 246 274
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Inhalt
IV Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters . . . . . . 1 Im Inneren des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grenzüberschreitungen: Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . 3 Reden und Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Liebende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Unterhaltung und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Wettstreit und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der Dichter als sittliches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Autor in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Bezüge zum Übernatürlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289 303 309 315 321 328 334 340 348 354 364 374 383 389
V Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Alte und das Neue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grenzen und Hierarchien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bindung und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Vorbilder, Dialoge und intertextuelle Bezüge . . . . . . . . . . . . . 5 Dichtung als gemeinschaftliches Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Dichterbünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kulturstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Rühmung und Ruhm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397 401 416 427 437 452 467 483 505
VI Poetologische Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Otfrid von Weißenburg: Widmungen und Prolog (Evangelienbuch, 863–871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624) . . . . . . 4 Christoph Martin Wieland: Vorrede zu Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) . . . . . . . . . . . . . 5 August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Athenaeum, Band 1 (1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902) . . . . . . . . . . . . . . . 8 Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Kulturkritik und Gesellschaft, 1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik (2004) . .
518 522 534 546 560 572 587 599 611 623
Inhalt
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Perspektiven: »eine oft atemberaubende Bandbreite …« . . . . . . . . . . . 636 Abbildungs- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 1 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 Poetologische Metaphern und Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738
Einleitung Die Macht der Metapher im Diskurs um Sprache, Dichtung und Poetik Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die […] nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.1
Mit seiner provokanten Definition der Wahrheit in der frühen Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne tritt Nietzsche in Dialog mit der platonischen Tradition, um den antiken Kampf zwischen Philosophie und Rhetorik zu erneuern. Ziel des Angriffs ist Platons Wahrheitsbegriff, der den Menschen auf die beständige Förderung des Guten und Schönen sowie das Streben nach rationaler Einheit und Ordnung verpflichtet. Als Waffe benutzt Nietzsche die Metapher, um die platonische Trennung zwischen Denken und Sprache zu unterlaufen und die Überordnung des Denkens zu widerlegen, mit der Platon die Philosophie gegenüber der Rhetorik stark gemacht hatte. Während Platon die Sprache auf die Vermittlung von menschlichem Wissen einschränkt und sie vor der Wahrheit der Dinge letztlich versagen lässt, demontiert Nietzsche die Wahrheit mit rhetorischen Strategien und feiert die Ohnmacht des philosophischen Denkens. Nietzsches Provokation führt mitten in eine Kontroverse, die für das hier zu behandelnde Thema den großen Kontext bietet. Denn die Dichtung steht seit der Antike in einem Spannungsfeld zwischen Philosophie und Rhetorik, Denken und Sprache, und in jenem Kontext vollziehen sich auch die Auseinandersetzungen, welche die deutsche Poetik bestimmen. Gegenüber diesem weitreichenden Umfeld erscheint die Metapher – traditionell ein Mittel des Redeschmucks – als relativ unbedeutendes technisches Beiwerk, das zwar wichtiger Bestandteil dichterischer Sprache ist, aber kaum für die Poetik Relevanz beanspruchen kann. Nietzsches strategischer Einsatz der Metapher deutet jedoch auf ihr enormes kognitives Potenzial und bildet den Anfang ihrer geradezu abenteuerlichen Aufwertung in der Philosophie
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Nietzsche 1967 ff., Abt. 3, Bd. 2, S. 374 f. (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne); s. a. unten, S. 83 f. Zu Nietzsches expliziter Auseinandersetzung mit dem »Phänomen Plato« vgl. beispielsweise ebd., Abt. 6, Bd. 3, S. 149 f. (Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, Abschnitt 2).
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Einleitung
und Linguistik des 20. Jahrhunderts – einer Aufwertung, die auch in der Poetik die Wirkkraft der Metapher erkennbar werden lässt. Klar zutage getreten ist im Prozess dieser Aufwertung die Bedeutung der Metapher für die Interaktion zwischen Denken und Sprache. Vor allem in der Konzeptualisierung und Kommunikation abstrakter Vorstellungen ist sie unerlässlich: Schon Aristoteles stellt fest, die gute Metapher erweise eine besondere Fähigkeit, »Ähnlichkeiten zu erkennen«, und fördere den Wissenserwerb.2 Quintilian bemerkt, sie leiste der Sprache »den allerschwierigsten Dienst, daß nämlich keinem Ding seine Benennung zu mangeln scheine«.3 Und Hegel stellt fest, dass sie durch mehrdeutige Bezüge innerhalb der Sprache »das spekulative Denken« in neue Bahnen zu führen vermag.4 Die Ideen bedürfen der Metapher, um sprachliche Form zu erlangen, und sie werden wiederum durch die Wahl der Metapher strukturiert. Die Metapher lässt sich somit verstehen als kognitiv-sprachlicher Prozess des imaginativen Denkens. Als kreatives Potenzial der Sprache kann sie feste analytische Kategorien in Bewegung bringen und neue Vorstellungen vermitteln. Indem sie das Denken strukturiert, wirkt sie jedoch notwendigerweise auch limitierend, denn sie liefert dem Denken vorgefertigte Bilder und Verbindungen und kann damit zur »Denkfalle« werden.5 Sofern der Metapher ein unbegrenzter kognitiver Spielraum zugestanden wird, bleibt allerdings festzuhalten, dass wir in Hinblick auf abstrakte Zusammenhänge nicht die Wahl haben, ob wir Metaphern benutzen; frei steht uns nur, welche wir wählen. Für die Poetik hat dies wichtige Implikationen, denn in ihr geht es um Prozesse, die zwar im dichterischen Werk einen physischen (hörbaren oder sichtbar-materiellen) Bezugspunkt haben, die jedoch darüber hinaus physisch nicht klar bestimmbar sind und in der Interaktion zwischen Produzent, Werk, Rezipient und Kontext ein höchst komplexes und variables Zusammenspiel von Vorstellungen aktivieren. Dabei ist anzunehmen, dass Dichter als »Sprachbegeisterte«6 besonders dazu neigen, die metaphorischen Möglichkeiten ihrer Sprache auszureizen, und dass sie nicht nur um die strategische Macht der Metapher wissen, sondern diese gerade dort besonders wirksam einsetzen, wo es um ihr eigenstes Projekt geht: die Dichtung.7 2 3 4 5 6 7
Aristoteles 1994, S. 76 f. (Kap. 22; 1459a) und Aristoteles 1995b, S. 190 (III, 10, 2). Quintilian 1995, Bd. 2, S. 218 f. (VIII, 6, 5). Hegel 1986, Bd. 5, S. 114 (Wissenschaft der Logik, 1. Teil, 1. Buch, 1. Abschnitt, 1. Kap., C. c., Anmerkung. Der Ausdruck: Aufheben). S. u., S. 113 f. Eibl 2004, S. 292–301. Novalis 1975 ff., Bd. 2, S. 673 (Monolog). Eine grundlegende und noch immer höchst anregende Arbeit zur poetologischen Metaphorik legte Abrams 1953 mit »The Mirror and the Lamp« vor (Abrams 1971). Er setzt die Ubiquität der Metapher voraus (vgl. ebd., S. 31) und diskutiert unter Bezug auf die Ästhetik der englischen Romantik – sowie punktuell auch die zeitgenössischen deutschen Quellen – ein breites Spektrum von denjenigen Metaphern, die in der gegenwärtigen Studie im Zentrum
Einleitung
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Wenn hier ›poetologische Metaphern‹ erforscht werden sollen, so geht es um Metaphern, mit denen Vorstellungen von Dichtung kognitive Struktur gewinnen und sprachlich vermittelt werden – Vorstellungen, die sinn-, funktions- und identitätsstiftend wirken. Poetologische Metaphern sind zwar als völlig autonome, spontane Konstrukte vorstellbar, typischerweise sind sie jedoch Teil eines argumentativen Prozesses. Insofern beziehen sie ihre spezifische Bedeutung und Wirkung aus dem Bezug zum diskursiven Kontext. In dieser Einleitung soll es daher vor allem darum gehen, den schon eingangs angesprochenen Kontext der Poetik in den Blick zu bekommen und nicht zuletzt die wissenschaftlichen Vorgaben zu beleuchten, welche die Betrachtung von Poetik bestimmen. Dabei ist die Beziehung zwischen Denken und Sprache sowohl hinsichtlich der Poetik als auch hinsichtlich der Metapher zentral. Denn jede Bestimmung der Dichtung impliziert zugleich eine Aussage zum Status von Denken einerseits und Sprache andererseits, so wie auch die Bestimmung der Metapher von der vorausgesetzten Beziehung zwischen Denken und Sprache abhängt. In den folgenden Kapiteln stehen die Formen und Funktionen der Metapher in der Diskussion um Dichtung von der Autorpoetik bis hin zur Rezeptionspoetik im Vordergrund; hier sollen auch jene Metaphern beleuchtet werden, welche die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Dichtung strukturieren. Nietzsches eingangs zitierte Destabilisierung der ›Wahrheit‹ mittels der Metapher ist eine kleine Episode in einem Wettstreit, der für die abendländische Poetik von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, da er den Status der Dichtung in Bezug auf die für das wahrheitsorientierte Denken zuständige Philosophie einerseits und die für sprachliche Wirkung zuständige Rhetorik andererseits bestimmt, wobei beide Disziplinen die Autorität über das Denken und die Sprache beanspruchen. Der zentrale spannungserzeugende Akt in diesem Wettstreit ist Platons virulente Attacke gegen die Dichter in seiner Politeia – ein Angriff, der zu seinem Kampf gegen die Sophisten in Beziehung steht und sich vor allem gegen die wirkmächtigen Epen Homers richtet: »Plato’s contest with Homer is the central agon of Western literature«,8 bemerkt Harold Bloom unter Bezug auf einen in der rhetorisch orientierten Schrift Vom Erhabenen ausgeführten Topos.9 Die Grundlegung
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stehen sollen (vgl. z. B. zur Behältermetaphorik ebd., S. 47–53 u.ö.). Wenn auch sein Thema eine Orientierung am ›Neuen‹ in der Romantik nahelegt (z. B. ebd., S. vii), so steht doch vor allem die Kontinuität der Tradition im Vordergrund, und insgesamt werden auf eindrucksvolle Weise die großen Zusammenhänge deutlich. Bloom 1997, S. xxiv. Blooms Bemerkung im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches skizziert eine Revision seiner vorherigen, auf die Romantik fokussierten Auffassung des Agon. Longinus 1988, S. 40–43 (13, 3 f.). S. u., S. 44.
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Einleitung
der Philosophie erfolgt somit im Geiste des Wettkampfs,10 und als Gegner gelten jene, die sich der Macht der Sprache verschreiben. Wenn Platon die Dichter aus seinem von Philosophen zu regierenden Idealstaat verbannt, weil sie zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beizutragen vermögen, so geht dies mit einer systematischen Privilegierung des Denkens und einer Nachordnung der Sprache einher. Der Metapher kommt in einer platonisch geprägten Sprachauffassung bestenfalls eine dekorative oder stilistisch verdeutlichende Funktion zu, schlimmstenfalls verkörpert sie die Tendenz des Dichters zur Lüge.11 Die diskursstiftende Produktivität des platonischen Aktes für die deutsche Poetik lässt sich aus dem Frontispiz von Andreas Tschernings 1642 erschienener Gedichtsammlung Deutscher Getichte Früling ersehen, wo er der Leistung von Martin Opitz ein Denkmal setzt.12 Die Darstellung von Platons Vertreibung der Dichter aus seinem Idealstaat bei Tscherning rekurriert ikonographisch auf die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies; Opitz ist der Messias-ähnliche Retter, dem der Gott Apollon die Leier anvertraut; und das neue Reich ist der kultivierte Garten der Dichtung – ein grenzenlos weit am schlesischen Boberfluss sich erstreckender Ziergarten, der zum fragmentierten, kriegsverheerten deutschen Territorium in denkbar größtem Gegensatz steht. Auch die ›moderne‹ Dichtung konstituiert sich aus dem von Platon initiierten Machtkampf heraus, beispielsweise wenn Percy Bysshe Shelley in der so traditionsreich13 wie programmatisch betitelten Abhandlung A Defence of Poetry die These von Thomas Love Peacock zu widerlegen sucht, man solle sich zur Verbesserung der Welt den neuen Wissenschaften statt der nutzlosen Poesie widmen.14 Shelley gibt demgegenüber der Poesie die Priorität: »Poetry […] is that which comprehends all science, and that to which all science must be referred.«15 Er überträgt hier die von Cicero für die Rhetorik beanspruchte, 10
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Kraut betont den anhaltend kontroversen Charakter der Schriften Platons (1992, S. 2) und wendet sich damit gegen ein vielzitiertes Bonmot von Alfred North Whitehead: »The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato« (Whitehead 1978, S. 39; dazu Kraut 1992, S. 32). Zum Topos des Dichters als Lügner in der Antike vgl. Fuhrmann 1973, S. 82–85, und Curtius 1993, S. 224. Nietzsche greift ihn in seinen »Dionysos-Dithyramben« auf (Nietzsche 1967 ff., Abt. 6, Bd. 3, S. 375–378; Dionysos-Dithyramben, Nur Narr! Nur Dichter!). Tscherning 1642, Frontispiz. Wenn Wiedemann die Allegorik dieses Titelkupfers als »naiv« bezeichnet (1972, S. 180), so verkennt er die traditionsstiftende Bedeutung solch topischer Verbindungen von Antike und Neuzeit. Zu dem für das Opitzsche Projekt zentralen Gegensatz zwischen der tatsächlich kriegsverheerten Landschaft und dem von Tscherning dargestellten Ziergarten vgl. Kaminski 2004, S. 29. Vgl. Philip Sidneys »The Defence of Poesy« von 1595 (Sidney 2002). Vgl. den Kommentar des Herausgebers in Shelley 2002, S. 509 f. Peacocks Schrift erschien 1820. Shelley verfasste seine Replik 1821, veröffentlicht wurde sie jedoch erst postum 1840. Zur Bedeutung von Platon für die englische Romantik vgl. Abrams 1953, passim. Shelley 2002, S. 531 (A Defence of Poetry, Abschnitt 39).
Einleitung
Frontispiz in Andreas Tscherning: Deutscher Getichte Früling. Breslau: Bauman 1642
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alle Wissenschaften umfassende Universalität auf die Dichtung.16 Gerechtfertigt wird diese Universalität nicht nur mit Bezug auf die Sprache, sondern vor allem unter Betonung des Erkenntniswerts der Dichtung, der durch die Metaphorizität des poetischen Mediums gewährleistet wird: »Their [the poets’] language is vitally metaphorical; that is, it marks the before unapprehended relations of things, and perpetuates their apprehension.«17 Wie Nietzsche lässt Shelley die Sprache mit dem Denken interagieren, er nutzt jedoch diese Interaktion, um die von Platon den Philosophen zugesprochene Leitfunktion programmatisch auf die Dichter zu übertragen: Seine Abhandlung endet mit dem Diktum »Poets are the unacknowledged legislators of the World.«18 Die Dichtung erringt hier den Sieg über Rhetorik und Philosophie. Es mag scheinen, als ob dieser Machtkampf seit der Romantik ad acta gelegt sei, da die Dichtung sich aus dem Zugriff der Rhetorik gelöst hat und fortan auch gegenüber der Philosophie einen ›autonomen‹ Status beanspruchen kann. Der Schein trügt jedoch – insbesondere in der vom Idealismus geprägten deutschsprachigen Tradition. Gerade die in der Forschung gerne weiter tradierten Topoi von den ›Fesseln‹ der Rhetorik und der ›Autonomie‹ der Dichtung19 zeigen die Macht, welche die Philosophie mittels der im Idealismus gründenden Ästhetik und Literaturwissenschaft über die Dichtung und Poetik ausübt. Es ist eine Macht, die tendenziell zu einer immer weiter ausdifferenzierten Abgrenzung von Teilbereichen führt, wie aus der Wandlung der Definition von ›Poetik‹ in den letzten Jahrzehnten deutlich wird. Im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte hatte Bruno Markwardt den Begriff 1977 umfassend als »Theorie der Dichtkunst« definiert:20 »Nach dem von der P[oetik] jeweils gewählten und bevorzugten Blickwinkel kann man unterscheiden: Anweisungspoetik, Schaffenspoetik, Wirkungspoetik und in weiterem Umkreis ›werkimmanente Poetik‹.«21 In der programmatisch umbenannten Neuauflage des Werkes, dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, sind im semantischen Umfeld des Begriffs Poetik die Artikel »Literaturtheorie« und »Ästhetik« hinzugekommen,22 und Harald Fricke definiert »Poetik« nun unter Ausschluss dieser 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 22 f.). Die Stellenangaben in der Ausgabe von Merklin (z. B. III, 22 f.) sind gegenüber Standardausgaben vereinfacht. Angegeben wird hier jeweils die vollständige Form. Shelley 2002, S. 512 (A Defence of Poetry, Abschnitt 3). Ebd., S. 535 (Abschnitt 48). Vgl. beispielsweise Haug, der die Poetik des Mittelalters mittels des (aristotelisch fundierten) Fiktionsbegriffs aus den »Fesseln der Rhetorik« zu befreien sucht (Haug 1992, S. 14); zur »Autonomie« der Literatur vgl. Luhmann 1997, S. 295 u.ö.; s. a. unten, S. 10 f. Markwardt 1977, S. 126. Ebd., S. 127. Weimar, Fricke u. a. 1997–2003, Bd. 2, S. 482–485 und Bd. 1, S. 15–19. In der älteren Ausgabe ist ein Lemma »Literaturtheorie« nicht aufgeführt, und der Begriff »Aesthetik«
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Kategorien als »Reflexion auf Prinzipien des dichterischen Schreibens«.23 Damit schränkt er die Poetik unter Ausblendung ihrer Sprachlichkeit auf einen kognitiven Prozess und unter Ausgrenzung von Text und Rezipient – also der Wirkung von Literatur – auf die Autorperspektive ein. Eine weitere Einschränkung unternimmt er mit der Unterscheidung dreier »Hauptbedeutungen«, von denen er zwei aus dem Begriff ausgrenzt: Demnach soll der Begriff »Poetik« fortan nur die normative Anweisungspoetik bezeichnen, »Schreibweise« die immanente Poetik und »Poetologie« die philosophisch orientierte Beschäftigung mit dem Schreiben von Literatur.24 Eine solchermaßen ausdifferenzierte Terminologie überwindet scheinbar die geschichtliche Variabilität der Begriffe und ihrer Bedeutungen. Säuberlich trennt sie die philosophische Theorie von der praktischen Normgebung einerseits und der Anwendung in der dichterischen Praxis andererseits. Gefestigt wird damit die zeitlose Vorrangstellung einer philosophischen Literaturbetrachtung. Denn die nun betont wissenschaftlich sich gebende »Poetologie« – in terminologischer Anlehnung an Soziologie, Biologie usw. – erscheint als einzige Variante der Poetik, die modernen wissenschaftlichen Kriterien genügen kann: Sie allein ist »rein deskriptiv« und vermag sich umfassend mit »vergangenen, gegenwärtigen oder zeitübergreifenden Grundsätzen, Regeln, Verfahrensweisen« zu beschäftigen.25 Fricke erwähnt zwar ihre tatsächliche Zeitabhängigkeit, entkräftet diese jedoch teleologisch durch den wissenschaftlichen Fortschritt: »Sie konnte sich offenbar erst ab dem 18. Jh., also Hand in Hand mit dem zunehmend skeptisch-reflexiven Potential der Aufklärung entwickeln«26 – die Entwicklung fand im Idealismus ihre Kulmination. Frickes implizite Orientierung an der idealistischen Philosophie dürfte auch die Fokussierung auf das dichtende Subjekt unter Ausblendung der Rezeption erklären, denn es manifestiert sich hier die Tradition der hegelschen Ästhetik. Übrig bleibt ein extrem reduzierter Diskurs um Literatur. Denn die als »explizit normierendes System poetischer Regeln«27 verstandene »Poetik« kann in der modernen, fortlaufenden Literaturdiskussion allenfalls historisches Interesse beanspruchen; und auch die immanente Poetik scheidet aus dem theoretischen Diskurs aus, wenn Fricke mit dem Terminus »Schreibweise« jeglichen reflexiven Aspekt negiert und diese Variante zudem dadurch kennzeichnet, dass ein Autor, Text oder Genre ihren Maximen »stillschweigend« folgt.28
23 24 25 26 27 28
erscheint in Form von »Literatur und Aesthetik«, wodurch die Beziehung zwischen Praxis und Theorie in den Vordergrund rückt (Kohlschmidt/Mohr, Bd. 2, S. 79–82). Fricke 2003, S. 100. Ebd., S. 100 f. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 100 f.
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Dass der Versuch einer ahistorischen, stabilen und genauen Bestimmung des Begriffs »Poetik« und der benachbarten Begriffe kaum sinnvoll sein dürfte, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass das Wort »Poetik« erst zu dem Zeitpunkt in der deutschen Literaturdiskussion aktuell wurde, als die Regelpoetik ihren normgebenden Status eingebüßt hatte und sich allmählich eine philosophisch orientierte Literaturbetrachtung etablierte.29 Selbst der relativ neue Begriff »Poetologie« ist dem Bereich der Wissenschaft bereits entglitten, so wenn Friederike Mayröckers Autorpoetik Magische Blätter sich dem Leser als »poetische Miniaturen zur Poetologie« präsentiert.30 Problematisch ist jedoch Frickes normstiftende Begriffsbestimmung vor allem deshalb, weil sie auf eine Fragmentierung des poetologischen Diskurses hinausläuft, die idealistische Grenzziehungen fortführt und eine keineswegs wertfreie Theorie von der Literatur zum absoluten Maßstab erhebt.31 Die in der Literaturwissenschaft oft kaum hinterfragten Prämissen und Implikationen solcher Grenzziehungen lassen sich anhand von Hegels Unterscheidung zwischen Kunstwerk und Nicht-Kunstwerk in seinen Vorlesungen über die Ästhetik verfolgen. Im Abschnitt »Die poetische Sprache überhaupt« sucht er der poetischen Sprache weitmöglichst sowohl vertikal als auch horizontal einen eigenen geistigen Bereich zu sichern – das »Gebiet der Phantasie«, wodurch wiederum die Phantasie von anderen Bereichen ausgeschlossen wird: Die Kunst soll uns in allen Beziehungen auf einen anderen Boden stellen, als der ist, welchen wir in unserem gewöhnlichen Leben sowie in unserem religiösen Vorstellen und Handeln und in den Spekulationen der Wissenschaft einnehmen. In betreff auf sprachlichen Ausdruck vermag sie dies nur, insofern sie auch eine andere Sprache führt, als wir sonst schon in jenen Sphären gewohnt sind. Sie hat deshalb 29
30 31
Die Begriffsgeschichte ist insofern besonders komplex, als bis ins 18. Jahrhundert die lateinische Terminologie miteinzubeziehen ist und die terminologischen Grenzen zwischen wissenschaftlicher Poetik, Regelpoetik und Dichtung nicht eindeutig sind (s. u., S. 87–89). Vgl. auch Blume, Wiegmann u. a. 1989. So im Verlagstext vor der Titelseite des zweiten Bandes (Mayröcker 1987, S. [2]). Vgl. auch Bodo Kirchhoffs Verwendung des Begriffs »Poetologie« in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (Kirchhoff 1995, S. 95; Schreiben und Narzißmus). Einen weit offeneren Begriff von ›Poetik‹ macht dagegen Pott geltend (2004, bes. S. 1–10). Indem sie poetologische Voraussetzungen der frühen Neuzeit aktualisiert und Poetik unter Einbezug von »gelehrten, wissenschaftlichen, didaktischen und literarischen« Texten erkundet (ebd., S. VI), wird für das ›lange 19. Jahrhundert‹ die komplexe Partizipation der verschiedenen Disziplinen am Diskurs um Dichtung deutlich. Es geht ihr um Poetik als »Wissensgebiet« (ebd., S. 3), wodurch sich andere Fragestellungen ergeben als im gegenwärtigen Kontext. Da sie jedoch nah am literarischen Text die wechselnden Beziehungen zwischen poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik untersucht, bietet ihre Studie hochinteressante und hier relevante Einblicke in die vielfältigen poetologischen Ansätze zwischen Romantik und Moderne. Als Ergebnis ihrer von Novalis bis Rilke reichenden Studie konstatiert sie »eine Vielfalt von Poetiken, die sich rege und über die Gattungsgrenzen miteinander austauschen« (ebd., S. 3).
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nicht nur auf der einen Seite das in ihrer Ausdrucksweise zu vermeiden, was uns in das bloß Alltägliche und Triviale der Prosa herunterziehen würde, sondern darf auf der anderen Seite auch nicht in den Ton und die Redeweise der religiösen Erbaulichkeit oder der wissenschaftlichen Spekulation verfallen. Vor allem muß sie die scharfen Sonderungen und Relationen des Verstandes, die Kategorien des Denkens, wenn sie sich aller Anschaulichkeit entkleidet haben, die philosophischen Formen der Urteile und Schlüsse usf. von sich fernhalten, weil diese Formen uns sogleich aus dem Gebiete der Phantasie in ein anderes Feld hineinversetzen.32
Hegel tradiert hier ein Prinzip, das sich schon in der Rhetorik von Aristoteles findet – »daß zu einer jeden Redegattung ein anderer sprachlicher Ausdruck paßt,« wobei sich Aristoteles auf die Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Rede sowie auf das Publikum (Volksrede gegenüber Gerichtsrede) bezieht.33 Entsprechend lehnt Hegel in Einklang mit dem aptumPrinzip eine »bilderreiche« und »geschmückte« Diktion besonders für einen »prosaischen Inhalt« ab.34 Wenn er dann einräumt, dass »die Grenzlinie, an welcher die Poesie aufhört und das Prosaische beginnt«, nicht mit »fester Genauigkeit« bestimmbar ist,35 so wird zudem deutlich, wie er die Poesie unter Bezug auf die rhetorische Stillehre über die Prosa erhebt. Philosophisch untermauert werden die stilistischen Unterscheidungen jedoch durch die Übertragung auf den Gehalt. Die visuell-räumliche Metaphorik von »Boden« und »Feld« führt eine auch von Kant in seiner Kritik der Urteilskraft verwendete Raummetaphorik fort,36 um gewissermaßen horizontale Grenzen zwischen den Disziplinen zu ziehen. Verhindert werden dadurch graduelle sprachliche Übergänge, indem jeder Disziplin der allein gültige Stil zugesprochen wird; verbindend ist einzig die grundsätzliche Ablehnung »absichtlich« scheinender »sprachlicher Geschicklichkeit und rhetorischer Effekte«.37 Damit stellt sich Hegel besonders zu Cicero in Opposition: Wie schon oben angesprochen, hatte dieser die alle Diskurse umfassende Universalität und Einheit der Rhetorik proklamiert – mit der heraklitischen Metapher des Flusses.38 Indem sich die idealistische Philoso32 33 34
35 36 37 38
Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt). Aristoteles 1995b, S. 199 (III, 12, 1; 1413b). Hegel 1986, Bd. 15, S. 287 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.c., Unterschiede in der Anwendung der Mittel). Negativ hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang der Prosastil Herders und Schillers. Bezeichnenderweise war der Sophist Gorgias dafür bekannt, dass er Techniken des poetischen Stils in der Prosa anwandte – Aristoteles kritisiert die Bewunderung solcher Rede als Merkmal des Urteils von »Ungebildeten« (Aristoteles 1995b, S. 168; III, 1, 9; 1405a). Hegel 1986, Bd. 15, S. 284 (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt). Kant 1908, S. 174–176 (Einleitung, II: Vom Gebiete der Philosophie überhaupt). Hegel 1986, Bd. 15, S. 287 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.c., Unterschiede in der Anwendung der Mittel). Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 22 f.).
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phie in Opposition zur Rhetorik definiert, wird diese aus dem fortan philosophisch bestimmten Diskurs um Dichtung ausgeschaltet. Zugleich wird die Dichtung als Praxis von einem fortan ›rein‹ theoretischen Diskurs um Dichtung ausgegrenzt. ›Autonomie‹ gilt hinfort als Wesensbestimmung der Dichtung und die Sicherung ihrer Autonomie als Aufgabe der Philosophie; anerkannt ist Hegels – von Alexander Gottlieb Baumgarten, Kant und anderen Philosophen vorbereitete – Rolle als ›Befreier‹ der »Ästhetik aus dem engen Rahmen der Geschmackskritik und Kunstrichterei«.39 Die voridealistische Welt wird damit zu einem Zeitalter geistiger Enge, in dem gesellschaftliche Ansprüche die Kunst hemmten und unterdrückten. Die Gleichsetzung des Anfangs der ›modernen‹ Literatur mit dem Zeitalter des Idealismus lässt dieses als stabiles, philosophisch und damit wahrheitsgemäß legitimiertes Fundament der modernen Literatur erscheinen. Die vielfältigen Möglichkeiten des poetologischen Diskurses, die in den spannungsvollen Debatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diskutiert wurden und durchaus weiterhin eine Rolle spielen, verschwinden in einer solchermaßen linear konstruierten Literaturgeschichte aus dem Blickfeld. Als neuere Ausprägung dieser Entwicklung ist die Kunsttheorie von Niklas Luhmann zu sehen, die in wichtigen Aspekten eine Fortführung des idealistischen Ansatzes darstellte und vermutlich nicht zuletzt deshalb einen hohen Status auch in der Literaturwissenschaft erlangte. In Die Kunst der Gesellschaft setzt Luhmann die Bestimmung der Literatur als Kunst absolut, indem er die Literatur zum »Teilsystem« des »Kunstsystems« erklärt.40 Grundlage ist die aristotelische Vereinigung der Künste einschließlich der Dichtung, wie Batteux sie 1746 programmatisch verkündet hatte;41 Maßstab ist die Autonomieästhetik, wie sie sich aus der Poetik des Idealismus und der Romantik ableiten lässt. Luhmann legitimiert entsprechend mit Bezug auf Friedrich Schlegel42 die Subsumierung der Literatur unter den Kunstbegriff und koppelt das Rezipieren der »Textkunst« von alltagssprachlichen Rezeptionsprozessen los. Entscheidend ist ihm der Gegensatz zum »Lesen«: 39 40
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So Bubner in seiner Einführung zu der weit verbreiteten Reclam-Auswahlausgabe von Hegels »Ästhetik« (Bubner 1971, S. 20). Luhmann 1997, S. 292 u. passim. Dem »Reallexikon der Literaturwissenschaft« zufolge ist der Begriff »Literatursystem« mittlerweile für die Literaturgeschichtsschreibung »unentbehrlich […], sofern sie mehr sein will als annalistisch geordnete Addition von Text-/AutorenMonographien« (Titzmann 2000, S. 480). Dass der Begriff für die Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung produktiv sein kann, soll hier nicht in Abrede gestellt werden; abzulehnen ist jedoch die bereits bei Luhmann angelegte Tendenz zu festen Abgrenzungen sowie vor allem der Absolutheitsanspruch. Batteux 1746. S.a. Gottsched 1754. Luhmann 1997, S. 46, mit Verweis auf Friedrich Schlegels im »Athenaeum« (1800) erstveröffentlichtes »Gespräch über die Poesie« (Schlegel 1958 ff., Bd. 2, S. 284–351).
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Wie immer man sich […] die Beteiligung des Bewußtseins vorzustellen hat: es wäre sehr irreführend, sie unter den Begriff des Lesens zu subsumieren. Eher geht es darum, herauszufinden, welche Wortklänge und Sinnverweisungen einander wechselseitig erschließen. […] Worte werden als Medium verwendet und nicht im Hinblick auf einen eindeutig-denotativen Sinn.43
Indem Luhmann das »Lesen« auf »eindeutige«, paraphrasierbare Information reduziert, die »wahr oder falsch sein kann«, errichtet er implizit mittels des Fiktionsbegriffs eine Trennwand zwischen »Wortkunst« und anderen Diskursen.44 Normativ erklärt er diese Trennung nicht nur zum Kennzeichen moderner Dichtung, sondern zur Erfüllung einer zeitlosen Bestimmung literarischer Texte schlechthin: »Daß es explizit unlesbar gemachte Texte gibt, wird jeder Kenner der modernen Literatur wissen. Aber damit ist nur eine Beschränkung auf das forciert, worum es schon immer gegangen war.«45 Andernorts kommentiert Luhmann die Problematik einer solchen Subsumierung besonders in Bezug auf Mittelalter und Renaissance, um dem »Kunstsystem« jedoch eine erst am Ende des 18. Jahrhunderts sich etablierende organische Eigengesetzlichkeit zuzusprechen, die es erlaubt, auch die Literatur organisch in seine »auf Universalität abzielende Gesellschaftstheorie« zu integrieren:46 Und doch kann man Zusammenhänge nicht ignorieren, die […] im Kunstsystem selbst wurzeln. Das führt auf die Hypothese, daß die Einheit der Kunst erst im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung eines Kunstsystems entstanden ist und darin ihren Grund hat.47
Die Zirkularität der Beweisführung suggeriert eine Kohärenz, welche die mit der »Ausdifferenzierung« sich ergebende »Autonomie« des Teilsystems Literatur – und das heißt tendenziell ihre Abgrenzbarkeit – als einzige Möglichkeit wahrer Literatur erscheinen lässt48 und die »Ästhetik« als einzige Möglichkeit ihrer Reflexion.49 Ausgeblendet wird durch das Modell von der Literatur als System die Vielstimmigkeit eines wandlungsfähigen, offenen Diskurses, der durch die komplexe Interaktion, Verflechtung und Verschmelzung beispielsweise mit Religion, Politik, Wissenschaft, Musik oder Malerei ständig verändert und bereichert wird. 43 44 45 46 47 48 49
Luhmann 1997, S. 46. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 10. Ebd., S. 290. Ebd., S. 295 u.ö. Ebd., S. 291. Vgl. beispielsweise die Fragestellung zur Poetik der Moderne im »Historischen Wörterbuch der Rhetorik«: »Eine wichtige und noch nicht abschließend beantwortete Frage […] ist, […] wie im Zusammenhang moderner funktionaler Differenzierung die Stellung ästhetischer und literarischer Autonomie zur jeweiligen Autonomie der ausdifferenzierten politischen, ökonomischen und kulturellen Subsysteme zu beurteilen ist« (Uwe Hebekus in Till, Rösler u. a. 2003, Sp. 1384).
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In Hinsicht auf die poetische Praxis sowie den praxisnahen poetologischen Diskurs haben sich die von Kant bis Hegel entworfenen und in der Literaturwissenschaft tradierten Abgrenzungen nicht durchgesetzt, zumal die Experimentierfreudigkeit der Dichter zeitgleich und in Interaktion mit der idealistischen Philosophie der Dichtung einen breiten Spielraum sicherte; dieser erlaubt es den Dichtern, in der Arbeit mit Idee und Sprache immer wieder andere Möglichkeiten des Umgangs mit philosophischen und rhetorischen Ansätzen zu entwickeln. Dabei bedienten sich vor allem die Dichter der Geniezeit und Romantik der Abgrenzung von den Hofdichtern einerseits und den Gelehrten andererseits, um ihre Besonderheit zu legitimieren – wobei diese nicht selten darin gründete, dass sie gesellschaftlich im Abseits standen. Die »absolute Autonomie« ist bis heute produktiv geblieben »als Idee, als Konzeption« und als eine jener »Vorstellungen von etwas, das man sich nur als Vorstellung vorstellen kann«.50 Ihre poetologische Wirkkraft bezieht die Autonomie somit gerade aus der Unmöglichkeit ihrer Realisierung: Noch in dem vom Alltagsdiskurs am weitesten entfernten ›konkreten‹ Gedicht bleiben »durch das Material, aus dem es gemacht ist, und durch die Art, wie es funktioniert,« »Verbindungen« erhalten »zur Sprache, wie wir sie zu kennen gewohnt sind, und zur Welt, wie wir sie zu kennen gewohnt sind«.51 Wenn die Literaturwissenschaft die Autonomie der Literatur als Tatsache voraussetzt, verstellt sie sich den Blick sowohl für die Verbindungen als auch für die brisanten Spannungen, aus denen sich Literatur konstituiert. Für die deutsche Literaturwissenschaft wurde die von Hegel so dezidiert gezogene Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft geradezu axiomatisch, zumal der Wissenschaftsbegriff eine Kongruenz der Fragestellungen zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften suggerieren konnte. Diese Tendenz wurde in der Germanistik der Nachkriegszeit eher noch verstärkt, und zwar in dem Maße, wie die humanistisch gegründete philologische Tradition ihren ehemals hohen Status einbüßte. Im wissenschaftlichen Kontext ist die Sprache dem sprachunabhängigen Wissen als bloßes Kommunikationsvehikel untergeordnet. Signalisiert werden die Allianzen der Literaturwissenschaft durch einen betont unpersönlichen, unemotionalen, schmucklosen Stil, der sich an Fachspezialisten wendet und sich von der vielfältigen, Kognition, Emotion und Imagination affizierenden Sprache des zu untersuchenden Gegenstands durch das Ansprechen allein der Ratio weitmöglichst unterscheidet. Die Dominanz idealistisch orientierter Ansätze im Selbstverständnis der deutschen Literaturwissenschaft verstärkt eine allgemeine wissenschaftliche 50 51
Jandl 1999, S. 145 (Mitteilungen aus der literarischen Praxis, 2: Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie). Ebd., S. 146.
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Tendenz zur Abgrenzung und Aufwertung des eigenen Forschungsobjekts. Karl Eibl diskutiert solche Tendenzen aus anthropologischer Perspektive in seinem anregenden Buch Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kulturund Literaturtheorie unter Bezug auf wechselnde Priorisierungen von ›Natur‹ und ›Kultur‹.52 Dabei sieht er »Aspekt-Monopolisierungen« als Ausprägung eines »grundsätzlichen Hemmnisses«, das er spekulativ auf das menschliche Genom zurückführt:53 Es fällt uns schwer, mehrfaktoriell zu denken, und wo wir dazu gezwungen sind, versuchen wir doch sogleich, Prioritäten zu konstruieren, die die Situation wieder eindeutig machen. Das war sicherlich eine evolutionär erfolgreiche kognitive Verfahrensweise […]. Aber je komplexer die Gegenstände sind, mit denen wir uns befassen, desto unangemessener werden die archaischen Vereinfachungen.54
Die Neigung, kulturelle Differenzierung als Aufspaltung in hierarchisch gegliederte, abgegrenzte beziehungsweise abgrenzbare Territorien zu verstehen, lässt sich als eine solche Vereinfachung fassen.55 Die dabei eingesetzten »Abschließungs- und Marginalisierungstechniken« haben das Ziel, »die eigene Domäne letztlich zur Totalität [zu] erklären«.56 So gesehen dient die Konstruktion literaturgeschichtlicher ›Brüche‹ nicht zuletzt der Abgrenzung und Legitimation der eigenen (Teil-)Disziplin. Vor allem die ›Epochenschwelle‹ um 1770 erlaubt es, die Literatur vor Goethe aus ›unserer‹ Zeit auszuschließen, wodurch sich die Möglichkeiten der Dichtung auf ein überschaubares Maß reduzieren und die ›moderne‹ Literatur gegenüber der ›alten‹ nicht nur avanciert erscheint, sondern als die für die ›Jetzt‹-Zeit einzig relevante Tradition. Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Abgrenzung nationaler beziehungsweise sprachspezifischer Literaturtraditionen: Hier ist offensichtlich, dass die disziplinären Grenzziehungen prinzipiell territorialen Grenzen entsprechen und nationalkulturelle Legitimationsbedürfnisse tradieren. Wenn einerseits konstatiert werden muss, dass der Mensch nicht ohne mentale Vereinfachungen denken kann und mentale Abgrenzungen daher Teil eines jeden Diskurses sind, so ist andererseits immer wieder zu reflektieren, dass diese Grenzen keine objektive Realität beanspruchen können, sondern apologetisch motiviert sind. Es ist daher nicht sinnvoll, ein Modell mit dem Ziel der Stabilisierung immer weiter auszudifferenzieren. Um Prozesse und Kontinuitäten vorstellbar zu machen, ist es vielmehr notwendig, etablierte Modelle immer wieder in Frage zu stellen und neue zu entwerfen.
52 53 54 55 56
Eibl 2004, S. 9–11 u. passim. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Zur grundsätzlichen Bedeutung von ›Grenzen‹, ›Unterscheidungen‹ und ›Hierarchisierungen‹ für die Systemtheorie vgl. Luhmann 1987, bes. S. 35–41. Eibl 2004, S. 10.
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Wenn die im Zeitalter des Idealismus vorgenommenen Ab- und Ausgrenzungen als anregende Argumente statt als stabile Wahrheiten begriffen werden, erweitert sich schlagartig die begeh- und bebaubare Landschaft. Möglich wird dann eine Flurbereinigung, aber auch eine mentale Verwandlung der Landschaft in ein Universum oder einen Organismus, in einen Dialog, einen Wettkampf oder ein Spiel. Auch in Hinblick auf Literatur vor der ›Epochenschwelle‹ werden unter rhetorischem Aspekt alternative Sichtweisen möglich und damit Kontinuitäten erkennbar, die durch die Ausrichtung der Literaturgeschichtsschreibung an idealistischen Kunstvorstellungen verdrängt oder fragmentiert worden sind. Dass hier ein anderes – und aus postmoderner Perspektive wieder interessant gewordenes – Schreiben und Lesen wirksam ist, ergibt sich aus den Beziehungen zwischen den poetologischen Werken der Antike und der frühen Neuzeit: Sie bilden gemeinsam ein komplexes Netzwerk, das »nicht so sehr als ein Entwicklungsprozeß aufzufassen ist«, sondern eher als »vielfältige Variation der Grundproblematik«.57 Die Geschichte deutschsprachiger Poetik ist dann erfassbar nicht nur als linear sich vollziehender ›Fortschritt‹, bei dem die poetologischen Konstellationen der Jetztzeit als gültiger Maßstab vorausgesetzt werden, sondern als Anregung für die rezeptive Imagination, die über Zeiten hinweg Verbindungen schaffen kann. In Bewegung geraten die Begriffe, wenn »das Zeichen kein Stellvertreter ist, sondern ein produktiv-poetischer Akteur«.58 Denkbar sind diachronische Modelle mit Traditionsströmungen, die auch die vermeintliche Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit in Frage stellen. Vorstellbar sind aber auch nicht-lineare Modelle: beispielsweise Dichtung als ›Gewebe‹,59 Literaturen als »vernetzte Räume mit eigenen Kartographien«60 und poetologische Texte als »verschlungene Pfade […] auf der weitläufigen Landkarte des Wissens«.61 Auf diese Weise gewinnt »die für die deutsche Literatur typische Geschichte von Diskontinuitäten«62 eine andere Gestalt. Das Potenzial nicht-linearer Metaphern für die Revision unserer Vorstellung von Dichtung zeigte bereits Roland Barthes in seinem Aufsatz La mort de l’auteur von 1967/1968. Er nutzte die Metapher vom ›Gewebe‹, um 57 58
59 60 61 62
Szyrocki 1977b, S. 256. Mülder-Bach 1998, S. 17. Diese bedeutende Untersuchung arbeitet unter Bezug besonders auf Herder, Lessing und Klopstock anhand des Pygmalion-Topos die »Reinterpretation von Leitbegriffen der rhetorischen und poetischen Tradition« heraus (ebd., S. 19). Ziel ist die Hervorhebung eines poetologischen Topos, an dem sich das »Ende des klassischen Modells der Repräsentation« und die Etablierung der »modernen Ästhetik« verfolgen lässt (ebd.). Mit den gleichen Texten ließe sich allerdings auch die Kontinuität der antiken Tradition über die ›Epochenschwelle‹ hinweg belegen. Vgl. Greber 2002. Böhme, Mülder-Bach u. a. 2004. Pott 2004, S. VI. Schlaffer 2002, S. 146.
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linear angeordnete Wörter in einen ›vieldimensionalen Raum‹ zu projizieren und die monologischen Botschaften gottgleicher Autoren in Schreibweisen und Zitate zu verwandeln, die sich ›vermählen und bekämpfen‹: Nous savons maintenant qu’un texte n’est pas fait d’une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le »message« de l’AuteurDieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n’est originelle: le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture.63
Barthes sensibilisiert hier seine Leser für die kognitive Macht der Metapher und setzt zugleich performativ Metaphern ein, um nach durchaus bewährtem Muster ›veraltete‹ Vorstellungen vom Text durch ›aktuelle‹ zu ersetzen. Seine Loslösung des Textes von einer autoritativen Instanz geht einher mit der Öffnung des Textes für die vielfältigeren Kräfte der kollektiven Kultur. Der Text wird damit zum Spielball eines für postmoderne geistesgeschichtliche Konstellationen typischen Relativismus. Die Verabschiedung des Autors erscheint am Anfang des 21. Jahrhunderts allerdings bereits historisch, was dem Relativismus gewissermaßen eine potenzierte Bedeutung verleiht, denn wenn auch der Autor seine Attraktivität zurückgewonnen hat, so ist dies nicht mit einer Wiederherstellung seiner Autorität einhergegangen. Wenn das vorliegende Projekt dazu anregen will, im Zuge einer Erforschung der Vielfalt poetologischer Metaphern zugleich gängige literaturwissenschaftliche Metaphern zu relativieren, so ist dieses Unterfangen der Reflex einer umfassenden Destabilisierung mentaler Muster und Prioritäten. Möglicherweise verdeutlichen gegenwärtig gerade die rapide sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen die Produktivität metaphorischer Übertragungsprozesse, da wir für neue Konstellationen in unserer Umwelt neue Möglichkeiten der Konzeptualisierung benötigen. Die Erschütterung etablierter Strukturen eröffnet jedoch die Möglichkeit, verschüttete Gedankenkomplexe nicht nur auszugraben, sondern sie zu neueren Strukturen in Bezug zu setzen. Die diskutierten Beispiele folgen daher nicht primär geschichtlichen Entwicklungen, sondern beziehen ihre Verbindungen vornehmlich aus den semantischen Bereichen und vor allem den Funktionen der besprochenen Metaphern. Denn in dem Maße, wie die vermeintlich stabilen Definitionen der einzelnen Texte auch über Zeiten hinweg aufeinander bezogen werden, erweisen sie sich eher als interagierende Argumente. So betrachtet, bietet bereits die antike Poetiktradition eine Fülle möglicher Vorstellungen von Dichtung, an denen sich Dichter, Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler sowie auch Literaturhistoriker der Folgezeit in je anderen Konstellationen orientiert haben, aus denen sie immer wieder andere Elemente auswählen und die sie abwandelnd erneuern können, wobei diese 63
Barthes 1994, S. 494.
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Vorstellungen wiederum mit jedem Einsatz eine anders gelagerte Bedeutung erlangen.64 Die Instabilität der ›Poetik‹ ist dann nicht als Mangel zu werten, sondern als Charakteristikum eines kulturell spezifischen Phänomens, das sich zugleich mit Sprache befasst und durch Sprache konstituiert.65 Insgesamt wirft die erhöhte Prominenz der Sprache im kulturellen Umfeld die Frage auf, ob nicht gerade die deutsche Literaturwissenschaft aufgrund ihrer Orientierung an der idealistischen Philosophie sowie an den Natur- und Gesellschaftswissenschaften unzureichend »die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplin« reflektiert.66 Wenn auch das Ziel der Begründung einer facheinheitlichen Theorie abzulehnen ist, so wäre doch aufgrund der Tatsache, dass Dichtung immer (auch) Sprache ist, bei jeglicher Beschäftigung mit Literatur eine offene Beziehung zwischen Sprache, Denken und Welt vorauszusetzen, vor allem aber eine prinzipiell unstabile – und damit immer wieder Reflexion erfordernde – Beziehung zwischen der Sprache des literarischen Textes und der Sprache jener Diskurse, die mit dem Text interagieren. Die vorliegende Arbeit versteht sich über ihre spezifische Fragestellung hinaus als eher rhetorisch geprägtes Korrektiv zu einer idealistisch orientierten Literaturwissenschaft, die im Zuge der Verwissenschaftlichung dazu neigt, die vielfältigen Prozesse der Sprache entweder auf eine lineare Entwicklung zu reduzieren oder zum statischen Untersuchungsobjekt zu machen und durch Grenzziehungen die Kontinuität, Flexibilität und Anschlussfähigkeit der Literatur auszublenden. Ausgegangen wird davon, dass Dichtung und Poetik sich in einem höchst komplexen Prozess der Zusammenwirkung von zeitlosen Möglichkeiten und zeitspezifischen Realisierungen konstituiert, wodurch sich je nach Perspektive und Interesse ›Stabilität‹ und ›Kontinuität‹ oder ›Fortschritt‹ und ›Neuanfang‹ fokussieren lassen.67 Dabei verstehe ich unter ›Poetik‹ nicht eine von der Praxis getrennte, »theoretische Auseinandersetzung mit dem Wesen der Dichtung und der 64 65
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Es stellen sich hier Fragen zu Konvention und Tradition, die in der Auseinandersetzung mit der 1948 von Curtius begründeten Forschung zur literarischen Topik des Mittelalters in den Vordergrund traten (Curtius 1993); vgl. dazu zusammenfassend Haug 1992, S. 8–15. Die Instabilität lässt sich philologisch begründen: Den reichen »Katalog der Bedeutungen von poieo« erläutert Heinrich Böll am Anfang seiner zweiten Frankfurter Poetik-Vorlesung (Böll 1979, S. 49 f.); die verschiedenen Übersetzungen ergeben potenziell – und vermutlich auch realiter – jeweils andere poetologische Projekte. Zur Beziehung zwischen mimesis und poiesis vgl. Preisendanz 1972. Luhmann 1987, S. 7. Das Zitat aus Luhmanns Vorwort bezieht sich auf die Begründung einer »facheinheitlichen Theorie« für die Soziologie. Bezeichnenderweise hat die Literaturwissenschaft eher dazu tendiert, Luhmanns Ansatz auf die Literatur anzuwenden, als Ansätze zu entwickeln, die der spezifischen Auseinandersetzung mit Literatur angemessen wären. Die Notwendigkeit, sowohl Stabilität als auch zeitlich kausale Entwicklung im Blick zu behalten, ließe sich möglicherweise auch unter Bezug auf naturwissenschaftliche Fragestellungen begründen (vgl. Heisenberg 2005, S. 52; Der Begriff »Verstehen« in der modernen Physik, 1920 bis 1922).
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poetischen Gattungen, ihren Funktionen, ihren spezif[ischen] Ausdrucksmitteln«,68 sondern den werkinternen oder werkexternen Diskurs um Dichtung und Vorstellungen von Dichtung, der diese Vorstellungen sinn-, funktions- und identitätsstiftend strukturiert, artikuliert und im kommunikativen Prozess zwischen Autor, Werk, Rezipient und/oder Kontext vermittelt. Auch wenn man von einer rationalistischen Sprachtheorie ausgehend voraussetzen würde, dass Poetik primär gedanklich entwickelt und erst in einem sekundären, untergeordneten Prozess sprachlich ausgedrückt wird, so sind doch poetologische Vorstellungen immer erst in Form von physisch vermittelter Sprache als Poetik effektiv und für die Untersuchung zugänglich. Damit aber sind sie durch Sprache mit ihrem zu untersuchenden ›Gegenstand‹, der Dichtung, verbunden. Ausgegangen wird hier demnach von einem Zusammenspiel und dialogischen Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis in der Produktion des Werkes, im Werk selbst und in dessen Rezeption. So ist das Werk des archetypischen Dichters Homer eingebettet in eine poetische und poetologische Tradition, es liefert eine poetologisch komplexe Antwort auf existierende Erzählungen, es entsteht im Wettstreit mit anderen Sängern und damit in einem öffentlichen, institutionellen Kontext der theoretischen Bewertung dichterischer Qualität, und es dient späteren Dichtern und Theoretikern als Quelle, Anregung und Maßstab. Entsprechend kommen Vorstellungen von Literatur und die Reflexion über Literatur nicht nur in praxisfernen Texten zur Sprache, sondern auch in Programmschriften, Vorreden, Briefen sowie dichterischen Werken. Dieser Vielfalt und insbesondere dem Bezug zur Praxis soll die Auswahl der Texte Rechnung tragen, um so auch der Marginalisierung des praktischen Aspekts in idealistisch orientierten Geschichten der Poetik entgegenzuwirken.69 Um die Funktionen und Wirkungsweisen poetologischer Metaphorik zu verdeutlichen, empfiehlt sich für die vorliegende Arbeit ein textnahes Schreiben, das die Texte selbst ›sprechen‹ lässt und Nuancen poetologischer Äußerungen kontextspezifisch untersucht, wobei die jeweiligen Aspekte aus immer wieder anderen Perspektiven beleuchtet werden.70 Auf diese Weise 68 69
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Kühnel 1990, S. 353 im »Metzler-Literatur-Lexikon«. »Strikt auf ›theoretische‹ Texte begrenzt« beispielsweise Zelle seine zeitlich und räumlich weit ausholende, vom französischen Klassizismus bis zu Nietzsche reichende Studie (Zelle 1995, S. 1). Hegelsche Grenzen bestimmen die Vorgabe, »nirgends […] das Feld der Ästhetik in Richtung auf ›schöne‹ oder ›belletristische‹ Literatur, d. h. Dichtung, zu überschreiten« (ebd.). Bei Zitaten innerhalb des Textes werden Klein- bzw. Großschreibung am Anfang und Interpunktion am Ende sowie Flexionsendungen in Nominalphrasen stillschweigend an den grammatikalischen Kontext angeglichen. Angesichts der variablen orthographischen Konventionen im hier behandelten Zeitraum und deren verschiedenartiger individueller Handhabung durch die Autoren wird zumeist von einer Kennzeichnung ungewöhnlicher bzw. historischer Wortbildungen, morphologischer Endungen usw. durch ›sic‹ abgesehen.
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sollen Beziehungen zu anderen möglichen Vorstellungen erhellt werden, ohne dass die Richtigkeit oder Überlegenheit eines Vorstellungskomplexes vorausgesetzt wird. Ich begebe mich damit eines stabilen theoretischen Bezugspunktes, ohne jedoch Destabilisierung oder Dekonstruktion zum Programm erheben zu wollen. Während der Poststrukturalismus mit seiner Zelebrierung der Literaturtheorie tendenziell den literarischen Text seinem Autor sowie seinem gesellschaftlichen Kontext entzieht oder ihn performativ auflöst, soll es hier um synchronische und diachronische Verbindungen gehen, die zwar im Text sprachlich wirksam sind, ihn jedoch gerade dadurch zum Autor, zum Rezipienten und zu dem (auch nicht-sprachlichen) Kontext in Beziehung setzen. Der poetologische Text wird als Teil eines Kommunikationsprozesses aufgefasst, in dem Autor und Rezipient als Teilnehmer miteinbezogen sind – Teilnehmer, die intentional, denkend, emotional und imaginativ mit ihrer jeweiligen Welt kommunizieren. Wenn die jeweils zu den Texten und den besprochenen Themen einschlägige Sekundärliteratur nicht in gebührendem Maße berücksichtigt wird, so ist dies bedingt durch die Priorisierung der ›Quellen‹ und vor allem die weitreichende Thematik: So wie es kein Werk der deutschen Dichtung gibt, das nicht in irgendeiner Weise für die Themenstellung relevant wäre, so gibt es auch kein Werk der germanistischen Sekundärliteratur, das nicht einen Beitrag leisten könnte. Die Forschungsliteratur wird nur insofern näher besprochen, als sie rezeptive Zusammenhänge verdeutlicht, denn eine wissenschaftlich adäquate Behandlung der jeweiligen Aspekte würde den Rahmen des Buches sprengen und die Möglichkeiten eines einzelnen Autors übersteigen. Angestrebt wird zudem ein maßvoller Anmerkungsapparat; abgesehen wurde daher auch von systematischen Verweisen auf die jeweils weiterführende Literatur. Gedacht ist das Buch lediglich als Versuch zu einem unbegrenzbaren Thema und als Anregung zur Weiterarbeit. Ausgegangen wird von der Metaphernforschung in der kognitiven Linguistik, wo die Metapher als kognitiv-sprachliches Phänomen fassbar wird, ohne dass zugleich Fragen des stilistischen oder ästhetischen Werts impliziert würden. Zudem ergibt sich aus der Perspektive der interdisziplinären Kognitionswissenschaft ein deutlicherer Begriff von der Funktion der Metapher zwischen Kognition und Sprache als meist in der Literaturtheorie. Besonders fruchtbar ist für dieses Unterfangen die durch George Lakoff und Mark Johnson entwickelte Metapherntheorie, die von der Metaphorik der Alltagssprache ausgeht. Idiomatisierte Metaphern werden hier als Artikulation von systematischen gedanklichen Übertragungs- beziehungsweise Projektionsprozessen untersucht: So ist der Ausdruck ›Zeit verschwenden‹ Teil des für die westliche Kultur kennzeichnenden Vorstellungskomplexes ›Zeit ist Geld‹ oder allgemeiner ›Zeit ist ein wertvoller Gegenstand‹. Die auffällige, kreative Metaphorik, die in der Dichtung ihren weithin akzeptierten Platz hat, ist von dieser Warte aus eine extreme Ausprägung von
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Möglichkeiten, die allgemein in Denken und Sprache angelegt sind und sich oft ganz unauffällig manifestieren, so in grundlegenden Metaphern wie ›Behälter‹, ›Vertikalität‹ oder ›Weg‹ (z. B. ›in einer Krise stecken‹, ›ein hohes Alter‹, ›fortschrittlich‹). Es handelt sich hier nicht um die ›Übertragung‹ eines Wortes aus einem Bereich der Sprache in einen anderen, sondern um die gedanklich-sprachliche Strukturierung einer abstrakten Vorstellung mittels eines als ähnlich wahrgenommenen physischen Prozesses. Kognitive Wirksamkeit eignet von diesem Ansatz her auch dem Vergleich sowie der Metonymie: Sie alle dienen der gedanklichen Konkretisierung vor allem abstrakter ›Dinge‹ und auf sprachlichem Wege deren Kommunikation.71 Wenn man den Begriff ›Metapher‹ nicht auf den sprachlichen Bereich einschränkt, sondern ihm auch einen kognitiven Aspekt einräumt, so weitet sich zwangsläufig seine Bedeutung aus und wird begrifflich schwerer bestimmbar und abgrenzbar. Dies mag als Schwäche dieses Ansatzes gelten; andererseits aber schafft er neue Verbindungen. So ist Lakoff und Johnsons Metapherntheorie nicht zuletzt deswegen interessant, weil sie ergiebige Bezüge zwischen Linguistik, Literaturwissenschaft, Philosophie, Rhetorik und Anthropologie eröffnet; beispielsweise ist bei Johnson die Metapherntheorie Teil eines umfassenden philosophischen Projekts, das ganzheitlich Sprache, körperbezogene Erfahrung und kreative Phantasie mit rationalen Prozessen integriert. Vom Ansatz her bewegt sich die vorliegende Arbeit im Bereich der sich etablierenden ›kognitiven Poetik‹, wobei allerdings dort bislang eher die Leserperspektive im Vordergrund steht;72 hier geht es dagegen um die ganze Vielfalt der Vermittlungsprozesse zwischen Autor, Werk und Rezeption. Im Zentrum steht die Frage nach der produktiven Gestaltungskraft von Metaphern, die im Prozess des Schreibens und Rezipierens aktiviert wird. Poetologische Metaphern entfalten ihre kommunikative Wirksamkeit erst in der Interaktion zwischen Autor, Werk, Rezipient und Kontext: im Entwurf literarischer Projekte, in der Situierung des Werks in der Dichtungstradition sowie in der mündlichen oder schriftlichen Verständigung mit dem gegenwärtigen und nachfolgenden Publikum.73 Eine bedeutende Rolle spielen dabei konventionalisierte Metaphern und Szenarien, die Vor71
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Die Metapher wird in gegenwärtigen Diskussionen tendenziell als Zentralbegriff für die Tropen verwendet. Dies stimmt mit der Verwendung bei Aristoteles überein; die Spezialisierung des Begriffs metajora´ auf einen der Tropen ist nacharistotelisch (vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 283; § 554). Explizit unter diesen Begriff subsumiert Aristoteles den Vergleich: »Es ist aber auch das Gleichnis [Vergleich, KK] eine Metapher; denn der Unterschied zwischen beiden ist nur gering« (Aristoteles 1995b, S. 176; III, 4, 1; 1406b) (s. u. S. 127). S. u., S. 122 f. Diese Auffassung von der Metapher steht in diametralem Gegensatz zur Metapherntheorie von Paul Ricœur, der sie ausschließlich auf den schriftlichen Text bezieht und diesen grundsätzlich von der mündlichen Kommunikation unterscheidet. Er setzt die Autonomie des schriftlichen Textes voraus: »J’entends par autonomie, l’indépendance du texte à l’égard de
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stellungen von Dichtung evozieren und als Topoi tradiert werden – so zum Beispiel der Topos von der Dichtung als ›Spiegel‹ der Wirklichkeit, der in unterschiedlichen metaphorischen Ausprägungen tradierte Topos von der dichterischen ›Inspiration‹ oder der Topos von der Dichtung als ›Wettkampf‹.74 Auch der Topos vom dichterischen ›Auftrag‹ ist in dem Maße metaphorisch, wie er sich nicht auf einen wirklichen Auftrag bezieht, sondern »nur ein topos« ist:75 Er projiziert in dem Falle den Dichter in ein mehr oder weniger imaginäres Szenarium des Dienstverhältnisses, das dem Werk einen besonderen Sinn gibt. Solche Topoi können ganz unterschiedliche Funktionen haben, und es ist häufig nicht auszumachen, inwieweit sie bewusste Anspielungen auf frühere Texte, poetologisches Bildungsgut ohne spezifischen Bezug, eine allgemeine kulturelle Reminiszenz oder spontan geschaffen sind. So ist der Topos vom Dichter als ›Schiffer‹ in der Antike fest etabliert,76 und wenn Otfrid den Abschluss seines Evangelienbuches als ›Ankunft‹ »am sicheren Ufer« darstellt und sich daran macht, »die Segel einzuziehen«, so mag dies ein Verweis auf Vergils ›Reffen der Segel‹ am Ende seines Epos Georgica darstellen.77 Der Topos stellt in dem Falle einen intertextuellen Bezug zu dem großen Vorgängerwerk dar und hat über die Signalisierung des Endes hinaus die Funktion, dem fränkischen Werk einen erhöhten Status und identitätsstiftende Bedeutung zu verleihen. Kaum wahrscheinlich ist eine solche spezifisch klassische Allusion dagegen in der folgenden Briefpassage, in der Eugenie John alias E. Marlitt einer Freundin von ihrer Romanschriftstellerei berichtet, um ihr briefliches Schweigen zu entschuldigen:
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l’intention de l’auteur, de la situation de l’œuvre ou du rapport à un lecteur originel« (Ricœur 1972, S. 93). Die Bedeutung des Begriffs ›Topos‹ reicht vom »Fundort von Argumenten« bis hin zu »›Klischee‹ und ›sprachlicher Floskel‹« (Hess 2003, S. 649) und somit – ähnlich wie der Metaphernbegriff – von einer kognitiven bis hin zu einer sprachlichen Bedeutung. Diese Unschärfe ist nicht als Mangel zu sehen, sondern als Ausdruck der dynamischen Interaktion von Kognition und Sprache in der Kommunikation von konsensuellen Vorstellungen (s. u., S. 174–181). Vgl. auch den Artikel »Topos« im »Metzler-Literatur-Lexikon« zur »Verschiebung des T.-begriffs: vom Denkprinzip der inventio zur vorgeprägten Wendung, zum Versatzstück« (HSch 1990). Ich verstehe unter einem poetologischen ›Topos‹ eine konventionalisierte Vorstellung von Dichtung beziehungsweise einem Aspekt von Dichtung. Die Metaphorizität eines Topos kann auf unterschiedlichen Faktoren beruhen. So ist der Topos von der Literatur als ›Spiegel‹ der Realität bereits vom Ursprung her metaphorisch bzw. analogisch (vgl. Platons Vergleich der Dichtung mit einem Spiegel, s. u., S. 42); der Topos von der Inspiration gründet in einer komplexen Verflechtung antiker Vorstellungen vom wahren Ursprung der Dichtung; und der Topos von der Dichtung als ›Wettkampf‹ rekurriert auf eine konkrete Praxis. Vgl. Curtius 1993, S. 95. Vgl. ebd., S. 138–141. Otfrid 1987, S. 176 f. (5. Buch, Kap. 25, V. 1–6); Vergil 1994, S. 114 f. (IV, V. 117); s. u., S. 532, Anm. 75.
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ich verlasse nicht gern das Fahrwasser meines literarischen Schaffen [sic], wenn ich einmal im Segeln bin – das schwanke Boot kippt sehr leicht um, und meine Romangestalten haben dann die bedenkliche Neigung, ins Wasser zu fallen, ich brauche gewöhnlich längere Zeit, sie wieder heraus zu fischen: die bleibt aber jetzt nicht, sintemalen mein neuer Roman in der Kürze erscheinen soll.78
Die Metapher ist nicht logisch durchgehalten – wenn das Boot umkippt, fallen die Menschen einschließlich des Kapitäns ja zwangsläufig ins Wasser – aber hinsichtlich ihrer kommunikativen Funktion erleidet sie deshalb noch keinen Schiffbruch. Die Metapher dient hier dazu, die Briefschreiberin als hauptberufliche Autorin zu fokussieren und auf unanstößige Weise die Priorität ihrer literarischen Tätigkeit zu vermitteln. Ob es sich dabei um eine traditionsbefrachtete Reminiszenz handelt oder eine spontan ›erfundene‹ Metapher, lässt sich nicht rekonstruieren; und um nachweisbare ›Ursprünge‹ und ›Beeinflussungen‹ soll es auch nicht primär gehen. Denn im Zentrum steht vor allem die Funktion und Wirkung – wobei allerdings in manchen Fällen der durch das Topos erreichte Verweis auf die Tradition für die Wirkung zentral ist. In der Literaturwissenschaft gelten Topoi zumeist als obsolete Requisiten einer konventionsgebundenen Literaturperiode, die den Wert der Originalität noch nicht entdeckt hatte. Hier wird dagegen vorausgesetzt, dass topische poetologische Metaphern eine Art kollektives Gedächtnis dichterischer Möglichkeiten bieten und ein äußerst produktives Mittel poetologischer Kommunikation darstellen. Ähnlich wie idiomatisierte Metaphern in der Alltagssprache ermöglichen sie die Vermittlung etablierter Denkmuster und schaffen auf diese Weise eine Kohärenz des Diskurses, die als ›Tradition‹ erfahrbar ist, ohne doch den Diskurs auf Klischees festzulegen. Denn so wie ›tote‹ Metaphern ›belebt‹ werden können, lassen sich Topoi variieren, umwerten, in ihr Gegenteil verkehren oder auch ersetzen, und auch die Interaktion mit anderen Topoi ergibt eine je andere Konstellation: »Mit traditionellen Versatzstücken [sind] allein durch die Art ihrer Kombination höchst individuelle, situationsbedingte Aussagen möglich.«79 Diese Möglichkeit der poetologischen Kommunikation ist keineswegs auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit beschränkt, sondern ist ein grundlegendes Merkmal der Poetik.80 78 79 80
Marlitt 1996, S. 63 (Eugenie John [d.i. E. Marlitt] an Leopoldine Ritter von Nischer-Falkenhof, 30.12.1873). Vgl. zum Schifffahrtstopos Curtius 1993, S. 138 f. Haug 1992, S. 12. Vgl. beispielsweise die nuancierte Verwendung der Spiegelmetapher in der fortlaufenden mimesis-Diskussion (Abrams 1953, S. 30–46). S.a. Winkos Befund zur Kontinuität und Ausdifferenzierung von Emotionskodes in der Lyrik, wobei sie für diesen semantischen Bereich eine besondere Stabilität konstatiert: »Variationen ergeben sich durch Präferenzen für eine oder mehrere Möglichkeiten, die die Tradition bietet. Sie werden in einer Epoche oder auch nur in einer literarischen Gruppierung einer Zeit besonders ›gepflegt‹, d. h. lyrisch besonders oft realisiert, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie modifiziert werden« (Winko 2003, S. 422).
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Die Kontinuität lässt sich in Bezug auf die in der Rhetorik strategisch genutzte Analogie von Rede und Kampf, Wort und Waffe81 verfolgen. Sie bietet ein poetologisches Potenzial, das in immer wieder anderer metaphorischer Form und mit unterschiedlichen Funktionen realisiert und elaboriert werden kann. Die in der Emblematik verbreitete metonymische Gegenüberstellung von ›Feder‹ und ›Schwert‹ diente in der frühen Neuzeit häufig dazu, den Status des Dichters zu stützen, so wenn dieser die Abhängigkeit des Herrschers vom dichterischen Rühmen der Taten betonte oder den Rang des Dichters mit jenem des Helden verglich: »Der himmlische Virgil saß in Augustus schooß.«82 Goethe rekurriert auf diesen Topos, wenn in Iphigenie auf Tauris nicht ein »Schwert«, sondern »Worte« den Sieg davontragen,83 womit indirekt auch das Metier des Dichters aufgewertet wird. Andererseits eignet sich der Topos dazu, die Dichtung ins Zeichen des Kampfes zu stellen, beispielsweise in Freiligraths Gedicht »Feldmusik«: »Laß ich auch Banner fliegen nicht, | Laß ich doch fliegen zorn’ge Strophen!«84 Noch in der Nachkriegszeit findet sich der Topos, so im »geschärften Titel« der poetologischen Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer von 1955: Profil gewinnt hier eine »handgreifliche« Lyrik, die dazu dienen soll, »›die Summe des Bösen zu vermindern und die Summe des Guten zu vermehren‹«.85 Auch zu literarischen Werbezwecken lässt sich der Topos einsetzen, so in einer Fahndung nach Nachwuchsautoren für den »Krimiblog« der Süddeutschen Zeitung: »Tatwaffe: Tastatur!«86 Keineswegs eignet sich die Verwendung poetologischer Topoi somit zur Unterscheidung einer ›alten‹ – beziehungsweise veralteten – und einer ›modernen‹ Literatur. Wie schon M.H. Abrams bemerkt, ist das Neue häufig ein in neuem Kontext erscheinendes Altes: »In aesthetics, as in other provinces of inquiry, radical novelties frequently turn out to be migrant ideas which, in their native intellectual habitat, were commonplaces.«87 Die Annahme, dass mit der Goethezeit beziehungsweise Romantik eine ›originale‹, ›individuelle‹ Poetik entsteht, die grundsätzlich von der ›konventionellen‹ Poetik 81
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Vgl. z. B. Quintilian 1995, Bd. 2, S. 150 f. (VIII, 3, 2). Auch die biblische Tradition trägt zu diesem Topos bei, z. B. mit dem Vergleich zwischen Gottes »Wort« und einem »Hamer der Felsen zuschmeist« (Jer. 23, 29). Zu diesem topischen Komplex in Antike und Mittelalter vgl. Curtius 1993, S. 186–188. Hofmannswaldau 1961b, V. 9. Zur emblematischen Verbindung oder Gegenüberstellung von Feder und Schwert bzw. Buch und Waffe vgl. Henkel/Schöne 1996, Sp. 1503 f. und 1736. Goethe 1985 ff., Bd. 5, S. 610 (Iphigenie auf Tauris, 5. Akt, 3. Szene; V. 1859–1864). Vgl. Ps. 57, 5: »jre Zungen [sind] scharffe schwerter« (s. a. Ps. 64, 4). Freiligrath 1844, S. 194 (Feldmusik, V. 23 f.). Ein senkrechter Strich (|) markiert ein Versende, ein Schrägstrich in einem frühneuzeitlichen Text (/) eine Virgel (Komma). Bender 1955, S. 12 unter Bezug auf Wolfgang Weyrauchs Beitrag »Mein Gedicht ist mein Messer« (ebd., S. 22–34, Zitat S. 22). Süddeutsche Zeitung 2006. Abrams 1953, S. viii.
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vorheriger Zeiten getrennt ist, schreibt das topische ›Negieren von Tradition‹ fort, mit der sich die Dichter um 1800 profilierten.88 Die Werte ändern sich entscheidend, aber die Kommunikation neuer Werte erfolgt durch die Auseinandersetzung mit bekannten Argumenten. In dem Maße, wie sich die Poetik der Moderne durch das Negieren von Tradition darstellt, gibt sie sich als Fortführung der Querelle des anciens et des modernes zu erkennen, einer Debatte also, die sich als Auseinandersetzung um den Stellenwert der Antike konstituiert und die in der Moderne als Auseinandersetzung um den Status und die Funktionsweise der Tradition fortlebt.89 Dabei sind die Verfechter der ›Originalität‹ und ›Autonomie‹ nicht weniger apologetisch motiviert als die Verfechter der ›Tradition‹, und beide Lager beziehen ihre Wirkung gleichermaßen aus dem fortlaufenden Diskurs. Wenn das vorliegende Projekt sich an den Debatten der Antike orientiert und den poetologischen Diskurs als kontinuierlich bis in die Gegenwart führende Debatte verfolgt, so wird deutlich, in welchem Lager es anzusiedeln ist. Wenn diese Einseitigkeit als Manko zu werten ist, so wird dies vielleicht damit aufgewogen, dass es zur Fortführung der Debatte anregen kann. Wenn auch erst ein komparatistischer Ansatz der Vielfalt literarischer Möglichkeiten und den komplexen Übertragungsvorgängen zwischen Sprachen und Gesellschaften Rechnung tragen könnte, wird hier nur die deutschsprachige Literatur behandelt. Da Metaphorik – oder zumindest ihr sprachlicher Aspekt – immer an natürliche Sprache gebunden ist, ergibt sich durch diese Einschränkung eine Fokussierung auf die Beziehung zwischen Metaphern innerhalb einer kohärenten Sprachkultur, die sich diachronisch als Tradition und synchronisch als Netzwerk oder System begreifen lässt, wobei die Offenheit zu anderen Kulturen hin vorausgesetzt wird, ohne dass sie hier Profil gewinnen kann. Die Frage der Begrifflichkeit ist besonders angesichts der großen Zeiträume, die hier behandelt werden, nicht befriedigend zu lösen: So werden im semantischen Feld Sprachkunst – Dichtkunst – Dichtung – Poesie – Literatur – schöne Literatur – Belletristik durch jeden Begriff bestimmte Textsorten ausgegrenzt oder privilegiert und verschiedene literaturgeschichtliche Werkzusammenhänge herausgefiltert.90 Als übergreifende Worte verwende ich ›Literatur‹ und vor allem ›Dichtung‹, verstanden als kulturspezifisches sprachliches Gefüge, das tendenziell von der Alltagssprache abweicht und dessen Identität sich in der Interaktion von Autoren und Rezipienten prinzi-
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Grundlegend zu diesem Muster und zur Konstruktion von Epochenwenden vgl. Barner 1987. Vgl. beispielsweise die Verteidigung der ›konservativen‹ Linie bei T.S. Eliot und Hugo von Hofmannsthal (Eliot, T.S. 1999; Hofmannsthal 1979–1980, Bd. 9, S. 289 (Wiener Brief [III]), u.ö.). Vgl. z. B. zur Etymologie des Begriffs »Dichtung« Grimm 1984, Bd. 4, Sp. 2013 f.
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piell aus jedem Aspekt der Sprache konstituieren kann.91 Wenn ›der Dichter‹ beziehungsweise ›der Rezipient‹ den vorliegenden Text dominiert und nicht ›die DichterIn‹ oder ›die RezipientIn‹, so beruht dies auf der Überlegung, dass letztere Formen mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ihnen bei diesem Thema zusteht. Über die Terminologie hinaus ist insgesamt die Metaphorik problematisch. Es soll hier nicht versucht werden, mit ausdrucksstarken Metaphern zu experimentieren oder auf anderem Wege die Konventionen wissenschaftlicher Sprache außer Kraft zu setzen, und allgemein wird soweit wie möglich eine Festlegung auf spezifische auffällige Metaphern gemieden; denn im Zentrum stehen sollen die Metaphern der poetologischen Texte. Eine Arbeit über Metaphern schärft jedoch den Blick des Lesers für die Darstellung durch Metaphern – und lässt ihn überall Widersprüche zwischen theoretischem Anspruch und sprachlicher Ausführung entdecken. Dies liegt nicht nur in der Natur der Sprache, sondern auch an der unzureichenden Sprachkraft der Verfasserin. Positiv gewendet können jedoch die sprachlichen Mängel für die virtuose Leistung der Dichter sensibilisieren, die es besser gelernt haben, mit den Metaphern ihrer Sprache umzugehen. Ziel des Projekts ist nicht die Untersuchung eines umfassenden Korpus von poetologischen Metaphern, die Erstellung einer Klassifikation beziehungsweise eines Katalogs oder auch die systematische Erforschung bestimmter Metaphernkomplexe.92 Ziel ist auch nicht eine systematische geschichtliche Behandlung poetologischer Metaphorik oder eine Geschichte spezifischer Metaphern.93 Angestrebt wird eher in der selektiven Auseinandersetzung mit poetologischen Texten eine Art mentales Training im deutschen Literaturraum: Ich gehe von der Annahme aus, dass die Möglichkeiten der Dichtung sowie die Beziehungen zwischen Produktion, Werk und Rezeption so unbegrenzt sind wie die Möglichkeiten menschlicher Sprache, und dass es zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft gehört, die von ihr gesetzten mentalen Grenzen und Strukturen möglichst wahrnehmbar und damit hinterfragbar zu machen.
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S. u., Kap. I/8. Eine mustergültige Untersuchung zu einem solchen Komplex bietet Greber 2002. Als besonders ergiebig erweist sich die Verknüpfung der Gewebemetaphorik mit der Kombinatorik, zumal Greber die verschiedensten ›Fäden‹ durch Theorie und Praxis, durch Epochen, Literaturen und Gattungen verfolgt. Ihr theoretischer Ansatz sowie ihr Quellenmaterial – vornehmlich Lyrik – sind auf die russische Moderne fokussiert, über die Gewebemetaphorik ergeben sich jedoch fruchtbare Bezüge besonders zum französischen Poststrukturalismus. Zwangsläufig fällt die Diskussion der individuellen Texte insbesondere in Bezug auf ihre geschichtlichen Bezüge unbefriedigend aus, und angesichts der metaphorischen Dichte vieler Texte kann auch nicht jedes an sich interessante Detail berücksichtigt werden. Bezüglich werkinterner poetologischer Metaphorik steht besonders die Lyrik im Vordergrund, da hier poetologische Aspekte typischerweise in konzentrierter Form deutlich werden.
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Das Buch ist gewissermaßen als Netzwerk konzipiert, in dem die Kapitel auf unterschiedlichste Weise miteinander verknüpft sind, um das Thema aus jeweils anderer Perspektive zu beleuchten.94 Diese Struktur des Buches hat nicht zuletzt das Ziel, ein selektives Lesen oder auch Querlesen zu ermöglichen. Den theoretischen Rahmen entwerfen die beiden ersten Kapitel; die restlichen Kapitel führen in die deutsche Literatur. Das erste Kapitel stellt Diskurse in den Vordergrund, die maßgeblich die deutschsprachige Poetik bestimmt haben: antike Poetik, Bibelexegese, idealistische Ästhetik, Nietzsche. Dabei bietet die antike Poetik einen Standpunkt ›außerhalb‹ der modernen Literaturwissenschaft, von dem aus sich Vorstellungen von Dichtung im deutschen Sprachraum betrachten lassen, ohne modernen Perspektiven – und damit Wertungen – von vornherein den Vorrang zu geben. Das Ziel ist, grundsätzlich die Vielfalt der Möglichkeiten im Auge zu behalten; und relativiert werden von hier aus auch die ›unüberwindlichen Abgründe‹, die eine lineare Literaturgeschichtsschreibung zwischen Mittelalter und früher Neuzeit sowie früher Neuzeit und Moderne konstruiert hat.95 Die Grundthesen für den in dieser Arbeit vorausgesetzten Poetikbegriff sind am Ende des Kapitels dargelegt. Das zweite Kapitel befasst sich mit Aspekten der Metapherntheorie, wiederum ausgehend von der Antike. Verschiedene Theorien von Aristoteles bis hin zur kognitiven Linguistik werden sprachtheoretisch situiert und zueinander in Bezug gebracht. Ziel ist die Herausarbeitung eines theoretischen Ansatzes, der die komplexe Wirkungsweise von Metaphern in Denken und Sprache vorstellbar und darstellbar macht, unter Berücksichtigung sowohl ihrer kognitiven Leistung als auch ihrer kommunikativen Macht. In den Vordergrund rückt dabei die Imagination, jenes kognitive Vermögen also, das für die Produktion und Rezeption von Dichtung besondere Bedeutung hat. In der poetologischen Metapher wird dieses Potenzial besonders wirkungsvoll sprachlich realisiert, um vielfältigste Vorstellungen von Dichtung zu kommunizieren. Am Ende des Kapitels finden sich die Grundthesen zu den vorausgesetzten Begriffen der Sprache, der Metapher sowie spezifisch der poetologischen Metapher. Das dritte Kapitel wendet sich den Formen, Voraussetzungen und Wirkungsweisen der poetologischen Metapher in der deutschen Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung zu. Eingangs wird die Ge-
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Notwendigerweise entstehen dabei Überschneidungen und Wiederholungen, da Texte zuweilen nochmals zitiert werden, wenn dies für den neuen Zusammenhang notwendig erscheint. Um den Anmerkungsteil nicht zu überlasten, werden nur sparsam Querverweise angegeben; verwiesen sei auf die Register. Vgl. Zumthor, demzufolge uns ein »abîme infranchissable« vom Mittelalter trennt (Zumthor 2000, S. 31).
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schichte der deutschen Poetik beleuchtet, da diese eine diachronische Struktur bietet, durch die poetologische Gattungen einen spezifischen Status erhalten; untersucht werden auch die Implikationen gängiger Topoi, die zu ›Denkfallen‹ geworden sind, indem sie bestimmten geschichtlichen Vorstellungen den irreführenden Wert von stabilen Wahrheiten verliehen haben. Den Medien der Dichtung kommt im poetologischen Diskurs eine bedeutende Rolle zu, denn sie leisten in physischer Form die Vermittlung von Dichtung und bieten zugleich Möglichkeiten der metaphorischen Übertragung; Beispiel ist die ›Anrufung‹ in der schriftlichen Ode. Die Bedeutung poetologischer Topoi für die Kontinuität des Diskurses um Dichtung wird exemplarisch anhand der Schlüsselbegriffe ›Natur‹ und ›Kunst‹ verfolgt, und abschließend geht es um Übertragungsprozesse zwischen Dichter, Werk und Rezipient. Das vierte Kapitel erkundet unter Bezug auf einen universalistischen Ansatz der Anthropologie die poetologischen Rollen, welche die Dichter wählen, um sich und ihr Werk im kommunikativen Kontext zu situieren. Ziel ist eine Strukturierung der prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten von Dichtung anhand der limitierenden Gegebenheiten, mit denen sich der Mensch als biologisches, sprachfähiges Wesen in der Welt auseinandersetzt. Zugleich bietet das Kapitel ein von auktorialen Selbstprojektionen ausgehendes Spektrum semantischer Felder, die in der poetologischen Metaphorik zum Tragen kommen. Dem Kapitel liegt die Hypothese zugrunde, dass der Dichter im Entwurf seines Projektes nicht an bereits realisierte Möglichkeiten der Dichtung gebunden ist, sondern im Kontext menschlicher Relationen immer auch neue Möglichkeiten erproben und allgemeinverständlich kommunizieren kann. Das fünfte Kapitel untersucht die Funktion von Metaphern in der Strukturierung diachronischer und synchronischer Vorstellungen von Literatur und verfolgt insbesondere ihren Beitrag zu Prozessen der Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung. Zunächst geht es um grundlegende Metaphern, die dem literarischen Prozess Struktur und Kohärenz verleihen: zeitbezogene Metaphern, mit denen die Jetztzeit zum Vergangenen in Bezug gesetzt wird, räumliche Metaphern der ›horizontalen‹ Grenzziehung und ›vertikalen‹ Hierarchisierung, Bindungs- und Autonomiemetaphern sowie Metaphern des Vorbilds, des Dialogs und der Intertextualität. Es folgt dann die Untersuchung von Bereichen, in denen die traditionsbildende und identitätsstiftende Kraft poetologischer Metaphorik besonders zur Geltung kommt. Das gemeinschaftliche Ereignis führt das Werk und die Rezipienten – und gegebenenfalls auch den Autor – in einer gemeinsamen Zeit und einem gemeinsamen Raum zusammen und bietet poetologische Möglichkeiten, die in Zeiten der Verschriftlichung der Erneuerung und Verlebendigung von Dichtung dienen können. In der Formierung von Dichterbünden spielen Metaphern eine bedeutende Rolle, da sie die ge-
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meinsame Tradition vorstellbar machen und dem gemeinsamen Programm eine Richtung geben. Eine wichtige Funktion erfüllen poetologische Metaphern auch in der Kulturstiftung, indem sie die Vorstellung einer kulturellen Identität durch die Macht der gemeinsamen Sprache stärken. Das Kapitel kulminiert in dem Thema ›Rühmung und Ruhm‹. Während die Rühmung seit jeher eine der bedeutendsten Funktionen des Dichters gegenüber seinen Auftraggebern darstellt, ist zugleich das Streben nach dem eigenen Ruhm ein wichtiger Ansporn für das Dichtertum, denn im Ruhm konzentriert sich die Möglichkeit des Menschen, über seinen Raum und seine Zeit hinaus zu wirken. Im sechsten Kapitel geht es um neun chronologisch aufeinander folgende poetologische Texte, ausgehend von Otfrids Evangelienbuch und endend mit einer Internetpoetik. Wiewohl damit keine zusammenhängende Geschichte der deutschen Poetik angestrebt wird, so soll doch deutlich werden, dass jeder Text sich mit seinen Metaphern auf einen zeitlich spezifischen kulturellen Kontext bezieht und dass die Debatte um die Dichtung ein kontinuierlicher Prozess ist. Dieser Prozess findet in der ›linear‹ verlaufenden Zeit statt, ohne auf linearen ›Fortschritt‹ festgelegt zu sein; und er lässt ›epochale‹ Konstellationen erkennen, ohne sich von ›Epochenschwellen‹ hemmen zu lassen. Auch die ältesten Texte vermögen ihre poetologischen Argumente wirksam an den heutigen Leser zu vermitteln – nicht zuletzt aufgrund von Metaphern, die zwar im jeweiligen Text eine ganz spezifische, zeitbezogene Bedeutung erlangen, die jedoch ihre kommunikative Kraft aus einer komplexen abendländischen Kultur beziehen, an der auch der heutige Leser noch teilhat. Im Schlusskapitel wird ansatzweise versucht, poetologischen Metaphern in der Literaturszene um die Jahrtausendwende nachzuspüren. Dabei zeigt sich, dass alte Topoi gerade in einer Zeit der rapiden Wandlung wichtige Instrumente bieten, um das Neue auf dem Wege der Übertragung aus dem Alten zu entwickeln. Und die Wandlung geht zumeist nicht in Richtung auf etwas ganz Neues, sondern besteht häufig in der Aktualisierung obsolet geglaubter Möglichkeiten der Dichtung. Ergänzt werden die Kapitel durch Register der besprochenen Metaphern und Autoren: Es lassen sich damit spezifische Metaphern, Metaphernkomplexe und Autoren durch verschiedene Erscheinungsformen und zeitliche Perioden verfolgen, was wiederum punktuell Einsichten in zusammenhängende Konstellationen und geschichtliche Entwicklungen ermöglichen dürfte. Ein solches Querlesen ergänzt die in den Kapiteln erörterten Bezüge. Durchgängig geht es ja um die Vielfalt und Produktivität der Verbindungen zwischen poetologischen Texten – Verbindungen, die sich weder systematisch ein für alle Mal kategorisieren, noch auch vollständig erfassen lassen, denn die poetologische Metapher lebt aus dem dynamisch sich verändernden Zusammenspiel von Text und Kontext, Individuum und Gesellschaft,
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Konvention und Innovation. Der Leser wird aus seinem eigenen Fundus weitere Exemplare und alternative Lesarten beisteuern sowie auch alternative Lesarten entwickeln. Auf diese Weise kann das Buch dem Leser dann auch zum ›Handbuch‹ werden.
I. Spielraum der Poetik Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Orte so genannt hat.1 Friedrich Schlegel
»Sage mir, Muse, die Taten…« – am ›Anfang‹ okzidentaler Poetik steht nicht ein Werk über die Dichtung, sondern die Dichtung selbst: das Werk Homers.2 Seine wirksame Anrufung an die göttliche Muse verkörpert die Macht der dichterischen Sprache; seine Epen begründen – zumindest im griechischen Selbstverständnis nachfolgender Jahrhunderte – die Identität des griechischen Volkes. Den überragenden Status Homers als Kulturstifter und Bildungsinstanz konstatiert Platon in seiner Politeia: Lobredner des Homer […] sagen, Homer sei der Erzieher Griechenlands gewesen, er sei es wert, in allen Sachen menschlicher Erziehungs- und Lebensgestaltung als Lehrer zur Hand genommen zu werden, nach diesem Dichter müsse man sein ganzes Leben einrichten.3
Homer etablierte die Überlegenheit seines poetischen Modells im öffentlichen Wettkampf: In diesem Kontext wurde sein Werk an geltenden poetologischen Maßstäben gemessen. Die Legitimierung seiner Epen vollzog sich durch ihre Wirkung in der Praxis. Die Behauptung, nur Lobredner sprächen Homer diese Macht zu, ist weniger eine Tatsache denn eine rhetorische Strategie, mit der Platon den opponierenden Absolutheitsanspruch der Philosophie durchzusetzen sucht. Teil dieses Anspruchs ist die Bestimmung und Bewertung der Poesie. Denn dass Beschaffenheit, Qualität, Legitimität und Funktion der Dichtung erst durch philosophische Begründung Gültigkeit erlangen, ist insgesamt ein Argument der Philosophen, und es bildet die Grundlage der aristotelischen 1 2
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Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 2, S. 181 (Athenäumsfragment 114). Der Artikel zum Stichwort »Poetik« im »Historischen Wörterbuch der Rhetorik« lässt die »griechische Poetik« um 700 v. Chr. in den Epen Homers und Hesiods beginnen (Till, Rösler u. a. 2003, Sp. 1307). Vgl. auch die komprimierte, aber hervorragende Geschichte der antiken Poetik in Blume, Wiegmann u. a. (1989) unter Einbezug von Homer, Pindar und der griechischen Tragödie (Sp. 1011 f.). Wichtig bleibt für ein Verständnis der Zusammenhänge Fuhrmann 1973. Platon 1982, S. 449 (10. Buch; 606e).
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Poetik. Hatte Platon sich darauf beschränkt, Homer als Bildungsmacht zu diskreditieren, so macht Aristoteles ihm seinen poetischen Rang streitig. Er benutzt das Kriterium der mimesis, um den Bezug der Künste zur Wahrheit als obersten Wertmaßstab zu setzen und zugleich den übergeordneten Wahrheitsbezug der Philosophie zu bestätigen. Unter Bezug auf Ilias und Odyssee lässt er die Poetik in einem Vergleich zwischen Epos und Tragödie kulminieren und erweist – in explizitem Gegensatz zur vorherrschenden Meinung – die Überlegenheit der Trägodie, da sie das Ziel der Nachahmung besser erreiche als das Epos.4 ›Poetik‹ als Diskurs um Dichtung konstituiert sich so gesehen aus der Spannung zwischen Dichtung und Philosophie, Praxis und Theorie. Aber auch die Rhetorik partizipiert am Diskurs um die Dichtung und beansprucht den Vorrang.5 Maßstab ist hier nicht der Wahrheitsbegriff, sondern das »allgemeine Interesse«;6 allerdings werden zum Teil die gleichen Argumente eingesetzt wie bei den Philosophen. Während Cicero eher die Nähe von Rednern und Dichtern betont,7 identifiziert Quintilian die Dichtung mit dem »Unwahren« und »Unglaublichen« und diskreditiert sie damit umfassend unter Bezug auf den Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsbegriff. Er preist zwar den poetischen Kanon (unter Ausschluss erotischer Komponenten) als Bildungsmittel für den angehenden Redner8 und empfiehlt die Dichtung zur stilistischen Veredelung der Rede,9 reduziert jedoch ihren Zweck auf »Unterhaltung« und »Genuß« und marginalisiert sie somit aufgrund ihrer mangelnden Nützlichkeit.10 Problematischer wird die Abgrenzung hinsichtlich der Sprache, da ja die Dichtung prinzipiell abgesehen vom Metrum die gleichen Mittel benutzt wie die Rhetorik. Hier geht Quintilian in die Offensive, indem er den Schmuck der Poesie als Waffe gegen sie einsetzt. Ausgehend von der lexikalisierten Metapher »Versfuß« kritisiert er 4
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Aristoteles 1994, S. 94–99 (Kap. 26; 1461b–1462b). Der Herausgeber Fuhrmann konstatiert eine »Spannung« zwischen den Aussagen zu Homer im letzten Kapitel und früheren Aussagen (ebd., S. 142, Anm. 8). Dies dürfte darauf hindeuten, dass Aristoteles als guter Rhetoriker in der entscheidenden Peroratio das Interesse walten lässt. So betont Cicero zwar, der Redner solle alle Disziplinen und Wissenschaften hochschätzen, bezeichnet diese jedoch als »Begleiterinnen und Dienerinnen des Redners« (Cicero 1976, S. 85; I, 17, 75). Eine komprimierte Darstellung verschiedener Aspekte der Beziehung zwischen Rhetorik und Dichtung bietet Hess 1994. Im Extremfall ist es daher notwendig, »auch das Erlogene zu verteidigen« (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 260 f.; II, 17, 36). Dies hängt mit der grundsätzlichen Kontextabhängigkeit jeder Aussage zusammen: »Die Rhetorik [gibt] niemals Vorschriften für das, was man nicht sagen soll, und das, was dem, was man nicht sagen soll, entgegengesetzt ist, sondern für das, was im einzelnen Fall gesagt werden soll« (ebd., II, 17, 35). Cicero erwähnt »Dichter und Redner« als eine »Gruppe« (Cicero 1976, S. 46–49; I, 3, 11); s. a. ebd., S. 462 f. (III, 7, 27) u.ö. Quintilian 1995, Bd. 1, S. 116–125 (I, 8, passim). Ebd., Bd. 2, S. 440 f. (X, 1, 27). Ebd., S. 442 f. (X, 1, 28).
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ihr Abweichen vom »eigentlichen« Ausdruck: »Gebunden« durch die Versfüße sei die Dichtung gezwungen, den »geraden Weg« der »eigentlichen Ausdrücke« zu verlassen und auf »Seitenpfade« zu »flüchten«, während die forensischen Redner »gewappnet an der Front stehen, um die wichtigsten Entscheidungen kämpfen und um den Sieg ringen«.11 Die von den pedes abgeleitete Metapher vom Weg erlaubt die Überleitung zum Feld der Kriegsführung und damit eine besonders im römischen Kontext effektive Abwertung der Dichtung zur unmännlichen Nebenkunst.12 Durch den zielgerichteten Einsatz von Tropen wird die Dichtung aus dem Felde geschlagen. Quintilians Darstellung poetischer Sprache erfolgt zwar aus anderer Perspektive, steht jedoch durchaus in Einklang mit der Position von Aristoteles in der Poetik: Die sprachliche Form der Dichtung charakterisiert dieser unter Verweis auf »Glossen und Metaphern und viele Veränderungen der Sprache […]; denn dies gestehen wir ja den Dichtern zu«.13 Das aristotelische ›Zugeständnis‹ ist zugleich eine Abwertung der Dichtung unter Voraussetzung der für die eigene Disziplin geltenden sprachlichen Norm. Aus der philosophischen Perspektive von Aristoteles mangelt ihr der direkte Bezug zur Wahrheit; aus der rhetorischen Perspektive Quintilians lenkt die dichterische Sprache vom Wichtigsten ab – dem allgemeinen Interesse. Indem jedoch beide Disziplinen kontextabhängig mit verwandten Argumenten operieren und zuweilen auch das friedliche Zusammenspiel von Philosophie, Rhetorik und/oder Dichtung vorsehen,14 liefern sie der Dichtung ein enormes Spektrum an möglichen Argumenten für die Bestimmung und Legitimierung der eigenen Disziplin und Kunst. Deutlich wird das Spektrum, wenn man Quintilians Erörterung der Frage verfolgt, welche Stellung die Rhetorik innerhalb der Künste einnimmt. Er unterteilt diese in drei Gattungen: betrachtend, d. h. auf Erkenntnis und Bewertung aus11 12 13 14
Ebd. (X, 1, 29). Vgl. die Geschlechtsmetaphorik bei Quintilian, ebd., S. 152 f. (VIII, 3, 6). Aristoteles 1994, S. 86 f. (Kap. 25; 1460b). Das umfassende System von Aristoteles weist Philosophie, Rhetorik und Poetik den je eigenen Platz zu, und er bestimmt in ›Personalunion‹ entscheidend deren jeweilige Begründung. Der Autor der »Rhetorica ad Herennium« betont gleich eingangs, er widme sich »gewöhnlich lieber der Philosophie« (Rhetorica ad Herennium 1998, S. 6 f.; I, 1). Cicero feiert Platon als »bedeutendsten und maßgeblichen Lehrmeister nicht nur des Erkennens, sondern auch des Redens« und entwickelt sein Idealbild vom Redner unter Bezug auf dessen »Urbilder der Dinge« (Cicero 2004, S. 22 f.; 3, 9–10); auch betont er die Notwendigkeit der Philosophie für den Redner (ebd., S. 26 f.; 4, 14–16). Quintilian hebt unter Berufung auf Cicero die ursprüngliche Einheit von Philosophie und Redekunst hervor (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 8 f.; I, Pr., 13. Vgl. Cicero 1976, S. 482–485; III, 16, 60). Insgesamt ist das Argument der Einheit eher ein rhetorischer als ein philosophischer Topos: So kritisiert Cicero unter Hervorhebung der umfassenden Redekunst diejenigen, die »gleichsam die Behausung ihres Lebens in den Grenzen einer einzigen Philosophie errichtet haben« (ebd., S. 494 f.; III, 21, 77).
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gerichtet (z. B. Astronomie), handelnd, d. h. im Handeln sich selbst erfüllend (z. B. Tanzkunst), und bildend oder erschaffend (z. B. Malerei).15 Er kommt zu dem Schluss, die Rhetorik sei primär handelnd, nehme jedoch von den beiden anderen Kunstgattungen viel dazu: So gehöre die »auf ein Erzeugnis gerichtete Kunst« beispielsweise hinsichtlich der schriftlichen Veröffentlichung zum Metier des Redners. Auch meint er, dem Redner entstehe möglicherweise der größte Gewinn aus der Rhetorik, wenn er sich am Ende seines Lebens den kontemplativen »Studien in der Abgeschiedenheit«, der »reinen Freude an der Wissenschaft« und der »Muße eigener Betrachtungen« widmen könne.16 Quintilian geht hier auf die Dichtung nicht ein. Seine Betonung des variablen Potenzials der Rhetorik lässt sich jedoch angesichts der traditionellen Verbindungen der beiden Disziplinen auf sie übertragen. Den Dichtern steht insofern eine Disziplin zur Verfügung, die sich kontemplativ, performativ oder gestaltend verwirklichen lässt. Im Übergang zu anderen Disziplinen sind ihr dann keine Grenzen gesetzt. Besonders produktiv ist das vor allem durch die Rhetorik tradierte Angemessenheitsprinzip (aptum, decorum), demzufolge Sprache und Form den Gedanken beziehungsweise dem Gegenstand zu entsprechen haben. Dieses Prinzip findet sich auch bei Platon, der es vor allem ethisch begründet, wenn er im Gorgias das Ideal des Redners unter Bezug auf das Gute und Schöne darstellt; allerdings hebt Sokrates hervor, dass dieses Ideal noch nie verwirklicht worden sei. Es ist »der rechtschaffene Mann, der um des Besten willen sagt, was er sagt«, und der so verfährt wie ein handwerklicher Künstler: Er zwingt »jedes, was er hinzubringt, […] sich zu dem andern zu fügen und ihm angemessen zu sein, bis er das ganze Werk wohlgeordnet und ausgestattet mit Schönheit dargestellt hat«.17 Quintilian erläutert das Prinzip spezifisch für die sprachliche Gestaltung, wobei er unter Bezug auf die Wirkung der Rede eine Interaktion von Sprache und Gehalt voraussetzt: da ja der Redeschmuck vielgestaltig und vielfältig ist und sich zu jeder Rede in anderer Form schickt, wird er, falls er den Gegenständen und Personen der Rede nicht angemessen ist, die Rede nicht nur nicht besser zur Geltung bringen, sondern sie sogar entwerten und die Kraft der Gedanken, die sie enthält, gegen sie selbst richten.18
Damit wird disziplinübergreifend eine flexible Struktur geschaffen, innerhalb derer auch die Dichtung auf verschiedenste Weise gestaltet, verortet und gerechtfertigt werden kann. Zugleich eröffnet sich insgesamt mit diesen Debatten ein weites Gebiet, in dem auch andere Disziplinen zur Schlacht antreten – allen voran die Theologie. 15 16 17 18
Quintilian 1995, Bd. 1, S. 264 f. (II, 18, 1 f.). Ebd. (II, 18, 2–5). Platon 1994, Bd. 1, S. 421 (Gorgias, 51; 503d-504a). Quintilian 1995, Bd. 2, S. 544 f. (XI, 1, 2). Vgl. insgesamt seine detaillierten Ausführungen zu diesem Prinzip, ebd., S. 544–585 (XI, 1, 1–93).
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Für die Profilierung der deutschsprachigen Poetik ist die Partizipation der Theologie bestimmend: Der erste poetologische Text der ›deutsch‹-sprachigen Tradition stammt von dem fränkischen Mönch Otfrid und legitimiert seine Evangelienharmonie. Bereits seit den Schriften der Kirchenväter ist der Status der klassisch fundierten Poesie von theologischer Warte aus kontrovers, vor allem dann, wenn grundsätzlich unter Berufung auf die alleingültige »Fürsorge des Heiligen Geistes« die antike »Lehre von Menschen« abgelehnt wird.19 Wenn der Kirchenvater Tertullian – selbst zunächst ein römischer Rhetor – eine Verbindung zwischen »Athen und Jerusalem«, »Akademie« und »Kirche« leugnet und das heidnische Erbe damit aus dem Christentum zu eliminieren sucht,20 so zeigt dies die enorme Spannung zwischen den Traditionen. Zugleich impliziert Tertullian mit Parallelismus und Metonymie eine Verknüpfung, die gerade die klassisch hochgebildeten Kirchenväter zum Netzwerk verdichteten. Die Debatten um Ursprung, Geschichte, Vorbilder, Bedeutung und sprachliche Legitimation der Bibel gegenüber dem antiken Kanon bestimmten bis in die Romantik die Fragestellungen der Poetik, und manche Argumente wirken fort bis in die Gegenwart. Fraglich ist, ob Harold Bloom den Kern trifft, wenn er Platons Wettstreit mit Homer zum »zentralen Agon« der abendländischen Literatur erklärt.21 Denn wenn auch dieser griechische Agon den dokumentierten ›Ursprung‹ der okzidentalen Debatte um die Dichtung darstellt, so ist für die modernen europäischen Literaturen auch dessen Fortführung wichtig: der Agon zwischen Akademie und Kirche, Heidentum und Christentum, Homer und Bibel, Odysseus und Christus. Wesentlich wäre insofern der Agon als diskursförderndes Prinzip. In der historiographischen Darstellung deutscher Poetik seit dem 19. Jahrhundert sind agonale Prozesse tendenziell ausgeblendet worden, da idealistisch geprägte Vorstellungen von Dichtung als stabiler Maßstab galten, an dem der Grad jeweiliger poetologischer Erkenntnis zu messen war. Hilfreich ist es daher, den Kontext für die Herausbildung idealistischer Vorstellungen zu beleuchten, denn in den virulenten Debatten um die Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts profilierten sich auch ganz andere Möglichkeiten der Poetik. Diese Debatten in Erinnerung zu rufen ist nicht nur historisch interessant, denn die Spannung zwischen den unterschiedlichen Positionen zeigt, dass postmoderne Ansätze keineswegs ein Abweichen von Tradiertem sind, sondern einen Diskurs fortführen, der bis in vorsokratische Zeiten zurückreicht. 19 20 21
Tertullian 2002, S. 244 f. (de praescr. 7, 7), unter Bezug auf Kol. 2, 8. Ebd. (de praescr. 7, 9). Diese Gegenüberstellung liefert wiederum den Titel für das grundlegende Werk von Joachim Dyck zur »Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert« (vgl. Dyck 1977, Titel und S. 27). Bloom 1997, S. xxiv; vgl. oben, S. 3.
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I. Spielraum der Poetik
Im Vordergrund stehen hier Texte aus der griechisch-römischen Antike, da diese die grundlegenden Debatten der okzidentalen Poetik inaugurierten und ein weites Spektrum von Ansätzen bieten.22 Gewissermaßen als Kontrapunkt sollen dann einige Fragen erörtert werden, die mit der Auseinandersetzung um die Beziehung zwischen Bibel und antikem Kanon in den Diskurs eingebracht wurden. Im Anschluss daran werden Beiträge zur deutschen Poetik im Zeitalter des Idealismus sowie der Beitrag Nietzsches diskutiert, nicht um deren Repräsentativität für die deutsche Poetik zu signalisieren, sondern um stichpunktartig aufzuzeigen, wie die antiken Kontroversen in die ›moderne‹ Poetik tradiert werden. Abschließend wird dann der Spielraum der Poetik zum Spielraum der Dichtung in Bezug gesetzt. Ziel ist insgesamt in diesem Kapitel eine Skizze von ›poetologischen Relationen‹, auf die dann in den folgenden Kapiteln Bezug genommen wird. Mit der Auswahl der Texte soll nicht besagt werden, dass diese zu irgendeinem Zeitpunkt ›Grenzen‹ deutschsprachiger Poetik markierten. Auch kann nicht vorausgesetzt werden, dass der hier als ›Spielraum‹ vorgestellte Komplex zu allen Zeiten verfügbar war. So wird die Poetik des Aristoteles erst in der Renaissance erschlossen und erhält erst im 18. Jahrhundert ihren heute allgemein akzeptierten überragenden Stellenwert; und das kirchliche Dogma tritt erst ab dem 18. Jahrhundert als Maßstab für sakrale Dichtung allmählich in den Hintergrund, wobei allerdings auch vorher die Komplexität der exegetischen Tradition und die Wirkung des antiken Schrifttums vielfältigste Interpretationen ermöglicht hatten. Grundsätzlich erlaubt die Frage, was als ›Dichtung‹ zur ›Poetik‹ in Bezug gebracht werden kann, keine stabile Antwort, da diese Beziehung letztlich die Funktion zweier kulturabhängiger Begriffe ist. Auch spielen neben Verfügbarkeit und Legitimität die jeweiligen Bildungsvorgaben eine entscheidende Rolle. So hat der heutige Dichter Zugang zu einem poetologischen Universum mit einer reichen Vielfalt an antiken und modernen Texten aus Kulturen in aller Welt, ohne dass jedoch damit automatisch eine eingehende Auseinandersetzung mit poetologischer Literatur gegeben wäre. Demgegenüber haben sich im 18. Jahrhundert auch die Dichter des Genie- und Naturkults von Jugend auf gründlich mit dem klassischen Kanon, mit der Bibel und mit poetologischen Grundsatzfragen befasst. Es geht im Folgenden nicht um eine Würdigung der historischen Bedeutung bestimmter Texte oder um den Erweis ihrer spezifischen Wirkungen, sondern – extrem selektiv – um poetologische Fragestellungen, die von kanonisch gewordenen Texten in den Vordergrund gerückt werden, 22
Vgl. zu diesem Komplex Fuhrmann 1973. Er behandelt insbesondere Aristoteles, Horaz und Longin, geht jedoch im Kontext der aristotelischen Poetik auch auf Platon ein (ebd., bes. S. 72–90). Fuhrmann bezieht auch die deutschsprachige Rezeption durch Opitz, Gottsched, Lessing und Lenz ein, beschränkt sich jedoch auf die Rezeption der »Poetik« des Aristoteles.
I. Spielraum der Poetik
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sowie um poetologische Modelle, denen die Texte mentale und sprachliche Form verleihen.23 Inwieweit die Tradierung solcher Modelle von individuellen Autoren und spezifischen Texten abhängt, ist in manchen Fällen textkritisch nachweisbar, häufig jedoch schwer auszumachen, da Traditionen zuweilen unterschwellig oder mit Unterbrechungen fortwirken und indirekt – auch über opponierende Richtungen – vermittelt werden können. So ist es beispielsweise bei Platons Werk angesichts der mangelnden direkten Rezeption seiner Schriften über große Zeiträume hinweg und in Anbetracht der argumentativen Verflechtung mit der sophistischen, aristotelischen und dann der christlichen Tradition kaum möglich, eine spezifische Wirkung zu bestimmen oder eine generelle Wirkung auszuschließen. Ähnlich komplex verhält es sich mit der Tradition der aristotelischen Poetik. Dass sie als ›Ursprung‹ der wissenschaftlichen Poetik gewertet wird, ist nicht zuletzt ein Zufall der Überlieferung sowie ein begriffsorientiertes Konstrukt der von der Poetik mitbestimmten Literaturgeschichte: Frühere der Dichtkunst gewidmete Werke sind verloren, und in der Antike wurde die Schrift kaum rezipiert; ihr moderner Status ist auf die Rezeptionsbedingungen in der italienischen Renaissance zurückzuführen.24 Die Antwort auf die Frage nach der Verarbeitung (und damit Tradierung) aristotelischen Gedankenguts in der horazischen Ars poetica bleibt spekulativ, und offen ist zumeist auch die Frage, inwieweit selbst Neoklassizisten den Text tatsächlich lasen.25 Ziel im gegenwärtigen Kontext ist die Skizze eines Netzwerks von Argumenten, mit denen poetologische Grundsatzfragen erörtert werden, denn um diese geht es immer wieder in der Diskussion auch um deutsche Dichtung. Auf diese Weise sollen nicht nur verschiedene Standpunkte deutlich werden, sondern auch (grob vereinfacht) deren Beitrag zu einem immer wieder anders strukturierten poetologischen Kontext. Wenn auch punktuell Motive und Metaphern hervorgehoben werden, steht die Frage nach der Bestimmung und Funktion von poetologischen Metaphern erst in den nächsten Kapiteln zur Diskussion. Mit dem hier erstellten Entwurf soll ermöglicht werden, die dort isolierten Beispiele als Teil eines argumentativen Prozesses zu lesen. Zugleich soll dieses Kapitel dazu dienen, den in den folgenden Kapiteln vorausgesetzten Begriff von ›Poetik‹ zu verdeutlichen; die Grundthesen sind am Ende des Kapitels aufgeführt. 23
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Auf die immense Sekundärliteratur zu diesen Texten kann hier nicht eingegangen werden, und Fragen der angemessenen Übersetzung werden stillschweigend übergangen. Krasse Vereinfachungen seien damit entschuldigt, dass es hier weniger ums Detail geht als um die Hervorhebung der in den Texten thematisierten Problemkreise. Vgl. Fuhrmann 1994, S. 173–178; Halliwell 1998, S. 286–323. Vgl. Halliwell 1998, S. 287–289. Er bemerkt unter Bezug auf die Debatte um die ›drei Einheiten‹, dass das Werk auch in dezidiert neoklassizistischen Kreisen zumeist ohne gründliche Auseinandersetzung mit dem Detail als Instrument der Legitimation eingesetzt wurde (ebd., S. 287).
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I. Spielraum der Poetik
1. Platon: Poetik als Agon Platons Politeia präsentiert in Fortführung des »alten Streits zwischen Philosophie und Dichtung«26 eine virtuos formulierte anti-Poetik: Die Etablierung der Philosophie soll die Macht der Dichtkunst brechen.27 Mit einem als ganz neu dargestellten, auf die rationalen Fähigkeiten gegründeten Modell vom Menschen sucht Platon der Dichtung ihren Rang streitig zu machen und die Philosophie als allein maßgebende Instanz des menschlichen Lebens einzusetzen. Dabei fungiert die Metapher vom Staat als umfassender Rahmen und die Metapher vom Wettkampf als treibende Kraft: »Nun wollen wir in Gedanken einen Staat von Anfang an entstehen lassen«, spricht Sokrates im zweiten Buch,28 und das Werk kulminiert im Jenseits, »wenn wir die Siegespreise der Gerechtigkeit davontragen, wie die Siegesträger, die ringsum Preise sammeln«.29 Innerhalb dieses ambitionierten Denkmodells liefert Platon eine so umfassende wie polemisch anregende Charakterisierung des Menschen: Sie reicht von der Struktur seines Innenlebens über seine gesellschaftlichen Rollen bis hin zu seiner metaphysischen Bestimmung.30 In all diesen Bereichen wird auch die Rolle der Dichtung deutlich. Dass sie durchgängig als Verlierer aus dem Diskurs hervorgeht, schmälert nicht das ungeheure poetologische Potenzial, das mit dem Werk freigesetzt wird, denn gerade die polemische, lebhafte, sprachmächtige Darstellung regt zur produktiven Auseinandersetzung an. Die Verortung der Dichtung bei Platon erfolgt im Rahmen einer virulenten Debatte, in der Philosophie und Rhetorik als Hauptkontrahenten aufeinandertreffen; im Zentrum von Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten steht die Wirkung der Sprache. Dass die Sprache verderblich wirken kann, betonen dabei nicht nur die Philosophen. Eloquenten Ausdruck 26 27
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Platon 1982, S. 449 (10. Buch; 607b). Hier geht es spezifisch um das Bild von der Dichtung, das Platon vor allem im »Staat« entwirft. Bei Platons Bezug zur griechischen Dichtung ist vor allem die folgende Frage interessant, die Ferrari zu beantworten sucht: »The great challenge for any interpreter of Plato’s views on poetry is to appreciate why he is so uncompromisingly hostile towards it« (Ferrari 1989, S. 92). Faszinierend ist diese Frage nicht zuletzt deshalb, weil punktuell in seinem Werk eine hohe Wertschätzung der Dichtung und Sensibilität für ihre Wirkung erkennbar wird und spätere Generationen die dichterischen Qualitäten in seinem Werk loben. Platon 1982, S. 139 (2. Buch; 369c). Ebd., S. 467 (10. Buch; 621c-d). Fuhrmann konstatiert zwar die bedeutende Wirkung der platonischen Kunstlehren, bewertet sie jedoch als »lediglich ein Stück Vorgeschichte der Dichtungstheorie« (Fuhrmann 1973, S. 73). Diese These ist nur dann haltbar, wenn die Poetik auf eigenständige Werke eingeschränkt wird. Dementsprechend schließt Fuhrmann »die immanente Dichtungstheorie, wie sie besonders in die Proömien […] eingegangen ist«, aus seiner Untersuchung aus, zumal »der diffuse Stoff […] wegen seines weithin konventionellen Charakters verhältnismäßig wenig her[gibt]« (ebd., S. XIV). Maßgebend ist ihm die ›Originalität‹.
1. Platon: Poetik als Agon
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erhält dieser Topos vor allem in der Helena-Rede des Sophisten Gorgias, in der er Helena von jeglicher Verantwortung für ihr Tun losspricht, da sie dem Zwang der Rede erlegen sei: Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen zur körperlichen Konstitution: Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Redenden die einen Leid, die andern Genuß, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung. Daß sie mithin, wenn sie durch Rede bekehrt wurde, kein Unrecht tat, sondern ins Unglück geriet, ist so ausgesprochen.31
Gorgias liefert hier eine psychologische Bestimmung der Sprache. Indem er ihre Macht über den Menschen hervorhebt und ihre Wirkung mit der physiologischen Wirkung von Drogen vergleicht, assoziiert er sie mit Kräften und Substanzen, die von außen kommend die inneren, emotional-mentalen Prozesse des Menschen steuern. Gorgias entwirft einen Menschen, der aufgrund seines kurzen Gedächtnisses, seines begrenzten Wissens und seiner mangelnden Voraussicht hilflos den Meinungen anderer ausgesetzt ist; auf diese Weise vermag Rede die Seele mittels Überredung zu »prägen«.32 Die Sprache ist demnach mit den gesamten emotionalen und kognitiven Prozessen verbunden.33 Ein Bruch tut sich bei den Sophisten jenseits des menschlichen Denkens auf: Wahrheit ist entweder dem Menschen nicht erkennbar oder nicht existent. Da es keinen stabilen Bezug zwischen metaphysischer Wahrheit und menschlichem Denken gibt, ist das Denken selbst sowie auch die Beziehung zwischen Sprache und Denken unstabil; gemeinsam ist den Sophisten somit ein relativistischer Ansatz.34 Sprache dient nicht dem Ziel der Wahrheitsfindung, sondern der Etablierung eines Konsenses im kontinuierlichen Prozess des Widerstreits von Meinungen. Gorgias hat im Zeichen poststrukturalistischer Fragestellungen als Gegenstimme zu Platon neues Interesse auf sich gezogen; so stellt eine 2001 erschienene Anthologie literaturtheoretischer Texte von Antike bis Gegenwart programmatisch seine Helena-Rede an den Anfang. Seinen Lebensdaten entsprechend wird Gorgias Platon dort zeitlich vorgeordnet, zugleich 31 32 33 34
Gorgias 1989, S. 10–13 (Lobpreis der Helena, Fragment 11, Abs. 14 f.). Ebd., S. 10 f. (Abs. 13). Die Meinung, dass Sprache das Innerste des Menschen moralisch zu affizieren vermag, wird auch bei Platon betont: »sich unschön ausdrücken […] bildet auch etwas Böses ein in die Seele« (Platon 1994, Bd. 2, S. 181; Phaidon, 57; 115d). Vgl. Kennedy 1989b, S. 82–85. Die Erörterung der Beziehung zwischen Sprache, sinnlicher Wahrnehmung und mentalen Prozessen ist bereits bei den Griechen durch ungeheure Komplexität gekennzeichnet; Ähnliches gilt für die Frage nach der jeweiligen Zuständigkeit und Interaktion verschiedener Teile des Gehirns. Dabei ist nicht nur von übereinstimmenden und gegensätzlichen Positionen auszugehen, sondern auch von partiellen Überschneidungen bei konkurrierenden Positionen.
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I. Spielraum der Poetik
aber als dessen Antithese dargestellt und als ›Antizipation‹ des Poststrukturalismus verstanden. Damit aber wird er zum isolierten Phänomen, das auf die Erfüllung durch den Poststrukturalismus wartet: »Gorgias’s ›Encomium of Helen‹ develops a classical rhetoric antithetical to Platonic poetics, one that anticipates Jacques Derrida’s twentieth-century critique of Plato.«35 Hilfreicher ist jedoch die Vorstellung, dass Gorgias und Platon zu einer Debatte um die Rolle der Sprache in Bezug auf Mensch und Wahrheit beitrugen und als herausragende Exponenten die Opposition zwischen Rhetorik und Philosophie strukturbildend verschärften. Die enorme Wirkung Derridas – oder auch Nietzsches – erklärt sich aus der Kurzlebigkeit des menschlichen Gedächtnisses und der Begrenztheit des jeweils zirkulierenden Wissens: Denn beide tradieren rhetorisches Gedankengut, das durchgängig zur westlichen Diskussion um die Dichtung beigetragen hat, auch wenn es zeitweilig durch die Vormacht der Philosophie an den Rand des akademischen Bewusstseins gedrängt wurde. In dezidiertem Gegensatz zu den Sophisten gründet das Projekt Platons in der Abschottung des Geistes beziehungsweise der Seele von der Macht des Körpers, der Emotionen und der Sprache. Der Kampf gegen die Dichtung ist somit nicht nur ein Kampf gegen eine konkurrierende Bildungsmacht, sondern ein Kampf um das Heil des Menschen. Im Vordergrund steht bei Platon der Mensch als moralisches Wesen mit seinem für das Wahre empfänglichen Innenleben, seinem Bezug zur Gesellschaft und seinem Streben nach einer an metaphysischer Wahrheit orientierten Vervollkommnung. Indem sich der Philosoph zur alleinigen Instanz für das Wahre und Gute erklärt, kommt ihm auch das allein gültige Urteil über die Dichtung zu – ein Urteil, in dem vorrangig moralische Kriterien gelten, wie Platon bis in gattungsspezifisches Detail hinein ausführt. Maßstab ist die mit Gott kongruente Wirklichkeit: »So wie Gott wirklich ist, so ist er immer darzustellen, in Epos, Lied und Tragödie.«36 Auszuscheiden ist daher eine Erzählung, wenn der Autor »die Götter und Heroen in ihrem Wesen schlecht darstellt, wie ein Maler, dem sein Bild nicht dem Original ähnlich gelingt«.37 Da Tugend und Glück übereinstimmen, ist auch eine Darstellung von glücklichen schlechten Menschen sowie unglücklichlichen guten Menschen als lügenhaft auszumerzen.38 Aufnahme im Musterstaat findet neben für Kinder bestimmten Märchen lediglich eine Dichtung, die das Wahre und Gute tradiert und fördert, nämlich »die Hymnen auf Götter und die Loblieder auf gute Menschen«; der Philosoph wacht über die höchsten Werte des Staates und ist daher gezwungen, andere Formen der 35 36 37 38
Leitch 2001, S. 29. Die »Norton Anthology of Theory and Criticism« versteht sich als »the most wide-ranging and comprehensive collection of its kind« (S. xxxiii). Platon 1982, S. 153 (2. Buch; 379a). Ebd., S. 152 (2. Buch; 377e). Ebd., S. 169 f. (3. Buch; 392a-b).
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Dichtung zu eliminieren: »Wenn du […] die heitere Muse in Lied und Epos aufnimmst, werden Lust und Leid im Staate Könige sein statt des Gesetzes und der Vernunft, die doch überall und immer für das Beste gelten.«39 Der »nachahmende« (d. h. vor allem der epische und tragische) Dichter steht zum Philosophen in diametralem Gegensatz, wie vor allem das zehnte Buch ausführt: Er arbeitet dem Guten entgegen, da er die Wahrheit nicht zu erkennen vermag, lediglich dem Geschmack der Menge folgt und den für die Wahrheit unempfänglichen Teil der Seele fördert. Als nachahmende Kunst ist die Dichtung »selbst wertlos, vereint sich […] mit Wertlosem und zeugt Wertloses«.40 Dem nachahmenden Dichter gebührt daher im Idealstaat kein Platz.41 Platon bringt ästhetische Werte zum moralisch Guten in Opposition und befasst sich vorwiegend mit der verderblichen, die Emotionen affizierenden Wirkung der Dichtung. So wird gewarnt, dass Dichtung »die Kraft hat, auch vortreffliche Menschen zu schädigen«,42 weil sie dazu anregt, die vom vernünftigen Menschen selbst angesichts persönlichen Leids angestrebte Beständigkeit der Seele aufzugeben: »Wenn die Besten von uns einen Homer hören oder einen anderen tragischen Dichter, der einen Helden darstellt, wie er in tiefem Leid steckt […], dann freuen wir uns […], geben uns ganz hin und folgen voll Teilnahme, loben sogar als guten Dichter den, der uns am stärksten erregt.«43 Besondere Betonung liegt dabei auf der moralischen Indeterminiertheit der Dichtung, die auch das moralisch Falsche in die Darstellung miteinbezieht – wobei Platon das Unwahre argumentativ mit dem moralisch Unzweckmäßigen koppelt. So werden zum Erweis der Notwendigkeit der Zensur Stellen aus Ilias und Odyssee zitiert, in denen »Dinge im Hades und ihre Schrecken« dargestellt sind, die »weder wahr noch förderlich für zukünftige Kämpfer« sind; das ›Streichen‹ solcher Stellen legitimiert er wie folgt:44 wir tun’s nicht, weil [sie] undichterisch wären oder unangenehm zu hören für die breite Masse; gerade weil sie dichterisch sind, dürfen sie um so weniger von Kindern und Menschen gehört werden, die frei sind und die Knechtschaft mehr als den Tod fürchten sollen.45
Das im deutschen Idealismus so bedeutsame Kriterium der Autonomie erscheint hier in seiner konkret politischen Signifikanz. Deutlich wird damit, wie Platons Staat einerseits mit seiner Tendenz zur gedanklichen 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., S. 449 (10. Buch; 607a). Ebd., S. 443 (10. Buch; 603b). Impliziert ist das moralisch Schlechte, vgl. Platon 1994, Bd. II, S. 515. Platon 1982, S. 178 (3. Buch; 398a) und S. 449 (10. Buch; 607a-b). Ebd., S. 447 (10. Buch; 605c). Ebd. (10. Buch; 605c-d). Ebd., S. 160 f. (3. Buch; 386b-c). Ebd., S. 162 (3. Buch; 387b).
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I. Spielraum der Poetik
Abstraktion eine an philosophischen Idealen orientierte ästhetische Poetik zu legitimieren vermag, andererseits aber auch die Grundlage für eine politisch funktionale Poetik bilden kann: Eine ähnlich präskriptive – und utopische – Ineinssetzung des Wahren mit dem Förderlichen begegnet in der Poetik und praktischen Zensur des sozialistischen Realismus.46 Die philosophische Diskussion um Dichtung im Staat erzielt systematisch deren zeitliche Nachordnung, räumliche Ausgrenzung und moralische Abwertung. Grundlegend für die Auffassung von der Dichtung ist die Spaltung der menschlichen Seele in einen rationalen und einen irrationalen Teil:47 Dabei ist »der Teil, der auf Maß und Berechnung vertraut, […] wohl der beste Teil der Seele«, während »sein Gegenteil […] zu dem Schwachen in uns [gehört]«.48 Entsprechend orientiert sich die Philosophie am mathematisch-logischen Denken,49 zu dem die Sprache keinen Bezug hat: Sie gehört dem der Wahrheit unter- und nachgeordneten Bereich des Werdens an, denn »was man in Worten ausdrückt, ahmt ja bloß den Vorgang in der Seele nach, ist also ein spät entstandenes Nachbild«.50 Nur dieser schlechte Teil wird von der Dichtung verführerisch angesprochen, denn wie auch jede andere nachahmende Kunst macht sie sich »an jenen Seelenteil in uns heran, der selbst weitab ist von jeder Einsicht, und ist ihm traute Freundin zu keinem gesunden und echten Ziel«.51 Sie affiziert »den Teil der Seele, […] womit sie liebt und hungert und dürstet und Spielball der andern Begierden ist, den unvernünftigen, begehrenden Teil, den Freund der Befriedigungen und Lüste«.52 In einem binär unterteilten Modell vom menschlichen Innenleben steht die Dichtung somit in Beziehung zu den Emotionen, zur Sexualität sowie zu den anderen Bedürfnissen des Körpers und ist von kognitiv-rationalen, logischen Prozessen ausgeschlossen, die aufgrund ihrer größeren Nähe zur Wahrheit tendenziell höher vorzustellen sind. Die emotional erregende Wirkung der Dichtung wird zudem als physiologisch schädlich gesehen, denn ein unkontrollierter Ausdruck des Leids ist Krankheit der Seele: »[Man muß] die Seele gewöhnen, sich möglichst 46 47
48 49 50 51 52
S. u., S. 270 f. Platon 1982, S. 233 (4. Buch; 439d). Für den »Mut und die zornvolle Erregung« sieht Platon noch einen dritten Teil der Seele vor (ebd., S. 233; 4. Buch; 439e); dieser wird jedoch schon im 4. Buch vorschlagsweise an den zweiten Teil angenähert und im 10. Buch offenbar vom zweiten Teil abgedeckt (ebd., S. 443 f.; 602e-603b). Im Dialog »Phaidon« steht die Trennung von Leib und Seele im Vordergrund, wobei der Leib dem »Sichtbaren« ähnlich ist, die Seele dagegen dem »Unsichtbaren« (Platon 1994, Bd. 2, S. 136; Phaidon, 24; 79a). Platon 1982, S. 443 (10. Buch; 603a). Impliziert ist wiederum das moralisch Schlechte, vgl. Platon 1994, Bd. 2, S. 515. »Die Erkenntnis der Geometrie geht um das ewig Seiende […]. Somit führt sie […] die Seele zur Wahrheit und erzielt ein philosophisches Denken, das unseren Geist nach oben hebt, den wir jetzt wider Gebühr nach unten richten« (Platon 1982, S. 344; 7. Buch; 527b). Ebd., S. 158 (2. Buch; 382b). Ebd., S. 443 (10. Buch; 603b). Ebd., S. 233 (4. Buch; 439d).
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rasch der Heilung zuzuwenden und der Wiederaufrichtung des geschädigten und erkrankten Teils, indem man durch die Heilkunst das Jammergeschrei vertreibt.«53 Kennzeichnend für die dem Guten zugewandte Seele ist eine rational ausgeübte, durch Erhaltung räumlicher und zeitlicher Stabilität gekennzeichnete Kontrolle: »Gerade die tapferste und vernünftigste Seele wird ein äußerer Anlaß am wenigsten erschüttern und wandeln.«54 Die Dichtung wird dabei als von außen auf die Seele einwirkende Anfechtung verstanden, sie wirkt »in Liebesgenüssen, im Zorn, kurz in allen begehrenden Erregungen der Seele, den schmerzlichen wie den freudigen« als falscher Gärtner und kehrt die rechtmäßigen seelischen Herrschaftsverhältnisse um: »Sie nährt und begießt, was ausdörren sollte, setzt als Herrscher ein, was beherrscht werden sollte, damit wir besser und glücklicher statt schlechter und unglücklicher werden.«55 Hier kommt allerdings ein geschlechtlicher Unterschied zum Tragen, denn Beständigkeit gegenüber emotionaler Erregung ist Sache nur des Mannes, während Frauen dazu neigen, sich ihren Emotionen hemmungslos hinzugeben und daher auch für die verderbliche Wirkung des Theaters besonders empfänglich sind.56 Platons Darstellung der Wirkung von Dichtung befasst sich demnach unter negativem Aspekt umfassend mit dem rationalen, emotionalen, physischen und geschlechtlichen Leben des Menschen, wobei er eindrucksvolle Metaphern einsetzt, um abstrakten, sprachlich schwer fassbaren Prozessen Anschaulichkeit und seinen Argumenten Überzeugungskraft zu verleihen: Zu den grundlegenden Metaphern gehören Vertikalität, Stabilität, räumliche Entfernung, Reinheit, Herrschaft, Gesundheit. Diese Metaphern lassen sich von späteren Generationen in durchaus anderen Kontexten aufgreifen, abwandeln, in ihrer Wertung umkehren und durch neue ersetzen. Fundamental ist insgesamt die phantasievolle, reich ausgestaltete Verortung der Dichtung in Bezug auf Geist und Körper. Die Argumente zur Beschaffenheit der Dichtung und ihrer Wirkung auf den Menschen lassen sich ebenso zum moralisch definierten christlichen Weltbild in Beziehung bringen wie zur freudschen Psychologie. Auch die Aktivitäten des Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft werden zur Diskreditierung der Dichtung eingesetzt. Konstitutiv ist die Einordnung der Dichtung in die »nachahmenden Künste«, die vor allem von der Malerei repräsentiert werden und dem manuell praktischen Handwerk untergeordnet sind; es ist dies ein hierarchisches Argument, das noch im Idealismus zentral ist, wobei dort ähnliche disziplinäre Bündnisse sowie 53 54 55 56
Ebd., S. 445 f. (10. Buch; 604c-d). Ebd., S. 156 (2. Buch; 381a). Ebd., S. 448 f. (10. Buch; 606d). Ebd., S. 447 (10. Buch; 605e).
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I. Spielraum der Poetik
die absolute Vorrangstellung der Philosophie gegeben sind, aber die Kunst gegenüber dem Handwerk aufgewertet ist. Den Unterschied zwischen Philosophie und Dichtung erläutert Sokrates anhand des auf drei Ebenen durchgespielten Beispiels von einem Bett:57 Wirklichkeit und Wahrheit beanspruchen kann nur die eine »Idee« vom Bett in seiner wesenhaften, von Gott geschaffenen Form. Nach dieser fertigt der Tischler die Möbelstücke: Sein Bett ist Stückwerk, das der Idee nur ähnelt, ohne wie diese wahr und wirklich zu sein. Der Maler – analog zum Dichter – kann dann lediglich das Bett des Schreiners repräsentieren: Er ahmt ein Abbild nach. Sein Werk hat die Scheinrealität eines Spiegelbildes, das noch nicht einmal die Wahrheit selbst, sondern nur deren Repräsentation wiedergibt.58 Den Dichtern wird damit jeglicher Kontakt zur Wahrheit abgesprochen:59 Ohne fundiertes Wissen über das Dargestellte bilden sie nur das nach, »was der breiten und unwissenden Menge als schön erscheint«.60 Ihre Nachahmung ist »eine Art Spiel ohne Ernst«61 – ein Argument, das Kant abwandelt, um die wahrhaft freie Kunst von einer mit bloßem Spiel assoziierten disziplinlosen Kunst zu unterscheiden.62 Die Dichtung ist daher ausgeschlossen von dem als »Aufstieg« konzipierten Prozess der philosophischen Bildung im Idealstaat: »Es ist das Herausführen der Seele aus einer Art nächtlichem in den wirklichen Tag, heran an den Aufstieg zum Seienden, den wir die wahre Philosophie nennen werden.«63 Diese Befreiung sollte in der idealistischen Ästhetik und ihrer legitimierenden Rezeption wirkungsvoll von der Seele auf die Kunst übertragen werden. Zentrales Argument im Staat ist die öffentliche Nutzlosigkeit der Dichter, die Sokrates unter Bezug auf den wortreichen, aber tatenlosen Homer erweist:64 Homer hat niemanden geheilt, hat über Feldzüge nur gespro57 58
59 60 61 62 63 64
Ebd., S. 432 (10. Buch; 596a-598d). Der Herausgeber und Übersetzer Vretska ersetzt mit Rücksicht auf moderne Verhältnisse das Liegesofa bei Tisch (meist als ›Bett(gestell)‹ wiedergegeben, vgl. Platon 1994, Bd. 2, S. 507) durch ›Stuhl‹ (Platon 1982, S. 620, Anm. 4). Platon 1982, S. 433 (10. Buch; 596e). Platon kehrt damit die Wertung einer sophistischen Metapher um, in der die »Odyssee« als »schöner Spiegel des menschlichen Lebens« bezeichnet wird; vgl. Aristoteles, der diese Metapher des Alkidamas als Beispiel für das stilistische Vitium der »Frostigkeit« anführt (Aristoteles 1995b, S. 176; III, 3, 4; 1406b). Zur Tradition der Spiegelmetapher bis Shakespeare vgl. Curtius 1993, S. 340 f. Zur ihrer Bedeutung in der Romantik vgl. Abrams 1953, bes. S. 30–46, und bis hin zum Realismus vgl. Peez 1990. Platon 1982, S. 439 (10. Buch; 600e). Ebd., S. 442 (10. Buch; 602b). Vgl. auch ebd., S. 439 f. (10. Buch; 600e-601a). Ebd., S. 442 (10. Buch; 602b). Kant 1908, S. 304 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). Vgl. jedoch auch die anderen Bestimmungen der Dichtkunst mittels des Bezugs zum ›Spiel‹, z. B. ebd., S. 327 (§ 53, Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander). Platon 1982, S. 336 (7. Buch; 521c). Die Vertikale kommt bei Platon besonders mythisch zum Tragen, so am Ende des »Phaidon« (Platon 1994, Bd. 2, S. 173–179; Phaidon, 53–55; 108c-114c). Platon 1982, S. 436–439 (10. Buch; 598d-600e).
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chen, ohne selbst als Feldherr oder Berater tätig zu werden, hat keinen Staat besser gemacht und hat auch keine »Erfindungen für das Handwerk oder die sonstige Praxis«65 hervorgebracht. Schlagender Beweis für seine soziale Funktionslosigkeit ist schließlich sein Vagantentum: Hätten seine Zeitgenossen ihn als Lehrer anerkannt, so hätten sie ihn nicht »als wandernden Sänger herumziehen lassen«; sie hätten ihn »gezwungen, in ihrem Hause zu wohnen«, oder sie wären ihm gefolgt.66 Damit greift Platon das Sängertum im Kern seiner Identität an und rechtfertigt die Verbannung der Dichter unter Verweis auf den Präzedenzfall der sozialen Ausgrenzung des größten Ahnherrn. Das Rühmen – später Rilkes schwer errungene Rechtfertigung der Dichtung67 – wird als nutzlos abgetan; statt als »Rühmender« das Werk anderer zu besingen, hätte Homer lieber »viele schöne Werke als Erinnerung an sich […] hinterlassen« sollen, um als »Gerühmter« fortzuleben.68 Die Legitimation der Philosophie durch Sokrates endet nicht mit philosophisch-rationaler Erörterung, sondern in einem eschatologischen Mythos, der die Einbindung des Menschen in den göttlich bestimmten Weltkosmos darstellt und die »Siegespreise der Gerechtigkeit« evoziert, die den Menschen am Ende seiner »Wanderschaft« auf dem »Weg nach oben« erwarten.69 In dezidierter Abgrenzung von Homer bemerkt Sokrates eingangs, dies sei keine Erzählung wie der (drei Gesänge einnehmende) Bericht des Odysseus über seine Irrfahrten vor dem Phaiakenkönig Alkinoos;70 es sei vielmehr die aus orphischen und pythagoreischen Mythen sich speisende Wahrheit von den letzten Dingen, vermittelt durch einen nach dem Tode wiedererwachten trefflichen Mann71 und verkündet von dem weisen Philosophen Sokrates, der in der Haltung eines Priesters himmelweit vom nachahmenden Dichter unterschieden ist. Nicht zuletzt sprachlich macht Platon hier seinem Gegner Homer den Rang streitig. Wenn Sokrates gegen Ende des zehnten Buches bemerkt, »daß schon ein alter Streit zwischen Philosophie und Dichtung besteht,«72 so stellt er seine im dritten Buch ausgesprochene Verbannung der Dichter in eine lange Tradition, um der folgenden Herausforderung gebührendes Gewicht zu verleihen: Die Dichter sollen »beweisen, daß [die Dichtkunst] nicht nur angenehm, sondern auch nützlich für den Staat und das menschliche Leben 65 66 67
68 69 70 71 72
Ebd., S. 438 (10. Buch; 600a). Ebd., S. 439 (10. Buch; 600d-e). Vgl. das Thema der Rühmung in den »Duineser Elegien« (Rilke 1996, Bd. 2, S. 199–234, bes. S. 222 f.; 7. Elegie, V. 75–85; ebd., S. 230; 10. Elegie, V. 1 f.) und in den »Sonetten an Orpheus«, bes. Sonett I, 7: »Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter […]« (ebd., S. 244). Platon 1982, S. 437 (10. Buch; 599b). Ebd., S. 467 (10. Buch; 621c). Ebd., S. 459 (10. Buch; 614b). Verweis auf Homers »Odyssee«, Gesang 9–12. Ebd., S. 459 (10. Buch; 614b). Ebd., S. 449 (10. Buch; 607b).
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I. Spielraum der Poetik
ist«.73 Auch ihre »Schutzherren« dürfen »in Prosa« zur Debatte beitragen74 – eine solche Replik ist die Poetik des Aristoteles. Explizit wird der Diskurs auch für Dichtung geöffnet: »Also ist es recht und billig, [der Dichtkunst] die Heimkehr zu gestatten, wenn sie sich in einem Lied oder in anderer Form verteidigt? – Gewiß!«75 Dass Platons Angriff auf Homer als Teil eines umfassenderen Diskurses tradiert wurde, an dem Philosophie, Dichtung und Rhetorik teilnehmen, geht aus der vermutlich im 1. Jahrhundert n. Chr. verfassten rhetorischen Lehrschrift Vom Erhabenen hervor.76 Im Kontext einer Empfehlung der Nachahmung großer Vorgänger vermittelt der Autor durch Wassermetaphorik die intertextuelle Übertragung vom Werk des Dichters in das Werk des Philosophen, wenn er Platon zum »eifrigsten Nachahmer Homers« erklärt, der »von jenem homerischen Quell zahllose Kanäle auf sein eigenes Feld leitete«.77 Die anschließende Wettstreitmetaphorik führt dann Homer und Platon auf den gleichen Kampfplatz: ich glaube nicht, daß solcher Schmuck auf einer philosophischen Lehre erblüht und Platon vielfach in dichterische Stoffe und Ausdrücke vorgedrungen wäre, hätte er nicht, bei Zeus! aus ganzer Seele mit Homer wie ein junger Kämpfer mit einem bereits bewunderten um den ersten Preis gerungen, allzu ehrgeizig vielleicht und gleichsam eine Lanze brechend, doch keineswegs ohne Gewinn.78
Diese aus der Perspektive der Rhetorik stammenden Metaphern vermitteln nicht Grenzen zwischen den Disziplinen, sondern fruchtbare Verbindungen und produktive Auseinandersetzung. Die anregende Wirkung der platonischen Tradition auf die westliche Poetik ergibt sich nicht nur aus Platons eingehender Auseinandersetzung mit der Dichtung in der Politeia. Bedeutsam wurde für die Folgezeit vor allem der in anderen Dialogen diskutierte Topos von der göttlichen Inspiration. Platon tradiert mit diesem Topos einen fest etablierten Glauben: Die Griechen deuteten »das dichterische Schaffen als Verzückung, Wahnsinn, Entrückung oder Rausch, als ein Heraustreten des Dichters aus sich selbst (Ekstase), als ein Erfülltsein durch den Gott (Enthusiasmus).«79 In Einklang mit seiner Dichtungstheorie in der Politeia wendet Platon diesen Topos allerdings tendenziell gegen die Dichter. So diskreditiert er im Dialog Ion nicht nur sie, sondern auch die Vortragenden und Rezipienten, wenn er Sokrates erklären lässt, große Dichtung werde nicht vom Menschen erzeugt, 73 74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 450 (10. Buch; 607d). Ebd. Ebd. Longinus 1988. Wenn ich mich auf Longinus beziehe, so ist damit Pseudo-Longinus gemeint. Zur Datierung vgl. Russell 1995, S. 145 f. Longinus 1988, S. 41 (13, 3). Ebd. (13, 4). Fuhrmann 1973, S. 74.
2. Aristoteles: Poetik als Wissenschaft
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sondern von einer göttlichen Kraft, da der Dichter die Sprache ohne Teilnahme seines Bewusstseins und ohne Wissen über die besprochene Materie benutze: [Wie der Magnet] macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte.80
Die Dichter sind von den Musen besessen, der Rhapsode vom Dichter, das Publikum – Platon erwähnt 20.000 Zuhörer – wiederum vom Rhapsoden; Beweis ist seine Hingabe an die vom Werk (Beispiel ist Homer) hervorgerufenen Emotionen.81 Auf dem hohen Wert solch göttlich inspirierter Werke liegt demgegenüber die Betonung im Phaidros, wo sie den vom göttlichen »Wahnsinn« gestifteten »größten Gütern« zugerechnet und als Bildungsmittel anerkannt werden. Mit Kunst allein lässt sich eine solche Dichtung nicht schaffen: Wer […] ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt.82
Dieser Topos ist für die westliche Poetik von nicht zu überschätzender Bedeutung. Zum einen konnte er aufgrund der binären Opposition zwischen göttlich inspiriertem Furor und menschlicher Kunst zu der in Rhetorik und Poetik vieldiskutierten Gegenüberstellung von Natur und Kunst in Beziehung gebracht werden. Zum anderen ließen sich damit in einer »argumentativen Verknüpfung von Athen und Jerusalem«83 die Bibel als Poesie und der Dichter als heiliger Prophet legitimieren.
2. Aristoteles: Poetik als Wissenschaft Die Poetik des Aristoteles ist in die von Platon so umfassend behandelte Debatte um Beschaffenheit, Funktion und Wirkung von Dichtung eingebettet, beschränkt sich jedoch darauf, das von Platon in der Politeia formulierte philosophische Problem mit einer philosophischen Antwort zu lösen. Dabei ist die Poetik anders als Platons Schrift – und die nicht erhaltenen veröffentlichten Schriften von Aristoteles – keineswegs für ein öffentliches 80 81 82 83
Platon 1994, Bd. 1, S. 72 (Ion, Kap. 5; 533e). Zur dichterischen Inspiration und Heiligkeit der Dichter vgl. den gesamten Abschnitt (ebd., 533d-535a). Ebd., S. 74 (Ion, Kap. 6; 535c-d). Die Argumentation hier entspricht dem Postulat »si vis me flere […]« von Horaz, demzufolge die angemessene emotionale Bewegung des Rezipienten von der Bewegung des Dichters abhängt (Horaz 1984, S. 10 f.; V. 101–107). Platon 1994, Bd. 2, S. 565 (Phaidros, 22; 245a). Dyck 1977, Titel.
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I. Spielraum der Poetik
Publikum bestimmt, sondern ein fragmentarisch überlieferter, skizzenhafter Text für den Lehr- und Forschungsgebrauch innerhalb der Akademie.84 Mit ihrer »Zweckform« und »kahlen Diktion« verkörpert das Werk für nachfolgende Generationen von Theoretikern geradezu die Trennung der philosophischen Literaturwissenschaft von der Dichtung: Das »abstoßende Gewand« macht Manfred Fuhrmann zufolge dieses esoterische Werk zu einer »dornigen Lektüre«, die extrem hohe Ansprüche an die Denkkraft und das Durchhaltevermögen des Lesers stellt. Der Lohn eines solch heldenhaften »Durchdringens« ist die Teilnahme an der »intensiven Gedankenarbeit« des Philosophen und die Erkenntnis der systematischen »Geschlossenheit« der »Sache selbst«.85 Deutlich werden aus der Metaphorik die wissenschaftlichen Vorgaben: Vorausgesetzt wird, dass der Leser erst über den schwierigen Weg der Philosophie Zugang zum wahren Wesen der Dichtkunst gewinnt – weitab von den oberflächlichen sprachlichen Attraktionen der Poesie. Ob die in der Politeia ausgesprochene Herausforderung an die Dichter und deren Fürsprecher bereits eine Replik von Platons bedeutendstem Schüler antizipiert, ist Sache der Spekulation. Dass sich jedoch die aristotelische Abhandlung auf Platons Werk bezieht, gilt als gesichert.86 Während die Erörterung der Dichtung bei Platon Teil eines großen theologisch-philosophischen Projekts ist, das dem Relativismus der Sophisten entgegenwirken soll, bietet Aristoteles eine weltliche Theorie von der Dichtkunst.87 Hatte Platon anhand seiner mimesis-Theorie eine umfassende Kritik der Künste in Bezug auf Wissen, Wahrheit und die Emotionen entwickelt und die moralische und praktische Nutzlosigkeit besonders der epischen und tragischen Dichtung dargelegt, so erweist Aristoteles durch seine eigene mimesis-Theorie die erkenntnisfördernde Kraft der nachahmenden Künste und integriert mittels des Katharsis-Begriffs deren emotionale Wirkung als nutzbringenden Reinigungsprozess.88 Kaum geht Aristoteles auf die Dichter ein;89 ihm 84 85 86 87 88 89
Fuhrmann 1994, S. 144 f. In Kap. 15 verweist Aristoteles auf »die veröffentlichten Schriften« (1994, S. 50 f.; 1454b); diese hatten nach Platons Vorbild »fast stets Dialogform« (Fuhrmann 1994, S. 144). Fuhrmann 1994, S. 144–146. Vgl. Halliwell 1998, bes. S. 19–27, 115–128 und 331–336. Halliwell betont, die »Poetik« sei hinsichtlich der Natur der Gedanken, der Methoden sowie der zugrundeliegenden Werte das Werk eines Philosophen (ebd., S. 2). Vgl. Curtius 1993, S. 225, unter Bezug besonders auf Aristoteles’ »Poetik«, Kap. 1 und 2. Halliwell (1998, S. 21) weist allerdings darauf hin, dass Platons »Staat« im 1. und 2. Buch der dichterischen Nachahmung eine eingeschränkte Gültigkeit einräumt, auf die Aristoteles aufbauen konnte. Eine interessante Ambiguität der Überlieferung ergibt sich in Bezug auf die Natur des Dichters. Dem überlieferten Text zufolge erklärt Aristoteles, die Dichtkunst sei »Sache von phantasiebegabten oder von leidenschaftlichen Naturen; die einen sind wandlungsfähig, die anderen stark erregbar« (übers. v. Fuhrmann in Aristoteles 1994, S. 54 f.; Kap. 17; 1455a). Vgl. die Übersetzung von Halliwell: »Poetry is the work of a gifted person, or of a manic: of these
2. Aristoteles: Poetik als Wissenschaft
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geht es um die Dichtkunst. Im Vordergrund steht somit die Aufwertung der Dichtkunst mittels der Philosophie: So gilt ihm die Dichtung als »etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung«.90 Angelegt ist hier eine Legitimationsstrategie, die im Zeitalter des Idealismus fortgeführt wurde. Ohne Umschweife konzentriert der Text den Blick auf die Bestimmung und Kategorisierung der Dichtung als vom Menschen verfertigte Kunst: Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den andern Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist.91
Im Vordergrund steht einerseits techne – die Kunst bzw. Technik – als Bezug zwischen Dichter und Werk, andererseits mimesis als Bezug zwischen Werk und Wirklichkeit. Die Betonung des Kunstcharakters der Dichtung rechtfertigt diese gegenüber der platonischen Vorstellung von Dichtung, derzufolge der Dichter dem Handwerker untergeordnet war und keinerlei Kunstverständnis beanspruchen konnte. In Gegensatz zur Rhetorik bestimmt Aristoteles den Kunstcharakter jedoch nicht anhand der Sprache bzw. Verfassung von Versen, wie dies zu jener Zeit üblich war, sondern definiert den Dichter als einen, der »Nachahmung [mimesis] bewerkstelligt«:92 Wie der Philosoph befasst sich der Dichter mit der Beziehung zwischen dem Menschen und den Dingen. Dem gestuften Nachahmungsmodell Platons, das die nachahmende Dichtung von der Wahrheit abtrennt, stellt Aristoteles ein Nachahmungsmodell gegenüber, das die Dichtung zur Wahrheit einerseits und zur geschichtlichen Wirklichkeit andererseits in Bezug setzt.93 Es basiert auf der aristotelischen Entelechie, wonach sich die Idee oder Form – in Umdeutung
90 91 92 93
types, the former have versatile imaginations, the latter get carried away« (Aristoteles 1995a, S. 89). Zur Konjunktion »oder« bemerkt Halliwell jedoch: »A textual emendation would make this ›rather than‹, on the grounds that ›manic‹ sounds too passionate for the psychology of composition posited by Ar[istotle]« (ebd., S. 89, Anm. d). In dieser traditionsreichen, für den deutschen Geniebegriff bedeutsamen Kontroverse befürwortet auch der Übersetzer Hubbard unter Bezug auf Castelvetro und Dryden die Emendation: »Poetry is the work of a genius rather than of a madman« (Aristoteles 1989, S. 72 und S. 228 (Anm.)). Aristoteles 1994, S. 28 f. (Kap. 9; 1451b). Ebd., S. 4 f. (Kap. 1; 1447a). Ebd., S. 4–7, Zitat S. 7 (Kap. 1; 1447b); vgl. auch ebd., S. 28–33 (Kap. 9; 1451a-b). Dazu Halliwell 1998, S. 56–58. Eine Erörterung des enorm komplexen mimesis-Begriffs unter Bezug auch auf vorplatonische Schriften sowie Platon liefert Halliwell 1998, S. 109–137. Er konstatiert bei Platon fluktuierende Bedeutungen, aber dogmatische Definitionen, bei Aristoteles dagegen eine Tendenz zu Lakonismus und Aperçu ohne klare Aussagen zur Bedeutung. Gegenüber Platon stellt er bei Aristoteles eine Eingrenzung des mimesis-Begriffs fest: Keine Rolle spielt bei diesem die Möglichkeit einer ›philosophischen mimesis‹.
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I. Spielraum der Poetik
der platonischen Idee – in den Dingen der wahrnehmbaren Welt verwirklicht. Die Dichtung vermag daher die Wirklichkeit direkt abzubilden.94 Ihren solchermaßen philosophisch etablierten Eigenwert gründet Aristoteles auf die Mitteilung dessen, »was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche«:95 Die Dichtung ist deshalb ›philosophischer und ernsthafter‹ als die Geschichtsschreibung, weil sie »mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit[teilt]«.96 Damit erhält die Dichtung einen der geschichtlichen Wirklichkeit übergeordneten Freiraum, der nachfolgenden Generationen in Form der ›Fiktion‹ eine von der Sprache und damit von der Rhetorik unabhängige Legitimationsmöglichkeit der Dichtung bereitstellte.97 Untergeordnet bleibt sie der Philosophie, denn Garant für den Bezug der Dichtkunst zur Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit: »Das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.«98 Systematisch postuliert Aristoteles für den Dichter drei Gegenstände der Nachahmung: »Er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.«99 Konstant bleibt die Gegenüberstellung des Nachzuahmenden und der nachahmenden Dichtung und damit deren Trennung, sowie der Maßstab des Nachzuahmenden, in der aristotelischen Tradition interpretiert als ›die Natur‹. Der Begriff der mimesis legitimiert nicht nur die Dichtkunst, sondern insgesamt die »nachahmenden Künste« – einschließlich der Musik, des Tanzes sowie auch der visuellen Künste.100 Während Platon kurzerhand die Dichtkunst mit der Malerei als »nachahmende Kunst« koppelt, um sie als Bildungsmittel auszuschalten, gründet Aristoteles den Vergleich in einer
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Vgl. Fuhrmann 1973, S. 87–89. Aristoteles 1994, S. 28 f. (Kap. 9; 1451a). Ebd. (Kap. 9; 1451b). Philip Sidney benutzt 1595 in »The Defence of Poesy« den Begriff »fiction« als Synonym für »imitation« und somit als Entsprechung zum aristotelischen mimesis-Begriff (Sidney 2002, S. 85 f.). Goethe verbindet in seinem Aufsatz »Baukunst« von 1795 den Begriff »Fiktion« mit »Nachahmung« und mit dem auf der »poetischen« und somit »höchsten Stufe« der Baukunst wirkenden »Genie« (Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 368). Zur Bedeutung des Fiktionsbegriffs in der Romantik vgl. Heimrich 1968. Die gegenwärtige Bedeutung des Fiktionsbegriffs für die Bestimmung und Abgrenzung von Dichtung – und somit die Macht der aristotelischen Poetik – geht daraus hervor, dass die fiktionale Literatur sogar aus der Perspektive der Rhetorik als Rhetorik-fremd gesehen wird: »Zur Rhetorik gehört […] der gesamte Bereich der schriftlichen Kommunikation (ohne die fiktionale Erzähl- und Dichtkunst)« (Ottmers 1996, S. 6; s. a. S. 46–52). 98 Aristoteles 1994, S. 82–85 (Kap. 24; 1460a). 99 Ebd., S. 84 f. (Kap. 25; 1460b). 100 Vgl. bes. Kap. 1–3 (ebd., S. 4–11; 1447a-1448b).
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philosophisch fundierten, kunstspezifischen Nachahmungstheorie,101 die er entwicklungspsychologisch in »naturgegebenen Ursachen« verankert: Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.102
Nachahmung ist für die Bildung nützlich und Bildung wiederum mit Genuss kongruent; beide Argumente widerlegen die Position von Platon. Auf dieser Basis vermag die Dichtung produktive Verbindungen mit den anderen Künsten einzugehen. Die Art der Nachahmung dient Aristoteles auch zur Unterscheidung von Epos und Tragödie; anders gewendet, dienen die Gattungsunterschiede zur genaueren Bestimmung der Nachahmung in ihrer höchsten Form. In diesem Zusammenhang kommt ein bedeutender Topos zur Geltung: die Gattungshierarchie. Interessant sind die aristotelischen Ausführungen hierzu vor allem deswegen, weil er die Gattungshierarchie einer sozialen Hierarchie zuordnet und diesen Topos zugleich als Allgemeingut und als philosophisch gegründete Wahrheit voraussetzt. Er geht von der ›Behauptung‹ anderer aus, dass sich die Epik »an ein gebildetes Publikum [wendet], das der Gesten nicht bedarf«, die tragische Kunst dagegen an ein »ungebildetes«.103 Zudem setzt er voraus, die »weniger vulgäre« Art der Nachahmung, »die sich an das bessere Publikum wendet«, müsse die »bessere« sein.104 Aristoteles geht es darum, die allgemein akzeptierte Wertung der Gattungen umzukehren. Die Hierarchien bleiben jedoch unangetastet, indem die Relevanz der gegen die tragische Kunst vorgebrachten Kritik abgelehnt wird: Diese wende sich nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die Kunst des vortragenden Interpreten. Für eine Beurteilung der Dichtkunst sei auch bei der tragischen Kunst die »Lektüre« ausreichend; auf die »schauspielerische Darstellung« komme es nicht an.105 Damit ist zugleich die Zuständigkeit der performativ sich verwirklichenden Rhetorik widerlegt. Deutlich wird aus diesem skizzierten Umriss – ohne hier die intensiv rezipierten Gattungsbestimmungen näher zu beleuchten –, wie komplex sich seine Dichtungstheorie auf das Modell seines Lehrers bezieht. Während Platon die Dichtung umfassend anthropologisch verortet, indem er die Dich101 Zu Platons Vergleich zwischen Malerei und Dichtkunst vgl. Platon 1982, S. 432–435 (10. Buch; 596a-598a). Aristoteles geht davon aus, der Dichter sei »ein Nachahmer […], wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler« (Aristoteles 1994, S. 85; Kap. 25; 1460b). 102 Aristoteles 1994, S. 10 f. (Kap. 4; 1448b). 103 Ebd., S. 94 f. (Kap. 26; 1462a). 104 Ebd. (Kap. 26; 1461b). 105 Ebd., S. 96 f. (Kap. 26; 1462a). Auch andernorts wertet er die Inszenierung ab: »Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun« (ebd., S. 24 f.; Kap. 6; 1450b).
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I. Spielraum der Poetik
tung unter moralischer Perspektive zum Innenleben des Menschen, zu den Künsten, dem Handwerk und den Wissenschaften sowie zur Gesellschaft, zum Kosmos und zu Gott in Beziehung bringt, konzentriert sich Aristoteles systematisch auf die analytische Definition der Dichtung selbst und auf ihren Bezug zum Menschen, insofern dieser das Wesen der Dichtung erhellt. Darstellungsperspektive ist nicht die Stimme des moralischen Menschen Sokrates in seiner Kommunikation mit befreundeten Schülern, sondern der unpersönliche Standpunkt des objektiven Analytikers, und thematisiert wird hinsichtlich der Dichtung nicht der Dichter als persönlicher Antagonist des Philosophen, sondern das Werk als kunstvoll-technisches Produkt. Platons metaphysischen Nachahmungsbegriff deutet Aristoteles zur anthropologischen Universalie um und führt ihn auf die kognitive Entwicklung des Menschen zurück. Die emotionale Wirkung der Dichtung – insbesondere der Tragödie – wird mittels des physiologisch, psychologisch sowie metaphorisch interpretierbaren katharsis-Begriffs analysiert und als nutzbringend erwiesen.106 Moralische Werte dienen zur Analyse eher als zur Beurteilung, um die Wirkung der Dichtung zu erklären und gattungsmäßige Unterschiede zu bestimmen, so im zweiten Kapitel hinsichtlich der Charaktere. Kaum eine Entsprechung findet sich in der Poetik für die reiche Ausgestaltung der Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext und metaphysischen Bereich, mittels derer Platon die Dichtung bestimmt, auch wenn er sie unter Absolutsetzung des Maßstabs der Wahrheit als Lüge diskreditiert. Aristoteles lehnt den Maßstab der Wahrheit für die Dichtung ab und legitimiert sie durch die Etablierung einer alternativen Form des Wirklichkeitsbezugs. Die Festlegung auf das Ziel der Nachahmung geht jedoch mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber Disziplinen einher, die anderen Prinzipien verpflichtet sind: »Die Richtigkeit in der Dichtkunst [ist] nicht ebenso beschaffen wie in der Staatskunst, und überhaupt ist sie in der Dichtkunst nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin.«107 Hegel setzt dieses Prinzip der disziplinären Trennung absolut und bezieht den Stil mit ein.108 Von besonderem Interesse ist im gegenwärtigen Zusammenhang die Behandlung der Sprache in der Poetik – ist sie doch das Medium der Dichtung.109 Die Sprache der Tragödie bespricht Aristoteles in den Kapiteln 19–22.110 Er definiert »Lexis« als von Versform und Melodik unabhängige 106 Zur komplexen Semantik des katharsis-Begriffs vgl. Halliwell 1998, S. 184–201 und zur Zusammenfassung der diesbezüglichen Forschung ebd., S. 350–356. 107 Aristoteles 1994, S. 86 f. (Kap. 25; 1460b). 108 Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a.). 109 Aristoteles verweist im 3. Buch seiner »Rhetorik« (Aristoteles 1995b, S. 168 f.; III,1, 10; 1404a) auf Kapitel 20–22 der »Poetik« und bemerkt, der Komplex zur sprachlichen Formulierung sei »ebenso Bestandteil der Rhetorik wie der Poetik« (ebd., S. 167; III, 1, 2; 1403b). 110 Kapitel 6 sieht die folgende Rangordnung der Elemente vor: 1. Mythos bzw. Zusammenfügung der Geschehnisse, 2. Charaktere, die moralische Werte vermitteln, 3. Erkenntnisfähig-
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»Verständigung durch Worte« beziehungsweise »Ausdruck durch Wortwahl«.111 Wie Platon misst jedoch Aristoteles der Sprache nur untergeordnete Bedeutung zu. Er betont, »dass sich die Tätigkeit des Dichters mehr auf die Fabel erstreckt als auf die Verse: Er ist ja im Hinblick auf die Nachahmung Dichter, und das, was er nachahmt, sind Handlungen«.112 Entsprechend klassifiziert er Empedokles – der seine naturphilosophischen Werke in Hexametern verfasste – trotz der Versstruktur als Naturforscher; jemand, »der Nachahmung bewerkstelligt, selbst wenn er hierbei alle Versmaße miteinander vermischt«, gilt ihm dagegen als Dichter.113 Für die Unterscheidung des Menschen von anderen Lebewesen wäre das Kriterium der Sprache naheliegend, Aristoteles jedoch wählt statt dessen die Nachahmung.114 In der Epik empfiehlt er eine Bemühung um die Sprache »vor allem in den Abschnitten […], die ohne Handlung sind und weder Charaktere noch Gedankliches enthalten«115 – die kunstvolle Gestaltung der Sprache erscheint hier lediglich als Kompensationsmittel für einen Mangel an gedanklicher Substanz. Eine ähnliche Wertung geht auch aus seiner Unterscheidung zwischen poetischer und prosaischer Sprache hervor. In der Rhetorik betont er, dass »die sprachliche Formulierung der Rede und der Poesie […] voneinander verschieden« sind116 und unterscheidet zwischen einer für die Poesie angemessenen, aber in der prosaischen Rede fehlerhaften weil übertriebenen Verwendung von zusammengesetzten Worten, Provinzialismen, Epitheta und Metaphern; besonders die weithergeholte Metapher gilt ihm als »allzu poetisch«.117 Hinsichtlich der von ihm am höchsten bewerteten Tragödie jedoch tendiert er zu einer Annäherung an die Sprache der Prosarede:118 Er befürwortet die Verwendung des Jambus, »weil dieses Metrum von allen anderen der Prosarede am nächsten kommt«, sowie die Eliminierung von Worten, »die der gewöhnlichen Redeweise zuwider sind«.119 Es ergibt sich daraus für die Sprache der Dichtung eine Spannung zwischen zwei sprachlichen Tugenden, (erkenntnisfördernder) Klarheit und (gattungsspezifischer) Erhabenheit:
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keit bzw. gedanklich-argumentativer Gehalt, 4. Lexis, 5. Melodik, 6. Inszenierung (Aristoteles 1994, S. 18–25; Kap. 6; 1449b-1450b). Fuhrmann übersetzt »Verständigung durch Worte« (ebd., S. 22 f.), Halliwell »expression through choice of words« (Aristoteles 1995a, S. 53). Aristoteles 1994, S. 30 f. (Kap. 9; 1451b). Ebd., S. 6 f. (Kap. 1; 1447b). Ebd., S. 10–13 (Kap. 4; 1448b). Vgl. dagegen beispielsweise Platon 1994, Bd. 2, S. 290 (Protagoras, 11; 322a). Ebd., S. 84 f. (Kap. 24; 1460b). Aristoteles 1995b, S. 168 (III, 1, 9; 1404a). Ebd., S. 176 (III, 3, bes. 4; 1406b). Vgl. Halliwell 1998, S. 347 f. Aristoteles 1995b, S. 168 (III,1, 9; 1404a).
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I. Spielraum der Poetik
Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. […] Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus.120
Es ist dies eine Spannung, die in der deutschen Literatur besonders in der poetischen Vermittlung religiöser Wahrheit immer wieder zu poetologischen Auseinandersetzungen reizt; eine Möglichkeit der Lösung des Widerspruchs bietet dem 18. Jahrhundert Longins Abhandlung Über das Erhabene, die den bewegendsten Stil unter Ausschluss von Schwulst und unter Einbezug auch des Inhalts bestimmt. Aristoteles befürwortet insgesamt den gemäßigten und angemessenen Gebrauch unüblicher Ausdrücke, Priorität hat jedoch die Klarheit. Grundsätzlich verleiht Aristoteles wie Platon dem sprachlichen Ausdruck einen niedrigen Status: So erklärt er in seiner Rhetorik, die »Theorie der Beredsamkeit« sei »gleichsam ein Nebentrieb der Dialektik und der wissenschaftlichen Disziplin der Ethik«.121 Die Minderwertigkeit der Sprache insbesondere gegenüber dem mathematischen Denken geht aus der Argumentationsführung in den einleitenden Bemerkungen zum dritten Buch der Rhetorik hervor, in denen er die Nachordnung der Behandlung des sprachlichen Ausdrucks mit der »niedrigeren Art« einer solchen Untersuchung gegenüber der Behandlung der »Sachverhalte« begründet:122 Da sich […] die ganze Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie mit dem Schein befaßt, so muß man sich darum kümmern – nicht in der Weise, daß es richtig ist, so zu verfahren, sondern weil es notwendig ist […]. Das Recht fordert nämlich, daß nur mit Hilfe von Tatsachen gestritten wird, so daß alles übrige, was über die Beweisführung hinausgeht, überflüssig ist. Jedoch vermag es gleichwohl viel […] wegen der Verderbtheit des Zuhörers. Nun herrscht die Beachtung des sprachlichen Ausdrucks, zu einem geringen Grad wenigstens, notwendig in jeder Form der Unterweisung. Es macht nämlich einen Unterschied für das Verständnis, ob man so oder so spricht, wenn auch nicht allzu viel; vielmehr ist all dies Produkt der Einbildungskraft und zielt auf den Hörer, weshalb niemand auf diese Weise die Geometrie lehrt.123
Radikal grenzt Aristoteles hiermit seine philosophisch orientierte Rhetorik vom Projekt der Sophisten ab, die sich auf die praktische Vermittlung der Redekunst konzentrieren und die emotionale Wirkung der Rede auf den
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Aristoteles 1994, S. 70–73 (Kap. 22; 1458a). Aristoteles 1995b, S. 14 (I, 2, 7; 1356a). Ebd., S. 166 f. (III, 1, 2–5; 1403b). Ebd., S. 167 (III, 1, 5–6; 1404a).
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Hörer in den Vordergrund stellen.124 Wenn auch poetisch gestaltete Sprache für Aristoteles als notwendiger Aspekt der Dichtung gilt, so ist sie – wie später bei Kant – für deren wesenhafte Definition letztlich irrelevant. Die Rechtfertigung der Dichtung beruht für Aristoteles auf ihrem philosophisch bestimmten Realitätsbezug.
3. Horaz: Poetik als Dichtkunst Die Ars poetica des Horaz steht in diametralem Gegensatz zur philosophischen Poetik des Aristoteles.125 Der in Versform verfasste Brief an die Pisonen – von Quintilian »de arte poetica liber« benannt126 – vereinigt mit rhetorischer Überzeugungskraft poetologische Reflexion, Regelpoetik, Literaturkritik und Literaturgeschichte. Kennzeichen ist die knappe, lebendige Darstellung und die mangelnde – oder gemiedene – Systematik. Während dies in der frühen Neuzeit einerseits zu systematischer Elaborierung herausforderte – so in Scaligers Monumentalpoetik Sieben Bücher über die Dichtkunst (1561)127 – galt das Werk zugleich bis ins 18. Jahrhundert als maßgebendes Vorbild für eine poetische Auseinandersetzung mit Poetik. Alexander Pope hebt in An Essay on Criticism (1711) die Übereinstimmung von vermittelter Theorie und dichterischer Wirkung im horazischen Werk hervor: Horace still charms with graceful Negligence, And without Method talks us into Sense, Will like a Friend familiarly convey The truest Notions in the easiest way. He, who Supream in Judgment, as in Wit, Might boldly censure, as he boldly writ, Yet judg’d with Coolness tho’ he sung with Fire; His Precepts teach but what his Works inspire.128
Pope betont das Fehlen einer »Methode«; die wirksame Vermittlung vernünftiger Grundsätze erziele Horaz vielmehr durch Anmut des Stils und bezaubernd lässige Überredungskunst. Mit seiner zur Schau gestellten poe124 So geht es ihm hinsichtlich des Stils um die »Refutation der sophistischen Rede« (ebd., S. 172; III, 2, 12; 1405b). Dass der Streit zwischen Philosophen und Sophisten in Form der Realismus-Antirealismus-Debatte bis in die heutige Zeit tradiert wird, verdeutlicht der gegen Stanley Fish gerichtete Aufsatz von Martha Nussbaum mit dem Titel »Sophistry About Conventions« (Nussbaum 1990, S. 220–229, bes. S. 228). 125 Horaz rezipiert Lehren aus der griechischen und römischen Rhetorik und Poetik. Angenommen wird eine indirekte Rezeption aristotelischer Lehren, eine direkte Benutzung ist jedoch nicht nachgewiesen (vgl. das Nachwort des Herausgebers in Horaz 1984, S. 61). 126 Quintilian 1995, Bd. 2, S. 174 (VIII, 3, 60). 127 Scaliger 1994–2003. In seinem Vorwort bemerkt Scaliger, Horaz bezeichne zwar seine Schrift »als ›Dichtkunst‹«, trage seine Lehren jedoch »kunstlos« vor (ebd., Bd. 1, S. 12 f.). 128 Pope 1961, S. 313 f. (V. 653–660).
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I. Spielraum der Poetik
tischen Nachfolge erweist der moderne augusteische Dichter die zeitlose Gültigkeit der horazischen Forderung nach einer Vereinigung von nutzbringender Belehrung und angenehmer Unterhaltung (prodesse und delectare).129 Anerkannt wird in Horaz der Dichter-Kritiker als höchste Instanz für die Beurteilung der Dichtung: Seine Autorität beruht zugleich auf »Urteil« und »Witz«, Kritik geht einher mit Sprachkraft, Belehrung der Nachfolger mit Begeisterung zur Verwirklichung des vorgelebten Ideals. Popes Würdigung zeigt die Bedeutung von Horaz als Mentor und Leitbild. In Gegensatz zur philosophischen Perspektive des Sprachrohrs Sokrates bei Platon und in Gegensatz auch zur neutralen Darstellung in der aristotelischen Poetik ist für die Ars poetica die persönliche Perspektive des Dichter-Kritikers kennzeichnend. Horaz profiliert sich mit lebhaft dargestellten Aussagen als etablierte Autorität, deren theoretische Ausführungen auf langjähriger praktischer Erfahrung basieren, und legitimiert mit seiner Selbstdarstellung den Typus des poeta doctus. Die Ars poetica stellt den Autor Horaz als Kenner der griechischen Klassiker dar,130 als anspruchsvollen Kritiker, der mahnt, dass weder die Menschen noch die Götter den Dichtern »Mittelmäßigkeit« erlaubt haben,131 als Experten in Fragen der Gattungskonventionen und des Versmaßes,132 als Meister des lateinischen, aber auch des griechischen Wortschatzes, der auf den Sprachgebrauch achtet und für die Dichtung angemessene Neologismen zu bilden vermag.133 Er projiziert sich in der von den griechischen Klassikern verbürgten Tradition ruhmreicher Dichtung, lobt zugleich jedoch das ›Wagnis‹ der römischen Dichter, welche die »Spuren der Griechen« verließen134 – eine traditionsbildende Metapher, mit der er andernorts seine individuelle Originalität hervorhebt.135 Mit seiner Poetik sucht er eine römische Dichtung heranzubilden, die der »Tapferkeit« und den »Waffen« Latiums eine ebenbürtige, als vollkommenste Form der Sprache verstandene Dichtung an die Seite stellt.136 In expliziter Nachfolge erklärt ihn später Opitz zum Vorbild für die deutschen Dichter, indem er der ersten deutschsprachigen Poetik Verse aus dem Pisonenbrief voranstellt, in denen der illustre Vorgänger sein Dichtertum mit der Kenntnis der Gattungen und dem Vorzug des »Lernens« 129 Horaz 1984, S. 24 f. (V. 333 f.); vgl. auch die Kopplung von delectare mit monere sowie die ›Mischung‹ des »Süßen« und »Nützlichen« (»qui miscuit utile dulci«) (ebd., S. 26 f.; V. 343 f.). 130 Vgl. ebd., S. 8 f. (V. 73–85) und S. 20–23 (V. 275–284). 131 Ebd., S. 26–29 (V. 372 f.). 132 Vgl. ebd., S. 14–21 (V. 179–262). 133 Ebd., S. 6–9 (V. 48–72). 134 Ebd., S. 22 f. (V. 285–288). Vgl. die Wegmetapher bei Quintilian, s. u., S. 410. 135 Horaz 1993, S. 494 f. (Epistulae I, 19, V. 21 f.). Zu weiteren Belegen (z. B. Propertius: Carmina III, 1, 15–18) bes. in der englischen poetologischen Tradition vgl. Lee, M. 1999, S. 191 f. 136 Horaz 1984, S. 22 f. (V. 289 f.).
3. Horaz: Poetik als Dichtkunst
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rechtfertigt.137 Gottsched aktualisiert diese antike Autorität, indem er seinen Zeitgenossen als Einleitung zu seiner Critischen Dichtkunst den gesamten Text der Ars poetica mit Übersetzung und ausführlichem Kommentar präsentiert.138 Die Gattung der Epistel erlaubt einen abwechslungsreichen Stil mit satirischen Formulierungen, durch die Horaz Abweichungen von seinem Ideal des maßvollen, kunstbewussten, technisch versierten Dichters bloßstellt. Seine Kritik richtet er vor allem gegen Dichter, die den furor poeticus für sich in Anspruch nehmen. In einer grotesken Entsprechung zu Platons Vergleich von begeisterten Dichtern und Rezitatoren mit Magneten endet die Ars poetica mit dem Wort »Blutegel« (»hirudo«) als Metapher für einen solch »rasenden« Dichter, der den Zuhörenden festhält und durch das Vorlesen seiner Werke umbringt.139 Horaz befürwortet die »freundschaftliche« Zusammenwirkung von »Kunst« und »Natur« (»ars« und »natura«), hebt jedoch unter Verweis auf Wettlauf und Flötenspiel vor allem die Notwendigkeit der entsagungsvollen Übung hervor.140 Entsprechend satirisiert er auch jene Dichter, die dem ingenium den Vorrang geben, und verweist in diesem Zusammenhang auf Demokrit, der die Schönheit göttlich inspirierter Dichtung hervorgehoben hatte, damit aber auch auf Cicero, der sich auf Demokrit bezieht; deutlich wird hier die Tradition und Verbreitung des von Platon erörterten Topos.141 Horaz diskreditiert die geniehaften Dichter durch hygienische, medizinische und räumliche Motive: Unrasiert sind sie den Barbaren gleich, sie schneiden sich weder Haare noch Nägel und meiden die Bäder, sie sind Melancholiker, die sich – anders als Horaz selbst – nicht die »Galle purgieren« lassen, und sie ziehen sich an einen »abgeschiedenen Ort« zurück. Horaz selbst identifiziert sich demgegenüber mit den vernünftigen, geistig gesunden (»sanus«) Dichtern, die Demokrit vom Musenberg Helikon ausgeschlossen hatte.142 Mit seiner binären Darstellung dieser Dichtertypen verleiht Horaz der Debatte um Kunst und Natur beziehungsweise Inspiration eine lebendige, personifizierte Form, die sich enorm wirkungsvoll in der Profilierung beider Typen einsetzen und wiederum selektiv weiterentwickeln ließ, so in der gruppenstiftenden Metaphorik von Aufklärung und Romantik oder in der Projektion einer anti-roman-
137 Opitz 1966, S. 2 (Motto). Vgl. Horaz 1984, S. 8 f. (V. 85–87). Das gleiche Motto benutzt Zesen in seinem »Deutschen Helicon« (Zesen 1970 ff., Bd. 9, S. 11). 138 Gottsched 1962, S. 10–64. 139 Horaz 1984, S. 34 f. (V. 472–476). 140 Ebd., S. 30 f. (V. 408–411). 141 Ebd., S. 22 f. (V. 295–297) unter Bezug auf Demokrit (Fragment B 17 f.). Vgl. Fuhrmann 1973, S. 132 f. 142 Horaz 1984, S. 22 f. (V. 295–302). Vgl. auch die abschließenden Ausführungen zum »wahnsinnigen« Dichter (ebd., S. 32–35; V. 453–476.
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tischen Vorstellung von Dichtung in Gottfried Benns Aufsatz Probleme der Lyrik von 1951: die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.143
In diesem Programm der ›modernen‹ Lyrik zeigt sich die dauerhafte Nützlichkeit antiker Topoi sowie die Traditionalität des ›Modernen‹. Kennzeichnend für die Darstellungsweise von Horaz sind die konkreten Einzelheiten nicht nur zu Gattungsfragen oder Sprachbehandlung, sondern auch zum Prozess des handwerklich gediegenen Schreibens sowie zur Veröffentlichung, Vermarktung und Kritik. Vergleiche mit den handwerklichen Künsten stellen den Kunstcharakter und die Materialität des dichterischen Werkes in den Vordergrund. So empfiehlt der Kritiker, schlecht gearbeitete Verse auf den »Amboß« zurückzulegen, und ungenügend mit der »Feile« verbesserte Dichtung zu verwerfen.144 Ratschläge zur angemessenen, ganzheitlichen Ausführung des Werkes stützt Horaz anhand von Vergleichen mit Malern, Töpfern und Bildhauern bis hin zum Verweis auf eine spezifische Bronzewerkstatt in Rom.145 Er erwähnt mit Namen seine Verleger Sosii, das Geld, das sie mit der Publikation eines nach seinen Prinzipien verfassten Buches verdienen, die Verbreitung »übers Meer« und Sicherung des auktorialen Nachruhms146 sowie auch die Ausstellungssäulen am Eingang des Buchladens.147 Das erwünschte Nachleben des Werkes vermittelt Horaz mit materiellem Detail: Hoch bewertete Buchrollen werden durch die Bestreichung mit »Zedernöl« geschützt und »im Zypressenschrein« aufbewahrt.148 Indem Horaz auf diese Weise das Modell des gebildeten, weltgewandten, planvoll und kritisch schaffenden Dichters ausmalt und das Gegenbild durch den Mangel an solcher Kunstfertigkeit und Mühe charakterisiert, wird auch das – positiv uminterpretierbare – Porträt des von Gott oder Natur inspirierten Dichters konkretisiert: Dessen Werk entsteht in sich vollendet aus dem Unbewussten, weitab von Schreibtisch und Zivilisation, planlos und ohne Reflexion auf einen künftigen Leser oder Käufer. Mit der Rolle des kunstverständigen Kritikers identifiziert sich Horaz, wenn er es ironisch ablehnt, sich mit den wahnsinnigen Dichtern zu identifizieren.149 Als Modell des Kritikers gilt ihm der Philologe Aristarchos von 143 144 145 146 147 148 149
Benn 1986–2003, Bd. 6, S. 9 f. (Probleme der Lyrik). Horaz 1984, S. 32 f. (V. 440 f.) und S. 22 f. (V. 289–294). Ebd., S. 4–7 f. (V. 9–35); vgl. auch ebd., S. 37, Anm. 3. Ebd., S. 26 f. (V. 345 f.). Ebd., S. 28 f. (V. 373). Ebd., S. 24 f. (V. 332). Ebd., S. 22 f. (V. 301–308).
3. Horaz: Poetik als Dichtkunst
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Samothrake,150 im 2. Jahrhundert v. Chr. Vorsteher der alexandrinischen Bibliothek, der mit Kommentaren zu Homer, Pindar und anderen Autoren den klassischen Kanon etablierte und den Kritiker zur Autorität in Fragen der Authentizität und Qualität literarischer Texte machte.151 Entsprechend führt Horaz aus, wie der gute Kritiker rigoros »kunstwidrige Verse tadelt«, »schmucklose« kennzeichnet, »üppigen Zierrat beschneidet«.152 Aber auch der selbstkritische Dichter hat in der Beurteilung des eigenen Werkes strengste Maßstäbe anzulegen: Neun Jahre lang soll er das Manuskript verwahrt halten, bevor er es veröffentlicht.153 Das von der Ars poetica vermittelte Leitbild des Dichter-Kritikers ist insgesamt geprägt vom rhetorischen Ideal des Mannes, der sittliche Vorbildlichkeit mit Redegewandtheit verbindet – dem Ideal, das Quintilian später mit der Formel »vir bonus dicendi peritus« bezeichnete.154 Horaz betont moralische Werte, die durch das Studium der Ethik sowie die Nachahmung von Vorbildern zu erlernen sind: Der Dichter soll sich mit den Pflichten gegenüber Vaterland, Freund und Familie und den Aufgaben des Senators, Richters und Feldherrn befassen.155 Die Beherrschung wirksamer Rede wird vom solchermaßen entwickelten exemplarischen Charakter abhängig gemacht: »Auf ein vorbildliches Leben und einen vorbildlichen Charakter heiße ich den kundigen Nachahmer blicken, von dorther lebendige Worte gewinnen.«156 Auf dieser ethischen Basis erst kann die Rede ihre überzeugende Wirkung entfalten, die er der Schönheit überordnet: »Es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen.«157 In Einklang mit der rhetorischen Ausrichtung steht auch das Bild vom »Kunstrichter« (»iudex«), der ähnlich wie der forensische Richter die Autorität über die Rede beziehungsweise Dichtung verkörpert;158 auch hier liefert Horaz ein Exempel in Form von Spurius Maecius Tarpa, der 55 v. Chr. die Aufführungen bei der Einweihung des ersten festen römischen Theaters auswählte.159 Deutlich ist hier die für die Antike kennzeichnende Verbindung zwischen Dichtung und sportlichem Wettkampf, so wenn Horaz dichterischen Dilettantismus dem laienhaften Umgang mit »Ball, Diskus oder Reifen« auf dem »Marsfeld« ver150 151 152 153 154 155 156 157 158 159
Ebd., S. 32 f. (V. 445–450). Vgl. Kennedy 1989a, S. 207 f. Horaz 1984, S. 32 f. (V. 445–448). Ebd., S. 28 f. (V. 385–390). Auf diesen Rat bezieht sich Quintilian in der Widmung seines eigenen Werkes (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 3 f.; An Tryphon, 2). Quintilian 1995, Bd. 2, S. 684 f. (XII, 1, 1). Horaz 1984, S. 22–25 (V. 309–316). Ebd., S. 24 f. (V. 317 f.). Ebd., S. 10 f. (V. 99 f.). Entsprechend wird der Dichter bei Quintilian mit dem Zeugen verglichen (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 120 f.; I, 8, 12). Horaz 1984, S. 28 f. (V. 387). Vgl. auch ebd., S. 51 (Anm. 67).
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I. Spielraum der Poetik
gleicht.160 In beiden Fällen ist es ein öffentlicher Wettstreit um die Gunst von Publikum und Jury. Dass die Dichtung – wie der Sport – auch im Dienste des militärischen Kampfes stehen kann, verdeutlicht Horaz, wenn er feststellt, dass Homer durch seine Verse »die Herzen der Männer zu den Kriegen des Mars« »schärfte«.161 In einer komprimierten Literaturgeschichte schreibt Horaz den frühen Dichtern all jene Bildungsfunktionen zu, die schon Platon – wenn auch ablehnend – voraussetzte.162 Eine Abgrenzung von der philosophischen Tradition findet nicht statt: Vielmehr empfiehlt Horaz dem Dichter als Fundierung der ethischen Bildung die »sokratischen Schriften« – womit sowohl die von Platon als auch die von Xenophon vermittelte Tradition einbezogen ist.163 Umfassend integriert Horaz auf diese Weise die Dichtung ins öffentliche Gesellschaftsleben und identifiziert sie mit den höchsten moralischen Werten, ohne sie auf eine moralische Zweckbestimmung einzuschränken: Die Dichter wollen »nützen« oder »erfreuen« oder beides »zugleich«.164
4. Longinus: Poetik als Widerhall des Erhabenen Die Schrift Vom Erhabenen, von einem unbekannten Verfasser vermutlich im 1. Jahrhundert v. Chr. erstellt, ergänzt das Spektrum der besprochenen Ansätze, indem sie Verbindungen herstellt, wo andere Grenzen ziehen. Die Abhandlung steht in der rhetorischen Tradition: Eingangs bemerkt der Verfasser, er wende sich an Redner.165 In Einklang mit rhetorischen Idealen steht die eingehende Beschäftigung mit dem Stil, die Betonung der notwendigen Übereinstimmung von Gedanken und Ausdruck (aptum, decorum) sowie vor allem die Empfehlung des mitreißenden genus grande, in dem schon Cicero die stärkste Wirkungsmöglichkeit des Redners und damit die Voraussetzung des rednerischen Sieges sah.166 Ähnlich wie bei Quintilian wird die Dichtung gegenüber der Rhetorik aufgrund ihrer Neigung zum Sagenhaften und Unglaubhaften abgegrenzt, während sich »bei den Rednern das beste Phantasiebild immer an Leben und Realität hält«.167 Bewunderung für große Dichtung – allen voran Homer – spricht jedoch aus dem 160 161 162 163 164 165
Ebd., S. 28 f. (V. 379–382). Ebd. (V. 401–403). Ebd., S. 28–31 (V. 391–407). Ebd., S. 22 f. (V. 310 f.). Ebd., S. 24 f. (V. 333 f.). Longinus 1988, S. 4 f. (1, 2). Schönberger übersetzt »Männer der Politik« (ebd.), Fyfe und Russell »public speakers« (Longinus 1995, S. 163), wodurch der rhetorische Aspekt für den heutigen Leser stärker in den Vordergrund rückt. 166 Cicero 2004, S. 64 f. (21, 69). Vgl. auch seine Ausführungen zum hohen Stil, ebd., S. 84–87 (28, 97–99). 167 Longinus 1988, S. 48 f. (15, 8).
4. Longinus: Poetik als Widerhall des Erhabenen
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reichhaltigen poetischen Beispielmaterial und der einfühlsamen Besprechung der Zitate. Dass dem Autor an einer Integration der Disziplinen gelegen ist, geht aus seiner Wertschätzung Platons sowie Xenophons hervor, also beider Stränge der sokratischen Tradition.168 Die Wirkung der Schrift beruht auf ihrer überzeugenden Zusammenführung von Dichter, Inhalt und Stil im Begriff des Erhabenen: »Erhabenheit [ist] Widerhall von Seelengröße.«169 Bedeutsam ist die Abhandlung vor allem deswegen, weil sie –anders als die poetologischen Schriften von Aristoteles und Horaz – die platonische Vorstellung vom inspirierten Dichter zum Ideal erklärt und mit dem rhetorischen Ideal des hohen Stils verknüpft, wobei natürliche Veranlagung, Bildung zur Seelengröße und göttliche Inspiration als wechselseitig bedingt verstanden werden.170 Neben der »Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen«, identifiziert Longinus als zweite Quelle des erhabenen Stils »starke, begeisterte Leidenschaft«, also Pathos.171 Mit eingehenden Interpretationen poetischer Beispiele bis hin zur Annäherung an den besprochenen Text vermittelt Longinus die Verbindung zwischen Rhetorik und Dichtung, so in dem folgenden Passus zu einem Zitat aus dem 17. Gesang der Ilias. Er zeigt hier, wie der Dichter »sich in heroische Größe zu versetzen pflegt«:172 Finsternis plötzlich und lähmende Nacht umfängt bei ihm den Kampf der Hellenen; da ruft nun Aias in seiner Not: »Vater Zeus, ach erlöse aus dunkler Nacht die Achaier! Gib uns Licht und Tag und laß mit den Augen uns sehen; Laß im Licht uns wenigstens sterben!« Dies ist wahrlich die leidenschaftliche Sprache eines Aias, bittet er doch nicht um sein Leben (solche Bitte lag unter seiner Heldenwürde), nein, weil ihn Finsternis lähmt und sein Heldenmut nichts Edles vollbringen kann, deshalb erfleht er im Grimm über seine Tatenlosigkeit im Streit Licht so rasch wie möglich, um wenigstens ein seiner Tapferkeit würdiges Ende zu finden, und träte Zeus selbst ihm entgegen.173
Longinus wählt einen emotionalen Höhepunkt des homerischen Epos und ermöglicht mit der Gestaltung seines Kommentars gewissermaßen als Vermittler zwischen Dichter und Leser die Einfühlung in den Helden. Die bewegende Wirkung erhabener Rede zeigt er nicht analytisch, sondern durch seinen (sanft) bewegenden Stil und die (stark) bewegende Macht der Dichtung selbst. Wie der kundige Leser weiß, heißt es im folgenden Vers der Ilias, »da jammerte Zeus des weinenden Königs.«174 Bei Longinus folgt 168 169 170 171 172 173 174
Er gibt an, zu Xenophon ein Werk verfasst zu haben (ebd., S. 18 f.; 8, 1). Ebd., S. 20 f. (9, 1). Vgl. bes. ebd., S. 18–31 (Kap. 8 u. 9). Ebd., S. 18 f. (8, 1). Ebd., S. 26 f. (9, 10). Ebd. Vgl. Homer, »Ilias« 17, V. 645–647. Homer 1996, S. 314 (Ilias 17, V. 648).
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I. Spielraum der Poetik
nun noch eine Steigerung mit dem Zitat aus einem ganz anderen Zusammenhang im 15. Gesang, wo Homer Hektors leidenschaftliches Kämpfen darstellt: Hier nämlich fährt Homer wirklich wie ein Sturmwind in die Kämpfe und ist selbst so hingerissen, daß er Wütet also wild wie der lanzenschwingende Ares Oder wie Feuer verwüstend Berge durchrast und das Dickicht; Schaum steht ihm vor dem Mund.175
Eindrucksvoll setzt Longinus hier die später von ihm behandelte vergegenwärtigende evidentia176 ein, um die eigene Begeisterung zu evozieren und damit ein Ideal vom Kritiker vorzustellen, das zu dem distanziert urteilenden Kunstrichter bei Horaz in scharfem Gegensatz steht: Hingerissen von Homers sprachlicher Kraft überlässt er es dem Dichter, die Rede auf ihren Höhepunkt zu führen. Damit »überzeugt« Longinus seinen Leser nicht nur durch »Sachbeweise«, sondern »überwältigt« ihn mit der Macht des erhabenen Wortes.177 Indem Longinus Homer mit dessen rasend kämpfendem Helden identifiziert, ›sehen‹ wir den begeisterten Dichter: Sein schäumender Mund verleiht dem platonischen Topos vom wahnsinnigen, musenbesessenen Dichter Kontur. Hier jedoch wird der Dichter zum heroischen Ideal. Dies ist nicht der horazische Melancholiker am abgelegenen Ort, sondern der Künder des Erhabenen als Verwirklichung menschlicher Bestimmung. Longins eindrucksvolle, in Boileaus Übersetzung wirksam vermittelte Assoziation des platonischen Topos von der göttlichen Inspiration mit dem rhetorischen Ideal bewegender Rede erlangte vor allem im 18. Jahrhundert Bedeutung, weil sie in einem Zeitraum, in dem theologische Dogmen ihre Verbindlichkeit verloren, neue Beziehungen zwischen Poesie und Bibel legitimierte – beziehungsweise alten Bezügen neues Leben einhauchte. Eine argumentative Grundlage lieferte die Schrift selbst, indem sie das 1. Buch Mose neben der Ilias als Beispiel für den erhabenen Stil anführte. Longinus diskutiert zunächst homerische Verse über Poseidon, wo »das Göttliche makellos, wahrhaft groß und rein« dargestellt wird,178 und fährt dann fort: Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, dies auch sprachlich geoffenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb »Gott sprach« – was? »Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es ward.«179
Robert Lowth erweist auf dieser Basis in seinem enorm einflussreichen Werk De Sacra Poesi Hebraeorum (1753) unter Rückgriff auf Argumente der 175 176 177 178 179
Longinus 1988, S. 26 f. (9, 11). Vgl. Homer, »Ilias« 15, V. 605–607. Ebd., S. 43–51 (Kap. 15). Ebd., S. 48 f. (15, 9). Ebd., S. 24 f. (9, 8). Vgl. Homer, »Ilias« 13, V. 18–31, und 20, V. 60. Ebd., S. 24–27 (9, 9). Vgl. Homer, »Ilias« 15, V. 605–607. Vgl. auch Gen. 1, 3–7.
5. Die Bibel: »Im Anfang war das Wort«
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Kirchenväter und Humanisten den Status der Bibel als heilige Dichtung.180 In Einklang damit wertet Friedrich Schlegel in seiner Literaturgeschichte David, Salomon und Jesaja als Maßstab und Ursprung größter Dichtung, denn sie sprechen mit einem Glanz und einer Hoheit, die auch nur als Poesie beurteilt, Bewunderung erregt, und über allen Vergleich erhaben, jede schmähende Anfeindung darniederschlägt; eine Feuerquelle göttlicher Begeisterung, aus welcher die größten Dichter auch der neuern, bis auf unsere Zeit sich zu ihrem kühnsten Aufschwung ermutigt haben.181
Indem die Vertikalitätsmetaphorik des longinischen Erhabenen die rhetorische Stillehre mit homerischem Heroismus, platonischer Inspiration und biblischer Schöpfung integriert, liefert sie eine enorm produktive Quelle der Legitimation von Dichtung als einer Macht, die zeitliche, disziplinäre und konfessionelle Grenzen transzendiert.
5. Die Bibel: »Im Anfang war das Wort« Als Grundtext hat die Bibel schon die Anfänge der deutschen Sprache und Kultur mitbestimmt,182 immer in Interaktion mit römisch-klassischem sowie auch – weniger klar definierbar – germanischem Sprach- und Kulturgut. Die Bedeutung der Bibel selber ist in diesem Prozess nicht ablösbar von ihrer Interpretation durch Gelehrte und ihrer Verwendung im praktischen Leben: Wie die homerischen Schriften im antiken Griechenland wird sie »in allen Sachen menschlicher Erziehungs- und Lebensgestaltung als Lehrer zur Hand genommen«.183 Wenn die Bibel als Dichtkunst gelesen wird, so 180 Lowth 1753. Im deutschsprachigen Raum erfolgte die Verbreitung in der von I.D. Michaelis herausgegebenen Ausgabe (Lowth 1758–1761). Zur Debatte um die von Longin hergestellte Verbindung zwischen dem Erhabenen und Genesis vgl. Monk 1960, S. 31–34 und passim; zu Lowths Beitrag ebd., S. 77–84. 181 Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 6, S. 101 (Geschichte der alten und neuen Literatur, 4. Vorlesung). Dyck bespricht Schlegels Beitrag zur Debatte um die Legitimierung von Bibel und Poesie unter Bezug auch auf diese Passage (Dyck 1977, S. 125–130). Problematisch ist Viëtors Aufsatz »Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur« (Viëtor 1952), denn hier wird das Erhabene teleologisch auf Kant, Weimarer Klassik und Romantik hin gelesen. Der rhetorische Ansatz der longinischen Schrift wird damit als überholt gewertet; als maßgebliche Instanz für das Erhabene gilt Viëtor die Philosophie. 182 Zitate aus der Bibel erfolgen unter Angabe üblicher Abkürzungen für die Bücher der Bibel auf der Basis von Martin Luthers Übersetzung in der letzten zu Lebzeiten erschienenen Fassung: »Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch Auffs new zugericht« von 1545 (Luther 1972; vgl. auch andere Neudrucke bzw. Faksimile-Ausgaben – eine Standard-Ausgabe dieser Fassung hat sich bis heute nicht durchgesetzt). Moderne Ausgaben der Luther-Bibel enthalten zumeist nicht Luthers Glossen und unterliegen einem ständigen Prozess der textuellen Veränderung. 183 Platon 1982, S. 449 (10. Buch; 606e).
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I. Spielraum der Poetik
ist dies an sich schon ein Akt der Interpretation, der je nach Perspektive vornehmlich theologische oder poetologische Aussagekraft besitzt. Ein solcher Ansatz ist das Resultat einer langen Debatte um den Status der Bibel in Bezug auf den antiken Kanon, die von der »Bibelapologie im Namen der Antike« bis hin zur »Dichtungsapologie im Namen der Bibel« alle Varianten umfasst.184 Für die Poetik religiöser Dichtung steht die Frage der Legitimität im Zentrum: Wenn der Poesie eine Verbindung zur Bibel abgesprochen wird, vermag sie in einem theologisch bestimmten Zeitalter keinerlei religiöse Funktion zu erfüllen, und die weltliche Dichtung gilt dann entsprechend als teuflische Verführung. Wird sie dagegen über die gemeinsame Sprache in die exegetische Praxis integriert, so ist ihre Poetik eine Funktion des exegetischen Ansatzes; Beziehungen mit der weltlichen Dichtung lassen sich dann eher flexibel unter Betonung von Entsprechung oder Kontrast entwickeln. Dass schon bei den Kirchenvätern das Argument vertreten ist, die Bibel sei schönste Poesie, zeigt die Vorrede zur Chronik des Hieronymus: Die heilige Schrift gleicht einem schönen Leibe, den ein schmutziges Gewand verhüllt. Der Psalter ist wohltönend wie die Gesänge des Pindar und Horaz. Den salomonischen Schriften eignet Würde (gravitas), dem Buch Hiob Vollkommenheit. Alle diese Bücher sind im hebräischen Original in Hexametern und Pentametern verfasst. Aber wir lesen sie in Prosa! Man stelle sich vor, wie sehr Homer in Prosa verlieren würde.185
Hieronymus benutzt den etablierten Vergleich der Sprache mit einem menschlichen Körper,186 um die ästhetischen Mängel des Bibellateins herauszustellen. Das Körperliche ist hier nicht negativ besetzt wie bei Platon, sondern vermittelt Schönheit und Reinheit. Die Versform gilt ihm als Vervollkommnung der Sprache, Prosa dagegen als unreine, würdelose Gebrauchsform. Hieronymus geht davon aus, dass der Leser Pindar und Horaz, vor allem aber Homer als ideale Dichtung anerkennt; legitimiert werden muss die Sprache der Bibel durch Evozierung der Qualitäten des unzugänglichen Originals. Im 18. Jahrhundert kehren ähnliche Argumente wieder, so in der poetologischen Rezeption von Lowths De Sacra Poesi Hebraeorum.187 184 Vgl. die entsprechenden Kapitelüberschriften in der hervorragenden Zusammenfassung dieser Debatte bei Dyck 1977, S. 24 und 35. 185 Zitiert nach der zusammenfassenden Übersetzung von Curtius (1993, S. 56). Vgl. das vollständige lateinische Original in Hieronymus 1984, S. 3 f. (Einleitung). 186 Mit Bezug auf Statuen ausgeführt beispielsweise bei Quintilian 1995, Bd. 1, S. 224 f. (II, 13, 9–11). 187 Lowth 1753. Vgl. zu diesem Thema Gutzen 1972. Problematisch ist allerdings angesichts der langen und komplexen Tradition dieser Debatte sein Begriff der »Entdeckung« der »Poesie der Bibel« im 18. Jahrhundert (ebd., Titel). Den Prozess der Differenzierung einer nachbiblischen ›Heiligen Poesie‹ gegenüber biblischer Poesie im 18. Jahrhundert stellt dagegen Jacob in den Vordergrund (Jacob 1997, zu Lowth S. 2).
5. Die Bibel: »Im Anfang war das Wort«
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Der Vergleich zwischen der Bibel und kanonischen Werken der Antike fügt sich in das Bestreben der Kirchenväter, die griechische und römische Bildungstradition mit dem in der Bibel dokumentierten Wort Gottes und dem theologischen Dogma zu vereinbaren. Hieronymus geht grundsätzlich von einer Entsprechung der heidnischen und christlichen Traditionen aus, um die gesamte literarische Tradition für die Belehrung der Christen fruchtbar zu machen, ein Anliegen, das die poetologische Argumentation des Mittelalters durchzieht;188 literarisch verwirklicht es sich in den vielschichtigen Entsprechungen der Göttlichen Komödie.189 Ähnlich ist auch Augustinus bestrebt zu zeigen, dass die Sprache der Bibel den Maßstäben des antiken Kanons entspricht,190 und umgekehrt rechtfertigt er den Einsatz der Rhetorik für die Vermittlung christlicher Wahrheit mit dem Argument, die Waffen der Beredsamkeit dürften nicht den lügnerischen Heiden überlassen werden.191 Den Erweis, dass die biblische Sprache höchsten stilistischen Ansprüchen genügt, erbrachte besonders die Übertragung der rhetorischen Figurenlehre auf die Bibel, ausgehend vor allem von Bedas Schrift De schematibus et tropis.192 Die Entdeckung von Stilmerkmalen in der Bibel, die in den rhetorischen Lehrbüchern definiert waren, erlaubte Verbindungen zwischen den Traditionen, die für die Literatur der folgenden Jahrhunderte enorme Bedeutung erlangten. So schafft die auf die Tropen fokussierte »affektische Exegese« des Pietismus193 einen Kontext, ohne den Klopstocks Messias und Oden, Goethes Werther sowie die Literatur der Romantik nicht vorstellbar wären; noch die Literatur des Expressionismus bezieht ihre Wirkung nicht zuletzt aus der biblischen Sprache. Kontrovers war die Beziehung zwischen der rhetorischen Dreistillehre und der Sprache der Bibel, zumal bereits die Antike die unterschiedlichsten Argumente zur Stilhierarchie bereitstellte und Umwertungen durch das Grundprinzip der Angemessenheit legitimierte.194 Man konnte die Mei188 189 190 191 192 193 194
Vgl. Curtius 1993, passim, und Haug 1992, S. 7–24. Vgl. Curtius 1993, S. 367–369. Augustinus 2002, S. 155 (4. Buch, Abschnitt 6 f.). Ebd., S. 149 f. (4. Buch, Abschitt 2). Vgl. Curtius 1993, S. 56 f. Dyck 1977, S. 121. Zu pauschal und rigide ist die Darstellung bei Haug, wenn er nur Ciceros hierarchische Zuordnung von Stilhöhe und Gegenstand in dessen Werk »Orator« anführt (Haug bezieht sich fälschlicherweise auf »De oratore«, richtig ist jedoch sein Literaturnachweis) und bemerkt, »das Kernstück der antiken Kunsttheorie war die Lehre von den Stilstufen«, und »die antike Stiltheorie beruht […] auf einer strikten Korrelation von Gegenstandshöhe und Ausdrucksniveau, oder allgemeiner gesagt: von Inhalt und Form« (Haug 1992, S. 16 f.; vgl. Cicero 2004, S. 64–87). Das Prinzip einer Korrespondenz von Inhalt und Form findet sich durchgängig in der Rhetorik, allerdings immer unter Einbeziehung des Redezwecks; und gerade Cicero betont immer wieder die Notwendigkeit der Wandlungsfähigkeit des Redners und der weisen Anwendung der stilistischen Möglichkeiten (z. B. ebd., S. 64–67; 21, 70). Aufgrund dieses Prinzips ergeben sich unterschiedliche Zuordnungen; so wird tendenziell in
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I. Spielraum der Poetik
nung vertreten, die Bibel verwirkliche das rhetorische Ideal des hohen Stils, wie schon bei Hieronymus deutlich wurde; dabei standen hinsichtlich des rhetorischen Stilideals in der antiken Tradition verschiedene Varianten zur Verfügung. So wurde im 18. Jahrhundert dem barocken Schwulst der mit Tropen sparsam umgehende, erhabene Stil Longins gegenübergestellt.195 Andererseits konnte in Fortführung der philosophischen Tradition argumentiert werden, die Vermittlung der Wahrheit erfordere den einfachen, schmucklosen, unemotionalen Stil.196 Zusätzlich ermöglichte der christliche Kontext eine grundsätzliche Infragestellung etablierter Werthierarchien: Die Menschwerdung Gottes im Stall unterminierte radikal die Kopplung von ›hoch‹ mit ›reich, geschmückt, wertvoll‹ und von ›niedrig‹ mit ›arm, schlicht, wertlos‹. Demzufolge waren dann gerade der ›demütige‹, niedere Stil (genus humile) und die der urbanitas entgegengesetzte, bäuerlichplumpe rusticitas angemessen, um die christliche Wahrheit zu vermitteln.197 Mit dieser Infragestellung rhetorischer Bewertungen ließ sich aber auch die Kopplung von Stilhöhe und Gegenstand als solche ablehnen, da sub specie aeternitatis das Geringste so wichtig ist wie das Größte.198 Damit aber lieferte bereits Augustinus ein schlagkräftiges Argument, das sich dann wieder in der Romantik für die Ablehnung neoklassizistischer Gattungskonventionen einsetzen ließ – insbesondere, wenn der rhetorischen Fokussierung auf die Wirkung in der Öffentlichkeit die augustinische Metapher vom »inneren Wort« gegenübergestellt wurde.199 Der argumentative Konnex zwischen antikem Kanon und Bibel beschränkte sich keineswegs auf die Sprache. Er betraf den gesamten Bereich der Interpretation, ausgehend von der antiken Homerallegorese, mit der die Dichtung gegenüber der Philosophie gerechtfertigt worden war.200 Indem die Allegorese einerseits von den Kirchenvätern – aufbauend auf den Schriften des jüdisch-hellenistischen Theologen Philon – für die christliche Bibel-
195 196 197 198 199
200
der philosophischen Tradition für die wichtigsten Gegenstände der bewegende, schmuckvolle Stil abgelehnt. Insgesamt ist es irreführend, sich auf die antike Kunsttheorie oder die antike Stiltheorie zu berufen, als handle es sich dabei um ein stabiles Kompendium von Regeln. Dass die Dreistillehre eine Systematisierung des aptum-Prinzips darstellt und dieses Prinzip übergeordnete Bedeutung für die elocutio insgesamt besitzt, verdeutlicht Lausberg mit reichhaltigen Verweisen (1990, Bd. 1, S. 519, § 1078; s. a. S. 507–511, §§ 1055–1062). Wesentlich differenzierter als bei Haug sind bereits vom Ansatz her die Ausführungen zur Stillehre bei Curtius 1993, S. 157–163. Vgl. z. B. Longinus 1988, S. 8 f. (3, 1). Vgl. Curtius 1993, S. 159, unter Verweis auf Seneca (Brief 40, 4). Vgl. Haug 1992, S. 19. Vgl. ebd., S. 17 f., unter ausführlichem Bezug auf Augustinus. »Wir bilden von den in der ewigen Wahrheit geschauten Dingen ein inneres Wort. […] Wenn wir aber mit anderen sprechen, dann gewähren wir dem Worte, das innen bleibt, den Dienst der Stimme oder irgendeines körperlichen Zeichens« (Augustinus 1968, Bd. 2, S. 57). Vgl. Curtius 1993, S. 210–213.
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auslegung fruchtbar gemacht wurde,201 andererseits aber auch die Interpretation Vergils bestimmte, ergaben sich für Mittelalter und Humanismus reichhaltige Übertragungsmöglichkeiten, die zwischen heidnischer und christlicher, weltlicher und geistlicher Literatur vermitteln konnten. Auch die typologische Interpretation der Bibel eröffnete eine Vielfalt von Bezügen zwischen Altem und Neuem Testament, die darüber hinaus Verbindungen zu außerbiblischen Texten und Figuren nahelegte. Dabei sind Apologie, Didaktik und wissenschaftliche Erkenntnis untrennbar verbunden. Wie Walter Haug hervorhebt, besteht die geistesgeschichtliche Bedeutung der typologisch-figuralen Exegese vor allem darin, »daß sie es erlaubte, der Geschichte und der Natur einen Sinn abzugewinnen, ohne ihre Faktizität geringzuachten oder gar aufzulösen«.202 Dadurch birgt sie unermessliche Möglichkeiten der Aktualisierung. Aus posthumanistischer Perspektive stellen sich Allegorie, Allegorese und Typologie als obsolete Denkmuster dar, deren Überwindung sich im goetheschen und romantischen Symbolbegriff und in einer linear fortschreitenden Geschichtsvorstellung konkretisiert. Von postmoderner Perspektive aus gewinnen sie jedoch wieder Bedeutung, weil sie Denkweisen ermöglichen, die das Subjekt in dezentrierten Konstellationen vorstellbar machen sowie nicht-lineare Zeitmodelle anregen. Die Bibel ist für die modernen westlichen Literaturen von nicht zu überschätzender Bedeutung. Der durchgängige Bezug des christlichen Diskurses auf die Schrift erhält die Spannung zwischen Wort und Bedeutung, Sprache und Gedanke, Körper und Geist/Seele, zumal die ›Heilige Schrift‹ selbst mit ihrer mannigfaltigen Sprach-, Schrift- und Buchmetaphorik immer wieder neu zur Auseinandersetzung um diese Spannung herausfordert. Der kontinuierliche Prozess der Auslegung in Predigt, Kommentar und Summa, die Praxis der Liturgie, des Gebets und des Kirchenlieds sowie die Elaborierung des biblischen Wortes in Erbauungsliteratur und religiöser Dichtung bilden ein immenses, auf die Bibel zentriertes intertextuelles Netzwerk, zu dem auch die Entgegnung auf die Bibel in anderen Disziplinen beiträgt. Den entscheidenden Impuls für immer wieder neue Verknüpfungen liefert die Struktur der Bibel selbst mit ihrer Gattungs- und Formenvielfalt203 und den unterschiedlichen Arten der Bezugnahme zwischen den Büchern, wobei Gattungen wie Gesetz und Parabel an sich schon die Auslegung fordern. Vertieft wird diese Tendenz durch die unterschiedlichen Personen und Erzählperspektiven, den wechselnden Rededuktus sowie die 201 Vgl. Lubac 1998, Bd. 1, S. 117–159. Lubacs Studie zeigt die argumentative Komplexität und die vielfältigen Spielarten der Interpretation, in denen sich der ›vierfache Schriftsinn‹ als dominante Form profilierte. Lubac führt diese Tradition auf die enorm einflussreichen exegetischen Schriften des Origenes (in der lateinischen Übersetzung von Rufinus) zurück (vgl. ebd., Bd. 1, S. 142). 202 Haug 1992, S. 225. 203 Vgl. den noch immer hilfreichen Überblick in Koch 1970.
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konzentrierte, kryptische, bildliche Sprache, die rationale, emotionale und imaginative Fähigkeiten gleichermaßen anspricht und unterschiedlichste Auslegungmuster zulässt. Prägend ist die zweigeteilte Struktur mit Altem und Neuem Testament, da diese die Identität des Christentums in Gegensatz zum Judentum legitimiert. Bedeutsam ist daher die allegorische Auslegung des Alten Testaments: Die christliche Exegese hat die Aufgabe, es als Präfiguration, ›Vorbild‹ und ›Schatten‹ des Neuen Testaments zu interpretieren.204 Entsprechend heben in Luthers Bibelausgabe von 1545 Querverweise vielerlei Bezüge zwischen Altem und Neuem Testament hervor, die dem Leser die neutestamentliche Erfüllung der Schrift erfahrbar machen. Besondere Bedeutung erlangen Zitate alttestamentlicher Passagen im Neuen Testament. So wird im Hebräerbrief die vom Propheten Jeremia berichtete Ankündigung Gottes zitiert, er wolle den alten Bund durch einen »newen Bund« ersetzen:205 »JCH WIL MEIN GESETZ IN JR HERTZ GEBEN/VND IN JREN SINN SCHREIBEN/VND SIE SOLLEN MEIN VOLCK SEIN/SO WIL ICH JR GOTT 206 In der weiterführenden Auslegung im Hebräerbrief wird betont: SEIN.« »Jn dem er saget/Ein newes/machet er das erste alt.«207 Sinnfällig ist in der intertextuellen Verknüpfung die Zweiheit und die Einheit des Alten und Neuen Testaments, die zeitlich lineare Folge und die Überordnung, die Obsoletheit des Alten Testaments und seine Aufhebung im Neuen Testament. Die Exegese entwickelt unter Bezug auf andere Bibelstellen die verschiedenen Bedeutungsnuancen des ›Neuen‹ gegenüber dem ›Alten‹ in Metaphern der Erneuerung, Verwandlung (z. B. Wasser zu Wein, bitter zu süß), Erhöhung, Veredelung, Vergeistigung, Entschleierung, Befreiung.208 Aber auch die Entsprechung wird ausgestaltet: als ›Bogen und Pfeil‹, ›Mühlsteine‹, ›zweischneidiges Schwert‹, ›Dialog‹, ›Lippen‹ der Braut, ›Kuss‹.209 Die von der Postmoderne gefeierte Selbstreflexivität des Textes verwirklicht sich im auferstandenen Jesus, wenn er unerkannt gegenüber Jüngern die Hohenpriester widerlegt, die ihn dem Tod überantwortet hatten: VND er sprach zu jnen/O jr Thoren vnd treges hertzen/zu gleuben alle dem/das die Propheten geredt haben/MUSTE NICHT CHRISTUS SOLCHES LEIDEN/VND ZU SEINER HERRLIGKEIT EINGEHEN? Vnd fieng an von Mose vnd allen Propheten/vnd leget jnen alle Schrifft aus/die von jm gesagt waren.210
204 Vgl. bes. Hebr. 8, wo Jesus Christus als Hoherpriester zur Rechten Gottes und »Mitler« »eines bessern Testaments« dargestellt ist: Die Priester auf Erden »dienen dem Furbilde/vnd dem Schatten der himlischen Güter« (Vers 5). 205 Jer. 31, 31. 206 Ebd. Eine Randglosse verweist auf das Zitat dieser Stelle in Hebr. 8, 10. 207 Hebr. 8, 13. 208 Vgl. zu diesem Komplex mit einer Fülle von Beispielen Lubac 1998, Bd. 1, S. 234–261. 209 Vgl. ebd., bes. Bd. 1, S. 251–261. 210 Luk. 24, 25 f.
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Als Exeget der von ihm selbst verkörperten Wahrheit des Textes offenbart er die Einheit von Wort und Bedeutung der Heiligen Schrift. Kontroversen um die Beziehung zwischen Wort und Bedeutung ziehen sich durch die Debatten um die Exegese und aktualisieren im Namen der Bibel den aus der Antike tradierten Streit zwischen Rhetorik und Philosophie. Zu Hauptkontrahenten werden die philosophisch orientierte Scholastik und der rhetorisch orientierte Humanismus; die Reformation verstärkt den konfessionellen Aspekt des Streits. Statt Scholastik und Humanismus als aufeinander folgende Epochen voneinander zu trennen, ist es sinnvoll, sie als starke Ausprägungen von zwei kontinuierlichen, besonders in Opposition zueinander sich profilierenden Traditionen zu begreifen. Denn sowohl die Scholastiker als auch die Humanisten berufen sich auf die Kirchenväter, und durchgängig gibt es eine ungeheure Spannbreite an exegetischen Ansätzen, so auch diverseste Spielarten zwischen den Lagern. Der Stellenwert der Dichtung ist gewissermaßen eine Funktion der disziplinarischen Ausrichtung und des exegetischen Ansatzes: Während die Scholastik sie so dezidiert der Theologie und Philosophie unterordnet, dass sie kaum noch Beachtung verdient, wertet der Humanismus sie als Teil des antiken Kanons auf und nutzt ihre Verflechtung mit der Sprache der Bibel für die Verbreitung der biblischen Wahrheit. Enorm fruchtbar war insbesondere Luthers Aufwertung des Wortes und seine energische Durchsetzung der vulgärsprachlichen Kommunikation biblischer Wahrheit in seiner Bibelübersetzung und seinen Kirchenliedern.211 Auch für die spätere Literaturwissenschaft, Literaturgeschichte und Literaturkritik liefert die komplexe Tradition der Exegese eine Grundlage für unterschiedliche Ansätze: Philosophisch-systematische Ästhetik und philologische Textkritik, urteilende Analyse und einfühlsame Interpretation lassen sich allesamt mit Argumenten legitimieren, die aus der patristischen, scholastischen und humanistischen Hermeneutik tradiert wurden. Insbesondere in den Gattungen des textorientierten Kommentars und der systematischen Summa werden verschiedene Auffassungen von der Beziehung zwischen Diskurs und Metadiskurs realisiert. Wenn Johann Georg Hamann in seinen Rezensionen zur deutschen Dichtung das Original nicht rational beurteilt, sondern mit Zitaten reproduziert und stilistisch evoziert, und wenn er statt einer systematisch abhandelnden Darstellungsweise den Leser mit Verweisen zum Originaltext zurückführt, so überträgt er einen humanistischen Modus des biblischen Kommentars auf die Literaturkritik. Deut211 Das Fehlen deutschsprachiger Poetiken in den katholischen Territorien im 17. Jahrhundert (Till, Rösler u. a. 2003, Sp. 1339) ist vor allem aus diesem Zusammenhang heraus erklärlich. Vgl. die kontrovers formulierte These von Schlaffer, die einzige »positive und innere Einheit der deutschen Literatur« erwachse aus ihrem Verhältnis zur Religion, vor allem zu deren »mystischen, protestantischen und pietistischen Richtungen (also zu Häresien, die sich behaupten konnten)« (Schlaffer 2002, S. 20).
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lich wird sein extrem anti-philosophischer Ansatz, wenn er für den Rezensenten den Einsatz der »Beurtheilung« sowie »gewaltthätige oder lieblose Eingriffe des Billigungsvermögens« ablehnt.212 Die Frage, wie die Bibelexegese zu verfahren hat, wird je nach Ansatz unterschiedlich beantwortet, und die besonders mit der Hochscholastik systematisierte Lehre vom ›vierfachen Schriftsinn‹ ist nur eine unter vielen erprobten Varianten. So wird häufig auch ein zweifacher und dreifacher Schriftsinn angenommen, bis hin zu einem siebenfachen Schriftsinn, wobei in der Begründung je nach Kontext Bibelzitate, Zahlensymbolik oder traditionelle Unterteilungen der Disziplinen mitspielen können (z. B. drei Zweige der Philosophie, vier Apostel oder der vierbeinige Tabernakeltisch, das Buch der sieben Siegel).213 Auch die Unendlichkeit des Schriftsinns wird thematisiert, so in metaphorischen Darstellungen der Heiligen Schrift als ›Ozean‹, ›Labyrinth‹, ›unergründlicher Abgrund‹, ›Tisch mit unzähligen Speisen‹, ›Schatz mit unendlichen Reichtümern‹ oder ›unendlicher Wald von Bedeutungen‹.214 Besonderes Gewicht erlangten die in den lateinischen Übersetzungen von Rufinus tradierten Schriften des Origenes, bei dem ein dreifacher Schriftsinn dominiert. Wirksam ist vor allem sein Vergleich der Heiligen Schrift mit dem Menschen: So wie der Mensch aus Körper (corpus), Seele (anima) und Geist (spiritus) besteht, verlangt die Heilige Schrift nach drei Arten der Auslegung: »Einfacheren« Menschen wird sie über den historischen, buchstäblichen Sinn, d. h. über den »Körper« zugänglich; »fortgeschritteneren« Menschen über die abstraktere »Seele« innerhalb der Schrift; und den »vollkommenen oder nahezu vollkommenen« Menschen über das »geistige Gesetz selbst«, das die zukünftige Glückseligkeit vorbildet.215 Eine Beschäftigung mit der »Seele« statt mit dem »Buchstaben« soll zugleich den Aufstieg zum »Geist« ermöglichen.216 Deutlich wird hier in der Gegenüberstellung von Geist und Körper sowie in der Aufstiegs- und Perfektionsmetaphorik die Bedeutung platonischen Gedankenguts für die 212 Hamann 1951, S. 360 und 479. Vgl. Klaus Hurlebuschs Besprechung von Hamanns Rezension zu Klopstocks »Die deutsche Gelehrtenrepublik« in: Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/2, S. 352–357. Im angelsächsischen Raum werden gegenwärtig ähnliche Ansätze als Teil eines breiten Spektrums literaturkritischer Möglichkeiten diskutiert, vgl. Gannon 2003. 213 Vgl. Lubac 1998, Bd. 1, bes. S. 84–88, 91 und 138. 214 Quellen vgl. ebd., S. 75 und 325 (Anm. 4–12). Das letzte Beispiel bei Hieronymus: »infinita sensuum silva«, und ähnlich bei Origenes (ebd., S. 325, Anm. 4). 215 Aus »Periarchôn«, zitiert nach Lubac, ebd., S. 143 und S. 366 (Anm. 4). Ein strukturell verwandter Vergleich findet sich bei Notker Balbulus, der von Gregors Hiob-Kommentar schreibt, dieser habe das »Gebäude« des sensus moralis auf dem »Fundament« der historia errichtet und es in dem »First« des sensus anagogicus kulminieren lassen; zitiert nach Lubac, ebd., S. 134 und 362 (Anm. 13). 216 »Animam, non litteram, in praesenti investigemus; si vero tantam efficere possumus, juxta rationem sacrificiorum quae modo lecta sunt, ad spiritum ascendamus« (aus dem Kommentar zu Levitikus, zitiert nach Lubac, ebd., S. 366, Anm. 6; s. a. S. 143 f.).
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Patristik.217 Durchaus platonisch argumentiert auch der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert: »Ihr steigt vom fleischlichen Sinn zum intellektuellen Verständnis, von fleischlicher Dienerschaft zur Freiheit geistiger Erkenntnis.«218 Dabei schafft die Verbindung antiker und biblischer Vertikalitätsmetaphorik ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Realisierung, da sie sich als ›Weg‹, ›Treppe‹, ›Spirale‹, ›Berg‹, ›Flug‹, ›Kette‹ und in einer Vielzahl von anderen Metaphern und Allegorien realisieren lässt.219 In Kommentar, Predigt, Erbauungsliteratur und sakraler wie weltlicher Dichtung werden solche Auslegungen mit unendlichen Variationen fortentwickelt. Wie anregend die Tradition der Schriftexegese war, belegt vor allem die immens produktive Auslegung des Namens »Jerusalem«, die als Inbegriff der patristischen und mittelalterlichen Bibelexegese galt und dann von John Bunyan in The Pilgrim’s Progress (1678–1684) zu einem der meistgelesenen Werke der Weltliteratur ausgestaltet wurde. Durch die komplexe Tradition der Exegese war eine Vielfalt gegeben, die zu immer neuen Interpretationen und Übertragungen anregte.220 Besonders kreativ wurden diese Möglichkeiten in mystischen Bewegungen und dann in der affektbestimmten Dichtung des 18. Jahrhunderts genutzt, wobei die Vorstellung vom eigenständig schöpferischen Genie einen wirksamen Impuls für neuartige Assoziationen, Verschmelzungen und betont kreative Umwandlungen gab. In scharfem Gegensatz zu Tendenzen hermeneutischer Abwandlung steht die Systematisierung der Bibelexegese durch die Hochscholastik. Bereits bei den Kirchenvätern ist die Exegese geprägt von der ›Disziplin‹ der Tradition,221 zumal die Bibel besonders in den hellenistisch geprägten paulinischen Schriften die Begründung dieser exegetischen Tradition enthält. In der Lehre vom ›vierfachen Schriftsinn‹ wird die Disziplin zur exegetischen Doktrin. Ein Beispiel ist die Interpretation von »fiat lux« durch Thomas von Aquin, jener Stelle des Alten Testaments also, die Longinus als jüdisches Beispiel des Erhabenen herausgegriffen hatte. Hier nun erhält die 217 Vgl. auch Lubac zu Clemens (ebd., S. 117 f.). 218 »Egredimini de sensu carnis ad intellectum mentis, de servitude carnali ad libertatem spiritualis intelligentiae« (zitiert nach Lubac, ebd., S. 453, Anm. 107 zu S. 260). 219 Das Standardwerk von Lovejoy (1964) verfolgt diese Tradition von der griechischen Philosophie bis hin zur Romantik. Die anhaltende Aktualität des Metaphernkomplexes betonen George Lakoff und Mark Turner: »Commonly, the Great Chain of Being is taught […] as if it somehow died out in the industrial age. On the contrary, a highly articulated version of it still exists as a contemporary unconscious cultural model indispensable to our understanding of ourselves, our world, and our language« (Lakoff/Turner 1989, S. 167). 220 Einen späten, durch die eingehende Beschäftigung mit einer Unmenge von patristischen und mittelalterlichen Quellen inspirierten Reflex stellt die überschwängliche Fülle von Beispielen bei Lubac dar (1998, Bd. 1, bes. S. 225–267), der andererseits als Jesuit bestrebt ist, die Bibelexegese auf dogmatisch legitime Interpretationen einzugrenzen (vgl. ebd., S. 267). 221 Zur zunehmenden Bedeutung der disciplina vgl. ebd., S. 15–24.
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Auslegung die Funktion, systematisch den spezifisch christlichen Sinn herauszuarbeiten. Demzufolge ergeben sich aus dem sensus litteralis des Alten Testaments (Schöpfung des körperlich-physischen Lichts) drei übergeordnete, im Neuen Testament realisierte Bedeutungen: Geburt Jesu Christi in der Kirche (sensus allegoricus); geistige Erleuchtung und emotionale Anfeuerung durch Christus (sensus moralis); Einführung in die Herrlichkeit durch Christus (sensus anagogicus).222 Die Doktrin vom vierfachen Schriftsinn legt die Autorität über die Bedeutung der Heiligen Schrift in die Hände der Theologen: Auch abgesehen von der Frage der Lateinkenntnis sind die ›einfachen‹ Laien durch ihre mangelnde theologische Bildung von der korrekten Erschließung der ›höheren‹ – d. h. der philosophisch-theologischen – Bedeutungen ausgeschlossen. Der Heilsweg steht ihnen damit nur über die Institution der Kirche und die Autorität der Theologen offen. Damit ist auch grundsätzlich der religiösen Dichtung der Boden entzogen, denn die höhere Wahrheit ist nicht im Wort zu finden, sondern in dessen höheren Bedeutungen. Demnach gilt sie bei Thomas von Aquin als »unterste unter allen Wissenschaften«.223 Dennoch wurden auch im Zeitalter der Scholastik Dichtungsauffassungen vertreten, welche die Poesie in Fortführung der besonders von Hieronymus entwickelten Argumente als der Theologie ebenbürtig legitimierten, und Dante erhebt den Anspruch, seine Göttliche Komödie sei zugleich Poesie und Philosophie.224 Unter Bezug auf antike und patristische Autoritäten argumentiert Petrarca dann im 14. Jahrhundert: »Die Poesie steht durchaus nicht im Gegensatz zur Theologie. Fast möchte ich sagen, die Theologie sei Dichtung von Gott.«225 Die hier tra222 Quelle vgl. ebd., Bd. 2, S. 197 und 413 (Anm. 1). Ich gebe hier die geläufigere Anordnung, während Thomas den sensus moralis als letzten anführt; insgesamt unterliegt die Sequenz des sensus moralis und sensus anagogicus einer ähnlichen – dogmatisch keineswegs unbedeutenden – Variabilität wie die Anzahl der Bedeutungen (vgl. ebd., Bd. 1, S. 94 u.ö.). 223 »Infima inter omnes doctrinas« (Thomas von Aquin: »Summa theologiae« I, 1, 9). Zitiert nach Curtius 1993, S. 230. Obwohl Curtius die Grundlagen für die scholastische Abwertung der Dichtung verdeutlicht (ebd., bes. S. 229–231), wertet er andernorts die thomistische Ablehnung der Dichtung eher als Zufall der Textüberlieferung: »Der mittelalterliche Aristotelismus, der die ›Poetik‹ nicht kannte, konnte die aristotelische Dichtungstheorie nur in der ›Metaphysik‹ finden; er mußte sie also als eine menschliche Erfindung und – gemessen an der Philosophie – als eine infima scientia auffassen. Dadurch geriet er notwendig in Widerspruch mit der ›theologischen Poetik‹« (ebd., S. 227 f.). Diese Einschätzung erscheint insofern problematisch, als sie die Bedeutung der »Poetik« im aristotelischen Werk und die Bedeutung der Dichtung in seinem System überbewertet. Entsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kenntnis der »Poetik« im philosophisch ausgerichteten Kontext des Thomismus zu einer signifikanten Aufwertung der Dichtung geführt hätte. 224 Die Argumentation ist erst aus der Konstellation der Debatten um die Hierarchie der Wissenschaften heraus verständlich, wie Curtius darlegt (1993, S. 221–232). 225 »Theologie quidem minime adversa poetica est. Miraris? parum abest quin dicam theologiam poeticam esse de Deo: Cristum modo leonem modo agnum modo vermem dici, quid nisi poeticum est?« (Petrarca 1933–1942, Bd. 2, S. 301; X, 4, 1). Die Ambiguität im zweiten Satz verdeutlichen die unterschiedlichen Übersetzungen bei Curtius und Dyck: »die
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dierten Argumente werden immer wieder aufgegriffen, besonders wirksam in der Romantik. Der Humanismus kehrt gegenüber der Scholastik zum Text und zum ›Literalsinn‹ zurück: »Literalis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr vnd kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist.«226 Die Allegorese bleibt allerdings bedeutsam, wozu Luther durchaus beiträgt. Beispiel ist seine Erläuterung des Sündenfalls in der Bibelausgabe von 1545:
Christus verheissen.
Da sprach Gott der HERR zu der Schlangen […] JCH WILL FEINDSCHAFT SETZEN ZWISCHEN DIR UND DEM WEIBE / VND ZWISCHEN DEINEM SAMEN UND JREM SAMEN /DER SELB SOL DIR DEN KOPFF ZUTRETTEN / VND DU WIRST JN IN DIE VERSCHEN STE227 CHEN.
(Der selb) Dis ist das erst Euangelium vnd Verheissung von Christo geschehen auff Erden / Das er solt / Sünd / Tod vnd Helle vberwinden vnd vns von der Schlangen gewalt selig machen. Daran Adam gleubet mit allen seinen Nachkomen / Dauon er Christen vnd selig worden ist von seinem Fall.
Stichwort und Glosse ermöglichen dem Leser, den Sündenfall auf die Eschatologie hin zu interpretieren. Adam, so lehrt eine vorhergehende Glosse, »heisst auf Ebreisch Mensch/darumb mag man mensch sagen/wo Adam stehet/vnd widerumb«.228 Erkennbar ist demzufolge hier ein vierfacher Schriftsinn: Der historische Adam und Gottes Warnung an die Schlange/ Satan (sensus litteralis), der Mensch und Gottes Verheissung der Erlösung (sensus allegoricus), die Notwendigkeit des Glaubens an die Verheissung (sensus moralis), die Überwindung von Sünde, Tod und Hölle durch Christus und die Seligwerdung des Menschen (sensus anagogicus). Exemplarisch vermittelt Luther damit dem Prediger sowie auch dem Laien, wie er im Prozess der Auslegung den Glauben festigen kann. Die Tradition der allegorischen Auslegung wird in der Dichtung fortgeführt, so in den Sonetten von Gryphius, aber auch noch in Klopstocks christlich-antikem Epos Der Messias:229 In Anlehnung an die zweigeteilte Struktur der Bibel ist dort die erste Hälfte der Passion, die zweite Hälfte der Auferstehung gewidmet; ausgeführt wird besonders die seligmachende Wirkung der Erlösungstat Christi auf den archetypischen Menschen Adam. Ganz gegen scholastische Intentionen rührt die aus der Antike ins Christentum übertragene Exegese
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Theologie sei eine aus Gott kommende Poesie« (Curtius 1993, S. 233) und »die Theologie ist das Gedicht von Gott« (Dyck 1977, S. 36). Eindeutig ist jedoch die Gleichwertigkeit von Theologie und Dichtung. Luther 1883 ff., Abt. 2: Tischreden, Bd. 5, S. 45 (Nr. 5285, 3.–19. Oktober 1540). Luther 1972, Bd. 1, S. 29 f. (Gen. 3, 14 f.). Ebd., S. 29 (zu Gen. 3, 8). Vgl. z. B. Freunds Herausarbeitung des vierfachen Schriftsinns als Kompositionsfigur von Gryphius’ Sonett »Der Abend« (Freund 1990, S. 12–20). Zur Typologie bei Klopstock vgl. Dräger 1971.
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noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Zeichen des longinischen Erhabenen »Hohe und Niedre, Geistliche und Weltliche, Katholische und Lutherische« zu »Thränen«.230 Kennzeichnend für die Reformation ist jedoch die Orientierung am Wort des Textes, wobei auch – in Einklang mit dem rhetorischen Ansatz – dessen affektische Kraft genutzt wird. Luthers Übersetzung der Bibel in die Sprache des ungebildeten Volkes geht Hand in Hand mit seiner theologischen Begründung einer direkten, in der Heiligen Schrift verankerten, von Theologen grundsätzlich unabhängigen Beziehung zwischen Mensch und Christus beziehungsweise Gott. Die Übertragung des biblischen Textes aus den antiken Sprachen in die Vulgärsprache verschmilzt gewissermaßen den biblischen und antiken Kanon im deutschen Text. Zugleich rechtfertigt die direkte Offenbarung des göttlichen Wortes in der Bibel prinzipiell die individuelle, auch dichterische Interpretation. Es handelt sich dabei nicht um gänzlich neue Ansätze, sondern um die Belebung und Entwicklung tradierter Argumente, die aufgrund der gezielten Involvierung auch des ›einfachen‹ Volkes eine enorme Breitenwirkung erreichten. Wenn Faust im Akt der Übersetzung des biblischen »Logos«231 das »Wort« gegen »Sinn«, »Kraft« und schließlich »Tat« eintauscht, weil er »das Wort so hoch unmöglich schätzen« kann,232 so markiert dies die Fortführung einer langen Tradition der Auseinandersetzung mit der Bibel, ihrer Auslegung und ihrer spannungsvollen, identitätsstiftenden Übertragung in andere Sprachen und Kulturen. Anders kommentiert Herder 1775 den Passus aus dem Johannes-Evangelium. Ihm ermöglicht er die Profilierung des Gefühls ›innerhalb‹ der Sprache: »Was ist unkörperlicher, unbegreiflicher, und doch wahrer, inniggefühlter als das Wort in uns? Es ist Ausdruck des Wesens der Seele«; auch seine Interpretation wird vom griechischen Original legitimiert: »Es ist bekannt, daß logoV das innere und äußere Wort, Vorstellung von innen und Darstellung von außen bedeute.«233 Herder weitet den Bedeutungsumfang des ›Wortes‹ aus, um sowohl den ›äußeren‹ Bereich der öffentlich wirksamen Sprache als auch den ›inneren‹ Bereich der Gedanken, Gefühle und Phantasie miteinzubeziehen. Goethe dagegen benutzt die Szene der Übersetzung, um sich vom sprachorientierten Humanismus abzugrenzen. Er signalisiert damit den ›Anfang‹ einer neuen, rational begründeten, tatenfrohen Zeit: die ›Epochenschwelle‹ im Zeichen nicht nur der Tat, sondern vor allem der Idee. Das humanistische Zeitalter wurde damit 230 Christian Friedrich Daniel Schubart über die Wirkung seiner öffentlichen Deklamationen des »Messias«, in Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 7, S. 30 (Schubart an Klopstock, 22.5.1776). 231 Joh. 1, 1. 232 Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 61 (Faust I, Studierzimmer [1], V. 1224–1237). 233 Herder 1877–1913, Bd. 7, S. 355 f. (Erläuterungen zum Neuen Testament). Der Terminus »Darstellung« avanciert in dieser Zeit zu einem poetologischen Schlüsselbegriff (vgl. MülderBach 1998).
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für nachfolgende Generationen zu einem Vorraum beziehungsweise zu einer Vorstufe degradiert. Schon in der ersten Szene gibt der Famulus Wagner die zum Klischee verkommene Kunst des Wortes zum Besten, Faust dagegen tritt ein für die kunstlos schlichte Vermittlung des Sinns: Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor; Und wenn’s euch Ernst ist was zu sagen, Ist’s nötig Worten nachzujagen? Ja, eure Reden, die so blinkend sind, In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt, Sind unerquicklich wie der Nebelwind, Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!234
Die alle Wissenschaften in sich vereinigende Rhetorik Ciceros235 ist hier nichts weiter als frivoles, nutzloses, lebloses Schmuckwerk, das von der Wirklichkeit ablenkt und der menschlichen Welt des Scheins verhaftet ist; Faust dagegen sucht die Wahrheit, die sich unabhängig von menschlicher Kunst zu erkennen gibt. Parodiert wird der Humanismus auch durch die szenische Gegenüberstellung des desillusionierten Gelehrten mit dem satanischen Pudel: Fausts »redlicher« Drang, noch einmal »den Grundtext aufzuschlagen«, um »Das heilige Original | In mein geliebtes Deutsch zu übertragen«,236 wird begleitet vom Knurren, Heulen und Bellen Mephistos, der Faust sodann in die wirkliche Welt hinausführt und dessen Erlösung gerade durch sein teuflisches Schaffen fördert. Der aufgeklärte Mensch erfüllt dadurch den Willen Gottes, dass er sich im Leben verwirklicht. Fausts Vision von einem »paradiesisch Land«, in dem die Menschen »tätig-frei« wohnen können,237 stellt den Höhepunkt seines menschlichen Strebens dar und zugleich die Legitimation eines Lebens, das die Heilige Schrift hinter sich gelassen hat. Dass Faust trotz seiner Wette mit dem Teufel und bei aller Schuldverstrickung auf dem »rechten Weg« ist, hatte schon im Prolog der allwissende und allmächtige »Herr« erklärt;238 die endgültige Rechtfertigung erfolgt mit dem durch weibliche Liebe geförderten (neu)platonischen Aufstieg des Helden in göttliche Sphären. Widerlegt ist damit die Macht nicht nur des kirchlichen Dogmas, sondern auch jene des biblischen Wortes; widerlegt ist zudem die Notwendigkeit des Studiums der »Theologie« sowie der »Philosophie, | Juristerei und Medizin«.239 234 235 236 237
Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 39 (Faust I, Nacht, V. 550–557). Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 22 f.). Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 61 (Faust I, Studierzimmer [1], V. 1220–1223). Ebd., S. 445 f. (Faust II, 5. Akt, Palast, Großer Vorhof, V. 1163–11570, Zitate V. 11569 und 11564). 238 Ebd., S. 28 (Faust, Prolog im Himmel, V. 329). 239 Ebd., S. 33 (Faust I, Nacht, V. 354–356).
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Der Dichter-Schöpfer interpretiert den Grundtext für seine Zeit und wird zum modernen Exegeten par excellence. Indem seine Dichtung die Wahrheit verkörpert und unabhängig von wissenschaftlichen Disziplinen wirksam im Leben verankert, überwindet sie die Opposition zwischen Philosophie und Rhetorik und geht aus dem Akt der Aufhebung als Siegerin hervor: Der heroische Dichterfürst ist der »Befreyer« der »jungen Dichter«, der ihnen den Weg zur einzig wahren »Naturdichtung« gewiesen hat.240 Wenn Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung Goethe dem »naiven« Dichtertypus zuordnet, der »[Natur] ist«,241 so zollt er ihm den Tribut, der Homer der modernen Dichtung zu sein; indem er sein eigenes Dichtertum in dieser werkexternen Poetik mit der Reflexion verquickt, stilisiert er sich zum modernen, philosophisch uminterpretierten Horaz. Damit stellt er »dieses jüngste Gericht über den größten Theil der deutschen Dichter« ganz ins Zeichen der Antike.242 Unterhalb des Weimarer Parnass rüstet man sich dagegen zu anderen Allianzen. Dass der Quell der Bibel keineswegs versiegt war, zeigte die romantische Dichtung. In ihre Grenzen verwiesen wurde die Dichtung jedoch von der idealistischen Philosophie.
6. Der Kampf um die deutsche Dichtung im Zeitalter des Idealismus Sieht es nicht in unserm Literaturreiche beynahe so, wie in Polen aus? Allenthalben Fehden, Dissidenten, Conföderationen, Antiquarische Briefe, […] u. a. m. Schandsäulen des 18ten Jahrhundertes! Zeugnisse schlechter Herzen bey guten Köpfen, Zeitverlust, schimpflichte Erniedrigung des ehrwürdigen Standes der Gelehrten zum Zeitvertreibe eines jeden, der lesen kann!243
Dieser Brief des selbst literarisch tätigen Wiener Jesuitenpaters und Philosophieprofessors Michael Denis aus dem Jahre 1769 zeigt die Reaktion eines Gelehrten auf die Destabilisierung der Strukturen seiner geistigen Welt – Verschiebungen, in denen die Gelehrten aus dem Literaturreich verdrängt wurden. Voraussetzung für den Siegeszug philosophisch orientierter Literaturauffassungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind die tradierten Bündnisse zwischen den Disziplinen, die ihre jeweiligen Machtansprüche auf die Antike gründeten. Die Bedeutung des ›Kunst‹-Begriffs für die Dichtungsvorstellungen um 1800 basiert auf einem Bündniswechsel, bei dem die Dichtung vom humanistischen Lager der ›schönen Wissenschaften‹ ins aris-
240 241 242 243
Ebd., Bd. 22, S. 933 (Noch ein Wort für junge Dichter). Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 732 (Über naive und sentimentalische Dichtung). Ebd., Bd. 12, S. 93 (Schiller an Goethe, 23.11.1795). Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 5/1, S. 203 (Denis an Klopstock, 3.11.1769).
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totelisch orientierte Lager der ›schönen Künste‹ überwechselte,244 wobei um die Mitte des 18. Jahrhunderts Begriffe, die später scharf geschieden werden sollten, durchaus mannigfache semantische Verbindungen und Bedeutungsänderungen erlaubten: So ist für Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst die Poesie »eine von den wichtigsten freyen Künsten, ja der vornehmste Theil der Gelehrsamkeit«.245 Während die Dichtung im Humanismus mit Rhetorik und Geschichtsschreibung als ›schöne Wissenschaft‹ galt, gewinnt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend der aristotelische Ansatz von Charles Batteux die Oberhand, der in seinem 1746 veröffentlichten Werk Les Beaux Arts réduits à un même principe die Dichtung unter dem einigenden Prinzip der Nachahmung den ›schönen Künsten‹ zuordnete.246 Eine extreme Ausprägung findet dieses Prinzip später in Hegels Bestimmung der Dichtung als »die totale Kunst«.247 Die Debatten um disziplinäre Konstellationen aktivieren antike Argumentationskomplexe. Während Gottsched seine Position durch Batteux gestärkt sieht und 1754 einen erläuterten Auszug publiziert,248 orientiert sich Klopstock in Opposition zu Gottsched und Batteux an der rhetorischen Tradition. In seiner dezidiert unsystematischen Deutschen Gelehrtenrepublik von 1774 entwirft er einen anti-platonischen Idealstaat, der den sprachlichen ›schönen Wissenschaften‹ und besonders den Dichtern die Führung zuspricht. Die schönen Wissenschaften verbindet er mittels des wirkungsorientierten Primats der ›Erfahrung‹ mit den Naturwissenschaften, während er die schönen Künste marginalisiert. Auch andernorts bekämpft Klopstock jene platonische Tradition der Philosophie, die sich in den neuern Zeiten von den schönen Wissenschaften getrennt hat, und in großen Bänden, die nicht gelesen werden, oft Sachen lehrt, die wenig wissenswürdig sind, und wenn sie wissenswürdigere vorträgt, sie auf eine Art sagt, die sich von jeder Kunst zu gefallen mit der äußersten Sorgfalt zu entfernen scheint.249
Klopstock führt damit die Tradition humanistischer Kritik an der Scholastik fort und beruft sich auf die alternative, von Xenophon ausgehende »Philosophie, deren Liebling Sokrates war«250. Diese war besonders im römischen Kontext weitergepflegt worden und legitimierte noch im 18. Jahrhundert eine praktisch-moralisch orientierte Philosophie, die 244 Zu den Verschiebungen im System der schönen Künste im 18. Jahrhundert vgl. Kristeller 1951–1952. 245 Gottsched 1962, S. 67. 246 Batteux 1746. 247 Hegel 1986, Bd. 14, S. 262 (Ästhetik, 3. Teil, Einleitung, Einteilung). 248 Gottsched 1754. Johann Adolf Schlegel hatte bereits 1751 eine einflussreiche Übersetzung herausgegeben. 249 Klopstock 1981, Bd. 2, S. 981 (Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften). 250 Ebd.
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Joseph Addisons Spectator und dann auch die deutschen moralischen Wochenschriften prägte: It was said of Socrates, that he brought Philosophy down from Heaven, to inhabit among Men; and I shall be ambitious to have it said of me, that I have brought Philosophy out of Closets and Libraries, Schools and Colleges, to dwell in Clubs and Assemblies, at Tea-Tables, and in Coffee-Houses.251
Wenn Klopstock die platonische Philosophie als sektiererisch diffamiert252 und Kants Werk polemisch als »neuscholastischen Nebel« bezeichnet,253 so setzt er einen Traditionsstrang voraus, der – äußerst schematisch betrachtet – von Platon über Aristoteles und die Aristoteles-Rezeption in der Scholastik zum deutschen Idealismus führt. Klopstock ordnet sich dagegen dem besonders an der römischen Rhetorik orientierten, Sprache und Praxis privilegierenden Strang zu. Typisch für die humanistische Tradition, aber auch insgesamt für seine Zeit versteht er sich als Teilnehmer an einem Diskurs, der kontinuierlich bis in die vorplatonische Zeit reicht und durch die Tradierung des klassischen Kanons die ›Alten‹ als gegenwärtige, aktive Teilnehmer einbezieht. Deutlich wird aus den entgegengesetzten Auffassungen von Poetik in der Zeit zwischen 1750 und 1775 die Konkurrenz zwischen Disziplinen, deren Konstitution und Status zur Disposition stand. Die auf zweckfreie Schönheit ausgerichtete Ästhetik Kants lief für dessen Gegner auf eine der rhetorischen Tradition zuwiderlaufende Trennung von Kunst und Leben hinaus, die der Dichtung geradezu ihren Lebenssaft entzog.254 Entsprechend richteten sich deren Angriffe auch gegen die »barbarische Erfindungssprache«, die »fast alle populare Sprache aufgehoben […] hat«.255 Nicht zuletzt die Form und Orientierung des Diskurses wird somit zu einem Streitpunkt: In Gegensatz zur akademischen, auf Wissen und zweckfreie Erkenntnis ausgerichteten Philosophie beziehungsweise Ästhetik, die 251 Spectator 1965, Bd. 1, S. 44 (Nr. 10, 12.3.1711). Zu diesem Komplex und der ciceronischen Tradition des Topos vgl. Hilliard 1987, S. 68–90, bes. S. 68 f. 252 Vgl. auch die Bezeichnung der Kantianer als »traurige Sekte« in einem Brief Klopstocks an Böttiger vom 7.8.1797 (Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 9/1, S. 152). Er berichtet darin eine Anekdote, derzufolge sich ein junger Däne »in die kantische Phil. vertieft, u erstochen hätte« (ebd., S. 151). 253 In einem gegen Schiller gerichteten Epigramm, in: Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 2, S. 48 (Weiland griff man …). 254 Vgl. z. B. Klopstocks Epigramm »An…«: »Als ihr von dem Genie die Sittlichkeit sondertet, trenntet | Von der lebendsten Kraft, welche die Seele durchglüht, | Jene Nährerin des heiligen Feuers […]« (ebd., S. 55). Der Herausgeber Hurlebusch vermutet, dass das Epigramm gegen Kants »Kritik der Urteilskraft« und gegen die Wirkung der kantischen Ästhetik besonders auf Schiller gerichtet ist (ebd., S. 324). Zur Auseinandersetzung um Kant bei Klopstock, Herder und Wieland vgl. ebd., S. 244–247, sowie Lohmeier 1968, S. 56–64. 255 So Herder in einer Polemik gegen die philosophischen Fakultäten (Herder 1877–1913, Bd. 30, S. 491 f.; Gutachten und Berichte über Seminar, Schule, Universität). Vgl. auch Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 9/1, S. 5 (Herder an Klopstock, 14.5.1795; Postskriptum).
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jeglichen »Dilettantismus« ablehnt,256 erstrebt die rhetorische Tradition einen tendenziell oral vorzustellenden, in der Gesellschaft ausgetragenen Diskurs. Eine Allianz zwischen Philosophie und Dichtkunst führte Immanuel Kant in seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft herbei.257 Seine Verwendung des Wortes »Dichtkunst« als Gattungsbegriff258 signalisiert ihre Zugehörigkeit zu den schönen Künsten und schränkt den Bedeutungsumfang ein, indem Anweisungen und poetische Beispiele, wie sie die Critische Dichtkunst von Gottsched geliefert hatte, ausgeschaltet werden. Zwar vereinigt Kant in dem Begriff prinzipiell die etablierten Bedeutungen poësis (nach Grimm »die fertigkeit zu dichten«) als auch poëtica (»die gesetze die dabei zu beobachten sind, im allgemeinen wie in beziehung auf einzelne dichtungsarten«),259 beide werden jedoch durch die Zentrierung auf das durch »Originalität« sich auszeichnende »Genie« dem Bereich handwerksmäßigen, erlernbaren Könnens und der zunftmäßigen Regelhaftigkeit enthoben.260 In dem Abschnitt »Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander« begründet Kant den Vorrang der Dichtkunst durch ihren Unabhängigkeitsdrang: Unter allen behauptet die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüth dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegränzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt.261
Bei aller Komplexität der kantischen Ästhetik und Sprachtheorie ist doch eine systematische Unterordnung der Dichtung unter die Philosophie sowie der Sprache unter das Denken erkennbar. Wie bereits in der Poetik des Aris256 Vgl. Schillers Bestimmung in »Über den Dilettantismus« (Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 1121–1123); s. a. den Kommentar des Herausgebers zu Schillers und Goethes Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus (ebd., S. 1580–1584). 257 Kant 1908. 258 Ebd., S. 326 f. (§ 53, Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander), u.ö. 259 Grimm 1984, Bd. 2, Sp. 1071 (Dichtkunst). Kants Bestimmung der Dichtkunst machte zwar Schule, aber seine Verwendung des Begriffs hat sich offenbar nicht durchgesetzt; nicht nur die Definition bei Grimm von 1860, sondern auch die Definition im Duden (1999) umfasst die älteren Bedeutungen. Den Status eines literaturwissenschaftlichen Terminus hat das Wort jedoch nicht erlangt. Aus der Begriffsbestimmung im »Historischen Wörterbuch der Rhetorik« geht die Bandbreite der Bedeutungen nicht hervor: »Der Begriff ›D[ichtkunst]‹ bezeichnet die poetische Theorie (Poetik) der Barockzeit« (Hess 1994, Sp. 643). 260 Kant 1908, S. 307 f. (§ 46, Schöne Kunst ist Kunst des Genies). 261 Ebd., S. 326 (§ 53, Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander).
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toteles erfolgt die philosophische Legitimation der Dichtung aufgrund des Stoffes, den Kant – wie schon der Geniekult – mit dem ingenium verbindet, wobei er allerdings auch die Notwendigkeit eines sprachlichen ›Körpers‹ betont, der von einer erlernten Disziplin abhängig ist. So postuliert er, »Das Genie kann nur reichen Stoff zu Producten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent«;262 und er warnt vor der Vernachlässigung erlernbarer Regeln: Daß aber in allen freien Künsten dennoch etwas Zwangsmäßiges, oder, wie man es nennt, ein Mechanismus erforderlich sei, ohne welchen der Geist, der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt, gar keinen Körper haben und gänzlich verdunsten würde: ist nicht unrathsam zu erinnern (z. B. in der Dichtkunst die Sprachrichtigkeit und der Sprachreichthum, imgleichen die Prosodie und das Sylbenmaß), da manche neuere Erzieher eine freie Kunst am besten zu befördern glauben, wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen und sie aus Arbeit in bloßes Spiel verwandeln.263
Die an die platonische Tradition anknüpfende Metaphorik von Geist und Körper schließt die Sprache der Dichtung von der Teilhabe an jenen Werten aus, welche die Kunst vom bloßen Handwerk abheben. Insgesamt erhält die Kunst und insbesondere die Dichtung im Idealismus einen enorm hohen Status; entsprechend komplex und variationsreich ist die idealistische Theorie von der Dichtkunst, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Konstant erkennbar ist jedoch eine extrem normative Tendenz, welche die Produktion, das Werk und die Rezeption von Dichtung zu bestimmen sucht und die Philosophie als allein für die wahre Dichtung zuständige Instanz etablieren soll – vor allem gegenüber der umfassend diskreditierten Rhetorik. So dienen Schellings (zu Lebzeiten nicht gedruckte) Vorlesungen zur Philosophie der Kunst von 1802 nicht zuletzt der Legitimation der Philosophie. Als Hauptkriterium für deren Überlegenheit gilt ihm ihr exklusiver Zugang zur zeitlosen Wahrheit: Nur die Philosophie kann die für die Produktion großentheils versiegten Urquellen der Kunst für die Reflexion wieder öffnen. Nur durch Philosophie können wir hoffen, eine wahre Wissenschaft der Kunst zu erlangen, nicht als ob die Philosophie den Sinn geben könnte, den nur ein Gott geben kann, nicht als ob sie das Urtheil demjenigen verleihen könnte, dem es die Natur versagt hat, sondern daß sie auf eine unveränderliche Weise in Ideen ausspricht, was der wahre Kunstsinn im Concreten anschaut, und wodurch das ächte Urtheil bestimmt wird.264
Die Führungsrolle der Philosophie begründet Schelling sowohl zeitlich als auch überzeitlich. Das (neu)platonische Bild von den »Urquellen« dient dazu, die Reflexion gegenüber der Produktion aufzuwerten: Produktion
262 Ebd., S. 310 (§ 47, Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie). 263 Ebd., S. 304 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). 264 Schelling 1859, S. 361 (Einleitung).
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erscheint als Prozess des graduellen Abfalls vom Ursprung, zu dem erst die Reflexion wieder Zugang finden kann. Ähnlich wie bei Platon wird mittels vertikaler Metaphorik Idee und Denken von Körper und Sinnlichkeit geschieden, so wenn Schelling konstatiert, dass nur derjenige ein Werk zu beurteilen vermag, der sich »zur Idee des Ganzen erhebt«,265 oder wenn er die qualitativ beste Form der Rezeption zu einer Sache des Verstandes macht: Wie viele haben ein einzelnes Gedicht oder ein hohes dramatisches Werk auf sich wirken lassen, und sind dadurch bewegt, entzückt, erschüttert worden, ohne je zu untersuchen, durch welche Mittel es dem Künstler gelingt, ihr Gemüth zu beherrschen, ihre Seele zu reinigen, ihr Innerstes aufzuregen – ohne den Gedanken, diesen ganz passiven und insofern unedlen Genuß in den weit höheren der thätigen Beschauung und der Reconstruktion des Kunstwerks durch den Verstand zu verwandeln!266
Die Leistung der Philosophie wird hier implizit zur Rhetorik in Gegensatz gebracht, deren Wirkung sich im ›unteren‹ Bereich des Körpers, der Sinne und der Emotionen erschöpft. Das Projekt der Philosophie ist demgegenüber hoch, edel und frei. Das rhetorische Ziel des movere wird zu einer minderwertigen, passiven – weil unbewusst reaktiven – Form der Bewegung abgewertet und die wahre, (re)produktive Tätigkeit für den Bereich des kontemplativen Verstandes beansprucht. Im Zuge der Entwicklung einer »wissenschaftlichen und philosophischen Kunstlehre«267 wird der Philosoph zum allein verständigen Rezipienten, der das Kunstwerk in den Bereich des Geistes zu überführen vermag. Die dichterische Praxis, an der sich die rhetorische Lehre orientiert und die über die Arbeit mit exempla im Zentrum der rhetorischen Ausbildung steht, hat von philosophischer Warte aus der theoretischen Erkenntnis zu weichen. Dass sich hier Spannungen auftun zwischen Romantik und Idealismus, Dichtern und Philosophen, geht aus Fichtes Reaktion auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie im Athenäum hervor.268 Entgegen Schlegels Orientierung an den »großen Künstlern der Vorzeit«, verpflichtet Fichte den Dichter auf die »Eine wahre Poesie« und die Suche nach dem »Urquell«, der allen Künstlern gemeinsam ist: »O, hätten wir doch erst eine reine Aesthetik!«269 Die alleinige Autorität der Philosophie über die Dichtung verwirklicht sich in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, in denen er »systematisch wissenschaftlich« das »Wesen« der Dichtung bestimmt,270 die Dichtung als 265 266 267 268 269 270
Ebd., S. 359. Ebd., S. 358. Ebd., S. 361. Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 2, S. 284–351 (Gespräch über die Poesie). Fichte 1973, S. 283 (Fichte an F. Schlegel, 16.8.1800). Hegel 1986, Bd. 13, S. 26 und 29 (Ästhetik, Einleitung, I, Begrenzung der Ästhetik und Widerlegung einiger Einwürfe gegen die Philosophie der Kunst).
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Teil der »wahren Kunst« definiert und in das »System« der Künste einordnet271 – unter Ausgrenzung der Rhetorik. In Gegensatz zu Kant, der die »Rednerkunst (ars oratoria)« als »gar keiner Achtung würdig« verurteilt, aber »Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik)« der »schönen Kunst« zuordnet,272 lehnt Hegel insgesamt das »Rhetorische« ab, wenn er vom dichterischen Werk verlangt, es müsse »absichtslos und unschuldig sein und scheinen« und dies zum Anlass nimmt, das poetische Werk »ganzer Nationen« als »rhetorisch« zu diskreditieren, allen voran die römische Poesie: »Bei Vergil, Horaz z. B., fühlt sich sogleich die Kunst als etwas nur Gemachtes, absichtlich Gebildetes heraus.«273 Jene rhetorischen Mittel, die Schelling beim Künstler vorausgesetzt hatte, werden damit systematisch eliminiert. In Gegensatz zu Kant entzieht Hegel auch die Sprache dem Zugriff der Rhetorik. So wertet er die poetische Sprache mittels seines Symbolbegriffs philosophisch auf, indem er betont, das »Poetische« sei »erst dichterisch im engeren Sinne, wenn es sich zu Worten wirklich verkörpert und ausrundet«.274 Die platonische Assoziation der Sprache mit Körperlichkeit ist hier erhalten, aber positiv gewendet und mit dem Geist in Verbindung gebracht. Dabei darf die Sprache an sich jedoch keine Aufmerksamkeit beanspruchen und muss als ›äußerlicher‹ Aspekt der Dichtung der »innerlichen Wahrheit« den Vorrang geben, wenn nicht »das Rhetorische und Deklamatorische« die »innere Lebendigkeit der Poesie« zerstören soll.275 Während organische Behältermetaphorik die Autonomie einer Dichtung erweist, die »gleichsam wie von selber aus dem inneren Keime der Sache emporgewachsen zu sein« scheint,276 dient Vertikalmetaphorik der grundsätzlichen Aufwertung des Kunstwerks. Seinen hohen philosophischen Status bezieht es aus seinem Bezug zum »Höheren des Geistes« und damit zum »Wahrhaftigen«.277 Hegel geht in seiner Legitimation der Dichtung weiter als Aristoteles, insofern als er die Dichtkunst an der Wahrheit teilhaben lässt. Er festigt jedoch die Vormacht der Philosophie, indem er bis ins letzte Detail des dichterischen Werkes bestimmt, wie es beschaffen zu sein hat. Die ›Autonomie‹ des Kunstwerks dient im Kontext der idealistischen Philosophie dazu, die Literatur aus ihren Bezügen zu anderen Diskursen zu 271 Ebd., Bd. 14, S. 245 f. (Ästhetik, 3. Teil, Einleitung). 272 Kant 1908, S. 328. (§ 53, Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander, Anmerkung). 273 Hegel 1986, Bd. 15, S. 287 (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.c., Unterschiede in der Anwendung der Mittel). 274 Ebd., S. 283 (B.2., Der sprachliche Ausdruck). 275 Ebd., S. 287 (B.2.c., Unterschiede in der Anwendung der Mittel). 276 Ebd., S. 289. 277 Ebd., Bd. 13, S. 14 f. (Ästhetik, Einleitung, I., Begrenzung der Ästhetik und Widerlegung einiger Einwürfe gegen die Philosophie der Kunst). Hegel setzt sich hier explizit mit der Unzulänglichkeit sprachlicher Wertungsmetaphorik auseinander, um die qualitative Überlegenheit der Kunstschönheit als geistige Größe zu vermitteln.
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lösen und der Philosophie als Leitdiskurs zu unterstellen. Die Dichter dieser Zeit suchen dagegen die Dichtung als Leitdiskurs zu etablieren,278 und die Tendenz in der Frühromantik geht eher in Richtung auf Entgrenzung. So erklärt Friedrich Schlegel in seinem berühmten 116. Athenäumsfragment eine Verbindung der Diskurse unter dem Primat der Poesie zum Programm der »romantischen Poesie«: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.279
Dieses ›prozessuale‹ Programm ist einer philosophischen Begriffsfestigung und Systematisierung diametral entgegengesetzt; gerade der philosophische Systembegriff wird von Schlegel auch andernorts für die Dichter als Maßstab abgelehnt.280 Nicht die Philosophie, sondern die Dichtung soll die anderen Diskurse in und um sich vereinigen; irgendeine Einschränkung ihres Wirkungskreises ist nicht vorgesehen. Diese Aussage kann nicht als repräsentativ für die romantische Poetik angesehen werden; typisch ist jedoch die Spannung zu philosophischen Bestrebungen der Zeit. Keinesfalls ist es daher angebracht, einen für idealistische Philosophie und romantische Dichtung identischen Autonomiebegriff vorauszusetzen oder aus philosophischen und dichterischen Aussagen eine gemeinsame lineare Geschichte der Ästhetik zu konstruieren. Auszugehen ist eher von romantischen Poetiken, die in Gegensatz zu idealistischen Tendenzen daran interessiert sind, frei auch aus der rhetorischen Tradition zu schöpfen.281
278 Vgl. z. B. Schillers Hymne »Die Künstler«, in: Schiller 1988–2004, Bd. 1, S. 207–221; s. u., S. 264 f. Vgl. auch Friedrich Schlegels Athenäumsfragment 131: »Der Dichter kann wenig vom Philosophen, dieser aber viel von ihm lernen. Es ist sogar zu befürchten, daß die Nachtlampe des Weisen den irre führen möchte, der gewohnt ist im Licht der Offenbarung zu wandeln« (Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 2, S. 186). 279 Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 2, S. 182 (Athenäumsfragment 116). 280 Vgl. z. B. Athenäumsfragment 53 (ebd., S. 173) und Athenäumsfragment 168 (ebd., S. 191 f.). Vgl. dazu Eichner 1967, S. XXXIX–XLI. 281 Die Bedeutung der Rhetorik für die Poetik der Romantik ist seit den grundlegenden Arbeiten von Klaus Dockhorn zunehmend deutlich geworden; vgl. Dockhorn 1968. Vgl. auch Schanze 1974; Schnyder 1999; Krause 2001.
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7. Nietzsche und die Folgen Ihren schärfsten Gegner erhielt die idealistische Philosophie in Nietzsche, der im Wettkampf mit Platon zugleich das Christentum aus dem Felde zu schlagen suchte. Seine Wirkung gründet nicht zuletzt in der provokativen Energie, mit der er traditionsbefrachtete Gegensätze heraustreibt und etablierte Grenzen sprengt: der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s »Volk« zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus für’s »Volk« – hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen.282
Nietzsche bringt potenziell die gesamte geistige Tradition ins Spiel und öffnet sie für unbegrenzte Interpretationen und Zielsetzungen. Moralische und disziplinäre Grenzen sind außer Kraft gesetzt, und es lässt sich folglich jeder Text als Dichtung lesen. So beurteilt er die Bibel nicht moralisch, sondern ästhetisch, wenn er sie zugleich als »Meisterstück« des größten deutschen »Predigers« und als »Meisterstück der deutschen Prosa« versteht: »[Luther’s] Bibel war bisher das beste deutsche Buch«; es ist das Buch, das »in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst«.283 Nietzsches Kampfmetaphorik ermöglicht die Vorstellung von Spannung, in der opponierende Kräfte nicht fortschreitend überwunden oder dialektisch aufgehoben werden, sondern diskursfördernd produktiv bleiben können: Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft: – vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung…284
Fortgesetzt wird mit Nietzsche unter ganz anderen Vorzeichen das Projekt des Humanismus: Auch er versteht sich als Teilnehmer an einem kontinuierlichen Diskurs, der die ›Alten‹ als Gegner und Verbündete in einem prinzipiell unbeschränkten Feld miteinbezieht. Ohne näher auf Nietzsches Ästhetik einzugehen wird deutlich, dass der Idealismus nicht erst mit der Postmoderne ›überwunden‹ wurde und dass die ›Befreiung‹ der Dichtung insofern nur eine – wenn auch provokativ bedeutsame – Episode in ihrer Geschichte war. Andererseits jedoch liefert Nietzsche besonders in Die Geburt der Tragödie eine umfassende philosophische Legitimierung der Autonomie der Dichtung sowie des Ästhetizismus – nun unter vorwiegend 282 Nietzsche 1967 ff., Abt. 6, Bd. 2, S. 4 f. (Jenseits von Gut und Böse, Vorrede). 283 Ebd., S. 199 (8. Hauptstück, Abschnitt 247). 284 Nietzsche 1954–1965, Bd. 3, S. 898 (Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre).
7. Nietzsche und die Folgen
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rhetorischen Prämissen. Gerade die Spannungen und Widersprüche seines Werks und die polemische Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie und Rhetorik liefern den Dichtungstheorien des 20. Jahrhunderts entscheidende Anregungen. Die Bewertung Nietzsches als ›Ende‹ oder ›Anfang‹ in einer linear konstruierten Geistesgeschichte gibt kein klares Bild von der Bedeutung seines Werkes. Denn diese liegt nicht darin, dass er – wie im Jubiläumsjahr 2000 in Die Zeit konstatiert wurde – »das abendländische Denken aus den Angeln zu heben« suchte,285 sondern in seinem Unterfangen, die Spannweite und Spannkraft des abendländischen Denkens für die Moderne zu aktualisieren. Nietzsches sprachmächtiger Einsatz von Metaphern und verwandten Tropen ist deswegen so brisant, weil er damit das platonisch-idealistische Weltbild von Grund auf in Frage stellt.286 Denn sie werden zum Ausdruck genau jener kognitiv-sprachlichen Relativität, gegen die Platon seinen Idealstaat gewissermaßen als Bastion errichtet hatte. Die bereits zu Anfang dieser Arbeit zitierte Stelle aus Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne sei hier noch einmal – nun vollständig – angeführt, da sie im Detail zeigt, wie Nietzsche die Metapher argumentativ gegen den platonischen Wahrheitsbegriff ins Feld führt: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.287
Indem Nietzsche die Wahrheit zu einer »beweglichen« Größe erklärt, unterminiert er das Kriterium der Stabilität, mit dem Platon im Kratylos den Worten jegliche erkenntnisfördernde Kraft abgesprochen hatte.288 Sokrates diskreditiert in dem Dialog die Sprache unter Bezug auf das heraklitische panta rhei als irreführend, da sie ungeeignet sei, das beständige Wesen der Dinge zu erschließen: »Als ob nämlich alles ströme und fließe und in Bewegung sei, dahin, sagten wir, deuten uns die Worte das Sein und Wesen der
285 Zeit 2000. 286 Zur Rolle der Metapher in Nietzsches Auseinandersetzung mit Philosophie und Rhetorik vgl. Tebartz-van Elst 1994a; Tebartz-van Elst 1994b. 287 Nietzsche 1967 ff., Abt. 3, Bd. 2, S. 374 f. (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne). 288 Der Dialog »Kratylos« erweist die Wertlosigkeit der Worte für die Erkenntnis des Wesens der Dinge (Platon 1994, Bd. 3, S. 85–87; Kratylos, 43; 437d-438b und passim). Im »Gorgias«-Dialog spricht Sokrates der Rhetorik ihre traditionelle Macht ab und leugnet ihren Kunstcharakter, weil die Rede zwar in der Vermittlung anderer Wissenschaften eine Rolle spielt, selber jedoch »eine unverständige Sache« ist (ebd., Bd. 1, S. 366; Gorgias, 15; 465a und passim). Vgl. auch Lovejoy zum Mystizismus in dem hinsichtlich seiner Autorschaft umstrittenen »7. Brief« (Lovejoy 1964, S. 34 f.).
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Dinge.«289 Nietzsches Gleichsetzung »Wahrheit [ist] ein bewegliches Heer von Metaphern« destabilisiert die Absolutheit der Idee zugleich sprachlich und gedanklich und zieht sie – setzt man ein platonisches Weltbild voraus – aus dem Bereich des göttlich ewigen Seins in den zeitlichen, kreatürlichen Bereich des Werdens hinab, in dem die Sprache ihre Wirksamkeit entfaltet.290 Denn wenn auch mit der Kopula ›sein‹ und dem semantischen Überraschungseffekt eine Metapher signalisiert wird, die – rhetorisch gesehen – als stilistische Figur ihren angestammten Platz in der elocutio hat, so lässt sich die Gleichsetzung doch nicht als innersprachliche Substitution oder als verkürzter Vergleich verstehen, der sich mit eigentlichen Worten anders ausdrücken ließe. Vielmehr handelt es sich hier um eine der gedanklichen intellectio beziehungsweise inventio zuzurechnende Definition.291 Die auffällig metaphorische Gleichsetzung der einen Wahrheit mit einer Vielzahl von Metaphern beansprucht somit gedanklichen Status. In einer radikalen Aufwertung der Sprache lässt Nietzsche auf diese Weise die Metapher aus dem Bereich des sprachlichen Schmuckes heraustreten und das Denken infiltrieren bis hin zur Relativierung und Kontaminierung der platonischen Wahrheit selbst. Indem die einprägsame Metapher vom »Heer« ins gegnerische Lager eindringt, zerfällt des Denkens höchste, reinste und beständigste Form periphrastisch in menschliche »Illusionen«. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind in der Philosophie – bei Wittgenstein, Heidegger oder Gadamer – immer wieder sprachliche Ideale in Frage gestellt worden, die sich an Logik und Mathematik orientieren,292 und besonders der Poststrukturalismus hat mittels der Sprache Bewegung in die Beziehungen zwischen den Disziplinen sowie ihre Machtverhältnisse gebracht – nicht zum ersten Mal und durchaus im Kontext der Tradition sowie auch anderer Entwicklungen in den Kulturwissenschaften. Wenn Paul de Man unter Berufung auf Nietzsche die Trope zum »linguistic paradigm par excellence« erklärt,293 so zeigt sich darin die Bedeutung des von Nietzsche in die Wege geleiteten »linguistic turn«:294 Diese Wende markiert das erneute Erstarken der Rhetorik gegenüber der Philosophie, die Infiltrierung der Philosophie durch die Rhetorik, oder – je nach Standpunkt – den Anfang einer fruchtbaren Interaktion. Ebenfalls in der Nachfolge Nietzsches knüpft Richard Rorty an den Dialog zwischen Platon und den Sophisten an: Unter Ablehnung des mathematisch bestimmten ›Platonischen Prinzips‹ sucht er eine Neuorientierung auf menschliche, in der Sprache sich vollzie289 Platon 1994, Bd. 3, S. 84 (Kratylos, 42; 436e). 290 Zur vertikalen Opposition zwischen den Bereichen des »Seins« und des »Werdens« s. Platon 1982, S. 336 (7. Buch; 521c-d). 291 Vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 75–77 (§§ 110–113) und S. 215 (§ 392). 292 Zu Sprachidealen der Philosophie seit der Aufklärung vgl. Eco 2002, S. 299–321. 293 Man 1979, S. 105. 294 So der programmatische Titel von Rorty (1992).
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hende Prozesse herbeizuführen, nun jedoch eher mit friedvollem Gestus: »Our certainty will be a matter of conversation between persons, rather than a matter of interaction with nonhuman reality.«295 Bezeichnenderweise setzt sich Rorty mit der zentralen Rolle okularer Metaphorik bei Platon auseinander: Diese lässt die Erkenntnis als visuelle Wahrnehmung erscheinen und verleiht damit den Vorstellungen eine naturhafte, räumliche, statisch dauerhafte Realität.296 Mit der Hinwendung zur menschlichen Sprache dagegen wird die Realität kulturspezifisch, zeitabhängig und dynamisch veränderbar. Die von Nietzsche eingeleitete Aufwertung der Rhetorik war auch für die Poetik enorm produktiv. Die Trennung zwischen Künstlertum und Gelehrsamkeit, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte und die besonders im Idealismus axiomatisch geworden war, wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge einer neuerlichen Rhetorisierung der Literatur wieder hinfällig, wie Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen konstatiert: Es geschah in seiner Schule, daß man sich gewöhnte, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden zusammenfließen zu lassen, so daß die Grenzen von Kunst und Kritik sich verwischten. Er brachte den Bogen neben der Leier als apollinisches Werkzeug in Erinnerung, er lehrte zu treffen, und zwar tödlich zu treffen.297
Die ›Überwindung‹ der humanistischen Literaturvorstellung ist damit ihrerseits überwunden. Unter dem Eindruck eines »Sprachschöpfers«, der »der deutschen Sprache neue Offenbarungen abgerungen« hat – so Johannes Schlaf298 – und der Gottfried Benn zufolge »seit Luther das größte deutsche Sprachgenie« ist,299 tritt vor allem mit dem Expressionismus die Wirkung der Sprache ins Zentrum des poetologischen Interesses. In seinem programmatischen Aufsatz Das neue Pathos von 1909 lehnt Stefan Zweig eine Dichtung ab, die sich an statischen Kunstobjekten orientiert und in welcher der Dichter selbstbezogen »ohne Hinblick auf Wirkung« dichtet, um »nur das Stimmungsleben seiner eigenen Welt« zu vermitteln.300 Er attackiert diese Selbstgenügsamkeit in einem dreistufigen Geschichtsmodell als Verfallsform im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit, da der gegenwärtige
295 Rorty 1979, S. 156–157. Vgl. auch Nussbaums Forderungen nach einer Einbeziehung der Emotionen in das Projekt der Philosophie und nach einem Diskurs, in dem Literatur und Philosophie aufeinander eingehen: »the attentive – or I might even (too naively?) say loving – conversation of philosophy and literature with one another« (Nussbaum 1990, S. 284). 296 Rorty 1979, S. 38 und passim. 297 Mann, T. 1974, S. 87. 298 Schlaf 1907, S. 244 f. 299 Benn 1986–2003, Bd. 5, S. 199 (Nietzsche – nach 50 Jahren). 300 Zweig 1909, Sp. 1702. Der Aufsatz gab der 1913 von Paul Zech gegründeten Zeitschrift »Das neue Pathos« den Namen und (in gekürzter Form) im ersten Heft als Leitartikel das Programm.
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Dichter nicht mehr für den lebendigen Vortrag, sondern nur noch für den Druck schreibe. Jene Zeit stellt einen »Übergang« dar zur entstehenden neuen Dichtung, die wie die frühe Dichtung ganz im Zeichen der Rhetorik steht: In jener Zeit des Überganges entstand wohl zuerst die »poetische« Sprache, jene Sprache neben der lebendigen, die oft und öfter erstarrte zu einem weltfremden Dialekt, die Marmor ist und nicht Blut. Früher war die poetische Sprache nicht eine neben der wirklichen, sondern nur ihre letzte Steigerung. Durch den Rhythmus der höheren Leidenschaft, durch das Feuer der Ansprache wurde sie ein heiliges Fieber, ein seliger Rausch, ein Festliches im Alltag. So als gesteigerte Lebendigkeit konnte die Sprache anders sein, ohne je unverständlich zu werden, konnte mit dem Volke bleiben und doch über dem Volk, während die Lyrik von heute zum größten Teil den Tätigen, den Wirklichen, dem Arbeiter und dem Werkmann fremd und wertlos geworden ist. Aber eben in unseren Tagen scheint sich wieder eine Rückkehr zu diesem ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer vorzubereiten, ein neues Pathos wieder zu entstehen.301
Die angekündigte Dichtung verlässt den Bereich der schönen Kunst, um das gesamte Wirkungspotenzial der Sprache für sich zu beanspruchen. Indem Zweig das Pathos des »Urgedichts« zu reaktivieren sucht, greift er Vorstellungen von Dichtung auf, die mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ad acta gelegt schienen. Er konstatiert die Verspottung der Rhetoriker in den vorhergehenden Jahrzehnten, um Nietzsches »Weltwirkung« darauf zurückzuführen, dass dieser besonders mit seinen Dithyramben und dem Zarathustra »einen neuen rednerischen Stil erzeugte«.302 Im Zeichen Nietzsches soll »das neue Pathos« »im Dichter den Demagogen, den Musiker, den Schauspieler, den Redner für eine Stunde wiedererschaffen«303. Das Modell für den neuen Dichter liefert die Antike. Nietzsches Wirkung auf die deutsche Poetik des frühen 20. Jahrhunderts zeigt, dass die produktive Rezeption der Antike keineswegs mit dem Humanismus oder auch der Klassik zu Ende ging. Vielmehr wird deutlich, dass sich Dichter immer wieder neu an vermeintlich obsoleten Vorstellungen orientieren und diese für ihre Zeit produktiv machen. Auch am Anfang des 21. Jahrhunderts wirkt die Antike am poetologischen Diskurs mit, wie aus einer 2001 verfassten Hommage von Durs Grünbein an die griechische und lateinische Sprache und Literatur hervorgeht: Das artistische Element in der modernen Literatur […] setzt sich aus beiden Komponenten zusammen, den Griechen verdankt es ebensoviel wie den Römern. Anders gesagt, die antike Literatur steht insgesamt für das Nichttriviale, das Nicht-
301 Ebd., Sp. 1702 f. 302 Ebd., Sp. 1704. 303 Ebd., Sp. 1703 f.
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banale sprachlicher Reflexion. Nur so läßt die enorme Nachwirkung auf alles Spätere sich verstehen. Sie ist das Kompendium all der unlösbaren Fragen, der Quell aller Aporien, die uns bis heute in Atem halten.304
Wenn Grünbein hier mit seinem historischen Rückgriff die gesamte Poetik der letzten zweitausend Jahre ins Abseits stellt, um der Antike den Vorrang zu geben, so erweist er damit zugleich, dass er den poetologisch weniger versierten Kollegen voraus ist – eine rhetorische Strategie, die Tradition hat.
8. Poetik und Dichtung Die Debatten um die Dichtung in den kanonischen Texten der abendländischen Poetik zeigen, dass sich Dichtung weder zeitlos bestimmen noch auch aus den Diskursen herauslösen lässt, an denen sie partizipiert und die auf ihre Bestimmung einwirken. Um einer geschichtlich sich verändernden Literatur und einem kontextabhängigen Diskurs um Literatur gerecht zu werden, ist eine flexible Begrifflichkeit notwendig, die auf diachronische Veränderungen und synchronische Varianten einzugehen vermag, ohne von vornherein mit systematischen Grenzziehungen bestimmte Formen, Verbindungen und Übergangsphänomene entweder zu privilegieren oder auszuschließen. Dass gerade unscharfe Begriffe und terminologische Verschiebungen poetologisch produktiv sein können, zeigt die Beziehung zwischen den Worten »Poetik« und »Dichtkunst« im späteren 18. Jahrhundert, jener Zeit also, die der Literaturwissenschaft als Beginn der modernen deutschen Literatur und Poetik gilt. Auf dem Wege der Übersetzung aus dem Lateinischen ging der Begriff ›Dichtkunst‹ eine enge Verbindung sowohl mit ›Poesie‹ als auch mit ›Poetik‹ ein. So wird das Wort »Poetik« in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von Johann Georg Sulzer im »Verzeichnis fremder Kunstwörter« mit der Bedeutung »Dichtkunst« aufgeführt;305 das Schlagwort »Dichtkunst« ist jedoch aufgeteilt in »Dichtkunst. Poesie« und »Dichtkunst. Poetik«.306 Grimms Deutsches Wörterbuch definiert entsprechend das Schlagwort »Dichtkunst« mit »poësis, die fertigkeit zu dichten, dann die gesetze die dabei zu beobachten sind […], poëtica«; das Schlagwort »Poetik« ist demgegenüber als »lehre und lehrbuch von der dichtkunst« definiert.307
304 305 306 307
Grünbein 2003, 117. Sulzer 1771–1774, Bd. 2, S. 1288. Ebd., Bd. 1, S. 250–258 (Dichtkunst. Poesie) und 258 f. (Dichtkunst. Poetik). Grimm 1984, Bd. 2 (1860), Sp. 1071 (Dichtkunst); Bd. 13 (= Bd. 7, 1889), Sp. 1971 (Poetik). Weder Grimm noch Duden (1999, Bd. 7. S. 2955 f.) berücksichtigen explizit die Bedeutung der ›werkimmanenten‹ Poetik.
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I. Spielraum der Poetik
Bei Sulzer wie bei Grimm verbindet ›Poetik‹ wissenschaftliche Poetik und Regelpoetik,308 ›Dichtkunst‹ dagegen verbindet Regelpoetik und Dichtung. Der Rückzug der Regelpoetik und die Profilierung des dichtenden Subjekts förderte eine Verschiebung der Begriffe. Dass ›Poetik‹ nun auch werkimmanent vorstellbar wird, verdeutlichen die zwei von Grimm angeführten Beispiele:309 Das erste stammt aus Klopstocks Die deutsche Gelehrtenrepublik, das zweite aus einem Brief Goethes, der seine spontane Reaktion auf das Werk dokumentiert. Klopstocks Werk enthält einen kurzen Abschnitt »Zur Poetik«, in dem er »die meisten Regeln in fast allen Theorien der Dichtkunst« als willkürlich ablehnt und deren »schlimme Einflüsse« »auf Dichter, und Leser« hervorhebt.310 Sein »Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen«311 mündet in der abschließenden Bemerkung: Ich möchte wol eine Poetik lesen, welche diesen Plan […] ausgeführt hätte, nicht eben wenn ich Dichter wäre; denn alsdann hofte ich doch noch mehr zu wissen, als selbst der Theorist, der diese Poetik geschrieben hätte.312
Poetik ist hier als ›Theorie‹ von Dichtung getrennt, zugleich aber gilt der Dichter als höchste Instanz für poetologisches Wissen. Klopstock entwirft damit eine poetologische Hierarchie, in der Poetik und Dichtung entsprechend der rhetorischen Stillehre zueinander in Bezug gebracht werden. An unterster Stelle stehen die aristotelisch fundierten, an der »Natur unsrer Seele« orientierten, aber nur »halbwahre« Regeln enthaltenden »Theorien der Dichtkunst«; in der Mitte findet sich eine noch zu schreibende, rhetorisch ausgerichtete, an der »Erfahrung« orientierte Wirkungspoetik; und an oberster Stelle steht als höchste Form des ›Wissens‹ die Dichtung selbst.313 Goethe versteht Klopstocks Gelehrtenrepublik insgesamt als »Poetick« und interpretiert diese Hierarchie offenbar als Legitimation eines Schaffens, das seine »Regeln« aus »Gefühl«, »Erfahrung«, und »Natur« bezieht: Klopstocks herrliches Werck hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker, die einzige Regeln die möglich sind! Das heisst Geschichte des Gefühls wie es sich nach und nach festiget und läutert und wie mit ihm Ausdruck und Sprache sich bildet […]. Das alles aus dem tiefsten Her308 Sulzer verwendet im Artikel »Dichtkunst. Poetik« vornehmlich das Wort »Poetik« (Sulzer 1771–1774, Bd. 1, S. 258 f.). Er bezieht sich dabei zumeist auf die Wissenschaft, potenziell aber auch auf das Regelwerk – hier allerdings möglicherweise auf den Titel des Werks von Aristoteles; vgl. jedoch auch andernorts »Vossens Poetik« (ebd., Bd. 2, S. 727; »Lyrisch«). Zum Komplex der Begriffsgeschichte vgl. Blume, Wiegmann u. a. 1989. 309 Grimm 1984, Bd. 13, Sp. 1971 (Poetik). 310 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 170–173, hier S. 172 f. (Gelehrtenrepublik, Geschichte des lezten Landtages, Zur Poetik). 311 Ebd., S. 172. Diesen Untertitel im Abschnitt »Zur Poetik« führt Grimm an. 312 Ebd., S. 173. 313 Ebd., S. 172. Diese Hierarchie entspricht der rhetorischen Dreistillehre, vgl. Kohl 2000, S. 50.
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zen, eigenster Erfahrung, mit einer bezaubernden Simplizität hingeschrieben! […] Der unter den Jünglingen den das Unglück unter die Rezensentenschaar geführt hat, und nun wenn er das Werck las nicht seine Federn wegwirft, alle Kritick und Kriteley verschwört, sich nicht grade zu wie ein Quietist zur Contemplation seiner selbst niedersezt, aus dem wird nichts. Denn hier fliesen die heiligen Quellen bildender Empfindung lauter aus vom Trone der Natur.314
Wenn Goethe am Ende seines Lebens konstatiert, er habe den jungen Dichtern gezeigt, dass »der Künstler von innen heraus wirken müsse«, um eine »Naturdichtung« zu schaffen und »Original zu seyn«,315 so geht dieser dichterischen Externalisierung des Subjekts die Internalisierung einer Poetik voraus, die in der Dichtung selbst kulminierte. Bezeichnenderweise verliert in diesem Dichtungsmodell der externe, gelehrte, beurteilende Kritiker jegliche Funktion. Dass hier die theologische Tradition mitspielt, geht aus dem Vergleich mit der Kontemplation sowie dem neoplatonisch-biblischen Bild von der himmlischen Quelle und dem Thron hervor.316 Aus moderner deutscher Perspektive sieht diese »von innen heraus« wirkende Dichtung aus wie die erst mit dem modernen Individuum verwirklichte, ursprungshafte »Entstehung der Poesie«.317 Erweitert man den argumentativen Kontext um den klassischen und biblischen Kanon, so stellt sich dieser Passus als kreative Verschmelzung etablierter Topoi dar. Über Goethes komplex verflochtene Metaphorik lassen sich Elemente der argumentativ verknüpften Traditionen ausmachen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Debatte um die Dichtung beitragen: rhetorische Dreistillehre im Zeichen des longinischen Erhabenen (eine die Affekte oben situierende Vertikalmetaphorik – »heilige Quellen bildender Empfindung«); physisch interpretierte platonische Inspirationslehre (»Leben in die Adern gegossen«); der von Aristoteles angelegte und im 18. Jahrhundert fortentwickelte Naturbegriff (Natur als Ursprung und Motivation der nachahmenden Künste, Natur als Maßstab); religiöse Tradition, besonders Pietismus (Wassermetaphorik, »Contemplation«, ›Quietismus‹, ›Läuterung‹, »tiefstes Herz«, »Simplizität«). Der metaphorische Reichtum vermittelt die schöpferische Kraft des affektiv belebten ingenium gegenüber der trockenen, analytischen Gelehrtheit des poeta doctus, Kritikers und Theoris-
314 Goethe 1985 ff., Bd. 28, S. 376 f. (Goethe an G.F.E. Schönborn, 10.6.1774). Vgl. dagegen seine im Rückblick distanzierte Darstellung der allgemeinen Rezeption des Werkes in »Dichtung und Wahrheit« (ebd., Bd. 14, S. 563–565; Dichtung und Wahrheit, 12. Buch). 315 Vgl. Goethes Einschätzung seiner Leistung in »Noch ein Wort für junge Dichter« (ebd., Bd. 22, S. 932–934). Die Bezeichnung seiner selbst als »Befreyer« der »Deutschen« begründet Goethe damit, dass er die Notwendigkeit eines Lebens »von innen heraus«, ohne externe Vorgaben, gezeigt habe (ebd., S. 933); s. u., S. 281–283. 316 Vgl. Gen. 2, 10–14; Offb. 22, 1 f. 317 Vgl. den Titel der auf Goethe und Sturm und Drang fokussierten Studie von Eibl, »Die Entstehung der Poesie« (Eibl 1995).
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I. Spielraum der Poetik
ten. Dichtung im Namen der Natur schaltet die Wissenschaft und die Kunst aus dem poetologischen Diskurs aus. In einer Zeit, in der die Literatur zunehmend Sache des Bürgertums wird und die Schriftkultur breitere Bevölkerungskreise einbezieht, grenzt sich hiermit der Dichter vom Stand der Gelehrten ab. Hatte sich Goethe als Kind noch seinen Lesern gegenüber zur »Fertigkeit« seiner »Feder« geäußert,318 so ruft der junge Mann weitab von Schreibtisch und Rezipient nur in Gegenwart der Geliebten: »Wie herrlich leuchtet | Mir die Natur!«319 Die Ablehnung der ›Feder‹ als Auszeichnungsmerkmal des gelehrten Dichters lässt sich als modern egalitäre Geste interpretieren oder auch als Anspruch auf eine neue Art der Exklusivität: jene des Genies, das aufgrund der ihm von der »Natur« verliehenen »Anlage«320 und kraft seiner »vorzüglichen Größe des Geistes«321 dem Gelehrten, dem Aristokraten und dem Normalbürger überlegen ist und auch dem Kunstrichter seine Funktion entzogen hat. Der Geniekult und die romantische ›Rückkehr‹ zu einer Form der naturhaften Dichtung, die unabhängig von moderner Zivilisation dem »Lied« in »allen Dingen« eine Stimme verleiht,322 hat sowohl der philosophischen Poetik in der Tradition des Aristoteles als auch der rhetorischen, praktisch orientierten Regelpoetik eine alternative, werkimmanente Poetik entgegengesetzt, die allein in der Dichtung selbst ihre Maßgabe erkennt. Fasst man eine solche Dichtung als ›autonom‹, so entzieht sie konsequenterweise nicht nur der Regelpoetik, sondern auch der Philosophie und der philosophisch bestimmten Wissenschaft den poetologischen Boden. Eine andere Perspektive bietet jedoch die poetologische Tradition, denn sie erlaubt die Verortung des romantischen Typus. Einen Vorfahr hat der romantische Dichter im melancholischen Dichtertypus des Horaz, zu dessen poetischem Selbstverständnis es gehörte, die Teilnahme am gelehrten Diskurs um Dichtung zu meiden. Auch ist der Entwurf einer ›ursprünglichen‹, vorschriftlichen Poesie ein Standardtopos von Regelpoetiken.323 Insgesamt ist davon auszugehen, dass jede Art von Dichtung poetologisch fassbar sein müsste, wenn der Begriff ›Poetik‹ nicht auf solche Dichtung eingeschränkt wird, die eine wissenschaftliche und damit rationalistische Legitimierung anstrebt. Wenn das Reallexikon der Literaturwissenschaft die werkimmanente Poetik als »stillschweigend« charakterisiert und in dem vorgeschlagenen (potenziell mit ›Stil‹ synonymen) Terminus »Schreibweise« ihren kognitiven 318 319 320 321 322 323
Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 16 (Bei dem erfreulichen Anbruche des 1757. Jahres, V. 24). Ebd., S. 129 (Maifest, V. 1 f.). Sulzer 1771–1774, Bd. 1, S. 258 (Dichtkunst. Poetik). Ebd., S. 457 (Genie. Schöne Künste). Eichendorff 1985–1993, Bd. 1, S. 328 (Wünschelrute). Vgl. z. B. Harsdörffer 1969, Teil 1, S. 1 f.; Gottsched 1962, S. 67–70.
8. Poetik und Dichtung
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Aspekt eliminiert,324 so wird einerseits ausgeblendet, dass sich werkinterne Poetik sehr wohl sprachlich – nämlich im Werk – artikuliert; zum anderen wird suggeriert, dass Reflexion nur in unpoetischer Form sprachlich geäußert werden kann. Dieses rationalistische Modell ist besonders unzureichend, wenn es um mündlich tradierte Dichtung geht und um solche Dichtung, die in ihrem Kontext keiner wissenschaftlichen Rechtfertigung bedarf; denn hier ist keine werkexterne Poetik zu erwarten, die wissenschaftlichen Strukturen folgen oder philosophischen Ansprüchen genügen würde. Nicht weniger problematisch ist die Abgrenzung der als Ästhetik verstandenen Poetik von »außertheoretischen Impulsen, seien es Daten gesellschaftlicher Konstellation oder künstlerischer Produktion«,325 denn reflektiert wird damit genau jene Abgrenzung der Akademie, mit der sich die Philosophie – entweder in Gegensatz zur Dichtung oder Dichtung subsumierend – legitimiert. Um den Spielraum der Poetik auch für Dichtung zu öffnen, die nicht wissenschaftlich legitimiert ist, und – andersherum – Poetik so zu fassen, dass sie prinzipiell auch für wissenschaftlich nicht legitimierte Dichtung aussagekräftig ist, bietet sich die Einbeziehung von anthropologischen Ansätzen an.326 Denn wenn auch Dichtung immer kulturspezifisch ist und wenn sprachbedingt kein Begriff existiert, der ›Dichtung‹ unabhängig von kulturellen und sprachlichen Bedingungen und Möglichkeiten verlässlich definieren könnte, so ist es doch sinnvoll, möglichst weit über die eigenen kulturellen und gruppenspezifischen Grenzen hinauszublicken – nicht zuletzt, um den Blick für Formen zu öffnen, die innerhalb der eigenen Kultur beziehungsweise Gruppe aufgrund ihrer Abweichung von geltenden Normen marginalisiert wurden und werden. Neben dem Interesse an der wissenschaftlichen disciplina und der Jagd nach dem literaturgeschichtlich Neuen hat auch die Erforschung der Vielfalt von Dichtung eine Funktion: Sie schafft einen möglichst weiten Kontext, in dem prinzipiell jede Erscheinungsform der Dichtung in Relation zu anderen Formen ›verortet‹ werden kann und damit eine poetologische ›Stimme‹ erhält. Ziel der gegenwärtigen Untersuchung ist nicht die umfassende Erschließung eines solchen Kontexts; es sollen jedoch anhand von ›poetologischen Metaphern‹ Möglichkei-
324 Fricke 2003, S. 100 f. (s. o., S. 6 f.). 325 Zelle 1995, S. 1. 326 Vgl. Eibl 2004. Wie schon in »Die Entstehung der Poesie« (Eibl 1995), legitimiert Eibl in »Animal Poeta« ein tendenziell autonomieästhetisch geprägtes Literaturverständnis: Seine Untersuchung kulminiert in dem Kapitel »Die Lust, das Schöne und das Spiel« und in Goethes Bezeichnung seines »Faust« als »diese sehr ernsten Scherze« (Eibl 2004, S. 277–352, bes. S. 352; Goethe 1985 ff., Bd. 38, S. 550; Goethe an Wilhelm von Humboldt, 17.3.1832). Eibl liefert in diesem Buch jedoch einen sehr viel weiteren Kontext, und auch der Ansatz ist offener als in der systemtheoretisch ausgerichteten früheren Studie.
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I. Spielraum der Poetik
ten aufgezeigt werden, wie ein solcher Kontext erschließbar werden könnte oder auch nur vorstellbar wird. Grundsätzlich kann offenbar vorausgesetzt werden, dass Dichtung – sei es in Form von rhythmisch intensivierter Sprache, Erzählung und/oder Rollenspiel sowie Zwischenformen und verwandten Formen – eine anthropologische Konstante ist. Anders gewendet, scheint es keine menschliche Kultur zu geben, die nicht solche Verwendungen von Sprache aufweist. Diese können somit die Hypothese von der Ubiquität der ›Dichtung‹ legitimieren, ohne etwas über Dichtung als wesenhafte, abgrenzbare Einheit auszusagen oder vorauszusetzen, dass ›Dichtung‹ eine wesenhaft von der ›Sprache‹ getrennte anthropologische Konstante ist. Die Frage, wie der poetische gemeinsame Nenner aussieht, kann nicht beantwortet werden ohne eine Definition des Begriffs ›Dichtung‹, ›Poesie‹ usw.; diese Begriffe sind jedoch wiederum kultur- und sprachspezifisch. Eine für gegenwärtige Zwecke ausreichende Basis liefert die Charakterisierung von hypothetischen »universalen Menschen (UP)«, die der Anthropologe Donald E. Brown in seiner Studie Human Universals unter Bezug auf die ethnographisch erforschten Kulturen bietet.327 Seine Charakterisierung versteht sich als Korrektiv zu einer Ethnographie, die über Jahrzehnte damit befasst war, die Differenzen zwischen menschlichen Kulturen zu erforschen und das Bild von einer geradezu unbegrenzten kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit gefördert hat. Er sucht dagegen gewissermaßen den gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten: die Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen, allen Kulturen und allen Sprachen. In seiner Liste von hypothetischen Universalien nennt Brown folgende sprachliche Merkmale: The UP have special forms of speech for special occasions. Thus they have poetic or rhetorical standards deemed appropriate to speech in particular settings. They use narrative to explain how things came to be and to tell stories. Their language includes figurative speech: metaphor is particularly prominent, and metonymy […] is always included too. […] They have poetry in which lines, demarcated by pauses, are about 3 seconds in duration. The poetic lines are characterised by the repetition of some structural, semantic, or auditory elements but by free variation too.328
327 Brown 1991, bes. S. 130–141. Mehr als in der Anthropologie hat Browns Ansatz in der seit Chomsky für Universalien empfänglichen Linguistik Prominenz erlangt: Pinker zitiert Browns Liste von Universalien zwar in gekürzter Form, aber dennoch sehr ausführlich in »The Language Instinct« (Pinker 1995, S. 413–415) und dann nochmals – als alphabetische Tabelle dargestellt – in »The Blank Slate« (Pinker 2002, S. 435–439). Über Pinker greift auch Eibl Browns Ansatz auf, nun unter ausführlichem Zitat von »Brown/Pinkers Universalienliste« (Eibl 2004, S. 77; Liste S. 357 f.). Vgl. auch Eibls hilfreichen Überblick zum Thema »Kulturelle Universalien« (ebd., S. 352). 328 Brown 1991, S. 132.
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Die Charakterisierungen und begrifflichen Unterscheidungen mögen in vielen Einzelheiten kontrovers sein: So ist das Wort »lines« problematisch, weil es schriftliche Festlegung voraussetzt; auch bliebe beispielsweise zu fragen, ob über solche besonders strukturierte Rede sowie »Tanz«, »Musik« und »Spiel«329 hinaus dramatische Dichtung als Konstante gewertet werden kann. Hier kommt es jedoch darauf an festzuhalten, dass das, was die westliche Kulturtradition seit Platon, Aristoteles, Horaz und Longin als Dichtung (im semantischen Feld Rede – Erzählung – Poesie – Versdichtung – Drama) versteht, grundsätzlich in allen Kulturen zu finden ist. Wie ›homo ludens‹ und ›homo rhetoricus‹ lässt sich auch – mit ihnen interagierend – ›homo poeticus‹ voraussetzen.330 Der von den antiken und modernen Autoren entworfene ›Spielraum‹ der Poetik ist immens, aber er ist strukturiert: Die Argumente fügen sich zu einem hochkomplexen Diskurs, in den sich jede individuelle Stimme sinnvoll und sinngebend einbringen kann. Indem sie zu poetologischen Topoi werden, dienen sie der Orientierung: Sie erinnern an frühere Formen der Dichtung, sie aktualisieren alte Argumente, und sie bieten unbegrenzte Möglichkeiten der kreativen Abwandlung. Abschließend seien nun die grundlegenden Thesen zusammengefasst, die der Untersuchung deutschsprachiger Poetik zugrundegelegt werden sollen: Dichtung als Sprache: Dichtung ist eine besondere Erscheinungsform natürlicher Sprachen. Sie teilt mit anderen sprachlichen Diskursen das Medium des Wortes und somit dessen physisch-materiellen sowie auch gedanklich-geistigen Aspekt. Dadurch steht sie prinzipiell mit allen anderen sprachlichen Diskursen in Verbindung. Sie kann sich mit deren Zwecken identifizieren, andere Diskurse zu eigenen Zwecken integrieren, oder sich gegenüber anderen Diskursen mittels auffälliger – oder werkextern beanspruchter – Andersartigkeit abgrenzen. Dichtung als Sonderform der Sprache: Dichtung kann sich über jeden Aspekt der Sprache als Sonderform (werkintern) konstituieren oder (werkextern) legitimieren: über die Profilierung des Wort-›Materials‹ gegenüber dem Alltagsdiskurs, über die besondere Konzentration oder auch Eliminierung der gedanklichen Bedeutung, über die Reduktion der kommunikativen Zweckbestimmtheit von Sprache, über die auffällige Anreicherung imaginativer Übertragungs- und Assoziationsmöglichkeiten, über die Verstärkung der affektiven Kraft, über die Musikalisierung der Lautqualität 329 Ebd., S. 140. 330 Vgl. Huizinga 1949; Kopperschmidt 2000; und – mit »homo« in Form von »animal« – Eibl 2004.
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oder Intensivierung des Rhythmus, über die visuelle Struktur des Schriftbilds, usw. Dichtung und Geschichte: Dichtung gibt es in der Geschichte der Menschheit, seit es Sprache gibt. Die Bestimmung eines spezifischen Ursprungs, einer spezifischen Entwicklungsgeschichte oder eines spezifischen Entwicklungsziels erfolgt in Interaktion mit der diachronischen Identitätsstiftung der jeweiligen Kultur, Gruppe oder Person. Literaturgeschichtsschreibung ist »unhintergehbar verquickt […] mit den Bedingungen der Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung«.331 Dichtung und Poetik: Wenn Dichtung ›innerhalb‹ der Sprache oder ›unabhängig‹ von der Sprache als wesenhafte Einheit und anthropologische Konstante zu verstehen wäre, so ließe sich in Entsprechung zu der (hochkontroversen) Universalgrammatik von Noam Chomsky eine systematische, wissenschaftlich fundierte ›Universalpoetik‹ denken, welche die wesenhaften, von Sprache und Kultur unabhängigen Strukturen der Dichtung bestimmen würde; ein solches Projekt wäre grundsätzlich verwandt mit der aristotelischen Herleitung der Künste aus dem angeborenen, naturgegebenen Drang zur Nachahmung beziehungsweise der Freude an Nachahmungen.332 Hier wird jedoch entgegen dem rationalistisch orientierten Projekt der aristotelischen Poetik vorausgesetzt, dass jede Bestimmung der Grenzen, Beschaffenheit und Funktion von Dichtung sowie auch von Poetik zum kulturellen Kontext und zu gruppenspezifischen Zielen in Beziehung steht und dass auch die Form der Poetik eine Funktion dieser Beziehung ist. In einer Kultur, wo Status und Beschaffenheit von Dichtung auf Konsens gründen, ist ein werkexterner Diskurs kaum erforderlich. Ein von der Dichtung getrennter Diskurs über die Dichtung wird dagegen besonders in solchen Kontexten florieren, wo die Funktion und Identität von Dichtung in Frage gestellt wird oder wo eine Gruppe sich besonders durch Dichtung beziehungsweise den Diskurs über Dichtung zu profilieren sucht. Poetik soll hier nicht als Bestimmung eines stabilen ›Wesens‹ der Dichtung verstanden werden, sondern als werkinterner oder werkexterner Diskurs um Dichtung, der sinn-, funktions- und identitätsstiftend zwischen Autor, Werk, Rezipient und/oder Kontext vermittelt. Formen der Poetik: Poetik ist immer Reflexion, immer aber auch mit Sprache verbunden: als Reflexion des Autors über das Schreiben, über das sprachliche Werk, über die Rezipienten des sprachlichen Werkes oder auch 331 So Aleida Assmanns Zusammenfassung des »Konsens« über Geschichtsschreibung (Assmann, A. 1999, S. 133). 332 Aristoteles 1994, S. 10 f. (Kap. 4; 1448b).
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über die sprachliche Poetik anderer Autoren und als Reflexion des Rezipienten über Werk, Poetik, Schreiben oder Lesen; als mündlicher Diskurs zu Vorstellungen über Literatur und als schriftliche Darstellung von Vorstellungen über Literatur in Form von Regelwerk, Programmschrift oder systematischer Abhandlung. Die Bedeutungsvielfalt von ›Poetik‹ entspricht somit der variablen Interaktion der Poetik mit der Dichtung sowie anderen Diskursen – und erlaubt fließende Übergänge. Die Kreativität von Dichtern manifestiert sich gängigerweise in der Abweichung vom Etablierten, jedoch allgemeiner betrachtet darin, wie sie mit den Vorgaben der Gesellschaft und den Möglichkeiten der Tradition umgehen. In keiner Zeit ist die Dichtung verstummt; vielmehr haben es die Dichter verstanden, ihrer Kunst auch in Zeiten schärfster Reglementierung bedeutungsträchtige Formen zu geben. Aufgabe der Literaturwissenschaft und Literaturkritik ist es, sich mit solchen Interaktionen und Übergängen interaktiv zu befassen. Vorauszusetzen ist nicht der von Individuen mehr oder weniger im Alleingang erreichte Fortschritt, der entsprechend eine lineare Literatur-›Geschichte‹ ergibt, sondern ein komplexes Zusammenspiel von Individuum und Gemeinschaft, Diachronie und Synchronie, wie T.S. Eliot dies in seinem Aufsatz Tradition and the Individual Talent entwirft: the historical sense involves a perception, not only of the pastness of the past, but of its presence; the historical sense compels a man to write not merely with his own generation in his bones, but with a feeling that the whole of the literature of Europe from Homer and within it the whole of the literature of his own country has a simultaneous existence and composes a simultaneous order.333
333 Eliot, T.S. 1999, S. 14. S.a. Hofmannsthal 1979–1980, Bd. 9, S. 289 (Wiener Brief [III]).
II. Das kreative Potenzial der Metapher [Niels Bohr:] »Das Sprechen, und damit indirekt auch das Denken, ist eine Fähigkeit, die sich – im Gegensatz zu allen anderen körperlichen Fähigkeiten – nicht im einzelnen Individuum entwickelt, sondern zwischen den Individuen. Wir lernen das Sprechen nur von anderen Menschen. Die Sprache ist gewissermaßen ein Netz, das zwischen den Menschen ausgespannt ist, und wir hängen mit unserem Denken, mit unserer Möglichkeit der Erkenntnis in diesem Netz.«1 Werner Heisenberg
Die Metapher ist im Laufe des 20. Jahrhunderts vom (philosophischwissenschaftlich gesehen) marginalen Bereich des Stils ins Zentrum der Sprach- und Kognitionswissenschaft gerückt. I. A. Richards erklärte die Metapher 1936 zum »allgegenwärtigen Prinzip der Sprache«,2 und zunehmend hat sich selbst in den Naturwissenschaften ein allgemeines Bewusstsein für die wichtige Funktion von Metaphern auch in den Prozessen des Denkens gebildet. So konstatierte 2001 ein Beitrag in der Zeitschrift Nature: »In both science and technology, metaphors direct the way we think, reason and hypothesize.«3 Metaphern kommen besonders dann zum Einsatz, wenn es um die Vermittlung von nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren physischen Phänomenen geht. Dies lässt sich nicht zuletzt in der Physik verfolgen, wie aus einer von Werner Heisenberg zitierten Aussage Niels Bohrs zur sprachlichen Darstellung der Struktur von Atomen hervorgeht:
1 2
3
Heisenberg 2005, S. 165 (Diskussionen über die Sprache, 1933). Heisenberg gibt Bohrs Ausführungen aus dem Gedächtnis wieder (vgl. ebd., S. 7). Richards 1996, S. 33. Ich zitiere die in dem von Anselm Haverkamp herausgegebenen Band »Theorie der Metapher« enthaltenen Aufsätze und Auszüge (Haverkamp 1996, Erstauflage 1983) in der dortigen deutschen Übersetzung, da der Band für die deutschsprachige Metapherntheorie zum Standardwerk geworden ist. Draaisma 2001. Vgl. auch Drewer 2003 zum Gebrauch der Metapher »im Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und -vermittlung« (S. V).
II. Das kreative Potenzial der Metapher
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»Ich hoffe, daß diese Bilder die Struktur der Atome so gut beschreiben, aber eben auch nur so gut beschreiben, wie dies in der anschaulichen Sprache der klassischen Physik möglich ist. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Sprache hier nur ähnlich gebraucht werden kann wie in der Dichtung, in der es ja auch nicht darum geht, Sachverhalte präzis darzustellen, sondern darum, Bilder im Bewußtsein des Hörers zu erzeugen und gedankliche Verbindungen herzustellen.«4
Die Gegenüberstellung einer Sprache der Physik und einer Sprache der Dichtung rückt die traditionell für die Dichtung charakteristische Metapher in den Vordergrund. Bohr setzt hier voraus, dass sprachliche Bilder gedankliche Bilder zu erzeugen vermögen, die nicht auf den Bereich der Fiktion festgelegt sind, sondern die physikalische Wirklichkeit evozieren – wenn auch nur annäherungsweise. Mit der Bemerkung, eine bildliche Darstellung physischer Strukturen sei keine »präzise« Darstellung der »Sachverhalte«, verweist Bohr auf die Funktionsweise der imaginativen Sprache, wenn es um die Vermittlung abstrakter Dinge und Prozesse geht: Es handelt sich um die Evokation eines als ähnlich wahrgenommenen »Bildes« und nicht um eine ›wirkliche‹ eins-zu-eins Relation zwischen Ding und Gedanke beziehungsweise Vorstellung.5 Bohrs Ausführungen zeigen somit die grundlegende Bedeutung der Metapher für die menschliche Kommunikation. Zugleich jedoch vermitteln sie ein Ungenügen an der imaginativen Sprache: In der Betonung und Wiederholung der Partikel »nur« zeigt sich die Perspektive des Naturwissenschaftlers, für den Messergebnisse, mathematische Symbole, geometrische Linien und logisch eindeutige Begriffe mit eindeutigen Referenten einen physikalischen Sachverhalt genauer und direkter wiedergeben als eine Sprache, die mittels Metaphorik die Phantasie involviert.6 Bohr bezeichnet hier verschiedene Möglichkeiten der Verbindung zwischen dem natürlichen Phänomen, dem gedanklichen Verständnis und der kommunikativ wirksamen Sprache, und er artikuliert als Naturwissenschaftler eine Erfahrung, die bereits Aristoteles voraussetzt, wenn er in seiner Rhetorik bemerkt, dass der sprachliche Ausdruck zwar in jeder Art der Unterweisung beachtet werden müsse, letztlich jedoch eine Sache der »Einbildungskraft« und der Wirkung auf den »Hörer« sei, »weshalb niemand auf diese Weise die Geometrie lehrt«.7 Es eröffnet sich damit ein Spektrum von Möglichkeiten der Kommunikation: Dieses reicht von einer in mathematischen Symbolen konzentrierten, nicht-sprachlichen Vermittlung über eine 4 5 6 7
Heisenberg 2005, S. 54 (Der Begriff »Verstehen« in der modernen Physik, 1920–1922). Etwas abgewandelt zitiert in Raoul Schrotts »Fragmente einer Sprache der Dichtung« (Schrott 1997b, S. 25). Zum Begriff ›Bild‹ auch unter Bezug auf Bohrs beziehungsweise Heisenbergs Ausführungen s. u., Abschnitt II/6. Vgl. zu dieser Problematik das Kapitel »Diskussionen über die Sprache (1933)« in Heisenberg 2005, S. 150–167. Aristoteles 1995b, S. 167 (III, 1, 5–6; 1404a). Vgl. zum Wert der Geometrie Platon 1982, S. 344 (7. Buch; 527b); s. o., S. 40, Anm. 49.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
auf physisch wahrnehmbaren Phänomenen basierenden, logisch eindeutigen, begrifflichen Sprache bis hin zu einer eloquenten Sprache, die auf die Imagination wirkt, um das zu evozieren, was physisch nicht wahrnehmbar ist. Die Verfügbarkeit dieser unterschiedlichen ›Sprachen‹ erzeugt in der westlichen Tradition eine durchgängige Spannung. Denn je nach Disziplin, Perspektive, Interesse und individueller Veranlagung lassen sich diese Möglichkeiten unterschiedlich bewerten und theorisieren. Wenn schon seit der Antike die unterschiedlichsten Theorien von der Beziehung zwischen Kognition, Sprache und Welt miteinander konkurrieren, so erklärt sich dies aus der von Aristoteles und Bohr kommunizierten Spannung heraus. Diese Spannung kennzeichnet auch die gegenwärtige Metapherntheorie. In der Auseinandersetzung um die Metapher geht es grundsätzlich um die Situierung der Metapher in der Beziehung zwischen Sprache und Denken. Wenn sich auch die diversen Metapherntheorien häufig als wertungsneutrale Tatsachenberichte darstellen, so sind sie doch seit der Antike und bis in die Gegenwart hinein Teil einer oft virulenten Diskussion um den Status der Sprache in Bezug auf das Denken – Teil jener für den Status der Dichtung bedeutenden Diskussion also, deren Hauptkontrahenten bereits als ›Philosophie‹ und ›Rhetorik‹ aufgetreten sind. In Auseinandersetzung miteinander vermögen diese interaktiv verbundenen Traditionen – oder Traditionsstränge – immer wieder neue Fragestellungen anzuregen, wie aus den Ausführungen von George Lakoff und Mark Johnson zur Entstehung ihres gemeinsamen Projekts Metaphors We Live By deutlich wird: we discovered that certain assumptions of contemporary philosophy and linguistics that have been taken for granted within the Western tradition since the Greeks precluded us from even raising the kind of issues we wanted to address. The problem was not one of extending or patching up some existing theory of meaning but of revising central assumptions in the Western philosophical tradition. In particular, this meant rejecting the possibility of any objective or absolute truth.8
Ob bewusst unter Bezug auf rhetorische Ansätze, ob als Tradierung eines allgemeinen geistigen Kulturguts oder ob in binärer Opposition zur etablierten philosophisch-wissenschaftlichen Tradition – aktiviert werden mit dem Projekt wichtige Argumente der rhetorischen Tradition: die bereits in Lakoff und Johnsons Titel proklamierte Hinwendung zu Praxis und Leben, die Ablehnung einer objektiven beziehungsweise absoluten Wahrheit, die Hinwendung zur Sprache in ihrem Lebenskontext. Deutlich wird hier die Abhängigkeit der Metapherntheorie von der jeweiligen Sprachtheorie und letztlich der jeweiligen Weltanschauung: Auch wenn beispielsweise Lakoff und Johnson ihre Theorie gern als ›neu‹ darstellen, so ist sie doch eingebettet in die aus der Antike in die Gegenwart tradierte Auseinandersetzung um Wahrheit und menschliche Relationen. 8
Lakoff/Johnson 2003, S. ixf.
II. Das kreative Potenzial der Metapher
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Neu ist im 20. Jahrhundert das intensive Interesse an der Metapher, wobei sie wieder – wie schon bei Aristoteles – als zentraler Terminus im Felde der ›Tropen‹ fungiert, nun jedoch nicht mehr als Aspekt der den Gedanken nachgeordneten Sprache, sondern als kontroverses Phänomen der Interaktion zwischen Denken und Sprache. In dem Maße, wie die Metapher kognitiv aufgewertet wird, gerät sie ins Kreuzfeuer der traditionsbefrachteten Auseinandersetzung zwischen der philosophischen und der rhetorischen Tradition. Zugleich werden auf diese Weise die beiden Traditionen in der Diskussion um die brisante Frage nach der Beziehung zwischen Denken und Sprache zusammengeführt, und damit rückt auch die Beteiligung der Emotionen in den Vordergrund, die schon zwischen den Sophisten und Platon im Zentrum der Kontroverse standen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es kaum eine wissenschaftliche Disziplin, die sich für die Metapher nicht interessiert.9 Dabei ist für das gegenwärtige Projekt die Gedankenführung zuweilen interessanter als die jeweiligen Definitionen; besonders erhellend sind oft interne Widersprüchlichkeiten, auch solche, wo die Sprache selbst auf die Spannungen in der Tradition hinweist. Es zeigt sich, dass ältere Metapherntheorien keineswegs so überholt sind, wie sie aus heutiger Perspektive oft dargestellt werden. Vielmehr verdeutlichen sie die Prämissen, auf denen moderne Metapherntheoretiker ihre systematischen Gedankengebäude errichten, und werfen Licht auf die grundsätzlichen Fragen, mit denen sich noch heute die Wissenschaftler herumschlagen. So findet sich gerade bei Aristoteles, der gemeinhin als Begründer einer auf den Stil fokussierten ›Substitutionstheorie‹ gilt,10 ein reicher Fundus an Einsichten in die kognitive Arbeit der Metapher – andeutungsweise in der Poetik, vor allem aber in der Rhetorik.11 Generell ist davon auszugehen, dass schon bei den Griechen die Diskussion um die Beziehung zwischen Sprache und Denken von einer immensen Komplexität und Vielfalt theoretischer Ansätze gekennzeichnet ist – es sind Ansätze, die wie die modernen Theorien Widersprüche in sich tragen, die ihre Aktualität jedoch vielleicht gerade deshalb keineswegs verloren haben. Für die moderne Metapherntheorie ist besonders die ›Grenze‹ zwischen ›innerer‹ und ›äußerer‹ Sprache bedeutsam geworden, die sich durch die ›Grenze’ des Körpers ergibt. Dass die Diskussion um diese Grenze und die Beziehung zwischen den solchermaßen konstituierten zwei Aspekten der 9 10
11
Vgl. beispielsweise die in Drewer 2003 und Jäkel 2003 behandelten Disziplinen. Vgl. dagegen Rolf, der Aristoteles der ›Analogietheorie‹ zuordnet, Quintilian der ›Substitutionstheorie‹ und Cicero der ›Vergleichstheorie‹ (Rolf 2005, S. 77–84, 93–126 und 21–34). Die Substitutionstheorie wird dort zu Roman Jakobson und Jacques Lacan in Bezug gebracht und aufgewertet. S.u., Abschnitt II/2. Vickers bemerkt in Bezug auf den Status der aristotelischen Metapherntheorie im Kontext der Antike: »Nothing in Latin rhetoric matches Aristotle’s discussion of metaphor, either in range or in perception« (Vickers 1997, S. 320).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Sprache jedoch keineswegs neu ist, lässt sich der bereits zitierten Bemerkung Herders entnehmen: »Es ist bekannt, daß logoV das innere und äußere Wort, Vorstellung von innen und Darstellung von außen bedeute.«12 Ohne auf die vieldiskutierte Problematik der Übersetzung des komplexen und traditionsträchtigen Begriffs logoV einzugehen, wird doch hieraus deutlich, wie Herder Denken und Sprache zu integrieren und das Wort als kognitivsprachliche Ganzheit zu fassen sucht. Seine Sprachtheorie projiziert ein unbegrenztes Zusammenspiel von Gefühl, Denken, Phantasie und Sprache, das rationalistischen Abgrenzungen diametral entgegensteht. Die moderne Sprachtheorie sowie auch spezifisch die Metapherntheorie tendiert dagegen zu einer absoluten Trennung von ›innerem‹ und ›äußerem‹ Wort.13 Dabei lässt sich eine Vereinfachung des von Ferdinand de Saussure entworfenen Modells von der Sprache feststellen. Denn im 1916 publizierten Cours de Linguistique Générale ist eine sprachliche Ganzheit vorausgesetzt, die zwischen konventionalisierter, von der Sprachgemeinschaft entwickelter Sprache, individueller Sprachfähigkeit und individueller Realisierung im zwischenmenschlichen Bereich vermittelt und die davon ausgeht, dass Denken und artikulierte Sprache Teil eines »Kreislaufs« sind, der psychische, physiologische und physische Prozesse verbindet.14 Auch in schematisch vereinfachter Form ist dieser Prozess nicht auf eine binäre Opposition zwischen Kognition und artikulierter Sprache reduzierbar, wie sie tendentiell von der kognitiven Linguistik vorausgesetzt wird. Denn Saussure geht davon aus, dass die psychische »Vorstellung« (»concept«) eine ebenfalls psychische, mental-sprachliche Entsprechung hat, die er mit »Lautbild« (»image acoustique«) bezeichnet; das mentale Lautbild wird physiologisch in Impulse umgesetzt und hat wiederum eine physische Entsprechung im artikulierten Wort.15 Diese prozessuale Dreiheit ist auch in seiner Zeichentheorie vorausgesetzt, wenn er Vorstellung und Lautbild interaktiv in einem Zeichen zusammenwirken lässt und berücksichtigt, dass das mentale Lautbild physisch artikuliert werden kann. Durchgängig setzt Saussure eine komplexe Einheit voraus, und es ist bezeichnend, dass er seine Sprachund Zeichentheorie sowohl mit visuellen Bildern als auch mit dem metaphorischen Begriff »image acoustique« verdeutlicht.16 Denn er verweist 12 13 14 15 16
Herder 1877–1913, Bd. 7, S. 356 (Erläuterungen zum Neuen Testament). Zu diesem Passus s. o., S. 72. Vgl. jedoch die verdienstvolle Anthologie poetologischer Texte zur Metapher von MüllerRichter/Larcati (1998). Diese von Dichtern des 20. Jahrhunderts verfassten Äußerungen bieten ein anregend unsystematisches Korrektiv zu den Grenzziehungen der Wissenschaft. Vgl. Saussure 2001, S. 13–18, bes. die Diagramme auf S. 14; vgl. auch die terminologischen Unterscheidungen im Original, Saussure 1982, S. 27–31. Wenn ich mich auf ›Saussure‹ beziehe, so ist die durch seine Schüler vermittelte Theorie gemeint. Saussure 2001, S. 14. Vgl. Saussure 1982, S. 28 f. Zur Darstellung der Zeichentheorie s. Saussure 2001, S. 76–79; vgl. Saussure 1982, S. 97–100.
II. Das kreative Potenzial der Metapher
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damit auf eine komplexe Interaktion zwischen ›bildlichem‹ Denken, sprachlichem Denken und artikulierter Sprache. Wenn Saussure auch nicht auf die Metapher eingeht, so liefert doch sein grundlegendes Prinzip von einem sprachlichen »Kreislauf« die Basis für einen ganzheitlichen metaphorologischen Ansatz, der die oft krassen Grenzziehungen der auf seinem Cours aufbauenden Linguistik meidet. Es kann hier weder ein umfassender Überblick über die historische Entwicklung der Metapherntheorie geliefert werden, noch auch ein Einblick in die Komplexität gegenwärtiger Theorien.17 Es werden lediglich selektiv einige Theorien diskutiert, die dazu beitragen, die Wirkungsweise der Metapher in der Interaktion zwischen Denken und Sprache zu beleuchten – wobei ›Denken‹ beziehungsweise ›Kognition‹ als verallgemeinernde Begriffe für jene komplexen Prozesse benutzt werden, die sich im Gehirn vollziehen.18 Ziel ist ein Ansatz, der sich eignet, die Formen und Funktionen poetologischer Metaphorik zu erklären. Ausgehend von Aristoteles werden zuerst philosophisch orientierte Perspektiven auf die Metapher erörtert, die tendenziell die Metapher in der Sprache situieren beziehungsweise ihr kognitives Potenzial rationalistisch einschränken, und es wird dann auf philosophisch orientierte Auseinandersetzungen mit dem kognitiven Potenzial der Metapher eingegangen. Anschließend soll der vor allem von George Lakoff und Mark Johnson entwickelte kognitive Ansatz betrachtet werden, der die Metapher als primär mentales Phänomen versteht und ihre psychologische Motivation in den Vordergrund stellt; dort geht es vornehmlich um die Metapher als Mittel der Konzeptualisierung und der psychischen Erfahrung, das erst sekundär in der Sprache zum Ausdruck kommt. 17
18
Vgl. dazu die hilfreiche, wenn auch jeweils knappe Diskussion eines breiten, zeitübergreifend dargestellten Spektrums von Metapherntheorien in Rolf 2005. Rolf folgt vornehmlich »klassifikatorischen Gesichtspunkten« (ebd., S. 8) und sucht die verschiedenen Positionen zueinander in Bezug zu bringen, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Der geheime Maßstab ist offenbar Blumenbergs philosophisch orientierter Ansatz, der im Anhang exemplarisch für die Analyse der »Metaphorologie der generativen Grammatik« eingesetzt wird; Rolf betont dort eingangs, dass ihm die Lektüre der »Paradigmen zu einer Metaphorologie« zum »unvergeßlichen Erlebnis« geworden sei (ebd., S. 298). Zu Blumenberg s. u., S. 118–120. Die Terminologie ist problematisch, da ›Denken‹ traditionell ›rationales Denken‹ impliziert, wohingegen im Folgenden davon ausgegangen wird, dass auch die Emotionen und die Imagination auf letztlich nicht abgrenzbare Weise am ›Denken‹ beteiligt sind. Nicht weniger problematisch ist die Gegenüberstellung von ›Denken‹ und ›Sprache‹ beziehungsweise von ›mentalen Prozessen‹ und ›sprachlichen Prozessen‹, denn es soll gerade vorausgesetzt werden, dass sprachliche Prozesse von mentalen Prozessen nicht abgrenzbar sind. Wenn auch diese Sachverhalte unten präzisiert werden sollen, so bleibt doch die Problematik der Terminologie bestehen: Wenn mehr als ein Begriff im Spiel ist, sind Begriffe ohne ›Abgrenzung‹ voneinander weder vorstellbar noch benutzbar; sie unterminieren daher zwangsläufig jede versuchte Darstellung eines ›fluiden‹ Zusammenwirkens. Dies sei hier nur angemerkt. Die Sprache erlaubt somit keine präzise Definition des Sachverhalts, sondern setzt die Fähigkeit des Lesers voraus, über das Bezeichnete hinauszudenken.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Für ein Verständnis poetologischer Metaphern ist jedoch ein Modell erforderlich, welches das Zusammenwirken mentaler und sprachlicher Prozesse sowie den gesamten kommunikativen Kreislauf berücksichtigt. Unter Bezug auf Pragmatik und Rhetorik entwickelt daher der letzte Teil des Kapitels Ansätze zu einem holistischen Modell von der Funktionsweise der Metapher, das es erlaubt, sowohl die kognitive als auch die kommunikative Wirkungsweise der Metapher als ganzheitlichen Prozess zu untersuchen.19 Dabei geht es um die Entstehung und Funktion der Metapher in den mentalen Prozessen des Individuums, wo körperliche Erfahrungen, die Emotionen und die Imagination sowie auch Sinneseindrücke so wichtig sein können wie das rationale Denken und wo sprachliche und kulturelle Konventionen strukturierend mitspielen; es geht um die Wirkungsweise der Metapher im komplexen ›Übergang‹ vom Denken in die Sprache; es geht um ihre physische Vermittlung unter Einsatz des Körpers oder auch eines Mediums wie der Schrift; und es geht um ihre Rezeption, bei der wiederum sprachliche und (andere) mentale Prozesse beteiligt sind. Die in diesem Kapitel diskutierten Perspektiven auf die Metapher sollen einen Kontext schaffen für die nachfolgende Diskussion poetologischer Metaphorik; meine für die praktische Analyse notwendigen Grundthesen sind am Ende des Kapitels zusammengefasst.
1. Die Metapher im Bereich der Sprache Aristoteles legte in seiner Poetik das Fundament für ein bis in die heutige Literaturwissenschaft tradiertes ›Substitutionsmodell‹ der Metapher,20 demzufolge sich die Metapher prinzipiell auf den ›Bereich‹ des sprachlichen Ausdrucks beschränkt – wobei seine Metapherntheorie allerdings tendenziell stark vereinfacht wurde.21 Kontext ist seine rationalistische Sprachtheorie, die eine prinzipiell statische, universale Korrelation zwischen den Dingen und den sie abbildenden Vorstellungen (oder Gedanken, Seeleneindrücken) 19
20
21
Wenn Rolf übergreifend konstatiert, dass »die semantischen Theorien Substantielleres über die Metapher zu sagen haben als die pragmatischen« (Rolf 2005, S. 8), so gibt sich darin eine für rationalistische Ansätze typische Hierarchie zu erkennen. Die Pragmatik erforscht die Metapher zwangsläufig aus einer anderen Perspektive als die Semantik. Rolfs Metapher von der ›Substantialität‹ ist nicht geeignet, dem spezifischen Beitrag der jeweiligen Theorien gerecht zu werden. Vgl. z. B. Schweikle, G./Schweikle, I. 1990, S. 301 f. (Metapher). Dem kognitiven Aspekt wird nur in einem auf die Philosophie verweisenden Nachsatz Rechnung getragen: »Bei der Verwendung von M[etapher]n bei Erkenntnisvorgängen, v. a. in der Philosophie (Heidegger) kann der M[etapher] auch kognitive Funktion zukommen« (ebd., S. 302). Mit einer gewissen Hilflosigkeit wird hier auf einen Ansatz verwiesen, der dem Substitutionsmodell widerspricht, ohne dass dieser Widerspruch aus dem Artikel deutlich würde. S.u., Abschnitt II/2.
1. Die Metapher im Bereich der Sprache
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vorsieht. Die lautliche und schriftliche Sprache dagegen ist von dieser einfachen, stabilen, universalen Wahrheit getrennt: Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind.22
Die grundlegende Bedeutung dieses Ansatzes bis in unsere Zeit wird in der folgenden Darstellung immer wieder deutlich werden, auch wenn die drei Komponenten in unterschiedlichen Konstellationen auftreten und ihre Verbindungen unterschiedlich konzipiert und fokussiert werden. Die Beziehung der Komponenten zueinander setzt bei Aristoteles eine hierarchische Abstufung voraus, die sich – gewissermaßen platonisch – als vertikales Modell darstellen lässt:23 DINGE
(Abbilder der Dinge) LAUTE (Zeichen der Vorstellungen) SCHRIFT (Zeichen der Laute) VORSTELLUNGEN
[einfach,] universal einfach, universal vielfältig, sprachspezifisch
Die Beziehung zwischen Dingen, Vorstellungen, Lauten und Schrift bei Aristoteles
Mit der Stabilität der Dinge sowie der Vorstellungen ist eine räumlich konzipierbare Stabilität der Relationen gegeben, in der einzig die lautliche und schriftliche Sprache variiert; diese Variation ist jedoch drittrangig und durch den konstanten Bezug auf die Vorstellungen stabilisiert.24 Dass Sprache auch ganz anders konzipierbar ist, verdeutlicht schon in der Antike die Sophistik sowie später Nietzsche. Ohne den stabilen Bezugspunkt der Wahrheit oder der unveränderlichen Dinge wird die Sprache zum Prozess, der sich mit der menschlichen Zeit wandelt und an ›menschlichen Relationen‹ orientiert. Eine prozessuale Sprachkonzeption vertritt im deutschen Sprachraum auch Wilhelm von Humboldt mit seiner ›energetischen‹ Sprachauffassung:
22 23 24
Aristoteles: De Interpretatione (1.16a 3–8), zitiert nach der Übersetzung in Aristoteles 1995b, S. 280 f. (Anm. 155). Vgl. dagegen das am semiotischen Dreieck von Ogden/Richards (s. u., S. 105) sich orientierende Dreiecksmodell in Rehbock 2000, S. 100. Zur Problematik dieses geometrischen Modells vgl. Henne/Wiegand 1969. Zur »Macht der Dinge über die Sprache« in der Geschichte der Sprachtheorie im deutschsprachigen Raum vgl. den Überblick in Gardt 1999; vgl. bes. S. 94–102 zu Sprachtheorien im 17. Jahrhundert (z. B. Schottelius), wobei er die dort diskutierten Theorien auch in der Gegenwart fortwirken sieht (ebd., S. 94).
104
II. Das kreative Potenzial der Metapher
Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.25
Fokussiert ist hier die Beziehung zwischen Vorstellungen und Sprache. Einer stabilisierenden Definition von Sprache im zeitlosen philosophischen System wird eine dynamisierende Art der geschichtlichen »Definition« gegenübergestellt. Während bei Aristoteles die Beziehung zwischen den selbst abbildhaften Vorstellungen und der zeichenhaften Sprache tendenziell ein statisches Abhängigkeitsverhältnis voraussetzt, in dem das Denken die Sprache bestimmt und legitimiert, ist die Sprache bei Humboldt konzipiert als »Arbeit des Geistes«, wodurch sie nicht nur dem Denken ebenbürtig wird, sondern selbst über kognitive Kraft verfügt. Sie ist zwar als ›Ausdruck‹ dem Gedanken zeitlich nachgeordnet, steht jedoch mit dem Denken in einer ständig sich wandelnden, aktiven Verbindung. In Gegensatz zur philosophischen Sprachtheorie von Aristoteles ist dies tendenziell eine rhetorische Sprachauffaussung, derzufolge sich die Sprache im Prozess des ›Ausdrucks‹ verwirklicht und im ›öffentlichen‹ Bereich wirksam wird. Indem eine interaktive, prozessuale Beziehung zwischen Denken und Sprache vorausgesetzt ist, ermöglicht das Modell unterschiedliche Priorisierungen, ohne dass damit zugleich Grenzen gezogen werden müssen. Die Vorstellung von der Beziehung zwischen Sprache und Denken ist somit grundsätzlich kontrovers: Sie kann entweder ›räumlich‹ als stabile Relation konzeptualisiert werden oder ›zeitlich‹ als prozessuale Interaktion. In der Sprachtheorie finden sich entsprechend die vielfältigsten Modelle, um die Beziehung vorstellbar zu machen, wobei auch immer wieder andere Verbindungen und Harmonisierungen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen erprobt werden. Einen Gegentext zu den Sprachtheorien der Philosophie sowie auch der Rhetorik bietet zudem die Bibel: Ihr zufolge steht am Anfang der irdischen Welt nicht die Idee oder das Ding, sondern das Wort – wobei dieses Wort die Wahrheit verkörpert und zugleich die Wahrheit performativ zur Wirkung bringt. Das solchermaßen aufgewertete Wort lässt sich entsprechend auf vielfältigste Weise interpretieren, um jeweils andere Aspekte und Bezüge in den Vordergrund zu rücken, wie bereits in Hinblick auf die Diskussionen um die Bedeutung des Wortes logoV bei Herder und Goethe deutlich wurde.26 Im 20. Jahrhundert stehen philosophische und rhetorische Ansätze weiterhin – und sogar intensiviert – in einer produktiven Oppositions- und 25 26
Humboldt 1963, S. 418 (Abschnitt 12, Form der Sprachen). S.o., S. 72 und S. 100.
1. Die Metapher im Bereich der Sprache
105
Interaktionsbeziehung. Dass allerdings die Faktoren des aristotelischen Modells auch in neueren Sprachauffassungen keineswegs als obsolet gelten, zeigt das weiterhin einflussreiche ›semiotische Dreieck‹ von C.K. Ogden und I.A. Richards, das sie 1923 in ihrem Buch The Meaning of Meaning im Kontext des einführenden Kapitels »Thoughts, Words and Things« vorstellten.27 Ähnlich wie im aristotelischen Modell – allerdings ohne die sekundäre Unterscheidung zwischen Laut und Schrift – sind für jede Aussage drei Faktoren vorausgesetzt: THOUGHT OR REFERENCE
SYMBOL
REFERENT
Die »drei Faktoren jeder Aussage« im semiotischen Dreieck von Ogden und Richards
Die Vorstellungen (»thought or reference«) sind hier oben angesiedelt und erhalten dadurch den höchsten Status, stellen jedoch wie bei Aristoteles die einzige »direkte« und »wirkliche« Verbindung zwischen sprachlichem »Symbol« und dem bezeichneten »Ding« beziehungsweise »Referenten« dar.28 Diese Verbindung zur Tradition bleibt ausgeblendet, wenn Ogden und Richards unter Hervorhebung des Gegensatzes zu mystisch-magischen Sprachauffassungen die Modernität ihrer Theorie geltend machen: Words, as every one now knows, mean nothing by themselves, although the belief that they did […] was once equally universal. It is only when a thinker makes use of them that they stand for anything, or, in one sense, have ›meaning‹. They are instruments.29
27 28
29
Ogden/Richards 2001, S. 30. Die gepunktete Linie zwischen Symbol und Referent signalisiert, dass es sich hierbei um eine »indirekte«, nicht »wirkliche« Beziehung handelt. Die enorme Wirkung des Schemas belegt – und beklagt – Eco in seiner »Einführung in die Semiotik« (1994, S. 69–71). Ausgelassen sind in meiner Wiedergabe des Diagramms die Bezeichnungen der Seiten des Dreiecks, die jede für sich und alle zusammen weitere Fragen aufwerfen. Ogden/Richards 2001, S. 29. Vgl. jedoch auch unten, S. 113 f., zu Hegels Auffassung, Wörter hätten eine »Bedeutung an ihnen selbst« (Hegel 1986, Bd. 5, S. 114; Wissenschaft der Logik, 1. Teil, 1. Buch, 1. Abschnitt, 1. Kap., C.c., Anmerkung. Der Ausdruck: Aufheben).
106
II. Das kreative Potenzial der Metapher
Die Metapher vom »Instrument«30 setzt genau jene unabhängige Existenz und Abgrenzbarkeit der Wörter voraus, die mit der Betonung ihrer Bedeutungslosigkeit an sich negiert wurde. Zugleich entzieht diese Metapher den Wörtern gewissermaßen jegliche Kraft. Denn in Gegensatz zu den Gedanken, die im »Denker« ein belebtes, persönliches, unabhängiges Profil erhalten, sind die Wörter vereinzelt, materiell, passiv, ohne essenzielle Verbindung mit dem Sprecher und völlig abhängig vom Denken. Eine Verbindung oder Interaktion zwischen Denken und Sprache ist auf der Basis dieser Metapher so unvorstellbar wie die Möglichkeit einer »allmähligen Verfertigung der Gedanken beim Reden«31 oder die Möglichkeit einer Strukturierung des Denkens durch die Sprache, wie sie im späteren 20. Jahrhundert immer wieder unter dem Schlagwort der ›Sapir-Whorf-Hypothese‹ diskutiert wurde und wird. Produktiv bleibt das aristotelische Modell nicht zuletzt deshalb, weil es drei feste Orientierungspunkte für die Diskussion um die Beziehung zwischen Sprache, Denken und (meta)physischer Wirklichkeit bietet. Für die Metapherntheorie bleibt es interessant, weil mit jeder Verschiebung der Konstellation oder der Relationen auch die Metapher einen anderen Stellenwert erhält, den es theoretisch neu zu bestimmen gilt. Indem Aristoteles die (lautlichen) Wörter an stabilen Vorstellungen orientiert und diese wiederum an stabilen Dingen festmacht, schafft er ein Sprachmodell, das ›vertikal‹ eine einfache, eindeutige Bedeutung der Wörter voraussetzt. Grundsätzlich gibt es jeweils eine eins-zu-eins Relation zwischen Wort – Vorstellung – Ding. Dies liefert die Begründung für die Theorie vom ›eigentlichen‹ Wort, das zugleich »üblich« und »klar« ist, womit Aristoteles allerdings auch die Konventionen der Sprachgemeinschaft miteinbezieht: »Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht.«32 Zugleich jedoch geht er von einer Vielfalt sprachlicher Zeichen aus, wodurch die Wörter von den Bedeutungen grundsätzlich unterschieden sind und in der sprachlichen ›Schicht‹ eine gewisse Flexibilität impliziert ist. Priorität behält die Verwendung des ›eigentlichen‹ Wortes, da es den besten Zugang zur Vorstellung und damit zum Ding erlaubt. Zur Vermeidung der »Banalität« in poetischen Kontexten33 lässt sich jedoch stattdessen ein anderes Wort einsetzen, das in einem begrifflich klar geregelten Bezug dazu steht: Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder 30 31 32 33
Vgl. den produktiven Einsatz dieser Metapher schon im Titel von Drewers Studie zur Sprache der Naturwissenschaften: »Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens« (Drewer 2003). Kleist 1990. S. u., S. 310 f. Aristoteles 1994, S. 70 f. (Kap. 22; 1458a). Ebd.
1. Die Metapher im Bereich der Sprache
107
von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie.34
Aristoteles legt hier den Grund für Klassifikationen der Metapher hinsichtlich des Bezugs zwischen Herkunfts- und Zielbereich,35 wobei er sowohl in der Poetik als auch in der Rhetorik vor allem die analogisch gebildete Metapher diskutiert und insbesondere in letzterem Werk mit einer Vielzahl von Beispielen erläutert. Seine Legitimation der Metapher aufgrund des Kriteriums der Vermeidung stilistischer »Banalität« impliziert allerdings eine Marginalisierung der Metapher im aristotelischen System. Indem er sie grundsätzlich dem Stil zuordnet und zudem als Abweichung von der Norm definiert, begründet er eine lange Tradition, in der die Metapher bestenfalls als philosophisch irrelevanter, sprachlicher Schmuck gilt und schlimmstenfalls als Verführung zur Lüge. Die Annahme einer ›eigentlichen‹ oder ›wörtlichen‹ Bedeutung impliziert einige grundlegende Voraussetzungen, die in der Metapherndiskussion in unterschiedlichen Konstellationen eine Rolle spielen: 1) 2) 3) 4)
Das Denken ist von der Sprache grundsätzlich unabhängig. Das Denken geht dem Sprechen zeitlich voraus. Das Denken ist der Wahrheit näher als das Sprechen. Denken und Sprechen vollziehen sich auf unterschiedlichen ›Ebenen‹, sind jedoch ›vertikal‹ durch stabile Korrespondenzverhältnisse zwischen Ding, Vorstellung und Wort verbunden. 5) Jedes gedankliche Ding hat prinzipiell seine Entsprechung in dem einen richtigen, wahren, ›eigentlichen‹ Wort. 6) Allein das ›eigentliche‹ Wort vermittelt die Erkenntnis der Wahrheit und authentischen Wirklichkeit. 7) Das ›eigentliche‹ Wort ist stilistisch neutral. Jedes uneigentliche (d. h. metaphorische) Wort weicht vom neutralen, erkenntnisvermittelnden Stil ab.
Als rein sprachliches Phänomen verstanden, gilt die Metapher tendenziell als von der Wahrheit wesenhaft, zeitlich und räumlich geschieden, inauthentisch und der Erkenntnis hinderlich. Im Bereich der Sprache weicht sie von der Norm ab. Je nach Status ist sie kunstvolles Schmuckwerk, künstlicher Prunk, Tand, Spielerei, Verhüllung der Wahrheit oder Lüge. Entsprechend ist für Hegel »das eigentliche Wort ein für sich verständlicher Ausdruck«, die Metapher dagegen »ein anderer«, »gedoppelter Ausdruck«, eine »Zweiheit«.36 Er hebt ihre Tendenz »ins Pretentiöse, Gesuchte
34 35 36
Ebd., S. 66 f. (Kap. 21; 1457b). Vgl. Quintilians einflussreiche Klassifikation aufgrund der Unterscheidung ›belebt‹/›unbelebt‹ (Quintilian 1995, Bd. 2, S. 220; VIII, 6, 9 f.). Auch Aristoteles diskutiert ›belebende‹ Metaphern (Aristoteles 1995b, S. 194; III, 11, 2; 1411b, u. ö.). Hegel 1986, Bd. 13, S. 520. Diese Bestimmung ist Teil einer ausführlichen Erörterung der Metapher in Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik« (ebd., S. 516–523; Ästhetik, 2. Teil, 1. Abschnitt, 3. Kap., B.3.a., Die Metapher).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
oder Spielende« hervor,37 setzt sie gleich mit »Vermischung«, findet ihre häufige Motivation in der »bloß schwelgerischen Lust der Phantasie« und im »Witz einer subjektiven Willkür«, und assoziiert sie besonders mit dem »Orient« sowie mit Shakespeare, Jean Paul und Schiller.38 Durchaus metaphorisch elaboriert er ihre Neigung, das Denken von der Wahrheit abzulenken: Die Metapher […] ist immer eine Unterbrechung des Vorstellungsganges und eine stete Zerstreuung, da sie Bilder erweckt und zueinanderstellt, welche nicht unmittelbar zur Sache und Bedeutung gehören und daher ebensosehr auch von derselben fort zu Verwandtem und Fremdartigem herüberziehen.39
Im Kontext der Kunst wertet er die Metapher ebenfalls ab, nun mit Metaphern der Ausgrenzung und Abhängigkeit: Da nun aber der so verbildlichte Sinn nur aus dem Zusammenhange erhellt, so kann die Bedeutung, welche sich in Metaphern ausdrückt, nicht den Wert einer selbständigen, sondern nur beiläufigen Kunstdarstellung in Anspruch nehmen, so daß die Metapher daher, in vermehrtem Grade noch, nur als äußerer Schmuck eines für sich selbständigen Kunstwerkes auftreten kann.40
Die Kontextabhängigkeit wird der Metapher als grundlegender Mangel angekreidet, denn sie erweist die Relativität der Metapher gegenüber dem wesenhaft stabilen Kunstwerk. Mit den Metaphern von ihrer ›Unselbständigkeit‹ und ›Äußerlichkeit‹ setzt Hegel somit die Metapher in Gegensatz zum Prinzip des freien Kunstwerks. Insgesamt reflektiert seine Metapherntheorie sein rationalistisches Sprachverständnis bis hin zur Verwendung von Metaphern, die bereits bei Platon die Welt des Scheins charakterisieren und die Sprache vom reinen, wahrheitsorientierten Denken sondern. Dass für Schriftsteller Metaphern ähnlich problematisch sein können, aber nicht so systematisch zu transzendieren sind, geht aus einem Tagebucheintrag von Franz Kafka hervor. Hier begegnet Hegels Argument von der Unselbständigkeit in Form einer komplexen schaffenspsychologischen Erfahrung und Krise, assoziativ verquickt mit den Realien des täglichen, praktischen Lebens: Aus einem Brief: »Ich wärme mich daran in diesem traurigen Winter.« Die Metaphern sind eines in dem Vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt. Die Unselbständigkeit des Schreibens, die Abhängigkeit von dem Dienstmädchen das einheizt, von der Katze, die sich am Ofen wärmt, selbst vom armen alten Menschen, der sich wärmt. Alles dies sind selbständige, eigengesetzliche Verrichtungen, nur das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß und Verzweiflung.41
37 38 39 40 41
Ebd., S. 519. Ebd., S. 522 f. Goethe dagegen wird implizit unter Hervorhebung seiner »gleichmäßigen, klaren Anschaulichkeit« mit der Antike assoziiert (ebd., S. 523). Ebd., S. 523. Ebd., S. 517 f. Kafka 1990, Bd. 1, S. 875 (12. Heft, 6.12.1921).
2. Spekulative Bedeutungen
109
2. Spekulative Bedeutungen Bereits Aristoteles bemerkt in seiner Poetik – tendenziell entgegen dem in De Interpretatione entworfenen Modell –, dass die Metapher (metajora´ ) kein rein sprachliches Phänomen ist, sondern dass sie auch einen kognitiven Aspekt hat. Denn er setzt einen der sprachlichen ›Übertragung‹ vorgeschalteten gedanklichen Prozess voraus – die Fähigkeit, »Ähnlichkeiten« zu erkennen: Es ist wichtig, daß man alle die genannten Arten [des unüblichen Ausdrucks] passend verwendet […]; es ist aber bei weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag.42
Dies ist in der Poetik der einzige Aspekt der dichterischen Sprache, den Aristoteles dezidiert jenseits der erlernbaren techne ansiedelt. Diese Aussage zur Metapher hat in der neueren Diskussion um den Metaphernbegriff Anlass zu scharfer Kritik an der antiken Metapherntheorie gegeben. So verurteilt I.A. Richards die hier von Aristoteles formulierten »Hypothesen« als »verderblich«, da sie verhindert haben, daß sich die Erforschung dieses »bei weitem Wichtigsten« den ihr zukommenden Platz innerhalb unserer Wissenschaftsbereiche erobern und sich als Theorie und Praxis auf den ihr offenstehenden Wegen weiterentwickeln konnte.43
Die Kritik von Richards entzündet sich vor allem an der Exklusivität der Definition: dass die Erkennung von Ähnlichkeiten sich auf wenige Begabte beschränke; dass die Verwendung der Metapher nicht erlernbar sei; und dass die Metapher eine Abweichung vom normalen Sprachgebrauch darstelle. Tatsächlich jedoch heißt es in Aristoteles’ Rhetorik: »Alle [Menschen] gebrauchen in der Unterredung Metaphern, eigentümliche und allgemein gebräuchliche Ausdrücke.«44 Deutlich wird hieraus, dass die theoretischen Aussagen bereits am Anfang der überlieferten Diskussion um die Metapher kontextabhängig sind – in der Poetik geht es ja um die Besonderheiten der Dichtung – und sich durchaus nicht monolithisch auf den Begriff einer rein stilistischen Substitution festlegen lassen. Insgesamt wird in der antiken Metapherntheorie durchaus davon ausgegangen, dass Metapher, Metonymie sowie Synekdoche auch für die Alltagssprache typisch sind; erörtert wird diese Frage wie in der gegenwärtigen 42 43 44
Aristoteles 1994, S. 74–77 (Kap. 22; 1459a). Richards 1996, S. 31. Aristoteles 1995b, S. 170 (III, 2, 6; 1404b). Er betont zudem, dass »die Metapher […] für die Ausdrucksweise der Prosarede gebraucht werden« darf (ebd.).
110
II. Das kreative Potenzial der Metapher
Metapherndiskussion mit Bezug auf Habitualisierungsgrade.45 Berücksichtigt man die Kontextabhängigkeit sowie die Spannweite der verschiedenen antiken Erklärungen der Metapher – bei Aristoteles, Cicero, Quintilian und Pseudo-Longinus –, so ergibt sich ein komplexes Bild, in dem semantische Strukturen, Grade der Konventionalität, emotionale Wirksamkeit, Wirkung auf die Phantasie und andere Aspekte keineswegs nur »oberflächlich« erforscht werden, wie Richards dies konstatiert.46 Aus der allgemeinen, die Metonymie einschließenden Kategorie der Metapher bei Aristoteles hat das Interesse an Differenzierungen und Klassifikationen ein komplexes Instrumentarium an Begriffen geschaffen – wobei jedoch schon Cicero dafür plädiert, die Beredsamkeit nicht zu einer Wissenschaft von Regeln, Klassifikationen und Methoden zusammenschrumpfen zu lassen.47 Besonders die Erörterung der Katachrese oder ›notwendigen Metapher‹ in den rhetorischen Lehrbüchern verdeutlicht, dass sich die Behandlung der elocutio durchaus nicht vor kognitiven Aspekten der Metapher verschließt.48 Wenn weder die antike Philosophie noch die antike Rhetorik sich eingehend mit dem Erkenntnispotenzial der Metapher befasst haben, so liegt dies an ihrer jeweiligen Ausrichtung: Aus philosophischer Perspektive stand die jenseits der Sprache situierte Wahrheit im Vordergrund, aus rhetorischer Perspektive dagegen die Wirkung der Sprache im kommunikativen Prozess und vor allem in der Praxis des öffentlichen Lebens. Im 20. Jahrhundert dagegen hat das fruchtbare Zusammenspiel von philosophischer und rhetorischer Tradition sowie die Etablierung der Linguistik das Fundament für neue wissenschaftliche Fragestellungen und auch Antworten gelegt. Die Tendenz zur Vereinfachung der aristotelischen Theorie hat allerdings im Laufe der Jahrhunderte die Bedeutung der Aussagen von Aristoteles zum kognitiven Wert und Effekt der Metapher verdeckt. Der erkenntnisfördernde Wert geht bereits aus seiner Bemerkung hervor, dass die Metapher »Wissen« vermittelt und das ›Lernen‹ fördert.49 Vor allem aber wird dieser Wert aus seiner Betonung ihrer Verwandtschaft mit der Analogie deutlich.50 Denn damit ist prinzipiell ein Verfahren bezeichnet, das auch in der aristotelischen Philosophie Bedeutung hat, wie er selber in der Rhetorik bemerkt: Man muß aber Metaphern bilden […] von verwandten aber auf den ersten Blick nicht offen zutage liegenden Dingen, wie es z. B. auch in der Philosophie Charakte45 46 47 48 49 50
Vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 297 f. (§ 577). Richards 1996, S. 33. Cicero 1976, S. 492–495 (III, 20, 75–76). Vgl. ebd., S. 542 f. (III, 38, 155); Quintilian 1995, Bd. 2, S. 230–233 (VIII, 6, 34 f.). Aristoteles 1995b, S. 190 (III, 10, 2; 1410b) und S. 195 (III, 11, 6; 1412a). Vgl. Aristoteles 1994, S. 68 f. (Kap. 21; 1457b); Aristoteles 1995b, S. 191–193 (III, 10, 7; 1411a-b) und ebd., S. 194 f. (III, 11, 5; 1412a).
2. Spekulative Bedeutungen
111
ristikum eines richtig denkenden Menschen ist, das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen.51
Aus der Perspektive der kognitiven Linguistik rückt die Metapher entsprechend in die Nähe der Analogie, wobei sich in der modernen Metapherndiskussion Einsichten ergeben, die frappierende Ähnlichkeit mit der aristotelischen Herleitung der Metapher aus dem ›Erkennen von Ähnlichkeiten‹ haben: »The ubiquitousness of metaphor demonstrates […] our human capacity for seeing and using common relational patterns – in short, for analogical insight.«52 So ist in neueren Arbeiten zur kognitiven Metapher zum Teil eine Überschneidung der Begriffe vorausgesetzt.53 Ein Unterschied zwischen Metapher und Analogie lässt sich dann entweder in Bezug auf die Form der sprachlichen Realisierung treffen, wobei die Analogie dem Vergleich entspricht,54 oder in Bezug auf den Konventionalisierungsgrad der Metapher: »Metaphor is related on the conventional side to idiom and on the novel side to analogy.«55 Aus dieser letzteren Definition ergibt sich die bedeutende Einsicht, dass die Metapher ein Phänomen bezeichnet, das vom lexikalisierten, direkt artikulierbaren Idiom bis hin zu einem gedanklichen Vorgang reicht. Dabei geht die Aufwertung der Metapher Hand in Hand mit der Aufwertung des analogischen Denkens.56 Dass sich allerdings das kognitive Potential der Metapher nicht auf das analogische Denken – und Kommunizieren – einschränken lässt, geht aus der folgenden Unterscheidung von Dedre Gentner, Brian F. Bowdle u. a. hervor: »Analogy is used in explanatory-predictive contexts, while metaphor can be used more broadly, in either explanatory-predictive or expressive-affective contexts.«57 Hier ist die Bedeutung der Metapher in Bezug auf die Emotionen angesprochen, die in der Metapherntheorie der römischen Rhetorik verstärkt in den Vordergrund trat; sie kommt beispielsweise in der Personifikation zur Geltung, die sich nicht sinnvoll über die Analogie erfassen lässt. Insgesamt ist die Spannweite der innovativen Metapher nicht über die Analogie erfassbar. Obwohl die Metapher erst in neuerer Zeit ins Zentrum des theoretischen Interesses gerückt ist, kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass das gleiche für die dichterische Praxis zutrifft. Eine Geschichte der Metapherntheorie und -praxis würde ein höchst komplexes Bild ergeben: Denn Praxis und Theorie stehen zwar einerseits in Beziehung zueinander, 51 52 53 54 55 56 57
Aristoteles 1995b, S. 194 f. (III, 11, 5; 1412a). Gentner, Bowdle u. a. 2001, S. 243. Zur Beziehung zwischen Analogie und Metapher auf der Grundlage der antiken Rhetorik vgl. den Band von Coenen 2002. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit Coenen in Rolf 2005, S. 77–84. Vgl. Drewer 2003 und Musolff 2004, bei denen die Überschneidung zwischen »(kognitiver) Metapher« und »Analogie« bereits im Titel deutlich wird. Vgl. Stockwell 2002, S. 107. Gentner, Bowdle u. a. 2001, S. 238. Vgl. Wittgenstein, s. u., S. 116–118. Gentner, Bowdle u. a. 2001, S. 240.
112
II. Das kreative Potenzial der Metapher
verlaufen jedoch andererseits auch als disziplinspezifische Traditionen, wobei von der Dichtung über die Rhetorik hin zur Philosophie ein ›Gefälle‹ in der Legitimität und damit im Entfaltungsspielraum der Metapher besteht; aber auch aus anderen geistigen Strömungen kann eine Legitimierung der Metapher erfolgen, so aus der Alchemie oder aus der Mystik.58 In einer rhetorisch bestimmten Dichtung wird prinzipiell die extrem auffällige Metapher einen größeren Spielraum haben als in einer philosophisch bestimmten Dichtung, denn aus der Perspektive der Rhetorik ist nicht die Legitimation in Bezug auf Wahrheit relevant, sondern das Prinzip des aptum: die Angemessenheit in Bezug auf Inhalt, Stilhöhe und Redezweck. In der Poesie kann grundsätzlich selbst die auffällige oder kühne Metapher59 als angemessen gelten. Entsprechend erlaubt typischerweise eine werkimmanente Poetik oder eine dezidiert dichterisch-imaginative Poetik wie jene der Romantik einen ›freieren‹ Einsatz der Metapher als eine philosophisch ausgerichtete Poetik. Insgesamt ist von einer enormen Komplexität und Vielfalt der Sprachtheorien in Antike, Mittelalter und Neuzeit auszugehen sowie von einer – keineswegs unreflektierten – Vielfalt der metaphorischen Praxis. Anregend wirkt vor allem die reiche Metaphorik der Bibel, die unterschiedlichste Ansätze legitimiert und mit der zentralen Rolle des Wortes der binären Opposition zwischen Denken und Sprache in der platonischen Tradition entgegenwirkt. Als Beispiel sei nur der Anfang des Johannes-Evangeliums genannt, der in Luthers Übersetzung Gott mit dem Wort identifiziert – »Gott war das Wort« – und die Inkarnation als Übertragung des göttlichen Wortes in den menschlichen Körper darstellt: »Vnd das Wort ward Fleisch/ vnd wonet vnter vns.«60 Sprache erhält damit einen ungleich höheren Status als in der Philosophie und einen ausgeprägteren erkenntnisfördernden Wert als in der rhetorischen Tradition. Wenn auch im deutschen Sprachraum besonders Hamann, Herder und die Dichter der Romantik – dezidiert unsystematisch – komplexe Theorien von der Metapher entwickelten, so kann dennoch insgesamt davon ausgegangen werden, dass die Komplexität ihrer Verwendung bis ins 20. Jahrhundert die Theorie weit hinter sich ließ. Möglicherweise ist der wirkkräftigste Einsatz der Metapher dort zu erwarten, wo sie auf magisch-imaginative Weise Wirklichkeit herzustellen sucht. 58 59
60
Vgl. zur Alchemie Gentner/Jeziorski 1993 und beispielsweise zum metaphorischen Wortschatz der mystisch orientierten Tradition des Pietismus Langen 1954. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden der ›Kühnheit‹ unternimmt beispielsweise Cicero, wenn er im Vergleich zu den notwendigen semantischen Lückenfüllern jene Metaphern, die zudem der Rede »Glanz« verleihen, als »kühner« (audacior) bezeichnet (Cicero 1976, S. 542 f.; III, 38, 156). Aufgegriffen wird das Adjektiv von Boileau (»les figures les plus audacieuses«, Boileau 1966, S. 228) und in der deutschen Metapherntheorie von Weinrich (1996). Joh. 1, 1 und 1, 14.
2. Spekulative Bedeutungen
113
Darin vermutet Lausberg den Ursprung der quintilianischen Gleichsetzung der Metapher mit einem ›verkürzten Vergleich‹: Die Erklärung der Metapher aus dem Vergleich ist […] nur eine nachträgliche rationale Deutung der urtümlich-magischen Gleichsetzung der metaphorischen Bezeichnung mit dem Bezeichneten: »er ist ein Löwe in der Schlacht« (Quint. 8, 6, 9 ›leo est‹) bedeutet urtümlich-magisch: »der Kämpfer war ein wirklicher Löwe, er hatte Löwennatur angenommen«.61
Gerade für die ›imaginativste‹ Auffassung der Metapher wäre dann eine werkexterne Theorie nicht zu erwarten. Zugleich aber wird deutlich, wie kontextabhängig die Metapher ist – je nach Weltanschauung kann sie aus der ›Wirklichkeit‹ entstehen oder ›Wirklichkeit‹ werden. Zu bedenken ist weiterhin, dass häufig wichtige Aussagen und Beobachtungen, die aus heutiger Perspektive metapherntheoretisch relevant sind, aufgrund anders gelagerter Sprachtheorien nicht in diese Richtung weiterentwickelt wurden. Beispiel dafür ist Hegel, der mehrfach kreative Beziehungen zwischen Wort und Kognition anspricht, diese jedoch rationalistisch interpretiert. Gezeigt sei dies anhand von zwei Beispielen, die sich auf grundlegende Begriffe seines Systems beziehen: seine Reflexion über die Mehrdeutigkeit des Wortes ›Aufhebung‹ sowie seine Ausführungen zur etablierten Vertikalitätsmetaphorik. Das Wort ›Aufhebung‹ nimmt Hegel zum Anlass, den kognitiven Wert von Sprache zu beleuchten: Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen. […] – Die angegebenen zwei Bestimmungen des Aufhebens können lexikalisch als zwei Bedeutungen dieses Wortes aufgeführt werden. Auffallend müßte es aber dabei sein, daß eine Sprache dazu gekommen ist, ein und dasselbe Wort für zwei entgegengesetzte Bestimmungen zu gebrauchen. Für das spekulative Denken ist es erfreulich, in der Sprache Wörter zu finden, welche eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben; die deutsche Sprache hat mehrere dergleichen.62
In seine Spekulationen zu den Bedeutungen des Wortes miteinbezogen ist ferner unter Bezug auf das lateinische »tollere« die konkret-physische Bedeutung des »Emporhebens«.63 Es ergeben sich dann folgende Bedeutungen:
61
62 63
Lausberg 1990, Bd. 1, S. 286 (§ 558). Diese Annahme von einer ursprünglichen Metaphorizität der Sprache ist besonders im Zeitalter der Romantik stark ausgeprägt, so bei Jean Paul: »Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in Eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern« (Jean Paul 1935, S. 170; § 50. Doppelzweig des bildlichen Witzes). Dies ist gewissermaßen eine diachronische Variante des kognitiven Ansatzes, der von einer noch immer produktiven Metaphorizität der Sprache ausgeht. Hegel 1986, Bd. 5, S. 114 (Wissenschaft der Logik, 1. Teil, 1. Buch, 1. Abschnitt, 1. Kap., C.c., Anmerkung. Der Ausdruck: Aufheben). Ebd.
114
II. Das kreative Potenzial der Metapher
Lautgestalt aufheben
Bedeutung 1: „emporheben“ Bedeutung 2: „aufbewahren“ Bedeutung 3: „ein Ende machen“64
Ob die Beziehung zwischen den Bedeutungen homonymisch zu definieren ist (d. h. es sind gleich lautende Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung) oder polysemisch (d. h. die Bedeutungen sind voneinander ableitbar), ist etymologisch nicht eindeutig bestimmbar.65 Hegel ignoriert diachronischetymologische Gesichtspunkte und stellt den (synchronischen) Gegensatz zwischen Bedeutung 2 und 3 in den Vordergrund, um diesen logisch unter Einbeziehung von Bedeutung 1 auf eine höhere Einheit hinzuführen. Das Wort wird auf diese Weise zur Verkörperung des dialektischen Prinzips. Hegel geht offenbar von der Priorität des Signifikats aus und fasst das Wort als Zeichen, das auf die ›höhere‹ Wahrheit verweist. Seine Annahme, einzelne Wörter hätten »an ihnen selbst« eine spekulative Bedeutung, verleiht ihnen einen kognitiven Wert; zugleich jedoch wird die Beziehung zwischen Vorstellung und Wort auf eine für rationalistische Sprachtheorien typische eins-zu-eins Relation eingeschränkt.66 Dass Hegel die Macht der Metapher im Bereich abstrakter Vorstellungen erkannte und strategisch nutzte, geht aus seinen einleitenden Ausführungen zur Gegenüberstellung von »Naturschönheit« und »Kunstschönheit« hervor. Er spricht der Kunstschönheit zunächst mittels konventioneller vertikaler Wertungsmetaphorik einen relativ höheren Wert zu, um sie dann in einem weiteren Schritt der Abstrahierung in einen separaten, absolut überlegenen Bereich zu führen: Sagten wir nun überhaupt, der Geist und seine Kunstschönheit stehe höher als das Naturschöne, so ist damit allerdings noch soviel als nichts festgestellt, denn höher ist ein ganz unbestimmter Ausdruck, der Natur- und Kunstschönheit noch als im Raume der Vorstellung nebeneinanderstehend bezeichnet und nur einen quantitativen und dadurch äußerlichen Unterschied angibt. Das Höhere des Geistes und 64 65 66
Diagramm in Anlehnung an Homberger 2003, S. 207 (Homonym). Die Reihenfolge der Bedeutungen entspricht dem Lemma in Duden 1999, S. 330. Vgl. Grimm 1984, Bd. 1, Sp. 663–667 (aufheben, bes. Bedeutungen (3), (8), (9), (13)). Vgl. Eco 2002, bes. S. 217–235 und 318. Nicht nur figürlicher Ausdruck, sondern auch Synonymie, Homonymie und Polysemie stellen eine solche eins-zu-eins Relation in Frage, vgl. Gardt 1999, S. 95. Mark Johnson sieht Polysemie als Phänomen der Semantik, das die Unzulänglichkeit ›objektivistischer‹ Sprachauffassungen erweist. Aus seiner kognitiv ausgerichteten Perspektive ist die Vielfalt polysemischer Bezüge nur unter Einbezug imaginativer Prozesse erklärbar: »Polysemy involves the extension of a central sense of a word to other senses by devices of the human imagination, such as metaphor and metonymy, and there is no place for this kind of account in the Objectivist view« (Johnson, M. 1987, S. xii; s. a. S. 107, 193).
2. Spekulative Bedeutungen
115
seiner Kunstschönheit der Natur gegenüber ist aber nicht ein nur relatives, sondern der Geist erst ist das Wahrhaftige, alles in sich Befassende, so daß alles Schöne nur wahrhaft schön ist als dieses Höheren teilhaftig und durch dasselbe erzeugt. In diesem Sinne erscheint das Naturschöne nur als ein Reflex des dem Geiste angehörigen Schönen, als eine unvollkommene, unvollständige Weise, eine Weise, die ihrer Substanz nach im Geiste selber enthalten ist.67
Hegel nutzt zunächst die in der Alltagssprache gängige vertikale Wertungsmetaphorik, um dem Leser die Überlegenheit der Kunstschönheit zu verdeutlichen, verwirft diese Metaphorik dann jedoch als »ganz unbestimmten Ausdruck«, der nicht fähig ist, einen qualitativen Wert zu vermitteln. Die qualitative Unterscheidung erfolgt nun unter Bezug auf die philosophischen Begriffe von Geist und Wahrheit. Der lediglich relativen Vertikalitätsmetaphorik wird eine absolute Behältermetaphorik entgegengesetzt, welche die innere »Substanz« statt nur eine »äußerliche« Form zu kennzeichnen vermag; zugleich wird das relative ›Kunst‹-Schöne zum absolut »Schönen« erklärt und durch die Zuerkennung eines rein geistigen ›Ursprungs‹ (»erzeugt«) auch zeitlich und genealogisch vom Materiellen getrennt. Die Kennzeichnung des Naturschönen als »nur […] ein Reflex des dem Geiste angehörigen Schönen« verdeutlicht das platonische Erbe der Unterscheidung: Das Naturschöne ist lediglich ein Abbild vom Kunstschönen, ohne an dessen wahrem Sein teilzuhaben. Dem Geist und der dem Geist angehörigen Schönheit wird durch die Kopplung von Vertikalitäts-, Behälter- und Ganzheitsmetaphorik (›Vollkommenheit‹, ›Vollständigkeit‹) ein Wert verliehen, der jeder Gefahr der Relativierung enthoben ist. Hegels komplexe Argumentationsführung geht hier von einer konventionellen Metapher aus, um den Leser auf einem zunehmend anspruchsvollen metaphorischen Weg zu einer höheren Einsicht zu führen. Der Weg führt vom unbestimmten, quantitativen Wert und vom sprachlichen »Ausdruck«, der nur Äußerliches bezeichnet, zum genauen, qualitativen Wert und zum »Geist«, der innere Substanz verkörpert. Die konventionelle Sprachmetaphorik ist hier negativ konnotiert, und im Fortgang der Ausführungen wird die Beteiligung der Sprache ausgeblendet, um dem Geist die Vormacht zu verleihen. Hegels virtuoser Umgang mit dem metaphorischen Potenzial der Sprache verdeutlicht dessen Bedeutung für die Philosophie. Denn eine konventionelle Metapher kann als verständlicher Ausgangspunkt für die Entfaltung ganz neuer Gedankengänge dienen; und sprachliche Bezeichnungen für bekannte physische Formen können dem Geist auf dem Wege der ›Übertragung‹ oder ›Projektion‹ Vorstellungen vermitteln, die weit über physische Zusammenhänge hinausweisen.
67
Hegel 1986, Bd. 13, S. 14 f. (Ästhetik, Einleitung, I., Begrenzung der Ästhetik und Widerlegung einiger Einwürfe gegen die Philosophie der Kunst).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
3. Philosophische Aufwertungen von Sprache und Phantasie Das Hinterfragen platonischer Prämissen im 20. Jahrhundert bringt eine umfassende Neuorientierung philosophischer Ansätze, mit der die Sprache einen neuen Stellenwert erhält. In den Vordergrund rückt sie vor allem mit dem Werk Wittgensteins. Hatte er im Tractatus logico-philosophicus systematisch in der Sprache der Logik »die Grenzen meiner Sprache« bestimmt, die »die Grenzen meiner Welt [bedeuten]«, und schlüssig mit dem Wort »schweigen« geendet,68 begibt er sich in den (Fragment gebliebenen) Philosophischen Untersuchungen gewissermaßen in das Gebiet der menschlichen Sprache selbst, um sie von ›innen‹ her zu erkunden. Die Metaphorik des Vorworts signalisiert ein Projekt, das bis in die anti-teleologische, unsystematische Darstellungsweise hinein der Tradition westlicher Philosophie zuwiderläuft. In Abweichung von der etablierten Konvention, ein systematisches »Ganzes« zu bieten, dessen Gedankenführung »in einer Richtung« verläuft, »zwingt« die »Natur der Untersuchung« dazu, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen. – Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.69
Bei diesem episodischen ›Reisebericht‹ geht es nicht darum, »das Wesentliche« der Sprache auf analytischem Wege zu bestimmen, sondern über vielfältige Analogien »Verwandtschaften« zu erkunden70 und die Sprache der Philosophie in ihre menschliche »Heimat« zurückzuführen: Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – »Wissen«, »Sein«, »Gegenstand«, »Ich«, »Satz«, »Name« – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.71
Anders als die idealistische Feld- und Raummetaphorik ist diese »Heimat« kulturell durchwirkt. Abgelehnt wird eine Sprache, deren Wörter sich an einer übersprachlichen, metaphysischen Wahrheit orientieren, sowie grundsätzlich die Annahme, dass eine von »Logikern« konstruierte »ideale Sprache« besser oder vollkommener wäre als »unsere Umgangssprache«.72 Hier 68 69 70 71 72
Wittgenstein 1984, S. 67 und 85 (Tractatus, 5.6 und 7). Ebd., S. 231 (Philosophische Untersuchungen, Vorwort). Ebd., S. 276 f. (65). Ebd., S. 300 (116). Vgl. die in Bezug auf die ›Begriffe‹ reich ausgestaltete, auf Grenzziehungen fokussierte Landschaftsmetaphorik bei Kant 1908, S. 174–176 (Einleitung, II, Vom Gebiete der Philosophie überhaupt). Wittgenstein 1984, S. 286 (Philosophische Untersuchungen, 81).
3. Philosophische Aufwertungen von Sprache und Phantasie
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geht es um horizontale Assoziationen in der natürlichen Sprache und offene, interaktive Beziehungen; nicht um die universale, vom Menschen unabhängige Wahrheit, sondern um den Bereich menschlicher Konvention im Kontext des Alltagslebens. Im Zentrum steht eine Analogie mit dem »Spiel«. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf Regeln – um diese allerdings wiederum dem Zugriff der absoluten Norm zu entheben und für Umwandlung und Entgrenzung zu öffnen: Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf? Wir können uns doch sehr wohl denken, daß sich Menschen auf einer Wiese damit unterhielten, mit einem Ball zu spielen, so zwar, daß sie verschiedene bestehende Spiele anfingen, manche nicht zu Ende spielten, dazwischen den Ball planlos in die Höhe würfen, einander im Scherz mit dem Ball nachjagen und bewerfen, etc. Und nun sagt Einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.73
Erkenntnis und Erleuchtung stiftet hier nicht die Logik, sondern die mit einer konventionalisierten Metapher (›ein Licht aufstecken‹) hervorgehobene Analogie. Der abstrahierten Verallgemeinerung des Regelprinzips durch den hypothetischen Dialogpartner widerspricht das Ich mit der Häufung von Variationen. Bedeutsam ist der Übergang in die englische Sprache: Performativ wird damit die Möglichkeit der Änderung des Sprachspiels erwiesen. Sprache ist Vehikel und Gegenstand der Untersuchung zugleich, und der Stil ist daher so wichtig wie das Ausgesagte: Indem Wittgenstein seine Sprachtheorie in einer persönlichen, lebhaft expressiven, metaphernreichen Sprache vermittelt, ersetzt er die begriffsorientierte Privilegierung der »Hauptwörter«74 durch die nuancenreiche Komplexität der Umgangssprache. Abgelehnt wird eine Sprachauffassung, die lediglich von einer »assoziativen Verbindung zwischen dem Wort und dem Ding« ausgeht, als sei »das Aussprechen eines Wortes […] gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier«.75 Der sprachliche Gebrauch wird nicht im philosophischen Begriff transzendiert, sondern für sich ernstgenommen, um die Beschäftigung mit sprachlichen Relationen anzuregen: Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir »Spiele« nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: »Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹« – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, 73 74 75
Ebd., S. 287 (83). Ebd., S. 237 f. (1). Einleitend setzt sich Wittgenstein hier kritisch mit der Darstellung der Sprachentwicklung bei Augustinus auseinander. Ebd., S. 240 (6)
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen. […] Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.76
Hinweise auf visuelle Prozesse dienen hier nicht wie bei Platon der objektiven Darstellung einer unwandelbaren Wahrheit, sondern der Involvierung des individuellen Menschen in einem empirischen Prozess. Wittgensteins Theorie von den ›Familienähnlichkeiten‹ gilt der kognitiven Linguistik als Ausgangspunkt für die radikale Infragestellung der klassischen Kategorienlehre und die Entwicklung der Prototypentheorie in der neueren Semantik, die einer Organisation der Begriffe nach eindeutig begrenzten, behältnisartigen Kategorien eine an typischen, zentralen Instanzen ausgerichtete Organisation entgegensetzt.77 Bedeutsam für die Weiterentwicklung von Wittgensteins Ansatz war die interdisziplinäre Übertragbarkeit. Übertragungen vom Teil zum Ganzen werden von Wittgenstein selbst praktiziert, so wenn er gleich bei Einführung des Wortes »Sprachspiel« erklärt: »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.«78 Die Metapher der ›Verwebung‹ schafft einen fließenden Übergang von der philosophischen Sprachbetrachtung zur Pragmatik. Indem Wittgenstein Erkenntnisse durch Analogien, Vergleiche und Metaphern vermittelt, appelliert er an die Fähigkeiten des Lesers, ›Ähnlichkeiten zu erkennen‹. Zugleich erweist er damit performativ die erkenntnisfördernde Kraft der natürlichen Sprache. Die spezifische Bedeutung der Metapher für die Auseinandersetzung mit der platonischen Tradition rückt in Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie79 ins Zentrum, wenn er den Topos von der ›notwendigen‹ Metapher zu einem philosophischen Thema aufwertet und umdenkt. Markiert wird damit das Ende einer langen Tradition »platonischer Unterwerfung der Rhetorik, besiegelt durch die christliche Patristik«.80 Zu widerlegender Ausgangspunkt ist ihm das besonders von Descartes durchgesetzte Ideal einer vollendeten Begrifflichkeit philosophischer Sprache, derzufolge »alle Formen und Elemente übertragener Redeweise« »vorläufig und logisch überholbar« sind81 und Metaphern allenfalls teleologisch als »Restbestände […], Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos« legitimiert werden können.82 Blumenberg unternimmt die Herausarbeitung von hypotheti76 77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 277 f. (66). Vgl. Lakoff 1987, bes. S. 16 f. S.a. Baldauf 1997, S. 47–60. Wittgenstein 1984, S. 241 (Philosophische Untersuchungen, 7). Blumenberg 1998 (Erstauflage 1960). Ebd., S. 9. Vgl. zu Blumenbergs Metapherntheorie auch Jäkel 2003, S. 119–122. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10.
3. Philosophische Aufwertungen von Sprache und Phantasie
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schen »absoluten Metaphern«, die als »Grundbestände der philosophischen Sprache« unauflösbar fortwirken.83 Dabei geht es letztlich weniger um die Metaphern selber, wenn auch höchst interessante Komplexe – so die Metaphorik der ›Wahrheit‹ – erkundet werden. Bedeutsam sind Metaphern vor allem deswegen, weil damit die Vorherrschaft des rein begrifflichen Denkens gebrochen ist: Der Aufweis absoluter Metaphern müßte uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen – wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbrauch des Bildervorrats –, sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren.84
Dass dies erst der Anfang eines großen, von Nietzsche angeregten Projekts ist, verdeutlicht Blumenbergs abschließender Satz: »Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz.«85 Somit wäre die erhöhte Bedeutung der Metapher in den letzten Jahrzehnten – vor allem unter poststrukturalistischem Aspekt – symptomatisch für eine Weltsicht, die sich nicht am Maßstab des Absoluten orientiert, sondern sich in menschlichen Relationen bewegt. Blumenbergs philosophische Aufwertung der Phantasie sowie der Metapher ist für das Verhältnis von Philosophie und Poetik bedeutsam, denn die Phantasie gilt traditionell als besondere Entfaltungssphäre der Künste und die Metapher als Merkmal der Poesie, und es ergeben sich von daher Möglichkeiten einer offeneren Interaktion von Philosophie, Poetik und Dichtung. Für ein Verständnis des Zusammenwirkens von Denken und Sprache und für ein Verständnis der Funktionen und Wirkungen von Metaphern ist Blumenbergs Ansatz allerdings letztlich unproduktiv, weil sein Interesse an der Metapher durch idealistisch orientierte Fragestellungen motiviert und auf diese beschränkt ist.86 Dies lässt sich an seiner Metaphorik der Grenzen 83
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Ebd. In der Literaturwissenschaft hat sich besonders in Hinblick auf moderne ›hermetische‹ Lyrik der Terminus ›absolute Metapher‹ eingebürgert. Er basiert auf der Substitutionstheorie und markiert genau den Punkt, wo diese versagt. Kaschiert wird dieses Versagen damit, dass man die ›absolute Metapher‹ mit der Aura der Autonomieästhetik versieht und als Verkörperung der absoluten Krise des Gedichts zum Zeichen der Krise des modernen Menschen erklärt. In die Literaturwissenschaft hat der Begriff offenbar mit Hugo Friedrichs Studie »Die Struktur der modernen Lyrik« (Friedrich, H. 1985, Erstaufl. 1956) Eingang gefunden, als Extension des Begriffs vom ›absoluten Gedicht‹. Paul Celan, Paradebeispiel für die deutsche ›hermetische‹ Lyrik, lehnte bezeichnenderweise die Festlegung auf das »AbsolutMetaphorische« ab (Celan/Wurm 1995, S. 239 f.; Celan an Franz Wurm, 27.3.1970). Blumenberg 1998, S. 11. Ebd., S. 193. Stern konstatiert einleitend in seiner Studie zur Metapher zwei Tendenzen hinsichtlich des wissenschaftlichen Interesses an der Metapher. Für manche, so für Johnson, gehöre die Meta-
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
und Hierarchien verfolgen. Die scharfe Trennung der »Begriffswelt« vom »Bereich der Phantasie« stimmt mit Hegels Feldmetaphorik überein, derzufolge das »Gebiet der Phantasie« vom Feld der Philosophie abgesondert zu sein hat.87 Gespalten werden die Bereiche ferner durch Blumenbergs (mit Kant in Einklang stehende) Überordnung der aktiv wandelbaren und damit entwicklungsfähigen Begriffswelt; die Phantasie ist demgegenüber passiv und unwandelbar, ein lediglich als »katalysatorische Sphäre« dienender, räumlich untergeordneter »fundierender Bestand«: Die implizite Hierarchisierung in der zu revidierenden Metapher vom »Substrat« wird nicht hinterfragt. Dies gehört zu den Fragen, die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in der Kognitionswissenschaft an die Metapher herangetragen werden.
4. Die Metapher im Bereich der Kognition Besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Metapher zunehmend zur Auseinandersetzung herausgefordert, wobei für die Poetik vor allem die an Nietzsche anknüpfenden poststrukturalistischen Ansätze stimulierend waren und sind. Anselm Haverkamp, der in zwei Aufsatzsammlungen einschlägige Beiträge zur Metapher seit I.A. Richards zusammengestellt hat, konstatiert 1998: »Seit hundert Jahren ist die Metapher ein sicheres Anzeichen für das Wiederauftauchen der Rhetorik nach dem Schiffbruch, den sie im Jahrhundert zuvor erlitten hatte.«88 Wie an kaum einem anderen Thema lässt sich an der Metapherntheorie die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Rhetorik unter Einbezug auch der Literaturtheorie und Linguistik verfolgen, wobei immer wieder andere Aspekte beleuchtet und zueinander in Bezug gebracht werden und sich zunehmend auch die Neurowissenschaften an der Debatte beteiligen. Für die deutsche Metapherndiskussion und insbesondere die praktische Analyse literarischer Texte erwies sich Harald Weinrichs (an Jost Triers
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pher zu den »›Big Questions‹«, da sie direkt die zentralen logischen, epistemologischen und ontologischen Fragen eines philosophischen Verständnisses menschlicher Erfahrung betreffe. Für andere – denen er sich selbst zurechnet – sei die Metapher an sich peripher und beanspruche nur insofern Interesse, als sie (ähnlich wie »›exotische‹ Phänomene« in der Physik) verspricht, in Form eines spezifischen Problems Aufschluss über andere, zentrale Fragen zu geben (Stern 2000, S. xif.). Wenn auch eine solche binäre Kategorisierung problematisch ist, so ist sie doch in Bezug auf Blumenbergs Interesse an der Metapher aufschlussreich: Ihm geht es vornehmlich um die ›Begriffswelt‹, aus deren Perspektive sich ›absolute Metaphern‹ als exotisches Problem darstellen. Wenn zwischen Logos und Phantasie keine absolute Grenze gesetzt und die philosophische Sprache nicht von der Alltagssprache geschieden wird, dann erscheinen Metaphern auch nicht ›absolut‹ isolierbar. Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt); s. o., S. 8 f. Haverkamp 1998b, S. 7. Der Band »Die paradoxe Metapher« (Haverkamp 1998a) sammelt Beiträge ab 1975 und ergänzt somit den Band »Theorie der Metapher« (Haverkamp 1996).
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
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›Wortfelder‹ und die von I. A. Richards und Max Black entwickelte ›Interaktionstheorie‹ anknüpfende) ›Bildfeldtheorie‹ als fruchtbar, zumal Weinrich immer wieder betont, dass die Metapher erst aus der Zusammenwirkung von Wort und Kontext entsteht: »Im letzten hat jede Metapher ihr eigenes Gesicht und ist unverwechselbar wie der Text, in dem sie erscheint. Man wird sorgfältig lesen müssen.«89 Unter Bezug auf Weinrich setzt Michael Egerding 1997 in seiner Studie Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik sogar als »Grundkonsens der neueren Metapherntheorie« voraus, daß die Metapher nur als Ereignis der Rede existiert, da sie ausschließlich aufgrund der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Wörtern eines Satzes eine Bedeutung erhält, die nur in diesem Kontext existiert und diesen Kontext zu einem einmaligen macht.90
Die Abwegigkeit der Voraussetzung eines solchen Konsenses geht aus Eckard Rolfs umfassender Zusammenstellung von Metapherntheorien hervor91 und nicht zuletzt aus Egerdings Bedürfnis, unter kursorischer Einbeziehung durchaus anderer Positionen eine »Kritik und Präzisierung« des Ansatzes vorzunehmen.92 Denn sein Textkorpus konfrontiert ihn mit einem grundlegenden Problem der Interaktionstheorie: »Je abstrakter und unbestimmter der Bildempfänger ist, desto weniger ist er geeignet, in Bezug auf den Bildspender die Rolle des Partners im Interaktionsgeschehen zu übernehmen.«93 Am gravierendsten wird diese Problematik in der Annäherung an das Unaussprechlichste – Gott. Die in diesem Kontext geradezu absurde Feststellung einer »asymmetrischen Relation« führt kaum weiter, sondern verdeutlicht die begrenzte Aussagekraft der Interaktionstheorie als einer allgemeinen Theorie von der Metapher. Denn sie setzt dem rigiden Übertragungsmodell der Substitutionstheorie eine potenzielle Beliebigkeit der Relation zwischen Bildspender und Bildempfänger entgegen, welche die kommunikative Wirkungsweise der Metapher verfehlt. Indem die Interaktionstheorie der produktiven Zielrichtung der Metapher ungenügend Rechnung trägt, versagt sie genau dort, wo die Metapher am ›kühnsten‹ wird: wenn sie der Herausforderung gerecht wird, mittels bekannter Strukturen das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. In der kognitiven Linguistik steht die produktive Zielrichtung der Metapher dagegen im Vordergrund. Mit dem ›Ereignis der Rede‹ hat die kognitive Metapherntheorie wenig im Sinn, da sie die Metapher primär in den mentalen Prozessen des Sprechers situiert und die Motivation der 89 90 91 92 93
Weinrich 1996, S. 339. Egerding 1997, S. 23. Rolf 2005. Zu Weinrichs Ansatz vgl. ebd., bes. S. 68–71, sowie Jäkel 2003, S. 122–130. Egerding (1997, S. 32) verweist sogar auf Lakoff/Johnson 2003 (Erstauflage 1980), obwohl deren Ansatz mit der Interaktionstheorie keineswegs vereinbar ist. Vgl. die Auseinandersetzung mit der Interaktionstheorie in Lakoff/Turner 1989, S. 131–133. Egerding 1997, S. 25.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Metapher zu erklären sucht, wobei sie von der Metaphorizität der Alltagssprache ausgeht. Das Interesse an der Metapher in der interdisziplinär arbeitenden Kognitionswissenschaft94 insgesamt beruht darauf, dass sie gewissermaßen als ›Fenster‹ zum arbeitenden Gehirn gilt. Treibende Kraft für die kognitive Metaphernforschung war vor allem die Kollaboration des Linguisten George Lakoff, des Philosophen Mark Johnson und des Literaturwissenschaftlers Mark Turner. Die 1980 von Lakoff und Johnson mit Metaphors We Live By vorgelegte Studie zur kognitiven Alltagsmetaphorik95 wurde 1987 aus linguistischer Perspektive in Lakoffs Women, Fire, and Dangerous Things und aus philosophischer Perspektive in Johnsons The Body in the Mind weiterentwickelt;96 ein weiteres kollaboratives Projekt folgte 1999 mit Philosophy in the Flesh.97 1989 untersuchten Lakoff und Turner in More than Cool Reason mittels der kognitiven Metapherntheorie die dichterische Metaphorik.98 Bedeutende Beiträge zur kognitiven Metapherntheorie hat auch Zoltán Kövecses geliefert: Metaphor and Emotion. Language, Culture, and Body in Human Feeling (2000), Metaphor. A Practical Introduction (2002) und Metaphor in Culture. Universality and Variation (2005); stärker als Lakoff und Johnson berücksichtigt Kövecses auch pragmatische Aspekte.99 In Bezug auf die Poetik ist die kognitive Linguistik in Form von ›cognitive poetics‹ entwickelt worden, einem literaturwissenschaftlichen Ansatz, der eine vorwiegend linguistisch orientierte Textanalyse unter Einbezug von Psychologie, Philosophie, Informatik und Anthropologie mit kognitiver Orientierung weiterentwickelt, unter Bezug vor allem auf die Rezeption.100 94 Zu Programm und Geschichte der kognitiven Wissenschaften vgl. Sucharowski 1996, S. 7–18. Den Anstoß gab in den fünfziger Jahren die Hoffnung auf einen militärischen Nutzen künstlicher Intelligenz. 95 Lakoff/Johnson 2003. Die 2. Auflage enthält den Text der Erstauflage von 1980 und ist um ein Nachwort erweitert. Die deutsche Übersetzung von Astrid Hildebrand (Lakoff/Johnson 2004) ist teilweise mangelhaft, da die Beispiele in übersetzter Form nicht immer die jeweils besprochene Metapher aufweisen. Vgl. das folgende Idiom zur »RÖHREN-Metapher« (»CONDUIT metaphor«), die sich in der Idiomatik zu Kommunikationsprozessen manifestiert: Lakoff und Johnsons Beispiel »You can’t simply stuff ideas into a sentence any old way« (Lakoff/Johnson 2003, S. 11) übersetzt Hildebrand: »Du kannst Ideen nicht nur konventionell in Sätze kleiden« (Lakoff/Johnson 2004, S. 19). Die Ideen werden hier zu ›Menschen‹ und der Satz zum ›Kleid‹; Lakoff und Johnson geht es jedoch um die Konzeptualisierung von sprachlichen Einheiten als ›Behälter‹, in denen Gedanken an den Kommunikationspartner ›geschickt‹ werden können (s. u., S. 139 f.). 96 Lakoff 1987; Johnson, M. 1987. 97 Lakoff/Johnson 1999. 98 Lakoff/Turner 1989. 99 Kövecses 2000; Kövecses 2002; Kövecses 2005. 100 Vgl. grundlegend Tsur 1992. Im Zentrum seines strukturalistisch orientierten Ansatzes steht die Beziehung zwischen Text und Rezeption ohne Berücksichtigung der Produktion: »Cognitive Poetics, as practiced in the present work, offers cognitive theories that systematically account for the relationship between the structure of literary texts and their perceived effects« (ebd., S. 1). Einen breiter angelegten, »stylistics« weiterentwickelnden Ansatz verfolgt Stockwell 2002, vgl. bes. S. 121; s. a. den komplementären, praxisorientierten Band Gavins/Steen
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
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Die Möglichkeiten des ›cognitive turn‹ für das Verständnis von Literatur gilt es jedoch für den gesamten Prozess der Produktion und Rezeption fruchtbar zu machen. Im vorliegenden Projekt geht es in Gegensatz zur vorherrschenden Tendenz in der kognitiven Poetik nicht vorrangig um die leserorientierte Analyse von Texten, sondern um die Untersuchung des gesamten Kommunikationsprozesses zwischen Autor, Text, Rezipient und Kontext – um ›Übertragungsprozesse‹, in denen Vorstellungen von Literatur gebildet, kommuniziert und tradiert werden. Von grundlegendem Interesse ist daher in Bezug auf Metaphern die Frage nach ihrer Funktionsweise in der Interaktion zwischen mentalen und (anderen) sprachlichen Prozessen sowie im gesamten Prozess der zwischenmenschlichen Kommunikation. Die kognitive Linguistik hat ihre Sprachtheorie anfangs vor allem in Auseinandersetzung mit der etablierten generativen Linguistik entwickelt: Weitergeführt wird die Konzentration auf mentale Prozesse, abgelehnt dagegen die rationalistische Bestimmung der Sprachkompetenz als einer separaten mentalen Funktion.101 Chomsky hatte in Gegensatz vor allem zu behavioristischen Ansätzen das Forschungsinteresse von der »externalisierten Sprache« (»E-Sprache«) auf die »internalisierte Sprache« (»I-Sprache«) gelenkt: »the shift of focus from E-language to I-language, from the study of behavior and its products to the study of systems of mental representation and computation.«102 Er geht so weit, die in lautlichen und schriftlichen Zeichen manifeste Sprache zugunsten der mentalen Sprachfähigkeit gänzlich aus dem Begriff ›Sprache‹ zu eliminieren, wodurch ihr physischer Aspekt als sprachwissenschaftliches Forschungsobjekt bis zur Auslöschung marginalisiert wird: »The central task is to find the basic elements of I-language – henceforth, language.«103 Erweisen will Chomsky damit, dass die Sprache jene Einfachheit und Universalität hat, die Aristoteles nur den Vorstellungen zuspricht; er unter-
2003. Inwieweit sich mit ›cognitive poetics‹ ein eigenständiger Ansatz herausbildet, bleibt abzuwarten; vielversprechend ist die prinzipielle interdisziplinäre Öffnung gegenüber den kognitiven Wissenschaften – diese ist jedoch nicht grundsätzlich neu und ist bei Stockwell über die Linguistik hinaus kaum reflektiert. Typisch für ›stylistics‹ ist Stockwells Beschränkung auf die Leserperspektive (»this book is about reading literature«, Stockwell 2002, S. 1). Zwar beansprucht er die Relevanz insgesamt für Autor, Text und Leser (vgl. ebd., S. 5), kommentiert wird diese höchst komplexe Beziehung jedoch kaum. Die Privilegierung der Rezeption wird weder von Tsur noch Stockwell erörtert; sie geht Hand in Hand mit einer entsprechend vereinfachten Definition der kognitiven Wissenschaften: »›Cognitive science‹ is an umbrella term covering the various disciplines that investigate human information processing« (Tsur 1992, S. 1). 101 Vgl. die Auseinandersetzung mit Chomsky in Lakoff/Johnson 1999, S. 469–512. 102 Chomsky 1986, S. 51. Vgl. auch zur »E-Sprache« und »I-Sprache« das Kapitel »Concepts of Language«, ebd., S. 15–50. 103 Ebd., S. 51.
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nimmt somit die ultimative philosophische Legitimation der Sprache.104 Die rationalistische Orientierung von Chomskys Projekt geht aus seinem Ziel hervor, das Wesen der Sprache als »Wissen« und als stabiles, klar abgegrenztes »Modul« in den Griff zu bekommen: We should […] think of knowledge of language as a certain state of the mind/ brain, a relatively stable element in transitory mental states once it is attained; furthermore, as a state of some distinguishable faculty of the mind – the language faculty – with its specific properties, structure, and organization, one »module« of the mind.105
Ausgestalten lässt sich die solchermaßen verdinglichte Sprache mit Schaltern, Drähten und Schnittstellen, um die ›interne‹, vor allem in der Grammatik gesuchte Struktur des Regelapparats näher zu bestimmen. Die Sprache wird damit zum universalen, von anderen mentalen Fähigkeiten getrennten und in sich ausbaubaren und reproduzierbaren Prozessor.106 An diesem Punkt setzt die kognitive Linguistik an: Wie die generative Linguistik interessiert sie sich vornehmlich für den mentalen Aspekt der Sprache, sie lehnt jedoch deren mechanistisches Modell von einer isolierbaren Sprachfähigkeit ab und rückt die Beziehung zwischen der Sprache und anderen mentalen Fähigkeiten und Prozessen in den Vordergrund. Die kognitive Linguistik geht von der Hypothese aus, dass sprachliches Wissen und sprachliche Prozesse nicht grundsätzlich von anderen kognitiven Fähigkeiten und Prozessen unterschieden sind: The organization and retrieval of linguistic knowledge is not significantly different from the organization and retrieval of other knowledge in the mind, and the cognitive abilities that we apply to speaking and understanding language are not significantly different from those applied to other cognitive tasks, such as visual perception, reasoning or motor activity.107
Ausgehend von dieser Hypothese ist dann weiterhin anzunehmen, dass die Sprache nicht nur über die Beschaffenheit der Sprachfähigkeit Aufschluss geben kann, sondern über kognitive Prozesse im allgemeinen: »Since communication is based on the same conceptual system that we use in thinking and acting, language is an important source of evidence for what that system is like.«108 Ins Rampenlicht rückt damit die Metapher, der schon Aristoteles 104 Die Suche nach einer universalen Sprache hat eine lange Tradition und umfasst auch die Bestrebungen im Rahmen der künstlichen Intelligenz, vgl. Eco 2002, bes. S. 316 f. 105 Chomsky 1986, S. 12 f. 106 Als treibende Kraft für diese Forschungsrichtung wirkte vor allem die Informatik. 107 Croft/Cruse 2004, S. 2. 108 Lakoff/Johnson 2003, S. 3. S.a. David Lee: »Cognitivists argue that linguistic structure is a direct reflex of cognition in the sense that a particular linguistic expression is associated with a particular way of conceptualising a given situation« (Lee, D. 2001, S. 1). Insofern führt die kognitive Linguistik das Projekt der generativen Linguistik fort, wie aus Jackendoffs geradezu nostalgischem Rückblick hervorgeht: »the promise of the generative linguistics of my intellectual childhood: that the study of linguistic structure can provide an entrée into the com-
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eingeräumt hatte, dass sie auch im Bereich der Vorstellungen aktiv ist. Es ist das Verdienst von Lakoff und Johnson, mit ihrem knappen, populärwissenschaftlich konzipierten Band Metaphors We Live By sowie den nachfolgenden Arbeiten eine wenn auch keineswegs gänzlich neue, so doch vorher nicht so weitreichende und produktive Perspektive auf die kognitive Bedeutung der Metapher eröffnet zu haben. Die Metapher infiltriert bei ihnen die gesamte Welt der Vorstellungen und der Erfahrung. Lakoff und Johnson verstehen ihre Arbeiten als Beitrag zu einer breit angelegten, viele Disziplinen umfassenden Neuorientierung der Auffassung vom Menschen – es handelt sich um eine Episode der bis in die Antike zurückreichenden Auseinandersetzung um die Frage der Wahrheit und der menschlichen Relationen. Ihr Ziel ist die Infragestellung des rationalistischen »God’s Eye View«, den Johnson wie folgt vereinfachend zusammenfasst: The world is as it is, no matter what any person happens to believe about it, and there is one correct »God’s-Eye-View« about what the world really is like. In other words, there is a rational structure to reality, independent of the beliefs of any particular people, and correct reason mirrors this rational structure.109
In Gegensatz zu einem solchen rationalistischen, auf eine objektive Wahrheit bezogenen Modell von der Welt entwerfen sie ein holistisches, auf den Menschen ausgerichtetes Modell, demzufolge das rationale Denken in den körperlichen und imaginativen Fähigkeiten des Menschen seinen Grund hat.110 Diese Orientierung bestimmt die Fragestellungen. So geht es Johnson nicht um die Definition eines objektiven, absoluten Standards der Rationalität, sondern um das, was wirkliche Menschen als bedeutungsvoll begreifen.111 Ähnlich argumentiert George Lakoff: The traditional account claims that the capacity for meaningful thought and for reason is abstract and not necessarily embodied in any organism. […] In the new view, meaning is a matter of what is meaningful to thinking, functioning beings.
plexities of mind and brain« (Jackendoff 2002, S. xii). Dass dieser Ansatz allerdings eine lange Tradition hat, deutet Chomsky unter Bezug auf Leibniz an (Chomsky 1986, bes. S. 1 f.). Auch für die Ethnologie und Anthropologie ist dieser Ansatz grundlegend. So begründet Brown seine ausführliche Behandlung von Konstanten in der Sprache der »Universal People« wie folgt: »We would be very hard pressed to understand many aspects of the U[niversal] P[eople] without access to their thinking through their language« (Brown 1991, S. 130 f.). 109 Johnson, M. 1987, S. x. 110 »[…] a view of mind that is centered in the bodily and imaginative capacities of human beings« (Lakoff 1987, S. 586). Der Vorstellungskomplex von »to be centered in« hat im Deutschen kein genaues Äquivalent. Insgesamt ist die Darstellung von kognitiven Modellen extrem metaphernabhängig, wobei die Übertragung in eine andere Sprache zu einer zwangsläufigen Abwandlung des Modells führen kann. Dies soll hier nur konstatiert werden; verwiesen sei jeweils auf das Original. 111 Johnson, M. 1987, S. 11.
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The nature of the thinking organism and the way it functions in its environment are of central concern to the study of reason.112
Damit ist allerdings kein auf das Individuum beschränktes, rein subjektives Denken gemeint: Widerlegt werden soll nicht nur der Rationalismus beziehungsweise Objektivismus, sondern auch ein extremer Relativismus.113 Der allen Menschen gemeinsame, in der natürlichen Umwelt agierende Körper mit seinen Bewegungsabläufen, Wahrnehmungsprozessen und Erfahrungen sowie die Integration des Individuums in die menschliche Gemeinschaft sichern eine gemeinsame Basis für kulturspezifisches Denken und kulturspezifische Kommunikation. Lakoff und Johnson stellen sich mit ihrer Metapherntheorie in dezidierte Opposition zu der in der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie im allgemeinen Sprachverständnis verbreiteten Meinung, die Metapher sei ein Phänomen des von der Norm abweichenden und insbesondere des poetischen oder rhetorisch effektvollen Stils. Sie gehen davon aus, dass es zwar nicht-metaphorische Sprache gibt, insbesondere in der Vermittlung konkreter, physischer Erfahrung,114 dass jedoch bei abstrakten Vorstellungen metaphorische Konzeptualisierung und somit auch metaphorische Sprache die Norm ist. Sie verdeutlichen die Ubiquität der Metapher in der Alltagssprache und situieren sie primär in der Kognition, wobei sie über die Kognition auch im praktischen Handeln Anwendung findet: metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action. Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally metaphorical in nature.115
Das ›Wesen‹ der Metapher bestimmen sie nicht unter Bezug auf sprachliche ›Übertragung‹ oder die ›Substitution‹ eines Wortes (bzw. Ausdrucks) durch ein anderes, sondern psychologisch: »The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another.«116 Die kognitive Metapherntheorie interessiert sich nicht nur für deutlich metaphorische Alltagsidiome wie ›Zeit stehlen‹ oder gar poetische Metaphern wie ›Achilles ist ein Löwe‹, sondern auch für ganz unauffällige Metaphern, die oft als die einzig mögliche Form des Ausdrucks erscheinen, beispielsweise ›in dieser Woche‹ (DIE ZEIT IST EIN BEHÄLTER117). All diese Metaphern bergen die Mög112 Lakoff 1987, S. xi. 113 Vgl. Johnsons abschließende Auseinandersetzung mit der Frage des Realismus (Johnson, M. 1987, S. 194–212). Vgl. allerdings auch Lakoff, der sich unter Bezug auf die Whorfsche Tradition zu »einer der hunderten von Formen des Relativismus« bekennt (Lakoff 1987, S. 304–337, Zitat S. 334), aber einen »totalen Relativismus« ablehnt (ebd., S. 372). 114 Lakoff/Johnson 1999, S. 58 f. 115 Lakoff/Johnson 2003, S. 3. 116 Ebd., S. 5. 117 Mit Kapitälchen signalisieren Lakoff und Johnson und andere Vertreter der kognitiven Linguistik gedankliche Metaphern gegenüber sprachlich artikulierten Metaphern – »metaphorical concepts« gegenüber »metaphorical expressions« (ebd., S. 9; s. a. S. 6) beziehungsweise
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lichkeit, zu komplexen, auffälligen Metaphernkonstellationen erweitert zu werden. Andererseits können sie sich auch als explizite Verbindung zwischen unterschiedlichen Dingen manifestieren. Der Vergleich ›Zeit ist wie Geld‹ ist nicht grundsätzlich von der Metapher ›Zeit ist Geld‹ verschieden, sondern nur graduell: »A simile simply makes a weaker claim.«118 Die primäre Situierung der Metapher im Bereich der Kognition erhellt Lakoff und Johnson zufolge aus der Systematik von Alltagsmetaphern, die sie auf physiologische, psychologische beziehungsweise kulturelle Faktoren zurückführen.119 So ist es angesichts der Zentralität des Menschen in seinem Umgang mit der Welt psychologisch verständlich, dass Abstrakta häufig als belebte Wesen dargestellt werden oder in Form einer Personifikation gar als Mensch.120 Typischerweise ist in der Personifikation nicht der Mensch im allgemeinen thematisiert, sondern ein spezifischer Aspekt oder eine spezifische Qualität, wie aus den folgenden Beispielen hervorgeht:121 DIE INFLATION IST EIN FEIND (die Inflation bekämpfen, stoppen), EMOTIONEN SIND FEINDE (mich packte der Zorn, die Angst besiegen), DAS HOBBY IST EIN FREUND/EINE GELIEBTE (ein Freund guter Musik; Fußball ist seine große Liebe). Die Systematik von Alltagsmetaphern geht besonders deutlich aus ›Orientierungsmetaphern‹ hervor, die in der Beziehung zwischen Mensch und Raum gründen. Sie verleihen einem ganzen Begriffssystem eine Struktur, die typischerweise räumlicher Art ist: oben – unten, innen – außen, vorne – hinten, auf – unter, tief – flach (bzw. seicht, oberflächlich), zentral – peri-
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»concepts, rather than words« (Kövecses 2005, S. 3). Grundsätzlich problematisch ist die typographische Unterscheidung insofern, als es sich in beiden Fällen tatsächlich um sprachliche Formulierungen handelt und die ›gedankliche‹ Metapher genauso wie die ›sprachliche‹ Metapher als Ausdruck auftreten kann – eine Problematik, auf die Lakoff und Johnson nicht eingehen, zumal es ihnen nicht um die Grenze zwischen gedanklichen und sprachlich artikulierten Metaphern geht, sondern durchgängig primär um den gedanklichen Aspekt. Zu diesem Komplex s. u., S. 142 f. Lakoff/Turner 1989, S. 133. Vgl. Aristoteles: »Es ist aber auch das Gleichnis [Vergleich, KK] eine Metapher; denn der Unterschied zwischen beiden ist nur gering. Wenn man nämlich […] sagt: ›Wie ein Löwe stürzte er auf ihn‹, so ist es ein Gleichnis; sagt man aber: ›Ein Löwe stürzte auf ihn‹, dann ist es eine Metapher, weil beide nämlich tapfer sind, nannte man den Achilleus in übertragenem Sinne einen Löwen.« (Aristoteles 1995b, S. 176; III, 4, 1; 1406b). S.a. ebd., S. 190 (III, 10, 3; 1410b). S.a. Kövecses zu »nicht-sprachlichen Realisierungen konzeptueller Metaphern« (Kövecses 2002, S. 57): Sie dienen als Beweis für die Ubiquität der Metapher in unserem kulturellen Leben und als Beweis, dass Metaphern ein primär gedankliches, nicht sprachliches Phänomen sind. Im Kontext seiner traditionsträchtigen Klassifikation von Metaphern schreibt Quintilian personifizierenden Metaphern, die »gefühllosen Dingen ein Handeln und Leben verleihen«, besondere »Erhabenheit« und demnach Wirkkraft zu (Quintilian 1995, Bd. 2, S. 220–223; VIII, 6, 11 f.). Der Übergang zur hochpathetischen fictio personae oder prosopopoeia, bei der nichtpersonhafte Dinge als sprechende Figuren eingeführt werden (ebd., S. 280–283; IX, 2, 29–32), ist fließend (vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 411–413; §§ 826–829). Die Beispiele stammen von mir, unter Bezug auf Lakoff/Johnson 2003 und Lakoff/Johnson 2004.
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pher.122 Ihre psychologische Begründung finden sie in der räumlich erfahrenen Körperlichkeit des Menschen, so im aufrechten Gang des gesunden Menschen gegenüber dem Darniederliegen des kranken Menschen. Beispiele: GLÜCKLICH IST OBEN; TRAURIG IST UNTEN (Hochstimmung, in eine tiefe Depression verfallen), MEHR IST OBEN; WENIGER IST UNTEN (ein hohes Einkommen; unter 18 Jahren), MACHT/HOHER STATUS IST OBEN; MACHTLOSIGKEIT/ NIEDRIGER STATUS IST UNTEN (Oberschicht, das niedere Volk). Solche räumlichen Metaphern manifestieren sich oft ganz unauffällig, beispielsweise in einer Präposition; sie sind in unserem tagtäglichen Denken und Sprechen unvermeidbar und für unsere Konzeptualisierung abstrakter Zusammenhänge unerlässlich. Wenn Karl Eibl einerseits eine »angeborene Raumsemantik« voraussetzt, andererseits jedoch solche räumlichen Metaphern als herausragendes Beispiel für »täuschende Tropen« und »Denkfallen« versteht, so zeigt sich hierin ein philosophisch fundiertes Misstrauen gegen ein Phänomen, bei dem sich gedanklich-sprachliche Konvention im individuellen Denken bemerkbar macht.123 Dass die Unvermeidbarkeit solcher in unserem Denken und unserer Sprache tief eingebetteten Metaphern ethische Gefahren birgt, bemerken auch Lakoff und Johnson, ohne jedoch die Metaphorik selber moralisch negativ zu besetzen: »One must learn where metaphor is useful to thought, where it is crucial to thought, and where it is misleading. Conceptual metaphor can be all three.«124 Die kognitive Metaphernforschung hat zudem gezeigt, dass Metaphern auch für unsere ethischen Vorstellungen unerlässlich sind.125 Lakoff und Johnson vertreten überzeugend die Hypothese, dass die fundamentalsten Werte einer Kultur mit der metaphorischen Struktur der fundamentalsten Vorstellungen dieser Kultur kohärent sind.126 Beispiel für eine solche Kohärenz ist die Metapher ZEIT IST GELD, die systematisch mit den abstrakteren Metaphern ZEIT IST EINE BEGRENZTE RESSOURCE und ZEIT IST EIN KOSTBARES GUT zusammenhängt. Diese Metapher ist spezifisch für moderne industrielle Kulturen, in der Arbeit typischerweise aufgrund der benötigten Zeit quantifiziert und bezahlt wird. Zeit wird entsprechend als Ressource konzipiert, die man ›zählen‹, ›sparen‹, ›investieren‹ oder ›vergeuden‹ kann. Nach dieser konzeptuellen beziehungsweise kognitiven Meta122 Lakoff/Johnson 2003, S. 14–21. 123 Eibl 2004, S. 289–301. Bezeichnend für seinen philosophisch fundierten Ansatz ist sein Misstrauen gegenüber dem »kognitiven Gebrauch« von Metaphern in Form von Analogieschlüssen, den er vom »ornamentalen Gebrauch« unterscheidet und als »wahrscheinlich sogar ein ganzes Stück älter« einordnet (ebd., S. 289). Er räumt zwar die Nützlichkeit kognitiv verwendeter Metaphern für den »Erkenntniszuwachs« und »Informationstransfer« ein (ebd., S. 289 und S. 292), erörtert sie jedoch vor allem als »Denkfallen« (ebd., S. 292–301). 124 Lakoff/Johnson 1999, S. 73. 125 Lakoff/Johnson 2003, S. 250 (Nachwort). 126 Ebd., S. 22.
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pher127 handeln die Menschen, und die Alltagssprache vermittelt die Metaphern durch ihre Idiome: ZEIT IST GELD
Sie vergeuden meine Zeit. Dieses Gerät wird Ihnen viel Zeit ersparen. Dieser platte Reifen kostete mich eine Stunde. Ich habe viel Zeit in diese Frau investiert. Die Zeit ist knapp. Du musst mit deiner Zeit haushalten. Nimm dir Zeit zum Tischtennisspielen. Lohnt sich das zeitlich für dich? Haben Sie noch Zeit? Seine Tage sind gezählt. Du nutzt deine Zeit nicht optimal. Ich habe durch meine Krankheit viel Zeit verloren.128
Die konventionalisierten und im alltäglichen Umgang verwendeten Idiome dienen dem unmittelbaren Zweck der Kommunikation und vermitteln dem Individuum zugleich grundlegende Werte seiner gesellschaftlichen Umgebung. Dem entspricht auch die von Max Black dargelegte Beobachtung, dass die Wirkung von Metaphern auf konventionalisierten Bedeutungen beruht. So gründet die Wirkung der Metapher »›Der Mensch ist ein Wolf‹« nicht in der wirklichen Beschaffenheit von Wölfen, sondern in dem »System miteinander assoziierter Gemeinplätze [system of associated commonplaces]«, also Assoziationen wie »etwas Wildes, Raubtierhaftes, Verräterisches usw.«129 Es konzentriert sich in diesen Assoziationen das mentale Allgemeingut der jeweiligen Kultur. Dies hat auch den Effekt, dass die Bedeutung mit der Metapher ›gespeichert‹ und somit schnell abrufbar ist: »Entscheidend für die Wirksamkeit ist […] nicht, daß die Gemeinplätze wahr sind, sondern daß sie sich zwanglos und ohne Umstände einstellen.«130 Entsprechend kann auch bei der poetologischen Metaphorik davon ausgegangen werden, dass sie in Form von poetologischen Topoi auf einfache Weise etablierte Werte bezüglich der Dichtung zu kommunizieren vermag. Dies schließt 127 Die Begriffe gelten als synonym. In der englischsprachigen kognitiven Linguistik wird zumeist der Begriff »conceptual metaphor« verwendet, und in deutschsprachigen Arbeiten entsprechend »konzeptuelle Metapher«. Vgl. dagegen jedoch Drewer 2003, die den weniger ›fremdsprachlich‹ anmutenden Begriff »kognitive Metapher« verwendet; dieser hat auch den Vorteil, dass er weniger auf rationelles Denken spezialisiert erscheint. Ich schließe mich daher Drewer an. 128 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 7 f., sowie die dt. Übersetzung Lakoff/Johnson 2004, S. 16. Das ›System‹ einer Metapher charakterisieren sie mit dem jeweils spezifischsten Beispiel, also in diesem Fall ZEIT IST GELD auch für ZEIT IST EINE BEGRENZTE RESSOURCE und ZEIT IST EIN KOSTBARES GUT (vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 9). 129 Black 1996a, S. 70 f. 130 Ebd., S. 71.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
allerdings keineswegs aus, dass der jeweilige Einsatz solcher Topoi diese Werte durch Abwandlung, Verkehrung oder Ersetzung des Topos fragwürdig machen kann, um neue Werte durchzusetzen. Die Metapher ZEIT IST GELD ist ein überzeugender Beleg für Lakoff und Johnsons These, dass die Alltagssprache grundlegend von Metaphern geprägt ist und dass solche Metaphern fundamentale kulturelle Werte vermitteln. Anhand dieses Beispiels lässt sich auch verfolgen, wie eine Metapher, die im Alltagsleben verankert ist und in der Alltagssprache Ausdruck findet, literarisch wirksam werden kann.131 Es ist kein Zufall, dass gerade diese für kapitalistische Gesellschaftsformen zentrale Metapher ein kulturkritisches Kultbuch hervorgebracht hat: Michael Endes »Märchen-Roman« Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.132 Schon mit dem Titel wird eine ›tote‹ Metapher ›belebt‹, die in Ausprägungen wie ›eine Zeit raubende Arbeit‹ und ›jemandem die Zeit stehlen‹ Teil des gemeinschaftlichen Sprach- und Kulturguts ist. Deutlich wird auch aus dem Titel, dass der sprachliche Ausdruck nicht unveränderbar ›fest‹ ist, sondern sich abwandeln lässt und gerade durch den Prozess der Abwandlung gedanklich stimulierend wirkt, weil er die wörtliche Bedeutung bewusst macht und damit einen kreativen Spielraum öffnet. Dem Leser wird in dem Roman vermittelt, wie die für unsere Gesellschaft typische Vorstellung von Zeit als Geld alternative Vorstellungen von Zeit verdrängt und damit die erfüllte Zeit selbst vernichtet: »Eine gespenstische Gesellschaft grauer Herren veranlasst immer mehr Menschen, Zeit zu sparen. In Wirklichkeit werden die Menschen jedoch um ihre ersparte Zeit betrogen.«133 Die Wirkung des Romans dürfte darin beruhen, dass Ende es verstanden hat, diese Metapher zum komplexen narrativen Prozess auszugestalten, bei dem das Abstraktum ›Zeit‹ zum kostbaren Schatz wird und ›gute‹ und ›böse‹ Mächte auf den Plan ruft. Das spezifisch moderne Problem der Entfremdung erscheint auf diese Weise im Rahmen bekannter narrativer Muster greifbar und besiegbar. Das Buch ist als Märchen und als Allegorie lesbar und spricht dadurch zugleich Kinder und Erwachsene an.134 Alternative, der westlichen Zivilisation entgegengesetzte Vorstellungen von Zeit werden nach romantischem Vorbild durch gesellschaftliche Außenseiter erprobt, um die Phantasie des Lesers für neue/alte Möglichkeiten zu sen131 Vgl. ausführlich zu diesem Thema unter Bezug auf Lyrik Lakoff/Turner 1989. 132 Ende 2002 (Erstauflage 1973). Auf dem hinteren Buchdeckel wird das Werk als »Welterfolg« und »Kultbuch von Generationen« bezeichnet. 133 Ebd., Buchdeckel. 134 Lohnend wäre in Bezug auf die literarische Verwendung jeweils kulturell zentraler Metaphorik ein Vergleich zwischen Endes Buch und der 1678–1684 erschienenen christlichen Allegorie »The Pilgrim’s Progress« von John Bunyan (dt.: »Eines Christen Reise nach der Seeligen Ewigkeit«, 1685) – auch dies ein Welterfolg.
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
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sibilisieren. Die Heldin ist ein Kind ohne Anbindung an Familie und Gesellschaft, das ›naturhafte‹ menschliche Werte durchzusetzen vermag, weil es die für die moderne westliche Kultur typische Vorstellung von Zeit nicht verinnerlicht hat und dadurch gegen die ›Zeit-Diebe‹ gefeit ist. Ziel des Buches ist es, dem Leser eine handlungsrelevante Denkgewohnheit bewusst zu machen und darüber eine Bewusstseins- und letztlich Handlungsänderung herbeizuführen; selbstreflexiv wird allein schon der Akt des (Vor-)Lesens zu einer menschengerechten Erfüllung der Zeit. Die Wirkung des Buches gründet in der phantasievollen, mythisch elaborierten Auseinandersetzung mit kulturell strukturierten westlichen Denkmustern, die sich im allgemeinen deutschen Sprachgut manifestieren. Deutlich wird aus dem Buch die kreative und kritische Produktivkraft einer Abwandlung und Extension konventionalisierter Metaphorik – einer Metaphorik, in der mentale Prozesse, artikulierbare sprachliche Prozesse und potenziell auch Handlungen verquickt sind. Aus der Perspektive der kognitiven Linguistik haben Metaphern ihre Basis in unseren Erfahrungen mit unserer physischen Umwelt, und sie dienen vor allem dazu, abstrakten Bereichen unter Bezug auf konkret physische Bereiche eine Struktur und einen Sinn zu verleihen.135 Insofern haben Metaphern typischerweise eine spezifische ›Richtung‹ beziehungsweise ein ›Ziel‹, wie Kövecses betont: »Conceptual metaphors are unidirectional: they go from concrete to abstract domains; the most common source domains are concrete, while the most common targets are abstract concepts.«136 Dem entspricht seine Liste von besonders häufigen ›Herkunfts-‹ und ›Zielbereichen‹ (zitiert wird jeweils eines der von Kövecses angeführten englischsprachigen Beispiele sowie ein ähnliches deutschsprachiges Beispiel137): Herkunftsbereiche:
• •
der menschliche Körper (to shoulder a responsibility; die Verantwortung schultern) Gesundheit und Krankheit (she hurt my feelings; ihre Bemerkung hat mich tief verletzt)
135 Zur sinnstiftenden Funktion von Metaphern in verschiedenen Bereichen des Lebens vgl. Geideck/Liebert 2003. 136 Kövecses 2002, S. 25. 137 Deutschsprachige Beispiele wurden unter Bezug auf Duden 1999 gewählt – nicht immer in genauer Entsprechung zum englischsprachigen Beispiel, da es um den semantischen Bereich der Metapher, nicht die sprachliche Äquivalenz geht; allerdings ist bemerkenswert, wie sehr sich die alltagssprachlichen Metaphern in den beiden Sprachen entsprechen. Diese Entsprechung lässt sich als Resultat ihrer sprachhistorischen Nähe begreifen oder – wohl plausibler – als Resultat einer weitgehend ähnlichen, mentalgeschichtlich verbundenen Kultur, die sich in ähnlichen Denkmustern manifestiert und daher in ähnlichen Metaphern zur Sprache kommt.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Tiere (she is a cow; sie ist eine dumme Kuh) Pflanzen (he cultivated his friendship with her; er hat seine Freundschaft mit ihr kultiviert) Gebäude und deren Errichtung (he’s in ruins financially; er ist finanziell ruiniert) Maschinen und Werkzeuge (conceptual tools; er war ein gefügiges Werkzeug der Partei) Spiele und Sport (he tried to checkmate her; er hat sie schachmatt gesetzt) Geld und Wirtschaft (she invested a lot in the relationship; sie hat viel in die Beziehung investiert) Kochen und Lebensmittel (a recipe for success; ein Erfolgsrezept) Hitze und Kälte (an icy stare; ein eisiger Blick) Helligkeit und Dunkelheit (a dark mood; eine dunkle Vorstellung) Kräfte (you’re driving me nuts; du treibst mich zur Verzweiflung) Bewegung und Richtung (inflation is soaring; die Inflation steigt)
Zielbereiche:
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Gefühle (she was deeply moved; sie war tief bewegt) Wunsch und Lust (she is hungry for knowledge; Wissensdurst) Moral (I’ll pay you back for this; das werd’ ich dir zurückzahlen) Denken (I see your point; ich sehe, was du meinst) Gesellschaft/Nation (neighboring countries; Nachbarländer) Politik (the fight erupted over abortion; der Kampf gegen den Hunger) Wirtschaft (the growth of the economy; Wirtschaftswachstum) menschliche Beziehungen (they had to work on their relationship; sie haben ihre Beziehung abgebrochen) Kommunikation (you are putting too many ideas into a single sentence; du packst zu viel in einen Satz) Zeit (time goes by fast; die Zeit geht schnell vorüber) Leben und Tod (his father passed away; sein Vater ist entschlafen) Religion ([God is conceptualised as a person, e.g.:] Father, King; Vater unser, der du bist im Himmel) Ereignisse und Handlungen (she has reached her goals in life; sie hat ihr Lebensziel erreicht)
Während die von Kövecses angeführten Herkunftsbereiche alle einen konkret physischen Aspekt haben, sind die Zielbereiche eher abstrakt und ohne physisch wahrnehmbare Struktur. Die Aufgabe der Metapher ist es, ihnen eine vorstellbare Struktur zu geben, die es wiederum dem Menschen ermöglicht, sie zu ›verstehen‹, mit ihnen ›umzugehen‹ und den eigenen Bezug zu ihnen für andere nachvollziehbar zu machen.
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
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Entsprechend ist die ›Richtung‹ vom Konkreten zum Abstrakten im wissenschaftlichen Umgang mit dem etablierten Wortschatz maßgebend: Ein Wörterbuch führt zunächst die ›wörtliche‹ Bedeutung an, die typischerweise einen physischen Aspekt hat und als konkret verstanden wird, und dann die ›übertragene‹ Bedeutung, die typischerweise abstrakte Zusammenhänge betrifft. Im Duden wird dieses Prinzip aus der Anordnung der Bedeutungen des Verbs ›ausnehmen‹ ersichtlich: Sie führen von den physischen Bedeutungen »aus einem Nest o. Ä. herausnehmen, wegnehmen« (Bedeutung 1.a) und »die Eingeweide aus einem geschlachteten od. erlegten Tier entfernen« (Bedeutung 2.a.) zu übertragenen Bedeutungen wie »jmdm. auf listige od. hinterhältige Weise Geld abnehmen; schröpfen« (Bedeutung 3.a) und »auf dreiste Art aushorchen, ausfragen« (Bedeutung 3.b).138 Vorausgesetzt ist in diesen übertragenen Bedeutungen die Vorstellung vom Menschen als Behälter, der Geld und Informationen ›enthält‹. Den lexikographischen Erklärungen der Duden-Redaktion zufolge handelt es sich bei solchen semantischen Unterscheidungen um eine hierarchische Beziehung zwischen einer vorausgesetzten, aber nicht diskutierten ›Hauptbedeutung‹ und »Unterbedeutungen« beziehungsweise »Nebenbedeutungen«.139 Der Begriff der ›Übertragung‹ kommt – ganz in Einklang mit aristotelischen Prämissen – nur auf pragmatischer Ebene in Bezug auf die »Anwendungsbeispiele« zum Tragen: Die Beispiele, die die konkrete Bedeutung zeigen, stehen an erster Stelle. Ihnen folgen, mit Ü angekündigt, die Beispiele mit übertragener Bedeutung: Netz, das; -es, -e […] 1. a) Gebilde aus geknüpften Fäden, Schnüren o. Ä., deren Verknüpfungen meist rautenförmige Maschen bilden: ein feines, weit-, grobmaschiges N.; ein N. knüpfen; […] Ü ein N. von fein gesponnenen Intrigen; ein N. von Beziehungen knüpfen; sie wollte das N. der Lügen zerreißen […].140
Die Verwendung des Wortes »Bedeutung« in der Erklärung zeigt allerdings, dass es sich auch hier – wie bei den abstrakteren Bedeutungen des Verbs ›ausnehmen‹ – um einen semantischen Prozess handelt, der sich nicht nur im spezifischen »Textzusammenhang« manifestiert,141 sondern der auf systematische Weise abstrakten Zusammenhängen eine vorstellbare Form verleiht. Hinsichtlich ihrer Metaphorizität besteht somit grundsätzlich kein Unterschied zwischen ›jemanden ausnehmen‹ (schröpfen) und ›Netz‹ (komplexe Verbindungen zwischen Abstrakta). In beiden Fällen ermöglicht der Bezug auf den physischen Prozess beziehungsweise das physische Objekt dem Sprecher sowie dem Rezipienten die mentale Strukturierung von etwas Abstraktem. 138 Duden 1999, Bd. 1, S. 400 (ausnehmen). 139 Ebd., S. 38 (Anlage und Aufbau der Wörterbuchartikel; […] Bedeutungsangaben (Definitionen)). 140 Ebd., S. 39 (Anwendungsbeispiele). 141 Ebd.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Wenn auch die von Kövecses konstatierte ›Richtung‹ der Metapher vom konkreten Herkunftsbereich zum abstrakten Zielbereich auf einen Großteil metaphorischer Prozesse zutrifft, so vermag sie nicht den schon von Quintilian hervorgehobenen Typus der ›belebenden‹ Metapher und der Personifikation zu erklären. Auch hier spielt offenbar die physische Erfahrung des Menschen eine zentrale Rolle: Sie manifestiert sich darin, dass er das ›unbekannte‹, ›tote‹ Ding durch ein ihm ›näher‹ stehendes, positiver erfahrenes, ›belebtes‹ Ding oder gar durch ein menschliches Gegenüber ersetzt und sich damit die Möglichkeit einer direkten Beziehung beziehungsweise verständnisfördernden Identifikation eröffnet. Die von Kövecses beschriebene ›Richtung‹ ist dann möglicherweise dahingehend zu modifizieren, dass der Mensch das Bekannte oder ›Naheliegende‹ dazu benutzt, das Unbekannte oder ›Entfernte‹ in seine ›Welt‹ zu integrieren oder, andersherum, dass er sich dadurch Zugang zur unbekannten Welt verschafft. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Wirkung der Metapher auf die Emotionen, die wiederum durch die Stimulierung der für physische Impulse aufnahmefähigen Sinne verstärkt wird: Wie schon die rhetorische Metapherntheorie betont, vermag die Metapher »auf das Gefühl zu wirken«.142 Erzeugen lässt sich durch die Metapher somit psychologisch gesehen physische Konkretheit, Klarheit der Struktur und/oder ein Gefühl der zugleich physischen und emotionalen Nähe.143 Allerdings ist zu betonen, dass besonders in der Lyrik auch mit komplexen ›Interaktionen‹ zu rechnen ist. Die spezifische Wirkung einer Metapher ergibt sich immer erst aus der spezifischen Konstellation zwischen Herkunftsbereich, Zielbereich und Kontext; da metaphorische Sprache wohl als semantisch komplexester Aspekt der Sprache zu gelten hat, dürfte gerade hier jede Verallgemeinerung nur in sehr groben Zügen erhellend sein. Die traditionellen Klassifikationen, die die Metapher betreffen, greifen aus kognitiv orientierter Perspektive nur bedingt. So wurde bereits oben deutlich, dass die Metapher in der kognitiven Linguistik als allgemeinster Terminus verwendet wird, statt als nur eine von mehreren Tropen zu gelten, und dass der Vergleich als ›schwache‹ Form der Metapher verstanden wird, statt grundsätzlich von ihr unterschieden zu werden. Anders steht es mit der Metonymie: Sie wird zwar im Rahmen der Metapherntheorie behandelt, weil sie nicht nur sprachlich, sondern auch im Denken wirksam ist und weil
142 Quintilian 1995, S. 224 f. (VIII, 6, 19). Auch Aristoteles diskutiert die Metapher in Zusammenhang mit dem »Vor-Augen-Führen« und der psychologischen »Wirksamkeit« (Aristoteles 1995b, S. 193–197; III, 11, 1–10) – wobei auf die terminologischen Definitionen und Entsprechungen in diesem hochkomplexen Bereich hier nicht eingegangen werden kann. Zum visuellen Aspekt dieser Wirkung s. u., Kap. II/6. Zum Bezug zwischen Metapher und Emotionen vgl. Kövecses 2000. 143 S.u., Kap. II/6.
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
135
sie eine kognitive Systematik aufweist, sie gilt jedoch hinsichtlich ihrer Funktionsweise als grundsätzlich von der Metapher verschieden.144 Definiert wird die Metonymie grundsätzlich wie in der römischen Rhetorik;145 zugerechnet wird ihr die Synekdoche als »Sonderfall der Metonymie«.146 Während die Metapher sich aus zwei unterschiedlichen Bereichen konstituiert – dem ›Herkunftsbereich‹ und dem ›Zielbereich‹ –, konstituiert sich die Metonymie aus zwei Einheiten eines Bereichs147 beziehungsweise aus einer ›Trägereinheit‹ (vehicle entity) und einer ›Zieleinheit‹ (target entity), die im konzeptuellen ›Raum‹ nahe beieinander liegen.148 Anders als die Metapher lässt sich die Metonymie nicht als Vergleich ausdrücken, denn sie beruht nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Kontiguität im konzeptuellen ›Raum‹. Die metonymische Fokussierung dient beispielsweise dazu, Wertungen zu vermitteln, Verantwortung zuzuschreiben oder symbolische Bedeutung hervorzuheben: DER TEIL FÜR DAS GANZE (›Er ist ein intelligenter Kopf ‹ – d. h. Mensch), ERZEUGER FÜR ERZEUGNIS (›Er kauft sich einen Ford‹ – d. h. ein von dem Unternehmen Ford hergestelltes Auto), AUTOR FÜR WERK (›Ich lese gerade Shakespeare‹ – d. h. ein Werk von Shakespeare), INSTITUTION FÜR VERANTWORTLICHE MENSCHEN (›Der Bundestag hat gegen den Gesetzentwurf gestimmt‹ – d. h. die Mitglieder des Bundestags). Als Form der Metonymie fassen Lakoff und Johnson auch kulturelle und religiöse Symbolik, z. B. DIE TAUBE FÜR DEN HEILIGEN GEIST: Als Vogel gehört sie dem Himmel an, dem Raum des Heiligen Geistes, und sie kommt typischerweise aus dem Himmel, um sich zwischen den Menschen niederzulassen.149 Während die Metapher vornehmlich dazu dient, ein Ding oder einen Aspekt eines Dings mittels eines anderen Dings aus einem anderen konzeptuellen Bereich vorstellbar und kommunizierbar zu machen, hat die Metonymie typischerweise die Funktion, innerhalb eines konzeptuellen Bereichs die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt eines Dings zu fokussieren oder ein Ding über seinen funktionalen Zusammenhang mit einem konzeptuell verwandten Ding ›zugänglich‹ zu machen:
144 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 35–40 und 265 f. (Nachwort); Kövecses 2002, S. 143–161. 145 Lakoff/Johnson 2003, S. 35–40, bes. S. 38 f. Vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 292–295 (§§ 565–571). 146 Lakoff/Johnson 2003, S. 36. Vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 295–298 (§§ 572–577). 147 Lakoff/Johnson 2003, S. 265. 148 Kövecses 2002, S. 145. 149 Lakoff/Johnson 2003, S. 40. Hier ist allerdings auch ein Prozess metaphorischer Übertragung vorausgesetzt: Basis ist die Vorstellung vom geistigen ›Raum‹ Gottes als Entsprechung zum physisch wahrnehmbaren Himmel – wobei die Konzeption des ›oben‹ situierten, als behälterartiger ›Raum‹ konzipierten physischen Himmels an sich schon metaphorisch ist. Deutlich wird hier wieder die Abhängigkeit der Definition von Metaphorizität vom physischen Standpunkt und von geistig-kulturellen Voraussetzungen (vgl. dazu unter Bezug auf die Konzeptualisierung von Emotionen Kövecses 2002, bes. S. 189).
136
II. Das kreative Potenzial der Metapher
The main function of metonymy seems to be to provide mental, cognitive access to a target entity that is less readily or easily available; typically, a more concrete or salient vehicle entity is used to give or gain access to a more abstract or less salient target entity within the same domain.150
Wie die Metapher dient die Metonymie somit tendenziell dazu, das Abstraktere, weniger leicht fassbare durch das Konkrete fassbar zu machen. Sie verfährt jedoch gewissermaßen ›vertikal‹ innerhalb eines konzeptuellen Bereichs statt ›horizontal‹ zwischen Bereichen – eine Unterscheidung, bei der allerdings zu berücksichtigen ist, dass solche ›Bereiche‹ metaphorischer Art sind, wodurch sich die Klarheit der Unterscheidung und die Eindeutigkeit der ›Richtung‹ relativiert. Je größer die konzeptuelle ›Distanz‹ beziehungsweise Differenz, desto eindeutiger ist grundsätzlich der Unterschied zwischen Metapher und Metonymie, wobei die ausgeprägt analogische Metapher tendentiell am deutlichsten von der Metonymie unterschieden ist. Die Abgrenzung von der Metapher ist nicht zuletzt deshalb fließend, weil Metaphern aus Metonymien entstehen oder damit interagieren können151 und somit Kontext und Interpretation eine Rolle spielen. Auch hinsichtlich der kognitiven Funktion bestehen keine eindeutigen Grenzen, zumal die Metapher der Fokussierung von Teilaspekten dienen kann. Denn typischerweise ist metaphorische Strukturierung partiell: Wäre sie absolut, so wäre der Grenzwert der Identität erreicht. Daraus erklärt sich auch, dass die Sprache für einen Zielbereich typischerweise mehrere Herkunftsbereiche zur Verfügung stellt – zum Beispiel ZEIT IST EIN SICH BEWEGENDES OBJEKT und ZEIT IST GELD. Die Metapher fokussiert einen Aspekt des Zielbereichs, während andere Aspekte im Hintergrund verschwinden:152 So beruht die Wirkung der Metapher POLITIK IST KRIEG (Wahlkampf; politische Strategie) darauf, dass die Politik ›eigentlich‹ nicht mit Krieg identisch ist und dass unter Ausblendung anderer Aspekte das Moment der Konkurrenz fokussiert wird. Der Unterschied zur Metonymie ist hier, dass ›Krieg‹ nicht ›für Politik steht‹, sondern durch die vorausgesetzte Differenz sowie die (konventionelle beziehungsweise rhetorisch behauptete) Ähnlichkeit den Aspekt der Konkurrenz verdeutlicht. Während die antik fundierte Klassifikation der Tropen in der kognitiven Metapherntheorie mit Abwandlungen erhalten bleibt, wird die von Quintilian etablierte ›interne‹ Klassifikation von stilistischen Metaphern mittels der Unterscheidung zwischen ›Belebtem‹ und ›Unbelebtem‹ nicht weitergeführt, und es hat sich bislang keine alternative Klassifikation kognitiver Metaphern durchgesetzt. Kövecses betont die Möglichkeit unter150 Kövecses 2002, S. 148. 151 Vgl. ebd., S. 156–160. S. a. oben, S. 135, bes. Anm. 149. 152 Vgl. zu »highlighting and hiding« Lakoff/Johnson 2003, S. 10–13.
4. Die Metapher im Bereich der Kognition
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schiedlicher Klassifikationen: »conventionality, function, nature, and level of generality of metaphor«.153 Wichtig ist vor allem die Unterscheidung hinsichtlich des Konventionalitätsgrades, die sich als ›Skala‹ oder als ›Spektrum‹ fassen lässt,154 wobei sprachlich konventionelle Metaphern auf konventionalisierte Denkmuster schließen lassen. Die Vorstellung von einer ›Skala‹ ist insofern hilfreich, als davon ausgegangen werden kann, dass die konventionalisierten Metaphern ›tief‹ im ›Unter‹-Bewusstsein eingebettet sind, die unkonventionellen dagegen eher bewusst verarbeitet werden müssen. Die Vorstellung von einem ›Spektrum‹ erlaubt dagegen die Vorstellung von einem ›Übergang‹ innerhalb des Gehirns zwischen konventionellen, lexikalisierten Metaphern und unkonventionellen, kreativen Metaphern; dieses Modell wird hier vorgezogen, da sich dafür eine gewisse Bestätigung in der Hemisphärenforschung findet.155 Eine Kategorisierung nach kognitiver Funktion wäre für gegenwärtige Zwecke prinzipiell am relevantesten. Die 1980 von Lakoff und Johnson etablierte und 2002 von Kövecses übernommene Klassifikation nach den Kategorien ›ontologische Metaphern‹, ›Strukturmetaphern‹ und ›Orientierungsmetaphern‹ ist jedoch wenig hilfreich, und die Unterscheidung wird von Lakoff und Johnson in ihrem 2003 publizierten Nachwort zur Neuauflage von Metaphors We Live By als »künstlich« ad acta gelegt.156 Alle Metaphern verleihen Struktur;157 darüber hinausgehende kognitive Funktionen sind kontextspezifisch und dürften sich kaum sinnvoll allgemein bestimmen lassen. Unter Bezug auf den Charakter und den Allgemeinheitsgrad der Metapher wird in der kognitiven Metapherntheorie eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Metaphern und einfacheren »Bildschemata« (image-schemas) beziehungsweise »bildschematischen Metaphern« (imageschematic metaphors) vorausgesetzt:158 Es handelt sich hierbei um einfache Strukturen, die auf fundamentalen physischen Erfahrungen basieren – z. B. Kontakt, Bewegung, Kräfte – und die in komplexeren Metaphern und Szenarien weiter ausgestaltet werden können, so der ›Weg‹ in der Metapher ›Reise‹. Auf solche Strukturen soll unten näher eingegangen werden, da sie 153 154 155 156
Kövecses 2002, S. 29–40, Zitat S. 29. Kövecses benutzt die Metapher »scale of conventionality« (ebd., S. 31). S.u., S. 155–158. Lakoff/Johnson 2003, S. 264 (Nachwort). In der Rezeption von Lakoff und Johnsons grundlegendem Werk werden jeweils unterschiedliche Revisionen der ursprünglichen Klassifikation vorgenommen und insbesondere in der deutschsprachigen Rezeption diachronische Bezüge zu Ansätzen von Kant, Blumenberg, Weinrich und anderen diskutiert. Zur deutschsprachigen Rezeption vgl. bes. Liebert 1992, Baldauf 1997, Drewer 2003 und Jäkel 2003, wobei jeweils auch das Beispielmaterial hilfreich ist. 157 Lakoff/Johnson 2003, S. 264 (Nachwort). 158 Vgl. Lakoff 1987; Johnson, M. 1987; Kövecses 2002, S. 36–38. Auf Johnsons BildschemaBegriff wird unten eingegangen, s. Abschnitt II/7.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
die Beziehung zwischen körperlicher Erfahrung, Denken und Sprache verdeutlichen. Inwieweit es allerdings sinnvoll ist, grundsätzlich zwischen dem Bildschema ›Weg‹ und der Metapher ›Reise‹ zu unterscheiden, ist fraglich, da jede einfache Metapher sich komplex ausgestalten lässt und komplexe Metaphern sich prinzipiell immer auf einfache Strukturen zurückführen lassen. Bezeichnenderweise hebt Kövecses in Zusammenhang mit seiner Liste von ›Herkunftsbereichen‹ insgesamt deren ›Einfachheit‹ hervor und bemerkt, dass sie gerade deshalb ihre kognitive Funktion so gut erfüllen können: »This is an extremely simplified world, but it is exactly the simplified nature of this world that enables us to make use of parts of it in creating more abstract ones.«159 Somit wäre eine Tendenz zur Einfachheit nicht nur für ›Bildschemata‹ typisch, sondern für die projizierten Strukturen insgesamt – wobei sich diese Strukturen andererseits je nach Bedarf unbegrenzt verkomplizieren lassen. Eine grundsätzliche Unterscheidung unter Bezug auf den Komplexitätsgrad führt somit an der Natur metaphorischen Denkens und Sprechens vorbei. Insgesamt ist für gegenwärtige Zwecke ohnehin weniger eine Klassifikation von Metaphern notwendig als ein Verständnis für die Prinzipien metaphorischer Prozesse und für ihre kognitiven und kommunikativen Funktionen. Insgesamt ist mit Cicero davon auszugehen, dass es »nichts auf der Welt [gibt], dessen Bezeichnung, dessen Namen wir nicht in anderem Zusammenhang gebrauchen können«.160 Damit steht der Metapher die ganze Welt offen. Lakoff und Johnson situieren in Metaphors We Live By die Metapher im Zentrum des Denkens und verbinden sie grundsätzlich mit allen mentalen und körperlichen Fähigkeiten und Erfahrungen des Menschen in seiner Umwelt. Die Metapher erhält auf diese Weise eine geradezu unbegrenzte kognitive Macht.
5. Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache Während die kognitive Linguistik der Metapher ein immenses mentales Potenzial zugesteht, birgt die fast ausschließliche Fokussierung des mentalen Aspekts die Gefahr einer Vereinfachung des sprachlichen Prozesses.161 Da 159 Kövecses 2002, S. 20. 160 Cicero 1976, S. 546 f. (III, 40, 161). 161 Eine ähnliche Tendenz zur ausschließlichen Privilegierung des mentalen Aspekts wie in der generativen Linguistik geht aus der Argumentationsführung von Croft und Cruse hervor, wenn sie das Forschungsgebiet der kognitiven Linguistik dadurch bestimmen, dass sie den gesamten lautlichen Aspekt der Sprache als »basically conceptual« auffassen und die kognitiven Prozesse metaphorisch zum Prozessor machen: »Sounds and utterances must be compre-
5. Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache
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die kognitive Linguistik wie schon die generative Linguistik die artikulierte Sprache primär als Beweismaterial für kognitive Prozesse benutzt, erstaunt es nicht, wenn die gleiche Trennung, die Chomsky zwischen äußerer ›E-Sprache‹ und innerer ›I-Sprache‹ vollzieht,162 in der kognitiven Metapherntheorie wiederkehrt. Verfolgen lässt sich diese Trennung in George Lakoffs Rezeption des grundlegenden Artikels von Michael Reddy zur metasprachlichen Metaphorik. In seinem Beitrag The conduit metaphor in Andrew Ortonys wichtigem Band Metaphor and Thought von 1979 lenkt Reddy Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass auch bei umsichtigster Verwendung der Sprache eine Verwendung der von ihr vorgegebenen Metaphern nicht vermieden werden kann und dass auch die Metasprache metaphernabhängig ist.163 Es geht in dem Artikel um eine Metapher, die sowohl im Englischen als auch im Deutschen die Vorstellung von Kommunikation bestimmt und von Baldauf wie folgt umschrieben wird: »Kommunikation ist Informationsaustausch nach Rohrpost-Prinzip (sprachliche Ausdrücke sind Behälter für [gegenständliche] Gedanken und Bedeutungen).«164 Diese Metapher wird beispielsweise mit der Vorstellung vom »Inhalt« eines gesprochenen Satzes vorausgesetzt: Der Sprecher legt die als Objekt konzipierten Gedanken in einen Behälter und schickt sie physisch an den Hörer, der sie in unveränderter Form und ohne weiteren Energieaufwand aus dem Behälter herausnimmt. Die Rohrpostmetapher beruht auf der Vorstellung – und vermittelt zugleich die Vorstellung – dass menschliche Kommunikation den physischen Transfer von Gedanken und Gefühlen erreicht. Reddy kommt zu dem Schluss, dass im Englischen etwa siebzig Prozent der zur Verfügung stehenden metasprachlichen Ausdrücke die Rohrpostmetapher voraussetzen und dass diese Metapher für die Kommunikation über Sprache unerlässlich ist: No speaker of English, not even your author, has discarded the conduit metaphor. […] The logic of the framework runs like threads in many directions through the syntactic and semantic fabric of our speech habits. Merely becoming cognizant of this in no way alters the situation. Nor does it appear that one can adopt a new framework and develop it while ignoring the cloth of the language. For everywhere
hended and produced, and both of those processes involve the mind. Sounds and utterances are the input and output of cognitive processes that govern speaking and understanding« (Croft/Cruse 2004, S. 2). Eine Auseinandersetzung besonders mit Lakoffs Metapherntheorie bietet Coenen, der sie als »Kontrastfolie« für seinen eigenen, auf die Sprache fokussierten Metaphernbegriff versteht (Coenen 2002, S. 207–239). Für den im Folgenden vorgelegten Ansatz hilfreicher sind die klugen Ausführungen von Linz zur »Rhetorizität der Kognition und ihrer Modellierung in der kognitiven Linguistik« (Linz 2004, Titel). 162 S. o., S. 123 f. 163 Reddy 1993, S. 164–201. Es handelt sich hier um einen unveränderten Abdruck des Aufsatzes aus der 1979 veröffentlichten Erstauflage von Ortony 1993a. 164 Baldauf 1997, S. 337.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
one runs into the old threads, and each one pushes conversation and thought back a little way toward the established pattern.165
Reddy geht es darum, den Leser für die »Pathologie« der englischen Metasprache zu sensibilisieren und den Auswirkungen dieser Metapher für die zwischenmenschliche Kommunikation bis in den politischen Bereich hinein nachzuspüren.166 Die Rohrpostmetapher ist ein Jahr später ein zentrales Beispiel in Lakoff und Johnsons Metaphors We Live By.167 Die 1993 publizierte, erweiterte Neuauflage von Ortonys Band bietet dann einen programmatisch betitelten Artikel von dem zwischenzeitlich zum Metaphernguru avancierten George Lakoff: Sein Beitrag The contemporary theory of metaphor liefert unter Ausblendung der Komplexität früherer Metapherntheorien die definitive Aussage zum Stand der Forschung.168 Einleitend bietet er eine »Homage to Reddy«,169 in der allerdings Reddys Beobachtungen eine entscheidende Umwandlung erfahren haben, denn Lakoff priorisiert hier den kognitiven Aspekt der Metapher, um den sprachlichen Aspekt aus der Theorie zu eliminieren: The contemporary theory that metaphor is primarily conceptual, conventional, and part of the ordinary system of thought and language can be traced to Michael Reddy’s […] now classic essay. […] Reddy showed, for a single, very significant case, that the locus of metaphor is thought, not language, that metaphor is a major and indispensable part of our ordinary, conventional way of conceptualizing the world, and that our everyday behavior reflects our metaphorical understanding of experience.170
165 Reddy 1993, S. 176. Er geht von der Existenz »metaphorisch neutraler« Ausdrucksformen aus, ohne dies auszuführen (ebd, S. 177); entsprechend gründet seine Theorie, dass es sich bei der Rohrpostmetapher um ein »semantisch pathologisches« Phänomen handle (ebd., S. 176–184), in der Prämisse, dass es eine ›gesunde‹ Metasprache gibt. Aus der Perspektive einer kognitiven Metapherntheorie ist eine solche Neutralität jedoch ausgeschlossen. 166 Reddy 1993, S. 176 u.ö. 167 Lakoff/Johnson 2003, S. 11 f. u.ö. Diese Metapher bildet auch den Ausgangspunkt für die Relevanztheorie: Sperber/Wilson 1995, S. 1 und S. 255 (Anm. 1). 168 Lakoff 1993. Vgl. den Abschnitt »Traditional false assumptions«, ebd., S. 204 f. Baldauf hebt die wiederholte Kritik an Lakoff und Johnsons »mangelnder Berücksichtigung älterer, relevanter Literatur, die Grundgedanken des kognitiven Metaphernverständnisses bereits erkennen lassen«, hervor (Baldauf 1997, S. 285, mit zahlreichen Belegen). Sie selbst liefert einen kurzen »Rückblick«, der abgesehen von einer Erwähnung von Giovanni Battista Vico gerade bis zum späten 19. Jahrhundert zurückreicht und auf deutsche Arbeiten beschränkt bleibt (Hermann Paul, Philipp Wegener, Fritz Mauthner, Harald Weinrich u. a., vgl. Baldauf 1997, S. 285–295). Geradezu bizarr ist der von ihr vorgebrachte »Eindruck«, in der »amerikanischen Philosophie« würde »›in Europa bereits Bekanntes […] zum zweiten Mal entdeckt‹« (Baldauf 1997, S. 286; sie zitiert hier zustimmend den Eindruck, den Armin Burkhardt in einem Beitrag von 1987 kommuniziert hatte). Dass möglicherweise eine viel ältere gemeinsame Tradition mitspielen könnte, wird nicht in Betracht gezogen. 169 Lakoff 1993, S. 203 f. 170 Ebd. Hervorhebung KK.
5. Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache
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Vollzogen wird hier die Spaltung des zunächst ganzheitlichen Metaphernbegriffs (»part of […] thought and language«) gewissermaßen in eine ›I-Metapher‹ (»thought«) und eine ›E-Metapher‹ (»language«),171 um die ›E-Metapher‹ aus dem Begriff zu eliminieren (»the locus [..] is thought, not language«). Dass damit die Sprache in eine – rationalistischen Ansätzen entsprechende – ›minderwertige‹ Rolle abgedrängt wird, erhellt aus dem Titel des Abschnitts »Metaphors are not mere words« in Lakoffs Beitrag von 1993.172 War die Metapher in der aristotelischen Tradition tendenziell als sprachliches Phänomen vom Denken ausgegrenzt worden, so sucht Lakoff sie nun unter Ausgrenzung ihres sprachlichen Aspekts für das Denken zu reklamieren, obwohl er zugesteht, dass die Metapher »als Phänomen« sowohl den kognitiven Vorgang als auch sprachliche Ausdrucksformen umfasst: Metaphor, as a phenomenon, involves both conceptual mappings and individual linguistic expressions. It is important to keep them distinct. Since it is the mappings that are primary and that state the generalizations that are our primary concern, we have reserved the term »metaphor« for the mappings, rather than for the linguistic expressions.173
In krassester Form zeigt sich hier die rationalistische Tendenz der begrifflichen Grenzziehung, die dazu dient, das Untersuchungsobjekt vom Kontext zu isolieren. Im Hintergrund steht die aristotelische Sprachtheorie: Die einfachen »conceptual mappings« – die Vorstellungen – sind ›primär‹, die vielfältigen »individual linguistic expressions« dagegen wie die Zeichen bei Aristoteles sekundär und abtrennbar. Lakoffs Grenzziehung ist grundsätzlich mit einem »holistischen« Ansatz, wie er selbst ihn explizit in Zusammenhang mit seinem »Gestalt«-Begriff geltend macht,174 unvereinbar, zumal ja erst die Sprache in ihrer ›externalisierten‹, also artikulierten und gemeinschaftlichen Form die kulturellen Werte vermittelt, welche die ›internalisierten‹ Metaphern bestimmen. Das Paradoxe seiner Position zeigt die personifizierende Metapher »the mappings […] state the generalizations«, denn »to state« ist ein Vorgang in der artikulierten Sprache. Wenn Lakoff seine Theorie von gedanklichen Übertragungsvorgängen formuliert, indem er einen (E-)sprachlichen Vorgang metaphorisch auf einen Denkvorgang überträgt, so dürfte diese Wahl darin begründet sein, dass die Sprache dem Denken – seiner eigenen Theorie zufolge – strukturell ›ähnlich‹ ist: »Communication is based on the same conceptual system that we use in thinking.«175 Die Notwendigkeit der offenbar unbewusst verwendeten Metapher (Katachrese) »to 171 Ich interpretiere hier Lakoffs Ausführungen anhand des chomskyschen Modells (s. o., S. 123). 172 Vgl. ähnliche Formulierungen in Lakoff/Johnson 2003, S. 6; Lakoff/Turner 1989, S. xi. 173 Lakoff 1993, S. 209. 174 Lakoff 1977, S. 246. S.u., S. 164, Anm. 254. 175 Lakoff/Johnson 2003, S. 3.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
state« in diesem Zusammenhang legt dann nahe, dass ein konzeptueller metaphorischer Vorgang, der sich getrennt von Sprache vollzieht, nicht eindeutig als getrennter Vorgang darstellbar ist. Noch naheliegender ist jedoch die Interpretation, dass Lakoff stillschweigend Chomskys ›I-Sprache‹ voraussetzt und mit dem Denken integriert, und die Implikationen seiner Metapher nicht reflektiert. Dies aber würde seine aristotelische Trennung zwischen metaphorischen Vorstellungen und (E-)sprachlichen Instanzen widerlegen. Nachdem er diese Trennung nur als wissenschaftlich notwendige Unterscheidung behauptet, ohne sich mit deren Problematik auseinanderzusetzen, spricht einiges dafür, dass Lakoffs Grenzziehung auf einer mächtigen wissenschaftlichen Denkgewohnheit basiert, die mit seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer holistischen Theorie in Konflikt steht.176 Lakoffs dogmatische Grenzziehung zwischen Kognition und sprachlichem ›Ausdruck‹ täuscht über die enorm komplexe Beziehung zwischen mentalen und artikulierten sprachlichen Prozessen hinweg sowie über die Unmöglichkeit einer eindeutigen, gültigen Bestimmung dieser Beziehung: Diese kann ja nur mit jenen mentalen und sprachlichen Mitteln erfolgen, die zugleich Gegenstand der Untersuchung sind. Wie sehr Lakoff der rationalistischen Tradition verpflichtet ist, geht aus seiner Vertikalmetaphorik hervor. Er koppelt Denken mit Abstraktheit und Verallgemeinerung, spricht ihnen zeitliche und werthafte Priorität zu und siedelt sie in einem vertikalen Modell oben an. Dem entsprechen die Abschnittsüberschrift »Mappings are at the superordinate level«177 sowie die Darstellungsform des Sprachmaterials in Metaphors We Live By, wo sprachliche Instanzen einem generellen, einfachen ›Über‹-Begriff untergeordnet sind. Die von Lakoff und Johnson in die kognitive Metapherntheorie eingeführte Darstellung von ›rein‹ ›konzeptuellen Metaphern‹ durch Kapitälchen, die den sprachlichen Instanzen übergeordnet sind, ist problematisch, denn sie setzt eine klare Unterscheidung zwischen Denken und sprachlichem Ausdruck voraus, die weder verifizierbar ist noch die Interaktion beziehungsweise die fließenden Übergänge zwischen Vorstellung und artikulierter Sprache adäquat vermittelt.178 Der ›rein‹ konzeptuelle Überbegriff ist häufig ein Satz, der für sich als Instanz fungieren könnte – z. B. »TIME IS MONEY« –, in dieser Form als Instanz jedoch nicht erscheint. Suggeriert wird damit, dass es sich bei dem Überbegriff um eine vor- oder nicht-sprachliche, rein gedankliche Metapher handelt, die erst in einem sekundären Vorgang 176 Die Ausführung seiner Theorie in Form von »Idealisierten Kognitiven Modellen« (Lakoff 1987, passim) dient dazu, die ›interne‹ kognitive Struktur zu verfeinern, ohne die Trennung grundsätzlich näher zu bestimmen; bereits der Begriff verdeutlicht die Voraussetzung einer philosophisch orientierten Sprachtheorie. 177 Lakoff 1993, S. 211 f. 178 S.o., S. 126 f., Anm. 117. Vgl. auch unten, S. 168, Anm. 271, zur veränderten typographischen Darstellung von konzeptuellen Metaphern in Lakoff/Johnson 1999.
5. Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache
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sprachlich ›ausgedrückt‹ wird. Dass es sich dabei tatsächlich um eine vom Forscher vorgenommene, von den Instanzen ausgehende und weiterhin ›in der Sprache‹ verbleibende Verallgemeinerung handelt, wird ausgeblendet: »Whenever in this book we speak of metaphors, such as ARGUMENT IS WAR, it should be understood that metaphor means metaphorical concept.«179 Die Sprachabhängigkeit zeigt gerade das englische Wort ›argument‹,180 dessen Bedeutungen beispielsweise im Deutschen auf unterschiedliche Lexeme verteilt sind und in Bezug auf die ›Kampf‹-Komponente ein semantisches ›Gefälle‹ aufweisen (›Diskussion‹, ›Argumentieren‹, ›Auseinandersetzung‹, ›Streit‹); je nach Wortwahl ändert sich der kognitive Zielbereich und dessen ›Distanz‹ zum Herkunftsbereich (vgl. ›discussion is war‹ mit ›quarrel is war‹). Dabei kann nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass sich die kulturelle Struktur des gedanklichen Feldes und die Wertzuweisungen grundsätzlich in der englischen und deutschen Kultur unterscheiden. Die besonders von Sapir und Whorf (wieder) angeregte Debatte um die Beziehung zwischen Sprache und Denken zeigt, dass je nach theoretischem Ausgangspunkt die unterschiedlichsten Fragestellungen, Antworten und Konstellationen möglich sind; der Versuch einer eindeutigen, stabilen Grenzziehung dürfte daher gerade in der Metapherntheorie von vornherein ebenso zum Scheitern verurteilt sein wie jegliche eindeutige und endgültige Priorisierung von Sprache oder Denken im metaphorischen Prozess. Auszugehen ist vielmehr – nach Herder – von einer ›Metapher‹, die ›die innere und äußere Metapher‹ umfasst.181 Bestätigt wird dies durch Lakoffs Verwendung konventionalisierter Metaphern, die seiner Vertikalmetaphorik widersprechen. Beispiel ist die folgende Situierung von Metaphern im gedanklichen System: The conceptual system underlying a language contains thousands of conceptual metaphors – conventional mappings from one domain to another, such as the Event Structure Metaphor. The novel metaphors of a language are, except for image metaphors, extensions of this large conventional system.182
Hier liegt nun das gedankliche System als ›Fundament‹ oder ›Matrix‹ ›unter‹ der Sprache. Es ist als ›Gebiet‹ beziehungsweise ›Raum‹ (d. h. ›Behälter‹) konzipiert und in »Bereiche« unterteilt. Das Zahlenwort »tausende« impliziert für die im System ›enthaltenen‹ kognitiven Metaphern eine unbegrenzte Menge, zugleich jedoch auch eine zahlenmäßige Bestimmbarkeit und damit Statik sowie Stabilität, die von der Behältermetapher vorgegeben 179 Lakoff 1993, S. 6. S.a. Baldaufs Kritik an der Auswahl von Beispielen unter Bezug auf Ortony (Baldauf 1997, S. 93). 180 »An exchange of diverging or opposite views, typically a heated or angry one«; als erste Bedeutung angegeben in »The New Oxford Dictionary of English« (Pearsall 1998), S. 88 (argument, noun). 181 S.o., S. 72 und 100. 182 Lakoff 1993, S. 239 f. (Kursivierung KK.)
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
sein dürfte. Problematisch ist in Bezug auf dieses Modell vor allem die Bestimmung »der neu(artig)en Metaphern einer Sprache« als »Extensionen dieses großen konventionellen Systems«: Unbestimmt bleibt, ob der Vorgang der Erweiterung sich nach der Versprachlichung der konventionellen kognitiven Metapher innerhalb der Sprache vollzieht, oder über die Grenzen des Gedankensystems hinweg. Im letzteren Fall wäre die Richtung der Extension nach oben hin vorzustellen, was dem generellen Modell Lakoffs zuwiderlaufen würde. Bestätigt findet sich in diesem Beispiel Reddys Beobachtung, dass selbst ein Metaphernforscher den in der natürlichen Sprache konventionalisierten Metaphern nicht entgehen kann. Problematisch wird diese Abhängigkeit allerdings vor allem dann, wenn eine Theorie von der Sprache die Macht der Sprache vernachlässigt: Denn die Sprache hat eine prototypische Tendenz, kategorische Grenzziehungen zu unterlaufen. Diese Tendenz manifestiert sich nicht nur ›innerhalb‹ der Kognition oder ›innerhalb‹ der Sprache, sondern vor allem an der ›Schnittstelle‹ beziehungsweise dem ›Übergang‹ zwischen Kognition und Sprache. Dass »die gegenwärtige Metapherntheorie« in der von Lakoff geltend gemachten Einheitlichkeit nicht existiert, verdeutlicht die Vielzahl der von Eckard Rolf identifizierten Theorien – die großteils mit gegenwärtigen Vertretern repräsentiert sind.183 Ein mangelnder Konsens zeigt sich nicht zuletzt hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach dem Stellenwert der Metapher in Bezug auf Sprache und Denken. So werden beispielsweise in Dietrich Hombergers Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft aus dem Jahre 2000 zusammenhanglos die traditionellen Bestimmungen »sprachliches Bild« und »verkürzter Vergleich« sowie drei Sonderformen der Metapher (»habituelle«, »originäre« und »kreative« Metaphern) aufgelistet, ohne Bezug auf die kognitive Metapherntheorie.184 Eine entscheidende kognitive Bedeutung kommt ihr aber auch in der weiterhin aktiven Tradition der generativen Linguistik nicht zu. So behandelt Ray Jackendoff die Metapher in seiner umfassenden Studie Foundations of Language. Brain, Meaning, Grammar, Evolution nur am Rande.185 Von besonderem Interesse ist allerdings sein Ansatz, weil er die generative Grammatiktheorie unter Einbezug neuerer kognitiver Entwicklungen und insbesondere der Semantik weiterzuführen sucht. Grundsätzlich erklärt er seine Akzeptanz der von Lakoff und Johnson vorgelegten kognitiven Metapherntheorie, will aber dennoch den »traditionellen« Metaphernbegriff retten:186 183 Rolf 2005. 184 Homberger 2003, S. 332. Differenzierter ist der entsprechende Artikel von Vollers-Sauer (2000; Metapher). Allerdings konzentriert auch Vollers-Sauer ihre Ausführungen auf Aristoteles und Quintilian, und die Forschungsliteratur ist nur bis 1986 berücksichtigt. 185 Jackendoff 2002, S. 172, 174, 343 und 358 f. 186 Ebd., S. 358 f. Jackendoff liefert hier das Fazit einer längeren Auseinandersetzung mit Lakoff, Johnson und Turner; vgl. bes. Aaron/Jackendoff 1991.
5. Die Metapher im Zusammenspiel von Kognition und Sprache
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While acknowledging the ubiquity of metaphor in thought, I would argue for a finer-grained account […]. Lakoff and Johnson use the term »metaphor« for any extension of terms from one semantic field to another. By contrast, the traditional notion of metaphor is reserved for creative, novel expressions, often with a patent semantic clash, used to make speech more colorful.187
Sonderbarerweise geht Jackendoff nicht auf die grundlegende Tatsache ein, dass Lakoff und Johnsons Metaphernbegriff den gedanklichen Aspekt der Metapher fokussiert, der ›traditionelle‹ Metaphernbegriff dagegen den sprachlich-stilistischen Aspekt. Die Ubiquität der kognitiven Metapher ist jedoch mit einem auf die artikulierte Sprache eingeschränkten Metaphernbegriff nicht kompatibel. Tatsächlich läuft Jackendoffs Ansatz nicht auf eine »feiner gemaserte« Theorie von der kognitiven Metapher hinaus, sondern auf eine prinzipielle Ablehnung des kognitiven Metaphernbegriffs und eine Einschränkung der Metapher auf den Bereich des Stils – es geht ihm um »Ausdrücke«, die den Stil »farbiger« gestalten. Ausgrenzen will er Formen, in denen kein »semantischer Konflikt« deutlich ist und für die keine alternative Ausdrucksform in der gegebenen Sprache zur Verfügung steht: »They are not metaphorical in the traditional sense. I would contend rather that they reflect a set of precise abstract underlying conceptual patterns that can be applied to many different semantic fields.«188 Damit bezeichnet er jedoch das Herzstück der kognitiven Metapherntheorie189 und aus der Perspektive der antiken Metapherntheorie die sehr wohl ›traditionelle‹ Katachrese, die Cicero zufolge als Ursprung metaphorischen Sprechens zu gelten hat;190 so unterscheidet Cicero die »kühneren« Metaphern, »die der Rede etwas Glanz verschaffen«, lediglich graduell von jenen, die »der Not abhelfen«.191 Wenn Jackendoff die Verfügbarkeit von alternativen Ausdrucksformen zum Kriterium der Metaphorizität macht, so scheint er bezeichnenderweise eine ›Substitutionstheorie‹ vorauszusetzen, die in der von ihm angenommenen Einfachheit keineswegs in der Antike vertreten wurde. Das für die Metapher typische kontinuierliche und unstabile ›Gefälle‹ von kreativer hin zu lexikalisierter Metapher wird damit in zwei begrifflich getrennte Kategorien unterteilt. Deutlich wird hier, wie Jackendoff den traditionellen Metaphernbegriff absolut auf den stilistischen Aspekt einzuschränken sucht, um die Metapher in ihrer angeblich ›traditionellen‹ Form für die gegenwärtige Sprachwissenschaft zu retten – eigentlich aber, um sie aus einer generativ beziehungsweise 187 Jackendoff 2002, S. 358. 188 Ebd., S. 358. 189 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, passim, und spezifischer Johnsons Bildschematheorie (s. u., Kap. II/7) sowie Lakoffs Theorie von den »Idealisierten Kognitiven Modellen« (Lakoff 1987, passim). 190 Vgl. Quintilian 1995, Bd. 2, S. 218 f. (VIII, 6, 6). S.a. Cicero 1976, S. 542 f. (III, 38, 155). 191 Cicero 1976, S. 542 f. (III, 38, 156).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
kognitiv orientierten Sprachwissenschaft auszugrenzen. Mit einem solchermaßen beschnittenen Metaphernbegriff ist jedoch weder der Sprachwissenschaft noch auch der Literaturwissenschaft geholfen. Jackendoffs Fragmentierung dieses Phänomens zeigt einmal mehr die Problematik einer rigiden Trennung von Denken und Sprache – sowie die anhaltende Brisanz der Metapher für die Theorie von der Sprache.
6. Die Metapher als sprachliches Bild Die Metapher ist in der antiken und modernen Metapherntheorie auf vielfältige Weise mit dem ›Bild‹ und dem ›bildlichen Denken‹ verbunden. Diesem Zusammenhang gilt es nachzugehen, zumal sowohl die antike Rhetorik als auch die neurowissenschaftliche Forschung nahelegen, dass die kognitive Produktion und Rezeption der Metapher über ein spezifisch ›verbales Denken‹ hinausgeht. Wenn hier mit der Berücksichtigung der neurowissenschaftlichen Forschung ein Ausflug in die Welt des Gehirns unternommen wird, so geht es um Perspektiven auf die Metapher, deren Untersuchungsmethoden sich zwischen Physiologie und Psychologie bewegen. Es handelt sich um ein relativ neues, wissenschaftlich höchst kontroverses Gebiet, das nicht ohne weiteres mit geisteswissenschaftlichen Ansätzen vereinbar ist192 und die »schwindelerregende Annahme« voraussetzt, »daß alle Zustände und Vorgänge der Bewußtseinswelt mit Zuständen und Vorgängen in den Gehirnzellen korrelieren«.193 Wenn es auch riskant ist, in Bezug auf das hochkomplexe Phänomen der Metapher die auf neurowissenschaftlichem Wege gewonnenen Einsichten zu geisteswissenschaftlichen Forschungsansätzen in Beziehung zu setzen, so erscheint es doch geboten, diese Perspektive miteinzubeziehen: Versteht man die Metapher als Phänomen der Interaktion zwischen der Gesamtheit kognitiver Vorgänge und der Sprache, dann ist damit zu rechnen, dass die Hirnforschung einen Beitrag zu ihrem Verständnis leisten kann. 192 Vgl. den Hinweis der Psychologen Kagan und Baird auf die »incommensurability between the languages of neuroscience and psychology«; sie gehen davon aus, dass diese begriffliche Unvereinbarkeit durch die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven vorgegeben ist und kaum überwindbar sein dürfte (Kagan/Baird 2004, 100). Das interdisziplinäre Projekt der kognitiven Neurowissenschaften, zu dem sie beitragen – vgl. das monumentale Kompendium »The Cognitive Neurosciences III« (Gazzaniga 2004) – setzt insofern als Ziel nicht eine einheitliche Wissenschaft, sondern eine produktive Vielfalt von disziplinär unterschiedlichen Ansätzen beziehungsweise Annäherungen voraus. 193 Coenen 2002, S. 224. Seine Bemerkung steht im Kontext einer Abgrenzung seines eigenen auf »Daten der Introspektion und der Sprachbeobachtung« (ebd., S. 224) gründenden Ansatzes von Lakoff und Johnsons Ausführungen zu primary metaphors in Lakoff/Johnson 1999. Da er die Metapher ohnehin primär als sprachliches Phänomen fasst, ist die neurowissenschaftliche Forschung für seinen Ansatz weniger zentral.
6. Die Metapher als sprachliches Bild
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Wenn die Metapher seit der Antike terminologisch mit dem ›Bild‹ in Zusammenhang steht, so ist dies vermutlich auf eine psychologisch erfahrene Verbindung zwischen Wort und Bild zurückzuführen, die in der Metapher wirksam ist. Die ›Metapher‹ wird zwar vor allem als stilistische ›Übertragung‹ definiert, aber bereits Aristoteles verknüpft sie insofern mit dem ›Bild‹, als er den Vergleich grundsätzlich der Metapher zuordnet und als ›Bild‹ bezeichnet (ei’ kw´ n, lat. imago).194 Diese Bezeichnung schlägt sich in den moderneren Sammelbezeichnungen für Vergleich und Metapher beziehungsweise für Tropen nieder, so im Französischen image und im Englischen image beziehungsweise imagery.195 Entsprechend gilt im Deutschen der Begriff ›Bild‹ als »unscharfe Sammelbez[eichnung] der Stilanalyse für die verschiedensten Formen bildl[icher] Ausdrucksweise«.196 Es handelt sich hierbei ganz offensichtlich nicht um ein physisch sichtbares Bild, sondern um ein Konstrukt der Imagination. Der Begriff verweist auf ein äußerst komplexes Zusammenspiel zwischen Sprache und Denken, bei dem im Hörer beziehungsweise Leser ein über das abstrakte logische und verbale Denken hinausgehendes ›imaginatives Denken‹ aktiviert wird, das auf die Erfahrung physischer – besonders visueller – Wahrnehmung zurückgreift. Die Unbestimmtheit des ›Bild‹-Begriffs deutet somit auf die Komplexität dessen hin, was mit ›Metapher‹ bezeichnet ist: Der Begriff ist metaphorisch zu verstehen und dient der kognitiven Annäherung an ein komplexes prozessuales Phänomen, das kaum über eine eindeutige, stabile Definition festlegbar sein dürfte. Ein Beispiel für die Bedeutsamkeit der Verbindung von ›Wort‹ und ›Bild‹ in Bezug auf die kognitive und kommunikative Funktion der Metapher liefert der bereits oben zitierte Dialog zwischen Werner Heisenberg und Niels Bohr zum Thema der Struktur der Atome, auf den hier näher eingegangen werden soll. Es handelt sich hier um ein physikalisches Phänomen, das nicht direkt beobachtbar und das zu jener Zeit mit »bisherigen
194 Vgl. Aristoteles 1995b, S. 176 (III, 4, 1) und ebd., S. 190 (III, 10, 3). In beiden Fällen benutzt er für den ›Vergleich‹ ei’ kw´ n. Zum Begriff imago für ›Vergleich‹, vgl. Rhetorica ad Herennium 1998, S. 300 f. (IV, 62); zum Komplex der »Vergleichung« aufgrund von »Ähnlichkeiten« unter Bezug auch auf das Griechische, vgl. Quintilian 1995, Bd. 1, S. 606 f. (V, 11, 24). Im Lateinischen wird für ›Vergleich‹ auch similitudo verwendet (z. B. Quintilian 1995, Bd. 2, S. 220 f.; VIII, 6, 8 f.). 195 Zu den französischen Begriffen vgl. Lausberg 1990, Bd. 1, S. 916 (image, imager). 196 Schweikle, G./Schweikle, I. 1990, S. 52 (Bild); verwiesen wird auf die spezifischeren Termini »Metapher«, »Symbol«, »Personifikation«, »Allegorie« (ebd., S. 53). Hermann Pongs berichtet im Vorwort zu seiner mehrbändigen Studie »Das Bild in der Dichtung«, das Projekt habe sich aus früheren Arbeiten zur »Metapher« entwickelt (Pongs 1960, S. VI), und bezieht sich hinsichtlich des behandelten Gebietes auf die »Tropen« (ebd., S. VII). Seine Studie orientiert sich vor allem an der Lyrik Goethes und behandelt »das dichterische Bild als Gefühlsmetapher« (ebd., S. IX).
148
II. Das kreative Potenzial der Metapher
Begriffen« nicht theorisierbar war.197 Heisenberg erklärt zunächst die Analogie, durch die Bohr die Struktur von Atomen vorstellbar machte: Bohr konzeptualisiert sie »als ein Planetensystem im Kleinen […], in dessen Mittelpunkt der Atomkern steht, der fast die ganze Masse des Atoms trägt, obwohl er sehr viel kleiner als das Atom ist, und der von den erheblich leichteren Elektronen als Planeten umkreist wird.«198 Diese Analogie stellte Bohr offenbar in Vorlesungen durch physisch-visuelle »Bilder« dar: Heisenberg erwähnt, Bohr habe »Bilder von den Atomen […] gezeigt und besprochen«.199 Auf Heisenbergs Frage, was diese Bilder denn zu bedeuten hätten, antwortet Bohr (ein Teil seiner Antwort wurde bereits oben zitiert): »Diese Bilder […] sind ja aus Erfahrungen erschlossen, oder, wenn Sie wollen, erraten, nicht aus irgendwelchen theoretischen Berechnungen gewonnen. Ich hoffe, daß diese Bilder die Struktur der Atome so gut beschreiben, aber eben auch nur so gut beschreiben, wie dies in der anschaulichen Sprache der klassischen Physik möglich ist. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Sprache hier nur ähnlich gebraucht werden kann wie in der Dichtung, in der es ja auch nicht darum geht, Sachverhalte präzis darzustellen, sondern darum, Bilder im Bewußtsein des Hörers zu erzeugen und gedankliche Verbindungen herzustellen.« »Aber wie sollen dann eigentlich Fortschritte erzielt werden? Schließlich soll die Physik doch eine exakte Wissenschaft sein.« »Wir müssen erwarten«, meinte Bohr, »daß die Paradoxien der Quantentheorie […] mit jeder neuen Erfahrung in ein immer schärferes Licht treten. Wenn dies geschieht, so kann man hoffen, daß sich im Laufe der Zeit neue Begriffe bilden, mit denen wir auch diese unanschaulichen Vorgänge im Atom irgendwie ergreifen können. Aber davon sind wir noch weit entfernt.«200
Es geht um »Bilder« verschiedenster Art: mentale Bilder, die Bohr zur Konzeptualisierung des Phänomens nutzt; physische Bilder, mit denen er die Vorstellung sichtbar macht; sprachliche Bilder, mit denen er ihnen begriffliche Struktur verleiht; mentale Bilder, die im Kopf des Rezipienten hervorgerufen werden. Deutlich wird aus Bohrs Ausführungen, dass die visuellen Bilder nicht ausreichen: Erst durch die »wie in der Dichtung« verwendete Sprache gelingt es, »Bilder im Bewußtsein des Hörers zu erzeugen und gedankliche Verbindungen herzustellen«, denn bei dem Vermittelten handelt es sich ja gerade nicht um ein eindeutig fassbares, beobachtbares und daher visuell darstellbares Phänomen. In diesem Prozess erfolgt somit ein komplexer Transfer zwischen mentalen Strukturen, Worten und visuell rezipierbaren Diagrammen, der über das Begrifflich Fassbare hinausweist und über die Mittel der Sprache die Differenz zwischen dem Bekannten und
197 Heisenberg 2005, S. 53 (Der Begriff »Verstehen« in der modernen Physik, 1920–1922); s. a. ebd., S. 46. 198 Ebd., S. 47. 199 Ebd., S. 54. 200 Ebd.
6. Die Metapher als sprachliches Bild
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dem Neuen vorstellbar macht. Angeregt wird auf diese Weise eine kognitive Arbeit, die das Neue mittels des Bekannten zu ›begreifen‹ sucht. Das Wort ›Bild‹ ist hier in seiner Bedeutung höchst unbestimmt, und unbestimmt ist auch der Bezug zum Begriff ›Metapher‹ – der ja gar nicht verwendet wird. Dass metaphorische Prozesse gemeint sind, wird aus dem Kontext deutlich; zugleich aber zeigt sich hier die Komplexität dessen, was mit ›Metapher‹ bezeichnet ist, denn es bewegt sich zwischen Denken und Sprache, Bild und Wort, Prozess (›Übertragung‹) und Erzeugnis (›das an die neue Stelle im konzeptuellen System Übertragene‹ beziehungsweise ›das im Produzenten oder Rezipienten vorgestellte Bild‹). Komplex ist auch der Begriff ›Anschaulichkeit‹, den Bohr mit der »Sprache der klassischen Physik« assoziiert: Deren vorausgesetzte Anschaulichkeit beruht offenbar darauf, dass sich die klassische Physik an solchen Phänomenen orientiert und sich auf solche Phänomene konzentriert, die der visuellen Wahrnehmung zugänglich sind; es ist insofern eine Sprache, die ›anschaulich‹ ist, weil sie zu den wahrnehmbaren Phänomenen in einer direkten Beziehung steht.201 Wenn Bohr anstrebt, das visuell nicht wahrnehmbare Phänomen durch die »anschauliche Sprache der klassischen Physik« zu beschreiben, zugleich aber die Differenz zum beschriebenen, in der physischen Welt existenten Phänomen hervorhebt, so ist damit genau die Differenz zwischen der ›wörtlichen‹ und der ›übertragenen‹ Bedeutung bezeichnet. Wirklich anschaulich ist aus der Perspektive des Physikers die Sprache erst dann, wenn Begriffe gefunden worden sind, welche die Phänomene direkt und logisch vermitteln. Die analogisch verfahrende Metapher dient hier somit als Mittel, das noch nicht Verstandene annäherungsweise vorstellbar und kommunizierbar zu machen, in der Hoffnung, es auf diesem Wege für das ›begriffliche‹ Denken und für eindeutige sprachliche ›Begriffe‹ zu erschließen. Unter diesem Aspekt ist bemerkenswert, dass in der antiken Metapherntheorie schon seit Aristoteles gerade das ›Anschaulich-Machen‹ als bedeutende psychologische Funktion der Metapher verstanden wird.202 Wenn Quintilian erklärt, »Die Metapher ist größtenteils dazu erfunden, auf das Gefühl zu wirken und die Dinge deutlich zu bezeichnen und vor Augen zu stellen,«203 so rückt die Metapher von der Funktion her in die Nähe der evidentia. Quintilian fasst damit eine Funktion zusammen, die Cicero näher erläutert, wenn er die Gründe für die Beliebtheit der Metapher (translatio) erkundet. Seine Erklärung kulminiert in der Bedeutung des Gesichtssinns:
201 Ebd., S. 42–46. 202 In seiner Diskussion der Metapher in der »Rhetorik« geht Aristoteles durchgängig von einer Verbindung zwischen Metapher und dem »Vor-Augen-Führen« aus (vgl. 1995b, S. 193–197; III, 11, 1–10; 1411b-1412b). 203 Quintilian 1995, S. 224 f. (VIII, 6, 19). Vgl. auch Aristoteles 1995b, S. 193–197 (III, 11, 1–10).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
jede Übertragung [translatio], die man mit Verstand vornimmt, [spricht] unmittelbar die Sinne an […], vor allem den Gesichtssinn, der besonders lebhaft reagiert. Denn der ›Geruch‹ der eleganten Welt, die ›Zartheit‹ menschlichen Empfindens, des Meeres ›Murmeln‹ und die ›Süßigkeit‹ der Rede sind von den anderen Sinnen abgeleitet. Die aber, die an den Gesichtssinn appellieren, sind viel lebendiger; sie stellen uns im Geiste fast vor Augen, was wir nicht sehen und betrachten können.204
Cicero geht davon aus, dass die Metapher besonders die Sinne anspricht, die eigentlich für die physische Wahrnehmung zuständig sind. Dies reflektiert aus der Perspektive der Rezeption die Tendenz der Metapher, das Abstrakte durch das Physische vorstellbar zu machen. Die Sprache schafft mittels der Metapher eine metaphorische ›Anschaulichkeit‹, die der wirklichen Anschaulichkeit des physischen Phänomens (annähernd) entspricht. Zugleich erklärt dies, warum die Metapher dort, wo die physischen Sinne nicht mehr weiterhelfen, einen alternativen Weg der Erkenntnis zu eröffnen vermag. Die Wirkung von Metaphern, die den Gesichtssinn ansprechen, geht aus einem Beispiel hervor, das diesem ciceronischen Passus vorausgeht: »Das Meer erschauert, tiefer wird die Finsternis, schwarze Nacht und Wolkendunkel hüllt den Tag in Düsternis, Feuer zuckt durch das Gewölk, vom Donner bebt das Himmelszelt, […].»205
Vermittelt wird ein Naturschauspiel, das an sich physisch wahrnehmbar ist und insofern zur Veranschaulichung keiner weiteren ›Übertragung‹ physischer Elemente bedürfte: Die Worte evozieren den Vorgang eines Gewitters mit der Bewegung des Wassers, der zunehmenden Dunkelheit, dem Blitz und dem Donner. Deutlich wird jedoch, wie die Elaborierung der bloßen Fakten und insbesondere die ›Belebung‹ des Vorgangs durch dynamische Verben die Aufmerksamkeit des Lesers erhöht und eine verstärkte Visualisierung anregt. Intensiviert wird dadurch zugleich die Wirkung auf die Emotionen, da der kumulative Effekt der hervorgerufenen mentalen Bilder eine geradezu körperliche Spannung erzeugt und Assoziationen mit der Erfahrung wirklicher Unwetter weckt. Es handelt sich hier um eine poetische Darstellung jenes Sturms, der die Griechen nach dem Trojanischen Krieg auf ihrer Heimkehr überfiel.206 Interessant ist das Beispiel vor allem insofern, als es die ›verlebendigende‹ Leistung der Metapher sowie die Wirkung auf den Gesichtssinn zeigt: Unsere Sprachfähigkeit erlaubt es uns, die wahrgenommenen orthographischen Zeichen kognitiv so umzusetzen, dass 204 Cicero 1976, S. 546 f. (III, 40, 160 f.). Die Metaphern lauten im Original: »odor urbanitatis et mollitudo humanitatis et murmur maris et dulcitudo orationis«. 205 »›Inhorrescit mare, | tenebrae conduplicantur, noctisque et nimbum occaecat nigror, | flamma inter nubis coruscat, caelum tonitru contremit […]‹« (Ebd., S. 544 f.; III, 39, 157). 206 Vgl. die Anmerkung des Herausgebers, ebd., S. 616, Anm. 222. Die Verse sind der Tragödie »Dulorestes« von Pacuvius entnommen.
6. Die Metapher als sprachliches Bild
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uns ein nicht wirklicher, nicht sichtbarer Sturm ›im Geiste fast vor Augen‹ steht. Wenn Cicero die ›Verlebendigung‹ als besondere Leistung der Metapher hervorhebt und die Metapher mit der Stimulierung des Gesichtssinns in Zusammenhang bringt, so konstatiert er eine Wirkung, die gegenwärtig in den kognitiven Wissenschaften Interesse beansprucht. Denn als sprachlich erzeugtes ›Bild‹ hat die Metapher offenbar an kognitiven Prozessen teil, die verschiedenen ›Bereichen‹ angehören beziehungsweise unterschiedliche mentale Funktionen betreffen. So geht Allan Paivio in seiner Theorie von der ›dualen Kodierung‹ davon aus, dass verbale und nicht-verbale Informationen durch zwei verschiedene, aber komplementäre und zusammenwirkende Systeme verarbeitet und gespeichert werden.207 Das verbale System arbeitet eher sequenziell und ist für Prozesse des Sprechens, Hörens und Lesens verantwortlich; das eher ganzheitlich orientierte nicht-verbale System übernimmt demgegenüber die Verarbeitung von visuellen, akustischen, olfaktorischen und haptischen Reizen. In der Studie Imagery and Text bauen Paivio und sein Mitautor Mark Sadoski hinsichtlich der Erforschung des nicht-verbalen Verarbeitungssystems besonders auf der rhetorischen Theorie von den loci auf, welche die Bedeutung der Visualisierung für das Gedächtnis hervorhebt und zur Unterstützung des Gedächtnisses besonders Bilder empfiehlt, die lebhaft und emotional wirksam sind208 – vorausgesetzt sind in der Theorie von den loci somit ähnliche psychologische Prinzipien wie in der rhetorischen Metapherntheorie. In Bezug auf die Verarbeitung von Metapher und Idiomatik stützen sich Sadoski und Paivio grundsätzlich auf Lakoff und Johnsons kognitiven Ansatz209 und kommen zu dem Schluss, dass die Mitwirkung beider Verarbeitungssysteme erforderlich ist: Both verbal-associative and imaginal processes were found to be implicated. […] Verbal associations keep the relations between the topic and vehicle categorical and constrained, whereas images provides [sic] a meaningful, memorable basis for one or both. Novel metaphors in particular appear to need imagery for interpretation, especially vehicle imagery.210
Ihr Ansatz konzentriert sich auf die Erforschung jener Prozesse, die für die Verarbeitung der Metapher notwendig sind; ihr Befund bestätigt jedoch Ciceros von der erwünschten psychologischen Wirkung her gemachte Beobachtung, dass die sprachliche Metapher den Gesichtssinn stimuliert. Auch Ciceros Unterscheidung zwischen ›notwendigen‹ – zwangsläufig lexikalisierten – Metaphern und solchen Metaphern, die der Belebung dienen, findet 207 Vgl. Paivio 1986; Sadoski/Paivio 2001. 208 Vgl. Sadoski/Paivio 2001, S. 13. Zur Rolle der Emotionen in den beiden Verarbeitungssystemen vgl. ebd., S. 87–89 u.ö. 209 Vgl. ebd., S. 87 u.ö. S.a. Paivio/Walsh 1993. 210 Sadoski/Paivio 2001, S. 87.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
hier eine Entsprechung, denn den Effekt der visuellen Stimulierung schreibt Cicero letzteren zu. Die Weiterführung rhetorischer Ansätze in der Theorie von der dualen Kodierung ist besonders deshalb produktiv, weil einerseits die ›Arbeitsteilung‹ der beiden Systeme untersucht wird, andererseits jedoch durchgängig von ihrer Komplementarität und Interaktion ausgegangen wird. Für die Metapher ergibt sich aus dieser Theorie eine höchst komplexe Vermittlerrolle zwischen verbalen und bildlichen Prozessen. Dieser Befund wird tendenziell von der Hemisphärenforschung gestützt, denn es scheint, dass die zwei Hälften des Hirns auf unterschiedliche Weise zu unseren kognitiven Prozessen beitragen:211 Generell assoziiert die rechte Hirnhälfte »mehr bildlich und indirekt als die linke, [… die] bei der Sprachproduktion und dem Verständnis nichtbildlicher Einzelbegriffe dominant ist«.212 Hinsichtlich der Metapher deutet vieles darauf hin, dass sie nicht nur in der für die Sprachfähigkeit vornehmlich zuständigen linken Hirnhälfte, sondern auch – und möglicherweise primär – in der rechten Hirnhälfte verarbeitet wird; zugleich jedoch arbeiten die Hemisphären interaktiv, so dass die Metapher die Prozesse beider Hirnhälften involviert. Beide Befunde stützen die grundsätzliche Prämisse der kognitiven Linguistik sowie auch die grundsätzliche Prämisse der kognitiven Metaphernforschung: dass die Sprache von der Gesamtheit der kognitiven Prozesse nicht isolierbar ist und dass die Metapher primär als kognitives Phänomen anzusehen ist, das sich erst sekundär in der artikulierten Sprache manifestiert. Darüber hinaus liefern die Ergebnisse der Hemisphärenforschung einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der Metapher: Sie lassen darauf schließen, dass die Metapher über ein spezifisch verbales Denken hinausgeht und dass sie mit dem ›Erkennen von Ähnlichkeiten‹ zusammenhängt. Allerdings steckt die Hemisphärenforschung in Bezug auf die Metapher noch in den Anfängen und wurde bislang in der restlichen Metaphernforschung ungenügend berücksichtigt, so dass die folgenden Ausführungen eher spekulativer Art sind. Das Interesse an der Metapher in der neueren Hemisphärenforschung beruht darauf, dass sie – wie auch beispielsweise Ironie und verbaler Humor – hinsichtlich der ›Arbeitsteilung‹ zwischen den beiden Hirnhälften eine Sonderstellung einzunehmen scheint. Während es seit langem als etabliert gilt, dass die Sprachfähigkeit in der linken Hirnhälfte konzentriert ist, haben beispielsweise Studien mit Kallosotomie-Patienten gezeigt, dass auch die rechte Hirnhälfte einen bedeutenden Beitrag zu sprachlichen Prozessen 211 Paivio bezieht sich allerdings nicht auf die Hemisphärenforschung, so wie sich diese umgekehrt nicht auf dessen Theorie der dualen Kodierung bezieht. Den Hinweis auf die Bedeutung der Hemisphärenforschung für die Erforschung der Metapher verdanke ich Peter Brugger von der Neurologischen Klinik der Universität Zürich. 212 Brugger 2006, S. 43. Als Beweis führt Brugger den Verlust des Metaphernverständnisses nach rechtsseitigen Hirnverletzungen an (ebd.).
6. Die Metapher als sprachliches Bild
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leistet:213 »The findings […] provide converging evidence that each hemisphere plays a critical and, importantly, complementary role in language processing.«214 Aus den Studien geht hervor, dass die linke Hirnhälfte zwar primär für die artikulierbare beziehungsweise artikulierte Sprache zuständig ist, dass jedoch bestimmte semantische Prozesse sowie mit Bildern assoziierte Aspekte der Sprache auch, oder primär, von der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden. So zeigte ein Versuch mit hirngesunden Personen eine verstärkte Involvierung der rechten Hirnhälfte bei Wörtern, die anschauliche Bilder hervorrufen, bei Substantiven mit einem hohen emotionalen Wert und bei piktographischen Reizen.215 Dies deutet darauf hin, dass insgesamt die rechte Hirnhälfte einen mit mentalen ›Bildern‹ – und besonders vielleicht mit emotional wirksamen mentalen ›Bildern‹ – zusammenhängenden Beitrag zur Produktion und Rezeption von Sprache leistet. Festgestellt wurde zudem, dass die Resultate von Assoziationsexperimenten, in denen Versuchspersonen die Ähnlichkeit zwischen zwei Zeichnungen einstuften, und solchen, wo sie die Ähnlichkeit von Wortpaaren beurteilten, analog waren.216 Es bestehen somit offenbar kognitive Entsprechungen in der Verarbeitung von bildlicher und sprachlicher Ähnlichkeit. Dass die Metapher im mentalen Sprachprozess Besonderheiten aufweist, geht aus Versuchen hervor, denen zufolge Patienten mit Schädigungen der rechten Hirnhälfte Schwierigkeiten haben, Redewendungen und metaphorische Sprache zu verstehen: These patients […] had difficulties understanding the nonliteral, figurative meaning of verbal material (e.g., to be raining cats and dogs). Indeed, patients with right hemisphere brain damage appear to rely primarily on literal meanings and neglect metaphorical relationships, whereas the opposite pattern is observed in left hemisphere brain-damaged patients.217
Dies lässt darauf schließen, dass die seit Aristoteles vorausgesetzte Unterscheidung zwischen ›wörtlicher‹ und metaphorischer Sprache möglicherweise eine neurologische Basis hat: Die metaphorische Sprache ist hinsichtlich ihrer kognitiven Verarbeitung besonders komplex und aktiviert Teile des Hirns, die sonst kaum am ›verbalen Denken‹ beteiligt sind. Zugleich bestätigen die 213 Vgl. grundsätzlich zur Beziehung zwischen den Hirnhälften im sprachlichen Prozess Gazzaniga, Ivry u. a. 2002, S. 400–444; s. a. Shapiro/Caramazza 2004. Bei der (zuweilen im Falle der Epilepsie vorgenommenen) Kallosotomie wird der die Hirnhälften verbindende Balken durchtrennt, was dazu führt, dass sprachliche Reize, die in die eine Hirnhälfte übertragen worden sind, nicht von der anderen Hirnhälfte verarbeitet werden können. Auf diese Weise lässt sich der spezifische Beitrag der beiden Hirnhälften zum sprachlichen Prozess isolieren. 214 Taylor/Regard 2003, S. 257. 215 Ebd., S. 259. 216 Brugger 2006, S. 41. Vgl. in Bezug auf die Metapher Anaki, Faust u. a. 1998: »Evidence of qualitatively differential hemispheric processing of metaphors exists both for lexical and pictorial semantics« (S. 692). 217 Taylor/Regard 2003, S. 258. S.a. Anaki, Faust u. a. 1998, S. 691.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Befunde die Prämisse der kognitiven Metaphernforschung, dass die Metapher nicht primär als Merkmal der artikulierten Sprache oder gar des poetischen Stils gelten kann, denn es gibt Metaphern ohne verbale Sprache,218 und Metaphern werden auch ohne die Möglichkeit der Artikulation verarbeitet.219 Die Art der Interaktion zwischen den Hirnhälften in Bezug auf Sprache wirft ebenfalls Licht auf die Metapher. Denn Versuche mit gesunden Versuchspersonen zeigen, dass in der linken Hirnhälfte enge semantische Beziehungen schnell verarbeitet werden, während die rechte Hirnhälfte entferntere semantische Beziehungen langsamer verarbeitet.220 Einen entsprechenden Befund fassen die Forscher David Anaki, Miriam Faust und Shlomo Kravetz wie folgt zusammen: Due to suppression and integration processes, the LH [left hemisphere] is generally more efficient in word recognition. However, in figurative language and metaphor processing, where the activation of multiple distantly related meanings is required, the contribution of the RH [right hemisphere] may be more salient.221
Diese Komplementarität der Hirnhälften setzt eine komplexe Zusammenarbeit voraus. Offenbar werden im gesunden Hirn direkt verständliche, ›wörtliche‹ Bedeutungen vor allem von der linken Hirnhälfte verarbeitet, während die rechte Hemisphäre dabei tendentiell ausgeschaltet bleibt. Die rechte Hemisphäre schaltet sich jedoch besonders dann ein, wenn es um die Verarbeitung ›übertragener‹, semantisch komplexer Bedeutungen geht, die eine Auswahl aus unterschiedlichen, ›entfernteren‹ Assoziationen notwendig machen. Bestätigt wird dies wiederum durch geschädigte Patienten. Denn bei aller Spezialisierung ist jede der Hirnhälften offenbar fähig, wenn notwendig die Funktionen der anderen Hirnhälfte zu übernehmen. Kirsten I. Taylor und Marianne Regard stellen die Hypothese auf, dass die Beteiligung der beiden Hirnhälften so komplex wie flexibel ist und dass sie dynamisch zu verstehen ist: the hemisphere particularly suited to a given task will inhibit the activation of the same functions at mirror image sites in the opposite hemisphere. The model predicts that unilateral damage will »release« the functions of the opposite hemisphere from inhibition.222 218 Vgl. Anaki, Faust u. a. 1998, S. 692. S.a. die in der kognitiven Linguistik besprochenen Möglichkeiten einer nur über visuelle Medien vermittelten Metaphorik (z. B. Kövecses 2002, S. 57–60). 219 Manche Patienten mit Schädigungen der linken Hirnhälfte sind fähig, gesprochene und schriftliche Sprache zu verstehen sowie auch ›automatische‹ Ausdrücke der Emotion beziehungsweise Schimpfworte von sich zu geben, ohne sich jedoch sprachlich artikulieren zu können oder von sich gegebene Laute beziehungsweise Worte willentlich wiederholen zu können (vgl. Taylor/Regard 2003, S. 257 f.). 220 Ebd., S. 259 f. 221 Anaki, Faust u. a. 1998, S. 693. S.a. ebd., S. 697. 222 Taylor/Regard 2003, S. 261.
6. Die Metapher als sprachliches Bild
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Dieser Theorie zufolge ist somit jede Hemisphäre auf bestimmte Aufgaben spezialisiert, ohne doch auf diese Spezialisierung eingeschränkt zu sein. Die Vorstellung von unterschiedlichen, voneinander abgegrenzten ›Orten‹ im Hirn ist somit insofern richtig, als sie die Spezialisierung erfasst, grundsätzlich ist sie jedoch zu statisch gesehen. Denn bei kognitiven Prozessen einschließlich der Sprache handelt es sich um ein produktives Zusammenspiel von Funktionen, die integriert sind, die sich flexibel aufeinander abstimmen und die sich je nach Bedarf ergänzen können.223 Die komplexe Interaktion zwischen den Hirnhälften vermag möglicherweise auch die Frage der Beziehung zwischen konventionalisierten und unkonventionellen Metaphern zu erhellen – und diese Beziehung wiederum wirft potenziell Licht auf die Frage, wie die Hirnhälften sich an der Verarbeitung der Metapher beteiligen. Dies ist allerdings nur indirekt aus den bislang vorliegenden Ergebnissen der Hemisphärenforschung erschließbar, zumal diese zumeist mit einem eher vereinfachten Metaphernbegriff operiert. Die Bedeutung des Konventionalisierungsgrads sei anhand der Studie von Anaki, Faust u. a. aufgezeigt, zumal die Autoren den mangelnden Konsens hinsichtlich einer Definition der Metapher hervorheben und als Forschungshindernis begreifen: »The lack of consensus regarding what constitutes a metaphor is a major theoretical stumbling block confronting research into the use and processing of metaphors.«224 Gewissermaßen als Behelfslösung bestimmen die Autoren den Begriff empirisch: »the term, metaphor, [is] used ›to refer to any linguistic expression that is intended and/or recognized as a metaphor by a speaker or listener (writer or reader)‹.«225 Dabei dient der Konventionalisierungsgrad zur Bestimmung einer allgemein als solcher anerkannten Metapher. Die Autoren berichten, dass die Versuchspersonen zunächst die Aufgabe erhielten, den wahrgenommenen Frequenzgrad einer Metapher zu bestimmen, mit dem Ziel, die Auswahl von Metaphern mittlerer Frequenz zu ermöglichen: The selection of metaphoric words with an intermediate frequency was made in attempt to avoid, on the one hand, frequently used metaphors. Due to excessive use the meaning of such metaphors may be more literal than metaphoric (›dead metaphors‹). On the other hand, an infrequently used metaphor word might not be comprehended as metaphoric at all and therefore its selection was also avoided.226
Frequenz wird hier mit Lexikalisierung und diese wiederum mit wahrgenommener ›Wörtlichkeit‹ identifiziert. Dass ›konventionell‹ nicht einfach mit wahrgenommener ›Wörtlichkeit‹ gleichgesetzt werden kann, geht aus dem bereits zitierten Beispiel von Taylor und Regard hervor: Das englische 223 Zur Komplexität der Befunde hinsichtlich der hemisphärischen Verarbeitung von Metaphern und zur Unsicherheit der Forschungslage vgl. Sotillo, Carretié u. a. 2005, S. 5 u.ö. 224 Anaki, Faust u. a. 1998, S. 693. 225 Ebd. 226 Ebd., S. 694.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Idiom ›to be raining cats and dogs‹ ist ein konventioneller Ausdruck für starken Regen, aber es ist unwahrscheinlich, dass er als ›wörtlicher Begriff‹ gewertet würde. Nichtsdestoweniger ist die Bestimmung von Anaki, Faust u. a. ernstzunehmen, denn sie weisen aus der Perspektive der Hirnforschung implizit auf das oben thematisierte Spektrum hin: Sie unterscheiden zwischen unterschiedlichen Graden der Lexikalisierung und ordnen die konventionalisierte, lexikalisierte Metapher tendenziell den primär linksseitig verarbeiteten, verbalen – hier als »wörtlich« bezeichneten – Prozessen zu. Die für die Hemisphärenforschung hinsichtlich der Metapher primär interessante Aktivierung der rechten Hemisphäre erfolgt vermutlich bei metaphorologisch nicht besonders vorgebildeten Versuchspersonen besonders im Falle des Einsatzes von ›prototypischen‹ Metaphern, die ohne nähere Definition auch vom Laien als solche erkannt werden. Extrem ungewöhnliche Metaphern bedürfen dagegen eines besonderen Kontexts, der eine erhöhte Bereitschaft für die Erschließung kühner metaphorischer Assoziationen erzeugt; Beispiel wäre die Gattung ›Gedicht‹, die typischerweise ein außergewöhnliches Maß an Geduld, Aufmerksamkeit sowie auch Vorbildung erfordert. Ein solches Spektrum würde nahelegen, dass die Metapher sich keineswegs auf die rechte Hirnhälfte beschränken lässt, sondern dass ihre Verarbeitung komplex ist und nicht zuletzt in Abhängigkeit von ihrem Konventionalitätsgrad variiert. Ist sie aufgrund eines Mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten ›notwendig‹ oder aus anderen Gründen konventionell, so ist sie als lexikalisierte Einheit in der linken Hirnhälfte gespeichert und lässt sich wie jede andere lexikalische Einheit sofort abrufen und artikulieren.227 Je unkonventioneller beziehungsweise kreativer sie ist, desto mehr bedarf sie der langsamen, assoziativ verfahrenden Verarbeitung, die am effektivsten von der rechten Hirnhälfte geleistet wird. Dabei ist davon auszugehen, dass eine langsamere, ›kreativere‹ Verarbeitung zugleich die kognitive Wirkung der Metapher verstärkt und die mentale Hervorbringung komplexer Szenarien fördern wird. In diesem Prozess vermag die Metapher somit ihre sinnlich ›belebende‹ Wirkung zu entfalten und die imaginativen Fähigkeiten zu aktivieren. Auch die lexikalisierte Metapher dürfte jedoch kaum in die linke Hirnhälfte ›eingesperrt‹ sein, da sie die Möglichkeit der ›Belebung‹ birgt, wobei der mentale oder pragmatische Kontext die konventionelle Metapher als Metapher auffällig machen kann und dadurch zur intensivierten Verarbeitungsweise anregt. Aktiviert wird damit die reicher assoziierende rechte Hirnhälfte.
227 Vgl. zur schnellen Abrufbarkeit konventioneller Metaphern Black 1996a, S. 70 f.; s. o., S. 129.
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Bestätigung findet dieses Modell auch in anderen Forschungsergebnissen der Neuropsychologie228 sowie in dem psychologisch fundierten Forschungsergebnis von Gentner, Bowdle u. a., dass die Metapher sich zwischen Idiom und Analogie bewegt: »Metaphor is related on the conventional side to idiom and on the novel side to analogy.«229 Ihren Ergebnissen zufolge führt die Konventionalisierung der Metapher zur lexikalischen Speicherung: »Conventionalization results in a shift in metaphor processing from on-line active interpretation to retrieval of stored meanings.«230 Die unkonventionelle Metapher dagegen beruht auf einem analogischen Prozess: Comparison is the fundamental process that drives metaphor. Novel metaphors are understood only by comparison. Conventional metaphors can be understood by accessing stored abstractions, but these metaphoric abstractions are a product of past comparisons.231
Konventionelle und unkonventionelle Metaphern werden somit potenziell auf unterschiedliche Weise verarbeitet und involvieren unterschiedliche Fähigkeiten. Sie beruhen jedoch ›ursprünglich‹ auf demselben kognitiven Vorgang, und die Beziehung zur ›ursprünglichen‹ kognitiven Metapher bleibt gewahrt.232 Diese Ergebnisse könnten erklären, warum eine konventionalisierte Metapher als ›tote‹ Metapher konzeptualisiert wird. Als Metapher ist sie tatsächlich ›tot‹, weil sie automatisch abgerufen wird und sich im kommunikativen Einsatz nicht verändert. Ebenso wird jedoch deutlich, wie es möglich ist, dass sie ›belebt‹ werden kann: Es handelt sich eher um eine ›schlummernde‹ oder ›eingefrorene‹ Metapher233 mit einer latenten Metaphorizität, die sich jederzeit kognitiv aktivieren lässt. Wenn Gentner, Bowdle u. a. das kreative Extrem des metaphorischen Spektrums mit der Analogie in Verbindung bringen, so bestätigen sie den Zusammenhang zwischen der Metapher und dem ›Erkennen von Ähnlichkeiten‹, das Aristoteles für die Metapher verantwortlich macht, wobei das semantisch komplex und kreativ assoziierende Denken der Hirnsphärenforschung zufolge besonders in der rechten Hirnhälfte erfolgt.234 Mit der Fähigkeit des Erkennens von Ähnlichkeiten – die Aristoteles zufolge auf
228 229 230 231 232
Vgl. Mashal, Faust u. a. 2005. Gentner, Bowdle u. a. 2001, S. 238. Ebd., S. 216. Ebd., S. 234. Vgl. ebd., S. 235. Dies geht auch aus der von Lakoff und Johnson sowie von anderen erforschten Systematik in der Beziehung zwischen Idiomen und kognitiven Metaphern hervor. 233 Vgl. »dead (or bleached, or frozen) [metaphors]« (Gentner, Bowdle u. a. 2001, S. 241). Je nach gewählter Metapher verändert sich der vorgestellte Prozess. Abzulehnen ist der deutsche Begriff ›Exmetapher‹ (vgl. beispielsweise Homberger 2003, S. 139), weil er ein diachronisches Modell voraussetzt, das der Möglichkeit der ›Neubelebung‹ nicht Rechnung trägt. 234 Vgl. Brugger 2006, S. 43.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
natürlicher Begabung beruht235 – ist offenbar ein kognitiver Komplex bezeichnet, der ein weitreichendes Potenzial für eine besondere Art der Kreativität hat und der wiederum Aufschluss über die Funktionsweise der Metapher sowie ihren besonderen Beitrag zur Sprache geben kann. Es handelt sich dabei um ein ›divergentes‹ Denken, bei dem sich die gedanklichen Assoziationen weit ausbreiten, gegenüber einem ›konvergenten‹ Denken, bei dem das durch Assoziieren neu Gefundene eher sequenziell an das Bekannte angeknüpft wird. Dabei gilt die individuell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit beziehungsweise Neigung, »über gewohnte Kategoriengrenzen hinweg zu assoziieren«, als besonders ›kreativ‹.236 Die Forschung zur hemisphärischen ›Arbeitsteilung‹ hinsichtlich der Sprache ist hier deshalb so ausführlich diskutiert, weil sie aus neuropsychologischer Perspektive Einblicke in Aspekte der Sprache bietet, die schon seit der Antike in der Metapherndiskussion eine zentrale Rolle spielen und für ein Verständnis des Phänomens Metapher von grundlegender Bedeutung sind – so besonders in das Zusammenspiel von Denken und Sprache, in Prozesse der Visualisierung und in die Bedeutung des Erkennens von ›Ähnlichkeiten‹. Ausgehend von den oben dargestellten Ergebnissen der Hirnforschung lassen sich besonders folgende Punkte zur Beschaffenheit und Funktionsweise der Metapher festhalten:
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Sowohl die Sprache im Allgemeinen als auch die Metapher im Besonderen sind in die Gesamtheit der kognitiven Prozesse integriert und nicht isolierbar. Die Metapher ist mit verbalen Prozessen verbunden, ohne doch von ihnen abhängig oder auf sie eingeschränkt zu sein. Dies bestätigt die Prämisse der kognitiven Metapherntheorie: »Metaphorical thought […] is primary; metaphorical language is secondary.«237 Allerdings ist bezüglich der metaphorischen Praxis im Allgemeinen von einem Zusammenspiel zwischen kognitiven und verbalen Prozessen auszugehen. Die Metapher involviert offenbar verstärkt Teile des Hirns, die über das ›verbale Denken‹ hinausgehen. Dies erklärt die schon in der Antike festgestellte Eignung der Metapher für die mentale Stimulierung der Sinne. Sie ermöglicht somit ein Zusammenspiel zwischen sprachlichem Denken und anderen, sinnlich-imaginativen Formen des Denkens. Die Metapher steht offenbar mit besonders ›kreativen‹ Formen des Denkens in Verbindung.
235 Aristoteles 1994, S. 74–77 (Kap. 22; 1459a). Dass diese Fähigkeit »auch in der Philosophie Charakteristikum eines richtig denkenden Menschen ist«, betont Aristoteles in seiner Erörterung der Metapher in der »Rhetorik« (1995a, S. 194 f.; III, 11, 5; 1412a). 236 Brugger 2006, S. 41. 237 Lakoff/Johnson 1999, S. 123.
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist
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Die Menschen differieren hinsichtlich ihrer Fähigkeit beziehungsweise Neigung, ›Auseinanderliegendes‹ zu verknüpfen; dies entspricht der schon in der Antike thematisierten Unterscheidung des kreativen ›Genies‹ von anderen Menschen – eine Erklärung für die Beliebtheit ›kühner‹ Metaphern sieht Cicero darin, dass es »ein gewisses Zeichen von Genie ist, das zu übergehen, was einem vor den Füßen liegt, und etwas anderes zu nehmen, das […] weit her geholt ist.«238
Die neurowissenschaftliche Forschung vertieft beziehungsweise ergänzt somit jene Erkenntnisse, die bereits in der Antike zur kognitiven Beschaffenheit und psychologischen Funktion der Metapher zumindest ansatzweise diskutiert werden. Oder anders gesehen, Aristoteles bezeichnete mit dem ´ ein kognitiv-sprachliches Phänomen, das Besonderheiten Begriff metajora gegenüber logisch-verbalen Prozessen aufweist: indem es mit Prozessen der nicht-verbalen Kognition verbunden ist; indem es als Alternative zum logischen Denken ein analogisches Verfahren nutzt; indem es das abstrakte verbale Denken durch ein ganzheitlicheres, direkter an die Sinne appellierendes Denken ergänzt; und indem es ein sprachlich-kognitives Spektrum bezeichnet, das von ›notwendigen‹ und/oder konventionalisierten, stabilen lexikalischen Einheiten bis hin zu kreativen, unkonventionellen, lebhaften, unbegrenzt ausweitbaren bildlichen Szenarien reicht, die Geist, Emotionen und Körper affizieren können. Damit vermag die Metapher durch ihre flexible Verbindung von ›sprachlichem‹ und ›sinnlichem‹ Denken jene Prozesse zu aktivieren, die traditionell dem Bereich der ›Imagination‹ beziehungsweise der ›Phantasie‹ zugerechnet werden.
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist Wenn die Metapher besonders geeignet ist, das verbale Denken für andersartige kognitive Prozesse zu ›öffnen‹, so erhält sie auch hinsichtlich des Bezugs zwischen der Sprache und der kognitiven Verarbeitung körperlicher Vorgänge eine wichtige Funktion. Dieser Bezug ist insofern wichtig, als die Metapher die Tendenz hat, abstrakten Vorstellungen eine physische Struktur zu geben. Es steht daher zu vermuten, dass wir dabei unsere eigenen Erfahrungen von der physischen Welt einsetzen – Erfahrungen, die vornehmlich körperlicher Art sind. Denn psychologisch gesehen ist es unser Körper, der uns am unmittelbarsten die physische Welt nahebringt, und ohne unsere körperlichen Fähigkeiten können wir die Welt geistig gar nicht erfahren. 238 Cicero 1976, S. 544 f. (III, 160).
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Während die kognitive Linguistik in Bezug auf die artikulierte Sprache – also das ›Produkt‹ der mentalen Prozesse – einen ganzheitlichen Ansatz vermissen lässt, so ist dieser in Bezug auf psychologische Prozesse sehr viel eher realisiert. Besonders lässt sich dies an den Untersuchungen zur Funktion des Körpers als einer semantisch produktiven Größe verfolgen: »The ›embodiment‹ of meaning is perhaps the central idea of the cognitive linguistic view of metaphor and indeed of the cognitive linguistic view of meaning.«239 Einen bedeutenden Beitrag lieferte 1987 Johnsons Arbeit The Body in the Mind. Er versteht die Studie primär als Beitrag zur Philosophie und setzt sich hier radikal mit den Voraussetzungen der philosophischen Tradition auseinander, wie aus dem Untertitel hervorgeht: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Indem er die Imagination ins Zentrum des Interesses rückt, ergibt sich eine viel offenere Konstellation gegenüber der Beziehung zwischen Sprache und mentalen Prozessen als bei Lakoff – auch wenn Johnson der artikulierten Sprache keine Aufmerksamkeit widmet. Denn mit seiner Fokussierung des Körpers und der Imagination sowie seinen Ausführungen zur Metapher als einer imaginativen ›Projektion‹ sind die Grenzen der rationalistischen Sprachtheorie außer Kraft gesetzt. Integrierbar wird zudem die Wirkung der artikulierten Sprache, denn sowohl die Kraft der Imagination als auch die Metapher von der ›Projektion‹ erlauben die Vorstellung von Grenzüberschreitungen. Wiewohl ›interne‹ Prozesse im Vordergrund stehen, versteht Johnson diese als wesenhaft auch für die interaktive Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft: These embodied patterns do not remain private or peculiar to the person who experiences them. Our community helps us to interpret and codify many of our felt patterns. They become shared cultural models of experience and help to determine the nature of our meaningful, coherent understanding of our »world«.240
Für das vorliegende Projekt ist dieser Ansatz produktiv: Denn zu den wichtigsten Funktionen der Dichtung gehört die gemeinschaftsstiftende Interpretation und Kodierung individueller und kollektiver Erfahrung. Die mit metaphorischen Prozessen arbeitende Imagination spielt dabei eine nicht zu überschätzende Rolle. Und in Gegensatz zum philosophisch besetzten Bereich der Ratio galt die Imagination schon immer als Domäne der Dichtung. Die Phantasie oder Imagination wird bereits in Antike, Mittelalter und Renaissance als grundlegendes geistiges Vermögen konzipiert. Seit Aristoteles und bis in die Neuzeit hinein stehen den fünf äußeren Sinnen drei innere, interagierende Sinne gegenüber: Phantasie oder Imagination in der vorderen Gehirnkammer, ingenium, ›common sense‹ oder Vernunft in der
239 Kövecses 2002, S. 16. 240 Johnson, M. 1987, S. 14.
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist
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mittleren, und in der hinteren das Gedächtnis.241 Johnson unternimmt gewissermaßen eine Revitalisierung dieser Tradition unter Fokussierung der Imagination und der integrativen Prozesse und ohne die Grenzziehungen, wobei er bemüht ist, die grundsätzliche anthropologische Bedeutung der Imagination herauszuarbeiten. Ziel ist, in Auseinandersetzung besonders mit Kants Theorie von der Einbildungskraft unterschiedliche antike Ansätze zusammenzuführen: Einerseits die von der Romantik aufgewertete platonische Tradition, welche die Imagination (als ›niedrigste‹, lediglich mit Bildern, Schatten und Spiegelungen sich befassende Form der Kognition) mit den Künsten, mit Vorstellungs- und Einbildungskraft sowie mit Kreativität assoziiert, und andererseits die aristotelische Tradition, in der die Imagination die Sinneswahrnehmungen mit der Vernunft verbindet.242 Zu überwinden sucht Johnson insbesondere die rationalistische Trennung zwischen zwei ontologisch geschiedenen Seiten der menschlichen Natur, der körperlichen und der rationalen:243 as animals we have bodies connected to the natural world, such that our consciousness and rationality are tied to our bodily orientations and interactions in and with our environment. Our embodiment is essential to who we are, to what meaning is, and to our ability to draw rational inferences and to be creative.244
Johnsons Projekt beruht auf der These, dass die sprachlich sich manifestierende Imagination Körper und Geist sowie körperliche und geistige Erfahrung integriert. Für eine noch zu entwickelnde Theorie der Imagination stellt Johnson kognitiv-sprachliche Komponenten in den Vordergrund: Kategorisierung aufgrund von Prototypen; Schemata; metaphorische Pro241 Eine skizzenhafte Darstellung dieses Modells liefert Assmann, A. 1999, S. 30 f.; den komplexen Variationen im Modell sowie den begriffsgeschichtlichen Verschiebungen geht sie nicht weiter nach. 242 Vgl. das Kapitel »Towards a Theory of Imagination« (Johnson, M. 1987, S. 139–172, bes. S. 141–144). In der Einleitung marginalisiert Johnson die romantische Tradition, so wenn er betont, »›imagination‹ is a basic image-schematic capacity for ordering our experience; it is not merely a wild, non-rule-governed faculty for fantasy and creativity« (ebd., S. xx). Dass der romantische Phantasiebegriff indes prinzipiell miteinbezogen wird, geht aus den späteren Kapiteln hervor (vgl. bes. ebd., S. 139 f.). Bei der einführenden Marginalisierung spielt offenbar ein legitimierender Zweck mit: Johnson rechtfertigt damit sein Projekt gegenüber einer rationalistisch bestimmten Wissenschaftskultur, die ganz in Einklang mit platonischen Vorgaben die Phantasie als minderwertige geistige Fähigkeit auffasst. Gegenüber Johnsons 1987 publizierter Studie geht Stockwell im Jahre 2002 von einer generellen Akzeptanz der Integration und ›Verkörperung‹ von Vernunft, Imagination usw. in den kognitiven Wissenschaften aus (Stockwell 2002, S. 4 f., 27 u.ö.) – was allerdings eine Vereinfachung der kognitiven Forschungsansätze sein dürfte. 243 Johnson, M. 1987, bes. S. xxvif. Als Beispiele für darauf aufbauende binäre Oppositionen führt er an: »mind/body, reason/imagination, science/art, cognition/emotion, fact/value« (ebd., S. 140). Zur Geist/Körper Opposition bei Kant sowie deren Kritik bei Gadamer vgl. ebd., S. 166 f. Spezifisch setzt er sich mit Kants Trennung von Geist und Körper auseinander, da hier durchaus platonisch die Einbildungskraft der Seite des Körpers zugeordnet wird. 244 Ebd., S. xxxviii.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
jektionen; Metonymie; narrative Struktur.245 Damit wird den sprachlichen Dimensionen der Dichtung im Reich der Philosophie ein zentraler Platz zugewiesen. Dichtung und Poetik lassen sich in diesem Kontext als unbegrenzt interagierende Diskurse verstehen. Johnsons Unterscheidung zwischen abstrakteren ›Bildschemata‹ und reicher ausgestalteten Metaphern stellt eine Weiterentwicklung der gemeinsam mit Lakoff erarbeiteten Metapherntheorie von 1980 dar, ohne dass die an sprachlichem Beispielmaterial reiche frühere Studie damit überholt wäre; weiter entwickelt werden dann wiederum Aspekte der Metapherntheorie im gemeinschaftlichen Projekt Philosophy in the Flesh von 1999. Wenn auch der Versuch einer eindeutigen Unterscheidung zwischen ›Bildschema‹ und ›Metapher‹ problematisch erscheint,246 so ist doch die Theorie von einer Projektion einfacher, körperbezogener Strukturen überzeugend. Im Folgenden soll daher in groben Zügen Johnsons Theorie zu den Bildschemata und deren metaphorischen Projektionen erörtert werden, denn sie liefert eine plausible Erklärung dafür, wie die Metapher gewissermaßen von Grund auf in Kognition und Sprache verwurzelt sein könnte. ›Bildschemata‹ sind für Johnsons Theorie vom ›verkörperten‹ Denken zentral; sie beziehen sich prinzipiell auf Phänomene, die in Metaphors We Live By als ›ontologische Metaphern‹ und ›Orientierungsmetaphern‹ behandelt wurden. In Abgrenzung zu anderen Schema-Begriffen in der Kognitionswissenschaft versteht Johnson seinen Ansatz als Weiterentwicklung der von Kant in der Kritik der reinen Vernunft dargestellten Theorie:247 In der That liegen unsern reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte etc., gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren.248
Johnson wandelt den Schemabegriff jedoch grundlegend ab, indem er ihn einerseits in körperlichen Prozessen verankert und andererseits mittels seiner Metapherntheorie zu interagierenden imaginativen, rationalen und sprachlichen Prozessen hin öffnet: Als körperlich erfahrene, aber abstrakte 245 Ebd., S. 171 f. Johnson konzentriert seine Untersuchungen auf Schemata und deren metaphorische Projektionen. Lakoffs Studie von 1987 bietet einen grundlegenden Beitrag zur Kategorientheorie, während Turner 1996 die narrative Struktur zum »Ursprung des Denkens und der Sprache« erklärt (ebd., Titel). Turners schmaler Band ist als anti-chomskysches Gedankenexperiment anregend, aber weniger überzeugend als die Beiträge von Lakoff und Johnson. 246 S.o., S. 137 f. 247 Vgl. Johnson, M. 1987, S. 19–24 und 152–157. 248 Kant 1900, Bd. 4, S. 101 (Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage, I, 2. Theil, 1. Abtheilung, 2. Buch, 1. Hauptstück, Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe).
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist
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Strukturen erlauben solche Schemata schier unbegrenzte metaphorische Elaborierung. Grundlegend ist seine Annahme, dass propositionaler (in einem logischen Satz ausdrückbarer) Gehalt ein komplexes Netzwerk von solch nicht-propositionalen, schematischen Strukturen voraussetzt, die aus unserer körperlichen Erfahrung heraus entstehen. Die Logik eines gegebenen Arguments setzt immer eine wesentliche, irreduzible metaphorische Struktur voraus, deren Verständnis erst das Verständnis des Arguments ermöglicht.249 Anders als bei Blumenberg ist aber diese metaphorische Struktur interaktiv einerseits mit körperlichen Prozessen und andererseits mit den logischen Begriffen verbunden. Wenn Johnson diese Bildschemata als »vorbegriffliche« Prozesse darstellt,250 so ist dies auch entwicklungspsychologisch zu verstehen, wie aus seinen einführenden Danksagungen deutlich wird, wenn er die Bedeutung von Beobachtungen der Entwicklung seines kleinen Sohnes hervorhebt: Every single day he gurgled, grasped, crawled, sucked, tottered, and groped his way toward a balanced upright posture and the miracle of speech that comes along with it; he reminded me constantly of the obvious centrality of our embodiment in the constitution of our world and of all its possibilities for meaning.251
Deutlich wird in diesem Beispiel die Dynamik, die Johnson – in Gegensatz zu Kant – für Schemata geltend macht: »An image-schema is a recurring, dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience.«252 Unter Bezug auf das Gleichgewichtsschema erläutert Johnson, wie die vorbegriffliche körperliche Erfahrung zu einer kognitiven Struktur wird: Balancing is an activity we learn with our bodies and not by grasping a set of rules or concepts. First and foremost, balancing is something we do. […] There are those few days when the synapse connections are being established and then, fairly suddenly, the baby becomes a little homo erectus. Balancing is a preconceptual activity.253
Solche Strukturen wiederholter körperlicher Aktivität gestalten kognitiv erfasste Erfahrungen, die wiederum das Bildschema strukturieren. Bildsche249 Johnson, M. 1987, S. 5. 250 Johnson benutzt den Begriff »preconceptual« (ebd., S. 22). 251 Ebd., S. xviii. Auch eine Verbindung zu nicht-propositionaler ästhetischer Erfahrung wird angedeutet, wenn Johnson die erkenntnisstiftende Wirkung der Kunstwerke seiner Frau hervorhebt: »The depths of meaning that emerge through color, line, texture, form, and sheer physical presence« (ebd.). Entsprechend seiner körperbezogenen Metapherntheorie findet sich in seiner Darstellung in Einklang mit rationalistischen Modellen – aber auch in Entsprechung zur oben situierten Position des Hirns – eine vertikale Metaphorik, die körperliche Prozesse ›unter‹ rationale Prozesse stellt: »I am going to explore some […] ways in which structures of our bodily experience work their way up into abstract meanings and patterns of inference« (ebd., S. xix, Hervorhebung KK). Seine Metaphorik setzt jedoch eine kontinuierliche Dynamik voraus. Die zeitliche Priorisierung der körperlichen Erfahrung impliziert einen entwicklungspsychologischen Aspekt des Modells. 252 Ebd., S. xiv. Vgl. ähnlich ebd., S. 79, wo Johnson auch »cognitive operations« miteinbezieht. 253 Ebd., S. 74. Zum Gleichgewichtsschema vgl. ebd., S. 73–100,
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
mata sind hinsichtlich ihrer spezifischen Umsetzung flexibel, und sie sind relativ einfach, indem sie aus einer kleinen Anzahl von Komponenten bestehen, die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen. Zugleich sind sie jedoch ganzheitliche, intern strukturierte Erlebniseinheiten oder ›Gestalten‹ im Sinne der Gestaltpsychologie.254 Johnson stellt eine Liste von 27 der ›wichtigsten‹ Bildschemata auf, verweist jedoch auf einen alternativen Ansatz, der mit anderen Kriterien etwa 253 Schemata geltend macht.255 Eine wiederum andere, systematische Klassifikation liefern Croft und Cruse, um die Nähe zu Ansätzen in der kognitiven Psychologie und Phänomenologie aufzuzeigen.256 Das Unterfangen, eine feste Anzahl von Schemata festzulegen, die klar voneinander abgegrenzt sind, scheint der philosophischen Kategorienlehre entlehnt, auch wenn eine Organisation der Begriffe nach ›Prototypen‹ geltend gemacht wird. Hilfreich bleibt jedoch das Prinzip der von körperlicher Erfahrung ausgehenden Projektion, und es sollen daher einige der von Johnson behandelten Schemata skizziert werden, die in den folgenden Kapiteln in verschiedenster metaphorischer Ausprägung begegnen werden:257
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BEHÄLTER:
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Dieses Schema entspricht der räumlichen Erfahrung unseres Körpers als ›Behälter‹ (für Nahrung, Blut, Wasser) innerhalb von ›Behältern‹ (Gebärmutter, Zimmer, Land, Welt) sowie unserer Erfahrung der Interaktion mit anderen ›Behältern‹ (Kiste, Topf, Auto). Darstellbar wäre das Schema somit durch einen Körper innerhalb eines Kreises, wobei sowohl der Körper als auch der Kreis sich in unbegrenzt vielen Formen manifestieren und der Körper sich an jeder beliebigen Stelle innerhalb des Kreises befinden kann.259 Die zentrale Rolle dieses
254 Vgl. ebd., S. 41–64. In vereinfachter Form in die kognitive Linguistik übernommen wurde der Begriff ›Gestalt‹ von Lakoff: »What I would ultimately like to show […] is that thought, perception, the emotions, cognitive processing, motor activity, and language are all organized in terms of the same kind of structures, which I am calling gestalts. […] Gestalts are at once holistic and analyzable. They have parts, but the wholes are not reducible to the parts.« (Lakoff 1977, S. 246). Vgl. dazu Baldauf 1997, S. 32–34; sie bezeichnet »Gestalt« als »Kernbegriff des holistischen Ansatzes« (ebd., S. 32). 255 Johnson, M. 1987, S. 126. 256 Croft/Cruse 2004, S. 40–73, bes. 46. 257 Die Erörterung der folgenden Bildschemata beruht auf Johnsons Ausführungen, benutzt jedoch teilweise abgewandelte, der deutschen Idiomatik entsprechende Sprachbeispiele. 258 Vgl. Johnson, M. 1987, S. 21–23 und S. 30–40. Zu Bildschemata und bildschematischen Metaphern s. a. Baldauf 1997, S. 66–71, 123–177 und 309–322; Kövecses 2002, S. 36–38. 259 Johnson veranschaulicht die näher erläuterten Schemata mit Diagrammen, betont jedoch, dass Schemata nicht als ›Bilder‹ aufzufassen sind und tendenziell irreführend sind: »All diagrams of schemata are misleading; in particular, they tend to make us identify embodied schemata with particular rich images or mental pictures. The distinction between schemata and rich images is crucial« (Johnson, M. 1987, S. 23). Um das Phänomen wissenschaftlich angemessen zu verstehen, muss somit bei der konkreten, statisch-räumlichen Definition die abstrakte, dynamische Prozessualität mitgedacht werden.
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist
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Schemas für unsere Erfahrung in der Welt lässt sich in der Sprache an der Verbreitung und Systematik der Präpositionen ›in‹ und ›aus‹ erkennen. Metaphorisch kann das Schema auf geographische Einheiten, Veranstaltungen, Emotionen, Texte übertragen werden: Wir kommen ›aus der Türkei‹ oder ›aus einer Vorlesung‹, wir befinden uns ›im Stress‹ oder lesen etwas ›in der Zeitung‹. Dieses Schema bietet auch eine typische Möglichkeit der Strukturierung von Zeit: So leben wir ›in einer Epoche‹ oder ›in einem Zeitraum‹ oder tun etwas ›innerhalb dieses Jahres‹. 260 WEG: Dieses Schema ergibt sich aus unseren täglichen Bewegungsabläufen im Raum und besteht aus folgenden Elementen: Anfangspunkt, Endpunkt, verbindende Strecke mit möglicher Direktionalität zum Endpunkt hin. Es lässt sich entweder der Weg fokussieren, oder aber das auf dem Weg sich in Bewegung Befindliche. Das Schema lässt sich metaphorisch in die unterschiedlichsten Bereiche übertragen, ohne dass alle Elemente ausgeführt werden müssen (›der Ausgangspunkt eines Gesprächs‹, ›der medizinische Fortschritt‹, ›das führt zu weit weg vom Thema‹, ›eine Umorientierung der Forschung‹, ›ein zielstrebiger Mensch‹). Die Tatsache, dass zwischen dem Verlassen des Anfangspunkts und dem Erreichen des Endpunkts eine gewisse Zeit verstreicht, bietet eine Erklärung für die Vorstellung von der Zeit als Linie (›das Ende der Woche‹), als begangener Weg (›ich habe die Prüfung hinter mir‹) oder als laufender Körper (z. B. ›die Zeit geht schnell vorbei‹). 261 VERTIKALITÄT (oder SKALA): Dieses Schema leitet sich aus unserer aufrechten Körperhaltung und den tagtäglichen Erfahrungen von Vertikalität her: der Wahrnehmung eines Baumes oder Hochhauses, der Tätigkeit des Treppensteigens, der Erfahrung des steigenden Wasserspiegels in der Badewanne, des wachsenden Haufens von Sand. Typisch für dieses Schema ist eine normative Tendenz – ob ein Ding höher oder weniger hoch ist oder man mehr oder weniger von einer Sache hat, wird als gut oder schlecht bewertet; zusätzlich hat die Möglichkeit der zahlenmäßigen Abstufung zur zentralen Rolle dieses Schemas in der westlichen Kultur beigetragen. Metaphorisch manifestiert sich das Schema in ›niedrigem Wert‹, ›hoher Kultur‹, ›steigender Arbeitslosigkeit‹ oder ›überragender Leistung‹.262 Die Verquickung dieses Schemas mit dem Wegschema ergibt die Vorstellung vom fortschreitenden ›Aufstieg‹. 263 VERBINDUNG: Dieses Schema erklärt sich aus physischen Verbindungen zwischen zwei Punkten im Raum (die Nabelschnur verbindet Mut-
260 Vgl. ebd., S. 28 f. und 113–117. 261 Vgl. ebd., S. xivf. und 121–124. 262 Deutlich wird die Weiterentwicklung der 1980 von Lakoff und Johnson vorgelegten Theorie: Johnson liefert hier eine ausführliche Fundierung der damaligen Erklärung von ›Orientierungsmetaphern‹ (vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 14–21). 263 Vgl. Johnson, M. 1987, S. 117–119.
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ter und Kind, die Brücke verbindet zwei Ufer, die Schnur zwischen zwei Knoten lässt sich zum Netz erweitern). Aber auch abstraktere Formen der Verbindung bilden grundlegende Erfahrungen, so Verwandtschaftsverhältnisse und zeitliche Verbindungen zwischen Ereignissen mit der Möglichkeit einer kausalen Verbindung (Aufstehen – Schlafengehen, Angriff – Gegenangriff ). Metaphorisch strukturiert es beispielsweise ›Verkehrsverbindungen‹ oder verbindet die Menschen zu ›Vereinen‹ und ›Bündnissen‹; ›Konjunktionen‹ schaffen logische Verbindungen. Auch ein ›Vergleich zwischen zwei Inszenierungen‹ setzt dieses Schema voraus. 264 GLEICHGEWICHT: Dieses Schema lässt sich auf eine vorbegriffliche körperliche Erfahrung zurückführen, die auch zu anderen Formen der potenziellen Gleichgewichtigkeit und des Ausgleichs in Beziehung steht, so zur Herstellung des Gleichgewichts von ›innen‹ und ›außen‹ sich befindenden Substanzen. Der Akt des Ausbalancierens erzielt den Ausgleich von auf einen Körper einwirkenden Kräften um einen Punkt oder eine Achse; Resultat ist ein Zustand der Stabilität und Ruhe. Auch metaphorisch auf andere Bereiche übertragen gilt das ›Gleichgewicht‹ meist als Ideal: Im Bereich der Emotionen will man nicht ›aus dem Gleichgewicht kommen‹, sondern ›ausgeglichen‹ sein; politisch sichert ein ›Gleichgewicht der Kräfte‹ einen prekären Frieden oder bildet die Opposition ein ›Gegengewicht‹ zur Regierung. Im sportlichen oder dichterischen Wettstreit geht es um die Destabilisierung des spannungsvollen ›Gleichgewichts der Kräfte‹ zugunsten eines Siegers. Wenn Entscheidungen notwendig sind, wird etwas ›abgewägt‹ oder es ›gibt den Ausschlag‹; es kann ›das Zünglein an der Waage‹ bilden oder ›überwiegen‹; in der Entscheidung zwischen Leben und Tod kann das Leben ›in der Schwebe hängen‹.
Überzeugend zeigt Johnson, dass es sich bei Bildschemata um fundamentale Muster handelt, die für das komplexe Denken unerlässlich sind. Deutlich wird dies in der Metaphorik der philosophischen Tradition, in der die angeführten Schemata durchgängig strukturbildend wirksam sind; Beispiele sind Hegels Begrenzungs- und Vertikalitätsmetaphern. Charakteristisch ist für solche Schemata die Flexibilität der metaphorischen Konkretisierung, Ausführung und/oder Erweiterung, zugleich aber auch das Wechselspiel mit der Einschränkung von Möglichkeiten der Extension, die durch die Strukturierung gegeben ist. Dieses Prinzip der sowohl von Bildschemata als auch von grundlegenden metaphorischen Systemen erzeugten Einschränkung erläutert Johnson durch die Analogie mit einem Kanal: To say that image schemata »constrain« our meaning and understanding and that metaphorical systems »constrain« our reasoning is to say that they establish a range 264 Vgl. ebd., S. 73–100.
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of possible patterns of understanding and reasoning. They are like channels in which something can move with a certain limited, relative freedom. Some movements (inferences) are not possible at all. They are ruled out by the image schemata and metaphors. But within these limits, there is a measure of freedom or variability that is heavily context-dependent. Which inferences can be sanctioned will depend […] on the metaphorically organized background against which phenomena appear, questions are posed, investigations are performed, and hypotheses are formulated.265
Die Bedeutung des Kontexts für die Wirkung der Metapher ist bereits im Rahmen der ›Interaktionstheorie‹ in den Vordergrund der Metapherntheorie gerückt.266 Hier jedoch wird ›Kontext‹ zu einem kognitiven Paradigma ausgestaltet, in dem die Metapher mithilfe von ›Bahnen’, ›Kanälen’ und anderen Verbindungen strukturbildend das Denken ermöglicht, zugleich aber mit diesen Vorgaben tendenziell andere Verbindungen verhindert. Problematisch wird Johnsons Bildschematheorie hinsichtlich des Bezugs zur Metapher, der letztlich unklar bleibt. Dies geht aus den von ihm verwendeten Metaphern hervor: [Image schemata] operate at one level of generality and abstraction above concrete, rich images. […] In sum, image schemata operate at a level of mental organization that falls between abstract propositional structures, on the one side, and particular concrete images, on the other.267
Die Metapher von unterschiedlichen ›Ebenen‹ impliziert voneinander getrennte ›Schichten‹ im metaphorischen Prozess. Seine auch andernorts benutzte Vertikalitätsmetaphorik scheint aus rationalistischen Modellen übernommen zu sein, die den Geist sowie das Abstrakte über dem Körper ansiedeln. Dies ergibt jedoch keinen Sinn, wenn es um körperliche Erfahrungen oder Wahrnehmungen geht, die kognitiv oder imaginativ (weiter)verarbeitet werden. Dass Johnsons Metapher von den Ebenen ungenügend reflektiert ist, legt die Vermischung mit anderen Metaphern nahe: Eine Anordnung der zwei ›Ebenen‹ auf zwei ›Seiten‹ ergibt ein widersprüchliches Modell. Und ›zwischen‹ die abstrakten propositionalen Strukturen ›auf der einen Seite‹ und die spezifischen konkreten Bilder ›auf der anderen Seite‹ können die Bildschemata nur dann ›fallen‹, wenn die Trennung zum Abgrund geworden ist. Diese Bemerkung zu Johnsons Metaphorik ist mehr als nur Spitzfindigkeit, denn es geht um die Kohärenz seines Modells und die fundamentale Frage, wie die Beziehung zwischen Bildschemata und Metaphern vorzustellen ist. Vollends vage wird seine Theorie, wenn es um die Beziehung zwischen Denken, ›gedachter‹ Sprache und lautlich beziehungsweise schriftlich artikulierter Sprache geht. Allerdings ermöglicht diese Unbestimmtheit eine 265 Ebd., S. 137. 266 Vgl. Kurz 2004, S. 8 u.ö. 267 Johnson, M. 1987, S. 29. Vgl. auch oben, S. 163, Anm. 251, zu seinem problematischen Einsatz von Vertikalitätsmetaphorik.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Integration mit Theorien, die von der kommunikativen Funktion der Sprache her auf die Metapher blicken, so die Relevanztheorie.268 Zudem erlauben die von ihm entworfenen Verbindungen zwischen körperlichen und mentalen Prozessen auch die Extension in den Bereich, wo die Sprache zum ›Sprachkörper‹ wird und als ganzheitliche ›Gestalt‹ mit gedanklicher Klarheit, imaginativer Eindringlichkeit, differenzierten Lauten und bewegendem Rhythmus den ganzen Menschen zu affizieren vermag. Die Theorie von entwicklungspsychologisch motivierten Bildschemata ist in Lakoff und Johnsons Philosophy in the Flesh einer potenziell mit ihr konkurrierenden Theorie von der körperlichen Fundierung metaphorischen Denkens gewichen, ohne dass allerdings die Beziehung zwischen den beiden Theorien näher erörtert würde. Zwar erscheint der Begriff »imageschema« noch 2003 in dem Nachwort zu Metaphors We Live By,269 in den Vordergrund gerückt ist jedoch der Begriff von der »primären Metapher« (primary metaphor).270 Es handelt sich hierbei um die aus verschiedenen theoretischen Ansätzen und Untersuchungen gewonnene Hypothese, dass bereits das Kleinkind bestimmte Bereiche physischer Erfahrung assoziiert, so Liebe und Wärme (Affection Is Warmth), Wichtigkeit und Größe (Important Is Big), Glücklichkeit und Orientierung nach oben (Happy Is Up), Kategorien und Behälter (Categories Are Containers), Zeit und Bewegung (Time Is Motion).271 Die in einer Frühphase der Entwicklung erfolgten Assoziationen führen zu festen neuronalen Verbindungen: »The ›associations‹ […] are realized neurally in simultaneous activations that result in permanent neural connections being made across the neural networks that define conceptual domains.«272 Diese Verbindungen manifestieren sich fortan als kognitiv fest etablierte, grundlegende Metaphern, die sich dann weiter ausgestalten lassen. Es soll dem hier nicht weiter nachgegangen werden, da im gegenwärtigen Kontext der spezifische entwicklungspsychologische Prozess, aus dem metaphorisches Denken resultiert, nicht ausschlaggebend ist. Bedeutsam ist allerdings, dass hiermit eventuell die Möglichkeit einer ›Interaktion‹ zwischen den an einer Metapher partizipierenden Bereichen gegeben ist, die im späteren Leben aktivierbar bleibt. Auch wenn sie in der kommunikativ eher ›zielgerichteten‹ Alltagskommunikation wenig ausgeprägt ist, ließe sich spekulieren, dass sie besonders in der Dichtung ausgelebt werden kann.
268 269 270 271
S.u., S. 177–179. Lakoff/Johnson 2003, S. 264 (Nachwort). Lakoff/Johnson 1999, S. 45–59. Ebd., S. 50–54. Die typographische Hervorhebung von konzeptuellen Metaphern erfolgt in »Philosophy in the Flesh« durch Kursivierung und große Anfangsbuchstaben statt Kapitälchen. 272 Ebd., S. 46.
7. Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist
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Insgesamt ist die kognitive Metapherntheorie gegenwärtig durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet. Lakoff und Johnsons 1980 vorgelegte Hypothese, dass Alltagsmetaphern eine kognitive Basis beziehungsweise einen kognitiven Ursprung haben und eine kognitive Systematik aufweisen, ist durch viele andere Forscher bestätigt worden. Übereinstimmung besteht grundsätzlich hinsichtlich der Bedeutung des Körpers und grundlegender sensorisch-motorischer Erfahrungen für die kognitive und alltagssprachliche Metaphorik. Kontrovers sind gegenwärtig vor allem die Theorien zu den für metaphorisches Denken verantwortlichen entwicklungspsychologischen und neuronalen Prozessen. Für gegenwärtige Zwecke sind diese Kontroversen nicht von zentraler Bedeutung. Festzuhalten bleibt vor allem die Bedeutung der Metapher für die Partizipation der ›Imagination‹ an sprachlichen Prozessen, die komplexe Interaktion zwischen bildlichem beziehungsweise sinnlichem Denken und mentaler Sprache, die Zentrierung auf die Perspektive des Menschen sowie die grundlegende Bedeutung körperlicher Erfahrung in metaphorischen Prozessen. Einer Unterscheidung zwischen ›primären‹ und anderen Metaphern oder zwischen körperlich-kognitiven Bildschemata und kognitiv-sprachlichen Metaphern bedarf es hier nicht, da es in diesem Projekt durchgängig um sprachlich manifeste Metaphern geht, die immer unter Bezug auf ihren Kontext untersucht werden. Die Zusammenarbeit zwischen den diversesten Disziplinen hat in der Kognitionswissenschaft ein Umfeld geschaffen, in dem auch für die Literaturwissenschaft neue Modelle verfügbar werden, die ein imaginatives Umdenken etablierter Strukturen ermöglichen. Insgesamt sind die menschlichen Fähigkeiten, geistigen Prozesse und psychischen Befindlichkeiten auch in ihrer Beziehung zueinander in Fluss geraten, so wenn die Hypothese diskutiert wird, ob nicht an jedem Bewusstseinszustand die Emotionen beteiligt sind,273 und wenn der Hypothese von der Unterteilung des Gehirns in Funktionsbereiche andere geistige Modelle gegenübergestellt werden: We now know, thanks both to clinical observation and to neuroscientific research, that there is no simple one-to-one matching between a function and a particular part of the brain. […] Instead of a brain region being an autonomous center for this or that, it seems more likely that areas of the brain, especially zones within the cortex, work in a way that is more reminiscent of the interactive harmony produced by instruments in an orchestra. […] any one function depends on the contributions of many brain areas, yet any one brain area will participate in any number of diverse functions.274
273 Greenfield 2002, S. 16. Greenfield stellt grundsätzlich die Fokussierung der Neurowissenschaften auf die rationalen Fähigkeiten in Frage und führt diese auf die Trennung von Emotionen und Verstand seit der Antike und dann besonders bei Freud zurück. Auch die Literaturwissenschaft hat die Emotionen vernachlässigt, vgl. Winko 2003, bes. S. 9. S.a. Kövecses 2000. 274 Greenfield 2002, S. 6.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Die Vorstellung von einer solchen Interaktion lässt sich mit räumlichen Metaphern, Dingmetaphern oder Behältermetaphern nicht vereinbaren. Eine vertikale Überordnung des abstrakten Denkens oder die Abgrenzung der Phantasie als Behälter verteilt gewissermaßen die Spieler des Orchesters auf unterschiedliche Räume eines Gebäudes; die Vorstellung von der Sprache als ›Apparat‹ identifiziert sie mit dem Prozessor des elektronischen Klaviers; und die Ausgrenzung der artikulierten Sprache nimmt dem Orchester die Möglichkeit der Erzeugung hörbarer Musik. Eine solche Metaphorik macht es nicht nur schwierig, sich ein harmonisches Zusammenspiel vorzustellen. Es wird damit unmöglich, das Zusammenspiel als Musik zu hören, geschweige denn, es als lebendiges Konzertereignis, als politisch wirksames Popkonzert oder auch als göttliche Sphärenharmonie zu konzipieren.
8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher Wesen wie auch Wirkung der Metapher gründen in ihrem Potenzial, imaginativ zwischen körperlichen, emotionalen, rationalen Prozessen und sprachlicher Gestaltung zu vermitteln – und bis ins menschliche Handeln hinein produktiv wirksam zu werden. Wenn die Metapherntheorie sich bereits seit Aristoteles zwischen sprachlichem Ausdruck und dem mentalen ›Erkennen von Ähnlichkeiten‹ bewegt und wenn in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft eher noch eine Polarisierung beider Aspekte festzustellen ist, so deutet dies darauf hin, dass der Metaphernbegriff heute keineswegs eine wissenschaftliche Stabilität erreicht hat, sondern je nach Sprachvorstellung anders konzipiert und definiert wird. Dies macht die ganze Tradition der Metapherntheorie in all ihrer Vielfalt relevant und es lohnt sich, zusammenfassend noch einmal in Form eines Überblicks die grundsätzliche Frage nach der Beziehung zwischen ›Gedanke‹ und ›sprachlichem Ausdruck‹ zu stellen, um darauf aufbauend einen holistischen Metaphernbegriff zu entwerfen. Dabei soll nicht beansprucht werden, dass das Ziel eines holistischen Metaphernbegriffs neu ist oder dass hier ein grundsätzlich origineller Ansatz geboten wird. Vielmehr geht es darum, existierende Theorien zueinander in Bezug zu bringen und aus dem Vorhandenen ein möglichst kohärentes Arbeitsmodell zu entwickeln, in dem der gesamte kognitiv-sprachliche Prozess im Blick bleibt, ohne von theoretischen Grenzen fragmentiert zu werden.275 Für Aristoteles ist die Metapher grundsätzlich ein sprachliches Phänomen, aber mit den Besonderheiten, dass sie mit dem analogischen Denken verbunden ist und das ›Erkennen von Ähnlichkeiten‹ erfordert, womit sie über die in Laut und Schrift sich erschöpfende sprachliche techne hinausgeht; sie steht gewissermaßen mit einem Bein im Bereich der Vorstellungen. 275 Vgl. hierzu auch Kohl 2007.
8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher
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Diese Konstatierung einer Sonderposition ist jedoch eine Behelfslösung im Rahmen einer Sprachtheorie, die grundsätzlich keine kohärente Metapherntheorie erlaubt. Denn das aristotelische Sprachmodell setzt ja die Trennung zwischen den universalen, »einfachen seelischen Vorstellungen« einerseits und den vielfältigen zeichenhaften, lautlich oder schriftlich sich manifestierenden Sprachen andererseits voraus.276 Wenn die Metapher noch heute tendenziell unter Missachtung ihres gedanklichen Aspekts in der Stilkunde situiert wird, so drückt sich darin die grundsätzliche Akzeptanz des aristotelischen Sprachmodells aus, ohne Einbeziehung seiner weitreichenden Einsicht in die kognitiven Voraussetzungen für metaphorische Sprache. Die generative Linguistik hat die aristotelische Trennung zwischen Vorstellungen und Sprache insofern überwunden, als sie ›die Sprache‹ im ›internen‹ Bereich der Vorstellungen heimisch gemacht hat. Der Preis ist jedoch ein Bruch in der Sprache selbst, denn durchaus aristotelisch ist die Trennung zwischen der durch Vielfalt gekennzeichneten ›externalisierten‹ Sprache der Laute und Schriftzeichen und ihrer einfachen, universalen, ›internalisierten‹ Entsprechung im Raum der Vorstellungen. Das, was die aristotelische Tradition sowie auch der allgemeine Sprachgebrauch unter ›Sprache‹ versteht, hat damit seinen begrifflichen und wissenschaftlichen Status verloren. Indem die generative Linguistik ›die Sprache‹ mit der angeborenen ›universalen‹ Sprache gleichsetzt, erhebt sie eine von der ›Kultur‹ abgetrennte Sprache zum Ideal. Und indem sie die Sprache in ein stabiles, von anderen mentalen Fähigkeiten abgrenzbares ›Modul‹ einschließt, nimmt sie ihr die Möglichkeit, mit anderen mentalen Fähigkeiten zu interagieren. Die kognitive Linguistik dagegen setzt die Interaktion zwischen der (in mentalen Prozessen sich manifestierenden) Sprache und anderen mentalen Prozessen voraus. Wie in der generativen Linguistik wird der artikulierten Sprache über ihre Beweisfunktion hinaus kein Wert zugesprochen, und es entsteht dann die Frage, ob nicht die Privilegierung der mentalen Prozesse den Blick für die komplexen kommunikativen Prozesse der Sprache verstellt. Für die Metapher ergeben sich aus diesen Ansätzen zwei Möglichkeiten, die ihrerseits jeweils auf Grenzziehungen beruhen. Jackendoff reduziert die Metapher auf stilistische Substitutionen und ordnet sie grundsätzlich der artikulierten Sprache zu, womit sie sprachwissenschaftlich marginal wird. Lakoff erweitert dagegen die Metapher zu einer mächtigen kognitiven Kraft und situiert sie im ›internen‹ Bereich. Prinzipiell setzt er die aristotelische Unterscheidung zwischen einfacheren internen Vorstellungen und vielfältigen externen sprachlichen Instanzen voraus, um das aristotelische Metaphernproblem auf chomskysche Weise zu lösen: Er spaltet kurzerhand die Metapher in einen ›internalisierten‹, kognitiven Aspekt und einen ›externali276 Aristoteles: de Interpretatione (1.16a 3–8), zitiert nach der Übersetzung in Aristoteles 1995b, S. 281 (Anm. 155).
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sierten‹, sprachlichen Aspekt, den er aus dem Begriff ausgrenzt. Fortan existiert die Metapher begrifflich nur noch als gedankliches Phänomen. Durfte die Metapher bei Aristoteles mit einem Bein im Raum der Vorstellungen stehen, so hat Lakoff ihr dort einen Palast errichtet. Im Bereich der artikulierten Sprache dagegen wird sie nur noch von schattenhaften Instanzen vertreten. Dass die kognitive Metapherntheorie jedoch nicht grundsätzlich von rationalistischen Grenzziehungen abhängen muss, zeigt der neuropsychologische Ansatz von Kirsten I. Taylor und Marianne Regard: Sie betonen, dass ›Sprache‹ auch den Umgang mit dem Kontext sowie die Artikulation in Laut und Schrift umfasst: [Language] includes the ability to recognize orthographic (written) and phonological (spoken) symbols and to extract meaning from these singly and in a series. The symbols may deviate considerably from their prototypes […] just as the symbol’s meaning may deviate widely from its usual sense (e.g., baking vs. being a »tough cookie«), yet language includes the ability to realize the intended meaning by taking into consideration contextual (situational, emotional) factors. Both receptive and productive functions are fundamental to language: language also encompasses the ability to translate thought into an ordered and contextually meaningful series of phonologic or orthographic symbols.277
Umrissen ist hier ein sprachlicher Kreislauf, der aus Prozessen der Produktion und Rezeption, Kognition und Artikulation besteht. Insbesondere die Hemisphärenforschung hat verdeutlicht, dass die Metapher die ›Grenzen‹ der verbalen Sprache überschreitet und die Sprache mit dem bildlichen Denken verbindet. Auch Johnson nutzt die integrativen Möglichkeiten der Kognitionswissenschaften, wenn er die Metapher aus einem ganzheitlichen Modell des ›internen‹ Menschen entstehen lässt. Angedeutet ist die kommunikative Dimension in Johnsons Hervorhebung der kollektiven Konstitution von Bedeutung, die hier nochmals zitiert sei: These embodied patterns do not remain private or peculiar to the person who experiences them. Our community helps us to interpret and codify many of our felt patterns. They become shared cultural models of experience and help to determine the nature of our meaningful, coherent understanding of our »world«.278
Die Kognition des Individuums – der Prozess im ›eingeschlossenen‹ Hirn – wird hier zur kulturellen Gemeinschaft in Bezug gesetzt, ohne welche Sprache sich nicht kommunikativ verwirklichen kann. Johnsons Ansatz soll hier dahingehend weitergeführt werden, dass die kognitive Metapher – prinzipiell rhetorisch – zur artikulierten Metapher in Beziehung gesetzt wird: Denn die Rhetorik geht grundsätzlich von einem kontinuierlichen Prozess aus, der von der gedanklichen ›Erfindung‹ über die sprachliche Gestaltung bis hin zur stimmlichen und körperlichen Vermittlung in der Öffentlichkeit reicht und darüber hinaus eine produktive, ›welt277 Taylor/Regard 2003, S. 257. 278 Johnson, M. 1987, S. 14.
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verändernde‹ Wirkung der Rede im Prozess der Rezeption ermöglicht. Die rhetorische Sprachtheorie involviert den gesamten Menschen mit Körper und Emotionen, Imagination und Denken, Sprache, Mimik und Gestik. Entsprechend kritisiert Cicero die von Sokrates vollzogene Trennung der ehemals unter dem Namen »Philosophie« vereinigten »Wissenschaft des philosophischen Erkennens von der des wirkungsvollen Ausdrucks«, indem er metonymisch auf die relevanten Körperteile Bezug nimmt: Es ist eine »Trennung gleichsam zwischen Zunge und Gehirn«.279 Er wendet sich gegen jene, die das, »was sie als Ganzes nicht erfassen können, zerreißen und zerpflücken […] wie den Körper von der Seele trennen sie den Ausdruck vom Gedanken, was in beiden Fällen nicht ohne dessen Untergang geschehen kann«.280 Mit Metonymie, Metapher und Analogie lenkt er die Aufmerksamkeit auf die untrennbare Verbindung von Geist und Körper, Gedanke und Wort, die für die rhetorische Auffassung von Sprache konstitutiv ist – auch wenn die Handbücher mit ihrer Abtrennung der elocutio und Klassifizierung der Tropen tendenziell das Gegenteil vermitteln.281 Unter diesem Aspekt ist nochmals die grundsätzliche Frage nach dem Bezug zwischen Sprache und Körper aufzugreifen, die ja auch bei Chomsky im Hintergrund steht, wenn er zwischen ›internalisierter‹ und ›externalisierter‹ Sprache unterscheidet. Wie schon bei Platon dient diese Unterscheidung dazu, den körperlichen Bereich zu marginalisieren; gerade dadurch jedoch wird die Bedeutung des Körpers ex negativo offensichtlich, wie der Poststrukturalismus gezeigt hat. Wenn vorausgesetzt wird, dass die Sprache sowohl einen kognitiven als auch einen lautlichen beziehungsweise schriftlichen Aspekt hat, so ist es ein Charakteristikum der Sprache, dass sie in Bezug auf den Körper sowohl ›innen‹ als auch ›außen‹ wirksam ist.282 Damit erlangt sie eine einzigartige Vielseitigkeit: Im Hirn verbindet sie bildliches beziehungsweise sinnliches Denken mit verbalem Denken und hat Teil an der Strukturierung von kör279 Cicero 1976, S. 482 f. (III, 16, 60 f.). Die Gegenüberstellung von »lingua« und »cor« wird weiter präzisiert, wenn Cicero die Trennung dafür verantwortlich macht, »daß uns die einen denken [sapere] und die andern reden [dicere] lehrten« (ebd.). 280 Ebd., S. 460 f. (III, 6, 24). 281 Die ciceronische Betonung der Untrennbarkeit von Gedanke und Ausdruck ist selbst in der auf die elocutio spezialisierten Barockpoetik ein Gemeinplatz – auch wenn das Prinzip in der praxisbezogenen Ausgestaltung der Theorie von der elocutio nicht durchgehalten ist. Die unaufgelöste Spannung zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von der Beziehung zwischen Gedanke und Wort zeigt sich schon in der Art und Weise, wie Opitz das ciceronische Prinzip in Klammern setzt: »Wann auch die verse nur blosse worte sindt / (wiewol das so wenig möglich ist / als das der Cörper ohne die Seele bestehen könne) […]« (Opitz 1966, S. 10; Kap. 3). 282 Einen Bezug zwischen ›innerer‹ und ›äußerer‹ Sprache setzt auch Quintilian voraus, wenn er hinsichtlich der Bedeutung der actio bemerkt: »Es kommt ja nicht so sehr darauf an, wie gut das ist, was wir selbst in unserem Inneren verfaßt haben, als darauf, wie es vorgetragen wird: denn es wird ein jeder so, wie er sie hört, von der Rede gepackt« (Quintilian 1995, Bd. 2, S. 608 f.; XI, 3, 2); entsprechend konzentriert sich die Rhetorik auf die ›öffentliche‹ Wirkung. Vgl. auch Herder, s. o., S. 72 und 100.
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perlichen Erfahrungen, Vorstellungen, Gedanken, Emotionen; im Übergang von ›Innenwelt‹ zu ›Außenwelt‹ wirkt sie als Medium der höchst differenzierten ›Umwandlung‹ mentaler Konstrukte und Prozesse in physisch realisierte, lautliche oder schriftliche Sprache; und ›außerhalb‹ des Körpers ermöglicht sie im Zusammenspiel mit anderen Tätigkeiten des Menschen als primäre Form der Kommunikation die Interaktion mit der Umgebung sowie auch Beziehungen zum Innenleben der Mitmenschen. Wie die generative Linguistik interessiert sich die kognitive Linguistik vornehmlich für die ›innerhalb‹ des Körpers stattfindenden Prozesse: An der ›Grenze‹ vom ›Außenraum‹ zum ›Innenraum‹ werden die ›bloßen‹ Wörter redundant – die Leiter der Sprache, über die man sich Zugang zu den ›Mysterien‹ des Denkens verschafft hat, kann weggeworfen werden.283 Was in einer so konzipierten Linguistik am Ende von der Sprache übrigbleibt, ist ein sprachliches ›Wissen‹ oder ›Denken‹, das dem Denken zum Verwechseln ähnlich oder gar damit identisch ist.284 Die Metapher als Mittel der sprachlichen Kommunikation von Vorstellungen, Emotionen, Befindlichkeiten, Visionen ist damit ausgeblendet – und bei Lakoff sogar begrifflich eliminiert. Wenn wir jedoch einen ganzheitlichen Metaphernbegriff unter Einbezug der ›Ausdrücke‹ voraussetzen, so ergibt sich ein potenziell kontinuierliches Modell zwischenmenschlicher Kommunikation, in dem die ›körperexterne‹ artikulierte Metapher im öffentlichen Raum zwischen den ›körperinternen‹ kognitiven Metaphern der Kommunikationspartner wirksam ist. Eine solche – intuitiv unbefriedigende – Unterteilung der Metapher in die ›kognitive Metapher‹ und die ›artikulierte Metapher‹ ist jedoch nur dann notwendig, wenn vorausgesetzt wird, dass die wissenschaftliche Erfassung eines sprachlichen Phänomens begrifflich absolut zwischen ›internen‹ und ›externen‹ Prozessen trennen muss. Dass eine solche Trennung nicht notwendig ist und sprachliche Prozesse verfälscht, legt das Bedeutungsspektrum von metasprachlichen Wörtern nahe. Einschlägiges Beispiel ist das Wort ›Begriff‹. Dessen Bedeutungen bewegen sich dem Duden zufolge ausschließlich im Bereich der Vorstellungen: 1. 2.
Gesamtheit wesentlicher Merkmale in einer gedanklichen Einheit; geistiger, abstrakter Gehalt von etw. Vorstellung, Auffassung, Meinung von etw.285
283 Vgl. Wittgensteins Metapher am Ende des »Tractatus« (Wittgenstein 1984, S. 85; 6.54). S. a. Jackendoffs abschließende Abwandlung seiner einleitenden Metapher vom »entrée« (s. o., S. 124 f., Anm. 108): »I think the structure of language can still give us the best possible entrée into the mysteries of thought« (Jackendoff 2002, S. 429). 284 »Linguistic knowledge – knowledge of meaning and form – is basically conceptual structure« (Croft/Cruse 2004, S. 2); »a theory of meaning compatible with generative grammar must be psychological through and through: it should aspire to study the nature of thought« (Jackendoff 2002, S. 428). 285 Als dritte Bedeutung erscheint ferner die Wendung »im Begriff sein«, Duden 1999, Bd. 2, S. 494.
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Obwohl sich der Duden zum Ziel setzt, »die deutsche Sprache in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu dokumentieren und damit auch bewusst zu machen«,286 wird hier nur die in Philosophie, Linguistik und allgemein den Wissenschaften vorherrschende Bedeutung angegeben.287 Nicht berücksichtigt wird, dass das mentale »Aggregat kategorialer oder relationaler Merkmale […] mit einem kommunizierbaren, i.d.R. verbalen Ausdruck verknüpft ist«.288 Dass diese ›äußere‹ Bedeutung durchaus gängig ist, zeigen unzählige Belege im Internet, besonders solche, die unter Bezug auf ›materiell‹ realisierte Lexika den schriftlichen ›Sprachkörper‹ bezeichnen, z. B. »Sie haben einen Begriff in unserem ABC der Börse nicht gefunden?«.289 Die von der Duden-Redaktion vorgenommene Einschränkung der Bedeutung auf den kognitiven Aspekt ist hiermit widerlegt. Es lassen sich aber auch fließende Übergänge zwischen der kognitiven Vorstellung und dem artikulierten Wort feststellen. Als Beispiel diene der folgende Textauszug zu einer Erläuterung des »Begriffs ›Anarchie‹«, in dem ›Begriff‹ am einen Extrem mit dem »philosophischen Begriff« identifiziert wird – also mit der kognitiven Vorstellung und damit dem Bezeichneten (Signifikat) – und am anderen Extrem mit dem »öffentlich« wirksamen »Wort« oder »bezeichnenden« »Ausdruck« – also mit dem lautlich oder schriftlich Bezeichnenden (Signifikant/Signifikans): Kaum ein anderer politischer Begriff besitzt eine solch bewegte Tradition als Reizwort in der öffentlichen Meinung wie das Wort »Anarchie«. Ursprünglich ein eher technisch verstandener Ausdruck zur Bezeichnung von Führer- oder Herrschaftslosigkeit, diente das Wort schon bald den Mächtigen zur ideologischen Legitimierung ihrer Herrschaftsansprüche […]. Ausgehend von einer kurzen historischen Betrachtung der unterschiedlichen Definitionen des philosophischen Begriffes »Anarchie«, soll im folgenden die sich wandelnde Bedeutung des Wortes dokumentiert werden.290
Verfolgen lässt sich hier, wie der allgemeine Sprachgebrauch in dem Wort ›Begriff‹ durchaus einen kontinuierlichen Übergang zwischen Denken und artikulierter Sprache erlaubt – in Einklang mit der von Herder für das Wort logoV geltend gemachten Integration des ›inneren‹ und ›äußeren‹ 286 Ebd., Bd. 1, S. 5 (Vorwort). 287 Homberger definiert das Stichwort »Begriff« als »kognitive Einheit« und »Instrument des Denkens«, wobei er die Notwendigkeit betont, auch »nicht sprachliche Begriffe« wie jene, »die ein Kind vor der Sprache erwirbt«, zu berücksichtigen (Homberger 2003, S. 73 f.). 288 Rehbock 2000, S. 99. 289 Vgl. das Mailformular von Instock 2006. Viele ähnliche Belege liefert eine Suche mit der Suchmaschine Google.de. Ob die Auslassung im großen Duden normativ motiviert ist oder in der notorischen Mangelhaftigkeit des Textkorpus gründet, wäre eine Untersuchung wert. Privilegiert wird damit die philosophische sowie auch sprachwissenschaftliche Bedeutung; gefördert wird eine der Wissenschaftlichkeit des Deutschen dienliche Begriffsklarheit; vgl. dazu die erklärten Ziele des Werkes, Duden 1999, Bd. 1, S. 6. 290 Schmück 2004. Die von Schmück kursiv gesetzten Worte sind hier in Anführungszeichen wiedergegeben. Kursive Hervorhebungen KK.
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Wortes.291 Psychologisch erklären lässt sich dann die Ambiguität des Wortes wie folgt. In der mentalen ›Innenwelt‹ hat die Vorstellung keine feste Struktur – sie ist mit Saussure als psychisches Bild konzipierbar, das in ein ebenfalls psychisches ›Lautbild‹ konvertiert wird und das Potenzial der physischen Artikulierung birgt,292 aber aus der Perspektive der ›Außenwelt‹ ist die Vorstellung eher konturlos. An der ›Körpergrenze‹, wo der gedankliche ›Begriff‹ aus der mentalen ›Innenwelt‹ in die physische ›Außenwelt‹ tritt, erhält er eine physische, als ›Wortkörper‹293 vorstellbare Struktur. Dieser ›Wortkörper‹ ist als ›greifbare‹ Begrenzung der gedanklichen Extension vorstellbar und manifestiert sich physisch in der ›Lautgestalt‹ sowie im ›Schriftbild‹ – bleibt aber zusammen mit dem mentalen Aspekt des Wortes zugleich eine ganzheitliche gedanklich-sprachliche ›Gestalt‹. Dies könnte erklären, warum eine flexible Verbindung zwischen kognitiven und artikulierten sprachlichen Prozessen im allgemeinen Sprachverständnis durchaus akzeptiert wird und sich in der metasprachlichen Idiomatik manifestiert. Der Grund für diese Akzeptanz ist vermutlich, dass unsere imaginative Konzeptualisierung der Sprache genauso in unserer Körpererfahrung gründet wie unsere anderen mentalen Prozesse. Im ›Raum‹ der artikulierten Sprache ist die Existenz eines Wortes nur in verkörperter Form vorstellbar. Damit kohärent ist die metasprachliche Metapher des ›Ausdrucks‹: Die durch den Mund aus dem Körper ›ausgedrückte‹ Substanz erhält im Raum eine klar abgegrenzte, objekthafte Form als Lautgestalt oder Schriftbild. Diese Objekthaftigkeit wird im Prozess des konventionellen Sprachgebrauchs normalerweise nicht bewusst, ist jedoch immer als metaphorisches Potenzial vorhanden.294 Die metasprachliche Metapher vom ›Ausdruck‹ reflektiert – und ermöglicht – die Vorstellung, dass wir unsere ›inneren‹ Gedanken und Gefühle externalisieren und daher auch mitteilen können. Die wichtige Rolle dieser Metapher für unser Sprachverständnis erklärt sich daraus, dass der Mensch als soziales Wesen auf ein solche kommunikative Möglichkeit angewiesen ist; ohne die Möglichkeit des ›Ausdrucks‹ ist das Individuum von der ›Außenwelt‹ isoliert. 291 S.o., S. 72 und 100. 292 S.o., S. 100 f. 293 Die Zunge wird gängigerweise als ›Schwelle‹ konzipiert, wie aus alltagssprachlichen Metaphern hervorgeht: ›jmdm. auf der Zunge liegen/brennen‹, ›es kommt mir nicht über die Zunge‹ (vgl. Duden 1999, Bd. 19, S. 4671; Zunge; Grimm 1984, Bd. 32, Sp. 594; Zunge). 294 Das Verfahren, Wörter ›beim Wort zu nehmen‹, erinnert an die lange Zeit diskreditierte etymologische Interpretation von Wortzusammenhängen. Dieser Ansatz ist jedoch in der kognitiven Linguistik zu neuem wissenschaftlichen Leben erwacht, indem vorher homonymisch gefasste Wortbedeutungen aufgrund etymologischer Prozesse polysemisch verbunden und als Belege für kognitive Zusammenhänge interpretiert werden. Zur Bedeutung von Polysemie und Etymologie für die kognitive Metapherntheorie vgl. Johnson, M. 1987 (S. xii, 50 f., 107–109 und 193) sowie die grundlegende Arbeit von Sweetser 1990. Eine rationalistische Limitierung dieses Ansatzes zeigt sich bei Croft/Cruse 2004, S. 109–140.
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Die Worte ›Begriff‹ und ›Ausdruck‹ sind metasprachliche Wörter wie jene, die Michael Reddy analysiert. Als zentrales Beispiel diskutiert er das Wort ›poem‹, das einerseits einen schriftlichen Text bezeichnen kann (»POEM1«) und andererseits »the concepts and emotions assembled in the reading of a text« (»POEM2«).295 Reddy hält es für erforderlich, eine wissenschaftlich fundierte »Unterscheidung« zwischen POEM1 und POEM2 zu »wahren« – wobei er annimmt, dass dies das Bedürfnis des (ihm selber offenbar ähnlichen) »linguistischen Idealisten« ist.296 Statt bei POEM2 davon auszugehen, dass es mit POEM1 prinzipiell identisch ist, hat der Wissenschaftler vorauszusetzen, dass es so viele POEM2s gibt wie Rezipienten; erst lange Diskussionen zwischen den individuellen Rezipienten können eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen unterschiedlichen POEM2s herbeiführen. Es wird hier deutlich, wie Reddy von einer grundsätzlichen Trennung der Bedeutungen ausgeht und diese dann entweder als logische, aber den Tatsachen widersprechende Relation begreift, oder mit einer absoluten Trennung zwischen ›internalisierter‹ und ›externalisierter‹ Bedeutung begründet. Für Reddy ist das in solchen metasprachlichen Begriffen sich manifestierende Zusammendenken des ›inneren‹ und ›äußeren‹ Wortes eine Manifestation »pathologischer« Semantik. Zu fragen ist, ob nicht vielmehr eine absolute Grenzziehung zwischen ›innerer‹ und ›äußerer‹ Sprache mit dem darauf errichteten System von weiteren Grenzziehungen einen pathologischen Aspekt hat. Dass es viel einfachere Erklärungen für den praktischen Umgang mit semantischer Ambiguität gibt, haben Dan Sperber und Deirdre Wilson mit ihrer Relevanztheorie gezeigt, indem sie Sprache zugleich von kognitiver und kommunikativer Perspektive aus angehen: Relevance. Communication and Cognition297 – wobei ihre Sprachtheorie allerdings hinsichtlich des Bezugs zwischen ›Sprache‹ und ›Kommunikation‹ eine extrem rationalistische Trennung voraussetzt.298 Sperber und Wilson nehmen die ubiquitäre Rohrpostmetapher zum Ausgangspunkt, um wie Reddy die Inkorrektheit 295 Reddy 1993, S. 178. 296 »The linguistic idealist [… for whom] it is of greatest importance to preserve a principled distinction between POEM1 and POEM2« (ebd., S. 179). 297 Weiterentwickelt wird insbesondere die semantische Implikatur-Theorie von Grice und damit »a commonsense view of verbal communication« (Sperber/Wilson 1995, S. 35). 298 Hinsichtlich der Sprache setzen sie die Prämissen der generativen Linguistik voraus. Sie weisen die ›übliche‹ Annahme, dass Sprache und Kommunikation ›zwei Seiten derselben Medaille‹ sind, zurück, um grundsätzlich eine absolute Trennung vorzunehmen, derzufolge Sprache von ihrem kommunikativen Einsatz systematisch abgeschnitten wird: »In the broadest sense, a language is a set of well-formed formulas, a set of permissible combinations of items from some vocabulary, generated by a grammar. In a narrower sense, a language is a set of semantically interpreted well-formed formulas. […] A language in this narrower sense – the one we will use – is a grammar-governed representational system« (ebd., S. 172 f.). Damit einher geht die Identifikation natürlicher Sprachen mit ›äußerer‹ Sprache, »external languages such as Swahili or English« (ebd. S. 174). In der kognitiven Linguistik wird dagegen prinzipiell eine Identität zwischen ›Denken‹ und ›Kommunikation‹ vorausgesetzt, wobei aller-
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dieser ›Volksmeinung‹ von Kommunikation hervorzuheben und dann anhand der allgemeinsprachlichen englischen Idiome ›to put one’s thoughts into words‹ und ›to put one’s thoughts down on paper‹ die Unterscheidung zwischen Gedanken und artikulierter Sprache ins Zentrum zu stellen: In writing this book, we have not literally put our thoughts down on paper. What we have put down on paper are little dark marks, a copy of which you are now looking at. As for our thoughts, they remain where they always were, inside our brains.299
Streng aristotelisch wird hier die Grenze zwischen Vorstellungen beziehungsweise »Gedanken« und sprachlichen Zeichen gezogen; situiert ist die Grenze zwischen dem Gehirn und der Außenwelt, in der die Zeichen hervorgebracht werden. Kognitiv ›belebt‹ und durchlässig gemacht wird diese Grenze jedoch durch den Akt der »Interpretation«, der die »Gedanken« in den »öffentlichen« Raum trägt und zudem auch die ›Grenze‹ zum Gehirn des Kommunikationspartners hin öffnet: We see verbal communication as involving a speaker producing an utterance as a public interpretation of one of her thoughts, and the hearer constructing a mental interpretation of this utterance, and hence of the original thought. […] We assume, then, that every utterance is an interpretive expression of a thought of the speaker’s.300
Der kognitive Aspekt erscheint hier krass vereinfacht: Die Entsprechung zwischen »an utterance« und »one thought« setzt in beiden Fällen – durchaus in Einklang mit der Rohrpostmetapher – eine eins-zu-eins Relation und ein stabiles, klar abgegrenztes Objekt voraus und geht davon aus, dass »utterance« im Gehirn keinerlei Rolle spielt. Das Modell von den Übergängen selbst ist jedoch mit den Verben »produzieren«, »interpretieren« und »konstruieren« prozesshaft konzipiert. Plausibler als bei Reddy wird hier der Bezug zwischen dem ›Gedanken‹ im Kopf des Produzenten und dem ›Gedanken‹ im Kopf des Rezipienten hergestellt: Letzterer ist eine interpretative ›Rekonstruktion‹. Da der Vorgang der ›Interpretation‹ sowohl Kognition als auch Artikulation involviert, lässt sich das von Sperber und Wilson entworfene Modell des Übergangs auch in einen kontinuierlichen Prozess integrieren, der mit dem Prozess metaphorischer Projektion in Verbindung stehen kann. Sperber und Wilson stellen ›Relevanz‹ ins Zentrum ihrer kommunikationsorientierten Theorie und gehen davon aus, dass eine Äußerung für Produzent und Rezipient typischerweise den geringstmöglichen Verarbeitungsaufwand anstrebt.301 Demnach ist der ›Gedanke‹ des Produzenten (als dings dann ›Sprache‹ ausgeblendet wird: »Communication is based on the same conceptual system that we use in thinking« (Lakoff/Johnson 2003, S. 3). 299 Sperber/Wilson 1995, S. 1. 300 Ebd., S. 230 f. 301 Ebd., S. 231–237. Die Darstellung der Relevanztheorie ist hier notwendigerweise sehr vereinfacht; auch in Bezug auf die Metapher sind nicht alle Aspekte berücksichtigt.
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Interpretation anderer Gedanken, Tatsachen usw.) typischerweise nicht identisch mit der geäußerten Proposition, sondern ähnlich: »There are […] many situations where a speaker aiming at optimal relevance should not give a literal interpretation of her thought, and where the hearer should not treat her utterance as literal.«302 ›Wörtliche‹ Wahrheit einer Äußerung (d. h. Identität von Gedanke und Äußerung) ist demnach ein Grenzfall, nicht die Norm. Einleuchtend ist ein Beispiel, mit dem Sperber und Wilson die Abweichung von der ›Wahrheit‹ als kommunikativen Normalfall erweisen. Kontext ist eine informelle Unterhaltung zwischen A und dessen altem Freund B, die sich lange nicht gesehen haben. Auf die Frage von B, wieviel A jetzt verdiene, antwortet A nicht mit dem wahren Betrag – z. B. 1797 Euro und 32 Cent – sondern mit einem aufgerundeten Betrag – also 1800 Euro. Beide möglichen Antworten erlauben die gleichen Schlussfolgerungen hinsichtlich Status, Lebensstandard, Kaufkraft; A wendet das ›Relevanzprinzip‹ an und wählt diejenige Antwort, welche die Schlussfolgerungen mit dem geringsten Aufwand vermittelt. Der von der wahrheitsgemäßen Antwort erforderte größere Aufwand würde nicht durch den Zuwachs an Information kompensiert. Sperber und Wilson gehen davon aus, dass dieses Prinzip auch in der Hyperbel wirksam ist sowie in der Metapher, da hier ebenfalls eine Diskrepanz besteht zwischen dem ›Gedanken‹ des Produzenten und der geäußerten Proposition. Je ungewöhnlicher die Metapher, desto komplexer gestaltet sich die Interpretation, da der Rezipient gezwungen ist, den Kontext zu erweitern und aus vielen möglichen Bedeutungen auszuwählen, um Relevanz herzustellen. Die von Johnson geltend gemachte ›Elaborierung‹ und ›Erweiterung‹ im Prozess metaphorischer Konstruktion findet dann eine Entsprechung in der Erweiterung des Kontexts im Prozess der Rezeption. Für die Produktion und Wirkung von Dichtung ergibt sich durch diese intensivierte Arbeit der Interpretation auch ein intensiviertes Bewusstsein für sprachliche Prozesse, die im alltagssprachlichen Kontext vereinfacht konzipiert und automatisch benutzt werden. So betonen Ogden und Richards in Zusammenhang mit ihrem Entwurf des semiotischen Dreiecks, dass Ausdrücke nur dann Akzeptanz finden, wenn sie als gebrauchsfertiges, schnell verfügbares Instrument fungieren können: »Language if it is to be used must be a ready instrument. The handiness and ease of a phrase is always more important in deciding whether it will be extensively used than its accuracy.«303 Die Dichtung bietet einen Kontext, wo die im praktischen Leben für kommunikative Zwecke vereinfachten Relationen zwischen Dingen, Vorstellungen und Sprache in komplexere Gestalten überführt werden 302 Ebd., S. 233. Vgl. dort auch zum folgenden Beispiel. 303 Ogden/Richards 2001, S. 31. S. o., S. 129 zu Blacks entsprechender These bezüglich der Metapher.
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können und der Rezipient prinzipiell bereit ist, eine aufwändigere interpretative Leistung zu erbringen; dies ermöglicht wiederum die Stimulierung von neuen mentalen Bezügen. Unter Bezug auf die Ergebnisse der Hemisphärenforschung lässt sich durch diese aufwändigere Leistung die Aktivierung der Imagination in der Dichtung erklären. Sperber und Wilson situieren die Metapher im Bereich der sprachlichen Äußerung. Möglich ist jedoch eine Extension des Interpretationsmodells, wenn der von Johnson als ›Projektion‹ zwischen Bildschema und Metapher konzipierte Prozess als Alternative zur ›Interpretation‹ aufgefasst wird. In dem Falle wäre bei der Metapher der ›Übertragungsprozess‹ entweder zwischen Bildschema und Vorstellung oder zwischen Vorstellung und Laut/ Schrift zu konzipieren oder zwischen beiden – oder aber als kontinuierliche Projektion. Je nach Grad der Konventionalisierung und je nach Art der Kreativität kann jedes Stadium mehr oder weniger reflektiert erfolgen. Schematisch dargestellt ergibt sich dann von der Produktion der Metapher ausgehend ein kontinuierlicher Prozess der potenziell metaphorischen Interpretation und (Re-)Konstruktion, wobei ›Bildschema‹ und ›Vorstellung‹ auch durch andere Möglichkeiten zu ergänzen sind: PRODUZENT SPRACHE REZIPIENT (re-) konsÝ Ý Ý Bildartitruierte (META(META(METAschema kulierte PHORI- kognitive PHORI- kognitive PHORISinnesMETAMETASCHE) SCHE) SCHE) METAwahrPHER Internehmung Projektion/ PHER Projektion/ PHER (Laut Interpretation/ (VorstelInter(VorstelIdee Schrift) (Re-)Konlung pretation/ lung Tatsache pretation/ Bild Konstrukstruktion Bild Wunsch KonstrukBegriff/ tion tion Begriff/ Erfahrung Wort) Wort) Wort/Text Produktion und Rezeption der Metapher
So konzipiert bezieht sich der Begriff ›Metapher‹ sowohl auf die im Gehirn konzeptualisierte beziehungsweise rekonstruierte kognitive Metapher als auch auf die im ›öffentlichen‹ – von Produzent und Rezipient gemeinsam sprachlich bewohnten – Bereich sich manifestierende artikulierte Metapher in ihrer lautlichen oder schriftlichen und damit von anderen Menschen rezipierbaren ›Gestalt‹. Unabtrennbarer Teil dieser ›Gestalt‹ ist ihre gedankliche Bedeutung, die einen mentalen ›Übertragungsprozess‹ involviert, wobei ›Übertragung‹ auch als Projektion, Interpretation, Umwandlung oder (Re-)Konstruktion vorstellbar ist. Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Produzent auch rezeptiv und der Rezipient wiederum produktiv tätig sein kann. Als Möglichkeit ergibt sich eine Metapher, die nur im Bereich der
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Vorstellungen als Bild wirksam ist, prototypisch ist jedoch die Metapher, die zwischen Kognition und artikulierter Sprache vermittelt. Kaum angesprochen wurde bislang die kontroverse Frage, wie die zwei an der Metapher beteiligten ›Bedeutungsfelder‹ beziehungsweise der ›Herkunfts-‹ und ›Zielbereich‹ beziehungsweise der ›Bildspender‹ und ›Bildempfänger‹ in Bezug zueinander verarbeitet werden und im metaphorischen Prozess agieren. Die Modelle hierfür sind so vielfältig und theorieabhängig wie die Terminologie. Als Möglichkeiten seien vereinfachend die folgenden hervorgehoben:
• • • •
Übertragung beziehungsweise Substitution: Innerhalb des Bereichs der Sprache wird ein ›uneigentliches‹ Wort an die ›Stelle‹ des ›eigentlichen‹ Wortes gesetzt.304 ›Mapping‹ (»cross-domain mapping«): Der Herkunftsbereich wird kognitiv auf dem Zielbereich abgebildet (»a mapping (in the mathematical sense) from one source domain to a target domain«), mit einer systematischen Korrespondenz von Elementen und Relationen.305 Strukturierung: Ein kognitiver Begriff wird durch – oder unter Bezug auf – einen anderen strukturiert (»one concept is metaphorically structured in terms of another«306). Projektion, Elaborierung, Erweiterung: Besonders unter Voraussetzung einfacher ›Bildschemata‹, die von physischen Körperbewegungen und Relationen abstrahiert sind, lassen sich Metaphern verstehen als komplexere Projektionen, Elaborierungen, Erweiterungen, »the creation of meaningful structure via projections and elaborations of image schemata«.307 Anders als das ›Mapping‹ kann ›Projektion‹ auch vektoriell konzipiert werden. Der Begriff ist weniger spezifisch als das ohnehin kaum adäquat ins Deutsche übersetzbare ›Mapping‹308 und gerade aus diesem Grunde als allgemeiner Begriff für metaphorische Prozesse nützlich.
304 Vgl. Aristoteles 1994, S. 66 f. (Kap. 21; 1457b; s. a. Kap. 22). 305 Vgl. Lakoff 1993, S. 206–208. Das englische Verb ›to map (onto)‹ ist in seinen Assoziationen nicht identisch mit dem deutschen Verb ›abbilden‹ und lässt sich auch mit ›projizieren‹ übersetzen, das Johnson z. T. als Synonym für ›mapping‹ verwendet (z. B. Johnson, M. 1987, S. xv; vgl. jedoch die spätere Position in Lakoff/Johnson 2003, S. 252–256). Da ›abbilden‹ anders als ›mapping‹ mit mimesis assoziierbar ist, wird hier das Verb ›projizieren‹ bevorzugt, ohne dass damit eine fundierte Stellungnahme zu den mit der Frage der Terminologie zusammenhängenden, höchst diffizilen neurowissenschaftlichen Fragen gegeben werden soll (vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 252–264). Zum Terminus ›Projektion‹ im allgemeineren Sprachverständnis s. a. Black 1996b, S. 392–396; Kurz 2004, S. 24 und 91 (Anm. 30). 306 Lakoff/Johnson 1980, S. 14. 307 Johnson, M. 1987, S. 100; s. a. S. 65–100. 308 So übersetzt Liebert »Mapping« mit »Projektion« (Liebert 1992, S. 30). Er verwendet das Verb ›projizieren‹, um den metaphorischen Prozess zu bezeichnen. S. a. Jäkel 2003, S. 23.
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• •
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Vermischung (Conflation, Blending): Koaktivierung zweier Bereiche beziehungsweise Vermischung von Elementen zweier Bereiche (blending: »the fitting together of small metaphorical ›pieces‹ into larger wholes«309). Interaktion: In Gegensatz zur Substitutionstheorie setzt die Interaktionstheorie voraus, dass der metaphorische Ausdruck nicht ohne Bedeutungsverlust durch einen ›eigentlichen‹ Ausdruck ersetzt werden kann.310 Indem der ›Bildspender‹ zum ›Bildempfänger‹ in Beziehung gesetzt wird, »aktualisieren wir auf der Suche nach Sinn nicht nur die lexikalischen Bedeutungen des Ausdrucks, sondern auch einen diffusen, daher suggestiven Komplex von implizierten Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektiven Besetzungen«; als wesentlich vorausgesetzt wird, »daß semantische Inkongruenzen nicht getilgt werden, sondern gegenwärtig bleiben«311 und einen »wechselseitigen Interpretationsprozeß« auslösen.312
Es soll hier nicht Stellung dazu genommen werden, welches die ›richtige Lösung‹ ist. Wenn die Metapher tatsächlich auf die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes beschränkt wäre, das dieselbe Bedeutung vermittelte, so ließe sich dies als begrifflich eindeutig fassbarer Prozess verstehen, der sich unabhängig vom Denken allein im ›Bereich‹ der artikulierten Sprache vollzieht. Charakteristisch für diesen philosophischen Ansatz ist die Konzeption der Metapher als Objekt und der Sprache als einer Art stabilen Koordinatensystems. Dass sich das Phänomen ›Metapher‹ damit jedoch keineswegs erfassen lässt, zeigt sowohl die antike als auch die moderne Metapherntheorie. Ich setze voraus, dass die Metapher prototypisch mentale und artikulierbare sprachliche Prozesse verbindet, wobei der kognitive Aspekt mehr bildlich oder mehr verbal sein kann. Daraus folgt, dass sich der metaphorische Prozess unbegrenzt vielfältig gestaltet und dass er begrifflich weder eindeutig noch endgültig bestimmbar ist, zumal auch der Kontext unbegrenzt variiert. Dies gilt gerade bei nicht-konventionalisierten, ›neuen‹, ›kreativen‹, ›kühnen‹ Metaphern. Wenn diese schon in der antiken Metapherntheorie beleuchtete Vielfalt als Charakteristikum der Metapher angesehen wird, so lassen sich die enorm vielfältigen theoretischen Ansätze zum Teil daraus erklären, dass sie unterschiedliche Aspekte und Möglichkeiten der Metapher fokussieren. Anders gesehen ist diese Vielfalt dadurch zu erklären, dass der Begriff ›Metapher‹ ein komplexes und letztlich nicht abgrenzbares Phä309 310 311 312
Lakoff/Johnson 1999, S. 49. Vgl. Black 1996a, bes. 75–79. Kurz 2004, S. 24 f. Ebd., S. 8. S.a. die Diskussion zum Modell des »blending« unter Bezug auf »novel metaphors« in Croft/Cruse 2004, S. 207–209; das Fazit »seeing one thing as another« vermittelt allerdings eher Ratlosigkeit als einen »Fortschritt« gegenüber Lakoff (ebd., S. 209).
8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher
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nomen der Interaktivität zwischen Denken und artikulierbarer Sprache bezeichnet. Vorauszusetzen ist ferner, dass weder die Konzeptualisierung noch auch die sprachliche Formulierung metaphorischer Prozesse ohne Metaphorik erreichbar ist.313 Daraus folgt wiederum, dass der Diskurs um Metaphern möglichst viele Metaphern zur Verfügung haben sollte, um den metaphorischen Möglichkeiten und Wirkungsweisen nachzugehen. In der Poetik ist eine besonders ergiebige Quelle für solche ›metametaphorischen‹ Metaphern zu erwarten. Und gerade in einer Erforschung der Poetik sollte der kreativen Macht der Metapher ein unbegrenzter metasprachlicher Spielraum zugestanden werden. ›Kreativität‹ ist hier vor allem in Bezug auf mentale Prozesse diskutiert worden – ein Reflex der Prioritäten, unter denen die Metapher in den Kognitionswissenschaften behandelt wird. In Lakoff und Johnsons Metapherntheorie angelegt ist jedoch auch die Produktivität der Metapher im Bereich des Handelns: Metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action. […] The concepts that govern our thought […] also govern our everyday functioning, down to the most mundane details. Our concepts structure what we perceive, how we get around the world, and how we relate to other people. Our conceptual system thus plays a central role in defining our everyday realities.314
Die Dreiheit ›language‹ – ›thought‹ – ›action‹ erinnert an die Elemente, die eingangs unter Bezug auf die Sprachtheorien von Aristoteles und Ogden/ Richards im Vordergrund standen. In der Gedankenführung von Lakoff und Johnson wird jedoch deutlich, wie die ›Sprache‹ dann zugunsten der Beziehung zwischen ›Gedanke‹ und ›Handeln‹ ausgeblendet wird. Ein ähnlicher Prozess findet sich am Ende von Metaphors We Live By, wo Lakoff und Johnson die produktive Wirklichkeitsgestaltung in Bezug auf politische Metaphorik sowie auch ästhetische Erfahrung skizzieren. Sprache wird hier nur in Bezug auf poetische Metaphorik als produktives Medium erwähnt und sogleich zugunsten kognitiver Prozesse marginalisiert.315 Dadurch treiben Lakoff und Johnson eine Trennwand in den Prozess metaphorischer Projektion: Denn gerade die artikulierte Sprache ist es, die den kognitiv 313 Zur Metaphorizität der Begrifflichkeit schon bei Aristoteles vgl. Kurz 2004, S. 7. S.a. Black zur Metaphorizität des Begriffs ›Projektion‹ (Black 1996b, S. 393) und das Nachwort in Lakoff/Johnson 2003 zur Problematik der in der ersten Auflage (1980) von ihnen verwendeten »Metaphern für Metaphern« (S. 252–254). 314 Lakoff/Johnson 2003, S. 3. 315 »New metaphors are capable of creating new understandings and, therefore, new realities. This should be obvious in the case of poetic metaphor, where language is the medium through which new conceptual metaphors are created. But metaphor is not merely a matter of language« (ebd., S. 235). Ausgeführt wird dieser wichtige Ansatz zur poetischen Metaphorik in Lakoff/Turner 1989.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
wirksamen Metaphern auch in der Öffentlichkeit Wirksamkeit verschafft – vor allem in der Politik. Eine umfassende Theorie dazu stellt die Rhetorik bereit. Sie zeigt, wie Sprache im zwischenmenschlichen Bereich der öffentlichen ›Welt‹ zu wirklichkeitsverändernder Handlung werden kann, die auf den ganzen Menschen einzuwirken vermag; und sie integriert auch den Körper in den Prozess kognitiv-sprachlicher Projektion. Erst in einem solchermaßen erweiterten theoretischen Kontext lässt sich die Metapher als ganzheitliche ›Gestalt‹ begreifen. Ihre Komplexität entsteht aus den vielfältigen Bezügen, die im Prozess der Interaktion zwischen Vorstellungen – Sprache – Körper im Kontext der metaphysischen, gesellschaftlichen, natürlichen Welt aktiviert werden können:
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8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher
185
Das Diagramm ergibt kein begrifflich eindeutiges Modell; gerade damit verdeutlicht es vielleicht annäherungsweise das komplexe Prinzip der Metapher. Dass der Mensch im täglichen Leben mühelos mit der Metapher umgehen kann, lässt sich wohl darauf zurückführen, dass er durch Natur und Kultur befähigt ist, mit Körper, Geist und Sprache als integrale Gestalt in der Welt zu wirken. Zusammenfassend seien nun abschließend die Hauptthesen dargestellt, die der folgenden Auseinandersetzung mit ›poetologischen Metaphern‹ zugrunde liegen: Der natürliche und kulturelle Kontext: Die körperlichen und geistigen Beschaffenheiten und Prozesse, die den Menschen gemeinsam sind und sie zum Denken, Sprechen und Handeln in ihrer physischen und geistigen Umwelt befähigen, sowie die arttypische Integration des Individuums in eine mit physischen Gegebenheiten umgehende menschliche Gemeinschaft bilden eine gemeinsame ›Basis‹, eine als stabil erfahrene ›Wirklichkeit‹ für das Denken und die Kommunikation, wobei Erfahrung, Denken und Sprache kulturspezifisch und interaktiv wirksam sind. ›Natur‹ und ›Kultur‹ (beziehungsweise ›Konvention‹) befinden sich daher in einer stetigen Wechselbeziehung beziehungsweise sie sind zwei Aspekte der Einheit ›Mensch‹. ›Wirklichkeit‹ lässt sich dann auffassen als die Gesamtheit der gemeinsam erfahrenen, vorgestellten und kommunizierten Gegebenheiten des menschlichen Lebens. Denken und Sprache: Das Denken vollzieht sich im Gehirn und involviert physiologisch/psychologisch den ganzen körperlichen, emotionalen, imaginativen Menschen. Es ist nicht abhängig von Sprache (vgl. z. B. Bild, Musik, Mathematik), es bewegt sich jedoch vermutlich zumeist mit und in kognitiv-sprachlichen Strukturen und hat dann das Potenzial, sich sprachlich zu ›äußern‹. Die Sprache involviert prototypisch einen ›inneren‹ mentalen und einen ›äußeren‹ lautlichen/schriftlichen Prozess. In artikulierter Form manifestiert sie sich im zwischenmenschlichen Bereich, wo sie mentale Prozesse beziehungsweise Gedanken wirksam zu kommunizieren vermag. Durch die Bestandteile und Prozesse der jeweiligen kulturspezifischen, natürlichen Sprache trägt sie zur Strukturierung des Denkens bei. Jede Beziehung zwischen Sprache und Denken ist sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption prozessual und interaktiv. Begriffe, Wörter, Ausdrücke: Es besteht offenbar eine systematische Beziehung zwischen den sinnlich wahrgenommenen und mental verarbeiteten wirklichen Dingen, Strukturen, Relationen und Prozessen unserer physischen Welt und unseres Körpers, den vorgestellten Dingen, Strukturen, Relationen und Prozessen unseres Denkens/Imaginierens und den verbalisierten
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
Dingen, Strukturen, Relationen und Prozessen unserer Sprache. Wenn die drei Hauptelemente des aristotelischen Modells in Relation zueinander auch in heutigen Sprachtheorien immer wiederkehren, so deutet dies auf ein grundlegendes (westliches) Denkmuster, durch das die Interaktion des Menschen mit seinem Kontext konzeptualisiert wird. Es wird in diesem Projekt davon ausgegangen, dass die vorgestellten Dinge, Strukturen, Relationen und Prozesse mentale Konstruktionen sind, die auf sprachlich vermitteltem Konsens über die Beschaffenheit der wirklichen Dinge, Strukturen, Relationen und Prozesse beruhen und in einem ständigen Interaktionsprozess mit verbalen Dingen, Strukturen, Relationen und Prozessen (Wörtern, Idiomen, Syntax usw.) Bedeutung herstellen. Für unser Denken und unsere Kommunikation benötigen wir ›feste‹, ›handliche‹, ›gebrauchsfertige‹ Begriffe. Ebenso notwendig sind jedoch gerade in Bezug auf abstrakte Prozesse unscharfe Begriffe mit ›fließenden Grenzen‹. Grundsätzlich bedarf die Wissenschaft eines stetigen Bewusstseins für die Relativität, Wandelbarkeit und Kontextabhängigkeit der Begriffe. Notwendig ist zudem eine mentale Flexibilität und Kreativität: Nur dann ist es möglich, etablierte Grenzziehungen, Relationen und Analogien zu hinterfragen und an neue Gegebenheiten anzupassen sowie neue Wirklichkeiten zu erkunden und zu artikulieren. Vieles deutet darauf hin, dass der Mensch im täglichen Umgang mit dem Wort »das innere und äußere Wort« zusammenzudenken vermag und dass er sich im Prozess der »Verfertigung der Gedanken beim Reden« ständig zwischen gedanklicher »Vorstellung« und sprachlicher »Darstellung« bewegt.316 Diese Fähigkeit ist vorauszusetzen, wenn es um die Untersuchung der Sprache geht. Die Metapher: Der Begriff ›Metapher‹ bezeichnet vornehmlich die für unsere kognitiv-sprachlichen Prozesse charakteristischen ›Übertragungen‹ aus einem ›Herkunftsbereich‹ auf einen ›Zielbereich‹, wobei unsere körperlichen, kognitiven, imaginativen, emotionalen Erfahrungen von konkretphysischen Dingen, Strukturen, Relationen und Prozessen auf nicht-greifbare, immaterielle, innerliche, abstrakte Phänomene und Vorgänge übertragen werden. Auch zwischen konkreten Dingen oder zwischen Abstrakta sind Übertragungen möglich, wobei typischerweise die Metapher das Unbekannte durch das Bekannte anschaulich macht. Vorstellbar ist die Metapher auch als vektorielle oder räumliche Projektion, als Interaktion zwischen ›Bildspender‹ und ›Bildempfänger‹, als Einblendung oder Überblendung, als Konstruktion und als Interpretation. Die Metapher verleiht auf diese Weise besonders unstrukturierten Dingen und Substanzen sowie Abstrakta imaginäre Form und Struktur und setzt sie in Beziehung zueinan316 Herder 1877–1913, Bd. 7, S. 356 (Erläuterungen zum Neuen Testament). Kleist 1990.
8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher
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der und zur physisch strukturierten Welt; auf diese Weise werden sie vorstellbar und kommunizierbar. Die Metapher ist ein allgemeines Phänomen kognitiv-sprachlicher Prozesse und besonders in konventionalisierter Form ein typisches Merkmal der Alltagssprache. Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer ›alltäglichen‹ und einer ›poetischen‹ Metapher; diese sind Extreme in einem kontinuierlichen Spektrum, das von mehreren Faktoren mitbestimmt wird: Grad der Konventionalisierung, Grad der Komplexität und entsprechend auch Grad der Auffälligkeit im jeweiligen Kontext.317 In jeder Metapher ist die Möglichkeit einer prinzipiell unbegrenzten Weiterentwicklung angelegt; besonders im poetischen Kontext ist ein grenzenloser Spielraum für unkonventionelle, kreative, bildliche, narrative Ausgestaltung gegeben. Anzunehmen ist jedoch, dass die Strukturen und Gegebenheiten der menschlichen Erfahrung diese Elaborierung wenn nicht begrenzen, so doch strukturieren und formen. Es wird hier davon ausgegangen, dass die Metapher gleichermaßen im Denken und in der artikulierten Sprache wirksam ist. Als Möglichkeiten einzubeziehen sind auch spezifisch auf die artikulierbare beziehungsweise artikulierte Sprache fokussierte metaphorische Prozesse: beispielsweise eine assoziativ über sprachliche ›Familienähnlichkeiten‹ hergestellte Beziehung oder eine Formulierung, die als spezifisch stilistische Alternative anstelle einer anderen Formulierung gewählt wird. In Gegensatz zu Lakoff und Johnsons Ansatz wird die Metapher hier grundsätzlich als ›kognitiv-sprachliches‹ Phänomen aufgefasst,318 wobei die Voranstellung des kognitiven Aspekts dessen prinzipielle Priorität signalisiert, ohne auszuschließen, dass der ›Übergang‹ auch von der Sprache in die Kognition erfolgen kann. Der Spielraum der Metapher in Dichtung und Poetik: Der Entfaltungsspielraum der Metapher variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Sprachauffassung. Tendenziell ist eine (platonisch-)philosophische Sprachauffassung bestrebt, die Metapher auf den Bereich der Sprache einzuschränken und im philosophischen Diskurs – einschließlich der Ästhetik beziehungsweise Poetik – extreme Abweichungen von einem konventionalisierten, ›neutra317 Baldauf sucht die »Alltagsmetapher« als »Begriff« klar abzugrenzen; in vermeintlichem Gegensatz zu Lakoff und Johnson begreift sie darunter »sowohl feste, lexikalisierte metaphorische Ausdrücke […] als auch nicht-lexikalisierte ad-hoc Metaphern, sofern sie einem festgestellten Metaphernkonzept folgen, das ihren Bildgehalt motiviert, und sich in Metaphernsysteme einfügen« (Baldauf 1997, S. 92). Damit sucht sie ein »solides« Fundament für ein »Theoriegebäude« zu schaffen, das sich anders als dasjenige von Lakoff und Johnson »nicht alleine auf den stets problematischen Pfeiler der Intuition« stützt (ebd., S. 93). Disziplinär fundierte Mauern im Kopf verhindern hier offenbar die Erkenntnis, dass Lakoff und Johnson die ›Alltagsmetapher‹ weder konzeptuell noch terminologisch eingrenzen und dass eine solche Eingrenzung deren Ansatz grundlegend widersprechen würde. 318 Im Titel von Frieling 1996 findet sich dagegen die Kopplung ›sprachlich-kognitiv‹.
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II. Das kreative Potenzial der Metapher
len‹ Stil zu unterbinden. Im Bereich der Dichtung wird ihr eine maßvolle Entfaltung innerhalb des sprachlichen Ausdrucks zugestanden; der Wert der Dichtung wird jedoch vornehmlich im gedanklichen Bereich – dem Stoff und Wahrheitsbezug (mimesis) – gesehen. In einer rhetorischen Sprachauffassung wird die Verwendung der Metapher vom Redezweck bestimmt und damit vom Prinzip des aptum und der erwünschten Wirkung auf den Rezipienten. Im Bereich der Dichtung hat die Metapher daher einen prinzipiell unbegrenzten Spielraum, der jedoch funktional nach Inhalt und Stilhöhe strukturiert ist. Der auffälligste Einsatz von Metaphern gilt für den höchsten Stil als angemessen. Im Bereich der abhandelnden Poetik herrscht dagegen tendenziell der niedere Stil, in dem ein auffälliger Einsatz von Metaphern unangemessen wäre; allerdings bieten poetische Exempel Gelegenheit für metaphorische Gestaltung, und es besteht durchaus die Möglichkeit einer poetisch präsentierten Poetik. Eine ›magische‹ Sprachauffassung gibt der Metapher möglicherweise den kleinsten, weil ritualistisch eindeutig bestimmten Spielraum, aber die größte Wirkkraft, wenn nämlich ein metaphorischer Prozess als Produktion von Wirklichkeit konzipiert und kulturell akzeptiert wird. Den größten Entfaltungsspielraum erhält die Metapher prinzipiell in einer ›imaginativen‹ Sprachauffassung, in der sowohl philosophische Legitimation als auch rhetorische Zweckbestimmung abgelehnt werden zugunsten einer möglichst kreativen, unkonventionellen, irrationalen Sprache, die kreative, unkonventionelle, irrationale Prozesse vermitteln und aktivieren soll. Hier entfällt eine inhaltliche wie auch stilistische Abgrenzung zwischen Dichtung und Poetik, da Sprache und Denken sich gemeinsam im ›Raum‹ der Phantasie bewegen. Eine solche Sprachauffassung ist für die Romantik charakteristisch sowie für mystische Bewegungen. Die poetologische Metapher: Als ›poetologische Metapher‹ wird hier eine kognitive oder sprachlich artikulierte Metapher verstanden, die den Dichtern, der Dichtung oder den Rezipienten einen Sinn, eine Funktion und/ oder eine Identität vermittelt. Sie wirkt interaktiv zwischen Dichtern und Rezipienten, Dichtung und gesellschaftlichem Kontext, Gegenwart und Tradition, erinnert an etablierte Verbindungen und ermöglicht neue Konzeptionen von Dichtung. Typisch für die poetologische Metaphorik – wie auch für die Alltagsmetaphorik – ist die Verwendung von grundlegenden Mustern wie ›Behälter‹, ›Weg‹, ›Vertikalität‹, ›Verbindung‹, ›Gleichgewicht‹, die sich jedoch unbegrenzt variieren, ausgestalten und mit anderen Metaphern verbinden lassen. Poetologische Topoi lassen sich als konventionalisierte poetologische Metaphern verstehen, die im Diskurs um Dichtung etablierte Vorstellungen vermitteln und dadurch als eine Art kollektives Gedächtnis dichterischer Möglichkeiten fungieren. Sie ermöglichen eine schnelle und effektive Kom-
8. Ansatz zu einer ganzheitlichen Theorie der Metapher
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munikation, die in etablierten Bahnen verläuft, bergen jedoch immer auch unbegrenztes Potenzial für kreative Veränderungen und Verbindungen mit anderen Metaphern. Poetologische Metaphern vermögen Dichtung zu jedem Bereich des Lebens in Bezug zu setzen, und sie können Dichtung potenziell mit jedem Aspekt des Lebens identifizieren, um damit verschiedenste Möglichkeiten der Dichtung zu erproben. Beispielsweise kann die Darstellung von Dichtung als ›Wettstreit‹ ein tatsächliches Ereignis beschreiben (z. B. griechische Antike, Meistersang), sie kann durch die metaphorische Konstellation des Wettkampfs gruppenstiftend wirken, den Anspruch des Dichters auf öffentliche Anerkennung vermitteln oder den Dichter selbst beziehungsweise andere Dichter zu Höchstleistungen anspornen. Diese Konzeption der Dichtung kann wiederum opponierende Konzeptionen heraustreiben, so die für die romantische Poetik charakteristische Metapher von der Dichtung als ›Natur‹. Die poetologische Metapher ist aufgrund ihrer produktiven, transformativen Möglichkeiten für die Vorstellung und Verwirklichung von Dichtung zentral: Sie kann beitragen, die Kreativität im Dichter selbst freizusetzen, sie macht das Werk als Objekt und Prozess vorstellbar und sie steuert den Prozess der Rezeption. Im disziplinär vorgegebenen Freiraum der Dichtung entwickeln Sprache und Denken immer wieder andere Bezüge zur Welt, und die Metapher ist auch hier letztlich kein abgrenzbares, objekthaftes ›Instrument‹: Die ›poetologische Metapher‹ ist ein theoretisches Konstrukt, das vereinfachend die vielfältigen Übertragungs- und Vermittlungsprozesse zwischen Denken und Sprache im poetologischen Prozess bezeichnet. Trainiert wird mit der poetologischen Metapher die Imagination, indem Dichtung die konventionalisierten Beziehungen zwischen Sprache und Denken nutzt und zugleich in Frage stellt, abwandelt und erweitert. So lässt sich selbst das undenkbare Gedicht in den Raum der Sprache projizieren und imaginativ als unmögliches Gedicht ›(re)konstruieren‹: man bedenke was das gedicht ohne die im gedicht nicht vorkommenden wörter überhaupt wäre319
319 Pastior 2003, S. 34 (Gedichtgedichte).
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft Nein, nein! So eine Metapher gibt es noch gar nicht! Ich erschrecke vor meiner eignen poetischen Kraft!1 Christian Dietrich Grabbe
Die Sprachkraft des Dichters manifestiert sich bekanntlich in werkinternen Metaphern. Weniger offensichtlich, aber ebenso wirksam ist die Bedeutung dieser Sprachkraft im Einsatz von Metaphern für die Konzeption des Werkes und dessen Wirkung im öffentlichen Kontext. Zu den berühmtesten Aussagen über die Wirkung von Büchern gehört Franz Kafkas kühne Metapher vom Buch als »Axt«. Stärker als jede Beschreibung in ›eigentlichen‹ Worten bleibt das Bild dieses sprachmächtigen Autors im Gedächtnis des Lesers wirksam: Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.2
Kafka entwickelt hier in einem Brief an den Freund Oskar Pollak eine umfassende poetologische Aussage: umfassend in dem Sinne, dass der Autor Schreiben, Werk und Lesen zueinander in Bezug setzt, um die Funktion von Literatur rezeptionsorientiert zu bestimmen. Ziel seiner poetologischen Aussage ist nicht die Vermittlung einer analytischen Definition. Vielmehr soll die dynamisch intensivierende Häufung von Metaphern und Vergleichen die Veränderung herkömmlicher Vorstellungen von Literatur bewirken.
1
2
Grabbe 1960, S. 240 (Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, 2. Akt, 2. Szene). Der zuvor mit mangelnder Inspiration kämpfende Dichter Rattengift zeigt sich hier begeistert von seinem »kühnen, neuen« Bild: »der Löwe, eh der Morgen grauet, | Am Pferde, seiner schnellen Feder kauet« (ebd.). Kafka 1999, S. 35 (Kafka an Oskar Pollak, 27.1.1904). Kafka berichtet im vorangegangenen Teil des Briefes von seiner Vertiefung in Hebbels Tagebücher.
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
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Kafkas Aussage steht in einer langen Tradition der Funktionsbestimmungen von Dichtung. Locus classicus ist Platons Staat, in dem Sokrates die Dichter und deren Verteidiger herausfordert »zu beweisen, daß [die Dichtkunst] nicht nur angenehm, sondern auch nützlich für den Staat und das menschliche Leben ist«;3 implizit ist darin die Bestimmung der Dichtung als »unterhaltend und nachahmend« sowie ihre Verpflichtung auf »Gesetz« und »Vernunft« in Gegensatz zu »Lust und Leid«.4 In radikaler Opposition dazu machte Nietzsches Also sprach Zarathustra das emotional aktive Individuum zum Legitimationskriterium und stellte Lust und Leid ins Zentrum der Literatur.5 Entsprechend führen Kafkas Tropen in den Körper des Individuums; Ziel der Literatur ist die emotionale Aktivierung durch Schmerz. Sprache ist nicht nur ›durchsichtiges‹ Vehikel für Gedanken, sondern wirkt auf Denken, Imagination und Emotionen zugleich. Die poetologische Wirkung geht nicht nur von Kafkas Wahl der Tropen aus, sondern auch von der affektverstärkenden Darstellung und dem Abfolgeprozess, in Hinblick sowohl auf die Art des Tropus als auch auf das semantische Feld. Explizit wird die Argumentation als Teil eines kontinuierlichen Diskurses dargestellt, wenn Kafka sie als Antwort auf die zitierte These des Freundes kenntlich macht und seine persönliche Involvierung affektiv verdeutlicht – mit der Einleitung »ich glaube«, der direkten Anrede an das »Du«, Fragen, dem Ausruf »Mein Gott« sowie Modalpartikeln. Basis für Kafkas Erläuterungen ist die These des Freundes, die Funktion von Büchern bestehe darin, den Leser »glücklich [zu] machen«. In seiner Entgegnung ergänzt Kafka das Adjektiv um seinen Gegensatz und bezieht die Opposition ›glücklich – unglücklich‹ auf Produktion und Rezeption. Das stilistisch unauffällig behandelte ›Schreiben‹ ordnet er zusammen mit überflüssigen Büchern dem ›Glücklichmachen‹ zu, um das ›Wirken‹ in den Vordergrund zu rücken: Im expliziten Vergleich »Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück« ist das ausdrucksschwache Adjektiv ›unglücklich‹ in ein Substantiv verwandelt, das durch die Aufladung mit Schmerz und Tod stärkste Emotion kommuniziert. Das Werk erhält in einer Fülle von animierenden Tropen einen vom Autor unabhängigen Eigenwert: Es sind Bücher, die den Leser wie Insekten »beißen und stechen« und damit unter die Haut gehen; die ihn wie ein Kampfgegner »mit einem Faustschlag auf den Schädel« treffen und wie ein erkenntnisstiftender Mentor »wecken«. Der letzte Teil des Passus intensiviert die Vorstellung von der Wirkung auf den Leser. Der emotionale Schmerz eines unbestimmten »Unglücks« wird mit dem Extrem der Gefühle verstärkt, die der »Tod« eines über alles 3 4 5
Platon 1982, S. 450 (10. Buch; 607d). Ebd., S. 449 (10. Buch; 607a-c). Nietzsche 1967 ff., Abt. VI, Bd. 1, S. 399 f. (Also sprach Zarathustra, Das NachtwandlerLied) u.ö.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
geliebten Menschen hervorrufen würde; der Mut zur riskanten Isolation des Forschungsreisenden erfährt eine Steigerung im Vergleich mit dem »Selbstmord«. Die Reihe von Tropen kulminiert nach mehreren Vergleichen in einer Metapher, die direkt ins Innere des Lesers führt. Die Metapher von der »Axt« für das Werk belebt den etablierten Topos vom Wort als Waffe6 und dringt weiter als das ›Beißen und Stechen‹ in eine innere Landschaft, die noch viel isolierter ist als jene der »Wälder«. Dass das »gefrorene Meer« der Bereich der Emotionen ist, versteht der Leser auf vielfältige Weise und auf einmal: mit Hilfe der bereits ausgeführten Gefühlsvergleiche, des Kontrasts von außen und innen sowie der traditionellen Hitze-/Kälte- und Wassermetaphorik. Die einleitenden Metaphern der Penetration und der physisch-manuellen Schlagkraft auf den »Schädel« verstärken suggestiv die Wucht dieser abschließenden Metapher, die Kafkas Vorstellung von Literatur in des Lesers Geist und Körper einschreibt. Dieser Text lässt sich hinsichtlich seiner Aussage mühelos dem Bereich der Poetik zuordnen: Er vermittelt separat vom Werk explizit Reflexionen über Literatur. Allerdings passt er in keine der Kategorien, die sich mit den im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definierten Begriffen ›Poetologie‹, ›Anweisungspoetik‹ oder ›immanente Poetik‹ bezeichnen ließen;7 und es wäre wenig sinnvoll, ihn innerhalb des Bereichs der ›Poetik‹ näher klassifizieren zu wollen. Auffällig ist, dass Kafka die These des Freundes nicht rational systematisch widerlegt, sondern vor allem durch den affektiven Einsatz von Tropen, und dass die Sprache durchaus nicht von literarischer Sprache unterschieden ist. Unangemessen für Poetik wäre dies nur aus philosophischer Sicht. Aus der Sicht der Rhetorik erfüllt der Text auf eindrucksvolle Weise die Bedingungen des aptum: Inhalt und Form, Argumentation und Sprache verstärken sich gegenseitig, um den angesprochenen Leser zu überzeugen. Die wirksame Häufung ist eine Technik, die aus der Rhetorik bekannt ist und dem Ziel des movere dient, wie Quintilian erläutert: Denn es ist ja nicht nur Sache des Redners zu unterrichten, sondern mehr noch kommt die Kraft der Redekunst bei den Gefühlsbewegungen zur Geltung. Diesem Ziel steht eine nüchterne und gewissenhafte Gliederung, die den Stoff Punkt für Punkt genau zerlegt, vor allem in dem Zeitpunkt im Wege, in dem wir dem Richter, während er noch dabei ist, sich über den Fall eine Meinung zu bilden, sein Urteil zu entwinden versuchen. Ja, kommen nicht zuweilen auch an und für sich unbedeutende und schwache Argumente dadurch zur Geltung, dass sie in großer Schar herandrängen? Darum rafft man sie dann besser zusammen und führt sie wie zu einem Ausfall in den Kampf.8
Entsprechend dem Ratschlag Quintilians häuft Kafka die Argumente, und er verstärkt sie noch durch den gezielten, selektiv gehäuften Einsatz von 6 7 8
S. o., S. 22. S. o., S. 6 f. Quintilian 1995, Bd. 1, S. 502 f. (IV, 5, 6–7).
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
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Metaphern. Nachdem er den Leser eingangs mit körperlichen Metaphern schockiert hat, geht er unmetaphorisch auf herkömmliche Erwartungen ein, um dann graduell über Vergleiche den Leser in den imaginativen »Selbstmord« zu führen und schließlich mit der wirkungsstärksten Metapher ins Innerste des Lesers einzugreifen. Der tropische Prozess vermittelt die erneuernde Funktion von Literatur: Wie Rilkes poetologisches Gedicht Archaischer Torso Apollos hat das von Kafka geforderte Buch die Erkenntnis zu stiften, »Du mußt dein Leben ändern«.9 Am wirksamsten ist der Text somit aus der Perspektive der Dichtung, von der er handelt: Er sensibilisiert den Leser für eine Art von Buch, das sonst als marginal gelten könnte und potenziell ›unlesbar‹ wäre. Seine Wirkung entfaltet der Text jedoch erst, wenn der Leser bereit ist, den Tropen unter Aufbietung rationaler, emotionaler und vor allem imaginativer Kräfte zu folgen. Allerdings sind die Tropen selber so kraftvoll konkret, dass man sich ihrer Wirkung kaum entziehen kann. Kafkas poetologischer Text verdeutlicht die Kontextabhängigkeit ›poetologischer Metaphern‹. ›Poetologisch‹ sind diese Metaphern nicht deswegen, weil sie bestimmten Bildfeldern angehören oder weil sie eine von sonstigen Metaphern abweichende Beschaffenheit aufweisen: Quintilians »Kampf«-Metapher ist nicht wesenhaft von Kafkas »Axt«-Metapher unterschieden. ›Poetologisch‹ sind sie vielmehr deshalb, weil sie Vorstellungen von Dichtung aktivieren. Die besondere Aussagekraft von Metaphern in der Poetik gründet in ihrem Vermögen, auf differenzierteste Weise durch komplexe Assoziationsprozesse Sprache, Denken, Phantasie und Gefühl selektiv zu fokussieren oder auch integrativ wirksam zu machen. Damit können sie die unterschiedlichsten Arten von Literatur vermitteln, bis hin zu literarischen Projekten, die auf den ganzen Menschen zielen. Harold Bloom zitiert in seiner schaffenspsychologischen Studie The Breaking of the Vessels eine Frage von Kenneth Burke: »What was the poet attempting to do for himself by writing this particular poem?«, wobei es Bloom nicht auf den Dichter als Menschen ankommt, sondern auf den Dichter als Dichter.10 Auf poetologische Metaphorik übertragen ließe sich eine entsprechende Frage wie folgt formulieren: Was bezweckte der Dichter für sein dichterisches Projekt, indem er diese spezifische Metapher wählte? Fassen lässt sich diese Frage sowohl schaffenspsychologisch als auch wirkungspsychologisch. Grundlegender ist allerdings die Frage, wie ein Autor überhaupt Metaphern auswählt und einsetzt, um poetologisch zu reflektieren und Poetik zu kommunizieren. Und in Bezug auf die Rezeption eröffnet sich die Frage, in welcher Beziehung die Metaphorik eines Dichters zu jener 9 10
Rilke 1996, Bd. 1, S. 513 (Der neuen Gedichte anderer Teil, Archaïscher Torso Apollos, V. 14) Bloom 1982b, S. 7, ohne Quellenangabe.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Metaphorik steht, die den poetologischen Horizont des Rezipienten prägt; spekulieren ließe sich, dass ein partieller Konflikt eine poetologische Revolution auslösen kann, ein radikaler Konflikt dagegen den Text für die öffentliche Wahrnehmung unzugänglich macht. Dies systematisch zu untersuchen, würde über die hier gegebenen Möglichkeiten hinausführen. Im Folgenden sollen lediglich einige grundlegende Prozesse erkundet werden, durch die poetologische Metaphern wirksam werden. In diesem Kapitel werden grundsätzliche Voraussetzungen und produktive wie rezeptive Funktionsweisen der poetologischen Metapher behandelt. Zunächst geht es um die Rolle von Metaphern in der Geschichte der deutschen Literatur und Poetik, denn sie tragen entscheidend zur Struktur dieser Geschichte bei und nicht zuletzt zur Bewertung unterschiedlicher poetologischer Gattungen. Näher beleuchtet werden dann die Gattungen der Poetik und ihre historische Beziehung zum jeweils vorherrschenden poetologischen Kontext, denn die Gattung bietet die ›Form‹, mittels derer Poetik kommuniziert wird. Auch in Bezug auf die Medien der Dichtung erfüllen Metaphern eine bedeutsame Rolle, indem sie das tatsächliche physische Medium hervorheben oder auch ausblenden und poetologisch wirksam mittels der Imagination durch ein anderes ersetzen können. Dabei bereichert jedes hinzukommende physische Medium auch die poetologischen Möglichkeiten. Die durch poetologische Metaphern hergestellte diachronische Kommunikation soll exemplarisch anhand des binären Metaphernkomplexes ›Natur/ Kunst‹ verfolgt werden, dessen starke Ausprägung in der Antike noch für die Poetik der Gegenwart eine wichtige Orientierung bietet. Abschließend wird besonders unter Bezug auf Goethe der Kommunikationsprozess zwischen Autor, Werk und Rezipient erkundet: Denn im strategischen Einsatz poetologischer Metaphorik ist er der deutsche Meister. Seine überragende Bedeutung in der deutschen Literaturgeschichte bietet gewissermaßen den empirischen Beweis für die Wirkkraft poetologischer Metaphern.
1. Geschichte deutscher Poetik Die Geschichte der deutschen Poetik ist mit der deutschen Literaturgeschichte verquickt. Sie wird bestimmt von zwei ›Anfängen‹, die mit den zwei großen ›Epochenschwellen‹ der deutschen Literatur zusammenfallen: Den ersten Anfang bildet die 1624 erschienene, erste deutsche Anweisungspoetik von Martin Opitz; den zweiten Anfang – der zugleich die ›Jetztzeit‹ inaugurierte – markiert um 1770 die Erscheinung des von Goethe verkörperten Originalgenies. Die deutsche Poetik fällt somit im gängigen Literaturgeschichtsverständnis in drei Großepochen auseinander: zunächst die vortheoretische Phase, in der Poetik allenfalls als werkimmanente Äußerung existiert; dann die durch eine an der Antike orientierte, explizit normative
1. Geschichte deutscher Poetik
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Poetik bestimmte Phase von Opitz bis hin zu Gottsched, in der sich ›Poeterey‹ und ›Dichtkunst‹ zwischen Lehre, Lehrwerk und Dichtung bewegen;11 und schließlich die mit Goethe und der Romantik einsetzende genie- beziehungsweise autonomieästhetische Phase, in der die Lehre aus der Poetik verschwindet und literaturtheoretische Reflexion sich aufspaltet in philosophisch orientierte Wissenschaft von der Dichtung und individuelle Autorpoetiken. Damit rückt die Konstitution der zwei als ›Epochenschwellen‹, ›Umbruchsphasen‹ oder auch ›Paradigmenwechsel‹ verstehbaren Zeiten ins Zentrum des Interesses: der ›Übergang‹ von Mittelalter zur frühen Neuzeit (beziehungsweise im Falle der deutschsprachigen Dichtung zum Barock) und von der frühen Neuzeit zur ›modernen‹ Neuzeit oder auch ›Moderne‹.12 Die Diskontinuitäten an diesen beiden Punkten der Poetikgeschichte ergeben sich aus komplexen Verflechtungen von sprachlichen, sozialen, kulturellen, medialen und literarischen Faktoren, bei denen das Selbstverständnis der zeitgenössischen und nachfolgenden literarischen Leitfiguren und -kreise eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Für die heutige Bewertung poetologischer Gattungen sind die von der Genieästhetik geprägten Wertungen ausschlaggebend; entsprechend erscheinen Gattungen wie Prolog, Vorrede oder Anweisungspoetik zwangsläufig minderwertig und allenfalls historisch interessant. Dass diese Bewertung jedoch zeitgebunden ist, liegt auf der Hand. Um eine historisch offenere Perspektive zu erlangen, ist es hilfreich, die Beschaffenheit der ›Epochenschwellen‹ zu untersuchen und die Kriterien zu beleuchten, die zu den jeweils ›neuen‹ poetologischen Wertungsmaßstäben beitrugen. Die Vorstellung von einem durch Martin Opitz erfolgten Anfang ist in seinem eigenen Selbstverständnis angelegt, wobei er seine deutsche Poetik und deutschsprachige Dichtung als Teil eines umfassenden Projekts sieht, die Vulgärsprache unter den Gelehrten durchzusetzen. Er vermittelt diese Vorstellung durch die topische Metapher vom neu zu bahnenden ›Weg‹, wenn er in seiner Widmung an die Patrizier der Stadt Bunzlau die Gelehrten bittet, ihm zu helfen, »den weg so ich allbereit vmb etwas eröffnet vollendts zu bähnen«.13 Deutlich wird hier die Funktion der Metapher: Sie dient dazu, dem Unterfangen besonderes Gewicht zu verleihen und den Patriziern das Bewusstsein von dessen Bedeutung zu vermitteln. Einerseits versteht Opitz sein Buch von der Deutschen Poeterey als Wiederanfang: als neuerliche Etablierung einer Kunst der »Deutschen Poeterey«, die in der 11 12 13
Vgl. Gottsched 1962, S. a2 (Vorrede zur 4. Aufl.) u.ö. Zum Begriff ›Moderne‹ für die Zeit seit der ›Epochenschwelle‹ am ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. beispielsweise Vietta 1992, S. 7–37, s. u., S. 427, Anm. 105. Opitz 1966, S. 3 (Widmung). Er bezieht sich hier (auch) auf seine Verteidigung der deutschen Sprache in »Aristarchus sive De Contemptu Linguae Teutonicae« von 1617 (Opitz 1968 ff., Bd. 1, S. 51–75). Zur Wegmetapher vgl. Cicero 2004, S. 24 f. (3, 11); Horaz 1993, S. 494 f. (Episteln 1, 19, V. 21 f.).
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Zeit der von Tacitus beschriebenen Barden bis hin zu Walther von der Vogelweide in hohem Ansehen gestanden hatte; das (topische) Argument einer früheren Blüte deutscher Literatur dient ihm als Beweis der klimatischen Eignung Deutschlands für große Dichtung.14 Andererseits sieht er sein Werk als Anfang einer Tradition muttersprachlicher Dichtkunst im Zeichen der Antike, womit er für die deutsche Dichtung – auch durch seine Teutschen Poemata von 1624/25 – jene Bedeutung beanspruchen kann, die Petrarca und Ronsard für die italienische beziehungsweise französische Literatur haben.15 Entsprechend wird er von humanistischen Kollegen und Nachfolgern als »Urheber der Teutschen Poeterey« gefeiert.16 Der mit Opitz verbundene Anfangstopos ist in einer ungebrochenen Tradition bis in die Gegenwart wirksam geblieben. Die Gründe dürften nicht zuletzt in der unvermeidlichen »Fiktion des Faktischen« zu suchen sein.17 Jede Geschichte braucht einen Anfang, und hier ist nicht nur ein Held gegeben, sondern auch ein kanonisches Werk, dessen Titel die nationale Komponente der Geschichte in den Vordergrund rückte. Entsprechend bildet Opitz für Bruno Markwardt den Beginn seiner Geschichte der deutschen Poetik – mit fünf Bänden das an Umfang und Detail unübertroffene Werk zu diesem Thema.18 Für ihn ist 1937 der nationale Aspekt zentral, da es ihm »Recht und Pflicht der Literaturwissenschaft« ist, »die im deutschen Schrifttum wirkenden Kräfte des Nationalgeistes zur möglichst klaren Anschauung zu bringen«.19 Als Gründungsinstanz erscheint Opitz’ Anwei14 15
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Opitz 1966, S. 14–17 (Kap. 4). S. u., S. 553. Ebd., S. 16 (Kap. 4). Opitz erwähnt jedoch auch ein Buch von Ernst Schwabe von der Heide (1598–1626), der eine offenbar nicht gedruckte und jedenfalls nicht erhaltene Sammlung von deutschen Gedichten wohl mit Regeln für die deutsche Dichtung verfasst hatte (ebd., S. 34; Kap. 7); vgl. Kühlmann 1991. »Ohne jegliche Räsonanz« blieb Theobald Höcks 14-strophiges Gedicht »Von Art der Deutschen Poeterey« von 1601, so dass Opitz’ Schrift den unbestrittenen Status der »ersten deutschsprachigen Poetik der Barockzeit« hat (Hess 1994, Sp. 655; Höck 1899). Zu Höck (auch Hock) vgl. Czucka 1987. Er sucht Höck nicht als Verfasser der ›ersten‹ deutschen Poetik darzustellen, sondern arbeitet sein sprachorientiertes Literaturverständnis heraus, um die Ursachen für die »fast systematisch zu nennende Rezeptionsverweigerung« (ebd., S. 2) durch eine an Opitz orientierte Literaturgeschichtsschreibung zu ergründen. Harsdörffer 1969, Teil 1, S. )( viiv (Vorrede, Abs. 16). Vgl. den Titel der deutschen Ausgabe von Hayden Whites »Tropics of discourse«: »Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen« (White 1991). Die Bände von Markwardt (1956–1967) behandeln folgende Zeiträume: Bd. 1: Barock und Frühaufklärung; Bd. 2: Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang; Bd. 3: Klassik und Romantik; Bd. 4: Das neunzehnte Jahrhundert; Bd. 5: Das zwanzigste Jahrhundert (bis zum Expressionismus und den »großen Einzelgängern« Thomas Mann, Heinrich Mann, Hermann Hesse). Markwardt geht es nicht um eine analytische Bestimmung der Poetik, sondern um die Gewinnung des »Wesens aus den historischen Wuchsformen des Werdens« (ebd., Bd. 1, S. 2) unter Einbeziehung auch der werkimmanenten Poetik (vgl. ebd., S. X). Markwardt 1937, S. VII. Dieses Programm wird in der 1958 publizierten Neuauflage des ersten Bandes angesichts gewandelter ideologischer Gegebenheiten durch Eliminierung des nationalistischen Aspekts modifiziert, vgl. Markwardt 1956–1967, Bd. 1, S. IX–XI.
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sungspoetik auch deshalb, weil Markwardt unter Poetik vor allem das Bestreben versteht, »mehr oder minder planvoll und wirksam von der Kunsttheorie her die Kunstleistung ermutigend zu fördern und anregend zu lenken«; Opitz unternahm es, »den Vorsprung des Auslandes auf[zu]holen«.20 Damit macht Markwardt die explizite Lehre von der Kunst des Dichtens zur führenden Instanz und den Topos von der deutschen ›Verspätung‹ zum Prinzip seiner Geschichte der deutschen Poetik. Trotz »beachtenswerter Frühansätze«21 kann die Zeit vor dem 17. Jahrhundert aus dieser Perspektive heraus keinen Beitrag zur deutschen Poetik leisten, denn das Mittelalter bietet keine vulgärsprachliche deutsche Poetik; als Richtschnur für die deutschsprachige Dichtung galten vielmehr direkt oder mittelbar die supranationalen Poetiken in lateinischer Sprache.22 Bestätigt wurde Markwardts Wertung aus durchaus anderer Richtung von Ernst Robert Curtius, dessen grundlegende Studie von 1948 die deutschsprachige Literatur des Mittelalters in der »europäischen Literatur« des »lateinischen Mittelalters« aufgehen ließ.23 Vor diesem Hintergrund war eine von der lateinischen Rhetorik unterschiedene Poetik deutschsprachiger Literatur für den Zeitraum des Mittelalters weder vor- noch darstellbar. Die Rolle von Opitz als Begründer ist in der deutschen Literaturgeschichte durch genealogische Metaphorik etabliert, die ihn als ›Adam‹ der deutschen Literatur erscheinen lässt. Gottsched folgte 1739 in den Spuren der Barockpoetiken, als er den großen Ahnherrn anlässlich seines hundertsten Todestages als »Vater der deutschen Dichtkunst« feierte.24 Entsprechend konstatiert Dirk Niefanger im Jahre 2000, Opitz werde »zu Recht als ›Vater der deutschen Dichtkunst‹ bezeichnet«, wobei sein Buch von der Deutschen Poeterey »mit Fug und Recht als Gründungsurkunde der neueren deutschen Literatur« zu sehen sei.25 Für die Geschichtsschreibung bedeutsam ist jedoch vor allem die von Opitz selbst benutzte Wegmetapher, denn sein neuer Weg wurde zum Weg der deutschen Dichtung und sein Bruch mit der deutschen dichterischen Tradition des Mittelalters zum Bruch in der 20
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Markwardt 1937, S. VIII. Der Topos bleibt bis in die Nachkriegszeit für das deutsche Selbstverständnis zentral. So spürt Plessner unter dem Titel »Die verspätete Nation« und unter Bezug auf Nietzsche den »Wurzeln der Ideologie des Dritten Reiches« nach (Plessner 1959, Titel und S. 10). In dieser »Ungunst des Geschicks« sucht er für das Nachkriegsdeutschland »schöpferische« Möglichkeiten zu entdecken (ebd., S. 11). Für Schlaffer feiert die deutsche Literatur »ihr Siglo de Oro, ihr Age classique […] reichlich spät« (Schlaffer 2002, S. 156), und die »Verspätung« dient ihm als Erklärung für die Konzentration kanonischer Autoren in der Goethezeit sowie in der (klassischen) Moderne (ebd., S. 136). Markwardt 1937, S. VIII. Vgl. Haug 1992, S. 7. Curtius 1993 (Titel). Gottsched 1739 (Titel). Zur literaturwissenschaftlichen Diskussion um Opitz vgl. Garber 1976. Niefanger 2000, S. 82 f. Vgl. jedoch auch ebd., S. 15.
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Tradition, wie aus der Darstellung von Volker Meid in der Deutschen Literaturgeschichte von Beutin, Ehlert u. a. hervorgeht: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache und der deutschen Dichtung bedeutete einen entschiedenen Bruch mit der einheimischen Tradition: Es führt kein Weg von Hans Sachs zu Martin Opitz oder Andreas Gryphius. Gleichwohl ist durchaus eine Kontinuität vorhanden; sie ist allerdings nicht an die Sprache gebunden: Die lateinische Dichtungstradition gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen der deutschen Kunstdichtung des 17. Jahrhunderts.26
Meids Metapher der »Erneuerung« ist auf signifikante Weise mehrdeutig. Denn ausgegangen wird einerseits von einer ›Renovierung‹ oder ›Belebung‹ des Bestehenden – es wird die deutsche Dichtersprache und die deutsche Dichtung erneuert –, andererseits aber von einer ›Ersetzung‹ der bestehenden deutschen Dichtung in deutscher Sprache durch die lateinische Dichtung in deutscher Sprache. Angedeutet ist zudem die Assoziation ›Renaissance‹, womit die auch in der Metapher des »Bruchs« in den Vordergrund rückende Perspektive einer am deutschsprachigen literarischen Leben beteiligten Gruppe mit ihren spezifischen Interessen privilegiert wird: jene der gelehrten Dichter und ihrer Vorbilder, die sich an der europäischen Dichtung orientieren. Die Metapher des »Wegs« impliziert die Notwendigkeit einer narrativen Kontinuität, die jedoch in der prototypischen genealogischen Verbindung zwischen Personen und Gruppen nicht zu finden ist. Erforderlich werden damit abstraktere Kontinuitäten; diese situieren die deutsche Dichtung vor Opitz in einem getrennten Areal, das an der künftig sich entwickelnden literarischen Infrastruktur keinen Anteil mehr hat. Es lohnt, Meids Konstruktion des Wegs der deutschen Dichtung noch weiter zu verfolgen, denn es eröffnen sich hier Ausblicke auf Kontinuitäten, die den »Bruch« in Frage stellen. Er streift im Vorbeigehen einige »einheimische« Formen der Dichtung, diskreditiert sie jedoch unter Voraussetzung der exklusiven Überlegenheit des humanistischen Projekts, dessen Anfang er für die deutsche Literatur mit Opitz gleichsetzt. So erwähnt er die Tatsache, dass Opitz »einige Literaturzeugnisse aus dem Mittelalter« anführt, betont jedoch die alleinige Relevanz der »Dichtung der Antike und der Renaissance« für die Ausbildung »einer gehobenen Dichtersprache und einer neuen Kunstdichtung«.27 Ausgeblendet bleibt die Rolle der Humanisten des 16. Jahrhunderts, insbesondere Luthers, wie bereits in Meids Loskopplung der »Kontinuität« der dichterischen Tradition von der deutschen Sprache erkennbar war. 26
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Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 110. Der Verfasser dieses Teils ist Volker Meid. Vgl. auch seine ausführlichere – und differenziertere – Darstellung der Leistung von Opitz in Meid 1986, bes. S. 19 f. und 74–78. Generell neigen besonders umfassende Literaturgeschichten zur Betonung von ›Brüchen‹ und ›Anfängen‹. Es gibt sich darin die strukturgebende Macht narrativer Konventionen zu erkennen. Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 111.
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Sprache und Literatur sind jedoch sowohl im 16. und im 17. Jahrhundert im humanistischen Verständnis untrennbar verflochten. Opitz geht es in seiner Poetik nicht zuletzt – wie auch im Aristarchus – um die Entwicklung »vnserer schönen Muttersprache« und um deren »fortpflantzung«.28 Immerhin ist die Interaktion zwischen lateinischer und deutscher Sprache und Literatur ein kontinuierlicher Prozess, den bereits Otfrid kommentiert, wobei er ausführlich auf die Rückständigkeit des Fränkischen gegenüber dem Lateinischen eingeht29 – der (antik fundierte) Topos von der deutschen Verspätung ist somit bereits im 9. Jahrhundert angelegt. Luthers Grundlegung der deutschen Schriftsprache im 16. Jahrhundert erfolgte im Prozess der Übersetzung; und sein Beitrag für die deutsche Dichtung ist nicht nur sprachlich zentral, sondern manifestiert sich auch in der bedeutsamen poetischen Gattung des Kirchenlieds. So illustriert Opitz seine vielzitierte Festlegung deutscher Metrik auf den natürlichen Wortakzent und den »iambicus oder trochaicus« bezeichnenderweise mit Beispielen aus Kirchenliedern von Luther,30 und Harsdörffer wertet die muttersprachliche Verwirklichung des Kirchenlieds als bedeutendste Legitimation einer deutschen Dichtkunst.31 Noch Klopstock versteht das Verfassen von geistlichen Liedern neben seinem Epos Der Messias – und vor seinen antikisierenden Oden – als seinen »zweyten Beruf«.32 Die Interaktion zwischen der deutschen Sprache und den antiken Sprachen bestimmt – unter verstärkter Einbeziehung auch des Griechischen – noch die Bestrebungen der ›Klassik‹ des 18. Jahrhunderts; 1823 fühlt sich Goethe von einer lateinischen Übersetzung seines Epos Herrmann und Dorothea besonders angesprochen, da er hier sein »Sinnen und Dichten, in einer viel gebildeteren Sprache« erkennt.33 Gerade die Heranbildung der deutschen Sprache und Dichtung mittels der antiken Sprachen ist somit ein kontinuierlicher Prozess, der sich vom frühen Mittelalter bis in die ›moderne‹ deutsche Dichtung verfolgen lässt. Andere Kontinuitäten erwähnt Meid in Zusammenhang mit konfessionellen, regionalen und sozialen »Abgrenzungen«, wobei allerdings jeweils binäre Kategorien die Überlegenheit des humanistischen Projekts voraussetzen. So erscheint der protestantische Humanismus offen und fortschrittlich, denn die »katholischen Territorien Süd- und Westdeutschlands verschlossen sich weitgehend der Sprach- und Dichtungsreform und führten eigene,
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Opitz 1966, S. 57 (An den Leser) und S. 7 (Kap. 1. Vorrede). Otfrid 1987, S. 20–27 (lateinische Widmung an Liutbert). Opitz 1966, S. 37 f. (Kap. 7). Harsdörffer 1969, 1. Teil, S. )( vir (Vorrede, Abs. 9). Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 3, S. 52 (Klopstock an seinen Vater G.H. Klopstock, 3.–6.11.1756). Goethe 1887–1919, Abt. 4, Bd. 37, S. 123 (Goethe an Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 8.7.1823).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
lateinische und deutsche, Traditionen weiter.«34 Fortgeführt wurden Meistersang, Volkslied und die Dichtung in Flugblättern, aber nur von »Gruppen, die schon aus Bildungsgründen als Rezipienten der modernen Kunstdichtung nicht in Frage kamen«.35 Meids Fazit in früheren Ausgaben der Deutschen Literaturgeschichte lautet: »Auf die Entwicklung der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert blieben diese Erscheinungen allerdings ohne Einfluß.«36 Entgegen der Verknüpfung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, populärer und gelehrter Sprache in Luthers Bibelprojekt wird hier die »deutsche Literatur« mit gelehrter, primär schriftlicher und primär weltlicher Literatur ineinsgesetzt und auf eine lineare »Entwicklung« reduziert. Im Rahmen einer stärkeren Sensibilisierung für den Wert der »›Volkspoesie‹« in der neueren Germanistik ist dieser Satz in der Ausgabe von 2001 getilgt.37 Hinterfragt werden müsste dann jedoch auch die Metaphorik der Substitution, des Bruchs und des mangelnden Wegs. Das Modell eines von Opitz verkörperten Anfangs entsteht somit aus der Konstruktion einer geschichtlichen Linie, die vom Meistersang zum Humanismus führt und zwangsläufig am Punkt des ›Übergangs‹ eine Diskontinuität aufzeigt, weil ›die deutsche Literatur‹ gewissermaßen in eine andere Kultur springt und an dem Punkt, wo Opitz einen ›Anfang‹ deklariert, mit anderen Kulturträgern identifiziert wird. Bedeutsam ist an diesem Punkt des Übergangs nicht zuletzt die Verschiebung im kommunikativen Kontext und Medium und damit verbunden in der kulturellen Orientierung: Während für die Meistersinger die lokale deutsche Sprache, die deutschsprachige Gattungstradition, die kollektive Organisation, der lokale städtische Raum und die unmittelbare mündliche Performanz zentral sind, verstehen sich die Gelehrten als Teil einer über die Grenzen von Sprache, Raum und Zeit hinweg wirksamen Kultur, die primär durch das Medium der Schrift Geltung und zeitüberdauernden Ruhm erlangt und in der sich auch das Individuum profiliert. Primär mündliche Formen der Literatur spielen in der so konstruierten Literaturgeschichte nur insofern eine Rolle, als sie es erlauben, eine deutschsprachige literarische Kultur bis zu den ›Anfängen‹ der überlieferten Nationalkultur zurückzuverfolgen; sie erhalten damit den Status einer Art Vorform, ähnlich wie in humanistischen Poetiken der Ursprung der Dichtung aus dem Gesang hergeleitet wird. Erst die Etablierung der Schrift und die darüber hergestellte Profilierung gegenüber anderen Nationalliteraturen ergibt eine Basis, auf der die vom Humanismus ins Zentrum volkssprach34 35 36 37
Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 111. Ebd., S. 112. Demgegenüber wird noch 1697 geltend gemacht – ob wahrheitsgetreu, sei dahingestellt –, dass »die Sing-Schulen [Singveranstaltungen, KK] der Meister-Singer […] offt von Hohen Stands-Personen besuchet« werden (Wagenseil 1975). Beutin, Ehlert u. a. 1992, S. 95. Vgl. Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 112 f.
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licher Bemühungen gestellte Legitimation gegenüber den avancierten Sprachkulturen erfolgen kann. Nun erst beginnt man, poetologisch reflektiert die »Verspätung« der deutschen Literatur aufzuholen und ihren »Aufstieg« voranzutreiben.38 Die Publikation von Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey ist zweifelsohne ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der deutschen Literatur und Poetik, zumal er mit seinen Teutschen Poemata dem theoretischen Regelwerk zeitgleich ein maßgebendes Werk der dichterischen Praxis an die Seite stellte. Indem seine Poetik von Zeitgenossen und Nachfolgern als ›Anfang‹ gewertet wurde, konnte sie die deutschsprachige Dichtung als eigenständige Tradition legitimieren und eine wichtige identitätsstiftende Funktion erfüllen. Problematisch wird der Topos vom Anfang jedoch dann, wenn er als Teil einer linear konstruierten Literaturgeschichte den Blick für Kontinuitäten verstellt und dazu führt, dass andersartige Formen der Literatur und Poetik abgewertet oder als obsolet ausgeblendet werden. Dabei ist auffällig, dass sich der ›Anfang‹ der frühneuzeitlichen deutschen Literatur aus Kriterien konstitutiert, die in diametralem Gegensatz zu jenen stehen, die den ›Anfang‹ der modernen deutschen Literatur bestimmen: Träger sowohl der Literatur als auch der Poetik sind die Gelehrten, im Vordergrund steht das poetologische Regelwerk, und maßgebend ist die Tradition. Der Anfang der modernen deutschen Literatur und Poetik vollzieht sich unter umgekehrten Vorzeichen, wobei wiederum das Selbstverständnis des repräsentativen ›Helden‹ die spätere Rezeption bestimmt. Indem Goethe seine Gelehrsamkeit sowie seine Schreibtätigkeit im Hintergrund verschwinden lässt, um sein Dichtertum als spontanen Akt des kreativen Individuums zu projizieren, etabliert er den Modus des Dichters, der aus der inneren Natur und der ihn umgebenden Natur statt aus Büchern schöpft. Als Zertrümmerer etablierter Regeln und Strukturen – so in seiner Shakespeare-Rede39 – schafft er einen neuen Kontext für Literatur, in dem schriftliche Regeln keinen Platz haben und nur das große Genie als Vorbild anerkannt wird. Und indem er zeigt, wie man einzig aus sich selbst heraus »Original« wird, erweist er sich als »Befreyer« der deutschen Dichter.40 Gemäß seinem Dichtungsverständnis verfasste Goethe keine Poetik, sondern etablierte seinen Status durch die Praxis. Allerdings begründete er mit 38
39 40
Vgl. Meids Verwendung dieser humanistischen Topoi in Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 109. Die Perspektive des heutigen Historiographen auf die Frühe Neuzeit ist hier kaum von der Perspektive der humanistischen Schriftsteller zu unterscheiden. Hinsichtlich der Gegenwartsliteratur gehen die Autoren der »Deutschen Literaturgeschichte« dagegen von einer »Vielzahl zueinander offener Szenen« und einer »›unordentlichen Pluralität‹« aus (ebd., S. IX; Vorwort zur 6. Auflage). Ein Ansatz, der durchgängig eine Pluralität simultaner Szenen mit einer Vielfalt gruppenspezifischer Traditionen berücksichtigen würde, ergäbe eine durchaus andere Geschichte als die von Meid dargestellte. Goethe 1985 ff., Bd. 18, bes. S. 10 (Zum Shakespears Tag). Ebd., Bd. 22, S. 933 (Noch ein Wort für junge Dichter).
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seiner literarischen Autobiographie Dichtung und Wahrheit eine deutsche Literaturgeschichte, in der er selbst die Rolle des Helden besetzte. Praxis und Theorie, die im Werk von Opitz vereinigt sind, treten im neuen Literaturverständnis auseinander. Der selbstbewusste Künstler bedarf keiner externen Regeln, und die theoretische Beschäftigung mit der Dichtung wird zur Sache der Akademie. Den diametralen Gegensatz zwischen den von Opitz einerseits und Goethe andererseits repräsentierten Werten kann man als grobe Vereinfachung epochaler Tendenzen sehen und als Elaborierung jenes Prinzips, mit dem Goethe selbst eine lineare Epochenabfolge konstruierte: »Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch.«41 Erklären lässt er sich jedoch auch unter Bezug auf die poetologische Tradition und insbesondere die horazische Dichtertypologie. Opitz hatte mit dem horazischen Motto seiner Poetik den von Horaz verkörperten ›gelehrten Dichter‹ – den Typus des poeta doctus – zum Dichterideal erklärt,42 und Gottsched erneuerte dieses Ideal in seiner Critischen Dichtkunst, indem er seine eigenen Ausführungen mit einer vollständigen, ausführlich kommentierten Übersetzung der horazischen Poetik einleitete. Schon mit der von einem Horazvers begleiteten Titelvignette bestätigt Gottsched die alleinige Gültigkeit jenes Dichters, der seine Poesie auf »gesunde Vernunft« und eine »gute Einsicht in philosophische Wissenschaften« gründet: »Dieses setzt er [Horaz] denen entgegen, die da meynten, die Raserey machte Poeten. Er behauptete gerade das Gegentheil.«43 Im Zeichen Longins und Miltons beanspruchte jedoch zur gleichen Zeit auch der vom poetischen furor inspirierte Dichter die Führerschaft, theoretisch ausgestaltet durch die Schweizer Bodmer und Breitinger und in der Praxis verwirklicht von Klopstock. In der Natur verankerte ihn dann – unter Betonung auch des angeborenen ingenium und unter Einbeziehung der mimesis – Edward Youngs 1759 publizierter ›Brief‹ Conjectures on Original Composition, der 1760 unter dem Titel Gedanken über die OriginalWerke auch in deutscher Übersetzung erschien.44 An Youngs einflussreicher Schrift lässt sich verfolgen, wie die poetologischen Debatten der Antike in eine Zeit tradiert werden, die in der Folgezeit als Überwindung der antiken Tradition verstanden werden sollte. Denn das Originalgenie ist nicht weniger als der poeta doctus Teil eines fortlaufenden, bis in die Gegenwart tradierten Diskurses. Der Gegensatz zwischen Opitz und Goethe wäre demzufolge eine zeitlich verschobene Ausprägung von 41 42 43 44
Ebd., Bd. 14, S. 283 (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch). Opitz 1966, S. 2 (Motto); s. u., S. 552. Zum Typus vgl. Barner 1981. Gottsched 1751, S. 47 (Anm. 120). Gottsched kommentiert hiermit Vers 309 der »Ars poetica«, der auch die Titelvignette begleitet (ebd., S. ii). Young 1759, dt. Young 1977. Benutzt wird hier angesichts der Bedeutung dieses Textes für die deutschsprachige Poetik des 18. Jahrhunderts die verbreitete Übersetzung.
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entgegengesetzten Dichtertypen, die nicht notwendig als diachronischer Fortschritt von Früher Neuzeit zu Moderne verstanden werden muss, sondern ebenso als extreme Realisierung poetologischer Möglichkeiten interpretiert werden kann. Die zwei ›Epochenschwellen‹ in der deutschen Literaturgeschichte wären so gesehen Zeiten der poetologischen Umwertung innerhalb einer kontinuierlichen Tradition, in der beide Wertkomplexe aufeinander bezogen sind und interagieren. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang Youngs Theorie von der Originalität, denn hierin konzentriert sich der radikale Bruch mit einer Dichtkunst, die sich – so die retrospektive Bewertung – im Erlernen von Regeln und der nachahmenden Arbeit mit etablierten Vorbildern erschöpfte. Young erfindet seine Originalitätsmetaphorik nicht neu, sondern aktualisiert bekannte Metaphern aus der Antike – in der durchaus nicht nur die Nachahmung, sondern auch die Innovation diskutiert wurde und ›das Neue‹ einen hohen Status besaß.45 Um die Unabhängigkeit des Genies gegenüber der Autoritätsgläubigkeit des Gelehrten hervorzuheben, modifiziert er die horazische Wegmetapher: »Indem das große Genie über alle Heerstraßen hinweg in frische unbetretene Felder gehet, wadet jener tief im Alterthume, und betritt die heiligen Fußstapfen der großen Vorgänger mit der blinden Ehrerbietung eines Abergläubischen.«46 Wirksam eingesetzt wird auch der ›göttliche Adler‹ Pindar, der sich gegenüber den als »Krähen« verschmähten Gelehrten seiner angeborenen Weisheit rühmte.47 Die Originalität leitet Young explizit aus dem Nachahmungsbegriff ab, um sie dann zu dessen Gegenteil zu erklären: Der Geist eines Mannes, der Genie hat, ist ein fruchtbares und angenehmes Feld […]. Die schönsten Blumen […] sind die Originale. Die Nachahmungen wachsen geschwinder; aber sie haben nur mattere Blumen. Die Nachahmungen sind von doppelter Art. In einigen wird die Natur, in andern werden die Autoren nachgeahmet. Wir nennen die erstern Originale und behalten den Namen der Nachahmung nur für den letztern.48
Unter Einsatz topischer Kultivierungsmetaphorik49 unterteilt er hier den poetologischen Schlüsselbegriff der Nachahmung (»imitation«) in seine philosophische Bedeutung der mimesis und seine rhetorische Bedeutung der imitatio. Die mimesis wertet er durch die Verknüpfung mit dem – vor allem in der rhetorischen Tradition theorisierten – individuellen ingenium zur »Originalität« auf, wodurch Natur nun der zugleich ›innen‹ und ›außen‹ wirksame Maßstab des göttlich inspirierten und auf natürliche Weise schöpferischen 45 46 47 48 49
S. u., S. 410. Young 1977, S. 49. Vgl. Horaz 1993, S. 494 f. (Episteln 1, 19, V. 21 f.). Young bezieht sich auf die Tradierung des Topos durch Vossius (Young 1977, S. 31). Vgl. Pindar 1986, S. 18 f. (Olympische Oden II, 5, V. 88). Young 1977, S. 15. S. u., S. 251, 254 und 490.
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Dichters ist. Übrig bleibt eine entkräftete »Nachahmung«, die ihre Kunst nur mehr aus der sprachlichen Tradition und den erlernten Kunstgriffen des Menschen bezieht. Indem Young das rhetorische ingenium und die aristotelische mimesis unter Einbeziehung auch der platonischen Inspiration und longinischen Erhabenheit im Geniebegriff vereinigt, schließt er den poeta doctus mit seiner Regelpoetik von der Teilnahme am dichterischen Leben aus: »Denn Regeln sind wie Krücken, eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden.«50 Der Gelehrte ist somit noch nicht einmal mehr fähig, einen vorgebahnten Weg effektiv zu beschreiten. Deutlich wird an dieser Umwertung des Nachahmungsbegriffs, dass Originalität und Nachahmung sowie auch die Typen des Genies und des Gelehrten Teil eines poetologischen Diskurses um Natur und Kunst sind.51 Die Bekanntheit der horazischen Dichtertypologie sowie auch die Kongruenz mit Rousseaus Aufwertung von Natur und Freiheit gegenüber Kultur und Konvention und nicht zuletzt die Verbindung mit der vom biblischen Dogma ›emanzipierten‹ Schöpfungsmetaphorik dürfte entscheidend zur Wirkung von Youngs Schrift beigetragen haben. Das Ideal ist nun der vom ingenium geleitete Dichter, der sich in seiner benötigten »Freyheit« nicht durch eine übertriebene Verehrung der alten Schriftsteller »fesseln« lässt52 – eine Metapher, die im ›Sturm und Drang‹ enorme Sprengkraft entwickelte. Die Verbindung von Genie, Natur und Freiheit lässt sich auch in der philosophischen Entwicklung der Autonomieästhetik verfolgen, in der diese Begriffe entscheidend zur ›Überwindung‹ rhetorischer Zweckgebundenheit beitragen. Diachronisch gewendet, wurde der neue Dichtertyp mit dem Erscheinen Goethes in Zusammenhang gebracht: Goethe avancierte – getreu dem Topos, den er für sich beansprucht hatte – in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zum ›Befreier‹ der deutschen Literatur.53 Die Leistung von Opitz, dem Adam der deutschen Literatur, findet damit in Goethe, ihrem Messias, die Entsprechung, und das ›alte Testament‹ weicht dem ›neuen Testament‹ der modernen deutschen Literatur.54 50 51 52
53 54
Young 1977, S. 29. Vgl. zur Umwertung des Nachahmungsbegriffs Preisendanz 1972. Er fasst diesen Prozess teleologisch als »Emanzipation der Dichtung aus dem Grundsatz der Naturnachahmung« (ebd., S. 551). Young 1977, S. 27. Die diachronische Interpretation dieses Topos, die für die deutsche, Goethe-zentrierte Literaturgeschichtsschreibung so bedeutsam wurde, ist bei Young nicht thematisiert, aber durch den Hintergrund der Querelle gegeben. Implizit ist sie auch in einem politischen Vergleich: »Rom war für viele Staaten ein mächtiger Bundesgenosse; die alten Schriftsteller sind unsere mächtige Bundesgenossen. Aber wir müssen uns in Acht nehmen, daß sie uns nicht nach Art der Römer so lange beystehen, bis sie uns selbst zu Sklaven machen« (ebd., S. 27). Vgl. z. B. Dilthey 1921, S. 176. Vgl. das Kapitel »The Messiah and his Nation: 1774–1775« in Boyle 1991–2000, Bd. 1, S. 178–212. Goethes Selbstprojektion als Messias-Figur ist keineswegs nur »ironisch« zu verstehen, wie Boyle – der Goethes Geltungsbedürfnis gegenüber eher unkritisch gegenüber-
2. Formen der Poetik
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Die Metaphernkonstellation, die Young für die Durchsetzung seines Dichterideals einsetzt, ist ein Moment in der Poetik, und sie wird im Prozess der Rezeption je nach Bedarf abgewandelt, zumal jeweils andere Texte und Interessen im Rezeptionsprozess mitspielen. So ist bei Goethe das Zurücktreten der platonischen Inspiration zugunsten der Natur auffällig; in dieser Ausblendung der metaphysischen Dimension könnte die Konkurrenz mit Klopstock eine Rolle spielen, der sich mittels des Inspirationstopos als deutscher Nationaldichter etabliert hatte.55 Dass Inspiration, ingenium und Nachahmung auf vielfältigste Weise zu Natur und Kunst in Verbindung gebracht werden können, hat die Poetik seit der Romantik zur Genüge gezeigt; damit aber müssten auch die binären Kategorien hinterfragt werden, die noch heute zwei ›Brüche‹ in der deutschen Literaturgeschichte ergeben und vorromantische Literaturepochen von der ›Jetztzeit‹ trennen. Denn eine anhand dieser Brüche gestaltete Literaturgeschichte erzählt das jeweilige Selbstverständnis der aus heutiger Perspektive als ›Sieger‹ wahrgenommenen Gruppe nach, während die Geschichten der Verlierer und weniger lauten Stimmen aus dem Diskurs verdrängt werden. Wenn die Forschung die von den Dichtern strategisch vollzogenen Abgrenzungen zu wissenschaftlich etablierten Diskontinuitäten verhärtet, werden diese zu »Denkfallen«,56 da mögliche Verbindungen zu früheren Literaturvorstellungen aus der linear konstruierten Geschichte verschwinden. Man kann solche Verbindungen auf diese Weise eliminieren, wie Heinz Schlaffer dies in seiner Kurzen Geschichte der deutschen Literatur unternimmt: Die Geschichte besteht hier nur aus den drei Kapiteln »Mißglückte Anfänge«, »Der geglückte Anfang« sowie »Fortgang, Wiederkehr und Ende«.57 Gerade die Verbindungen regen jedoch zu neuen Vorstellungen an.
2. Formen der Poetik Das Spektrum der Gattungen, in denen Poetik artikuliert wird, sowie die Bewertung dieser Gattungen als Medien der Poetik ist von den jeweiligen poetologischen Voraussetzungen abhängig: Inhalt, Form und Zweck der
55
56 57
steht – konstatiert (S. 191); sie ist vielmehr als Teil einer Strategie der Selbstprojektion zu sehen, die dazu dient, seine nationale Führungsrolle zu etablieren. Vgl. Goethes Darstellung von Klopstock in »Dichtung und Wahrheit«: Einerseits betont er dessen (Vorläufer-)Rolle in der Etablierung des »Dichtergenies«, andererseits jedoch reduziert er sein dichterisches Streben auf Selbstbeweihräucherung und sein Werk auf eine heilige Poesie, die eine »fortruckende Bildung« nicht zu befriedigen vermag (Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 433 f.; Dichtung und Wahrheit, 10. Buch). Zu Goethes komplexer Auseinandersetzung mit Klopstock vgl. Lee (1999). Eibl 2004, S. 292–301. Schlaffer 2002, S. 5 (Inhalt).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Poetik bedingen sich gegenseitig, und jede Definition der Poetik impliziert eine Aussage über ihren Bezug zu Dichter, Werk und Rezipient. Dabei hat die Wahl der Gattung den Effekt, die ›Distanz‹ zwischen Poetik und Dichtung zu bestimmen und Bezüge der Dichtung zu ihren Nachbardisziplinen ein- oder auszublenden. Die Poetik bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Dichtung, Rhetorik und Philosophie und ihre Form ist als Funktion ihrer Beziehung zu diesen Disziplinen zu sehen. Es ergeben sich daraus – vereinfacht gesehen – drei grundsätzliche Möglichkeiten:
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•
•
58 59 60 61
Poetik und Dichtung sind im Werk integriert: »Schläft ein Lied in allen Dingen, | Die da träumen fort und fort, | Und die Welt hebt an zu singen, | Triffst du nur das Zauberwort.«58 Das dichterische Werk vermittelt seine Legitimation direkt, ohne der vom Werk getrennten Erklärung zu bedürfen: rhetorisch mittels der gemeinsamen Sprache und Kommunikation; philosophisch, wenn die Philosophie erst im Bündnis mit der Dichtung ihre Apotheose erfährt (z. B. Schillers Die Künstler). Prototypische Gattungen sind der Prolog und das poetologische Gedicht. Poetik versteht sich als Teil der Rhetorik und ist auf die praktische Dichtkunst ausgerichtet: »Die Poeterey und Redkunst [sind] miteinander verbrüdert und verschwestert / verbunden und verknüpfet / daß keine sonder die andre gelehret / erlernet / getrieben und geübet werden kan.«59 Die Verbindungen zwischen Poetik und Rhetorik, Dichtung und Rede, Theorie und Praxis betten die poetologische Aussage in einen umfassenden Diskurs ein, ohne sie prinzipiell auf bestimmte Gattungen oder Redeweisen einzuschränken. Die prototypische Gattung ist die den rhetorischen Lehrbüchern entsprechende normative Poetik, in der theoretische Regeln und dichterische Praxis interaktiv wirksam sind. Poetik versteht sich als philosophische Wissenschaft und ist vom fiktionalen dichterischen Werk getrennt: »Die Kunst soll uns in allen Beziehungen auf einen anderen Boden stellen, als der ist, welchen wir […] in den Spekulationen der Wissenschaft einnehmen.«60 Poetologische Reflexion ist Aufgabe der Philosophie, die »auf eine unveränderliche Weise in Ideen ausspricht, was der wahre Kunstsinn im Concreten anschaut, und wodurch das ächte Urtheil bestimmt wird«.61 Die proEichendorff 1985–1993, Bd. 1, S. 328 (Wünschelrute). Harsdoerffer 1969, 3. Teil, Vorrede, S. )( iiii. Eine Extension oder Übertragung des Begriffs ›Poetik‹ in andere Bereiche – z. B. ›Kulturpoetik‹ – lässt sich von einem rhetorischen Ansatz her legitimieren. Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt). Schelling 1859, S. 361 (Einleitung).
2. Formen der Poetik
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totypische Gattung ist die philosophische Abhandlung, die in jeder Hinsicht von ihrem Gegenstand, der Dichtung, getrennt ist. Die Zitate, mit denen oben die drei Möglichkeiten erläutert werden, entwerfen eine je andere Vorstellung von Dichtung. Eichendorffs Wünschelrute verquickt Natur und Wort zu einer magischen Einheit und projiziert den Dichter als naturverbundenen Vermittler einer schon immer gegebenen, der Natur ›innewohnenden‹, beseelten Dichtung. Harsdörffer benutzt genealogische und andere Verbindungsmetaphern, um einerseits die Gleichwertigkeit der Dichtkunst gegenüber der Rhetorik hervorzuheben und andererseits die gegenseitige Abhängigkeit zu betonen; die Dichtung ist hier als Sprache definiert. Hegel nutzt geographische Trennungsmetaphern, um der Kunst den Status einer separaten Disziplin zu verleihen; durch die Subsumierung unter den Oberbegriff der »Kunst« und den Kontrast mit den gedanklichen »Spekulationen« bleibt die Sprache ausgeblendet beziehungsweise sekundär. Der Begriff ›Poetik‹ soll im Folgenden für alle drei Möglichkeiten offen bleiben sowie für Spielarten dazwischen: Verstanden wird er – wie bereits oben dargelegt – als werkinterner oder werkexterner Diskurs um Dichtung, der sinn-, funktions- und identitätsstiftend zwischen Autor, Werk, Rezipient und/oder Kontext vermittelt.62 Damit ist vorausgesetzt, dass Poetik in einem eigenständigen, spezifisch poetologischen Werk dargelegt sein kann, das sich als Regelwerk mit praktischen Beispielen oder als theoretische Abhandlung präsentiert, dass aber Poetik ebenfalls in einer Vorrede oder einem anderen, das Werk begleitenden Paratext, in einem Tagebuch, einer Rezension oder einem Brief ihre Bedeutung zu entfalten vermag. Literaturgeschichten und Anthologien sind poetologisch bedeutsam, und auch der inszenierte Diskurs über Dichtung innerhalb eines dichterischen Werkes lässt sich als Poetik verstehen.63 Denn selbst wenn ein solcher werkimmanenter Beitrag fiktional konzipiert ist beziehungsweise fiktional interpretiert wird, so hat er doch poetologische Aussagekraft und steht zudem in einem interpretierbaren – und oft auch dokumentierten – Bezug zur Poetik des Autors. Beispiel wäre Goethes Drama Torquato Tasso, das er als »Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« verstand.64 Wenn er in der autobiographischen »Marienbader Elegie« Tassos poetologische Selbstlegiti62 63
64
Dazu s. o., Kap. I/8. Vgl. die viel längere Liste poetologischer Äußerungsformen bei Markwardt (1956–1967, Bd. 1, S. 1) sowie die Auflistung der Formen im Registerteil am Ende der verschiedenen Bände seiner Studie. Wenn Uwe Hebekus in der Poetik des 20. Jahrhunderts eine Vervielfachung der »Textformen poetologischer Reflexion« konstatiert (Till, Rösler u. a. 2003, Sp. 1384), so dürfte dabei eine vereinfachte Vorstellung von den Formen in früheren Zeiten mitspielen. Goethe 1985 ff., Bd. 39, S. 615 (Gespräche mit Eckermann, 6.5.1827). Vgl. Genesis 2, 23.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
mation als Motto wählt – »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt | Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide«65 –, so wird deutlich, dass zwischen dem empirischen Autor Goethe und seinem Protagonisten Tasso keine absolute fiktionale ›Grenze‹ besteht; vielmehr ist der Protagonist als ›Erzeugnis‹ gewissermaßen metonymisch Teil desselben ›Bereichs‹ wie der ›Erzeuger‹. Insgesamt gehe ich davon aus, dass der Bezug zwischen Poetik und dichterischer Praxis extrem vielfältig und jeweils kontextspezifisch zu untersuchen ist. Der Vorteil eines offenen Poetikbegriffs ist, dass prinzipiell jede Literaturepoche und jeder Autor in den Diskurs einbezogen ist: Denn eine Abwesenheit explizit poetologischer Äußerungen kann so aussagekräftig sein wie die expansive Darstellung in einem eigenständigen poetologischen Werk. Es ist davon auszugehen, dass jedes dichterische Werk zur poetologischen Reflexion des Autors beziehungsweise einer Gruppe in einer bedeutungsvollen Beziehung steht und auch von Rezipienten poetologisch reflektiert werden kann. Welche Gattungen zu einer bestimmten Zeit oder von einem bestimmten Autor für die Darlegung von Poetik gewählt werden, ist vom literarischen Kontext abhängig. Es ist hier nicht beabsichtigt, einen systematischen Überblick über poetologische Gattungen zu bieten.66 Vielmehr geht es um die Bedeutung und die Möglichkeiten verschiedener Gattungen in Bezug auf das jeweilige poetologische Projekt sowie ihre metaphorische Profilierung. Im Vordergrund sollen hier zunächst solche Gattungen stehen, die aus moderner Perspektive poetologisch so gut wie bedeutungslos geworden sind – der Prolog, die Vorrede und vor allem die Anweisungspoetik, die als Grabmal einer obsoleten Dichtungsauffassung selbst in der Barockforschung nur ein kümmerliches Nachleben fristet. Gerade am Status solcher Gattungen lässt sich nämlich verfolgen, wie sehr die poetologische Kommunikation vom poetologischen Horizont der Rezipienten abhängig ist. Das Denkmodell einer von ›Brüchen‹ und ›Schwellen‹ strukturierten, linear fortschreitenden Literaturgeschichte verhindert ein Verständnis für die komplexen Zusammenhänge, die auch vermeintlich obsolete Gattungen für den kontinuierlichen poetologischen Diskurs interessant machen. Geradezu paradox mutet es an, wenn der ›Anfang‹ deutscher Poetik mit dem Regelwerk von Opitz gesetzt wird, denn für die moderne Literatur wird zumeist angenommen, dass wertvolle Dichtung unabhängig von vorgegebenen Regeln entsteht. Diesen Widerspruch nutzte Walter Haug, um 1985 mit seiner Studie Literaturtheorie im deutschen Mittelalter (2. Aufl. 1992) nicht nur eine mittelalterliche Poetik herauszuarbeiten, sondern diese unter Überspringung der Frühen Neuzeit an die moderne Poetik anzubin65 66
Ebd., Bd. 2, S. 457 (Trilogie der Leidenschaft, Elegie); vgl. ebd., Bd. 5, S. 833 (Torquato Tasso, 5. Akt, 5. Auftritt). Die weitaus umfassendste Behandlung bietet noch immer Markwardt 1956–1967.
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den und ihr auf diese Weise auch den Wert des Modernen und damit Aktuellen zu verleihen. Er lenkte den Blick auf Texte, die in epische Werke integriert sind, aber poetologisch bedeutsame Funktionen erfüllen, so vor allem Prologe. Die Integration, die zuvor eine poetologische Betrachtung verhindert hatte, wird nun zu einem besonderen Wert stilisiert. Die Originalitätsund Autonomietopik, aus der die neuere deutsche Literatur ihre Identität bezieht, setzte Haug für die Aufwertung einer deutschsprachigen Poetik des Mittelalters ein, die bis dahin im Kontext eines vom Lateinischen dominierten gelehrten Diskurses überhaupt nicht wahrgenommen worden war. Sein Projekt wurde zum Beschreiten »kaum gebahnter Wege«67 und zum Akt der Befreiung; unternommen wurde das »Wagnis«,68 »die literarische Interpretation […] aus den Fesseln der Rhetorik zu lösen«,69 und entdeckt wurde die deutschsprachige Dichtung des Mittelalters als »Fiktion im Sinne eines autonomen Mediums menschlicher Erfahrung«.70 Haugs Tat für die deutsche Mediävistik entsprach somit der Leistung der großen römischen Dichter, »als sie es wagten, die Spuren der Griechen zu verlassen und heimische Taten zu feiern«.71 Wenn auch Haugs Autonomiebegriff unter Mediävisten auf Kritik stieß72 und poetikgeschichtlich problematisch ist, so hat doch sein diskursfördernder Einsatz topischer Metaphern dazu beigetragen, die Geschichte der deutschsprachigen Poetik nach ›hinten‹ hin bis in die frühmittelhochdeutsche Zeit zu erweitern73 und mittelalterliche ›Stimmen‹ im deutschsprachigen poetologischen Diskurs hörbar zu machen.74 Deutlich wird hier die Effektivität von Metaphern auch in der Wissenschaft sowie die Notwendigkeit, bekannt geglaubte Phänomene durch die Perspektive ›neuer‹ Metaphern zu betrachten. Der Prolog stellt in der narrativen höfischen Literatur des Mittelalters die bedeutendste poetologische Äußerungsform dar, wobei Epiloge und Exkurse eine ähnliche Funktion erfüllen können. Mit bekannten Topoi – so 67 68 69 70 71 72 73 74
Haug 1992, S. 5. Ebd., S. 3. Ebd., S. 14. Ebd., S. 24. Horaz 1984, S. 22 f. (V. 285–288). Vgl. Haugs Zusammenfassung der Kritik und seine ausführliche Replik in Haug 1992, S. 126 f., Anm. 9. Beispiel für die nachfolgende Integration mittelalterlicher Literatur in die literaturtheoretische Diskussion ist Simon 1990. Mit Haugs Studie wurde allerdings nur ein Bruchteil der deutschsprachigen Literatur in die poetologische Diskussion eingebracht: Ihm geht es um die fiktionale Literatur, also um den höfischen ›Roman‹, einen Terminus, den er gegenüber dem Begriff ›höfisches Epos‹ mittels seiner Theorie von der Fiktionalität dieser Gattung rechtfertigt (Haug 1992, S. 91 f.; zum Fiktionsbegriff vgl. ebd., S. 105–107). Der Titel seines Buches ist insofern irreführend – und für seinen Poetikbegriff bezeichnend –, als dramatische und lyrische Formen völlig unberücksichtigt bleiben. Keine Rolle spielt überlieferungsbedingt die heimisch-mündliche Tradition (ebd., S. 7).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
beispielsweise in der Exordialtopik die Bescheidenheitsformel – und deren kontext- und werkspezifischer Abwandlung ermöglicht der Prolog eine höchst differenzierte Verortung des jeweiligen Werkes im literarischen Umfeld sowie auch die zielgerichtete Vorbereitung des Rezipienten: Bei der Einführung in ein erzählerisches Werk [… handelt es sich] darum, die Rezeption im Blick auf das, was der Autor mit seinem Werk beabsichtigt, vorzubereiten. […] der Tendenz nach zielt der literarische Prolog auf eine Erörterung dessen, was ein Werk an Sinn vermittelt, er reflektiert die Möglichkeiten und Grenzen dieser Sinnvermittlung und fragt nach ihrer Legitimation.75
Charakteristisch für den Prolog ist somit die sinnstiftende Kommunikation zwischen Autor, Werk und Leser in einer Form, die von der Handlung getrennt ist, zugleich aber Bezüge dazu herstellt. Zentral ist in dieser Gattung nicht die Reflexion des Autors über den Prozess des Schreibens oder auch das Werk, sondern seine Legitimation des Werkes im poetologischen Kontext und die Heranbildung eines empfänglichen Publikums. So fordert Wolfram von Eschenbach im Prolog zum Parzival durch (wahrscheinliche) Bezüge zu anderen Versromanen und mit einer Fülle von Metaphern und Vergleichen den Rezipienten – und die Forschung – zur interpretativen Höchstleistung heraus: Nur so wird der Rezipient dem moralisch komplexen Helden gerecht werden können.76 Wolfram – beziehungsweise der textinterne Autor oder Erzähler77 – vergleicht eingangs die Mischung von Schändlichem und Schönem in seinem Protagonisten mit der Farbgebung einer Elster, um dann zum Exordialtopos von der Urteilsfähigkeit des Publikums überzuleiten: diz vliegende bîspel ist tumben liuten gar ze snel, sine mugens niht erdenken: wand ez kan vor in wenken rehte alsam ein schellec hase. (Der geflügelte Vergleich hier | ist zu schnell für Ignoranten – | ihr Denken kommt hier nicht mehr mit, | denn er schlägt vor ihnen Haken | wie ein Hase auf der Flucht.)78
Mittels eines weiteren Tiervergleichs wird hier zugleich mit der moralischen Komplexität ein Erzählen angekündigt, das von ungewöhnlich häufigen Wechseln der Perspektive gekennzeichnet ist und somit erhebliche rezeptive Kompetenz und Flexibilität verlangt – genau jene Flexibilität also, die der
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Haug 1992, S. 14. Wolfram 1994, Bd. 1, S. 10–17 (Buch 1, Abschnitt 1, V. 1, bis Abschnitt 4, V. 26). Vgl. zum Prolog die Anmerkungen des Herausgebers, ebd., S. 445–454, und Haug 1992, S. 155–167, bes. S. 160–162. Zur Komplexität des textinternen poetologischen ›Ich‹ s. u., S. 229–232. Wolfram 1994, Bd. 1, S. 10 f. (Buch 1, Abschnitt 1, V. 15–19).
2. Formen der Poetik
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Prolog prozessual trainiert. Moralische Aussage, erzählerische Form und rezeptive Haltung werden auf diese Weise durch die Tropen verknüpft. Die Wirksamkeit des Hasenvergleichs erhellt aus der Rezeption des wolframschen Werkes. Die Forschung vermutet, dass sich Gottfried von Straßburg im Literaturexkurs des Tristan auf dieses Bild bezieht, wenn sein Erzähler einen namenlosen Dichter kritisiert, der mit Hartmann von Aue in Konkurrenz steht: swer nû des hasen geselle sî und ûf der wortheide hôchsprünge und wîtweide mit bickelworten welle sîn […] (Wer es nun aber dem Hasen gleichtun | und auf der Heide der Dichtung | herumhüpfen und -weiden will | mit hingewürfelten Wörtern […])79
Für Gottfried bietet das Bild des Vorgängers einen poetologisch aussagekräftigen Gegensatz zum eigenen Stilideal der perspicuitas und zugleich ein Mittel, Wolframs Anspruch auf den Lorbeerkranz in einem virulenten Angriff zu entkräften: Den metaphorischen Lorbeer verdient Hartmann, dessen Worte durch ihre kristallene Lauterkeit bestechen.80 Mit diesen Bezügen zu anderen bekannten Dichtern – hier in einem Exkurs – verortet Gottfried sein eigenes Werk, um die Rezipienten für die Poetik des Tristan zu sensibilisieren. Eine ähnliche Funktion wie der Prolog des mittelalterlichen höfischen Romans erfüllt in der humanistischen Tradition und bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Vorrede.81 Sie ist zwar formal vom Werk selbst getrennt, aber physisch in das Buch integriert. Aus der Perspektive des Autors oder Herausgebers stellt sie den ersten Bezug zum Leser her und sucht ihn mit überzeugenden und unmittelbar eingängigen Argumenten für das Werk einzunehmen. Angesprochen sind typischerweise spezifisch gelehrte Leser und insbesondere im 18. Jahrhundert auch die potenziellen Rezensenten; vorausgesetzt wird das Medium der Schrift und die Bekanntheit mit den literarischen Konventionen der Antike. Dass die Vorrede ihre eigenen Konventionen etablierte und diese Konventionen dann wiederum durchaus literarisch ironisieren konnte, zeigt die Vorrede zu dem 1770 veröffentlichten Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen von Johann Timotheus Hermes:
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Gottfried 1984, Bd. 1, S. 284 f. (V. 4638–4641). Ebd., S. 284–289 (V. 4621–4690). Zu Gottfrieds Stilideal vgl. Haug 1992, S. 219–221. Vgl. zur »Vorreden-Poetik« in Barock und Frühaufklärung die Verweise in Markwardt 1956–1967, Bd. 1, S. 491 und Bd. 2, S. 661. Vgl. auch die Erörterung der Vorreden-Poetik des barocken Romans aus der Perspektive des »vorwortlosen ›Simplicissimus‹« von Grimmelshausen (Gersch 1972).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
An die Kunstrichter. Meine Herren, Zürnen Sie nicht; denn ich habe in der letzten Messe gesehn, daß schon vor mir iemand es gewagt hat, eine änliche Schrift, mit einem Bittschreiben an Sie anzufragen. Ich komme vor Ihren Richterstul, noch ehe Sie mir befelen zu erscheinen. Also bin ich mir bewust, entweder, daß meine Sache (wenigstens hie und da) alzuböse ist, als daß ich Ihnen entfliehen könte; oder, daß ich Ihnen dreist ins Gesicht sehn darf. Sie werden dies in wenig Stunden besser einsehn, als ich, seitdem ich den Bogen A anfing bis ietzt es habe einsehn können.82
Der Autor entwickelt hier die konventionelle Kunstrichtermetaphorik zu einer amüsanten Gerichtsszene und inszeniert sich selbst als Angeklagten. Angesprochen sind sowohl die gelehrten Kunstrichter, die dem Werk mit ihren Rezensionen Erfolg oder Misserfolg bescheren, als auch die für den Roman inzwischen wichtig gewordenen, weniger gebildeten Leser, so vor allem Frauen. Der Autor erfüllt die Anforderungen der Vorrede, indem er sich in ihrem Verlauf ostentativ als versierter Kenner der klassischen und modernen Literaturen ausweist, der es an Gelehrsamkeit mit den Kunstrichtern aufnehmen kann. Zugleich jedoch ironisiert er mit literarischen Mitteln unter Erwähnung des kommerziellen Kontexts die Konventionalität der gelehrten Vorrede und die Vielzahl ähnlicher Romane. Die Phantasie besonders der weiblichen Leser spricht er an, wenn er seine Gefühle angesichts der Möglichkeit, sein Werk könne gänzlich ungelesen bleiben, mit jenen einer Mutter vergleicht, die ihre Tochter in die Gesellschaft einführt, aber sehen muss, wie alle Augen vor deren von Blattern verheertem Gesicht abgewendet werden.83 Mit seiner differenzierten Abwandlung der Gattung Vorrede trägt Hermes somit gezielt dem gewandelten Rezipientenkreis Rechnung. Es mag scheinen, als sei diese Form der Poetik gegenwärtig irrelevant und als finde sie allenfalls in betont selbstreflexiven narrativen Strukturen annähernde Entsprechungen. Einzubeziehen sind jedoch auch Formen, die sich mit buchtechnischen Neuerungen herausgebildet haben. So erfüllt oft der anonyme Klappentext bei gebundenen Büchern mit Schutzumschlag eine ähnliche Funktion wie die Vorrede; Alternativen sind der Text auf der Rückseite des Umschlags oder auf dem rückwärtigen Buchdeckel sowie auch beim Taschenbuch eine vor dem Titel erscheinende Charakterisierung des Werkes mit Angaben zu Leben und Werk des Autors.84 Als äquivalente Formen der Kommunikation mit dem Leser können solche Texte nicht zuletzt insofern gelten, als hier ein angemessener Ausdruck der seit der Romantik dominanten Vorstellung von Autor und Werk gegeben ist. Das literarische Werk kann ›autonom‹ bleiben und bedarf keines expliziten Bezugs zum Rezipienten. 82 83 84
Hermes 1770, S. 2r. Ebd., S. 4v. Vgl. die anregende Erforschung der poetologischen Funktionen solcher ›Paratexte‹ in Genette 1987.
2. Formen der Poetik
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Ausgeblendet ist insgesamt der theoretisch und rhetorisch versierte Autor und vor allem sein kommerzielles Interesse: An seiner Stelle ›spricht‹ der Verlag, wobei die Anonymität die Illusion der Objektivität vermittelt. Eine gängige Alternative ist auch die Sequenz von Zitaten einschlägiger Rezensenten: Hier wird das Urteil des Kunstrichters strategisch eingesetzt, um den Ort des Werkes im literarischen Umfeld zu bestimmen und dem Buch den notwendigen Verkaufserfolg zu sichern. Es zeigt sich hier die Interaktion zwischen gedanklich-sprachlicher Metaphorik und konkreter Praxis: Während einerseits physische Formen der Vermittlung metaphorisch wirksam werden können (so in der ›Anrufung‹ in der schriftlich vermittelten Ode), können andererseits poetologische Metaphern in der physischen Vermittlung des Textes Entsprechungen haben, wie die Autonomiemetaphorik in der Trennung des fiktionalen Textes von den Aussagen und Interessen des empirischen Autors. Charakteristisch für Prolog und Vorrede ist die Vermittlung zwischen Autor, Werk und Leser sowie zwischen Theorie und Praxis – die Voraussetzung einer Unterscheidung zwischen Poetik als Theorie und Dichtung als Praxis wäre hier verfehlt. Während Prolog und Vorrede typischerweise durch die Erzählperspektive und poetologische Thematik vom Werk unterschieden sind, ist dennoch die Verbindung mit einem spezifischen Werk und die Ausrichtung auf eine bestimmte Rezipientengruppe kennzeichnend.85 Ähnlich praxisbezogen ist die Anweisungspoetik, wobei hier eine Vielzahl dichterischer Werke als Beispielmaterial erwähnt oder zitiert wird und in die Erläuterung der allgemeinen Grundsätze und Regeln eingebettet ist; der primär angesprochene Rezipient ist typischerweise selbst Dichter oder Beurteiler von Dichtung. Viele der größten Dichter und Theoretiker des 17. Jahrhunderts trugen zu dieser Gattung bei – diese Tatsache bietet Anregung genug, die Anweisungspoetik ernstzunehmen als Ort, an dem Dichtkunst sich im Zusammenspiel von Theorie und Praxis verwirklicht – bis hin zur Verschmelzung. Wenn auch die Barockliteratur inzwischen ansatzweise in den kanonischen Bestand deutscher Dichtung integriert worden ist, so gelten doch die Poetiken als veraltetes Kulturgut, das allenfalls für den Philologen Interessantes birgt. Ihre normative Tendenz, Wirkungszentriertheit, Auffassung von der Dichtung als lehrbarer Technik und nicht zuletzt ihr Gebrauchscharakter bringen sie seit Romantik und Idealismus einerseits in Gegensatz zur Autorpoetik und andererseits in Gegensatz zu Ästhetik und Literaturwissenschaft. Zudem wird angenommen, dass das Aufgreifen etablierter Topoi sowie die Tradierung von Regeln mit der ständigen Wiederholung des glei85
Die Vorrede kann jedoch durchaus auch allgemeine poetologische Überlegungen bieten: So nutzt Sigmund von Birken seine Vorrede zum Roman »Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena« von Anton Ulrich von Braunschweig für eine systematische Erläuterung seiner Romantheorie (Birken 1669).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
chen Materials gleichzusetzen ist. Bedeutung wird daher einer solchen Poetik nur zugemessen, wenn sie sich – wie das Buch von der Deutschen Poeterey – als ›Anfang‹ werten lässt, aber selbst hier steht der Mangel an Originalität im Vordergrund: »Außer den auf die deutsche Sprache und Verskunst bezogenen Vorschriften enthält Opitz’ knappe Schrift nichts, was nicht schon in den vorausgehenden Poetiken der Renaissance zu finden wäre.«86 Als Kennzeichen der Poetiken gilt somit die seit der Romantik diskreditierte Nachahmung von Texten vorhergehender Autoren, und der mittlerweile geschärfte Blick für die enorme Vielfalt der literarischen Praxis im 17. Jahrhundert lässt den normierenden Charakter der Poetiken nur umso rigider erscheinen. Dass moderne Literatur- und Gattungsvorstellungen weiterhin einer nuancierten Wahrnehmung von Barockpoetiken im Wege stehen, zeigt Niefangers sonst ausgezeichneter, als Lehrbuch konzipierter Band Barock aus dem Jahre 2000. Jeweils ein eigenes ausführliches Kapitel widmet er der Begriffs- und Forschungsgeschichte, dem soziokulturellen Kontext, dem literarischen Leben und den (an »gängigen Lesegewohnheiten« orientierten87) Gattungen Lyrik, Drama und Roman. Ein eigenes Kapitel erhält auch die »nicht-fiktionale Prosa« mit Briefen, Predigten und lebenspraktischen Lehrbüchern – allein die ›Hausväterliteratur‹ beansprucht vier Seiten. Demgegenüber werden die immerhin »etwa 100 Poetiken der Barockzeit« zusammen mit anderen poetologischen Schriften wie Vorreden, Widmungen u. a. lediglich auf einer Seite unter »Dichtung und Gelehrtheit« abgehandelt.88 Während sie einerseits – nicht zuletzt aufgrund des vorausgesetzten Fiktionsbegriffs – keine Geltung als literarische Praxis beanspruchen können, werden sie andererseits in ihrer Bedeutung als theoretische Grundlage der Dichtung von rhetorischen Lehrbüchern übertrumpft.89 Eine andere Sichtweise deutet sich dagegen bei Jeremy Adler und Ulrich Ernst an:
86 87 88
89
Meid in Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 111. Vgl. dagegen die Studie von Kaminski (2004), die über ihren Beitrag zur Opitz-Forschung hinaus nicht zuletzt deshalb bedeutsam ist, weil sie seine Poetik im Detail ernst nimmt. Niefanger 2000, S. 2. Ebd., S. 65; s. a. weiterführende Hinweise in den gattungsspezifischen Kapiteln. Hinsichtlich der Zahl der Poetiken bezieht er sich auf Birke 1966. Zur Barockpoetik vgl. noch immer Dyck (1991); zum Kontext rhetorischer Theorie und Praxis Barner 1970. Meid bietet einen Abschnitt zu Poetiken nach Opitz (Meid 1986, S. 21–26); bezeichnenderweise hebt er allerdings die zeitgenössische »Kritik an einer auf derartige Bücher gegründeten Kunstübung« hervor (ebd., S. 23). Vgl. demgegenüber Hess: »[Es gehört] zu den größten Mißverständnissen der Forschung, die D[ichtkunst] – Harsdörffers ›Poetischen Trichter‹ als Metapher herbeiziehend – als mechanistisches Regelsystem aufzufassen« (Hess 1994, Sp. 644). »Noch grundlegender für das Verständnis der poetischen Praxis als die Poetiken […] erscheinen die rhetorischen Lehrbücher« (Niefanger 2000, S. 66); dem soll nicht widersprochen werden, problematisch ist dies jedoch als Argument für die Marginalisierung der Poetiken, die einen anderen Platz in der poetologischen Konstellation einnehmen.
2. Formen der Poetik
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Es würde das Wesen der Barockpoetik verfälschen, wenn man nur ihre theoretischen Anschauungen betrachtete: Die Poetik war nicht nur ein Werk über die Literatur, sie war selbst eine literarische Gattung, die Theorie und Praxis vereinigte.90
Sie begründen diese These vor allem mit der Fülle von kunstvoll zusammengestellten dichterischen Beispielen, die oft von den Autoren der Poetiken selbst verfasst sind und über die Funktion der Illustration weit hinausgehen; so entdecken sie in Theodor Kornfelds Selbst-Lehrende alt-neue Poësie oder Vers-Kunst91 einen der herausragendsten Zyklen barocker Figurengedichte. Die Bedeutung der Poetiken wird hier vor allem in der literarischen Praxis der Beispiele gefunden. Als vorrangiges Projekt für die Forschung stellt sich allerdings auch die Frage nach der ganzheitlichen Komposition der Poetiken mit ihrer Verflechtung von Theorie und Praxis, antiken und modernen, fremden und eigenen Texten sowie nach ihrem jeweiligen Ort im poetologischen Diskurs. Denn wenn auch immer wieder die gleichen Topoi und Strukturen auftauchen – so die Herleitung der Poesie aus ihren Ursprüngen oder die rhetorische Unterteilung in inventio, dispositio und elocutio – so werden diese doch differenziert und kontextabhängig entwickelt, abgewandelt und uminterpretiert, und die behandelten Teile erhalten je nach Zielsetzung unterschiedliches Gewicht. Wie im mittelalterlichen Prolog sind »Topoi […] nicht nur als Traditionskonstanten zu werten, sie können vielmehr als variable Größen fungieren, mit deren Hilfe man sich zugleich traditionell und individuell gibt«.92 Jede Poetik liefert auf diese Weise einen spezifischen Beitrag zum Diskurs um Literatur. Poetiken erfordern ein Lesen, das sich an Differenz orientiert statt an Originalität, an der Beziehung zu anderen Texten statt an der Beziehung zur Natur; gerade dies müsste im Zeitalter der Postmoderne Interesse wecken. Aufgrund ihrer intertextuellen Verknüpfung vermitteln sie ein Literaturverständnis, das die Gemeinschaftlichkeit der Dichtkunst in den Vordergrund rückt. Primär ist der Bezug zu den Konventionen, die das Leben des Menschen als soziales Wesen bestimmen.93 In Frage zu stellen ist zudem die Annahme, dass die Gattung der eigenständigen ›Poetik‹ mit Gottsched zu Grabe getragen wurde und aus dem ernst zu nehmenden poetologischen Diskurs ausschied. Regelwerke spielten auch in der Folgezeit eine Rolle, so beispielsweise Gustav Freytags Schrift Die Technik des Dramas, in der er 1863 unter Meidung der »Philosophie der 90 91 92 93
Vgl. Adler, J./Ernst 1987, S. 75. Ebd., S. 75 f., unter Bezug auf Theodor Kornfelds »Selbst-Lehrende Alt-Neue Poësie oder Vers-Kunst der edlen Teutschen Helden-Sprache« von 1685. Haug 1992, S. 12. Vgl. den Ansatz von Hess: »Wenn sich auch viele Detailregelungen in einem normativen Sinne verhalten, so entspringen diese Normen nicht einem präskriptiven Bedürfnis […], sondern vielmehr der Einsicht, daß Literatur als gesellschaftliche Institution sich an den jeweils gültigen gesellschaftlichen Normen orientiert« (Hess 1994, Sp. 644).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Kunst« »jüngern Kunstgenossen einige Handwerksregeln in anspruchsloser Form« darbot;94 mit der Metapher vom »Handwerk« korrigiert er Kants philosophische Aufwertung der Dichtung gegenüber dem Handwerk.95 Ausgehend von der Beobachtung einer mangelnden Kunstfertigkeit unter den jüngeren Dramatikern will Freytag auf diese Weise spezifisch einem Mangel an Praxisbezug in zeitgenössischen poetologischen Werken abhelfen: »Unsere Lehrbücher der Aesthetik sind sehr umfangreiche Werke und reich an geistvoller Erklärung, aber man empfindet zuweilen als Uebelstand, daß ihre Lehren gerade da aufhören, wo die Unsicherheit des Schaffenden anfängt.«96 Deutlich wird in Freytags Rechtfertigung, dass der Praxisbezug seiner Poetik in einer Vorstellung von Dichtung als ›Technik‹ gründet. Sein Werk ist insofern im selben Sinne eine ›Poetik‹ wie die Anweisungsbücher der Barockzeit. Das Fortleben dieser Form im Rahmen einer bestimmten Auffassung von Dichtung stellt jedoch die Einschränkung des Begriffs ›Poetik‹ auf ›praktisches Anweisungsbuch‹ grundsätzlich in Frage, denn im posthumanistischen Zeitalter wäre damit die ›Poetik‹ im Sinne der Regelpoetik weiterhin präsent, aber nun als eher marginale Gattung. Sinnvoller erscheint es, als konstitutives Merkmal der eigenständigen ›Poetik‹ nicht Normgebung und Anweisung zu sehen, sondern die Legitimation und Tradierung einer bestimmten Vorstellung von Dichtung, die sich im Zeitalter des Barock vornehmlich im Anweisungsbuch, in anderen Zeitaltern jedoch in ›Poetiken‹ anderer Art manifestiert. Die ›Poetik‹ als Buch ist somit eine Gattung, mit welcher der Autor seine ›Poetik‹ im Sinne seiner Vorstellung von Dichtung kundtut. So gesehen besteht die Poetik auch als eigenständiges Werk durchaus bis in die Gegenwart fort, zumal keine Aussage zur Dichtung je »rein deskriptiv« ist,97 sondern immer – schon in der Wahl der Begriffe und in der stilistischen Form – Wertungen voraussetzt und Rezeptionsprozesse vorgibt: Poetiken sind nicht nur Philipp Zesens Deutscher Helicon98 oder Georg Philipp Harsdörffers Poetischer Trichter,99 sondern auch Friederike Mayröckers mehrbändige Magische Blätter100 und die von den Autoren jeweils individuell fokussierten und gestalteten Frankfurter Poetik-Vorlesungen, beispielsweise Peter Bichsels Der Leser. Das Erzählen101 oder Christa Wolfs Kassandra-Projekt, in dem die Gattungen Reisebericht, 94 95 96 97 98 99 100 101
Freytag 1863, S. [IV] (Widmung an Wolf Graf von Baudissin). Vgl. Kant 1908, bes. S. 304 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). Freytag 1863, S. [IV] (Widmung an Wolf Graf von Baudissin). Fricke 2003, S. 100; s. o. S. 7. Zesen 1970 ff., Bd. 9 (Deutscher Helicon, 1641). Harsdörffer 1969 (Erstveröffentlichung 1647–1653). Mayröcker 2001. Bichsel 1997 (Erstveröffentlichung 1982).
2. Formen der Poetik
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Arbeitstagebuch, Brief und Erzählung in einem einzigen Buch vereint und verknüpft sind, um dem männlich dominierten Gattungskanon entgegenzuwirken.102 Mit jedem dieser Projekte tritt ein anderer Aspekt des literarischen Prozesses in den Vordergrund. Die Macht der Metapher geht besonders aus der Wirkung des einprägsamen Titels von Harsdörffers Poetik hervor, der das Buch – durchaus gegen dessen Inhalt – zum Inbegriff eines mechanistischen Dichtungsbegriffs werden ließ. Ein erweiterter Begriff der Gattung ›Poetik‹ erleichtert die Untersuchung der vielfältigen Beziehungen zwischen unterschiedlich strukturierten poetologischen Werken. Bezieht man die Werke nicht nur in einer chronologisch linearen Abfolge aufeinander, sondern versteht sie auch ›räumlich‹ als Beitrag zu einem vielstimmigen, antike Autoren einbeziehenden Diskurs, so wird die Form zu einem Aspekt des dargestellten Dichtungsverständnisses. Besonders in einer Zeit, in der sich das literarische Umfeld verändert, lassen sich etablierte Formen aktualisieren, abwandeln und durch neue Formen ersetzen, zu deren Ausprägung binäre Denkmuster sowie auch viel ältere Formen strukturbildend beitragen können. Das Leitprinzip der Originalität förderte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Experiment mit dem Zusammenspiel von dichterischen und poetologischen Formen; gerade ein solches Experimentieren ist jedoch als Teil des fortlaufenden Diskurses zu begreifen. Erkennbar wird dies in einer Zusammenschau von so unterschiedlichen Texten wie Gottscheds Critischer Dichtkunst und Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik, Goethes Dichtung und Wahrheit und Schillers philosophischen Abhandlungen. Für Gottsched ist die systematische Regelpoetik die ideale Form der Vermittlung einer Literaturvorstellung, die er in der zeitlosen Wahrheit der gottgegebenen Vernunft verankern will. Er gründet sie auf die Vorgaben von Aristoteles, in denen die Regeln der Rhetorik und Poetik zur untrennbaren Autorität verschmolzen sind: Unter den Griechen ist ohne Zweifel Aristoteles der beste Kriticus gewesen, was nämlich die Redekunst und Poesie anlanget. […] alle Regeln, die er vorschreibt, gründen sich auf die unveränderliche Natur der Menschen, und auf die gesunde Vernunft. Haben gleich einige andere Kunstrichter und poetische Freygeister sein Joch abzuschütteln gesucht, und uns entweder von allen Regeln befreyen, oder ganz neue und willkührliche einführen wollen: so haben sie doch bey keinem Vernünftigen Beyfall gefunden.103
Mit Gottscheds Poetik sollen auf diese Weise »Anfänger in den Stand gesetzt werden, [alle üblichen Arten der Gedichte] auf untadeliche Art zu verfertigen; Liebhaber hingegen, dieselben richtig zu beurtheilen«.104 Die Perspektive in der Poetik ist somit dezidiert jene der gelehrten Autorität, die 102 Wolf, C. 1983. 103 Gottsched 1962, S. 97. 104 Ebd., S. xx (Vorrede zur 3. Auflage).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
dem Dichter Regeln »vorschreibt«: Anders als Harsdörffer, dessen »Exempel […] aus eigner Erfindung beygefüget [sind]«, erläutert Gottsched die Regeln »mit den Exempeln unserer besten Dichter«.105 Schlüsselbegriff ist bei Gottsched neben der Vernunft die Natur: Sie gibt den aristotelischen Regeln eine kollektive, zeitlose Struktur und eine ewige Gültigkeit, die der Autorität des christlichen Dogmas entspricht. Die theologische Metapher »poetische Freygeister« dient der Diskreditierung einer Abweichung von den aristotelischen Regeln der Critischen Dichtkunst: Nur diese Regeln sind der »Natur des Menschen« angemessen. Für die Geniepoetik der Folgezeit ist Gottscheds Vernunft-, Natur- und Freiheitsmetaphorik insofern bedeutsam, als man mit einer einfachen Umkehrung der Wertungen eine gegensätzliche Poetik des ingenium legitimieren konnte. Auch ließ sich über den Naturbegriff die von Charles Batteux in den Vordergrund gestellte Nachahmung als einigendes Prinzip der Künste106 für eine Poetik fruchtbar machen, die sich zunehmend von der humanistischen Sprachorientierung absetzte: Damit konnte die Natur – bereichert um rousseausche Assoziationen – zum Inbegriff der Dichtkunst werden. In gänzlich anderer Form sucht Klopstock 1774 mit seiner Deutschen Gelehrtenrepublik den poetologischen Diskurs der humanistischen Gelehrten fortzuführen, indem er provokant erklärt: »Neue Lehrgebäude werden gleich, wenn sie fertig sind, verbrant.«107 Die konventionelle architektonische Metaphorik für systematisch-normative Werke108 wird hier aufgegriffen, um eine entgegengesetzte Poetik durchzusetzen. In Opposition zur Tendenz, die Dichtung auf der Basis des aristotelischen Nachahmungsbegriffs mit den Künsten zu integrieren, sucht er – in Einklang mit der rhetorischen Tendenz zur Integration der Wissenschaften109 – unter dem Primat der ›Erfindung‹ die Dichtung in den Diskurs der ›Gelehrten‹ einschließlich der Naturwissenschaftler einzubinden und ihr in diesem wissenschaftlichen Kontext die Leitfunktion zu geben. Strukturbildend ist der kulturnationale Aspekt humanistischer Bemühungen um die Muttersprachen, jedoch in der extremen Form, dass eine Verherrlichung fremder, auch antiker Kulturen als ›strafbar‹ gilt; der Kunstrichtertopos ist hier zu einem groß angelegten Szenarium ausgestaltet. Abgelehnt wird auch die pedantische Gelehrsamkeit der Scholastiker; Vorrang hat die Pflege der lebendigen deutschen Sprache, Geschichte und Dichtung. Der aus den Barockpoetiken bekannte Topos der Geschichte deutscher Sprache und Dichtkunst ist hier 105 Harsdörffer 1969, Teil 1, S. )( viiv (Vorrede, Abs. 16); Gottsched 1962, Titelblatt. 106 Batteux 1746. Vgl. auch den übersetzten Auszug Gottsched 1754. 107 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 30 (Gelehrtenrepublik, Die Geseze, Von den Lehrgebäuden). 108 Der Begriff war in wissenschaftlichen Buchtiteln der zweiten Jahrhunderthälfte gängig; ein – wenn auch späteres – Beispiel ist Adelung 1782. 109 Vgl. Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 22 f.) u.ö.
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weitläufig ausgestaltet, und die Beispiele sind zu ganzen Sammlungen von historisierenden Texten angewachsen, die der Dichtung kulturstiftende Bedeutung zuweisen und sie zu den anderen Wissenschaften in Bezug setzen sollen. Die ›Regeln‹ der Dichtkunst sind dagegen auf einen knappen Text »Zur Poetik« reduziert, in den wiederum ein »Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen«,110 eingebettet ist; hier ist eine Poetik skizziert, welche die Dichtung nach ihrer Wirkung bestimmen würde. Der Vorschlag kulminiert jedoch in einer Priorisierung der Praxis des Dichters, der letztlich besser als jeder »Theorist« weiß, wie er zu schreiben hat.111 Wenn auch bei Klopstock der »Theorist« vom »Dichter« getrennt ist, so bleibt dennoch in diesem Kontext das ›Wissen‹ der Maßstab für Dichtung, denn Klopstock geht es hier darum, den Dichter zum idealen Gelehrten zu stilisieren. Entsprechend stieß das Werk bei den »Profeßores […] in Collegiis« auf lautstarke Kritik,112 bei ambitionierten jüngeren Dichtern dagegen auf Begeisterung: Für Johann Heinrich Voß ersetzte es die herkömmlichen »dicken Regulbücher«113 und für Goethe bot es »die Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker«.114 Die breitere Leserschaft – insbesondere Frauen – konnte mit dem Werk allerdings nichts anfangen: Klopstock hatte nicht einkalkuliert, dass es seine Bedeutung nur im Kontext der auf die gelehrte Elite beschränkten humanistischen Bildung kommunizieren konnte. Und nachdem sein Werk der zeitgenössischen Tendenz zur Trennung von Gelehrsamkeit und Dichtertum zuwiderlief und gattungsmäßig jede etablierte Kategorie sprengte, konnte es auch in der späteren Literaturgeschichte nicht reüssieren. Gottscheds Critische Dichtkunst und Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik beziehen ihre Argumente gleichermaßen aus dem humanistischen Projekt, wenn auch mit unterschiedlicher Tendenz. Die Fokussierung auf den Dichter als einmaliges Individuum läuft dagegen grundsätzlich dem Kompendiencharakter auch der in ihr Gegenteil verkehrten Regelpoetik zuwider. In seiner enthusiastischen Reaktion auf Klopstocks Gelehrtenrepublik dürfte Goethe vor allem auf dessen Poetik der ›Erfahrung‹ angesprochen haben; für ihn wird die ›Erfahrung‹ jedoch nicht als kollektive Wirkung aktuell, sondern als Erlebnis des individuellen, einmaligen ingenium. Insofern ist die Autobiographie die seinem Projekt gemäße Form der Poetik. In Dichtung und Wahrheit vermittelt er die organische Entwicklung
110 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 170–173 (Gelehrtenrepublik, Geschichte des lezten Landtages, Zur Poetik). 111 Ebd., S. 173. 112 Voß 1829–1833, Bd. 1, S. 247 (Voß an Ernestine Boie, 14.6.1774). 113 Ebd. 114 Goethe 1985 ff., Bd. 28, S. 377 (Goethe an G.F.E. Schönborn, 10.6.1774); s. o., S. 88–90. Zu Goethes Rezeption des Werkes s. a. Kohl 2000, S. 140–142.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
eines dichterischen Schaffens, das in der Originalität des Individuums gründet. Setzt man das Werk zu den humanistischen Poetiken in Bezug, so fällt auf, dass Goethe beispielsweise die topische Darlegung der vorhergehenden Literaturgeschichte aufgreift, dass er diese jedoch auf den Autor zentriert: Dargestellt wird der »Zustand der deutschen Literatur […] wie sie sich zu mir verhielt«.115 Im Vordergrund stehen die eigenen Werke, nicht jedoch in Form von Beispielen, sondern in Form ihres Werdegangs im schöpferisch tätigen Dichter. Die Form ist somit kongruent mit dem Inhalt: In seiner autobiographischen Zusammenführung der »Bruchstücke« seiner »großen Konfession«116 schafft Goethe eine Form der Poetik, die sich an der von Augustinus etablierten und von Rousseau aktualisierten Gattung der Konfession orientiert. Ihre radikale gattungsmäßige Abweichung von der Anweisungspoetik ist dem spezifisch goetheschen Projekt somit genau angemessen. Denn indem Goethe die an seiner Bildung durchaus beteiligte rhetorische Tradition ausblendet und für seine Poetik eine religiöse Metapher wählt, sakralisiert er sowohl den Dichter als auch dessen Werk. Die Avancierung einer philosophisch bestimmten Poetik bringt andere Formen. Auch diese lassen sich jedoch als Teil eines fortlaufenden und aus der Tradition sich speisenden poetologischen Diskurses auffassen. So hat die Tendenz zur Reduktion oder Eliminierung von Beispielen in der philosophisch-ästhetischen Abhandlung Signalfunktion: Wirksam vermittelt wird damit die Priorität der Philosophie gegenüber der Dichtung. Erhellend ist dabei ein Vergleich zwischen Longins Schrift Vom Erhabenen und Schillers Abhandlung Über das Erhabene. Während Longin aus dem Kontext der praktisch orientierten Rhetorik heraus die Wirkung der Dichtung mit reichhaltigen Beispielen verdeutlicht, um auch durch die Interaktion zwischen seinem Stil und dem Stil der Beispiele eine rhetorische Praxis des Erhabenen anzuregen, benutzt Schiller ein literarisches Beispiel nur als Aufhänger für eine moralische Fragestellung, die dann zu einer allgemeinen, rein theoretischen Bestimmung des Erhabenen überleitet: »›Kein Mensch muß müssen‹ sagt der Jude Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weiteren Umfange wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte.«117 Indem Schiller seine ästhetischen Schriften auf das Ziel der Wahrheitsfindung ausrichtet, gibt er sich philosophisch unparteiisch. Dass sie dennoch eine ausgeprägte Legitimationsfunktion erfüllen, zeigt seine Bezeichnung der großen Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung als »dieses jüngste Gericht über den größten Theil der deutschen Dichter«.118 Er kommuniziert hier mit dem großen Weimarer Verbündeten und 115 Ebd., Bd. 14, S. 283 (7. Buch). 116 Ebd., S. 310. 117 Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 822 (Über das Erhabene). Vgl. Lessing 1985 ff., Bd. 9, S. 498 (Nathan der Weise, 1. Akt, 3. Auftritt, V. 385). 118 Schiller 1988–2004, Bd. 12, S. 93 (Schiller an Goethe, 23.11.1795).
2. Formen der Poetik
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berichtet ihm, es seien »wenige, die unverwundet aus dem Treffen kommen«.119 Der religiös verstärkte Kunstrichtertopos ist mit dem Wettkampftopos verquickt und dient der Abgrenzung und Aufwertung des Weimarer Projekts. Der Kunstrichter ist zugleich überlegener Held und absoluter Herrscher mit alleinigem Zugang zur ewigen Wahrheit. Schiller verbindet die Mittel der Philosophie und der Rhetorik, um seiner Schrift höchste Durchschlagskraft zu sichern. Die philosophische Abhandlung stößt jedoch dort an ihre Grenzen, wo es die Überlegenheit der Dichtung über die Philosophie zu erweisen gilt. Bezeichnenderweise gestaltet Schiller seine Vision von der Apotheose des Dichters als Künstler mit den Mitteln der Poesie – Beispiel ist die Hymne Die Künstler.120 Am ›Anfang‹ der modernen deutschen Dichtung findet sich somit eine Vielfalt von Gattungen, mittels derer Poetik vermittelt wird, wobei sich durchaus Bezüge zu den älteren Poetiken ergeben. So lassen sich Literaturgeschichten als eigenständige poetologische Werke fassen, die über den geschichtlichen Topos mit der Gattung der Poetik in Verbindung stehen. Beispielsweise erscheint Daniel Georg Morhofs Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang und Lehrsätzen von 1682 als Poetik oder auch als »erste deutsche Literaturgeschichte«.121 Höchst aufschlussreich ist Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands von 1857, zumal diese als »katholische Literaturgeschichte« konzipiert ist.122 Dass Eichendorff zwar eine Literaturgeschichte, nicht aber eine systematische Poetik verfasst, ist in seiner Ablehnung der ästhetischen Reflexion begründet: Es gibt bekanntlich mehrere Gesichtspunkte, unter welchen der Wert und die Gestaltung einer Literatur überhaupt sich auffassen läßt. Der unfruchtbarste derselben ist wohl der ästhetische, die Beurteilung nämlich nach einer allgemeinen Theorie der Kunst. Eine poetische Zeit denkt nicht an ihre Schönheit, weil sie dieselbe von selbst besitzt, gleich wie ein Gesunder seine Gesundheit nicht merkt. Erst wenn die Schönheit abhanden gekommen, wird die verlorene absichtlich gesucht oder philosophisch konstruiert, und so entsteht die Ästhetik.123
Extremer könnte der Gegensatz zum Idealismus nicht sein.124 Die von Kant und Hegel benutzte Trennungsmetaphorik ist hier umgewertet: Gültig ist allein eine immanente Poetik, da eine von der Dichtung getrennte Reflexion den ›Verlust‹ jener Einheit darstellt, die das Wesensmerkmal wahrer Dichtung ist. Um sein eigenes Unterfangen zu definieren, rekurriert 119 120 121 122
Ebd. Ebd., Bd. 1, S. 207–221 (Die Künstler). Morhof 1682; Niefanger 2000, S. 65. Eichendorff 1985–1993, Bd. 6, S. 805–1074. Die Initiative ging von dem Verleger katholischer Literatur Ferdinand Schöningh aus, der Eichendorff 1854 um eine »katholische Literaturgeschichte« bat (zitiert im Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 1394). 123 Ebd., S. 818 (Geschichte der poetischen Literatur). 124 Zu Eichendorffs Poetik unter rhetorischem Aspekt vgl. Carrdus 1996, S. 157–231.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Eichendorff auf die topische Gegenüberstellung von ›Kopf‹ und ›Herz‹, wenn er die Literaturgeschichte mit dem »Kreislaufe des Blutes vom und zum Herzen« vergleicht: Die Poesie ist seiner Auffassung nach in ihrem Wesen religiös, und so ist die Geschichte der poetischen Literatur »eigentlich nichts Anderes, als das beständig pulsierende Entfernen und wieder Zurückkehren zu jenem religiösen Zentrum«.125 Deutlich wird schon aus ihrem Ansatz die poetologische Bedeutung dieser Literaturgeschichte für Eichendorffs Werk. Die Darstellung der Entwicklung von Literatur durch die Metaphorik von Zentrum und Peripherie verbunden mit belebender Körpermetaphorik vermittelt ein poetologisches Manifest; ihre angemessenste Darstellung erfährt Eichendorffs Poetik allerdings durch ihre Verkörperung im poetischen Werk. Auch Anthologien können als poetologisches Manifest dienen und poetologische Identität herstellen. Es wird darin die Tradition der Zusammenstellung von Gedichten in frühneuzeitlichen Poetiken fortgeführt, wobei typischerweise ein Vorwort, Nachwort oder gar beides die poetologischen Ziele und die Identität explizit machen. Beispiel ist die von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegebene Anthologie jüngster Lyrik von 1927, die mit einem Vorwort von Stefan Zweig und einem Nachwort von Klaus Mann ausgestattet ist.126 Entsprechend einer nachromantischen Dichtungsauffassung wird in dieser ›Poetik‹ kein Lehrmaterial geboten und es wird auch kein »Stil« definiert, zumal diese Anthologie die »neue« Dichtung gegenüber dem »abgewirtschafteten« Expressionismus mit seinen auffälligen Stilmerkmalen etablieren soll.127 Fokussiert wird dagegen ex negativo das erwünschte Publikum durch die Betonung des unempfänglichen kulturellen Umfelds. Vor allem aber dient die Anthologie der Etablierung und Projektion einer kohärenten Gruppe: »Wir sind eine Generation.«128 Ähnlich aussagekräftig ist die von Stefan George und Karl Wolfskehl herausgegebene dreibändige Sammlung Deutsche Dichtung, die einen Band zu Jean Paul, einen Band zu Goethe und einen Band mit dem Titel Das Jahrhundert Goethes umfasst.129 Die zentrale Rolle Goethes vermittelt programmatisch den Anspruch Georges auf das Erbe des Nationaldichters. Zugleich signalisiert George damit seinen Anspruch auf den Status des von Goethe eher gemiedenen poeta vates: An erster Stelle in Das Jahrhundert Goethes steht Klop125 126 127 128 129
Eichendorff 1985–1993, Bd. 6, S. 818 (Geschichte der poetischen Literatur). Fehse/Mann 1927. Mann, K. 1927, S. 159. Ebd., S. 160. George/Wolfskehl 1900–1902. Bd. 1: Jean Paul. Bd. 2: Goethe. Bd. 3: Das Jahrhundert Goethes. In der Einleitung zum dritten Band wird die Profilierung Jean Pauls wie folgt erklärt: »Der Name Goethe beherrscht ein ganzes dichterisches Jahrhundert […]. Keineswegs darf man ihm, der als Gegensatz allein Jean Paul verträgt, einen Anderen beireihen – am wenigsten, wie man leider noch immer thut, Schiller oder Heine« (ebd., Bd. 3, S. 4; Großschreibung und Interpunktion KK; Original in Großbuchstaben).
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stocks Ode Die Stunden der Weihe.130 George aktualisiert damit die antik fundierte Rolle des ›geweihten‹ Dichters und projiziert sich als dessen moderner Repräsentant. Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext Raoul Schrotts Anthologie Die Erfindung der Poesie: Gedichte aus den ersten viertausend Jahren von 1997,131 auf die näher eingegangen werden soll, weil hier auf komplexe Weise humanistische, idealistische und poststrukturalistische Ansätze zusammenwirken. Es lässt sich an dieser Anthologie erkennen, dass die traditionellen Topoi durchaus weiterhin poetologischen Bedürfnissen dienlich sind. Das großzügig ausgestattete Werk besteht aus einem Vorwort, in dem der Dichter zunächst knapp und polemisch zur deutschen Poetik und Dichtung Stellung nimmt, um dann – ganz in Einklang mit frühneuzeitlichen Poetiken – eine Geschichte der Poesie und zugleich eine eigene Poetik zu entwerfen.132 Es folgen 13 Kapitel zu großen europäischen Dichtern und deren Dichtungstraditionen vom 24. Jahrhundert v. Chr. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. Am Kapitelanfang ist jeweils der Dichter, eine Vortragssituation oder eine andere poetologisch interpretierbare Szene abgebildet, und ein Essay kommentiert den poetologischen Kontext sowie auch den jeweiligen Beitrag des Dichters zur ›Erfindung‹ der Poesie. Den Schwerpunkt bilden die von Schrott selbst übersetzten Gedichte der Poeten, wobei jeweils ein Gedicht auch im Original erscheint. Abgerundet wird das Werk durch einen wissenschaftlichen Apparat mit »Glossen und Bibliographien«,133 in dem sich der weltläufige Dichter und habilitierte Komparatist als poeta doctus ausweist. Typisch für die gelehrte Perspektive ist die Ausrichtung auf das Medium der Schrift: Als »Konstante« seiner Anthologie bestimmt Schrott die »beginnende Verwendung der Schrift und das mit ihr aufkommende Bewußtsein der Sprache als eigenes Medium«.134 Der Topos vom ›Anfang‹ dient hier der Legitimation einer Theorie, die vorgibt, ein metasprachliches Phänomen zu bestimmen, tatsächlich jedoch die Tradition der Dichtkunst ohne jeglichen Versuch einer wissenschaftlichen Begründung auf die schriftlich übermittelte Tradition verkürzt. Dem Trend zur Mündlichkeit trägt er allerdings marktstrategisch insofern Rechnung, als zusätzlich zum schriftlichen Text auch ein Hörbuch mit drei CDs angeboten wird, auf dem Schrott die Gedichte »in den Originalsprachen« liest und sie kommentiert.135 Damit werden gewissermaßen auf humanistisch-postmodernem Wege schriftlich überlieferte Dichter zu Stimmen im poetologischen Diskurs der Gegenwart. 130 131 132 133 134 135
George/Wolfskehl 1900–1902, Bd. 3, S. 6. Schrott 1997a. Ebd., S. 7–23. Ebd., S. 497–531. Ebd., S. 14. Ebd., rückwärtiger Klappentext.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Durchaus als Fortführung der humanistischen Tradition bietet das Werk in seiner Gesamtheit eine Ausführung des humanistischen Topos »Worzue die Poeterey / vnd wann sie erfunden worden«.136 Das Aufgreifen gerade dieses Topos sowie die Art der Ausgestaltung sind jedoch typisch für die nachhumanistische Poetik, denn Schrott interpretiert die Erfindung der Poesie als Prozess, in dem individuelle Dichter aus verschiedensten kulturellen Kontexten ihre jeweils spezifische Originalität in die Entwicklung einbringen. Dass auch die Originalität des Verfassers im Vordergrund stehen soll, zeigen die Vorrede und vor allem der Klappentext: »Ein solches Buch hat es noch nie gegeben.«137 Statt mit der ausgelutschten Originalität des gefühlvollen Individuums profiliert sich Schrott mit der Originalität des exklusiven Wissens und unternimmt als moderner Horaz »auf eigene Faust […] eine Entdeckungsreise ersten Ranges«.138 Schrotts Geschichte der Dichtung verbindet die idealistischen Kriterien der Autonomie und der Subjektivität mit älteren poetologischen Topoi. So lässt er die »Chronologie« der Poesie vom »intuitiven Akt der Inspiration« ausgehen, womit er den platonischen Topos psychologisiert.139 Ähnlich wie Opitz leitet er die Poesie aus der Religion her,140 macht jedoch den Zeitpunkt der ›Befreiung‹ zum Moment des wahren Ursprungs: »Die Dichtung als eigene Gattung entstand, als sie sich von der Religion und den sie begleitenden Ausdrucksformen emanzipierte.«141 Auf diese Weise überträgt er die vielbeschworene deutsche ›Epochenschwelle‹ des 18. Jahrhunderts in frühere Zeiten, wobei die Poesie je nach Kultur früher oder später ›mündig‹ wird. So entdeckt er die Erfindung der autonomen Poesie und einen rousseauschen Kulturpessimismus bereits bei Archilochus im 7. Jahrhundert v. Chr.142 Europäische Poesie aus vier Jahrtausenden wird hier mit jenen Metaphern legitimiert, die seit dem deutschen Idealismus dazu dienen, die ›Entstehung‹ der wahren Poesie im Zeichen Goethes zu entwerfen.143 Das Bild vom ›modernen‹ Dichter hat sich jedoch seit dem 18. Jahrhundert entscheidend gewandelt. Dies geht aus dem Bildungsziel von Schrotts Buch hervor: Abhelfen soll das Werk der allgemeinen »Ignoranz« hinsichtlich der Geschichte der Poesie, die allenfalls in Form von obsoleten Übersetzungen durch Philologen tradiert wird; notwendig sind »aktualisier136 Opitz 1966, S. 7 (Kap. 2). 137 Schrott 1997a, vorderer Klappentext. Man darf annehmen, dass ein wissenschaftlich versierter und öffentlichkeitsbewusster Autor wie Schrott an den Klappentexten seines Buches nicht unbeteiligt war. Auf jeden Fall positioniert dieser Text das Buch im rezeptiven Kontext als Unikum. 138 Ebd. 139 Ebd., S. 10. 140 Opitz 1966, S. 7 (Kap. 2). 141 Schrott 1997a, S. 12. 142 Ebd., S. 13. 143 Vgl. Eibl 1995, Titel.
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te« Übersetzungen durch »Dichter«.144 Damit steht zwar nicht die Anweisung im Zentrum, doch aber die Lehrfunktion der Poetik. Das Genie hat abgedankt, Vorrang hat wieder der poeta doctus, der Lehre und Praxis verbindet. Allerdings grenzt sich Schrott dezidiert von den Philologen ab, indem er sie mit dem Staub der Vergangenheit und der Theorie bedeckt: Ihre Literatur existiert nur auf »Karteikarten« und in veralteten Klassikerausgaben, ihr Bild von der Antike ist geprägt von »Winckelmann«, ihre Haltung von »Erhabenheit« und ihre Sprache von einem »gespreizten Stil«.145 Das Muster entspricht der Diskreditierung der Scholastiker in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik: Auch dort suchte sich der gelehrte Dichter vom gelehrten Pedanten abzusetzen und – wie Schrott in seinen ebenfalls 1997 publizierten Fragmenten einer Sprache der Dichtung – mit den Naturwissenschaftlern zu liieren. Äußerst spannungsgeladen ist Schrotts Bezug zur Dichtung seiner eigenen Sprachkultur und seine Geschichte deutscher Dichtung. Während Opitz immerhin von einer besseren Vergangenheit weiß, auch wenn die deutsche Dichtkunst »nun von langer zeit her« im Argen liegt,146 sieht Schrott nur die deutsche Misere. Geradezu brisant ist seine völlige Ausgrenzung der deutschen Dichtung aus der Anthologie: Die Dichter beispielsweise des Minnesangs finden noch nicht einmal Erwähnung, und die neuere deutsche Dichtung kommt nur im Vorwort als Angriffsziel zur Sprache; einzig Hölderlin und den Expressionismus lässt Schrott gelten.147 Einer langen deutschen Tradition der »akribischen Recherche über die Weltliteratur«148 folgt er punktuell von Opitz über Herder zu Enzensberger, um sie umfassend zu diskreditieren: Hierzu dient ihm einerseits der Topos von der deutschen ›Verspätung‹ und andererseits jener von der deutschen ›Überfremdung‹. Schrott selber erklärt seine Vorliebe für eine Beschäftigung mit fremder Literatur aus der Tatsache, dass die deutsche Literatur kaum je »eine eigene Poetik von internationalem Einfluß« herausgebildet habe und wenn doch, so lediglich durch den Anstoß aus »fremden Traditionen«.149 Die Frage, inwieweit auch das Projekt dieses österreichischen Dichters von den Topoi deutscher oder deutschsprachiger Minderwertigkeit geprägt ist, wird nicht angesprochen;150 nicht kommentiert wird auch das Paradoxon, 144 145 146 147 148 149 150
Schrott 1997a, S. 8. Ebd. Opitz 1966, S. 16 (Kap. 4). Schrott 1997a, S. 8. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 14. Eine nationalsprachliche Abgrenzung zwischen Deutschland und Österreich macht Schrott in seinen »Fragmenten« geltend, wenn er unter Bezug auf »die eigenen Anfänge« den »großen Anteil österreichischer Schriftsteller in der deutschen Literatur« mit dem »Vorteil« erklärt, »daß eigentlich in Österreich jeder zweisprachig aufwächst« (Schrott 1997b, S. 115 und 117).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
dass Schrott an den von ihm vorgestellten Dichtern genau jene »Auseinandersetzung« und jenen »Austausch« mit anderen Kulturen lobt, die er bei den deutschen Dichtern als mangelnde Eigenständigkeit kritisiert. Es zeigt sich hier eine höchst widerspruchsvolle Einstellung zur Debatte um Nachahmung und Originalität unter Bezug auf die eigene Kultur: Einerseits situiert Schrott sein Projekt im Kontext der deutschsprachigen Poetik, andererseits entzieht er diesem Kontext die Legitimität. Die schon seit Otfrid eingesetzten Topoi der nationalen Selbstlegitimation erfüllen noch in der Gegenwart eine bedeutende Rolle in der Auseinandersetzung mit einer anhaltend prekären Nationalkultur. Interessant ist Schrotts Anthologie nicht zuletzt deshalb, weil sich bei aller Privilegierung der Autonomieästhetik dennoch gegenüber der vom Idealismus geprägten Poetik der vorangegangenen zwei Jahrhunderte eine veränderte Beziehung zwischen Rhetorik und Philosophie abzeichnet. Schrott verspricht statt der herkömmlichen philologischen Museumsstücke einen Überblick, in dem die Poesie älterer Zeiten »als eine jahrtausendealte Maschine« erscheint, in der die Differenzen der Zeit verschwinden: »Ihre einzelnen Zahnräder und Teile unterscheiden sich […] kaum von den Uhrwerken moderner Gedichte.«151 Diese Metapher eröffnet poetologische Möglichkeiten: Dem Dichter als Schöpfer steht nun der Dichter als Uhrmacher gegenüber – auch dieser potenziell ein Gott, aber nach rationalistischem Muster.152 Die Verräumlichung der Zeit stellt die Teleologie der Autonomieästhetik in Frage, die Schrott mit seiner Geschichte der Poetik zugleich noch einmal bestätigt. In Gegensatz zum Gedicht als natürlichem Organismus wird es hier zum kunstvoll handgefertigten Mechanismus, und damit rücken Form und Funktion wieder in den Vordergrund. Aufmerksamkeit gebührt dementsprechend nicht nur der Thematik, sondern den vielfältigen Strukturierungsmöglichkeiten der Sprache, die Schrott nuancenreich in seinen Übersetzungen erkundet und die im Prozess des Lesens immer wieder in Zusammenwirkung mit den gedanklichen Aspekten und der reichen Metaphorik neue Verbindungen zwischen Texten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen aufleuchten lassen. Indem Schrott sich über und durch die Sprache mit den verschiedensten Dichtungstraditionen auseinandersetzt und dem Leser diese Auseinandersetzung lebhaft vermittelt, stellt er jene Linearität der Entwicklung in Frage, die er im Vorwort zum Leitfaden seiner Anthologie macht. Denn entgegen seiner autonomieästhetischen Literaturgeschichte räumt er der Poesie nicht nur einen phi151 Schrott 1997a, S. 9. 152 Abgesehen von der leibnizschen Tradition des Topos findet er sich auch bei Kant, wenn er im Rahmen einer Unterscheidung von Kunst und Handwerk die Frage aufwirft, »ob in der Rangliste der Zünfte Uhrmacher für Künstler, dagegen Schmiede für Handwerker gelten sollen« (Kant 1908, S. 304; § 43, Von der Kunst überhaupt).
2. Formen der Poetik
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losophischen, sondern auch einen mit allen Figuren der elocutio ausgestatteten rhetorischen Freiraum ein: Die Dichtung stößt – gleich wann sie ansetzt und von welcher Perspektive sie ausgeht – immer wieder auf Strukturen und Formen, die ihrer Sprache stets schon als Möglichkeiten inhärent waren. Die eigentliche Erfindung besteht im Grunde darin, welchen dieser rhetorischen Mittel sie den Vorrang gibt, um von ihnen aus auch die restlichen Stilfiguren zu entdecken. Vorbedingung für diese Entwicklung ist jedoch, daß die Poesie vom Dogma der Religion, in der sie eingebunden war, unabhängig wurde, um den nötigen Spielraum für ein eigenes Bewußtsein und seine fiktionalen Konstrukte zu gewinnen.153
Die seit dem Idealismus etablierte ›Entwicklung‹ von einer rhetorisch geprägten Poetik hin zu einer philosophisch geprägten Poetik ist plötzlich gewissermaßen um eine weitere Etappe verlängert worden: Der philosophische Spielraum ist nun zur Voraussetzung für die Entfaltung des rhetorischen Potenzials geworden. Es scheint, als habe sich die Perspektive auf die Literatur grundlegend gewandelt: Der gegenwärtige Standpunkt ist hier von der Rhetorik geprägt, die philosophische Tradition ist in den geschichtlichen Hintergrund gerückt. Raoul Schrotts Erfindung der Poesie deutet darauf hin, dass die obsolet geglaubte Gattung der Poetik wieder literaturfähig geworden ist. Der Grund ist offenbar die auch im kulturellen Umfeld sich abzeichnende, erneute Avancierung der Rhetorik zum ›Leitdiskurs‹. Aus seinem Projekt – und nicht zuletzt den Widersprüchen in seiner Geschichte der Poetik – wird jedoch ebenfalls deutlich, dass gegenwärtig die philosophische und die rhetorische Tradition interaktiv zum poetologischen Diskurs beitragen. Auch innerhalb der deutschen Literatur haben sich die Perspektiven geweitet: Die 2001 von dem Lyriker Thomas Kling vorgelegte Anthologie Sprachspeicher umfasst deutsche Gedichte vom Ersten Merseburger Zauberspruch und Lorscher Bienensegen – ins Neuhochdeutsche übersetzt von Kling – bis hin zu Gedichten von Raoul Schrott, Ulrike Draesner und Marcel Beyer.154 Die Metapher vom ›Speicher‹ wird in Klings Nachwort hinsichtlich ihrer Bedeutungen ausdifferenziert: In den »geschützten Platz für Grundnahrungsmittel«; in den Raum unterm Dach für Dinge, die »ohne rechten Nutzen sind«; und vor allem in den »Sprachspeicher« des mobilen Telefons, eines der »gegenwärtig hauptsächlich benutzten Kommunikationsinstrumente«.155 Der Leser soll angeregt werden, das vermeintlich Überholte laut lesend zu »verlebendigen« und die »vielfältigen Sprachwelten« seiner eigenen Sprache zu erkunden.156 Damit stehen auch der Poetik alle Wege offen. 153 154 155 156
Schrott 1997a, S. 16. Kling 2001. Ebd., S. 328. Ebd., S. 329 f.
228
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
3. Medien der Dichtung Dichtung vollzieht sich in Sprache und verwirklicht sich in all jenen Medien, in denen Sprache wirksam ist. Innerhalb einer Kultur lässt sich typischerweise eine Abfolge von Entwicklungsstadien feststellen, die der Entwicklung sprachlicher Medien entspricht: Für die deutschsprachige Literatur ergibt sich dann eine Abfolge von mündlicher, performativ vermittelter Literatur über schriftliche, visuell vermittelte Literatur bis hin zu digitaler, elektronisch vermittelter Literatur. Mit jedem neu hinzugekommenen Medium erweitern sich die möglichen Darstellungsformen; ein ›Fortschritt‹ von einem Medium zum anderen ist jedoch allenfalls als zunehmende Komplexität gegeben, denn keines dieser Medien ist mit der Einführung eines neuen Mediums überholt. Jedes einmal erprobte Medium bleibt als Kommunikationsmittel verfügbar und ermöglicht neue mediale Verbindungen. Zugleich erweitern sich mit jedem neuen Medium die Möglichkeiten medienbezogener poetologischer Metaphorik. Mediale Metaphern machen das jeweils benutzte Medium bewusst oder sie lassen es vergessen; eine entscheidende Rolle spielt in diesem Prozess der jeweilige Status des Mediums. Metaphorik bietet so die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Medium der Dichtung im Medium der Dichtung selbst. Die gesamte deutsche Literatur sowie deren Rezeption bewegt sich im Spannungsfeld von Wort und Schrift, akustischer und visueller Realisierung, Performanz im Raum und raumübergreifender Kommunikation, Wirkung in der Zeit und über Zeiten hinweg. Dass beide Medien von Anfang an in der überlieferten deutschsprachigen Literatur eine Rolle spielen, ist medial bedingt: Aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert ist nur das überliefert, was direkt oder indirekt in Schriftform tradiert wurde; zugleich jedoch bleibt ganz offensichtlich der mündliche Aspekt durchgängig wirksam. Wenn auch mit der Ausweitung der Lesefähigkeit im 18. Jahrhundert157 das Zeitalter der mündlichen Vermittlung von Literatur ihrem Ende zuzugehen und außer im Theater nur noch als sporadische Randerscheinung fortzuwirken schien, so ist gerade in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden, dass ein solch lineares Modell nicht greift. Nicht nur in Theater, Film und Fernsehen lebt die Performanz von Literatur fort. Die akustische Dimension wird in zunehmend rezipierten – und von der Kritik wahrgenommenen – Hörbüchern aktualisiert, und Performances, Poesiefestivals, Rap oder Poetry Slam schaffen fließende Übergänge zur musikalischen Popkultur. Literatur wirkt als schriftlicher Text im privaten Kämmerlein sowie 157 Einen differenzierten Überblick über Struktur, Lesefähigkeit und Lesetätigkeit des Publikums im 18. Jahrhundert liefern Kiesel/Münch 1977, S. 154–179. Neben dem privaten Lesen florierte weiterhin das mündliche, gesellige Lesen.
3. Medien der Dichtung
229
performativ als kollektives Erlebnis, und beide Formen der Vermittlung bieten Möglichkeiten der poetologischen Ausgestaltung. Die schriftliche Dimension der Dichtung reizte in der frühen Neuzeit zum gebildeten Spiel und schriftmystischen Erlebnis, wurde in der ›Geniezeit‹ und im Realismus eher ausgeblendet und avancierte besonders im Dadaismus und in der visuellen Poesie seit den 1960er Jahren zum Gegenstand des lyrischen Experiments. Die digitale Poesie hat diese Möglichkeiten aufgegriffen und im neuen Medium dynamisiert. Auch der Poststrukturalismus hat mit seiner Wiederbelebung der rhetorischen Tradition und seiner Fokussierung der Textualität dazu beigetragen, dass das Medium der Dichtung Aufmerksamkeit beansprucht. Diese Perspektive jedoch schärft den Blick für die Kontinuität des Interesses am Medium auch in früheren Zeiten. Die Ausblendung des Mediums sowie auch des Rezipienten ist typisch für eine aristotelisch orientierte Poetik, die im Werk die Illusion des Natürlichen und Wahren anstrebt: Denn »wie ein natürlicher Gegenstand« erscheint das Werk nur dann, wenn es nicht als menschliches Konstrukt wirkt.158 Ein Interesse an Dichtung als Sprach-›Kunst‹ erlaubt dagegen auch die Profilierung ihrer sprachlichen Materialität, Technik und Konstruiertheit sowie die Ausrichtung auf ein Gegenüber. Mediale Metaphorik dient dann nicht der Erzeugung von Illusion, sondern macht literarische Kommunikationsprozesse als solche kenntlich. Sie kann poetologisch das jeweilige literarische Programm vermitteln, die intendierte Rezeptionshaltung steuern oder auch zum geistreichen Spiel werden. Während das Fiktionalitätskriterium literarische Kommunikation grundsätzlich von nicht-literarischer Kommunikation unterscheidet – und entsprechend auch das ›lyrische Ich‹ vom Autor-Ich159 –, wird hier von einer grundsätzlichen Verbindung ausgegangen, die jedoch verschiedenste Ausdifferenzierungen von ›Ich‹-Identitäten sowie auch Adressaten erlaubt. So besteht beispielsweise in einer Widmungsode an eine lebende Person kein Grund, das sprechende Ich ontologisch anders aufzufassen als in einem Brief desselben Autors an den gleichen Adressaten.160 Unterschieden ist 158 Sulzer 1771–1774, Bd. 2, S. 812 (Natur). S.a. Aristoteles: Wenn die Rede glaubwürdig erscheinen soll, ist es notwendig, die »Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen« (Aristoteles 1995b, S. 170; III, 2, 4; 1404b). 159 Für Bernhard Sorg beispielsweise ist »das erlebende und schreibende Ich […] kategorial nicht identisch mit dem des Autors« (Sorg 1984, S. 13). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Sorgs Fixierung auf den »Autonomieanspruch des Subjekts« (ebd., S. 13). Eine wesentlich differenziertere Auffassung mit Diskussion auch der Forschung zum lyrischen Ich findet sich bei Martínez 2002; er schließt eine Identität mit dem empirischen Autor nicht aus (ebd., bes. S. 389). 160 So mag man Klopstocks Ode »An Ebert« von 1748 (Klopstock 1981, Bd. 1, 27–29) mit einem Brief Klopstocks an Johann Arnold Ebert vergleichen (z. B. Klopstock 1974 ff., Briefe, Bd. 1, S. 93 f.; Klopstock an Ebert, 20.6.1750). Hier ist beispielsweise der Unterschied des
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
vielmehr in beiden Fällen das ›textexterne‹ vom ›textinternen‹ Ich, wobei die Gattung des Briefes andere Darstellungsformen und stilistische Konventionen vorgibt als die Ode, diese Konventionen jedoch dem zeitlichen Wandel und eventuell weiterer Gattungsdifferenzierung unterliegen. Dass andererseits die Fiktionalität nur eine mögliche theoretische Begründung für eine Differenzierung von ›Ichs‹ darstellt, zeigt die folgende Erklärung von Gerhard Tersteegen. In der Vorrede zu seinem pietistisch orientierten Geistlichen Blumen-Gärtlein Inniger Seelen betont er, daß wann ich etwa von einer etwas tieffen Warheit, oder gar reinen Seelen-Beschaffenheit rede, und dabey das Wörtlein ich gebrauche; daß ich alsdann nur rede in der Person einer solchen Seelen, die in solchem Stande und Erfahrung stehet, keineswegs aber mich selber davor ausgebe, solches alles in würcklicher Erfahrung zu besitzen.161
Die ›Wahrheit‹ eignet hier dem textinternen Ich; die Wirkung des Gedichts erwächst aus dessen Spannung zu dem von der Wahrheit noch weit entfernten, naturverhafteten Ich des textexternen Autors. Tersteegens dezidierte Trennung zwischen dem textinternen Ich und der eigenen Person lässt sich als religiös gegründete Bescheidenheitsformel verstehen, ist vor allem aber ein Mittel der »Erweckung, Stärckung, und Erquickung«162 des Dichters selbst sowie des Rezipienten.163 Das artifiziell vom Autor abgehobene poetische Ich ermöglicht einen Prozess der Erkenntnis, der das Innere des Autors sowie des Rezipienten auf »Kern-Warheiten des Inwendigen Christen-Lebens«164 hin orientiert und diese erfahrbar macht. Es ergeben sich hier hochinteressante Fragen zum Vergleich mit den Ich-Konstruktionen in der Romantik sowie der Konstruktion von ›Sehnsucht‹; diese lassen sich jedoch nur dann sinnvoll verfolgen, wenn man die Differenzen nicht als gegeben voraussetzt, sondern kontextspezifisch als komplex konstruierte Differenzen erkundet. Setzt man als prototypischen Kommunikationsprozess eine direkte, spontane, mündliche Vermittlung zwischen Sprecher und Hörer voraus, so ist allenfalls das spontan geschaffene und zugleich dem Rezipienten vorgetragene Werk als ›Erfüllung‹ dieses Prototyps aufzufassen; und selbst hier erzeugt der performative Kunstcharakter andere Erwartungshaltungen im Hörer als die funktionale Kommunikation. Jede andere Form setzt eine komplexere Kommunikationsstruktur voraus und erlaubt diverseste metaphorische Übertragungsprozesse. Komplex wird die Struktur durch die Möglichkeit der Einschiebung von ›Ich‹-Figuren oder Instanzen zwischen dem Autor und dem Erzählten und von ›Du/Ihr‹-Instanzen zwischen dem
161 162 163 164
Anredepronomens (›du‹ in der Ode, ›Sie‹ im Brief ) durch Gattungs- und Stilkonventionen bedingt; die Person bleibt die gleiche. Tersteegen 1747, »Vorbericht« S. A2r-A6v; hier S. A3v. Ebd., Untertitel. Vgl. auch S. A5r (Vorbericht). Ebd., S. A3v- A4r (Vorbericht). Ebd., S. A4r (Vorbericht).
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3. Medien der Dichtung
SZENISCHE KOMMUNIKATION
RAHMENKOMMUNIKATION
EMPIRISCHE KOMMUNIKATION
Erzählten und dem empirischen Rezipienten. Komplex wird sie aber auch durch mögliche Unterschiede zwischen der Zeit und dem Raum von Autor, Werk und Rezipient sowie durch Unterschiede in Gattung und Sprache. Diese Distanzen lassen sich in einer Ausdifferenzierung von Kommunikationssituationen schematisieren:165
Zeit (Rahmenkommunikation)
Zeit (Autor)
Zeit (Rezipient)
Zeit (Thema/Handlung) AUTOR
ICH (wir)
THEMA/HANDLUNG [mit Rollen-Sprechern]
DU (ihr)
REZIPIENT
Ort (Thema/Handlung) Ort (Autor)
Ort (Rezipient) Ort (Rahmenkommunikation) TEXTINTERN
TEXTEXTERN
Modell literarischer Kommunikation
Ähnliche Modelle sind in Zusammenhang mit dem ›lyrischen Ich‹ sowie auch im Kontext der Narratologie mehrfach entworfen worden, und besonders unter Bezug auf erzählende Literatur haben sich immer komplexere Modelle herausgebildet, um der literarischen Vielfalt insbesondere der Erzählerfunktion (in dem Diagramm also dem sprechenden ›Ich‹ in der Rahmenkommunikation) gerecht zu werden. Beispiel ist der zwischen empirischem Autor und erzählendem Ich eingeschobene textinterne ›implizite 165 Dieses Modell versteht sich als Abwandlung narratologischer Ansätze. Zu Dank verpflichtet bin ich den Mitwirkenden am Lyrik-Projekt der DFG-geförderten Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg: »Zur Theorie und Methodologie narratologischer Analyse von Lyrik. Untersuchungen aus anglistischer und germanistischer Perspektive«, unter Leitung von Peter Hühn und Jörg Schönert.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Autor‹, mit dem sich ein weiterer ›Rahmen‹ und das Konstrukt des ›impliziten Lesers‹ ergibt. So lässt sich beispielsweise in Bezug auf den Prolog in einem mittelalterlichen Epos von einem ›textinternen Autor‹ sprechen. Es soll hier nicht darum gehen, ein allgemeingültiges Modell zu schaffen, denn ich setze voraus, dass Dichtung und Poetik mit geradezu unendlichen Variationen kommunikativer Strukturen und Prozesse experimentieren, so dass jeder Text auf die spezifische kommunikative Konstellation hin zu untersuchen ist. Ausgegangen wird von der Annahme, dass literarische Kommunikation mit nicht-literarischer Kommunikation in Verbindung steht und nicht grundsätzlich als Fiktion von anderen Sprachformen abgrenzbar ist, wie dies beispielsweise die grundsätzliche Trennung eines ›lyrischen Ich‹ vom empirischen Ich des Autors voraussetzt. Ziel ist hier die Etablierung eines Schemas, anhand dessen sich Metaphorizität in der Vermittlung des literarischen Mediums identifizieren lässt. Während in der erzählenden Literatur typischerweise ein mehr oder weniger profilierter ›Erzähler‹ eine textinterne Entsprechung zum Autor bietet, welche die Handlung an den Rezipienten vermittelt, verschwindet im Drama der Autor gänzlich aus dem Blickfeld, und die Handlung wird direkt an den Rezipienten kommuniziert. Poetologisch interessant wird damit vor allem die ›Grenze‹ zwischen der ›Welt‹ der szenischen Handlung und der ›Welt‹ der empirischen Rezipienten. Die Differenz wird am deutlichsten durch die räumliche Differenz hergestellt: Die Schauspieler bewegen sich typischerweise auf einem vom Raum des Zuschauers getrennten Platz, wobei die räumliche Grenze der abstrakteren Grenze zwischen ›textinterner‹ und ›textexterner‹ Zeit und Handlung entspricht. Zum metaphorischen ›Rahmen‹ werden die Grenzen des »Schauplatzes« bei Georg Philipp Harsdörffer, wenn er das Drama als »lebendiges Gemälde« auffasst. Für ihn ist das Drama ein Mittel, auch jene zu erreichen, die mittels der Schrift nicht erreichbar sind. Ziel ist, dass man denen / welche theils nicht lesen wollen / theils nicht lesen können / die Liebe zur Tugend / durch ein lebendiges Gemähl aufstellet / vor- und einbildet. Ich sage ein lebendiges Gemähl; massen die Rede nicht bilden / das Bild aber nicht reden kan / beedes aber durch die lebendigen Personen deß Schauplatzes ausgewürket wird.166
Harsdörffer rekurriert hier wohl auf den durch Plutarch überlieferten und später von Lessing aufgegriffenen Ausspruch von Simonides, »daß die Malerei eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei sei«.167 Die 166 Harsdoerffer 1969, 2. Teil, S. 72 f. 167 Lessing 1985 ff., Bd. 5/2, S. 14 (Laokoon, Vorrede). Überliefert wurde der Ausspruch des Simonides u. a. durch Plutarch; zitiert wird er 1766 von Winckelmann (vgl. die Anmerkung des Herausgebers, ebd., S. 736). Philip Sidney definiert 1595 mimesis u. a. als »speaking picture«: »Poesy therefore is an art of imitation, for so Aristotle termeth it in his word mimesis, that is to say, a representing, counterfeiting, or figuring forth – to speak metaphorically, a speaking picture – with this end, to teach and delight« (Sidney 2002, S. 86). Deutlich wird
3. Medien der Dichtung
233
Metapher vom Drama als ›Gemälde‹ fokussiert dessen visuellen Aspekt, der erst die aus moralischen Erwägungen heraus wünschenswerte Kommunikation mit ungebildeten Zuschauern ermöglicht. Es dürfte hier eine Verbindung zur Debatte um den Status des Dramas in der Antike zu sehen sein: Platon und Aristoteles gehen von einer Breitenwirkung des Dramas aus, die erst durch die Inszenierung erreicht wird, und Aristoteles sucht das Drama bezeichnenderweise durch die Ausschaltung der Inszenierung aufzuwerten. Der ›Schauplatz‹ ist in der frühen Neuzeit eine der zentralen Metaphern für die Vermittlung der Scheinhaftigkeit der physischen Welt. Die räumliche Insubstanzialität und zeitliche Vergänglichkeit des Lebens erhält hier anschauliche Gestalt, und Gott wird als allein ›wirkliches‹ Publikum vorstellbar. Gerade die mit den Konventionen des Dramas künstlich stilisierte Darstellung von Ort, Zeit und Handlung verdeutlicht auf diese Weise die ›wirkliche‹ Beschaffenheit dieser Welt: vanitas. Explizit ist dieser Bezug in der Vorrede zu Leo Arminius, dem ersten Trauerspiel von Andreas Gryphius, in dem er die physische Wirklichkeit des kriegsverheerten Vaterlandes mit der Metapher vom »Schauplatz der Eitelkeit« evoziert, um die Metapher zugleich zur metaphysischen Wirklichkeit zu erklären: Großgünstiger Leser. Indem unser gantzes Vatterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / vnd in einen Schawplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich so geflissen dir die vergänglichkeit menschlicher sachen in gegenwärtigem / vnd etlich folgenden Trawerspielen vorzustellen.168
Wirkungsvoll ist die Metapher vom ›Schauplatz‹ hier aufgrund der Tatsache, dass sie aus weltlicher Perspektive den realen Schauplatz des Dramas und den metaphorischen Schauplatz der Wirklichkeit bezeichnet und sub specie aeternitatis die weltliche Wirklichkeit als irrealen Schauplatz offenbart. Auf diese Weise vermittelt die Metapher dem Rezipienten die für die Poetik des Barockdramas zentrale Spannung zwischen Schein und Sein. In Bezug auf das Drama hat die Frage des Vermittlungsmediums besondere poetologische Bedeutung, da nicht eindeutig ist, inwieweit die Performanz als Teil der ›Dichtung‹ zu gelten hat, zumal Aristoteles die Inszenierung der ›Kunstlosigkeit‹ bezichtigt und erklärt: »Die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande.«169 Es ergibt sich hier eine interessante Verbindung zu Schillers anfänglicher Ablehnung einer Inszenierung von Die Räuber, wiewohl er in diesem Kontext gerade hier am Ende die Verquickung auch mit der horazischen Poetik, die mit der Formel »ut pictura poesis« (Horaz 1984, S. 26 f.; V. 361) einen entsprechenden Vergleich liefert. An diesem Beispiel lässt sich die nuancenreiche Abwandlung antiker Topoi verfolgen, die sich für unterschiedliche Argumente einsetzen lassen und kontextspezifisch ihre Bedeutung verändern. 168 Gryphius 1963 ff., Bd. 5, S. 3 (Leo Arminius, Vorrede). 169 Aristoteles 1994, S. 24 f. (Kap. 6; 1450b).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
die Ablehnung aristotelischer Konventionen geltend macht. Während Aristoteles die Tragödie über das Epos erhebt und die Komprimiertheit und Einfachheit ihrer Handlung als Vorzug für das Ziel der mimesis herausstellt, erstrebt Schiller eine »dramatische Geschichte«, um besser der »Natur der Dinge« zu entsprechen:170 Man nehme dieses Schauspiel für nichts anders, als eine dramatische Geschichte, die die Vorteile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benutzt, ohne sich übrigens in die Schranken eines Theaterstücks einzuzäunen, oder nach dem so zweifelhaften Gewinn bei theatralischer Verkörperung zu geizen. […] Hier war Fülle ineinandergedrungener Realitäten vorhanden, die ich unmöglich in die allzuenge Palisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen konnte.171
Die gegen die Konventionen des klassizistischen Dramas gerichteten Metaphern der ›Schranken‹ und ›Palisaden‹, des ›Einzäunens‹ und ›Einkeilens‹ – Schiller lehnt vor allem die zeitliche Einheit von »vier und zwanzig Stunden« ab172 – beziehen sich letztlich auf die im obigen Diagramm gezogene ›Grenze‹ zwischen der textinternen szenischen Handlung und der textexternen Realität des Zuschauers. Trotz seiner Entgrenzungsmetaphorik erkennt Schiller jedoch diese Grenze an, wenn er nicht die Realität selbst, sondern »eine Kopie der wirklichen Welt«173 anstrebt und Charaktere, Handlung, Zeit und Ort »der Natur […] getreu« darzustellen sucht.174 Die metaphorische Identifikation von Inszenierung mit »Verkörperung« entspricht der platonischen Tradition: Wie der vom moralisch minderwertigen Menschen erstrebte materielle »Gewinn« ist die Inszenierung eine äußerliche Verführung, die von der Idee ablenkt. Ähnlich wie Platon misstraut Schiller insbesondere dem »Pöbel«, dem die »Geisteskraft« fehlt, dem inszenierten Laster zu widerstehen.175 Ziel seiner Vorrede ist einerseits die Rechtfertigung der anti-aristotelischen Form und andererseits die Entkräftung der Kritik an seinem moralisch brisanten Werk. Fokussiert wird hier nicht wie bei Harsdörffer der visuelle Aspekt des Dramas, sondern der psychologischemotionale Aspekt, der den ›Rahmen‹ aus dem Bewusstsein des Zuschauers schwinden lassen kann und eine moralisch potenziell gefährliche Identifikation ermöglicht. So wie Schiller in der Vorrede zu seinem ersten Schauspiel will auch Brecht in seiner Theorie vom epischen Theater die Identifikation des Zuschauers mit dem Dargestellten vermeiden, wobei nun ein politisches 170 Schiller 1988–2004, Bd. 2, S. 15 (Die Räuber, erste Auflage, Vorrede). Vgl. auch die unterdrückte Vorrede, ebd., S. 161–165, und den Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 892–894. 171 Ebd., S. 15. 172 Ebd. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 19. 175 Ebd., S. 18.
3. Medien der Dichtung
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Ziel im Vordergrund steht, dessen Verwirklichung die gezielte Steuerung der rationalen und emotionalen Prozesse des Rezipienten erfordert. Brecht eliminiert jedoch nicht den performativen Aspekt, sondern verstärkt vielmehr dessen Kunstcharakter, indem er mit allen Mitteln der Inszenierung die Differenz zwischen Dichtung und Wirklichkeit in den Vordergrund rückt. Wenn Brecht die Profilierung dieser Differenz mit vielerlei szenischen Mitteln als »episch« bezeichnet und erklärt, dies käme der Einführung eines »Erzählers« gleich,176 so sind diese Begriffe metaphorisch zu verstehen, denn es handelt sich hier keineswegs um eine Vermischung von Gattungen, sondern um Techniken, die nur in der Inszenierung ihre Wirkung entfalten. Sie entsprechen insofern dem ›Erzähler‹, als sie einen ›Rahmen‹ schaffen, der zwischen szenischer Handlung und empirischer Welt vermittelt; der szenische Charakter dieses Rahmens wird jedoch besonders dann deutlich, wenn er wie in Die Maßnahme oder Der kaukasische Kreidekreis als Rahmenhandlung szenische Gestalt annimmt. Ebenfalls der Profilierung dieser Differenz dient die Metaphorik der ›Fremdheit‹ – so in den Begriffen »Entfremdung« und »Verfremdung«.177 Deutlich wird dies in der Behältermetaphorik, mittels derer Brecht die ›Position‹ des Zuschauers in der »dramatischen Form des Theaters« einerseits und der »epischen Form« andererseits bestimmt: »Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt« und »steht mittendrin« – »er wird gegenübergesetzt« und »steht gegenüber«.178 Die physische Differenz zwischen dem Raum des empirischen Zuschauers und dem Raum der szenischen Handlung wird hier auf die mentale Beziehung des Zuschauers zur Handlung übertragen. Poetologische Bedeutung erhält die Ausgrenzungsmetapher erst aus dem Bezug zur aristotelischen Tradition heraus, welche die emotionale Wirkung des Dramas betont hatte und die Behältermetapher der ›Einfühlung‹ zur vorherrschenden Norm hatte werden lassen. Im inszenierten Drama sprechen die Figuren unabhängig vom Autor oder einer vermittelnden ›Rahmen‹-Instanz, und es besteht zumeist eine deutliche Differenz zwischen dem Raum und der Zeit der szenischen Handlung einerseits und dem Raum und der Zeit der empirischen Welt des Zuschauers andererseits. Die Differenz lässt die Scheinhaftigkeit beziehungsweise Fiktionalität des Dargestellten gerade deshalb deutlich werden, weil die Schauspieler und die Zuschauer sich physisch zur gleichen Zeit im gleichen Raum befinden. In der schriftlich vermittelten erzählenden Literatur und insbesondere in der Lyrik dagegen wird der empirische Autor potenziell zu einem bedeutenden, aber kaum eindeutig zu bestimmenden Faktor im 176 Brecht 1988–2000, Bd. 22, S. 108 (Vergnügungstheater oder Lehrtheater?). 177 Ebd., S. 211 (Episches Theater, Entfremdung); Bd. 23, S. 81 (Kleines Organon für das Theater) u.ö. 178 Ebd., Bd. 24, S. 78 (Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
kommunikativen Prozess. Die zeitliche und räumliche Beziehung zwischen der szenischen Handlung und der empirischen Welt des Rezipienten ist flexibel und verändert sich je nach Rezeptionskontext. Zentrales sprachliches Mittel für die Vermittlung der textinternen Kommunikationssituation sind deiktische Sprachelemente, vor allem Pronomina, Tempus sowie Zeit- und Raumadverbien. Metaphorische Kraft entfalten diese vor allem im schriftlichen Werk, wie aus dem folgenden Beispiel hervorgeht, wo das Medium selbst als kommunizierendes ›Ich‹ personifiziert ist: Wer hât mich guoter ûf getân? sî ez iemen der mich kan beidiu lesen und verstên, der sol genâde an mir begên, ob iht wandels an mir sî, […]179 (Wer ist der Gute, der mich geöffnet hat? Wenn es jemand ist, der mich sowohl lesen als auch verstehen kann, so soll er mir gnädig sein, sofern ich Mängel habe […])180
Am Anfang des Prologs zu Wirnt von Grafenbergs Artus-Roman Wigalois der Ritter mit dem Rade (um 1210–1225) redet das Buch selbst.181 ›Angesprochen‹ sind die im 13. Jahrhundert sich mehrenden lesefähigen Rezipienten; für die Analphabeten folgt ein alternativer Prolog, in dem das Ich des Autors beziehungsweise Erzählers ein »hörendes« Publikum anspricht: »Nu wil ich iu ein maere | sagen.«182 Damit wird den spezifischen Rezeptionsbedingungen im 13. Jahrhundert Rechnung getragen: Typisch ist für die Rezeption vieler Gattungen in dieser Zeit das Nebeneinander von privatem (meist lautem) Selbstlesen und kollektivem Zuhören.183 Die Anrede an ein hörendes Publikum setzt die Vermittlung durch den Vortragenden voraus: Das sprechende »ich« ist im Prozess des Vortragens nicht (metaphorisch) der tatsächlich schreibend kommunizierende Autor, sondern (wörtlich) der Sänger. Fortgeführt wird damit die bis in die Zeit der Völkerwanderung zurückreichende Tradition des mündlichen Vortrags von Heldenepen,184 wobei allerdings die Gattung selber im Moment der Verschrift179 Wirnt 1926, S. 1 (V. 1–5). 180 Übersetzung nach Coxon 2001, S. 30. 181 Vgl. ebd., S. 29 f. Curschmann erörtert anhand dieses Passus die grundsätzlich komplexe Bedeutung des ›Lesens‹ in Bezug auf mittelalterliche Literatur (Curschmann 1984, bes. S. 225–229). 182 Wirnt 1926, S. 7 (V. 130–132). 183 Vgl. Curschmann 1984, bes. S. 225, und ausführlich Green 1994, bes. S. 203–233 und 270–315. 184 Haug betont die »ungebrochene Kontinuität« dieses mündlichen Typus von der Völkerwanderungszeit im 4./5. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert (Haug 1995, S. 60). Die akustische Realisierung und die kollektive Rezeption ist noch für Klopstocks religiöses ›Heldenepos‹ »Der Messias« poetologisch zentral, vgl. Kohl 2000, S. 66–68 und 135 f.
3. Medien der Dichtung
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lichung eine entscheidende Umwandlung erfährt: An die Stelle des durch mündliche Wiederholung tradierten Handlungsgerüsts mit improvisiertem Detail tritt der in seiner Gesamtheit stabile Text.185 Die Kommunikation zwischen dem empirischen Autor des schriftlichen Textes und dem empirischen Leser im oben zitierten Prolog ist durch räumliche und zeitliche Distanz geprägt. Gerade diese wird jedoch ausgeschaltet, indem der Autor das Buch selber mit dem Leser sprechen lässt, der es soeben öffnet. Er situiert den kommunikativen Akt damit genau an der Grenze zwischen textexterner und textinterner Kommunikation: Das physische, textexterne und zugleich metaphorische, textinterne Buch kommuniziert mit dem textinternen und zugleich textexternen Leser. Die aus heutiger Perspektive eher als witzig kunstvolles »Konzetto« erscheinende Personifikation186 lässt sich dann insofern wörtlich auffassen, als die Kommunikation zwischen Text und Leser wirklichkeitsgetreu der Rahmenkommunikation zwischen Vortragendem und Hörer entspricht. Motiviert wäre die Übertragung des auktorialen Ich auf das Buch somit nicht primär durch die Faszination mit volkssprachlicher Schriftlichkeit,187 sondern durch die Suche nach einer angemessenen Übertragung bekannter Kommunikationsmuster auf neue Rezeptionsbedingungen. Metaphorisch sind die Verse insofern, als sie das »ich« vom lebenden Autor auf das leblose Buch übertragen. Dieser Prozess entspricht jedoch der Übertragung des »ich« vom Autor, der das Werk schriftlich fixiert hat, auf den mündlich mit dem hörenden Rezipienten kommunizierenden Sänger. Bei beiden Prologen handelt es sich somit um textinterne Rahmenkommunikation, mit welcher der empirische Autor dem empirischen Rezipienten sein Werk auf angemessene Weise vermittelt und ihn auf den jeweiligen Rezeptionsmodus einstimmt. Poetologisch bedeutsam sind beide Prologe, denn sie situieren das Werk in der Öffentlichkeit und maximieren seine Wirkung zu einer Zeit, wo zwar das lesefähige Publikum zunahm, die mündlich vermittelte Heldendichtung jedoch weiterhin in höfischen Kreisen und selbst bei der Geistlichkeit einen hohen Status innehatte.188 Die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bleibt bis in die Gegenwart erhalten und wird besonders in der schriftlich vermittelten Lyrik auf verschiedenste Weise poetologisch eingesetzt. Virtuose Kunstfertigkeit demonstriert Johann Burkhard Mencke in seinem 1706 veröffentlichten Gedicht Kein Sonnet, indem er durchgängig die Spannung zwischen mündlicher und schriftlicher Dichtkunst aushält:
185 186 187 188
Vgl. Haug 1995, bes. S. 65. Vgl. Coxon 2001, S. 30. Er versteht den Passus als »conceit« (ebd.). Ebd. Vgl. Haug 1995, S. 60.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Kein Sonnet. Poësies de Voiture p. 66. Bey meiner Treu es wird mir angst gemacht: Ich soll geschwind ein rein Sonnetgen sagen, Und meine Kunst in vierzehn Zeilen wagen, Bevor ich mich auff rechten Stoff bedacht; Was reimt sich nun auff agen und auff acht? Doch eh ich kan mein Reim-Register fragen, Und in dem Sinn das A B C durchjagen, So wird bereits der halbe Theil belacht. Kan ich nun noch sechs Verse darzu tragen, So darff ich mich mit keinen Grillen plagen: Wolan da sind schon wieder drey vollbracht; Und weil noch viel in meinem vollen Kragen, So darff ich nicht am letzten Reim verzagen, Bey meiner Treu das Werck ist schon gemacht.189
Titel und Untertitel stellen das Gedicht in die Tradition des Sonetts sowie der galanten Poesie – Mencke verweist auf ein Rondeau über die Entstehung eines Rondeaus von Vincent Voiture.190 Handlung ist die Dichtkunst selbst. Präsentiert wird sie als Gesellschaftsspiel, das die Fähigkeit des galanten Dichters, »in der ausarbeitung hurtig« zu sein,191 auf die Probe stellt – humorvoll thematisiert ist die »angst« vor dem Versagen angesichts der öffentlichen Erwartung. Dichtung wird hier dem Leser als Zeitvertreib dargeboten, bei dem sich geistige Agilität, Witz und Kunstfertigkeit im Ziel der geselligen Unterhaltung treffen. Das Gedicht vermittelt somit die Poetik der galanten Poesie. Geprägt ist das Gedicht durchgängig von Zweideutigkeit, welche die Aufmerksamkeit auf sein Medium lenkt. Schon der Titel eröffnet zwei Interpretationsmöglichkeiten: »Kein Sonnet« ist ironisch zu verstehen, denn es liegt ein mit seinen 14 Versen schon visuell erkennbares Sonett vor; zugleich reflektiert der Titel, prozessual verstanden, die Wahrheit, denn am Anfang der ›Handlung‹ existiert noch kein Sonett. Zweideutig sind auch die Kommunikationssituation und das Medium. Einerseits zeigt sich der Dichter mündlich vortragend im geselligen Kreis des gegenwärtig zuhörenden Publikums (»so wird bereits der halbe Theil belacht«) und stellt den Prozess des 189 Mencke 1706, S. 202. Der Leipziger Mencke (1674–1732) war hochgelehrt: Er war seit 1699 Professor der Geschichte, gründete 1722 die »Deutschübende poetische Gesellschaft« (ab 1727 »Deutsche Gesellschaft«) und führte die von seinem Vater Otto Mencke begründete erste wissenschaftliche Zeitschrift Deutschlands fort, die »Acta Eruditorum« (vgl. Kosch 1968 ff., Bd. 10, Sp. 819 f., Mencke, Johann Burkhard, und Mencke, Otto). 190 Menckes Seitenangabe zufolge handelt es sich bei Voitures Rondeau um »Ma foy c’est fait de moy, car Isabeau […]« in Voiture 1686, Bd. 2, S. 66 f.; es erscheint in einem getrennt paginierten Teil des 2. Bandes mit dem Titel »Poësies de Monsieur de Voiture«. Vgl. Rondeau Nr. 43 in der kritischen Ausgabe Voiture 1971, Bd. 2, S. 123 f. 191 Neukirch 1961, S. 18 (Vorrede). Diese Fähigkeit hebt Neukirch als ein Kennzeichen des galanten Dichters hervor (ebd.).
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Dichtens als spontanen Vorgang zur Schau: Das Sonett entsteht aus der im Titel »Kein Sonnet« erfassten Ausgangssituation und kulminiert im fertigen »Werck« und dem Wort »gemacht«, wobei der Dichter seine Unabhängigkeit von Hilfsmitteln betont; statt aus dem »Reim-Register« holt er die Reime aus dem Kopf (seinem »vollen Kragen«). Andererseits stellt sich der Dichter explizit in eine schriftliche Tradition und kommuniziert schriftlich unter Verweis auf schriftliche Hilfsmittel mit dem künftigen Leser. Die Angabe der Seitenzahl von Voitures Werk legt seine Arbeit mit einem existierenden Text offen, und die Thematisierung des »Reim-Registers« betont die habituelle Benutzung eines schriftlichen Referenzwerks. Auf diese Weise spielt das Gedicht gleichermaßen mit den Möglichkeiten der Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Spontaneität und kunstvollen Ausarbeitung. Beim Lesen zeigt sich die Prozessualität des dichterischen Prozesses, während die abschließende Aussage die Objekthaftigkeit des fertigen Gedichts hervorhebt. Der mit dem Verb »sagen« bezeichnete mündliche Modus ist in diesem schriftlich vermittelten Text metaphorisch zu verstehen, zugleich jedoch Teil der Inszenierung des mündlichen Vortrags. Der Begriff der Fiktion greift hier nicht, denn es fehlt der »Stoff«, und die Zweideutigkeit wirkt sowohl der Glaubwürdigkeit als auch der Natürlichkeit entgegen. Das Gedicht thematisiert selbstreflexiv nur sich selbst als Prozess und Werk, ohne eine geschlossene, illusionäre Welt aufzubauen, die von der Wirklichkeit klar getrennt wäre. Die Identität des Autors bleibt zwischen dem wirklichen Namen und dem Pseudonym »Philander von der Linde« in der Schwebe, es ist jedoch nicht möglich – und es besteht kein Grund – das kunstfertige sprechende/schreibende Ich kategorisch vom kunstfertigen Autor zu trennen. In Bezug auf das obige Kommunikationsmodell lässt das Gedicht gewissermaßen den Handlungsraum leer; gleichwertig ausgestaltet und komplex zueinander in Bezug gesetzt sind dagegen sowohl die mündlich erfolgende, inszenierte Rahmenkommunikation als auch ein weiterer textinterner Rahmen, der mittels schriftlicher Requisiten einen fließenden Übergang zur empirischen Kommunikation schafft. Die poetologische Aussagekraft des Gedichts verdeutlicht ein Vergleich mit Robert Gernhardts Sonett Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs:192 Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen; […]193 192 Gernhardt 2002b, S. 164. 193 Ebd. (V. 1–5).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Auch hier wird Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Gegensatz gebracht, aber durch andere Mittel und mit anderem Ziel als bei Mencke. Die Spannung entsteht aus dem Kontrast zwischen der formalen Befolgung der Gattungskonventionen dieser »bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs« und der sprachlich vermittelten »Kritik«: Die Schriftform macht die traditionsreiche Gattung durch die visuelle Unterteilung in Quartette und Terzette schon auf den ersten Blick erkennbar und wird durch das erste Wort bestätigt, die Wortwahl und der Stil jedoch etablieren das Gedicht in der unmittelbaren Gegenwart und in einem gesellschaftlichen Kontext, der solch traditionelle Lyrik gerade nicht pflegt. Die Spannung setzt sich bis ins ironisch gebrochene Ich hinein fort: Das textintern sprechende Ich ist identisch mit dem im Text besprochenen »abgefuckten Kacker«, der »Sonette schreibt« und das Ich »mittels seiner Wichserein blockiert«.194 Auch bei Gernhardt soll der witzige Effekt poetologisch wirksam sein, wie sein Plädoyer für kunstfertige, traditionsbewusste, aber dennoch verständliche und zeitbezogene Lyrik in seinem Band Gedanken über Gedichte nahelegt sowie auch seine These, »daß die gelungeneren [Werke der Lyriker] nicht dunkel und schwierig sein müssen, sondern hell und schnell sein können«.195 Aus dieser Perspektive heraus regt das Gedicht ohne größeren Arbeitsaufwand seitens des Lesers zur Reflexion über lyrische Tradition und ihre aktuelle Bedeutung an. Die Verknüpfung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist Teil von Gernhardts Programm, wie auch aus dem ersten Gedicht in seiner Sammlung Wörtersee hervorgeht. Es ist in moderner Schreibschrift präsentiert und beginnt antikisierend mit der odischen Apostrophe »Komm, erstes Wort«.196 Auch rein akustisch vermag seine Lyrik zu wirken, wie seine vielbesuchten Lesungen bezeugen. Die Tradition der gesellig spontanen Produktion von Lyrik, wie Mencke sie darstellt, wie sie aber auch als Manifestation der »Natur« in der »ohne Kunst und Unterricht« dichtenden Anna Louisa Karsch bewundert wurde,197 wird um die Jahrtausendwende in Poetry-Slam Veranstaltungen aktualisiert, bei denen Geschick im Umgang mit dem poetischen Medium und vor allem die hurtige Ausarbeitung im Vordergrund steht.198 In Gegensatz zur gemeinschaftlichen Rezeption, die von der performativen Dimension der Dichtung vorausgesetzt wird, eröffnet die schriftliche 194 195 196 197
Ebd. (V. 9, 4 und 10). Gernhardt 2002a, S. 11. Gernhardt 2002b, S. 9. Vgl. Sulzers Vorrede zu den 1764 veröffentlichten »Auserlesenen Gedichten« der Karschin (Sulzer 1966, S. 9). 198 Vgl. die CD-Veröffentlichungen zu Poetry-Slam Veranstaltungen, z. B. die Live-Mitschnitt/ Montage »Poetry Slam 2001. Literatur! Live, direkt und spontan« (Lass, Nurtjipta u. a. 2002). S. u., S. 656–661.
3. Medien der Dichtung
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Form die Möglichkeit der individuellen, kontemplativen Rezeption. Das kontemplative Potenzial der Schriftform lässt sich in visuellen Begräbnisgedichten verfolgen, die in der Barockzeit einen wichtigen Teil von Funeralschriften bildeten. So ist das möglicherweise von einem Verwandten verfasste Gedicht auf Maria Helena Tetzel (1639–1676) in Form eines piktoral ausgestalteten Kreuzes dargestellt, das auch die Form der Verse bestimmt: Im Querholz stehen Langverse, im Stamm Kurzverse, und die jeweils in ein dreiblättriges (aber mit dem ›Stiel‹ kreuzförmiges) Kleeblatt mündenden vier Enden enthalten wiederum Texte.199
Gedicht auf die 1676 verstorbene Maria Helena Tetzel 199 R.B.T. 1987. Vgl. die Ausführungen der Herausgeber, ebd., S. 65.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Auf vielfältigste Weise stimuliert das Kreuz über den Text hinaus die Kontemplation: Das dreiblättrige Kleeblatt ist Sinnbild der Dreifaltigkeit und das vierblättrige Kleeblatt Sinnbild des Kreuzes Christi; an den Enden des Querholzes sind Christi Hände und am unteren Ende seine Füße jeweils mit den Stigmata dargestellt, während oben ein Totenschädel mit dem Lorbeerkranz als Symbol des ewigen Lebens durch Christus abgebildet ist. Das Muster der imitatio Christi regt den Leser an, sich die Vergänglichkeit des Lebens und die Bedeutung der Erlösung durch Christus zu vergegenwärtigen. Unter dem Kreuz ist als eine Art Sockel der Sarg abgebildet, auf dessen Front wiederum Verse stehen. Sie kulminieren in der Aufforderung des trauernden Ehegatten an den Leser zur compassio: »Laß Leser mir zu Lieb ein Perlen-Pärlein fliesen.«200 Indem er am ›Fuße‹ des Kreuzes weint, wird der Leser zu einem der Klagenden am Kreuze. Der Appell wird damit zu einer Anweisung, wie der Leser den Text zu rezipieren hat; der Sinn ergibt sich erst aus der Zusammenwirkung von Vers und Bild im Akt der Kontemplation. Die Bezeichnung ›Leser‹ bezieht sich wörtlich auf den empirischen Rezipienten der Funeralschrift; die Rede des mit den Versen evozierten Ehemannes wird damit im schriftlichen Kontext metaphorisch. Metaphorisiert wird jedoch über die Verbindung zwischen Wort und Bild auch der Leser selbst, wenn er sich gewissermaßen mittels seines inneren Auges als Klagender in das Muster der imitatio Christi einfügt.201 Die Möglichkeiten einer Belebung der individuellen Imagination durch die Schrift werden vor allem in der Romantik ausgeschöpft, wobei sowohl das Schreiben als auch das Lesen als spezifisch individueller Akt Profil gewinnt. So findet der einzelgängerische Student Anselmus in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf über das Schreiben für den Archivarius Lindhorst einen magisch-mystischen Zugang zu Atlantis; Atlantis aber, so offenbart abschließend der Archivarius dem Verfasser des Werkes, ist eine Metapher: »Still still Verehrter! klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?«202
Der Leser ist während der ersten drei »Vigilien« außenstehender Zeuge einer Handlung, die durch einen unauffälligen Erzähler dargestellt ist. Am Anfang der vierten Vigilie jedoch richtet plötzlich der Erzähler beziehungsweise textinerne Verfasser des Werkes das Wort an den »günstigen Leser«,203 womit ein vollständiger Rahmen für die Handlung geschaffen wird, der 200 Adler, J./Ernst 1987, S. 64. 201 Die vielfältigen, für jede Zeit und letztlich jeden Text unterschiedlichen Wirkungen des Zusammenspiels zwischen Text und Bild verdeutlichen die Beiträge in Harms 1990. 202 Hoffmann 1985 ff., Bd. 2/1, S. 321 (Der goldne Topf, 12. Vigilie). 203 Ebd., S. 250 (4. Vigilie).
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zunehmend in den Vordergrund rückt und am Ende des Werkes die Handlung mit dem Protagonisten Anselmus verdrängt; die szenische Handlung wird zum poetologischen Bild verdichtet. Indem der Archivarius in der zwölften und letzten Vigilie zunächst schriftlich mittels eines Briefes an den Verfasser in die Rahmenkommunikation eingreift und dann persönlich aus der Handlung in den erzählerischen Rahmen eintritt, wird auch dem Leser bewusst gemacht, dass er jederzeit Zugang zum »Leben in der Poesie« haben kann – und dass er im Prozess des Lesens bereits in dieses Leben eingetreten ist. Denn der Verfasser hat seine schriftlichen Künste wirksam eingesetzt, um dem »geneigten Leser« »den Studenten Anselmus recht lebhaft vor Augen zu bringen«204 – thematisiert ist damit die evidentia – und ihn zu überzeugen, dass nicht die rationalistisch platte Sichtweise der philisterhaften Bürger Dresdens, sondern die irrationale Sichtweise des Anselmus die Wahrheit birgt. Die Wirkmächtigkeit des biblischen Wortes ist in diesem »Märchen aus der neuen Zeit«205 auf die Poesie übertragen: Mit der Aufforderung »glaube, liebe, hoffe!« befähigt die holde Serpentina – poetische Antwort auf den biblischen Satan – Anselmus zur Befreiung und Erkenntnis.206 Indem Anselmus jedoch zunehmend von einer fiktionalen Figur zum Exempel für den Weg zur poetischen Erkenntnis wird, bringt das Werk den Leser dazu, sich der Poesie zu verschreiben. Denn romantische Einzelgänger sind nicht nur der textinterne Verfasser, der nachts in seinem einsamen »Dachstübchen« das Werk schreibt,207 und der weltfremde, unter Anleitung von Lindhorst das poetische Schreiben lernende Anselmus, der »in ein träumerisches Hinbrüten« gerät, »das ihn für jede äußere Berührung des gewöhnlichen Lebens unempfindlich« macht.208 Vorausgesetzt und gefordert wird auch der einzelgängerische, weltfremde und nach Höherem strebende Rezipient, wenn der Verfasser am Anfang der vierten Vigilie dem personifizierten Leser suggeriert, er habe wie Anselmus sicherlich die Entfremdung vom Gewühl der Welt erfahren: »Du schlichst mit trübem Blick umher wie ein hoffnungslos Liebender […].«209 Im Akt des Lesens wird auf diese Weise zunehmend die Phantasie aktiviert, um eine Vorstellung von der Macht und Bedeutung der Poesie zu vermitteln. Die Vision des Verfassers von Atlantis kulminiert in der ans Pfingstfest erinnernden Verherrlichung des Anselmus mit »flammenden Strahlen über seinem Haupte«.210 Ähnlich wie damals die natürlichen Sprachen transzen204 205 206 207 208 209 210
Ebd., S. 251. Ebd., S. 229 (Untertitel). Ebd., S. 305 (10. Vigilie). Ebd., S. 321 (12. Vigilie). Ebd., S. 252 (4. Vigilie). Ebd., S. 251. Ebd., S. 320 (12. Vigilie).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
diert wurden, erfährt der Verfasser nun sein Schreiben als synästhetisches Transzendieren des schriftlichen Mediums und der bewussten Autorschaft: »Da erhebt Anselmus das Haupt wie vom Strahlenglanz der Verklärung umflossen! – sind es Blicke? – sind es Worte? – ist es Gesang?«211 Das Schreiben erfolgt als automatischer Prozess, der erst im Nachhinein – nun wieder im Imperfekt – wahrgenommen wird: »Herrlich war es, daß ich [die Vision …] recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben fand.«212 Der Verfasser hat seine Inspiration aus dem goldnen Topf geschöpft, der romantischen Entsprechung zum Heiligen Geist und der antiken Quelle der Musen; humorvoll angereichert wird die Wirkung des Getränks durch die »Kunst« des Archivarius, der kurzerhand ohne Schlafrock hineingestiegen ist. Inspiration liefert der Trunk nicht nur dem Dichter, sondern auch seinem »Freund« – und musikalischen Alter Ego Hoffmanns –, dem Kapellmeister Johannes Kreisler.213 Indem »das Leben in der Poesie« den »heiligen Einklang« der Natur offenbart, sind Natur, Kunst und Religion eins geworden. Vereinigt sind auch die Künste in ihrem Ursprung und Ziel. Das Werk ist somit geradezu ein Fest der imaginativen Übertragungen und poetischen Verwandlungen. Es thematisiert den physischen Prozess des Schreibens sowie dessen imaginative Ausblendung im Augenblick der durch die Schrift ermöglichten unmittelbaren Erfahrung. Statt die Trennung zwischen der empirischen Realität und der durch ›Wahrscheinlichkeit‹ gekennzeichneten Kopie aufrechtzuerhalten und beide mittels einer konstanten Erzählerinstanz und plausiblen Darstellung aufeinander zu beziehen, rückt Hoffmann zunehmend den erzählerischen Rahmen in den Vordergrund, um eine Welt der Kunst zu evozieren, die Realität und Fiktion in der künstlerischen Imagination eins werden lässt. Übertragungen und Verbindungen zwischen Disziplinen und Künsten entwickeln besonders in der Romantik poetologische Bedeutung, da sie eindrucksvoll rationalistischen Grenzziehungen entgegengewirken. Sie sind jedoch zu allen Zeiten zu finden, und die Verbindung der Dichtung mit anderen Künsten ist ein immer wieder aktualisierter und abgewandelter Topos. Je nach den poetologischen Voraussetzungen und Zielen werden unterschiedliche Allianzen aktualisiert und erprobt, mit denen sich Aspekte der Dichtung profilieren und strukturieren lassen; solche Verbindungen sind eine bedeutende Quelle der Innovation. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden; es werden jedoch im Folgenden immer wieder solche Übertragungen und Verbindungen zur Sprache kommen. Skizziert werden soll abschließend nur die Verbindung der Dichtung als Wort, Schrift 211 Ebd. 212 Ebd., S. 321. 213 Ebd., S. 318.
3. Medien der Dichtung
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und Performanz mit digitalen Medien, denn mit dieser neuen technischen Möglichkeit ist potenziell auch eine neue ›Sprache‹ entstanden, die neue Prozesse der Produktion und Rezeption von Literatur ermöglicht.214 Von besonderem Interesse ist die digitale Literatur im gegenwärtigen Zusammenhang, weil die Metaphorizität in dieses ›virtuelle‹ Medium ›eingeschrieben‹ ist. Zudem ist der Computer am Anfang des 21. Jahrhunderts als literarisches Medium noch so selbstreflexiv neu, dass digital vermittelte Dichtung immer auch ein – oft breit kommentiertes – poetologisches Experiment mit den Möglichkeiten des Mediums ist. Der Computer ergibt eine andere poetologische Konstellation als das mündliche oder schriftliche Medium, anders auch als die Verbindung des Textes mit Bild, Film, Musik oder Tanz, zumal mehrere Wahrnehmungsformen gleichzeitig involviert sein können. Die Maschine nimmt die Stelle des Schrift- oder Tonträgers ein, schafft jedoch eine flexiblere Zeitstruktur und einen ›Raum‹, der über die Fläche des Bildschirms einen global unbegrenzten virtuellen Raum eröffnet. Während im Buch die Schrift gegenüber der hörbaren Stimme als Abstraktion erscheint, die in der imaginativen Konstruktion der Stimme und/oder der Wirklichkeit durch den Leser fast unmerklich konkretisiert wird, ist hier der Prozess der Rezeption eher bewusst interaktiv, und die Entfernung der Virtualität von der Realität wird zum besonderen Reiz. Erwartet wird nicht der stabile Text, sondern der textuelle Raum, in den sich der Rezipient einschaltet, um Bild, Schrift und Ton zu aktivieren. Dass es auch hier eine Tradition gibt, an die sich anknüpfen lässt, zeigt besonders die visuelle Poesie, die den Leser zum nicht-linearen Lesen herausfordert.215 Die elektronischen Medien gehen allerdings weit über das mit der statischen Schrift Mögliche hinaus. Lediglich angedeutet sei dies hier mit der folgenden Beschreibung des Hypertexts Looppool von dem Rap-Poeten Bastian Böttcher, in der deutlich wird, wie Metaphorik dazu dient, die Möglichkeiten des ›Lesens‹ zu steuern und die sinnliche Wahrnehmung für die prozessuale Verbindung von Text, Bild und Klang zu sensibilisieren: Looppool ist ein verflochtener Hypertext-Rap-Loop von Sebastian Böttcher zum Selberlenken mit Anklängen an die Gittertexte des Mittelalters und des Barock, eine Flash-Animation, in der die Nutzer durch Betätigung der Leertaste die Richtung des Textflusses wechseln können. Hypermedia wird beim Looppool nicht als bloße Verknüpfung von einzelnen statischen Seiten, Klängen und Bildern verstanden, sondern als Fluß von verzweigten Abläufen, die an ihren Schnittstellen nahtlos ineinander übergehen.216
Gewebe und Gitter, Fluss und Pool, Ablauf und Übergang sind in der Beschreibung verflochten, um die Dynamik der Rezeption zu evozieren. 214 Vgl. Block, Heibach u. a. 2004. S.a. Löser 1999, S. 217–266. 215 Vgl. Block 1997. 216 Böttcher 2004b.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Die Vorstellung einer selbstgesteuerten Bewegung im Raum vermittelt vor allem die Metapher vom »Selberlenken«, die Böttcher mit weiteren Transportwegmetaphern ausführt: So »steht auf jedem Pfad ein für den Weg markantes Stichwort«, es gibt »Kreuzungen«, und es gibt »Weichen«, die der Benutzer stellen kann. Auch eine »›lineare‹« Rezeption ist möglich; dann »läuft der Text- und Musiktitel immer geradeaus«.217 Der Autor stellt hier dem Rezipienten einen mentalen Erlebnispark zur Verfügung, in dem dieser sich seinen eigenen Text ›erfahren‹ kann. Ausschlaggebend ist das Zusammenwirken von textueller Bindung und interpretativer Offenheit: »Durch die Eingebundenheit ins Hypertext Gefüge ist es möglich, daß das selbe Textfragment verschiedene Bedeutungen haben kann. Deshalb stecken in den 32 arrangierten Textfragmenten X verschiedene ›Versionen dieser Verse‹.«218 Böttcher liefert hier Anweisungen für das aleatorische Lesen, in dem sich erst eine von vielen Bedeutungen des Textes konstituiert. Das neue Medium der Dichtung dürfte auch die Rezeption der alten Dichtung in Bewegung bringen, wie Böttchers Interesse an Gittertexten zeigt. Indem die Dichtung als ›vernetzter Raum‹ wahrnehmbar wird, ergeben sich auch ganz neue Verbindungen; denn Epochenschwellen sind nur dann ein Hindernis, wenn sie sich auf dem einzigen Weg in einen anderen Raum befinden.
4. Natur und/oder Kunst? Seit der Antike bewegt sich die Dichtung zwischen physis und techne, natura und ars, Natur und Kunst. Eingebunden ist das Begriffspaar in größere Zusammenhänge, und beide Begriffe verhalten sich gegenüber der Dichtung extrem variabel. Indem sie immer wieder andere Beziehungen zueinander eingehen, vermitteln sie wechselnde Vorstellungen von der Verbindung zwischen menschlichem, natürlichem und göttlichem Schaffen und dem hervorgebrachten Werk. Bereits in der Antike dienen diese Topoi zur Legitimation von Dichtung, für die späteren europäischen Kulturen bedeutsam vor allem bei Aristoteles und Horaz. Zum poetologischen Brennpunkt wird das Begriffspaar in der Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Romantik: Beide Begriffe erfahren in diesem Prozess poetologisch wirksame Umwertungen und Umdeutungen.219 Beide Begriffe haben potenziell eine physische Komponente – ›Natur‹ verkörpert geradezu das Physische, und ›Kunst‹ lässt sich auf das körperliche Handwerk beziehen –, sie lassen sich jedoch nicht auf eine spezifische physische Bedeu217 Böttcher 2004a. 218 Böttcher 2004b. 219 Vgl. Carrdus 1996, passim.
4. Natur und/oder Kunst?
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tung festlegen und sind für abstrakte Assoziationen enorm empfänglich. Poetologische Aussagekraft entwickeln die Begriffe typischerweise als binäres Begriffspaar, wobei die Polarität zur Bestimmung ihrer jeweiligen Bedeutung beiträgt. Als metaphorisch sind sie insofern zu sehen, als sie abstrakten Vorstellungen von Dichtung Struktur verleihen und poetologische Projekte in der Tradition sowie im literarischen Umfeld verorten helfen. Anhand der Tradition dieser Polarität lassen sich sowohl Kontinuitäten in der poetologischen Diskussion verfolgen als auch Veränderungen in den Fragestellungen, die durch nuancenreiche Übergänge und Verbindungen zwischen den Begriffen sowie selektive Fokussierungen spezifischer Aspekte zustandekommen. Ein Ende dieses Prozesses ist bis heute nicht abzusehen. Interessant ist dabei nicht zuletzt die Bedeutung solch binär angeordneter Konzepte für den Diskurs um Poetik. Die Tendenz zu binären Denkmustern lässt sich als spezifisches Merkmal der westlichen, in der hellenistischen Kultur gründenden Tradition verstehen. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bei solchen binären Mustern offenbar um eine anthropologische Konstante handelt.220 Es wäre dies somit ein Beispiel für die Komplementarität und Interdependenz von Universalien und kultureller Variation, die Lakoff und Johnson auch für die kognitive Metapher geltend machen: »There appear to be both universal metaphors and cultural variation.«221 Die Begriffe ›Natur‹ und ›Kunst‹ sind für die Poetik aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis von besonderer Bedeutung. Das Wort ›Natur‹ (als Entsprechung zum griechischen ´ siV und lateinischen natura) umfasst begriffsgeschichtlich die schaffende ju Natur (natura naturans) sowie die geschaffene Natur (natura naturata) und bezieht sich von der Tendenz her auf das, was ohne das intentionale Zutun des Menschen ist und geschieht. Im Mittelalter bezeichnet natûre »die in der [vom Menschen nicht erzeugten] Außenwelt und im Menschen selbst aufgrund ihrer Geschöpflichkeit wirkenden Kräfte und Prinzipien;«222 der 220 Dies geht aus Browns Liste anthropologischer Universalien hervor: »UP language [the language of the Universal People, KK] includes a series of contrasting terms«; als Beispiele nennt Brown u. a.: »good/bad«, »deep/shallow«, »wide/narrow« sowie geschlechtlich binäre Verwandtschaftsbeziehungen (Brown 1991, S. 131–133). 221 Lakoff/Johnson 2003, S. 274. Sie betonen diese Interdependenz im Nachwort zur Zweitauflage von »Metaphors We Live By«, um die anhaltende Aktualität ihres Buches nun im Rahmen eines vom Postmodernismus dominierten Umfelds zu betonen: »What we have discovered is fundamentally at odds with certain key tenets of postmodernist thought, especially those that claim that meaning is ungrounded and simply an arbitrary cultural construction« (ebd., S. 273). Vgl. weiterführend auch Kövecses 2005, passim. 222 Grubmüller 1999, S. 3. Hier auch zur Unterscheidung von natura naturans und natura naturata (ebd., S. 8). Grubmüller ist bestrebt, den mittelalterlichen Naturbegriff vom modernen, seit der Romantik etablierten Naturbegriff zu scheiden: »Weder steht die Natur […] dem Menschen gegenüber, noch ist sie […] von den Erzeugnissen seiner Kunstfertigkeit (Kunst und Kultur) unterschieden« (ebd., S. 17). Dabei wird jedoch nicht nur die Vieldeutigkeit des
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Begriff umfasst – wie das lateinische natura – die sexuelle Bedeutung ›Geschlechtstrieb‹ und ›Geschlechtsteile‹,223 die auch später in der männlichen Körper- und Zeugungsmetaphorik des Geniekults mitspielen dürfte.224 Seit dem 16. Jahrhundert bildet das Wort »immer weitere begriffskreise […], die oft ineinander übergreifen […], aber in allen ihren abstufungen auf die zwei begriffe der zeugenden kraft und des durch sie hervorgebrachten, des lebenschaffenden und des lebenden oder belebten zurückzuführen sind«.225 Entsprechend wird auch in der Poetik ›Natur‹ verstanden als Kraft oder als Werk, als innerlich wirkend und äußerlich gegeben: Im Menschen ist sie wirksam als naturgegebenes ingenium beziehungsweise Talent, außerhalb des Menschen ist sie die perzipierbare organische Umwelt und damit Gegenstand oder Modell der Dichtung. Wenn das Talent als Gottesgabe verstanden wird, so lässt sich Natur als Schaffenskraft auch verbinden mit der von außen kommenden, aber innerlich wirkenden göttlichen Inspiration. Sie verbindet dadurch das dichterische Schaffen und das dichterische Werk potenziell auf natürliche und auf göttliche Weise. Wirksam ist die ›Natur‹ jedoch nicht nur positiv als schöpferische Kraft oder stimulierender Gegenstand der Dichtung, sondern in religiösem oder deterministischem Kontext auch negativ als determinierende, begrenzende Macht, die der seelischen oder geistigen Freiheit entgegenwirkt. ›Kunst‹ (als Entsprechung zum griechischen te´ cnh und lateinischen ars, aber auch zu scientia, und etymologisch verbunden mit ›können‹) steht zur ›Natur‹ tendenziell in Gegensatz: als menschliches Können, Tun und Werk, das als Ausprägung der Kultur durch Konvention und Tradition vermittelt wird.226 Bis ins 18. Jahrhundert umfasst ›Kunst‹ als Wissen auch die Wissenschaften, die sich dann begrifflich von der schöpferisch umgewerteten
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modernen Begriffs auf die außerhalb des Menschen wirkende Natur eingeengt, sondern auch der mittelalterliche Begriff vereinfacht. Auch wenn Mensch und Natur im Mittelalter grundsätzlich gleichermaßen als »Ergebnis und Dokument von Gottes Allmacht« verstanden werden (ebd., S. 17), so impliziert doch die künstlerische Darstellung – bzw. Nachahmung – visuell perzipierbarer Naturphänomene ein mit dem menschlichen Werk nicht identisches Objekt; vgl. Fasbender 1999. Grubmüllers Bestrebung, den mittelalterlichen Naturbegriff grundsätzlich vom modernen Begriff abzutrennen, gründet letztlich in der Annahme einer unüberwindlichen Epochenschwelle. Dabei ist gerade der von Grubmüller (1999, S. 15–17) hervorgehobene Naturbegriff Meister Eckharts für das Bedeutungsspektrum des Naturbegriffs in der Romantik erhellend. Grubmüller 1999, S. 9 f. Vgl. z. B. Goethes Feier des schöpferischen Künstlertums beim Ersteigen des mit Rheinfall und Gotthard verglichenen Straßburger Domturms: »Mit jedem Tritte überzeugte man sich mehr: daß Schöpfungskraft im Künstler sei aufschwellendes Gefühl der Verhältnisse, Maße und des Gehörigen, und daß nur durch diese ein selbständig Werk, wie andere Geschöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werden« (Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 183; Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775). Grimm 1984, Bd. 13, Sp. 430 (Natur). Grimm liefert allerdings auch Belege für ›gottes kunst‹ (ebd., Bd. 11, Sp. 2668; Kunst).
4. Natur und/oder Kunst?
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Kunst trennen. Wenn bei einem mittelalterlichen Mystiker eine »inwendige kunst« mit »weltlicher wissenschaft« kontrastiert wird, so steht diese Bedeutung zu der besonders im gelehrt humanistischen Kontext dominierenden Bedeutung »weltliche kunst« in Kontrast;227 wie ›Natur‹ kann ›Kunst‹ somit innerlich und äußerlich verstanden werden. In der Bedeutung von ›Fertigkeit‹, ›Geschicklichkeit‹ ist der Gebrauch des Wortes ›Kunst‹ »von unerschöpflicher manigfaltigkeit«:228 Er reicht von Leibeskünsten und Spielen (›Kartenkunst‹) über handwerkliche Künste bis hin zu geistigen und moralischen Künsten (›Sterbekunst‹) sowie Zauberei (›schwarze Kunst‹). Zugleich erscheint Kunst auch als äußerliche Formgebung, so in einem emblematischen Bild, in dem die Bärin ihrem naturgeborenen Jungen durch Lecken Form gibt.229 Die im 18. Jahrhundert sich profilierende und fortan primäre Bedeutung von Kunst als ästhetisch besonders hochwertiges Schaffen oder Werk, das göttlicher (bzw. natürlicher) Inspiration entstammt und ›neu‹ zu sein vermag, ist bereits bei Albrecht Dürer unter Bezug auf Platon belegt230 und steht mit den älteren Bedeutungen in Verbindung. Es verschieben sich jedoch die Polaritäten, so dass nun der Gegensatz zu zweckgebundenem Handwerk, rational bestimmter Wissenschaft und niedriger Unterhaltung zentral ist und die Kunst als kreativ, frei, irrational/phantasievoll, hoch verstanden wird. In einer Zeit, wo der Mensch ins kreative Zentrum der Welt rückt, avanciert die Kunst zur gottgleichen Schaffenskraft im Menschen und nähert sich der (inneren) ›Natur‹ bis zur Identität; ingenium und platonische Inspiration mehr als die äußerliche Form werden zum Kennzeichen wahrer Kunst. Begriffliche Eigenständigkeit erlangt die ›Wissenschaft‹; als bloßes Handwerk ausgegrenzt wird die technische Kunst. Bedeutsam ist in diesem Prozess der Topos der Autonomie: Hier spielt offenbar die Tradition der ›freien Künste‹ (artes liberales) hinein, die in Gegensatz zu den Handwerkskünsten nicht dem Gelderwerb dienten und den ›Freigeborenen‹ gelehrt wurden.231 Politisch-ökonomische Freiheit wird so im Zuge idealistischer Kunsttheorie philosophisch umgedeutet und im Kampf gegen die Rhetorik eingesetzt: Die philosophische ›Befreiung‹
227 Ebd. 228 Ebd., Sp. 2675. 229 Henkel/Schöne 1996, Sp. 441 f. Vgl. Sigmund von Birkens Verweis auf diesen Topos unter Bezug auf Vergil (Birken 1973, S. 178; Kap. 10, Abschnitt 135). 230 »Zu der Kunst recht zu molen ist schwer zu kummen. Dorum wer sich dorzu nit geschickt findt, der untersteh sich der nicht. Dann es will kummen van den öberen Eingießungen« (Dürer 1893, S. 297); »ein guter Maler ist inwendig voller Figur, und obs müglich wär, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen, dovan Plato schreibt, allweg etwas Neus durch die Werk auszugießen« (ebd., S. 289). Vertikalitätsmetaphorik ist hier mit Behältermetaphorik verquickt. Vgl. zu Dürers Kunstbegriff Ashcroft 1999, bes. S. 24–26. 231 Vgl. Grimm 1984, Bd. 11, Sp. 2669 (Kunst); zur Verwendung bei Goethe vgl. ebd., Sp. 2681 f. (Kunst); s. a. Curtius 1993, S. 47.
250
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
der Kunst von rhetorisch-gesellschaftlicher Zweck-›Gebundenheit‹ entzieht einer politischen oder moralischen Dichtung den künstlerischen Boden. Den poetologischen Kontext und immer wieder anregende Motive für die Diskussion um Natur und Kunst in Bezug auf Dichtung schaffen vor allem die Poetiken von Aristoteles und Horaz, aber auch die lateinische Rhetorik. Sie ergänzen sich auf fruchtbare Weise und ermöglichen die unterschiedlichsten Bestimmungen der Dichtung in Bezug auf Mensch, Natur und Metaphysik. Aristoteles etabliert die natürliche Anlage des Menschen – den Drang zur Nachahmung beim Dichter und beim Rezipienten – als Ursprung und Prinzip der Dichtung und bindet in uminterpretierender Fortführung platonischer Nachahmungstheorie die Dichtung an die Nachahmung der wahren Dinge; damit wird in der aristotelischen Tradition ›Natur‹ potenziell zu Ursprung, Prinzip und Gegenstand der Dichtung. Zugleich legitimiert Aristoteles die Dichtung gegenüber Platons Inspirationstheorie philosophisch als (technische) Kunst und systematisiert über die Regelung sprachlicher Konventionen die Verbindung zwischen Poetik und Rhetorik. Horaz liefert gegenüber dieser philosophischen Fundierung eine reich ausgestaltete Dichtertypologie, in der ›Kunst‹ und ›Natur‹ sich gegensätzlichen Typen zuordnen lassen: Sie leben in der europäischen Tradition fort als der poeta doctus und der inspirierte Naturdichter. Grob gesehen huldigt der Humanismus der poetologischen Personifikation der ars und die Romantik der poetologischen Personifikation der natura. Horaz etabliert die Traditionsträchtigkeit des Begriffspaars und plädiert für ein notwendiges Zusammenspiel: natura fieret laudabile carmen an arte, quaesitum est: ego nec studium sine divite vena nec rude quid prosit video ingenium: alterius sic altera poscit opem res et coniurat amice. (Ob durch Naturtalent eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunstverstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und verschwört sich mit ihm in Freundschaft.)232
Die Freundschaftsmetapher verankert beide Begriffe gleichwertig in der Poetik und betont die Verbindung und Interdependenz. Zugleich jedoch stärkt Horaz die binäre Opposition, indem er selbst die Sache des naturbegabten, vor allem aber kunstfertigen Dichters vertritt und jene Dichter satirisiert, die dem ingenium den Vorrang geben.233 Damit festigt er die Schlüsselstellung der beiden Begriffe, bringt eine enorm fruchtbare Span232 Horaz 1984, S. 30 f. (V. 408–411). 233 Ebd., S. 22 f. (V. 295–297). Quintilian dagegen entwirft eine Dreiteilung: »Die Redegabe erfüllt sich im Zusammenwirken von Natur, Kunst und Übung, wozu manche als vierten Teil noch die Nachahmung hinzufügen, die wir der Kunst unterordnen« (Quintilian 1995, Bd. 1,
4. Natur und/oder Kunst?
251
nung in ihre Beziehung zueinander und stellt ihren jeweiligen Status zur Diskussion. Eine positivere Ausführung der ingenium-Theorie liefert Quintilian, zusammen mit einer Stellungnahme zur These, dass »die Unstudierten für begabter [gelten]«.234 Er betont in der Einleitung seines Lehrwerks die Notwendigkeit des ingenium für den guten Redner durch einen Vergleich mit der Landwirtschaft, der die Notwendigkeit der Interaktion von Natur und Kunst veranschaulicht: »Alle Vorschriften und Leitfäden haben keinen Wert, wenn die Natur nicht mithilft. Deshalb bedeutet die folgende Schrift für jemanden, dem die Begabung fehlt, nicht mehr als eine Schrift über den Ackerbau für unfruchtbare Ländereien.«235 Auch geht er davon aus, dass »alles, was durch die Kunst zur Vollendung gebracht ist, seine Ansätze in der Natur genommen hat«236 und erklärt, dass »das, was beim Redner das Wichtigste ist, nicht nachahmbar ist: Talent, Erfindungsgabe, Kraft des Ausdrucks, Gewandtheit und alles, was sich nicht im Lehrbuch lernen läßt«.237 Wenn sich sein Werk durchgängig mit der Redekunst befasst und die Rhetorik vornehmlich als Kunst zu legitimieren sucht,238 so ist diese Asymmetrie unvermeidlich, denn die Kunst ist ja gegenüber der angeborenen Naturgabe gerade das systematisch Lehr- und Lernbare. Im Mittelalter wirken die in der Antike etablierten Theorien vom Ursprung der Dichtung weiter, wobei man Horaz und Quintilian direkt, Platon und Aristoteles dagegen nur indirekt rezipiert. Gelesen wird beispielsweise der neuplatonische Grammatiker Marius Victorinus, der die Dichtung auf eine von der Natur verliehene Anlage zurückführt, die dann wiederum durch Beobachtung und Übung zur lehrbaren Kunst weiterentwickelt wird; ergänzt werden diese Ausführungen durch den demokritischen beziehungsweise platonischen Topos vom göttlichen Wahnsinn der Dichter.239 Auch ist generell die Polarität beziehungsweise Komplementarität von natura und ars ein Topos.240 Eine gewisse Brisanz entwickelt jedoch der Naturbegriff im christlichen Kontext, da Natur als heidnische Schöpfungskraft potenziell zur Schöpfungskraft Gottes in Konkurrenz tritt.241 Diese Spannung macht sich
234 235 236 237 238 239 240 241
S. 300 f.; III, 5, 1). Diese Dreiteilung assoziiert er mit der Dreiteilung der Redezwecke (ebd.; III, 5, 2). Quintilian 1995, Bd. 1, S. 216–221 (II, 12); s. a. S. 214–216 und 264–267 (II, 11 und II, 19). Bedeutsam ist für das 18. Jahrhundert auch die Erörterung dieses Themas bei Longinus 1988, S. 6–9 (Kap. 2). Quintilian 1995, Bd. 1, S. 12 f. (I, Pr., 26). Ebd., S. 250 f. (II, 17, 9). Ebd., Bd. 2, S. 490 f. (X, 2, 12). Ebd., Bd. 1, S. 250 f. (II, 17). Vgl. Curtius 1993, S. 439 f. S.a. ebd., S. 467 f. Vgl. Jackson 1999, S. 42. Zur antiken Tradition dieses Topos und seiner Rezeption besonders im späten Mittelalter vgl. auch Pochat 1989. Zur »Göttin Natura« vgl. Curtius 1993, S. 116–137; er verfolgt den Topos bis Shakespeare.
252
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
in der volkssprachlichen Literatur bemerkbar, wenn Dichter wie Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach in Gegensatz zu ihren französischen Vorlagen den Naturbegriff zugunsten des annähernd synonymischen art meiden, um allein Gott als schöpferisches Wesen gelten zu lassen.242 Wenn auch Naturmetaphorik für die Vorstellung vom Dichten in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters bedeutsam ist243 – so in der Metapher vom Dichter als Nachtigall oder von der Dichtkunst als Baum244 –, scheint der Begriff ›Natur‹ in den poetologischen Aussagen kaum eine Rolle zu spielen. Im Vordergrund steht die ›kunst‹. Allerdings wird hierfür ein nicht-menschlicher Ursprung sowie nicht-menschliche Beihilfe vorausgesetzt. So lobt Gottfried von Straßburg in seinem Tristan Heinrich von Veldeke, indem er den Ursprung von dessen Dichtung in der vom Huf des Pegasus geschaffenen Musenquelle Hippokrene vermutet.245 Gottfried verwendet hier das mit ›kunst‹ sinnverwandte Wort ›wîsheit‹: ich waene, er sîne wîsheit ûz Pegases urspringe nam, von dem diu wîsheit elliu kam. (Ich glaube, er nahm seine ganze Weisheit | vom Quell des Pegasus, | von wo alle Weisheit kommt.)246
Dass die Kunst von Gaben Gottes abhängt, betont Rudolf von Ems in seinem fragmentarischen Alexander. Zentral ist in dessen Prologen die Polarität von ›kunst‹ und ›sælde‹, der Heilsgabe und Gunst des Glücks,247 deren notwendige Interdependenz in immer wieder anderen metaphorischen Verknüpfungen vermittelt wird: Ûf hôhe kunst ist ahte niht, ist si sunder sælden phliht, sô wirt si gar vernihtet, ob sælde ir niht zuo phlihtet.248 242 Vgl. Schwietering 1969 und dazu Grubmüller 1999, S. 14 f. 243 Vgl. die Studie von Obermaier (1995) zu poetologischen Metaphern in der »Dichtung über Dichtung« in Minnesang und Sangspruchdichtung. Ihr Titel »Von Nachtigallen und Handwerkern« thematisiert die Natur/Kunst Polarität, es geht ihr jedoch darum, solche Polaritäten zu überwinden, zumal die Annahme einer Entwicklung vom poetologisch unbewussten zum reflektierenden Dichter einer adäquaten Erforschung der textimmanenten Poetik in Minnesang und Sangspruchdichtung lange Zeit im Wege stand (vgl. ebd., S. 10). 244 Zur ›Nachtigall‹ vgl. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 290–295 (V. 4751–4792). Zum ›Baum‹ vgl. die Metapher vom Pfropfen des Reises, ebd., S. 290 f. (V. 4738–4750) und deren Weiterführung im Alexander-Roman von Rudolf von Ems (Rudolf 1928–1929, Bd. 1, S. 114, V. 3116, und S. 120, V. 3277) (s. u., S. 542 f. und 545 f.). 245 Diese mythologische Quelle dürfte auch Schellings Bild von den »wahren Urquellen der Kunst« mitgeprägt haben, »aus denen Form und Stoff ungetrennt strömt« (Schelling 1859, S. 360). 246 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 290 f. (V. 4730–4732). 247 Vgl. Haug 1992, S. 299–315. 248 Rudolf 1928–1929, Bd. 1, S. 1 (V. 5–8).
4. Natur und/oder Kunst?
253
(Auch eine vollkommene Kunst findet keine Beachtung, wenn sie nicht mit ›sælde‹ verbunden ist, ja sie geht völlig zugrunde, wenn ›sælde‹ ihr nicht beisteht.)249
Deutlich ist hier eine binäre Struktur, die der menschlichen Kunst eine vom Menschen unabhängige Instanz gegenüberstellt und sie zugleich davon abhängig macht. Haug fasst diese Polarität als Ausprägung der Spannung zwischen Virtus und Fortuna,250 womit sie ins Zentrum des mittelalterlichen Verständnisses von der Beziehung zwischen Mensch und gottbestimmter Welt rückt; diese Polarität wäre damit eine für das Mittelalter typische Entsprechung zur antiken sowie auch modernen Polarität von Kunst und Natur, wobei die ›sælde‹ wie die Natur sowohl subjektiv (als Begabung) und objektiv (als Erfolg) wirksam wird.251 Rudolf verdeutlicht die Polarität, indem er sie einerseits zum ›sin‹ in Bezug setzt, der den Aspekt der dichterischen Begabung bekräftigt,252 und andererseits zu den erhofften Rezipienten, die für den Erfolg ausschlaggebend sind: Nû was ich, als ich eht noch bin, als gemuot daz ich den sin ie dar ûf arbeite daz Got zuo geleite geruochte vüegen mîner kunst sælde und edeler herzen gunst.253 (Nun war ich und bin ich noch darauf bedacht, mich aus meiner Begabung heraus stets darum zu bemühen, daß Gott meiner Kunst Glück und die Anerkennung edler Herzen als Geleit geben möge.)254
Damit ist ein vollständiges Modell literarischer Kommunikation gegeben, das von der Arbeit des Dichters bis hin zur Beschaffenheit und Auffassungsgabe des Publikums reicht. Während im späteren 18. Jahrhundert der Naturbegriff unter Ausblendung der Rezeption die auktoriale Begabung und Schaffenskraft (ingenium) sowie die natürliche Umwelt fokussiert, steht hier die Interaktion von auktorialer Bemühung und den von Gott bestimmten metaphysischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Erfolgs im Vordergrund. Die Notwendigkeit der Zusammenwirkung von ›sælde‹ und ›kunst‹ entspricht der notwendigen Interaktion von naturgegebener Begabung und Kunst, wie sie in der Rhetorik vorausgesetzt wird. Erst auf der Basis natürlicher oder göttlicher Gaben kann sich künstlerische Meisterschaft entfalten:
249 250 251 252 253 254
Haug 1992, S. 304. Vgl. ebd., bes. S. 299, 302 f. und 306–310. Vgl. ebd., S. 304. Zu diesem Verständnis des semantisch komplexen Begriffs vgl. ebd., S. 303 f. Rudolf 1928–1929, Bd. 1, S. 2 f. (V. 29–34). Haug 1992, S. 306.
254
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Florieret sældekunst ir kraft, sô edelt sich diu meisterschaft und wirt diu kunst gekreftet, der sin gemeisterscheftet.255 (Bringt ›sælde‹ die Kunst zum Blühen, so erreicht die Meisterschaft Vollkommenheit, und dann kann die Kunst sich machtvoll entfalten, die Begabung Meisterschaft erreichen.)256
Bedeutsam sind die prozessualen Metaphern »florieren«, »sich edeln«, »kreften«, »meisterscheften«: Die Kraft, die im Zeitalter der Romantik der schöpferischen Natur zugeschrieben wird, entsteht hier aufgrund der ›sælde‹. Wenn auch die Konstellationen andere sind, so ist doch aus beiden Perspektiven menschliche Technik nicht ausreichend, um eine ›hohe‹ Kunst zu gewährleisten. Mit der systematischen Grundlegung deutschsprachiger Poetik im Humanismus wird auch die Polarität von Natur und Kunst zu einem festen Topos.257 So gehört es in den Poetiken zu den Gemeinplätzen, das Naturtalent zur Voraussetzung und die Natur zum Ursprung der Dichtung zu erklären, während sich die poetologischen Werke selber auf die systematische Erörterung der (technischen) Kunst konzentrieren. Wie Quintilian benutzt Harsdörffer einen Vergleich aus der Landwirtschaft: »Auch die Kunst ist sonder Behuff der Natur ohnmächtig / und kan so wenig ausrichten / als ein Ackermann sonder Samen und Feld.«258 Zugleich jedoch lässt sich durch den Vergleich das entgegengesetzte Argument stützen: Wie nun kein Acker so schlecht / und unartig zu finden / den man nicht durch Fleiß und beharrliche Pflegung / und Arbeit solte fruchtbar machen können: Also ist auch keiner so unreines Hirns / der nit durch Nachsinnen / auf vorher erlangte Anweisung / (welche gleichsam der Wuchersame ist / ) eine gebundene Rede / oder ein Reimgedicht zusammenzubringen solte lernen können.259
Hier dient nun der ingenium-Topos zur gradmäßigen Unterscheidung dichterischer Qualität, denn der Dichter, der über eine »natürliche Fähigkeit zu der Poeterey« verfügt, wird »glückseliger« dichten als der Unbegabte.260 Eindrucksvoll verdeutlicht Harsdörffer die Interdependenz von Natur und Kunst auch durch eine Abwandlung des platonischen Inspirationstopos, der nun von unten nach oben führt, um die Kunst aufzuwerten: »Die Natur ist eine Meisterin / den hurtigen Feuergeist anzubrennen / die Kunst aber 255 Rudolf 1928–1929, S. 2 (V. 25–28). 256 Haug 1992, S. 305. Vers 25 zitiert Haug als »Florieret sælde künste kraft« (ebd.). Die Metapher ›florieren‹ ist zugleich ein Terminus technicus, der den dichterischen Schmuck bezeichnet (ebd.). 257 Vgl. insgesamt zum Diskurs um Natur und Kunst in der frühen Neuzeit die materialreichen Sammelbände von Laufhütte (2000). 258 Harsdörffer 1969, 3. Teil, S. )( ir. (Vorrede). 259 Ebd., 1. Teil, S. )( vr-v (Vorrede, Abs. 7). 260 Ebd.
4. Natur und/oder Kunst?
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gleichsam das fette Oel / durch welches solcher Geist weitstralend erhellet / und Himmelhoch aufflammet.«261 Die Übertragung der metaphysischen Inspirationsmetaphorik auf die Natur mittels der Metapher vom irdischphysischen Feuer erhöht hier den Status der Kunst, da diese erst die Wirkung in den »Himmel« bewerkstelligt. Für die größte Dichtung wird entsprechend die höchste Kunst, manchmal zugleich auch das höchste Talent vorausgesetzt. Es gibt jedoch in den humanistischen Poetiken erhebliche Variationen im Einsatz dieser Topoi, die nicht zuletzt mit der spezifischen Legitimierung zusammenhängen. So weist Opitz den angehenden deutschen Dichter ähnlich wie Quintilian eingangs auf die Notwendigkeit des ingenium hin, wenn die darzustellenden »lehren« Nutzen bringen sollen: Er muss »ein Poete von natur sein«.262 Opitz erweitert diese Mahnung jedoch unter Bezug auf das humanistische Bildungsprogramm, indem er betont, dass der Dichter außerdem »in den griechischen vnd Lateinischen büchern« bewandert sein muss.263 In Einklang mit rhetorischen Prämissen steht auch seine Erklärung, dass die Poetik das systematisiert, was die Poeten bereits vorher ohne Anweisung gemacht haben:264 vnd haben die Gelehrten / was sie in den Poeten (welcher schrifften auß einem Göttlichen antriebe vnd von natur herkommen / wie Plato hin vnd wieder hiervon redet) auffgemercket / nachmals durch richtige verfassungen zuesammen geschlossen / vnd aus vieler tugenden eine kunst gemacht. Bey den Griechen hat es Aristoteles vornemlich gethan; bey den Lateinern Horatius; vnd zue unserer Voreltern zeiten Vida vnnd Scaliger.265
Anders als Platon, Aristoteles und Quintilian setzt Opitz hier ›Natur‹ und ›göttliche Inspiration‹ ineins, um dann die Inspiration hervorzuheben und die Dichtkunst theologisch zu legitimieren: »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie.«266 Ganz in Einklang mit der aristotelischen Tradition steht allerdings seine Definition des Wesens der Poesie, wenn Opitz betont, »das die gantze Poeterey im nachäffen der Natur bestehe / vnd die dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein / als wie sie etwan sein köndten oder solten«;267 dieser selektiv aus Aristoteles abgeleitete Grundsatz268 ähnelt prinzipiell der späteren Poetik des Realismus, so bei Fontane, aber auch der Poetik des sozialistischen Realismus bei Lukács, selbst wenn dort die Poetik im Detail ganz anders aussieht. Dass es Opitz jedoch 261 262 263 264 265 266 267 268
Ebd., S. )( viv. (Vorrede, Abs. 11). Opitz 1966, S. 16 (Kap. 4). Ebd., S. 16 f. Vgl. die Ausführungen bei Lausberg 1990, Bd. 1, S. 25–29 (§§ 1–8). Opitz 1966, S. 7 (Kap. 1. Vorrede). Ebd., S. 7 (Kap. 2). Ebd., S. 11 (Kap. 3). Vgl. Aristoteles 1994, S. 84 f. (Kap. 25; 1460b).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
vor allem um die Leistung der »Gelehrten« geht, signalisiert die nur in Klammern eingeschobene Bemerkung zum göttlichen beziehungsweise natürlichen ›Ursprung‹ der Poesie: Indem er die Vorgehensweise der Gelehrten veranschaulicht und sie für die Definition der »kunst« verantwortlich macht, legitimiert er zugleich seine eigene Anweisungspoetik. Die persönliche Profilierung der illustren Tradition früherer Verfasser von Poetiken dient zugleich der impliziten Profilierung seiner eigenen Person. Göttlichkeit wird auch der ›Kunst‹ zugeschrieben, besonders, wenn es um die Legitimation des Dichtertums gegenüber dem Pöbel geht. So assoziiert August Buchner in der Abhandlung Poet die »Hoheit dieser Kunst« mit ihrem »fast Göttlichen Wesen« – er rekurriert damit auf den platonischen Topos, ohne ihn doch ganz zu übernehmen.269 Der Topos dient hier als oberste Stufe einer vertikalen Bewertungsskala, die den Status der ›Kunst‹ bestimmt und den wahren Poeten vom Pöbel unterscheidet, wie postum sein Herausgeber Otto Prätorius verdeutlicht: Wer Reime schliessen kann / und nette Worte schräncken / Ist drümb nicht ein Poët. Es hört ein mehres noch Und höher Werck darzu. Der Geist der iedem doch Nicht bald das Hertze rührt / muß Sinn und Feder lencken / Und das / was Göttlich ist / den weisen Schriften schencken.270
Entsprechend einer solchen Hierarchie entwirft der galante Dichter Benjamin Neukirch in der »vorrede von der deutschen Poesie« in seiner wichtigen Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil (insgesamt 7 Bände) eine dreifache – den drei rhetorischen Stilebenen entsprechende – Abstufung, die von der »pedantischen« über die »galante« zur »hohen« Dichtkunst reicht.271 Bei Neukirch ist jedoch das ingenium ohne göttliche Teilnahme und in Zusammenwirkung mit der Gelehrsamkeit der Maßstab für die Qualität der Dichtung: Die »hohe« Poesie erfordert einen Dichter, bei dem der Anreiz zum Dichten »ein natürlicher trieb« und nicht nur »ein gemachtes verlangen« ist, der »von natur zum dichten eine sonderliche begierde und fähigkeit« verspürt und der auch »an natürlichen gaben viel reicher« ist als seine weniger talentierten Kollegen.272 Weit höher sind entsprechend auch die Anforderungen an Dichter, die »in der Poesie groß zu werden« gedenken:273 Sie brauchen mehr Muße zum Schreiben und somit mehr Geldmittel oder zumindest bei ihren »amts-geschäfften die freyheit […] / daß sie 269 Buchner 1966, Poet, S. (2.). 270 Prätorius 1966. 271 Neukirch 1961. Der Titel »vorrede von der deutschen Poesie« erscheint auf der Titelseite (ebd., S. [1]). Zur Abstufung vgl. S. 6–22 (Vorrede), passim, bes. S. 18, 20 und 22. 272 Ebd., S. 18. 273 Ebd.
4. Natur und/oder Kunst?
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drey oder vier stunden des tages verschwenden dürffen« – ein Anklang an den Autonomietopos;274 sie müssen »viel sprachen verstehen / in allen wissenschaften wohlgegründet / in der welt erfahren« und »ihrer affekten meister« sein, und sie müssen gründlichst die besten alten und neuen Autoren studiert haben.275 Entsprechend dem Programm der weltlichen Galanterie sind hier übernatürliche Instanzen nicht im Spiel, und Neukirch geht es letztlich um die Legitimierung der galanten »mittel-straße«.276 Demzufolge werden die großen Poeten mittels eines Tiervergleichs sowohl geographisch als auch geschichtlich aus dem Bereich des Wahrscheinlichen ausgegrenzt: »Es sind keine seltsamere thiere / als Poeten: Denn sie lassen sich / wie die paradieß-vögel / alle tausend jahre kaum einmahle sehen. Rom hatte bald acht hundert jahre gestanden / ehe es den berühmten Virgilius erlebte.«277 Die Aufwertung der Natur in der Poetik des 18. Jahrhunderts erfolgt als Prozess einer argumentativen Verknüpfung antiker und biblischer ›Natur‹, wobei das Begriffspaar ›Natur‹ und ›Kunst‹ auch zu anderen Gegensätzen in Bezug steht, so vor allem Emotionen und Kognition sowie Phantasie und Vernunft – es ist dies ein Komplex von binären Oppositionen, der seit Platon die Legitimation der Philosophie gegenüber der Rhetorik bestimmt.278 Dabei handelt es sich keineswegs um eine lineare Entwicklung von poetologischen Positionen, die jeweils von der direkt vorhergehenden abhängig sind. Vielmehr liefert das Arsenal an Argumenten und Konstellationen aus der Antike in Zusammenwirkung mit der biblischen Tradition einen reichen Fundus an möglichen Legitimationen der Dichtung in Bezug auf natürliche, übernatürliche und menschliche Instanzen. Dass eine hohe Bewertung der ›Natur‹ als Maßstab nicht erst mit Rousseau Geltung erlangt, zeigen folgende Verse von Johann Friedrich von Traunsdorff aus dem 17. Jahrhundert: Die Natur für sich selbsten ist Der best Meister zu jeder Frist. Wer dieselb durch Künst will versalzn, Der wird hernach gar ungeschmalzn.279
Die Funktion des ›Meisters‹, die traditionell dem Bereich der Kunst angehört, ist hier auf die personifizierte Natur übertragen. Das Beispiel zeigt, wie Polarität nicht nur Grenzziehungen, sondern auch Übergänge ermöglicht. Deutlich wird dies auch bei Alexander Pope, wenn er in seinem einflussreichen Essay on Criticism von 1711 der Natur den stabilen Status plato274 275 276 277 278
Ebd. Ebd., S. 18–20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 6 f. Vgl. die Auseinandersetzung mit diesen binären Metaphernkomplexen bei Johnson, M. 1987, S. xxvi f. u. ö. (s. o., S. 161). 279 Traunsdorff 1985.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
nischer Wahrheit verleiht und sie als Quelle, Ziel und Maßstab der Kunst darstellt: First follow NATURE, and your Judgment frame By her just Standard, which is still the same: Unerring Nature, still divinely bright, One clear, unchang’d, and Universal Light, Life, Force, and Beauty, must to all impart, At once the Source, and End, and Test of Art.280
Natur und Kunst sind hier klar voneinander geschieden, aber durchgängig aufeinander bezogen und damit potenziell bis zur Identität verbunden. Entsprechend lässt sich dann der Dichter metonymisch mit Natur identifizieren: »Nature and Homer were, he [Virgil] found, the same.«281 Möglich ist damit aber auch eine Vereinigung von Natur und Kunst oder eine Verwandlung von der einen in die andere in Vergangenheit, Gegenwart und/oder Zukunft: »Vollkommne Kunst wird wieder zur Natur.«282 Ein Prozess radikaler Umwertung zeigt sich vor allem im biblischen Naturbegriff. Hier ist die Wertung der ›Natur‹ ambivalent: Einerseits ist sie Gottes Werk, andererseits das, was den Menschen an die Erde bindet und von Gott fernhält. Interessant ist in diesem Kontext Tersteegens Vorrede in Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen, denn in diesem Text aus dem Umkreis des Pietismus stehen Werte im Vordergrund, die gegen Ende des Jahrhunderts mit ›Natur‹ identifiziert werden: Innerlichkeit, Gefühl, Kindlichkeit, Authentizität, Kunstlosigkeit;283 ›Natur‹ erscheint in der Vorrede jedoch nur in negativem Zusammenhang. Tersteegen benutzt die Spontaneität seines eigenen Schaffensprozesses als Beweis für die göttliche Wahrheit der Aussage; begründet wird im christlichen Kontext die zum schlichten Ausdruck tendierende perspicuitas nicht nur durch den direkteren 280 Pope 1961, S. 246 f. (V. 68–73). 281 Ebd., S. 255 (V. 135). Vgl. Klopstock in seiner Abschlussrede in Schulpforta 1745 (erst 1780 veröffentlicht): »Natura erat Homerus, et Homerus natura!« (Klopstock 1980, S. 107). In der Tradition dieses Vergleichs steht auch Schillers Auffassung vom ›naiven‹ Dichter, der »[Natur] ist« (Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 732); er wird bei den ›Alten‹ von Homer und bei den ›Neuern‹ von Shakespeare repräsentiert (ebd., S. 728 f.). Deutlich ist hier die wichtige Funktion des Topos in der Tradition der Querelle, die Schiller mit seiner Abhandlung fortsetzt. 282 Kant 1900 ff., Bd. 9, S. 492 (Über Pädagogik); Kontext ist hier die Erziehung des Menschen. In Bezug auf die Dichtkunst wäre dies die philosophische Weiterentwicklung der aristotelischen Maxime, derzufolge Kunstfertigkeit das Desiderat der Glaubwürdigkeit nur dann erreicht, wenn sie »nicht als verfertigt, sondern als natürlich« erscheint (Aristoteles 1995b, S. 170; III, 2, 4; 1404b). Entsprechend postuliert Kant, dass das Produkt der Kunst »von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen [muß], als ob es ein Product der bloßen Natur sei« (Kant 1908, S. 306; § 45, Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint); dieses Modell hat nicht die diachronische Komponente, sondern impliziert Gleichzeitigkeit. 283 In Langens Auswertung pietistischen Wortguts finden sich keine Hinweise auf die beiden Begriffe (vgl. das Wortverzeichnis, Langen 1954, S. 503–526).
4. Natur und/oder Kunst?
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Zugang zur Wahrheit, sondern auch mit dem biblisch fundierten Wert kindlicher Einfalt: Was die Materia anlanget, wie schlecht und kindisch sie auch einem Vernünfftling vorkommen möchte, selbige ist allerdings der Warheit gemäß, ja heilig und göttlich […]. Ich habe getrachtet alles mit so deutlichen, einfältigen, und mit so wenigen Worten auszudrucken als mir möglich war.284
Die Profilierung eines künftigen kritischen Rezipienten als »Vernünfftling« evoziert zugleich den Dichter als dessen Gegensatz: Er verkörpert in wichtigen Aspekten Schillers ›naiven‹ Dichtertypus, und es zeichnet sich zugleich eine allgemeinere binäre Typologie ab, die in Werther und seinem rationalistischen Rivalen Albert fortlebt. Tersteegen betont, er habe seine Gedichte »ohne viel auf Kunst und Zierlichkeit zu dencken, so wie sie in Gedancken kamen aufs Papier gesetzt«.285 Denn Kunst ist aufgrund ihrer Assoziationen mit Bildung, Äußerlichkeit und menschlichem Werk der göttlichen Gnade hinderlich: Auf dem Weg nach innen zu Gott »wird man nur immer mehr ein einfältiges Hertzens-Kindlein, übt sich frey, ohne Kunst, im Innebleiben, Lieben, Leyden, und überlassen; und wird dergestalt aus lauter Gnaden gerecht, heilig und selig«.286 Naheliegend wäre aus post-romantischer Sicht als Gegensatz zur Kunst die Verwendung des Begriffs Natur, der durchaus zur Verfügung stand, wie die oben zitierten Verse von Traunsdorff belegen. Das Wort erscheint jedoch in Tersteegens Vorrede lediglich negativ besetzt in religiösem Zusammenhang, um die Gnade Gottes als Befreiung des Menschen aus den Fesseln der irdischen Welt zu vermitteln: daß nemlich, uns von Natur grund-verdorbenen; und unter der Macht der Finsternüß hart gefangenen Adams-Kindern, in dem holdseligen Namen Jesus-Immanuel/ die sanffte wallende Liebe Gottes, inwendig in unserm HertzensGrunde, wiederum eröffnet und unaussprechlich-nahe worden sey.287
Die Argumentation ist hier der romantischen Naturauffassung, aber auch der klassisch tradierten ingenium-Theorie entgegengesetzt: Die Natur als Veranlagung ist extrem negativ bewertet und gilt als das zu Überwindende. Die Metaphorik evoziert jedoch genau jene Bedeutungsfelder der Freiheit, des Gefühls, der Liebe und der Innerlichkeit, die in Empfindsamkeit und Romantik mit ›Natur‹ in Verbindung gebracht werden. Zudem ist die Möglichkeit einer Umwertung der ›Natur‹ durchaus angelegt: Der Dichter erfährt im Herzen die befreiende Wirkung der Liebe Gottes, die in der organischen Metapher des Wallens evoziert wird. Im Kontext einer Aufweichung des christlichen Dogmas ist es dann ein eher kleiner Schritt zur Ver284 285 286 287
Tersteegen 1747, S. A2v (Vorbericht). Ebd., S. A2 r. Ebd., S. A6r. Ebd., S. A5v.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
einigung von Gott und Natur, so wenn Goethe Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik damit empfiehlt, dass hier »alles aus dem tiefsten Herzen, eigenster Erfahrung, mit einer bezaubernden Simplizität hingeschrieben« sei, und wenn er dann die Natur mit dem göttlichen Ursprung aller Dinge ineinssetzt: »Denn hier fliesen die heiligen Quellen bildender Empfindung lauter aus vom Trone der Natur.«288 Das (neu-)platonisch anmutende Bild entspricht der oben zitierten Naturmetapher bei Pope, ist jedoch angereichert mit der für den Pietismus charakteristischen, zugleich innerlichen und metaphysisch ausgerichteten Gefühlsmetaphorik. Aufgewertet wird der Naturbegriff auch von dezidiert säkularer Seite im Kontext der deutschen Aufklärungspoetik. In seinem 1751 in erweiterter Form publizierten Versuch einer critischen Dichtkunst aktualisiert Gottsched die in den humanistischen Poetiken tradierten Argumente unter aristotelischem Aspekt und aus der Perspektive aufklärerischer Bildungsprämissen, so in seiner Behandlung des Standardtopos von der Entwicklung der Dichtung aus den ursprünglichen Äußerungsformen des Menschen. Aristotelische Nachahmung und rhetorische Wettkampfmetaphorik verbindet er zunächst in der Hypothese, dass die Menschen den Gesang der Vögel nachahmten, um schließlich im Wettkampf um Beifall das Exempel zu übertreffen und zur Meisterschaft zu gelangen.289 Gottsched verwirft jedoch diese Hypothese zugunsten einer direkteren Beziehung zwischen Mensch und Natur, derzufolge die personifizierte Natur als Lehrmeisterin fungiert und der Mensch das von ihr Gelernte wiederum wirkungsorientiert weiterentwickelt; in seiner Ausführung rekurriert Gottsched nun eher auf das horazische »si vis me flere«.290 Auch die platonische Inspirationstheorie findet Berücksichtigung, wenn Gottsched André Daciers Hypothese verwirft, »die Religion sey die Hebamme der Poesie gewesen«.291 Obwohl auch der im vorhergehenden Absatz als »Vater unsrer gereinigten Poesie« gefeierte Opitz diese Theorie vertreten hatte,292 wird sie von Gottsched unter nationalen Vorzeichen diskreditiert, um den aufklärerischen Vorsprung der Deutschen zu betonen: Dacier »hat dieses mit andern von seinen Landesleuten gemein, daß sie abergläubischer Weise, den Wissenschaften gern einen heiligen Ursprung geben wollen«.293 Gottsched bevorzugt einen von der individuellen, menschlich-natürlichen Inspiration geleiteten säkularen Ursprung, bei dem »ein muntrer Kopf, von gutem Naturelle, sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Geblüt erhitzet […] hatte« – eine geradezu parodistisch anmutende Abwandlung des Topos vom furor poeticus; das so 288 289 290 291 292 293
Goethe 1985 ff., Bd. 28, S. 377 (Goethe an G.F.E. Schönborn, 10.6.1774); s. o., S. 88–90. Gottsched 1962, S. 67 f. Ebd., S. 68. Vgl. Horaz 1984, S. 10 f. (V. 102). Gottsched 1962, S. 81. Vgl. Dacier 1692, S. *2v. Vgl. Opitz 1966, S. 7 (Kap. 2). Gottsched 1962, S. 81.
4. Natur und/oder Kunst?
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entstandene Loblied wurde dann »gleichsam dem Gottesdienste geheiliget« sowie auf Helden und andere übertragen.294 Auch den »Character eines Poeten«295 bestimmt er natürlich-menschlich statt göttlich, wenn er betont, dass »die Natur« den »Grund von seiner Geschicklichkeit« legt, dass jedoch »zu dem Naturelle auch die Kunst und Gelehrsamkeit« gehört296 sowie »Erfahrung, Uebung und Fleiß«.297 Gottscheds systematisch-normative Poetik gründet im Primat der Vernunft. Dennoch spielen hier Argumente eine Rolle, die auch für die romantische Poetik bedeutsam sind. Der vom Menschen in der Zeit entwickelten Kunst steht die Natur gegenüber, die der Kunst vorausgeht und zugleich zeitlos ist. Die Natur ist vom Menschen unabhängig und ihm als Lehrmeisterin überlegen; sie bildet das Modell für die Kunst und bietet dem Menschen sowohl das Material als auch die Audrucksmittel der Kunst. Indem die Natur den Prozess des sprachlichen Ausdrucks der inneren Leidenschaften bestimmt, wird sie zum Ursprung der Sprache im Innern des Menschen; die Kunst dagegen entwickelt nur den Ausdruck selbst. Die Übertragung des Topos von der göttlichen Inspiration auf die Natur findet sich in dieser Zeit in immer wieder neuen Spielarten, so auch in der Rezeption der vermeintlichen ›Natur‹-Dichterin Anna Louisa Karsch. Sulzer bemerkt in seiner Vorrede zu ihren 1764 von Gleim herausgegebenen Auserlesenen Gedichten:298 Es ist eine alte und bekannte Anmerkung, daß die Dichter nicht durch Unterricht und Regeln gebildet werden, sondern ihren Beruf und ihre Fähigkeiten blos von der Natur erhalten. Wer diesen Beruf empfangen hat, der redet ohne Vorsatz und ohne Kunst die Sprache der Musen […]. Plato setzet den wahren Character eines Dichters darin, daß er seine Gesänge durch Begeisterung hervorbringe, sich selbst unbewußt, was er singe.299
Die göttliche Dimension ist hier aus der platonischen Inspiration ausgeblendet. Was bei der Karschin bleibt, ist Sulzer zufolge die begeisternde Natur, die aus dem Gegensatz zu Kunst und Gelehrsamkeit heraus definiert wird: »Ohne Vorsatz, ohne Kunst und Unterricht sehen wir sie [die Dichterin] unter den besten Dichtern ihren Platz behaupten. Mit Bewunderung erfahren wir an ihr, wie die Natur durch die Begeisterung würket.«300 Als Manifestation einer von menschlicher Kunst unbeeinträchtigten Natur wird hier eine Begeisterung gefeiert, die man vordem als göttliche Begeisterung und somit Offenbarung der Wirkung Gottes wertete: So erweckte im 294 295 296 297 298 299 300
Ebd., S. 82. Ebd., S. 94–117. Ebd., S. 105. Ebd., S. 94. Sulzer 1966. Ebd., S. VII f. Ebd., S. IX.
262
III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
frühen 18. Jahrhundert die Dichtung des pietistischen Sattlermeisters Johann Friedrich Rock Aufsehen, weil er seine Gedichte ohne Bildung und poetische Hilfsmittel als ›Werkzeug‹ Gottes hervorbrachte.301 Poetologisch nützlich ist der Naturbegriff in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgrund seiner Flexibilität, kommunikativen Kontinuität und variablen Beziehung zur Kunst. Vor allem aber erlaubt er die Abgrenzung der Dichtung von der Gelehrsamkeit. Verfolgen lässt sich diese Abgrenzung am Geniebegriff, mit dem Young den Dichter auf das ingenium verpflichtet sowie auf die Naturnachahmung als Garant der Originalität. Das Genie zeichnet sich durch »göttliche Begeisterung« aus302 und kann sich wie Pindar als »Stern von der ersten Größe« auf die »angebohrnen Kräfte« verlassen, ohne der »Gelehrsamkeit« zu bedürfen.303 Verflochten wird diese Metaphorik mit weiteren Metaphern, durch die das ingenium zur Gelehrsamkeit in Gegensatz gebracht wird: Das »Genie« ist »der natürlichen Stärke des Körpers« vergleichbar, die Gelehrsamkeit dagegen entspricht den belastenden »Rüstungen der Waffen«, die den »Sieg« nur verzögern; und unter Bezug auf Seneca erklärt Young, das »Genie« sei »der Gott in uns«, der es erlaubt, »in der Composition ohne die Regeln der Gelehrsamkeit« – die »Krücken« für den »Lahmen« – auszukommen.304 Er vermittelt hiermit die auf das Innere des Individuums zentrierte und in natürlicher Körper- und Ausdruckskraft sowie Unabhängigkeit von anderen Menschen sich manifestierende Genieästhetik sowie den Gegensatz zu einer Gelehrsamkeit, die mit Äußerlichkeit, Unnatur und körperlicher Behinderung assoziiert wird. Während der junge Goethe und sein Freundeskreis die aktive, maskuline Metaphorik der Genieästhetik poetologisch voll ausleben, tritt diese in der philosophisch orientierten deutschsprachigen Rezeption zurück: Hier wird die für den platonischen Inspirationsbegriff charakteristische fehlende Bewusstheit in Bezug auf den Schaffensprozess ausschlaggebend. Diese ist in Kants Definition des Genies in seiner Kritik der Urteilskraft ein Hauptkriterium für das »als Natur« vorbildliche »Genie«,305 und ähnlich bleibt in Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung das mit »Natur« assoziierte und durch »anspruchslose Simplizität«, »Einfalt« und einen »kindlichen Charakter« gekennzeichnete »naive« Genie »immer sich selbst ein 301 Zu Rock und seiner Rezeption besonders unter Bezug auf den Geniekult vgl. Schneider, U.-M. 1995. 302 Young 1977, S. 29. 303 Ebd., S. 31. Vgl. Pindar 1986, S. 18 f. (Olympische Oden II, 5, V. 88). 304 Young 1977, S. 29–31. Vgl. auch Opitz, s. u., S. 552 f. 305 Kant 1908, S. 308 (§ 46, Schöne Kunst ist Kunst des Genies). Die Beziehung zwischen Genie, Kunst und Natur erörtert Kant in diesem Abschnitt (ebd., S. 307 f.; § 46), die Beziehung zwischen Kunst und Natur besonders im Abschnitt »Von der Kunst überhaupt« (ebd., S. 303 f.; § 46).
4. Natur und/oder Kunst?
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Geheimnis«; wie der platonische Dichtertypus schafft der naive Dichter nicht bewusst kunstvoll, sondern aufgrund göttlicher Inspiration, die hier mit der Natur gleichgesetzt wird: »Seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles was die gesunde Natur tut ist göttlich).«306 Die erfolgreiche Ausgrenzung der Gelehrsamkeit aus dem Kunstbegriff zeigt sich dann im Begriff des »Kunstgenies«, das ein Pendant zum naturhaften Genie zur Verfügung stellt, um allerhöchste Schaffenskraft zu vermitteln.307 So wird Sulzer zufolge »Genie« denjenigen Menschen zugeschrieben, die aufgrund einer »natürlichen Neigung« eine außergewöhnliche »Geschicklichkeit« und »Fruchtbarkeit des Geistes« zeigen.308 Der große Künstler muss diese »allgemeine menschliche Größe« mit dem »seiner Kunst eigenen Genie« verbinden, will er »unter den Genien, die in der Geschichte des menschlichen Geistes als Sternen der ersten Größe erscheinen, einen Platz bekommen«.309 Die »Stern«-Metapher vermittelt durch die implizierte Vertikalität den Wert der ›höchsten‹ Kunst und trägt Assoziationen des Göttlich-Himmlischen sowie auch des Natürlichen, sie ist jedoch vor allem eine Metapher für spezifisch menschliche Größe. Entsprechend steht in Schillers Bestimmung des »Kunstgenies« in Unterscheidung vom bequemen »Dilettanten« die »Menschheit« im Zentrum. Der mit »echter Geniuskraft« begabte Jüngling behorcht, wenn er zum Dichter geboren ist, die Menschheit in seiner eigenen Brust, um ihr unendlich wechselndes Spiel auf der weiten Bühne der Welt zu verstehen, unterwirft die üppige Phantasie der Disziplin des Geschmackes, und läßt den nüchternen Verstand die Ufer ausmessen, zwischen welchen der Strom der Begeisterung brausen soll.310
Das ingenium bildet hier die Instanz, die zwischen Innen und Außen, Individuum und Welt, Phantasie und Konvention, Emotion und Verstand, Natur und Kunst vermittelt. Möglich wird damit die Verkörperung einer natürlichen und zugleich menschlichen Kunst als in sich vollkommene, organische, ›autonome‹ Einheit, die von jeglicher Fremdbestimmung frei nur ihren eigenen Gesetzen folgt. Die ›Kunst‹ bleibt verfügbar als Gegenpol zur ›Natur‹, nun jedoch weniger als gelernte, regelhafte Technik denn als menschlich-schöpferische Entsprechung zur Natur, als ihre Vervollkommnung, Sublimierung oder auch Begrenzung. Gerade im Übergang von ›Sturm und Drang‹ zu ›Klassik‹ 306 Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 719 (Über naive und sentimentalische Dichtung). 307 Grimm nennt als frühesten Beleg Sulzers Ausgabe von 1792 (Grimm 1984, Bd. 11, Sp. 2697; Kunstgenie); der Begriff findet sich jedoch bereits in der Erstausgabe (Sulzer 1771–1774, Bd. 1, S. 459; Genie; u.ö.). 308 Sulzer 1771–1774, Bd. 1, S. 456 f. (Genie). 309 Ebd., S. 458. 310 Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 697 (Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
ermöglicht diese Polarität die Verortung gegenüber der Tradition und die Profilierung im literarischen Umfeld. So feiert Goethe 1771 in seiner Rede Zum Shakespears Tag im Zeichen Rousseaus das Primat der »Natur«311 und sieht sich noch 1832 als Vorbild für originale »Naturdichtung« in Gegensatz zum »Meister« einer vermittelbaren technischen »Kunst«.312 Der klassische Goethe entdeckt dagegen in der Überwindung des Gegensatzes von »Natur und Kunst« die Interdependenz von »Gesetz« und »Freiheit« und nutzt die bekannten Assoziationen, um als etablierter »Meister« den Pfad dessen, der »Großes will«, vorzuzeichnen: Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemess’nen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.313
Goethes Programm entspricht in seinen Grundzügen den Ausführungen Neukirchs zum Dichter, der »in der Poesie groß zu werden« gedenkt,314 die ›Natur‹ ist jedoch – wie bereits bei Kant sowie auch im Kontext der Romantik – nicht nur die Voraussetzung großer Dichtung, sondern auch ihr Ziel. Wenn Schiller 1781 in der Vorrede zu Die Räuber konstatiert, er habe »die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben«315 und orientiere sich an den »Realitäten« der »Natur« statt an den »allzuengen Palisaden des Aristoteles und Batteux«,316 so wird mimesis durch die unmittelbare, ohne »idealische« Veränderung erfolgende Übertragung der ›authentischen‹ Natur ins schriftliche Medium überboten. Am Ende des Jahrzehnts dagegen steht in der Hymne »Die Künstler« die Überwindung und Zähmung der Natur im Vordergrund: Gepriesen wird der Mensch als »Herr der Natur, die deine Fesseln liebet, | Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet, | Und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg!«317 Mittels Vertikalitäts- und Wettkampfmetaphorik wird die Kunst philosophisch gegenüber dem natürlichen Rohmaterial aufgewertet und abgegrenzt: Die von dem Ton, dem Stein bescheiden aufgestiegen, Die schöpferische Kunst umschließt mit stillen Siegen Des Geistes unermeß’nes Reich.318
Weiter ausgestaltet ist diese Aufwärtsbewegung in der (neu-)platonischen ›Erhebung‹ der »schöpferischen Kunst« über die »Wissenschaft« des Den311 312 313 314 315 316 317 318
Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 11 (Zum Shakespears Tag). Ebd., Bd. 22, S. 933 (Noch ein Wort für junge Dichter). Ebd., Bd. 2, S. 839 (Natur und Kunst). Neukirch 1961, S. 18. Schiller 1988–2004, Bd. 2, S. 17 (Die Räuber, erste Auflage, Vorrede). Ebd., S. 13. Ebd., Bd. 1, S. 207 (Die Künstler, V. 10–12). Ebd., S. 219 (V. 397–399).
4. Natur und/oder Kunst?
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kers:319 gesellschaftlich, wenn die Wissenschaft »zum Kunstwerk […] geadelt« wird;320 topographisch und ästhetisch, wenn Künstler und Denker in petrarkistischer Manier gemeinsam einen Hügel ersteigen, um das »malerische Tal – auf einmal« zu sehen;321 metaphysisch, wenn der Geist »höh’re schön’re Ordnungen […] durchflieget«;322 und poetisch, wenn die Künstler den Denker »Durch immer höh’re Höhn und immer schön’re Schöne | Der Dichtung Blumenleiter still hinauf« und »in der Wahrheit Arme« führen.323 Erst im Reich der Schönheit vermag sich die »reife« Wahrheit zu verwirklichen.324 Natur ist hier im metaphorischen Prozess zur Kunst sublimiert. Die im 18. Jahrhundert aktualisierte Vielfalt der Bedeutungen und metaphorischen Assoziationen der Begriffe ›Natur‹ und ›Kunst‹ bietet den Dichtern in der Romantik ein enormes poetologisches Potenzial, zumal die dezidierte Lösung von humanistischen Vorgaben einerseits und das Interesse an sprachlichen Prozessen andererseits eine Erforschung neuer metaphorischer Dimensionen in Interaktion mit anderen Disziplinen fördert. Der Naturbegriff bewegt sich unendlich interpretierbar zwischen physischer Natur, göttlicher Schöpfung und psychologischen Prozessen und wird zudem mit der Orientierung an vorschriftlichen Formen der Dichtung magisch vertieft. Aber auch der Kunstbegriff ist nun für (über-)menschliche Schöpfung und Schöpfungskraft offen. Die Polarität zwischen Natur und Kunst bleibt weiterhin wirksam und dient sowohl zur Abgrenzung als auch zur Beziehungsstiftung. Novalis nutzt die Polarität zur Bestimmung des romantischen Projekts, wenn er Kunst mit Rhetorik koppelt, um die Poesie implizit als seiende ›Natur‹ zu ihr in Gegensatz zu bringen: »Poësie ist Poësie. Von Rede(Sprach)kunst himmelweit verschieden.«325 Sprachliche Tautologie vermittelt auf mathematische Weise die Reinheit und Einfachheit einer universalen Poesie, die durch die Metapher vom ›Himmel‹ mit dem Hohen, Göttlichen assoziiert ist; es ist die platonische Idee von der Poesie, die über die zielgerichtete, komplexe menschliche Rhetorik erhoben ist. Ebenfalls gegen eine rhetorische Sprachauffassung gerichtet ist die Zusammenführung von Natur und Kunst in den von Wilhelm Heinrich Wackenroder verfassten und 1796 von Ludwig Tieck herausgegebenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbru-
319 320 321 322 323 324
Ebd. (V. 398 und 404). Ebd. (V. 405). Ebd. (V. 408). Vgl. zu diesem ›prägnanten Moment‹ Costazza 2002. Ebd. (V. 410 f.). Ebd., S. 219 f. (Die Künstler, V. 427 f. und 432). Ebd. (V. 404 und 429). Vgl. zu dem Gedicht auch ebd., Bd. 11, S. 406–410 (Schiller an C.G. Körner, 30.3.1789). 325 Novalis 1975 ff., Bd. 3, S. 685 (Aufzeichnungen aus dem Sommer und Herbst 1800, Nr. 668).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
ders.326 Die beiden Begriffe treffen sich im gemeinsamen Nenner der »Sprache«, aber unter Eliminierung der »Sprache der Worte«.327 Denn diese ist zwar eine »große Gabe des Himmels« und ermöglicht dem Menschen die Herrschaft »über den ganzen Erdkreis«, aber »das Unsichtbare, das über uns schwebt«, können die Worte »nicht in unser Gemüth herab[ziehen]«.328 In scharfem Gegensatz zur humanistischen Sprachauffassung bei Klopstock, der in seinem Epos Der Messias gerade das dichterische Wort zum Medium religiöser Erhebung gemacht hatte, wird nun eine mit dem Göttlichen verbindende Macht des Wortes negiert. Hierzu bedarf es anderer Sprachen. Um diese geht es in dem Kapitel »Von zwey wunderbaren Sprachen, und deren geheimnißvoller Kraft«: Ich kenne aber zwey wunderbare Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt hat, die himmlischen Dinge in ganzer Macht […] zu fassen und zu begreifen. Sie kommen durch ganz andere Wege zu unserm Inneren, als durch die Hülfe der Worte; sie bewegen auf einmal, auf eine wunderbare Weise, unser ganzes Wesen und drängen sich in jede Nerve und jeden Blutstropfen, der uns angehört. Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meyne: die Natur und die Kunst.329
Die rhetorische ›Bewegung‹ der Leidenschaften bis ins Blut hinein ist hier zusammen mit dem Sprachbegriff aus der verbalen Sprache auf die nichtverbale Natur und Kunst übertragen. Erreicht wird die Bewegung des Innersten nicht durch bewusste verbale Technik und auch nicht durch das innewohnende, unreflektierte ingenium des Dichters, sondern »auf wunderbare Weise« als Leistung Gottes. Aufgegriffen wird im Prozess der Uminterpretation humanistischer Motive die antike Inspirationstheorie sowie vor allem die mystische Erfahrung der Wirkung des Schöpfers im innersten Gefühl: Im Pietismus ist die ›Bewegung‹ des Herzens und der Seele durch Gott ein wiederkehrendes Bild, das dann in den späteren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in der Erbauungsliteratur und in der säkularen Literatur der Empfindsamkeit tradiert wird.330 Bedeutsam ist die Metapher von den »Wegen zu unserm Innern«: Es sind dies nicht Wege, auf denen der Dichter aktiv fortschreitet, sondern Wege, auf denen die Wirkmittel des Schöpfers Zugang zum rezeptiven Innersten des Menschen finden. Der Dichter als aktiv prophetischer Vermittler der Wahrheit Gottes, aber auch der »nur unser Gehirn« anspre326 Wackenroder 1991. Die Frage nach Tiecks Anteil lässt sich aufgrund des Mangels an eindeutigen Zeugen nicht klar bestimmen (vgl. den Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 283–288). 327 Ebd., S. 97 (Von zwey wunderbaren Sprachen). 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Vgl. Langen 1954, S. 36.
4. Natur und/oder Kunst?
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chende Philosoph331 weichen hier dem eher passiv verstandenen Liebling Gottes, der kontemplativ die »dunkeln Gefühle« als gottgesandte »verhüllte Engel« zu erfahren vermag, indem er in »Demuth« anbetet.332 Hatte der Begriff des ›Kunstgenies‹ sowohl ›Natur‹ als auch ›Kunst‹ auf den Menschen zentriert und daraus den Inbegriff des großen Dichters entstehen lassen, so werden hier beide Begriffe religiös aufgeladen und von Gott hergeleitet. Metaphorik spielt für die Vermittlung der Natur- und Kunstauffassung in diesem Text eine zentrale Rolle, denn sie erlaubt die sprachliche Übertragung sprachlicher Prozesse auf nicht-sprachliche Bereiche und vermittelt dadurch sprachlich die Überwindung der Sprache im Bild. So berichtet der Ich-Erzähler, er habe Gott zunächst aus den »uralten heiligen Büchern unserer Religion« kennengelernt, aber die »Natur« als »das gründlichste und deutlichste Erklärungsbuch über [Gottes] Wesen und seine Eigenschaften« erfahren; das Säuseln der Bäume und Rollen des Donners »haben mir geheimnißvolle Dinge von ihm erzählet, die ich in Worten nicht aufsetzen kann«, und eine von Gott »in das Menschenherz« gelegte »Sympathie« erlaube besser als die »abgemessensten Worte« die Erfahrung von Gefühlen, die »auf unbekannten Wegen« ins »Innere« dringen.333 Die Kunst ist als menschliche Entsprechung zur göttlichen Natur konzipiert und »eine Sprache ganz anderer Art, als die Natur«, sie wirkt aber »durch ähnliche dunkle und geheime Wege« ebenfalls auf das »Herz des Menschen«: »Sie redet durch Bilder der Menschen und bedienet sich also einer Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem Äußern nach, kennen und verstehen.«334 Metaphern der Schrift und Rede verbinden Natur und Kunst und werden wie in der rhetorischen Tradition von der Wirkung her aufgefasst, münden aber im innerlichen religiösen Erfahrungsprozess. Angestrebt wird im Kapitel »Von zwey wunderbaren Sprachen« nicht ein spannungsvoller Ausgleich zwischen Kopf und Herz, Kunst und Natur wie bei Schiller, sondern Einigung: »[Es] scheinen […] alle Theile unsers (uns unbegreiflichen) Wesens zu einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches die himmlischen Wunder, auf diesem zwiefachen Wege, faßt und begreift.«335 Ausgeschaltet werden damit Polarität und Wettkampf zugunsten der Komplementarität. Weiterhin wirksam bleibt eine vertikale Metaphorik, in der – in Umkehrung der aufklärerischen Hierarchie – Mensch und Kunst eine untergeordnete Stellung gegenüber Gott und Natur innehaben. Kunst ist wie auch bei Schiller assoziiert mit der »höchsten menschlichen Vollendung«; höher bewertet wird jedoch das göttliche Fragment: »Die Natur […] gleichet abgebrochenen Orakelsprüchen 331 332 333 334 335
Wackenroder 1991, S. 99 (Von zwey wunderbaren Sprachen). Ebd., S. 98. Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
aus dem Munde der Gottheit.«336 Aus der Perspektive Gottes ist – so spekuliert der Erzähler – die Natur die göttlich vollendete Entsprechung zum menschlichen Kunstwerk.337 »Kunst« ist in Wackenroders Werk nicht die Poesie, sondern die Malerei, und die Rolle der Sprache erschöpft sich scheinbar in der Funktion des Metaphernspenders: Die Sprache dient dazu, Natur und Kunst jenseits der Sprache zu situieren. Gerade deshalb ist der Text poetologisch interessant. Denn es lässt sich hier verfolgen, wie die Negierung der Sprache eine Entfaltung ihrer suggestiven Möglichkeiten stimuliert. Das Zeitalter der Romantik entfaltet eine Metaphorik, welche die Sprachlichkeit der Bilder bewusst macht, um sie in Bild, Mathematik oder Musik imaginativ zu transzendieren. Über Sprache schafft die romantische Dichtung Übergänge in mentale Prozesse, die nicht auf Sprache angewiesen sind und dadurch der Imagination neue Wege eröffnen. Wackenroders Text verkörpert nicht die romantische Auffassung von ›Kunst‹ und ›Natur‹; charakteristisch für die romantische Poetik ist vielmehr die enorme Vielfalt der Ausprägungen dieses binär angelegten poetologischen Topos. Die Bedeutung dieser Begriffe kann man linear oder dialektisch aus der Aufklärungspoetik herleiten; dies wäre jedoch zu reduktiv. Denn kennzeichnend für den romantischen Umgang mit ›Kunst‹ und ›Natur‹ ist die energische Ausschöpfung der reichhaltigen metaphorischen Möglichkeiten, die der intensive Diskurs um und mit dieser traditionsbefrachteten Polarität im Laufe des 18. Jahrhunderts eröffnet hatte. Fortgeführt wird die Debatte im Zeitalter des Realismus, wobei die beiden Begriffe gerade in der Abgrenzung gegenüber der Romantik eine bedeutende Funktion erfüllen. Die Tendenz geht im Realismus dahin, ihren Facettenreichtum normativ zu beschränken. Für Fontane markiert die gescheiterte 48er Revolution den Anfang einer Zeit, in der »die Welt des Spekulierens müde« ist:338 In seinem 1853 publizierten Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 verpflichtet er die Literatur auf »das Wirkliche« und »das Wahre«.339 Orientieren soll sich die deutsche Literatur einerseits an den Ärzten, Politikern und Militärs, andererseits an den bildenden Künsten, vor allem der Skulptur des Berliner Klassizismus.340 Fontane verortet sein literarisches Programm in Bezug auf Natur und auf Kunst, um es gegen konkurrierende Tendenzen abzugrenzen. Der Naturbegriff bleibt im Hintergrund, bildet jedoch den Maßstab, wenn Fontane in einem militärischen Bild die Gemeinsamkeiten mit der Zeit Lessings hervorhebt: Ziel ist »das Frontmachen gegen die Unnatur, sie sei nun 336 337 338 339 340
Ebd. Ebd., S. 100. Fontane 1969, S. 236. Ebd., S. 241 f. Zu dem Aufsatz s. u., Kapitel VI/6. Ebd., S. 236 f.
4. Natur und/oder Kunst?
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Lüge oder Steifheit«.341 Implizit wird Natur auf diese Weise philosophisch mit Wahrheit und biologisch mit Körperbewegung identifiziert. Körpermetaphorik spielt in der Argumentation eine zentrale Rolle, denn damit reklamiert Fontane die ›natürliche‹ Dichtung gegenüber den romantischen Gegnern, wobei ›Natur‹ nicht nur als Gegenüber und Orientierungsmaßstab fungiert, sondern auch als innere Kraft, wie in einem weiteren militärischen Bild deutlich wird: der Realismus ist der geschworene Feind aller Phrase und Überschwenglichkeit; keine glückliche, ihm selber angehörige Wahl des Stoffs kann ihn aussöhnen mit solchen Mängeln in der Form, die seiner Natur zuwider sind.342
Indem Fontane den Realismus und wechselweise auch die Kunst personifiziert, kann er weitere Metaphern einbeziehen, die in den vergangenen Debatten um Kunst und Literatur poetologische Bedeutung erlangt hatten. So konkretisiert er die Körpermetaphorik mit etablierten und daher leicht eingängigen Zeit-, Weg- und Krankheitsmetaphern, die den Realismus als einzig wahre, natürliche, menschengemäße »Richtung« ausweisen: Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war.343
Fontane beansprucht hier für den Realismus den von der Romantik besetzten Ursprung der Poesie, wenn er den Zeitbezug zwischen Realismus und Kunst (»so alt als«) in deren zeitlose Identifikation überführt; damit wird der Realismus zum »ewigen Gesetz« der Kunst.344 Die Wegmetapher – etablierte Metapher für Zeit – bestätigt dieses Gesetz als »einzig richtig« und markiert andere »Richtungen« als Irrwege. Mit der Krankheitsmetapher führt Fontane den Topos Goethes fort, demzufolge das Romantische das »Kranke« verkörpert.345 Den Realismus erklärt er damit zum natürlichen Lebensprinzip der Kunst. So wichtig wie die Diskreditierung der Romantik ist Fontane die Abgrenzung von dem als »Entwicklungsstadium« bewerteten »nackten, prosaischen Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt«.346 Mit der Metapher von der Nacktheit wird die Körpermetaphorik in den Bereich der Kleidung erweitert, der andeutungsweise schon in Goethes Rede Zum Shakespears Tag poetologisch eingesetzt worden war. Während dort jedoch die Befreiung von bewegungseinschränkenden Kleidern positiv 341 342 343 344 345 346
Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 238. Ebd. Goethe 1985 ff., Bd. 13, S. 239 (Sprüche in Prosa, Nr. 2.101.1). Fontane 1969, S. 237.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
besetzt ist,347 bewertet Fontane die Nacktheit negativ: Unter Realismus versteht er »nicht […] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten«; abgelehnt wird unter Bezug auf die Malerei insbesondere die »Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen« und mehr noch »Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.)«.348 Damit grenzt Fontane die darzustellende ›Natur‹ entscheidend ein: Gemeint ist die vom Menschen kultivierte Natur unter Ausblendung seiner natürlichen Determiniertheit, wie sie in der Literatur Büchner oder später der Naturalismus in den Vordergrund stellten. Fontane bereitet mit diesem Argument die Ausführungen zur »Kunst« vor, die er mit Metaphern aus dem Bereich der Skulptur von der Wiedergabe des natürlichen Rohmaterials unterscheidet: »Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.«349 Fontane zufolge ist das Prinzip des Realismus die Veredlung der Natur durch die »künstlerische« Hand, wobei religiöse Metaphorik – wie schon in der Metapher von der »Verklärung« – der Sublimierung dient: »Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken.«350 In Gegensatz zur sprachlich-musikalischen Erweckungsmetaphorik im paradigmatisch romantischen Gedicht Wünschelrute351 ist die Metaphorik hier – typisch für den Realismus – visuell-taktil. Betont wird nochmals die Perspektive des Künstlers, wenn Fontane die realistische Kunst als »Interessenvertretung« definiert und im Interesse des »Wahren« »die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene« ausschließt.352 Fontanes Text führt die Debatte um die Beziehung zwischen Kunst und Natur im Interesse der Kunst und des Künstlers fort, wobei der platonische Inspirationstopos noch in der Metapher von der ›Weihe‹ erkennbar ist. Die Natur als außerhalb des Menschen wirksame Kraft ist zur Lieferantin von Rohmaterial geworden; im Vordergrund steht als »Stoff« das »volle Menschenleben«.353 Die idealisierende Tendenz, die Fontane für die Gestaltung der Natur geltend macht, ist charakteristisch für den deutschen Realismus insgesamt und ließ sich in der Poetik des sozialistischen Realismus politisch 347 Vgl. Goethes Kritik an einem Jahrhundert, in dem »wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen«; als Gegenbegriff fungiert die »Natur« (Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 12; Zum Shakespears Tag). Vgl. auch seine Darstellung der Auswirkung des Rousseau-Kults auf die Mode, in »Campagne in Frankreich« (ebd., Bd. 16, S. 544 f.). 348 Fontane 1969, S. 240 f. S. u., S. 594 f. 349 Ebd., S. 241. 350 Ebd. 351 Eichendorff 1985–1993, Bd. 1, S. 328 (Wünschelrute). 352 Fontane 1969, S. 242. 353 Ebd., S. 241.
4. Natur und/oder Kunst?
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uminterpretieren. Auch diese Form des Realismus sollte das Wirkliche abbilden – »Die Werke der Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler müssen die gesellschaftliche Realität widerspiegeln«354 –, dabei jedoch die reine Wiedergabe meiden und ein spezifisches Interesse verfolgen. Weiterführen konnte der sozialistische Realismus zudem die Metaphorik vom »Fortschritt« in der Kunst, der vom missverstandenen zum »echten« Realismus führt,355 wobei nun »die Idee in der Kunst […] der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen [muß]«.356 Und ähnlich apodiktisch wie bei Fontane lautet der Absolutheitsanspruch: »Eine große deutsche Kunst wird entweder eine sozialistisch-realistische sein, oder sie wird nicht sein.«357 In den verschiedenen Interpretationen des ›Realismus‹ zeigt sich die Produktivität der Spannung zwischen Natur und Kunst sowie die Variabilität beider Begriffe: Weitergeführt ist die von Aristoteles vorausgesetzte Orientierung an den wahren Dingen; poetologisch genutzt wird jedoch zugleich die Differenz zwischen den Dingen und dem Kunstwerk.358 Dass das poetologische Potenzial des Begriffspaares Natur und Kunst bis in die Gegenwart weiterhin aktualisierbar bleibt, zeigt sich im Kontext eines stark profilierten Interesses an der Beziehung der Dichtung zu den Naturwissenschaften, so in der Poetik von Durs Grünbein oder Raoul Schrott. Damit wird in Fortführung aristotelischer Apologie die Dichtung zu einer naturwissenschaftlich verstandenen ›Natur‹ in Bezug gesetzt und aufgewertet, und komplementär dazu der rhetorisch geprägte Topos von der Verbindung zwischen Dichtung und Wissenschaften aufgegriffen. Als Beispiel diene hier ein Passus aus dem »Poesie und Physis« betitelten Teil von Schrotts Fragmente einer Sprache der Dichtung. Er macht hier Poetik metaphorisch als Physik vorstellbar und lässt die Sprache der Physik für das Dichten »fruchtbar« werden: Poetik ist auch eine Physik der Worte. Sie ist es nicht unbedingt thematisch, obwohl man ihre Naturlehre aus ihren Ursprüngen noch herleiten kann, wo sie mit dem Deuten von Dingen und Göttern beschäftigt war: ein Bereich, der sie immer noch bestimmt, weil die physis der Natur das einzige wirkliche Gegenüber ist, mit dem sich die Dichtung wieder und wieder auseinandersetzt, wenn ihr an Wahrheit etwas liegt. Sie ist es auch nicht unbedingt formal, obwohl sie eine techne ist, eine Kunstfertigkeit und Technik, die mit dem Wissen in dem Maß identisch ist, in dem sie es den Strukturen der Natur gleichsetzt. Und praktisch gesehen hilft es, sich die Worte vorzustellen als Objekte, die ihre eigenen Vektoren besitzen, 354 SED 1972, S. 133; aus der »Verordnung zur Entwicklung einer fortschrittlichen demokratischen Kultur des deutschen Volkes und zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Intelligenz« vom 16.3.1950. 355 Fontane 1969, S. 241. 356 Grotewohl 1952, S. 208. 357 Becher 1972, S. 241. 358 Vgl. grundsätzlich zu diesem Komplex das noch immer anregende Standardwerk von Erich Auerbach (1988).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Radius, Volumen, Zeiten und Konstanten, Ladung, Masse und Dichte, Trägheitsmomente und Gewichte, Drehmomente und Oberflächenspannungen. Der Vergleich ist gerade deshalb fruchtbar, weil die Physik eine Terminologie der Abstraktion entwickelt hat, welche auch ein Gedicht zu interpretieren wüßte, seine Optik und Akustik und die Mechanik seiner Verse.359
Im Hintergrund wirkt die Spannung und Historie der Polarität von Natur und Kunst. Der Poetik wird eine »Naturlehre« zugeschrieben, die ganz unscheinbar aus einem konzessiven Nebensatz hervortritt und zunehmend die Dichtung als Praxis vereinnahmt. Ausgeblendet ist das deutende Subjekt: Dem objektiven »Gegenüber« steht als ›Subjekt‹ die Dichtung selbst mit ihrem Engagement für die zeitlose Wahrheit der Natur gegenüber. Ebenso erscheint die Poetik – oder die Dichtung? – als eine Kunst im Sinne vor-romantischer Bedeutungen. Aktualisiert sind »Kunstfertigkeit«, »Technik« und »Wissen«; statt der verbreiteten poetologischen Vertikalitätsmetaphorik findet sich eine immense Vielfalt von Richtungen und physikalischen Strukturen. Schrotts Einsatz der Polarität von ›Natur‹ und ›Kunst‹ und seine apodiktische Gleichsetzung der Poetik mit Natur und Kunst unterscheidet sich grundlegend von Fontanes Ansatz, denn es geht hier nicht um die Bestimmung einer epochalen Richtung, sondern um ein poetologisches Experiment. Statt philosophisch klar zwischen Theorie und Praxis zu scheiden und Poetik zur theoretischen Definition, wirkungsorientierten Programmatik oder praxisbezogenen Anweisung einzusetzen, stimuliert Schrott explizit die Vorstellungskraft durch poetologische Metaphorik: Es »hilft […], sich die Worte vorzustellen als Objekte«. Poetik als Wissenschaft geht über in Dichtung als techne, Dichtung geht über in Interpretation. Die Polarität von Natur und Kunst wird in Frage gestellt, wenn Kunst sich über das »Wissen« den »Strukturen der Natur« annähert: Eine Verbindung schafft hier nicht das subjektive, interne ingenium, sondern die Äquivalenz von objektiven, außerhalb des Menschen gegebenen Strukturen. Schrott lässt die Beziehung der Poetik zur Natur wie auch zur Kunst in der Schwebe, denn in Kontrast zur behaupteten Determiniertheit der Poetik durch die beiden traditionsbefrachteten Begriffe steht ihre textuelle Unbestimmtheit: Poetik ist »auch eine Physik der Worte«, »nicht unbedingt thematisch« und »nicht unbedingt formal«. Die Fülle der physikalischen Metaphern für die Worte und die konjunktivisch in Aussicht gestellte Interpretation des Gedichts durch die Metaphern der Physik stimulieren neue Verbindungen zwischen Natur und Kunst. Die aufeinander bezogenen Begriffe Natur und Kunst bieten somit weiterhin die Möglichkeit, dichterische Projekte gegenüber der Tradition und im poetologischen Umfeld zu verorten. Auch das neue Medium der digita359 Schrott 1997b, S. 29.
4. Natur und/oder Kunst?
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len Kommunikation wird mittels dieses Begriffspaars interpretiert und poetologisch wirksam gemacht. Insbesondere die Virtualität fordert zum poetologischen Experiment heraus, das zugleich jedoch mittels dieser tradierten Begriffe erfolgt. Die neuen Möglichkeiten des ›Surfens‹ im ›Netz‹, des ›Chattens‹ in einem virtuellen ›Raum‹, des Spiels in groß angelegten Szenarien sowie auch die emotional involvierte und zugleich gespielte Beziehung zu einem elektronischen ›Tier‹ oder ›Baby‹ reizen auch die Dichter zur Erprobung neuer Formen der Dichtkunst und insbesondere der Interaktion mit dem Rezipienten. So führt Susanne Berkenheger in Hilfe – Ein Hypertext aus vier Kehlen die Metaphorizität der Computersprache fort bis in die Personifikation von technischen Mitteln der Datenverarbeitung: Vier Internet-Browser-Fensterchen name[n]s Lea, Pia, Ed und Max huschen vor dem Leser über den Computerbildschirm, locken, umschmeicheln und verfluchen den steuernden Surfer. Der klickt, was ihm gefällt, und macht sich Liebhaber, Feinde, Bewunderer und Beleidigte. Lea, Pia, Ed und Max sind flüchtige Gestalten, ihre Charaktere wechseln sie wie andere die Hemden. Hauptsache: Sie bekommen einen Klick Aufmerksamkeit. Sie sind weder künstlich noch realistisch gezeichnet, sie verhalten sich wie Netzgestalten, Text-Identitäten für Spielerfiguren, die sich Menschen vor dem Computer ausdenken, um mit ihnen anderen Spielern im Netz zu begegnen.360
Der Gegensatz zwischen Kunst und Natur (hier Realismus) dient auch im neuen Medium der Situierung des Projekts und einer Steuerung der Rezeptionsweise. Eindeutig ist Berkenhegers Abgrenzung ihres Projekts von einer Nachahmung der physischen Natur sowie von einer Illusion der Natürlichkeit. Komplexer ist der Bezug zur Kunst, denn negiert wird lediglich die »Künstlichkeit«, nicht die Kunst. Mit dieser liiert sich potenziell die Virtualität als Werk des »Menschen vor dem Computer«. Das Werk selber besteht im Spiel mit Figuren, deren unstete Identität zwischen Maschine und Mensch die Flüchtigkeit und Metaphorizität des Mediums verkörpert. Denn selbst ihre metaphorische Belebung wird in einen Vergleich aufgelöst, wenn sie sich nur »wie Netzgestalten« verhalten. Wichtig ist einzig ihre Funktion: Stimulieren sollen sie die Performanz einer ausgedachten Emotionalität in einer virtuellen Geselligkeit zwischen Produzent und Rezipient. Was zählt, ist nicht das Produkt, sondern der Prozess, nicht der ewige Ruhm, sondern der »Klick Aufmerksamkeit«. Die Vergänglichkeit des Netz-Mediums wird jedoch durch das dauerhaftere Medium der CD ergänzt: Die edition cyberfiction der Website cyberfiction.ch hat sich dieses Textes im Rahmen eines Editions-Projekts angenommen, denn »die protagonisten eines neuen literarischen genres verdienen auch ausserhalb der ›netzliteratur-szene‹ etwas aufmerksamkeit«.361 In einer Welt, die den Rezipienten zunehmend mit Information überlastet, wird ›Aufmerksamkeit‹ 360 Berkenheger 2004. 361 Cyberfiction 2004.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
sowohl textintern als auch textextern zu einer bedeutenden poetologischen Kategorie.362 Das literarische Spiel mit der Virtualität ist prinzipiell nicht neu, sondern ein wesenhafter Reiz der Literatur: Schon der mittelalterliche höfische Roman bezog seine Wirkung aus dem »freien Spiel mit dem Unwahrscheinlichen«.363 Das Experiment mit den Möglichkeiten der digitalen Medien hat erst begonnen, und die Mitglieder einer Generation, die mit der Möglichkeit aufwächst, einen Film linear zu rezipieren, um ihn dann interaktiv als Mitautor zu verändern und die eigene Rolle im Spiel auszusuchen, wird vermutlich auch Texten immer wieder neue Strukturen und Bewegungen abgewinnen. Die Dynamisierung der Literatur regt dazu an, auch ältere Formen neu zu lesen und ihre Bezüge zu ›Natur‹ und ›Kunst‹ zu überdenken. Diese Begriffe, zusammen mit den Worten in ihrem semantischen Umfeld, haben auch mit Veränderungen der literarischen Landschaft ihr poetologisches Potenzial nicht eingebüßt; vielmehr bieten sie in Zeiten des Wandels Orientierungsbegriffe, mit denen veränderte Konstellationen von Produzent und Rezipient, Werk und Kontext in Bezug auf das dichterische Medium bestimmt werden können. Gerade aufgrund ihrer kontinuierlichen, variationsreichen Tradition ermöglichen sie auch die wirksame Profilierung des Neuen. Zugleich geht die alte Debatte um die schaffenspsychologische Bedeutung von Natur und Kunst, Eingebung und Technik weiter: Immer wieder stellt sich mir die Frage, warum es heute als fragwürdig, ja anachronistisch gilt, von Eingebung, von Ingenium zu sprechen, man spricht lieber davon, daß es jedermann gegeben ist, einen Text herzustellen. Ich melde meine Bedenken an.364
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient »Lichte die Anker, spanne die Segel aus und stich […] mit Deinem ganzen Talent in See – warum soll nicht auch ich einmal mit einem Poeten poetisch reden?«365 Mit diesen Worten an einen Dichter wird nicht nur metaphorische Rede gattungsspezifisch legitimiert. Plinius vermittelt durch die Metapher vom ingenium auf hoher See die Vorstellung vom unbegrenzten, aben362 Die ›Aufmerksamkeit‹ gewinnt mit der zunehmenden medialen Besetzung der kommunikativen Umwelt an Bedeutung; vgl. schon Walter Benjamins Ausführungen (Benjamin 1972 ff., Bd. I/2, S. 505; Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit). 363 Haug 1992, S. 106. 364 Mayröcker 1987, S. 128 f. 365 Plinius 1982, S. 440 f. (Ep. VIII, 4, 5). Zur nautischen Metaphorik in der Antike vgl. Curtius 1993, S. 138 f.; s. o., S. 20 f.
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
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teuerlustigen Schaffen in und durch die Sprache.366 In der deutschen Literatur entwickelte die Assoziation zwischen ingenium, Dichtertum und auffällig poetischer Metaphorik vor allem in der ›Geniezeit‹ eine poetologische Kraft, die für lange Zeit die Vorstellung von Dichtung bestimmte. Im Diskurs dieser Zeit lässt sich besonders deutlich verfolgen, wie die Metapher mentale und sprachliche Prozesse synergetisch zu verbinden und dem Rezipienten in sprachlicher Form mitzuteilen vermag. Denn kennzeichnend für den poetologischen Diskurs dieser Zeit ist die programmatisch irrationale Assoziation von Metaphern aus der Antike, der Bibel und dem zeitgenössischen Schrifttum mit dem Ziel, die eigene Kreativität zu fördern und im sprachlichen Prozess rationalistisch gefestigte Konventionen der Dichtkunst zu sprengen, zu unterlaufen und aufzulösen. Dass Metaphern von Dichtern zur Anregung der eigenen Schaffenskraft eingesetzt wurden – und werden – geht oft aus Briefen hervor, in denen der Schaffensprozess beschrieben oder im Schreiben erforscht wird. Als Strategie ist dies in einem Brief erkennbar, in dem Johann Heinrich Voß 1773 dem Freund Ernst Brückner seine literarischen Pläne unter Bezug auf sein Verhältnis zum Göttinger ›Hainbund‹ sowie zu den etablierten Odendichtern erläutert. Er erprobt dabei verschiedene Metaphern für das Dichten, um die Konkurrenz mit den etablierten Vorbildern zu verdeutlichen, zugleich jedoch die eigene Schöpferkraft vom Druck der Vorbilder zu befreien: Ich zweifle gar nicht mehr daran, dass ich mich unter des Bundes Flügeln unsterblich singen werde. Noch denk’ ich immer an Ramler, den will ich übersingen; ist das geschehn, dann denk’ ich an keinen, dann denk’ ich nur an mich. Denn Klopstock, Klopstock der möcht’ einem doch wieder bange machen. Aber nie hinter ihm! zur Seite giebt’s der Wege genug! und brichst du dir deine Dornenbahn auch nicht so weit hinein, als er die seinige, so soll man dich doch in eine Gattung mit ihm setzen. Wer immer nur aus sich selbst herausspinnt, der muss in seiner Art Original werden.367
Jede dieser Metaphern rekurriert auf traditionelle Schaffensmetaphern, jede entwirft jedoch eine andere Vorstellung vom Dichten, wodurch sich eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der poetologischen Tradition ergibt. Die Möglichkeit, mit dem Dichten unsterblichen Ruhm zu erlangen, vermittelt die Flugmetapher des selbstbewussten Horaz, »der über des Nestes Enge hinaus zu höherem Flug die Schwingen gereckt hat.«368 In 366 Kontext ist die Ermutigung des Adressaten Caninius, der beabsichtigt, den Dacerkrieg zu beschreiben; Plinius empfiehlt unter Bezug auf Homer »Kühnheit« (audentia) im Umgang mit der Sprache (Plinius 1982, S. 438 f.). 367 Voß 1872, S. 109. Der Brief ist in Voß 1829–1833 nicht enthalten. 368 Horaz 1993, S. 498 f. (Ep. I, 20, V. 20 f.). Vgl. auch Plinius d.J., demzufolge sich das ingenium von Caninius »hoch aufschwingt« (Plinius 1982, S. 438 f.; Ep. VIII, 4, 3). Boileau aktualisiert die Vertikalitätsmetaphorik in Bezug auf den dichterischen Wettstreit in seinem »Discours sur l’Ode« unter Bezug auf Pindar und Horaz (Boileau 1966, S. 228).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
kuriosem Gegensatz zum horazischen Bild steht jedoch die Metapher »unter des Bundes Flügeln«, denn sie bettet den Dichter ins Nest und blockiert mit den Flügeln des Muttervogels die Aufwärtsbewegung. Hier spielt möglicherweise eine biblische Metapher hinein, in welcher der Psalmensänger die Hilfe Gottes preist: »Denn du bist mein Helffer / Vnd vnter dem schatten deiner Flügel rhüme ich«369 – das dichtende Individuum versichert sich der produktiven Unterstützung durch die Gemeinschaft. Als Wettkampfmotiv erscheint die (Oden-)Flugmetapher in der Zusammensetzung »übersingen« in Bezug auf den etablierten Konkurrenten Karl Wilhelm Ramler. Überwunden wird der Wettkampf dann in der ungehinderten Zentrierung auf das eigene Schaffen, um dann mit der Hinwendung zum noch größeren Klopstock wieder in den Vordergrund zu treten. Hier nun wendet sich Voß in die Horizontale, indem er die horazische Wegmetapher aufgreift: »Freien Ganges bin ich als erster durch wegloses Gebiet geschritten, nicht fremden Spuren nachgetreten.«370 Für Voß jedoch vermittelt die Metapher nicht Selbstbewusstsein, sondern die überragende Kraft des etablierten Dichters Klopstock. Die Lösung des Abhängigkeitsproblems bringt keiner dieser erprobten Wege, sondern erst die Eliminierung der Konkurrenzstruktur in der Fokussierung auf die eigene innere Schaffenskraft. Das – ebenfalls traditionsreiche – Dichten als ›Spinnen‹371 befreit von der Orientierung an (über)mächtigen Vorgängern. Hier eröffnet sich das naturhafte Schaffen aus dem Innern heraus, das für Goethe zentral wird und sich bei ihm sowie in der Romantik mit religiös fundierter Innerlichkeit verbindet. Voß erprobt etablierte Vorstellungen vom originalen Schaffen, um in einem zunehmend vom Postulat der Originalität beherrschten poetologischen Kontext das eigene Dichten überhaupt erst zu ermöglichen. Die Poetik stellt sich hier dar als Reflexion, die von intertextuellen Bezügen stimuliert und strukturiert wird. Die Widersprüchlichkeiten der metaphorischen Bewegung ergeben sich aus der Unsicherheit gegenüber den Vorbildern.372 Eine ungleich stärkere Wirkung erreicht die Originalitätsmetaphorik in ›organisch‹ personifizierter Form, wenn die Bewegung einheitlich inszeniert ist. Dazu bedarf es allerdings eines ausgeprägten dichterischen Selbst369 Ps. 63, 8. 370 Horaz 1993, S. 494 f. (Episteln I, 19, V. 21 f.). 371 Vgl. Platon 1994, Bd. 2, S. 180 (Phaidon 56; 114d). S.a. die Belege in Grimm 1984, Bd. 16, Sp. 2527 f. (spinnen). 372 Erhellend ist für diese Reflexion des jungen Voß im Vergleich zu Goethe Blooms Theorie von der Einflussangst: »The anxiety of influence cripples weaker talents but stimulates canonical genius« (Bloom 1994, S. 11). Der ›kanonische‹ Dichter nutzt Metaphern zur Projizierung seiner Differenz: »Literature is […] the motive for metaphor that Nietzsche once defined as the desire to be different […]. This partly means […] to be different from the metaphors and images of the contingent works that are one’s heritage« (ebd., S. 12). Blooms binäres Modell ist jedoch zu vereinfacht: Metaphern der Selbstprojektion eröffnen auch dem ›schwächeren‹ Dichter Möglichkeiten des Schaffens.
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
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bewusstseins. Goethe greift in seiner Rede Zum Shakespears Tag die horazische Wegmetapher auf, mit der Young das Genie vom Gelehrten abgegrenzt hatte, der »die heiligen Fußstapfen der großen Vorgänger« mit »blinder Ehrerbiethung« betritt.373 Shaftesbury hatte Shakespeare mit Prometheus konkurrieren lassen, Pope hatte ihn mit der Stimme der Natur identifiziert und Young hatte ihn zum modernen Genie schlechthin erklärt. Bei Goethe ist Shakespeare der »größte Wandrer«, dessen »gigantische Schritte« der jüngere Dichter »anstaunt« und dessen »Fußstapfen« er folgt.374 Dass diese Nachfolge dem Jüngeren jedoch zur »Ehre« gereichen würde, ließ sich mit Lessing argumentieren, der in Bezug auf Shakespeare erklärt hatte: »Ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden.«375 Dem entspricht die ins Organische gewendete Metapher Goethes, derzufolge aus Shakespeare »die Natur weissagt«:376 »Von Verdiensten die wir zu schätzen wissen haben wir den Keim in uns.«377 Auf diese Weise wird das »Ich!« des jüngeren Dichters nach biblischem Muster durch die Begegnung mit Shakespeare ›sehend‹ und fühlt dank seinem eigenen »erkenntlichen Genius« weiterhin die Wirkung dieser Erleuchtung.378 Während Voß sich von kleineren Vorbildern irritieren lässt, orientiert sich Goethe somit am größten. Indem er das Genie (zumindest scheinbar) ohne Selbstzweifel selber verkörpert, verhilft ihm die tradierte Freiheitsmetaphorik zur Entfaltung gigantischer Kräfte: Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft; ich sprang in die freie Luft und fühlte erst daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo da ich sehe wie viel Unrecht mir die Herrn der Regel in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinnen sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte ihre Türme zusammen zu schlagen.379
373 Young 1977, S. 49. Zur schaffenspsychologischen Bedeutung der Wegmetapher bei Goethe vgl. die feinsinnige Analyse seines Gedichts »Eis-Lebens-Lied« in Lee, M. 1999, S. 189–215. Zu Horaz s. o., S. 54. 374 Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 9 (Zum Shakespears Tag). Zur Rezeption Shakespeares bei Shaftesbury und Pope sowie im englischen und deutschen Sprachraum um 1770 vgl. die Anmerkungen des Herausgebers, ebd., S. 1053–1057. S.a. Young 1977, S. 31 und 49. 375 Lessing 1985 ff., Bd. 4, S. 500 (17. Literaturbrief ). Dies ist wiederum eine Abwandlung eines etablierten Topos. So erklärt Christian Weise, dass nur der mit »Poetischem Ingenium« versehene Poet »die Lehre wie ein Zunder fängt / und in allen so glückliche progressen macht / daß er offt den Lehrmeister selbst übertreffen kan« (Weise 1977, S. 236; 2. Teil, Kap. 1, Abs. XX). Vgl. auch unten, S. 441. 376 Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 12 (Zum Shakespears Tag). 377 Ebd., S. 9. 378 Ebd., S. 9 f. 379 Ebd., S. 10.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Metaphorisch zertrümmert werden die kunstvollen Strukturen der alten Regelpoetik; an ihre Stelle treten die natürlichen Strukturen des autonomen Individuums. Paradigmatische Bedeutung vermag diese Substitution nicht zuletzt deshalb zu entwickeln, weil die Metaphorik vom körperlich, geistig und emotional ausgestalteten Individuum grundlegenden physischen Strukturen des menschlichen Lebens entspricht und unbegrenzt anschlussfähig ist. Die Metaphorik dieses Passus aktualisiert die aus der Antike tradierte Polarität zwischen physis und nomos, die im 18. Jahrhundert mit Shaftesbury, Rousseau und anderen zu einem zentralen Topos avanciert war, wie bereits oben deutlich wurde. Goethe verbindet diese binäre Opposition mit Behältermetaphorik: Die Natur wirkt als ursprüngliche Anlage ›innerhalb‹ des Individuums, die Konvention – oder Kunst – dagegen von ›außen‹, in Form von gesellschaftlichen Ritualen, Normen und Institutionen. Die Behältermetapher appelliert an eine körperliche Erfahrung, die bis in die foetale Entwicklungsphase des Menschen zurückreicht: Sie strukturiert während des gesamten Lebens die sinnliche Wahrnehmung der Umgebung des Körpers sowie das Bewusstsein eines geistigen ›Enthaltenseins‹ im Körper, und sie macht mit Grenzen und Interioritäts-/Exterioritätsstrukturen Abstrakta vorstellbar.380 Goethes umfassender Einsatz von Behältermetaphern wird auf diese Weise erfahrbar als eine ›Rückkehr‹ zur natürlichen Daseinsform des Menschen sowie auch der Dichtung; die metaphorische Ausgestaltung erscheint als wesenhafte Wirklichkeit. Die imaginative Macht dieser Metaphorik gründet somit vor allem darin, dass sie bekannte und aufgrund ihrer Körperbezogenheit eingängige Denkstrukturen belebt und ein schier unermessliches Potenzial an metaphorischen Verbindungen bereitstellt. In konzentriertester Form erprobt der Textausschnitt mehrere Möglichkeiten. So entspricht der ›Behälter‹ einem »Kerker«, »Fesseln«, bewegungseinschränkenden Kleidern, Tyrannenmacht; aufgelöst wird der Behälter mit der Substituierung der »freien Luft«, die dem natürlichen, freien, mündigen Menschen den angemessenen Raum bietet. Das ›Enthaltene‹ ist das grenzenlos aktive Ich: mutig statt »ängstlich«, mit ausgedehntem Körper »springend« statt »sich krümmend«, den ganzen Körper bis zu den Extremitäten »fühlend«, moralisch-politisch bewusst »sehend« statt kritiklos blind, frei statt gefangen, vom Herzen statt vom Kopf bestimmt, durch eigene innere Kraft zur Tat getrieben, als einzelner kraftvoller Held gegen die Institutionen der herrschenden Tyrannen vorgehend. Indem der einzelne Dichter die »Einheiten« von »Ort«, »Handlung« und »Zeit« in Frage stellt, verspricht er, die Dimensionen des menschlichen Lebens von Grund auf neu zu gestalten und dem institutionell 380 »Our encounter with containment and boundedness is one of the most pervasive features of our bodily experience« (Johnson, M. 1987, S. 21).
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
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begrenzten Theater ein Theater des freien, natürlichen Lebens gegenüberzustellen. Goethes betont maskuline Metaphorik in diesem poetologischen Text findet ihre dichterische Entsprechung in dem Drama Götz von Berlichingen,381 in dem Goethe ostentativ die Einheiten von Handlung, Ort und Zeit sprengt und identitätsstiftend durch einen »der edelsten Deutschen« den Freiheitsdrang und das natürliche Faustrecht des Individuums in Szene setzt.382 Der Konflikt zwischen dem charakterstarken, tatenhungrigen Helden mit seiner naturverbundenen Lebensweise und den verweichlichten, intriganten Personen am Hof, die dem Land römische – und somit fremde – schriftliche Gesetze aufoktroyieren wollen, spitzt sich in Götzens inhaltlich, stilistisch und pragmatisch schockierender Beleidigung gegenüber dem Boten des Kaisers zu, »er kann mich im Arsch lecken«.383 Das betont volkstümlich-derbe Wort – zu ›niedrig‹, um in der Druckfassung schriftlich ausgeführt zu werden – sollte, wie Karl Kraus bemerkt, »soweit die deutsche Zunge reicht, das bekannteste Klassikerzitat« werden.384 Goethe verwandelt den historischen Götz, der ein ansehnliches Alter erreichte, in einen Märtyrer, der eingekerkert im Turm mit dem Wort »Freiheit!« auf den Lippen stirbt,385 ein Opfer seiner Zeit und Vorbild für die neue Zeit. Indem das Drama die Strukturen des klassizistischen Theaters ›zerschlägt‹, signalisiert es eine neue Art des Dramas und zugleich eine neue Art des Umgangs mit gesellschaftlichen Konventionen. Die in der ShakespeareRede metaphorisch angelegte und im Drama verwirklichte poetologische Tat des Dramatikers findet in der maßlosen Provokation seines Helden ihren wirksamsten Ausdruck. Ähnlich wie Werthers Tränen metaphorisch die gefühlvollen Texte auch der Rezipienten tränken – »Da sitz ich mit zerfloßnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag dir, Leser, daß ich eben die Leiden des jungen Werthers von meinem lieben Göthe – gelesen? – Nein, verschlungen habe«386 –, prägt Kampfmetaphorik die Texte der Rezipienten des Götz. Selbst der klassizistisch orientierte Wieland verknüpft in seiner Beurteilung metaphorisch Autor, Held, Handlung und Form des Dramas, wobei seine Rezension zeigt, wie wirksam sich Goethe mit dem Werk als »Genie« positioniert hatte: 381 382 383 384
Goethe 1985 ff., Bd. 4, S. 279–389 (Götz von Berlichingen). Ebd., Bd. 28, S. 247 (Goethe an J.D. Salzmann, 28.11.1771). Ebd., Bd. 4, S. 349 (Götz, 3. Akt, Belagerung). Kraus 1968–1976, Jahrg. 27 (1925–1926) (= Nachdr. Bd. 31), Nr. 706–711 (Dez. 1925), S. 46 (Notizen). 385 Goethe 1985 ff., Bd. 4, S. 388 (Götz, 5. Akt, Gärtgen am Turn). 386 Schubart 1774, S. 574. Christian Friedrich Daniel Schubart projiziert sich hier als ganze Person, um das unmittelbare, im Präsens vermittelte Erleben darzustellen und die Wirkung des Werkes emotional nachvollziehbar zu machen. Die Selbstprojektion entspricht hier vom Effekt her der Personifikation.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Es ist augenscheinlich, daß er […] sich vorsezte, alle Regeln des Aristoteles, als Fesseln, mit denen sein noch ungebändigter Genie sich nicht schleppen wollte, von sich zu werfen. Es kann also zu nichts helfen, ihm die Uebertretung dieser Regeln zum Vorwurf zu machen, oder ihm zu zeigen, was für Nachtheile aus dieser Empörung gegen jenen alten Gesetzgeber der Dichter entstehen mußten. Unfehlbar wußte der Verfasser dies alles so gut als wir; aber er wollte nun einmal allen dreyen Einheiten auf den Kopf treten.387
Im Kontext einer Zeit, in der sich das Genie als Leittypus durchgesetzt hatte, entzieht sich dessen von übermenschlichen Kräften getriebenes Schaffen der Kritik. Auch wenn Wieland zum Werk des jungen Kollegen eine gewisse Distanz wahrt, so übernimmt er doch dessen Metaphorik in der Konzeption und Formulierung seiner eigenen Reaktion auf das Werk. Sehr viel stärker ist allerdings die Wirkung des goetheschen Dramas bei gleichgestimmt enthusiastischer Rezeption. Hier nun bildet die Sprache das Medium, in dem der ›Funke‹ des Genies388 auf den kongenialen Dichter überspringen kann. Diese unmittelbare Wirkung evoziert Gottfried August Bürger in einem Brief an den Dichterfreund Heinrich Christian Boie. Inspirieren lässt sich Bürger vom shakespearisierenden Götz zu neuen Strophen seiner ›schottischen‹ Ballade Lenore, wie er 1773 seinem Freund mit überschwänglicher Begeisterung mitteilt: Ich weiß mich vor Enthusiasmus kaum zu lassen. […] Welch ein durchaus deütscher Stoff! Welch kühne Verarbeitung! Edel und frey, wie sein Held, tritt der Verfasser den elenden RegelnCodex unter die Füße und stellt uns ein ganzes evenement, mit Leben und Odem bis in seine kleinsten Adern besehlt, vor Augen. Erschütterung, wie sie Shakesp. nur immer hervorbringen kann, habe ich in meinem innersten Mark gefühlt. […] Glück zu, dem edlen freyen Mann, der der Natur gehorsamer als der tyrannischen Kunst war. Mag doch das RecensentenGeschmeiß, mag doch der Lesepöbel […] bei dem A–lecken den Rüssel verziehn! Solches Gesindel mag diesem Verfasser im – –. O Boie, wissen Sie nicht, wer es ist? Sagen Sie, sagen Sie mirs, daß ihm meine Ehrfurcht einen Altar baue. […] Sch– kerls alle Franzosen! Dieser G. v. B. hat mich wieder zu 3 neüen Strophen zur Lenore begeistert! […] Frey! frey! Keinem unterthan, als der Natur!389
Erkennbar ist hier die Macht der Metapher: In Form der ganzheitlichen Personifikation vermag sie zwischen Vorstellung, Worten, inszenierter Verkörperung und wirklichem Menschen zu vermitteln. Die poetologische Auseinandersetzung um die klassizistischen Regeln erreicht in diesem Prozess der enthusiasmierten Belebung ihre wirksamste Ausprägung, wobei auch die Stärkung der eigenen kultur-nationalen Identität zur Wirkung beiträgt. Eine Beschränkung von ›Poetik‹ auf die ›Reflexion‹ oder auch auf das
387 Wieland 1774, S. 324. 388 Zu dieser Metapher unter Bezug auf die Genieästhetik s. o., S. 277, und s. u., S. 441. 389 Bürger 1874.
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
281
›Schreiben‹ erscheint angesichts solcher Wirkungen verfehlt. Teil des poetologischen Prozesses ist die Rezeption, zumal diese wiederum die Produktion stimulieren kann. Dass diese Wechselwirkung auch in gegenwärtigen Auffassungen von Poetik oft unberücksichtigt bleibt, ist nur dadurch zu erklären, dass im Dichten einzig das von Texten und äußeren Einflüssen unabhängige Subjekt wahrgenommen wird. Einen ›Bruch‹ in der literarischen Zeit und eine erst wieder von Nietzsche erreichte Wirkung verursacht Goethe nicht zuletzt aufgrund seiner strategisch meisterhaften Verkörperung der youngschen Geniemetaphorik und seines kreativen Umgangs mit der horazischen Dichtertypologie. Mit seinem spontan und natürlich sich gebenden Frühwerk bannt er den poeta doctus ins Abseits; dieser ist nicht mehr wie bei Young das kraftlose, auf Regelwerke und Schreibgerät sich stützende Gegenstück in einer binären Konstellation, sondern er verschwindet gänzlich als Teil des Alten, Überholten, Verweichlichten im grauen Hintergrund. Im Vordergrund steht einzig das Genie, das in seiner Dichtung die antike und biblische Schöpfungskraft auslebt und etablierte Oppositionen außer Kraft setzt: Goethe ist männlich, aber dennoch gefühlvoll; gesund und gerade deshalb naturverbunden; gesellschaftlich unabhängig und gerade dadurch fähig, menschlich zu wirken; sprachlich unkonventionell und gerade auf diese Weise sprachmächtig. In den Weimarer Jahren projiziert er sich dann zunehmend als Nachfolger des Horaz, ohne doch die Aura der Originalität einzubüßen. Kennzeichnend für Goethes Poetik ist durchgängig – wenn auch nicht ausschließlich – eine Metaphorik, die den Dichter als aktiv schaffende Kraft ins Zentrum stellt. Das Werk ist primär Ausdruck und Darstellung des Individuums und fokussiert auch die Rezeption auf das Individuum. Die Konsequenz, mit der Goethe diese Metaphorik zum Programm macht, erhellt aus einem Text von 1832, den vermutlich Eckermann Noch ein Wort für junge Dichter betitelte.390 Hier vermittelt die Freiheitsmetaphorik nicht mehr den heroischen Akt eines Rebellen, sondern eine repräsentative nationale Funktion, die in der exemplarischen Verwirklichung menschlicher Individualität und autonomen Künstlertums besteht: Unser Meister ist derjenige unter dessen Anleitung wir uns in einer Kunst fortwährend üben […]. In solchem Sinne war ich Meister von Niemand. Wenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreyer nennen; denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse; indem er, gebärde er sich wie er will, immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird. […]
390 Goethe 1985 ff., Bd. 22, S. 932–934 (Noch ein Wort für junge Dichter). Zum Titel vgl. ebd., S. 1573.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Ich kann übrigens recht gut bemerken auf wen ich in dieser Art gewirkt; es entspringt daraus gewissermaßen eine Naturdichtung, und nur auf diese Art ist es möglich Original zu seyn.391
Bestimmend ist auch hier, wie in der frühen Shakespeare-Rede, die Natur; nun aber spricht sie aus Goethe selbst. Die zwischen dem Gelehrten und dem Genie unterscheidende Dichtertypologie ist unter dem Aspekt der Kunst/Natur Polarität abgewandelt in die Gegenüberstellung von Handwerker und Künstler, wobei ›Kunstfertigkeit‹ aus dem Kunstbegriff ausgeschieden ist und die Natur Ursprung und Ziel der wahren Kunst ist. Zeitlos gültiges Vorbild für das unabhängig naturhafte Schaffen des autonomen Künstlers ist Goethe, der sich hier noch einmal philosophisch als Genie legitimiert, indem er die Bedingungen erfüllt, die Kant in seiner Bestimmung des Geniebegriffs hervorgehoben hatte: Er ist »ein Talent«, dessen erste Eigenschaft »Originalität« ist; seine Produkte sind »Muster, d.i. exemplarisch«, obschon »selbst nicht durch Nachahmung entsprungen«; und er gibt die Regel nicht »wissenschaftlich«, sondern »als Natur«.392 Das im Dichter situierte ingenium ist hier zugleich die Schaffenskraft und das Darzustellende. In Goethes Bergbaumetapher ist das ›zu Tage geförderte Individuum‹ die vollkommene Entsprechung zum schaffenden Dichter: Subjekt und Objekt werden im naturhaften Individuum zur symbolischen Einheit, das seine Legitimation in sich selbst trägt. Bedeutsam ist vor allem die Metapher vom »Befreyer«, denn damit wird das dominante Geschichtsmodell westlicher Kultur wachgerufen: die biblische Geschichte. Erst dieser Kontext verdeutlicht die geschichtsstiftende Signifikanz der Metapher: »So bestehet nu in der Freiheit / da mit Vns Christus befreiet hat / Vnd lasset euch nicht widerumb in das knechtische Joch fangen.«393 Was Jesus den Christen ist, ist Goethe den Deutschen. Die Übertragung dieses Geschichtsmodells auf die Literatur impliziert einerseits einen Bruch in der Literaturgeschichte, andererseits ein zeitlos gültiges Dogma. Die ältere Literatur wird nur als Kontrast zu, oder Vorbereitung auf Goethe lesbar, während die Literatur ›unserer‹ modernen Zeit nur in dem Maße gültig erscheint, wie sie mit der von Goethe verkörperten Norm übereinstimmt. Narrativ ausgestaltet ist dieses geschichtliche Modell subjektbezogen in Dichtung und Wahrheit.394 Explizit überträgt Goethe hier das religiöse Modell auf die Dichtung, wenn er »wahre Poesie« als »weltliches 391 Ebd., S. 932 f. 392 Kant 1908, S. 307 f. (§ 46, Schöne Kunst ist Kunst des Genies). Keine Rolle spielt hier bei Goethe die von Kant hervorgehobene Unbewusstheit des geniehaften Schaffens, die auch Schiller in Bezug auf das naturorientierte, »naive« Genie ausführt (Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 719; Über naive und sentimentalische Dichtung). 393 Gal. 5, 1. 394 Vgl. Goethes Ausführungen im 7. und 10. Buch von »Dichtung und Wahrheit« (Goethe 1985 ff., Bd. 14, bes. S. 283 und 433–437). Zu dem Argumentationskomplex bei Goethe vgl. Barner 1987 und Jeßing 1997, bes. S. 294–296.
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
283
Evangelium« projiziert, das »uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken«.395 Mit dem nationalen Aspekt tritt jedoch auch ein anderes Modell in den Vordergrund, das in der ›Geniezeit‹ im Vordergrund stand: die Befreiung der deutschen ›Barbaren‹ aus der römischen Fremdherrschaft durch Arminius.396 Dass Goethe auf diesen Topos ansprach, zeigt seine Begeisterung für Klopstocks kulturpatriotische Deutsche Gelehrtenrepublik und vor allem sein deutscher Götz, der gegen die Repräsentanten des römischen Rechts antritt; auch in Herrmann und Dorothea ist den antiken Helden ein spezifisch deutscher ›Arminius‹-Nachfolger gegenübergestellt. Angelegt ist die Verbindung des Barbarentopos mit dem Geniekult im Originalitätsdiskurs bei Young, wenn er das Verhältnis der neueren zu den antiken Schriftstellern mit dem Verhältnis anderer Staaten zu Rom erläutert, wobei er gerade in diesem Kontext auch das Genie als »Meister« charakterisiert: Rom war für viele Staaten ein mächtiger Bundesgenosse; die alten Schriftsteller sind unsere mächtige Bundesgenossen. Aber wir müssen uns in Acht nehmen, daß sie uns nicht nach Art der Römer so lange beystehen, bis sie uns selbst zu Sklaven machen. […] Eine allzugroße Ehrfurcht für sie, fesselt das Genie, und versagt ihm diejenige Freyheit, den völligen Raum, den es haben muß, wenn es seine glücklichsten Meisterzüge wagen soll. Das Genie ist der Meister des Werks; die Gelehrsamkeit ist nur ein Werkzeug.397
Das Genie und seine metaphorische Ausstrahlung bestimmt Goethes Vorstellung seines Dichtertums offenbar bis zuletzt, und im publikumswirksamen Einsatz dieser Metaphorik erwies er sich als Stratege ersten Ranges; nicht zufällig bewunderte er in Napoleon einen kongenialen Geist. Die früh einsetzende Stilisierung seiner selbst zum Genie und Befreier war sein glücklichster Meisterzug: Er verkörperte fortan Ursprung, Weg und Ziel der deutschen Dichtung. Denn indem er die poetologischen Konstellationen radikal veränderte, entledigte er sich älterer Konkurrenten; und indem er nachfolgende Dichter auf die Originalität nach seinem Muster verpflichtete, schnitt er ihnen den Weg zur wahren Originalität ab. Der Aufstieg der deutschen Literatur erlebte in ihm die endgültige Ankunft. Der Status Goethes wurde jüngeren Dichtern zum Problem. So feiert Eichendorffs Gedicht »Der alte Held« – verfasst auf Goethes Geburtstag im Jahre 1831 – den etablierten Dichter nicht als Befreier, sondern als ›Eroberer‹ des poetischen Naturreichs und tritt ihm bezeichnenderweise die dichterische Stimme ab. Es spricht hier Goethe selbst:
395 Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 631 (Dichtung und Wahrheit, 13. Buch). 396 Zum Barbarentopos s. u., Kap. V/7. Zur Belebung des Germanenbildes in der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. See 1994, bes. S. 64–67; zu Arminius bes. S. 63. 397 Young 1977, S. 27.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
»Ich habe gewagt und gesungen, Da die Welt noch stumm lag und bleich, Ich habe den Bann bezwungen, Der die schöne Braut hielt umschlungen, Ich habe erobert das Reich.«398
Der jüngere Dichter vermag diese Eroberungstat nicht nachzumachen; und die Herrschaft über das Reich muss er dem Eroberer zugestehen. Dass es Goethe gelang, mit seiner Metaphorik nicht nur seine Zeitgenossen zu überzeugen, sondern vor allem auch seinen Nachruhm zu sichern, zeigt die deutsche Literaturgeschichte: Noch heute bildet seine Person das Zentrum. So erscheint sein Bild ikonisch repräsentativ in der Mitte des Schutzumschlags der erfolgreichen Deutschen Literaturgeschichte von Beutin, Ehlert u. a.; nur auf der Rückseite ist durch andere Bilder der proklamierten Spannweite Von den Anfängen bis zur Gegenwart Rechnung getragen.399 Die anhaltende Tendenz zur Idealisierung zeigte sich im Goethejahr 1999 in der heftigen Reaktion auf W. Daniel Wilsons provokativ betitelte Studie Das Goethe-Tabu, deren Ziel es war, das »bisherige verklärende« Goethe-Bild »auf der Basis genauer Quellenstudien« einer Revision zu unterziehen.400 Dass gerade die Zentrierung des Diskurses auf den Dichter und die dadurch ermöglichte Profilierung des Dichters als Held in der Literaturgeschichte enormes imaginatives Potenzial barg, zeigt die Darstellung Goethes in Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung.401 Verfolgen lässt sich hier auch die Bedeutung des rezipierenden Literaturmodells für den Status der rezipierten Dichtung. Dilthey konzipiert Literaturgeschichte als ›Weg‹ sowie auch genereller als Bewegung. Eine körper- und naturbezogene, auf das lebendig bewegte Individuum ausgerichtete Vorstellung von Literatur erscheint in diesem Kontext zwangsläufig lebendiger und produktiver als eine Vorstellung von Literatur, die das Schreiben des Gelehrten miteinbezieht. So verfolgt Dilthey den »Gang der neueren europäischen Literatur« anhand von »Stufen«, um zu bestimmen, an welcher Stelle die von ihm dargestellten deutschen Dichter »eingetreten« sind,402 und stellt fest, dass Goethe sich durch die Überwindung der Aufklärung für seine Dichtung »freie Bahn« schafft.403 Zugleich stellt Dilthey Goethe unter Einsatz von goethescher Natur-, Kampf- und Befreiungsmetaphorik als siegreichen Held dar, der organisch die größten Leistungen der Aufklärung aufnimmt, um sie in der Dichtung zu ihrer natürlichen Bestimmung zu führen: 398 Eichendorff 1985–1993, Bd. 1, S. 279 (Der alte Held. Tafellied zu Goethe’s Geburtstag 1831). Zur spannungsvollen Auseinandersetzung Eichendorffs mit Goethe in diesem Gedicht vgl. Peucker 1987, S. 33 f. 399 Beutin, Ehlert u. a. 2001, Schutzumschlag. 400 Wilson 1999, rückwärtiger Buchdeckel. 401 Dilthey 1921 (Erstveröffentlichung 1906). 402 Ebd., S. 1. 403 Ebd., S. 176.
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
285
Darin lag nun seine geschichtliche Mission, daß er, festwurzelnd in den großen Errungenschaften der Aufklärung, ein neues Zeitalter der Dichtung heraufführen sollte. In Deutschland entstand diese neue Zeit; Goethe und die Romantik als ein Unzertrennliches halfen überall bei der Befreiung der dichterischen Phantasie von der Herrschaft des abstrakten Verstandes und des von den Kräften des Lebens isolierten guten Geschmacks. Wer kennt nicht die Vorbereitungen dazu in den verschiedenen Ländern, die englische Genielehre, Rousseau, Hamann, Herder, Sturm und Drang? Goethe wurde vorwärts getragen von dieser Bewegung. Aber die neue Dichtung selbst war sein Werk. Und der Kampf seiner dichterischen Phantasie mit der Aufklärung, ja mit dem Geist der damaligen Wissenschaft selbst ist ein Schauspiel ohnegleichen in der Geschichte der Literatur.404
Die religiöse Interpretation deutscher Literaturgeschichte findet hier in der schicksalhaft anmutenden Metapher von der »geschichtlichen Mission« ihren Niederschlag. Das »Theater« und die Gattungskonventionen, mit denen sich Goethe in Zum Shakespears Tag auseinandersetzt, werden zum »Schauspiel« der Literaturgeschichte ausgeweitet, in dem der unvergleichliche deutsche Held Goethe gegen seine Zeit antritt; ausgefochten wird der »Kampf« zwischen »seiner dichterischen Phantasie« und »dem Geist der damaligen Wissenschaft selbst«.405 Indem Dilthey das »neue Zeitalter der Dichtung« mit »dichterischer Phantasie« identifiziert, die vorhergehende Zeit dagegen mit »abstraktem Verstand«, grenzt er die gesamte vorgoethesche Literatur aus dem Bereich wahrer Dichtung aus.406 Ähnlich verfährt noch 1995 Karl Eibl, wenn er die Leistung Goethes unter Aufgebot von Mentalitätsgeschichte und Systemtheorie als »Entstehung der Poesie« feiert und damit die vorherige Poesie als gattungsfremd marginalisiert.407 Fortgeschrieben wird Goethes Autobiographie auch in Nicholas Boyles Biographie, wenn er das schöpferisch revolutionäre Individuum Goethe einer Umwelt von konventionsgebundenen dichterischen Institutionen gegenüberstellt und Goethes Werke von 1772–1774 als Detonation einer »Bombe« beschreibt.408 Indem Goethe seine Poetik auf den Dichter als Menschen fokussiert, legitimiert er die Dichtung in umfassendem Maße als Orientierung für das Leben. Entsprechend transzendiert Goethes Bedeutung für Dilthey letztlich die Sphäre der Literatur: »Er lehrt uns, […] jedem Schicksal, jedem Verlust neues frohmütiges folgerichtiges Handeln entgegenzustellen.«409 Wie 404 Ebd. 405 Dilthey versteht die Phantasie als besondere Fähigkeit außergewöhnlicher Menschen: Sie ist »ein Wunder, […] ein von dem Alltagstreiben des Menschen gänzlich verschiedenes Phänomen«, das sich in einer »ganz von dem Gewöhnlichen abweichenden Gestalt« manifestiert (ebd., S. 179 f.). 406 Vgl. jedoch eingangs die Charakterisierung der Zeit »von der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts bis zu der des siebzehnten« als »die Epoche der großen Phantasiekunst« (ebd., S. 2). 407 Eibl 1995, Titel. 408 Boyle 1991–2000, Bd. 1, S. 152; s. a. S. 7, 34 und 152–178. 409 Dilthey 1921, S. 267.
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
Homer für die Griechen ist Goethe den Deutschen ein Lehrer für die ›Lebensgestaltung‹.410 In ihm verwirklichen sich jene Werte, die bei Platon Inhalt und Ziel philosophischer Erkenntnis waren, so wenn er Dilthey zufolge im Faust sein »tiefstes Erleben« äußert: »Lauter und rein, wie die Natur selber, stellt er dies alles hin; nie ist jemand wahrer gewesen.«411 Als moderne Entsprechung zu Sokrates und Jesus wird Goethe zum Wahrheitsstifter schlechthin. Damit aber rückt das literarische Werk in den Hintergrund, denn es ist vornehmlich ein Zeuge für das Leben: »Seine Kraft zu überwinden, zu vergessen, sich zu erneuern teilt sich nicht nur in Schriften uns mit, sondern sie wirkt aus allem was uns Kunde von diesem Leben gibt.«412 Fortgeführt ist damit Goethes Vergleich seines Werkes mit einer »Konfession«,413 durch den er sich dem heiligen Augustinus sowie auch Rousseau annähert. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts betont Werner Keller, wie Goethe-Freunde in aller Welt gerade in tiefster Bedrängnis aus seiner Dichtung »Mut und Trost« schöpfen;414 er verweist dabei auf Goethes Metapher von der Poesie als von »irdischen Lasten« befreiendes »weltliches Evangelium«.415 Deutlich erkennbar wird hier die Tradition der Erbauungsliteratur, die Goethe nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch anderweitig in seinem Werk in Form einer weltlichen Entsprechung und Übertrumpfung fortführt; explizit ist diese Anbindung in den Worten des Herausgebers am Anfang des Werther, und besonders in der Rahmenhandlung manifestiert sie sich auch im Faust. Goethes poetologische Metaphorik ist deshalb so ausführlich dargestellt, weil sie eine Konstellation darstellt, die wirksamer als jede andere die moderne deutsche Literaturgeschichte bestimmt hat sowie auch für spätere Dichter zum unumgänglichen Bezugspunkt wurde. Kennzeichen dieser Konstellation ist gerade die Unmöglichkeit ihrer Übertragung auf andere Dichter, denn sie bezieht ihre Wirksamkeit aus dem spezifischen Zusammenspiel von Individuum und Umfeld zu einem Zeitpunkt, wo das klassische Bildungsgut und die Tradition der Bibel noch das Geistesleben bestimmten, zugleich aber die humanistischen und kirchlichen Strukturen ihre Autorität verloren. Dabei spielen die vielfältigsten Faktoren mit. In Bezug auf das Individuum sind hervorzuhebende Faktoren die herausragende dichterische Begabung, die klassisch fundierte Bildung, ein ausgeprägtes Selbstgefühl, das Talent zur Selbstprofilierung sowie der bürgerliche Status mit ausreichenden Geldmitteln für ein relativ ungehindertes Schaffen. Geistesgeschichtlich konzentrieren Protestantismus und insbeson410 411 412 413 414 415
Vgl. Platon 1982, S. 449 (X, 7; 606e). S.o., S. 29. Dilthey 1921, S. 266. Ebd., S. 267. Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 310 (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch). Keller 1998, S. 10. Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 631 (Dichtung und Wahrheit, 13. Buch).
5. Die Metapher zwischen Autor, Werk und Rezipient
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dere Pietismus das religiöse Erleben sowie auch die religiöse Sprache auf das innere Gefühl, die Aufklärung fördert persönliches Streben sowie auch die weltliche Interpretation sakraler Literatur, und Rousseau sowie auch Young legitimieren die Hinwendung zu Natürlichkeit gegenüber Konvention. Politisch bringt das Aufstreben des Bürgertums gesellschaftliche Strukturen in eine Bewegung, die in der französischen ›Revolution‹ ihren Höhepunkt erreicht und eine neue Zeit signalisiert. Im literarischen Kontext eröffnet der Verfall des Hofpoetentums neue Möglichkeiten der dichterischen Identitätsstiftung, die bereits in der vorhergehenden Generation erprobt worden waren, und das nationale Konkurrenzdenken wirkt nicht zuletzt sprachlich als Ansporn zu neuen Leistungen; auch schafft der Einbezug des Bürgertums in die Leserschaft ein breiteres Interesse an Literatur sowie neue Gattungskonstellationen. Die Macht des Topos vom Originalgenie schließlich lieferte die Legitimation und Motivation für eine unbändige Kreativität. Mit diesen Stichpunkten sind weder Goethes Werk und Poetik noch seine Wirkung ausreichend erklärt, und es geht hier nicht um eine umfassende psychologisch-kausale Durchleuchtung der Beziehung zwischen Goethe und seinem geistigen Kontext. Es soll damit lediglich angedeutet werden, dass die Struktur und Wirkung poetologischer Metaphorik immer in Beziehung zum Kontext zu lesen ist. Wenn auch die Metaphern immer wiederkehren, so ändert sich doch mit jedem neuen Einsatz die Bedeutung sowie auch die Wirkung. Die mit Goethe und der Romantik in den Vordergrund rückenden metaphorischen Strukturen sind als poetologische Möglichkeiten zu begreifen, mit deren imaginativer Wirkung andere Möglichkeiten ausgeblendet wurden. Dass es sich bei den von Goethe aktualisierten Metaphern nicht um ›die Wirklichkeit‹ des Dichtens handelt, erhellt aus seiner eingangs zitierten Metapher »ich sprang in die freie Luft«. Wirksam suggeriert der Dichter damit seine lebendig direkte Beziehung zur Natur; getilgt ist die Wirklichkeit von Arbeitszimmer, Schreibtisch und Feder. Der Künstler Goethe hatte jedoch die Sprachmächtigkeit des humanistischen Gelehrten schon von klein auf internalisiert, wie aus einem Gelegenheitsgedicht hervorgeht, das der Siebenjährige als sein eigenes den Großeltern präsentierte.416 Der junge Goethe studierte Horaz sowie auch Gottsched und Breitinger;417 und zur Vorbereitung auf die Komposition seines Götz befasste er sich intensiv auch mit der rhetorischen Tradition: »Aristoteles, Cicero, Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet.«418 ›Natur‹ und ›Originalität‹ werden seit der Antike in Rhetorik und Poetik in binärem Gegensatz zu ›Kunst‹ und ›Nachahmung‹ diskutiert und erhalten besonders im Fortgang 416 Ebd., Bd. 1, S. 15 f. (Bei dem erfreulichen Anbruche des 1757. Jahres […]). 417 Ebd., Bd. 14, S. 287 (Dichtung und Wahrheit, 7. Buch). 418 Ebd., S. 587 (12. Buch).
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III. Die poetologische Metapher als kommunikative Kraft
der Querelle des anciens et des modernes identitätsstiftende Bedeutung.419 Der wirksame Einsatz solcher Metaphern mit dem Zweck der Profilierung des eigenen Projekts gehört zum Metier des Dichters. In der Literaturgeschichtsschreibung jedoch sollten sie nicht für bare Münze genommen werden.
419 Vgl. Sauder 1977.
IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters Der Dichter tut, was er tut, in seinem Bereich, dem der Poesie, und man kann sagen, das sei ein kleiner Bereich. Aber man kann es auch umgekehrt sehen und sagen, es sei der größte Bereich überhaupt, denn es ist der Bereich der Sprache, in dem wir alle uns befinden.1 Ernst Jandl
Hegel zufolge soll uns die Kunst »in allen Beziehungen auf einen anderen Boden stellen, als der ist, welchen wir in unserem gewöhnlichen Leben sowie in unserem religiösen Vorstellen und Handeln und in den Spekulationen der Wissenschaft einnehmen«; strikt zu beachten – auch durch eine andere, höhere Sprache – sei die Grenze zwischen ihrem »Gebiet der Phantasie« und jedem »anderen Feld«.2 Seine räumliche Metapher grenzt die Dichtung gegenüber anderen Disziplinen ab und erklärt die Differenz zwischen dichterischem Werk und anderen Diskursen zum bestimmenden Merkmal, welches das Schaffen des Autors und die Beurteilung durch den Rezipienten zu leiten hat. Eine frei wachsende Blumenwiese hatte dagegen 1667 Martin von Kempe im Kontext poetologischer Anmerkungen entworfen: Die weit-aussehende Kunst erkennet keine solche Linien / die ihr gewisse Maaße vorschreiben / sie gehet immer weiter / und leitet die Sinnen auf eine mit tausenderley wohlriechenden Blumen und Kräutern tapezierte Wiese / die so wohl das Gemüht belustigen / als dem Leben dienlich seyn.3
Kempes personifizierte Kunst schöpft aus dem vollen Leben, das die rhetorische Tradition ihr über die Zusammenwirkung von Gedanke und Ausdruck, Inhalt und Form zugänglich macht. Johann Peter Titz führt das zu bereisende Gebiet in seiner 1642 erschienenen Poetik Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen offenbar unter Bezug auf Ciceros Betonung der Universalität der Beredsamkeit weiter aus:4 1 2 3 4
Jandl 1999, S. 189 f. (Anmerkungen zur Dichtkunst, Dichtung und Engagement). Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt); s. o., S. 8–10. Kempe 1971, S. 31 (Kap. 3, § I). Vgl. Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 21–23).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Die Sachen / welche ein Poet zu beschreiben pfleget / sind vnterschiedlich / vnd erstrecken sich so weit / als sich die Menschliche Wissenschaft erstrecken kan. In Versen frewen vnd betrüben wir vns / wir lieben vnd hassen / hoffen vnd fürchten / wir sind freundlich vnd zornig / wir loben vnd tadeln / weinen und lachen / bitten vnd dancken / wir wünschen Glück vnd Vnglück / wir trösten / segnen und fluchen / wir reisen zu Wasser vnd Lande / summa / wir reden von Himmlischen vnd irrdischen dingen.5
Bedeutsam sind seine Übergänge von den zu behandelnden Sachgebieten zum Ausdruck von Leidenschaften, zu performativen Sprechakten, zum Reisen, bei dem – nimmt man den Passus wörtlich – die Verse als Fahrzeug und Schiff dienen, und schließlich zur Extension in den überirdischen Bereich. Der analytischen Disziplin des vom Dichter streng geschiedenen Philosophen steht hier der mitreißende Überschwang des Rhetorikers entgegen, der auch als Dichter zu sprechen vermag. Ziel der Aussage ist nicht eine Vorschrift des zu Behandelnden, sondern ein Entwurf dessen, was die Poeten tun. Entsprechend vielfältig sind in der Barockpoetik die Metaphern und Vergleiche für die Dichtkunst: Sie fokussieren jeweils andere Aspekte und rücken unterschiedliche Verbindungen in den Vordergrund. So bestimmt Kempe die Beziehung zwischen Werk, Dichten, Dichter und Poetik durch einen Vergleich mit der Baukunst: »(Poëma) das Gedicht ist einem Gebäud und Hause / so nun da stehet: Die Poesie dem Bau desselben / Der Poët dem Werckmeister / und die Poëtica dessen Wissenschafft gleich.«6 Unbestimmt bleibt die Rolle des Rezipienten, der sich als Betrachter oder Bewohner in den Vergleich einbringen kann. Der Vergleich mit der Baukunst erhält andernorts einen allgemeineren Kontext durch den Bezug zum Verhältnis zwischen Kunst und Natur: Die Kunst machet vollkommen / was die Natur angefangen. Der Marmor hat geringen Preiß / wenn er nicht durch der Steinmetzen Werckzeuge / behauen und geschliffen wird / bis er seine rechte Gestalt gewinnet / und zu kostbaren Gebäuden angewant werden kan. Nicht anders verhält es sich mit der Ruhm-würdigen Poeterey / zu welcher niemand / ob ihm gleich die Natur dazu geschickt gemacht / etwas tüchtiges ohne der Kunst Hülff-leistung hervor bringen wird.7
Der Vergleich mit dem physischen Material vermittelt die Notwendigkeit der Kunstfertigkeit, die in der Barockzeit als Voraussetzung für die Erstellung eines erfolgreichen Gedichts gilt. Während hier das ›handwerkliche‹ Schaffen des Produzenten thematisiert wird, rücken Vergleiche der Dichtung mit physisch oder psychisch wirkenden Substanzen die Rezeption in den Vordergrund, so wenn Buchner 5 6 7
Titz 1977, S. 84 (Kap. 18, Abs. 1). Kempe 1971, S. 2 (Kap. 1, § II). Kempe zitiert hier einen Vergleich von Buchner (1977, S. 36 f.; Kap. 4), auf den er explizit verweist. Kempe 1971, S. 5 (Kap. 2, § V).
IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
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den »artigen Griff« der Poeten, den Leuten Unangenehmes auf angenehme Art beizubringen, mit der Praxis der »Medicinis« vergleicht, »welche die Artzeneyen […] überzuckern« (integumentum-Topos);8 wenn Kempe auf die Mahlzeiten der Griechen und Römer verweist, wo man die Poesie »zu Erweckung der Frölichkeit« anwandte, »welche das beste Confect bey einer Mahlzeit ist«;9 oder wenn er die dichterische Rufschädigung durch Giftmetaphorik verdammt: »Die Dint ist lauter Gifft / so die Nahmen vergifftet / welche sie aufzeichnet / dannenhero sie auf dem Papier schwartz und blau / wie die von Gifft ertödtete / anzusehen.«10 Das Medium der Schrift, das bestenfalls den Ruhm ermöglicht, wird hier zur Waffe, die den Rufmord herbeiführen kann. Tiervergleiche dienen in der Barockpoetik häufig der Wertung und der Hervorhebung herausragender Fähigkeiten, so wenn Birken Autoren kritisiert, die meinen, zur Qualifikation eines Dichters reiche es aus, wenn man »eine Zeile auf die Füße richten / binden / und eine andere mit dem Reim daran leimen« könne: »Sie halten sich selbst für Poeten und Nachtegallen / da sie doch nur Eulen und Affen sind.«11 Der topische Charakter sowohl der Handwerks- als auch der Tiermetapher wird aus ihrer implausiblen Zusammenstellung deutlich. Gerade diese verstärkt jedoch den Effekt, da die thematisierten Dichter gleich doppelt abgewertet werden. Zur Ausgestaltung der Vielfalt und Schönheit des dichterischen Werks wird besonders die schmuckreiche Pflanzenmetaphorik bevorzugt, so in den Titeln von Gedichtsammlungen: Schochs Neu-erbaueter Poetischer Lust- und Blumen-Garten; Schirmers Poetische Rauten-Gepüsche oder Zesens Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack oder Götter und Nymfen-Lust.12 Damit führte man – auch in Frontispizen und Kapitelüberschriften – die Tradition der Silvae, der ›poetischen Wälder‹, von Statius fort und stellte zugleich Verbindungen zur arkadischen Landschaft her, in denen die Dichter ihre Kunst als Hirten und Liebende entfalteten; auch die Rezipienten konnten sich an dem Spiel nachvollziehend beteiligen. Die Elemente vermögen dagegen die Poesie besonders wirksam zu metaphysischen Ursprüngen und Bestimmungen in Bezug zu setzen, so wenn Birken die inspirative Bedeutung des Heiligen Geistes mit der Feuer8
9 10 11 12
Buchner 1966, S. 6 (I Discurs). Vgl. auch Grimmelshausen: »Daß ich aber zu zeiten etwas possierlich auffziehe / geschiehet der Zärthling halber / die keine heilsame Pillulen können verschlucken / sie seyen dann zuvor überzuckert vnd vergült« (Grimmelshausen 1989, S. 563; Continuatio, Kap. 1). Kempe 1971, S. 13 (Kap. 1, § XIII). Ebd., S. 55 (Kap. 3, § XXI). Eine moderne Variante dieses Topos ist der folgende Ausspruch von Thomas Bernhards Erzähler in »Auslöschung«: »Sie, die Deutschen, nehmen Goethe ein wie eine Medizin und glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft« (Bernhard 1986, S. 576). Birken 1973, S. 163 (Kap. 10, Abschnitt 123). Der Nachtigall-Topos war auch im Mittelalter verbreitet, vgl. den Titel von Obermaier 1995. Schoch 1660; Schirmer 1663; Zesen 1642.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
metaphorik des furor poeticus und der Wassermetaphorik der Quelle Hippokrene verdeutlicht: »Es ist aber ein anderes Wasser / mit welchem die Dichtfähigkeit einfließet / nämlich die Feuer-Flut des himlischen Geistes.«13 Während hier die Wirkung durch die paradoxe Gleichsetzung von Feuer und Wasser erreicht wird, evoziert er andernorts vertikale Reziprozität, wenn er fordert, die Poeten sollen »himlische Spring Brunnen […] seyn«: »Also soll die DichtKunst / weil sie vom Himmel einfließet / wieder gen Himmel steigen und Gott zu Ehren verwendet werden.«14 Produktion und Rezeption sind hier ein Kreislauf. Der grandiose Entwurf der Barockpoetik legitimiert das, was deutschsprachige Dichter implizit oder explizit nicht nur im Barock, sondern auch zu anderen Zeiten für sich beansprucht haben und explizit auch gegenwärtig erproben: Wer sagt denn, daß die Poesie ein Reinheitsgelübde abgelegt hat? Daß sie irgendeinem Gebot zu semantischer Armut gehorchen muß? Der Fundus, aus dem sie schöpft, wird im Verlauf der Geschichte nur größer. […] Man muß sich befreien von dem Vorurteil, Poesie sei eine statische Angelegenheit. Zwischen Urschleim und Jupiterraumfahrt liegt ein offenes Feld.15
Deutlich ist in Durs Grünbeins Anspruch die Spannung zwischen Produzenten und maßregelnden Rezipienten – eine Spannung, die sich im Zeitalter des Idealismus mit dem Machtanspruch der Philosophen auf philosophische Weise zuspitzte: Die Grenzziehungen des Idealismus wiesen den Dichtern ein Reservat zu, in dem sie sich fortan zu bewegen hatten. Die Dichter dagegen haben schon immer das Recht beansprucht, auf ihre physische und metaphysische Welt einzugehen, neue Gebiete zu erobern und fruchtbar zu machen, neue Sichtweisen aus poetischer Perspektive zu erkunden und neue Instrumente als Schmuck oder Waffe einzusetzen.16 Der große Coup der neueren Literaturtheorie war dann der ›Tod des Autors‹. Auch historisch wurde er bestätigt: So konnte man für das Mittelalter konstatieren: »L’auteur n’est pas une idée médiévale.«17 Eine Ausgrenzung des Autors aus der Poetik ist allerdings nur dann schlüssig, wenn man den Begriff des ›Autors‹ auf den seit dem 16. Jahrhundert entstehenden Begriff eingrenzt. Implausibel ist diese Position insofern, als auch im Mittel13 14 15 16
17
Birken 1973, S. ):( ):( iiiiv (Vor-Rede, Abschnitt 14). Ebd., S. ):( ):( vr (Abschnitt 14). Grünbein 2001, S. 34. Vgl. beispielsweise die poetologische Bedeutung von »Mikroskop und Guckkasten«, die sich erst aus der zeitspezifischen Interaktion der Poetik mit neu erfundenen Instrumenten und neuen Theorien zur Wahrnehmung erschließen lässt, wie aus der Untersuchung von Košenina (2001) hervorgeht. Angesichts der Bedeutung des Gesichtssinns für die Poetik bieten gerade optische Instrumente reiches poetologisches Potential; vgl. den Titel von Abrams 1953, dessen Fokussierung der Instrumente »Spiegel« und »Lampe« ebenfalls auf zwei Wahrnehmungsmodelle verweist. Cerquiglini 1989, S. 25. Vgl. dazu Coxon 2001, S. 4–17.
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alter nachweislich Individuen Texte produzierten, sich in manchen Fällen namentlich in den Text einbrachten, andere Autoren im textuellen ›Wettstreit‹ angriffen und – wie offenbar im Falle Otfrids – autoritativ an der Erstellung des schriftlichen Manuskripts beteiligt waren. Dies schließt allerdings weder für das Mittelalter noch auch für andere Zeiten die Möglichkeit einer kollektiven Autorschaft aus. Hilfreicher ist es vielleicht, wenn man annimmt, dass der Dichter ein adaptationsfähiges Wesen ist, das sich an neue poetologische Konstellationen mit einer Abwandlung etablierter Rollen anzupassen vermag, um überleben zu können – und das heißt, wirksam zu bleiben, wenn auch ›nur‹ als Lehrmeister oder ›nur‹ als Unterhalter. Betrachtet man Literatur prinzipiell als eine Form der Kommunikation, so ist der ›Sprecher‹ eine anthropologische Konstante und das Gesprochene zunächst das Ergebnis seines Sprechens; die Frage, ob es damit auch sein ›Eigentum‹ ist oder ob der Dichter sich als solcher projiziert, wäre nur kulturspezifisch zu beantworten. Insgesamt ist die zeitweilige oder absolute Eliminierung des Autors aus dem literarischen Prozess ein für bestimmte Zwecke nützliches Gedankenkonstrukt, aber für keine Zeit eine belegbare Tatsache. Für die Poetik ist der Autor zentral, und seine poetologische Ausgestaltung ist besonders geeignet, die Vielfalt der semantischen Felder in den Blick zu bekommen, in denen poetologische Metaphern für den Diskurs um Dichtung wirksam werden. Denn zentral ist der Autor nicht nur in Bezug auf die Produktion, sondern auch für die Rezeption, wie Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und deren Koautoren in ihrer Rehabilitierung des Autors hervorheben: Der Autor ordnet das Feld der Literatur. Er reduziert die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr auf ein handhabbares Maß, und er verknüpft die Literatur mit Wertvorstellungen. […] Der Autor ist im Alltag unserer Kultur die wichtigste Größe, um literarische Äußerungen so in Kontexte einzubetten, dass sie verstehbar sind und handlungsrelevant werden können.18
Das Projekt der ›Rekonstruktion‹ und ›Rückkehr‹ des Autors hat den Blick für seine Funktionen geschärft.19 Auch hat sein ›Tod‹ insofern einen wichtigen Dienst geleistet, als damit – wenn auch nicht zum ersten Mal – der Autor jenseits des einheitlichen ›Subjekts‹ als variable Rolle sichtbar wurde.20 Wenn vorausgesetzt wird, dass sich jedes Subjekt diskursiv in einer 18 19
20
Jannidis, Lauer u. a. 2000, S. 7. Vgl. die programmatischen Titel von Burke 1995 (»Reconstructing the Author«) und Jannidis, Lauer u. a. 1999 (»Rückkehr des Autors«). Zum Thema Autorschaft vgl. auch Detering 2002. Eine hilfreiche Zusammenstellung der Literatur zu den folgenden »Dichtertypen« bietet Hildebrand: poeta vates, poeta magus, poeta obscurus und orphischer Dichter; poeta doctus, poeta eruditus; poeta laureatus und Dichterfürst; der politische und der engagierte Dichter; der epigonale Dichter (Hildebrand 2003, S. 344–348). Vgl. auch die in seinem Sammelband zu poetologischer Lyrik gebotene Diskussion dieser Typen. Ein breites Spektrum an verschiedenen Rollen sowie Äußerungen auktorialer Selbstlegitimation liefert die Studie von Selbmann 1994. Limitierend wirkt seine Konzentration auf das
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oder mehreren Rollen projiziert, so wird eine absolute Trennung zwischen textexternem Ich und textinternem Ich oder auch zwischen Ich und anderen Figuren hinfällig. Vielmehr wäre die Beziehung für jeden Text neu zu hinterfragen. Wenn aber diese Trennung als poetologische Voraussetzung nicht greift, dann ist es möglich, auch Epochen der Literatur in den Diskurs einzubeziehen, in denen Autoren nicht in einer außerhalb des Textes biographisch und rechtlich profilierten Rolle am literarischen Prozess partizipieren. Denn bei jedem Text ist die Frage interessant, inwieweit und in welchen Rollen sich der Autor beziehungsweise die Autorin projiziert. Gerade diesen Rollen schreibt Robert Gernhardt in seinen Gedanken zum Gedicht ein besonderes Tradierungs-, aber auch Erneuerungspotenzial zu: Daß das Dichten und die Gedichte so lange überlebt haben, hat nicht zuletzt mit der unbändigen und nicht zu bändigenden Verwandlungskunst und Verkleidungslust der Dichter zu tun, die im Laufe der Jahrtausende scham- und hemmungslos die disparatesten Masken durchprobiert haben, die des Hirten und die des Mechanikers, die des Proleten und die des Herrschers, die des Abschaums und die des Gottgesandten. Alles Maskeraden, die, einmal eingeführt, immer wieder und nach Bedarf aus dem Fundus gekramt und anschließend wieder eingemottet worden sind, alles Möglichkeiten, von denen ich nicht zu sagen wüßte, welche mal wieder erprobt und aktualisiert werden sollten –21
Die von Dichtern gewählten ›Masken‹ reichen von den unscheinbarsten Projektionen – so den mit der sprachlichen Arbeit des Dichters in Zusammenhang stehenden Rollen des Deklamierenden oder Schreibenden – bis hin zu Rollen, die keinen direkten Zusammenhang mit der Arbeit des Autors als Dichter haben. Dabei ist die Wirkung der Rollen immer kontextspezifisch und abhängig von der wirklichen oder wahrgenommenen Beziehung zwischen dem empirischen Autor und der projizierten Person. Beispielsweise dürfte sich die Popularität der Darstellung von Schiller beim Vortrag aus Die Räuber im Bopserwald aus der belebenden Kraft des imaginierten Schauspiels erklären: Hier verschmilzt ikonographisch der im Wald von Freunden umgebene Autor mit dem Protagonisten des vorgelesenen Werkes.22 Wenn sich der Autor dagegen
21
22
Dichtertum seit der Aufklärung und das Ideal der »Autonomie«; vgl. z. B. in den Kapitelüberschriften die »Emanzipation des Dichters«, die »gerettete Autonomie« und »Schwundformen poetischer Autonomie« (ebd., S. V). Gernhardt 2002a, S. 16 f. Die Bedeutung und das metaphorische Potential solcher Rollen auch für die Rezeption von Dichtung geht aus einer Ausstellung zu Arno Schmidt hervor, die diese zum Organisationsprinzip machte: »Die Ausstellung zeigt von den vielen Facetten, die der Schriftsteller seinen Lesern bietet, neun für sein Werk und dessen Wirkung zentrale: den Wortmetz, den Landschafter, den Bücherfresser, den Erotiker, den Monomanen, den Mondverehrer, den politischen Autor, den Prosakonstrukteur und den Anwalt des Alltäglichen« (Arno Schmidt Stiftung 2006). Schillers Mitschüler Victor Wilhelm Peter von Heideloff zeichnete Schiller, wie er seinen Freunden im Bopserwald bei Stuttgart aus dem an der Karlsschule entstandenen Drama »Die Räuber« vortrug (vgl. Alt 2000, Bd. 1, S. 277).
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Der Dichter als Deklamator Schiller trägt im Bopserwald bei Stuttgart seinen Freunden aus den »Räubern« vor (Victor Wilhelm Heideloff, Federzeichnung nach der Natur, Mai 1778)
Die Dichterin als Schreibende Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch (1799), Titelblatt
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Der Dichter als Denker Thomas Mann, Princeton 1936 (Foto: Lotte Jacobi)
Die Dichterin als Künstler Else Lasker-Schüler (Vorlage für die Umschlagzeichnung Ich räume auf (1925)
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Der Gekrönte im Zeichen der Antike »Dichterzug« mit Stefan George (links) als Dante und Karl Wolfskehl (2. v. rechts) als Homer, 1904 (Richard F. Schmitz)
Der Forscher im modernen Labor Gottfried Benn, Brüssel 1916
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als Schreibender projiziert, so wird eher die Distanz zum Werk deutlich, und in den Vordergrund tritt die Kontrolle des gelehrten Schriftstellers über das Werk sowie der Prozess der Vermittlung an das Publikum. Die Stimmigkeit dieser Rolle kann jedoch gestört werden, so wenn sich Sophie La Roche in Mein Schreibetisch als Frau in diese Rolle begibt: Denn die Autorin beansprucht damit eine Gelehrsamkeit, die ihr in Wirklichkeit vorenthalten worden war.23 Auch die Popularität der Darstellung von Thomas Mann in denkerischer Pose mit großer Stirn ist kontextspezifisch: Wachgerufen wird damit die Vorstellung vom Dichter als Repräsentant des ›Volkes der Dichter und Denker‹. Wenn sich dagegen Else Lasker-Schüler alias der Prinz von Theben in maskulin märchenhafter Verkleidung und mit Flöte darstellt, so projiziert sie eine künstlerische Kreativität, die sich jenseits gesellschaftlicher Konventionen verwirklicht. Auch der Bezug zur Tradition lässt sich über die Selbstprojektion vermitteln, so wenn Stefan George sich als ›lorbeergekrönter‹ ›Dante‹ mit ›Homer‹ fotografieren lässt und damit in einen zeitlosen Kanon stellt oder Gottfried Benn seine brotberufliche Arbeit als Arzt auf die Dichtung projiziert, um eine ›moderne‹ Poetik des Labors zu entwerfen.24 Mit den bereits in der Vergangenheit erprobten Rollen sind jedoch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nie erschöpft: Denn prinzipiell ist jede Rolle verfügbar – und für den Rezipienten verständlich –, die der Autor aus der gemeinsam bewohnten Welt ableiten kann. Möglich ist prinzipiell die Rolle des Autors als Tier oder gar als Maschine; dominant sind jedoch jene menschlichen Rollen, welche die Autoren im empirischen Leben neben dem Schreiben erfüllen oder erfüllen könnten, zum Beispiel Träumende und Liebende, Söhne und Mütter, sowie Rollen, die der Autorfunktion nahestehen, zum Beispiel Ausübende anderer Berufe und anderer Künste. Auch die mentalen, sprachlichen und körperlichen Aspekte des Menschen lassen sich zu Rollen ausgestalten. Die ›Entdeckung‹ des Körpers in den letzten Jahrzehnten steht in diesem Zusammenhang, wie aus Durs Grünbeins Brief über Dichtung und Körper hervorgeht: Zunächst, und daran glaube ich fest, geht alles wirksame Schreiben vom Körper aus, oder es bleibt bloße Literatur, das sogenannte »Thematische Schreiben« über dieses und jenes. Wirksames Schreiben ist dagegen das Schreiben aus einer Grundspannung heraus, in der alle physiologischen Eigenschaften enthalten sind. Insofern muß jede Kritik […] sich bis zu den anthropologischen facts durchkämpfen, um überhaupt etwas Sinnvolles auszusagen. Stimme, Körperbau, Wahrnehmungsweisen, alles was nicht nur mit den Inhalten oder Erlebnissen selbst, sondern mit den Organen und ihrer Synästhesie zu tun hat, gehört hierher, weil es längst vorher da war.25
Durs Grünbein sucht hier die zerebralen Prozesse des kognitiv konzipierten Schreibens mit den Körperprozessen zu verbinden. Die »Grundspannung 23 24 25
La Roche 1799. S. u., S. 330 f. S. u., S. 302. Grünbein 1996, S. 41 f. (Brief über Dichtung und Körper).
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[…], in der alle physiologischen Eigenschaften enthalten sind,« weist in eine ähnliche Richtung wie Mark Johnsons Theorie von den Bildschemata. Aus dichterischer wie philosophischer Richtung wird versucht – so auch in der feministischen Literaturtheorie und literarischen Praxis –, die platonische, von Kartesianismus und Idealismus erneuerte Trennung zwischen Geist und Körper produktiv zu überwinden. Interessant an Grünbeins Aussage ist weniger das ›Neue‹ – auch Goethe realisierte die Wirkkraft der Dichtung durch Einbringung des ganzen körperlichen Menschen. Bemerkenswert ist vielmehr die theoretische Rückführung der Dichtung auf die grundlegenden Strukturen des menschlichen Lebens und die Verpflichtung der Kritik auf »anthropologische facts«; dem soll hier weiter nachgegangen werden.26 Das grundlegende anthropologische Faktum, mit dem die Dichtung arbeitet, ist die Sprache, und diese ist als anthropologische Konstante auch mit allen anderen anthropologischen Konstanten verbunden. Es lohnt, im gegenwärtigen Zusammenhang das Spektrum anthropologischer Konstanten zu betrachten, das Donald E. Brown aufgezeigt hat, denn diese entwerfen einen Kontext für die ›Rollen‹ des Dichters. Als Entgegnung auf die ethnographische Tendenz zur Hervorhebung von Differenz und Vielfalt bietet Brown in seiner Studie Human Universals eine vorläufige, stichpunktartige Charakterisierung des ›universalen Volkes‹,27 die als Querschnitt der von Ethnographen erforschten Merkmale menschlicher Kulturen konzipiert ist. Dies ist hier insofern interessant, als damit gewissermaßen die menschliche ›Welt‹ umrissen ist, zu der die Literatur sprachlich beiträgt – sofern man das ihr zugängliche Feld als prinzipiell unbegrenzt betrachtet. Indem Autoren spezifische Rollen wählen, verorten sie ihre Projekte in einem bestimmten Teil dieser ›Welt‹, ohne damit notwendigerweise Verbindungen zu anderen Teilen aufzugeben. Listenförmig seien hier einige Merkmale aus dem Spektrum von Browns Charakterisierung herausgegriffen und vom perzipierenden Menschen ausgehend geordnet.28 In Klammern hinzugefügt sind einige mögliche Rollen, die sich für den Dichter daraus ergeben: 26
27 28
Der kritische Leser wird in der Diskussion der Beispiele häufig eine gebührende Berücksichtigung des geschichtlichen Kontexts vermissen. Wenn hier ›Konstanten‹ im Zentrum stehen, so soll damit keineswegs in Abrede gestellt sein, dass für eine angemessene Rezeption eines jeden Textes auch zeitspezifische kulturelle Gegebenheiten zu berücksichtigen wären. Entsprechend zeigt Pott in ihrer Untersuchung poetologischer Lyrik zwischen Romantik und Moderne die sich wandelnde Ausprägung von »Dichter-Typen« (Pott 2004, S. 382 u.ö.); subtile Verschiebungen wie beispielsweise in der Vorstellung vom »Seher« (ebd., S. 389 u.ö.) sind für jede der im gegenwärtigen Kapitel besprochenen ›Rollen‹ vorauszusetzen. Brown 1991. Vgl. bes. das 6. Kapitel »The Universal People«, ebd., S. 130–141. Eine eingehende Dikussion der Frage, was für kognitive Metaphern als universal anzunehmen sind, liefert unter Bezug auf verschiedene Sprachen Kövecses 2005. Vgl. auch die auf der Übersetzung von Pinkers Auszug basierende Liste von Eibl (Pinker 1995, S. 413–415; Eibl 2004, S. 357 f.).
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Mentale und emotionale Prozesse: Verwandtschaftskategorien (Genealogie, Generation); binäre Unterscheidungen (männlich/weiblich, natürlich/kulturell, gut/böse); Maße, Mengen; logische Relationen (Negation, Identität, Ähnlichkeit, Gegensatz, Teil/Ganzes); Gefühl des Selbst in Gegensatz zum anderen, Innenleben; Nachahmung; Intentionalität; Sinn für normale/anormale mentale Zustände; Traum und Trauminterpretation; Einnehmen von Stimulanzien/Drogen; Interpretieren der Intention aufgrund des Verhaltens; anerkannte Gesichtsausdrücke für Emotionen; Lächeln, Weinen; Zuneigungsbezeugungen. (Dichter als Denker, Träumender, sinnlich Wahrnehmender usw.) Sprache: Nonverbale Kommunikation; sprachliches Eingehen auf andere Menschen und Beeinflussung, Organisation, Manipulation des Verhaltens anderer; hohe Bewertung entwickelter Sprachfähigkeit; Lüge; verbaler Humor; Klatsch; Wörter für: Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, Körperteile, innere Zustände (Emotionen, Sinneseindrücke, Gedanken), Flora/Fauna, Wetter, Werkzeuge, Raum, Ort, Bewegung, Geben/Nehmen, Zahlen, Eigennamen, Besitz; rhetorische und poetische Sprachformen; Erzählen von Geschichten; Metaphern; Dichtung mit Wiederholung sprachlicher Elemente und zeitlich abgeteilten Sequenzen. (Dichter als Sprechender, Schreibender, Erzähler, Chronist usw.) Geschlechtlichkeit: Annahme von Geschlechtsunterschieden; Arbeitsteilung nach Geschlecht; tendenziell mehr Aggression bei Männern; Männer im politisch-öffentlichen Bereich tendenziell dominant; Sexualverkehr, sexuelle Attraktion, Eifersucht; Vermeidung von Mutter/Sohn Inzest, ödipale Gefühle; ausgeprägtes Interesse am Thema Sexualität. (Dichter als Mann/Frau, Liebende(r) usw.) Künste, Spiele: Schmücken des Körpers; Herstellung und Benutzung von Werkzeugen; Fertigung von Werkzeugen nach kulturell tradierten Motiven; Tanz, Musik, Dekoration von Artefakten; Spiel, Kampfspiel. (Dichter als Künstler, Spieler, Wettkämpfer usw.) Arbeit, Wissen: Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter; kooperative Arbeit; Nahrungsbeschaffung; Herstellung und Gebrauch von Werkzeugen; Tausch von Gütern, Dienstleistungen; Medizin. (Dichter als Handwerker, Kaufmann, Gelehrter, Arzt usw.) Moralische Werte: Sinn für Verantwortung und Recht/Unrecht; Rechte, Pflichten, Strafen; Gesetze gegen Gewalt, Vergewaltigung, Mord; sexualmoralische Richtlinien. (Dichter als moralisches Vorbild, Sittenlehrer, Richter usw.) Gesellschaft (privat und öffentlich): Hygiene; Sexualverkehr normalerweise in der Privatsphäre; Bevorzugung naher Verwandter; Ehe (anerkanntes Recht auf Zugang zu gebärfähiger Frau); Familie, Sozialisierung der Kinder durch ältere Verwandte; gesellschaftliche Umgangsformen, Gastfreundschaft; Koalitionen, kollektive Entscheidungen; (meist nicht-diktatorische) Führer; zugewiesener (nach Verwandtschaft, Alter, Geschlecht) und errungener Status; Besitz, Vererbung von Besitz und ökonomische Ungleichheit; Leben in Gruppen; territoriale Abgrenzung und Identität als Volk. (Dichter als Ehepartner, Sohn/Tochter, Mitglied einer Gruppe/ Nation, Politiker usw.)
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Bezüge zum Übernatürlichen: Inferenz der Gegenwart abwesender/unsichtbarer Instanzen aus sichtbaren Spuren; Glauben an Übernatürliches; Magie. (Dichter als Priester, Magier, Hexe, Schöpfer usw.)
Brown räumt ein, dass seine Charakteristik weder vollständig noch auch wissenschaftlich ausreichend fundiert ist und dass zudem die Anordnung der Kriterien problematisch ist29 – die hier in anderer Anordnung und nur auswahlweise wiedergegebene Liste soll von dem Spektrum der Kriterien lediglich einen Eindruck vermitteln. Sie reicht jedoch aus, um einen Kontext von Literatur zu entwerfen, der von den Zielen und Werten spezifischer Traditionen und Gruppen unabhängig ist. Dabei geht es nicht um spezifisch interne, schaffenspsychologische Vorgänge und auch nicht um die ›Stoffe‹, die der Autor behandeln kann, sondern um einen Prozess der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt: »This is not a list of instincts or innate psychological propensities; it is a list of complex interactions between a universal human nature and the conditions of living in a human body on this planet.«30 Die in diesem Kapitel untersuchten Interaktionen sind allerdings allesamt sprachlicher Art und somit immer auch kulturell spezifisch. Hilfreich ist ein solcher Überblick über Möglichkeiten der Dichtung nicht zuletzt deswegen, weil er jenseits der zu bestimmten Zeiten dominanten Vorstellungen ein Spektrum an Alternativen aufzeigt. Methodologisch ergeben sich auf diese Weise Kontrastmittel, wie Michael Reddy dies im Rahmen seiner Erforschung der Rohrpostmetapher fordert:31 In order to investigate the effect of the conduit metaphor on the thought processes of speakers of English, we need some alternate way of conceiving of human communication. We require another story to tell, another model, so that the deeper implications of the conduit metaphor can be drawn out by means of contrast. Simply speaking, in order to engage in frame restructuring about human communication, we need first an opposing frame.32
Statt eines einzigen kontrastierenden ›Rahmens‹ soll hier ein Spektrum von Alternativen verfügbar bleiben. Die Konstanten generieren unendlich viele Geschichten und Modelle, die allerdings immer vom Menschen her strukturiert – und damit auch kultur- und zeitspezifisch limitiert – sind und sich aus dieser menschlichen Perspektive heraus sinnvoll interpretieren lassen. Aus der Perspektive der Literaturkritik und Literaturgeschichte können auf dieser Basis Wertungen und Abwertungen ohne die Gefahr eines absoluten Relativismus kontextspezifisch diskutiert werden. Ziel dieses Kapitels ist nicht der schlüssige Beweis, dass deutschsprachige Poetik sich mit all den angeführten Aspekten des menschlichen Daseins befasst, auch wenn dies als Nebenprodukt aus den Beispielen in 29 30 31 32
Brown 1991, bes. S. 140 f. Pinker 1995, S. 415, zu Browns Universalienliste. S. o., S. 139 f. und 177. Reddy 1993, S. 171.
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diesem sowie in den anderen Kapiteln hervorgehen dürfte. Vielmehr soll punktuell erkundet werden, wie Autoren ihre Rollen metaphorisch ausgestalten, um in ihrer kulturell geformten Welt zu wirken und mit ihrem Publikum ins Gespräch zu kommen. Es handelt sich bei den obigen Aspekten um ›Herkunftsbereiche‹, mittels derer der ›Zielbereich‹ Dichtung auf metaphorischem Wege Kontur erhält.33 Dabei lassen sich auch die eher abstrakten Bereiche über die Personifikation als konkretisierende Metaphern einsetzen. Schon allein die Projektion des Autors als ›Person‹ erfüllt Funktionen, die denjenigen der Personifikation gleichkommen: Der Autor erscheint nicht als Abstraktum, sondern als belebtes, ausgestaltetes Gegenüber. Über diese generelle Funktion hinaus birgt die ›Rolle‹ des Autors insofern erhebliches poetologisches Potenzial, als damit ein Aspekt des Autors fokussiert werden kann, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Konzeption, Bedeutung und angestrebte Wirkungsweise des jeweiligen Projekts richtet. Wenn der Schriftsteller sich wie Gottfried Benn als Forscher in einem Labor darstellt, so kommuniziert er den experimentellen Charakter seines Dichtens und blendet zugleich die Möglichkeit eines metaphysischen Bezugs aus: Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte, in dem der Lyriker sich bewegt. Hier modelliert, fabriziert er Worte, öffnet sie, sprengt, zertrümmert sie, um sie mit Spannungen zu laden, deren Wesen dann durch einige Jahrzehnte geht.34
Der Dichter vermittelt hier eine poetologische Identität, die ihm selbst einen das Experiment fördernden Vorstellungs-›Raum‹ eröffnet und die dem Leser einen rationalen statt emotionalen Umgang mit dem Gedicht nahelegt. Zugleich sucht Benn auf diese Weise die intendierte Wirkungsweise zu steuern. Er macht die Metaphorizität seiner Aussage offensichtlich, um durch die Differenz zwischen den kognitiven ›Bereichen‹ des Schreibens und des naturwissenschaftlichen Forschens jene Spannung zu erzeugen, die in die Zukunft wirken soll. Er setzt dabei voraus, dass der Rezipient die Metapher nicht nur als stilistisches Ornament auffasst, sondern ihre mentale Tragweite nachzuvollziehen vermag. Sofern solche Rollen werkintern entfaltet werden, lassen sie sich auch – aristotelisch – als Teil einer separaten, fiktionalen ›Welt‹ konzipieren oder rezipieren. Ein poetologisches Modell, das eine absolute Trennung zwischen dem empirischen Autor und den im fiktionalen Werk erzählenden oder agierenden Figuren voraussetzt, ist allerdings nicht geeignet, den vielfältigen Verbindungen zwischen werkexternen und werkinternen Rollen gerecht zu werden, die in der Poetik begegnen; und es macht blind für den besonderen
33 34
Zu diesen Begriffen s. o., S. 131–134. Benn 1986–2003, Bd. 4, S. 355 (Lyrik, 1943/44).
1. Im Inneren des Dichters
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Reiz von Grenzübergängen und Ambiguitäten.35 Die Rollen können sich auch metonymisch konstitutieren, wie in Oskar Pastiors Kommentar zum Projekt einer Werkausgabe, in der sein großteils vergriffenes Frühwerk wieder zugänglich gemacht werden soll: Ich wandle zur Zeit sehr defizitär durch sehr sporadische Lektüreerwartungen sehr etwaiger künftiger Leser – dem also abzuhelfen soll ich nun sukzessive wieder mit den insgesamten Gliedmaßen versehen werden.36
Der Autor steht hier metonymisch für sein Werk, und das Werk erscheint zugleich in personifizierter, mit dem Sprecher/Autor identifizierter Form. Es dürfte schwerfallen, das ›Feld‹ dieses so konkreten wie implausiblen »Ich« klar vom Feld des pastiorschen Gedichts oder vom Feld des empirischen Autors Pastior abzugrenzen. Anregender ist es ohnehin, dem Ich auf seinen Wanderungen jenseits von Zäunen und Mauern zu folgen – auch über den Tod hinaus.
1. Im Inneren des Dichters Ich weiß nicht, ob es eine Untersuchung des Ich und der vielen Ich in der Literatur gibt, bekannt ist mir keine, und obwohl ich mich nicht imstande fühle, eine regelrechte oder gar erschöpfende Untersuchung anzustellen, meine ich, daß es da viele Ich gibt und über Ich keine Einigung – als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern nur immer neue Entwürfe.37
In einer ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen verfolgt Ingeborg Bachmann unter dem Titel Das schreibende Ich die »Ich-Rolle«,38 die damit als poetologische Metapher in den Raum der Dichtung tritt. Denn indem das Ich einerseits als »schreibendes« Ich, andererseits als Ich »in der Literatur« – und das heißt wohl in dem vom Autor potenziell getrennten Werk – agiert, wird es zu einer Instanz, die sich zwischen dem empirischen Autor und dem sprechenden Ich im Werk bewegt. Das Ich gerät in das Spannungsfeld zwischen gefühlter ›innerer‹ Identität und sprachlicher Projektion, zwischen dem ›Inneren‹ des Autors und der ›äußeren‹ Welt. Dem Autor stehen damit unendlich viele Möglichkeiten der Ich-Konstruktion offen, die Bachmann mit einer Fülle von Metaphern evoziert: Denn was ist denn das Ich, was könnte es sein? – ein Gestirn, dessen Standort und dessen Bahnen nie ganz ausgemacht worden sind und dessen Kern in seiner Zusammensetzung nicht erkannt worden ist. Das könnte sein: Myriaden von Partikeln, die »Ich« ausmachen, und zugleich scheint es, als wäre Ich ein Nichts, die 35 36 37 38
Zur Beziehung zwischen werkexternen und werkinternen Konstruktionen des auktorialen ›Ich‹ s. o., S. 229–232. Pastior 2003, S. 339 (Nachbemerkung des Autors). Bachmann 1978, Bd. 4, S. 219 (Frankfurter Poetik-Vorlesungen III: Das schreibende Ich). Ebd., S. 220.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Hypostasierung einer reinen Form, irgendetwas wie eine geträumte Substanz, etwas, das eine geträumte Identität bezeichnet, eine Chiffre für etwas, das zu dechiffrieren mehr Mühe macht als die geheimste Order. Aber es gibt ja die Forscher und die Dichter, die nicht locker lassen, die es aufsuchen, untersuchen, ergründen und begründen wollen, und die es immer wieder um den Verstand bringt.39
Die Metaphern sind miteinander unvereinbar: »Gestirn« und ›Traum‹, Gebilde mit einem »Kern« und Sammlung von »Partikeln«, »Nichts« und »Substanz«, »reine Form« und »Chiffre«. Indem Bachmann das Ich in solch unterschiedlichen metaphorischen Formen auftreten lässt, entzieht sie ihm seine Selbstverständlichkeit. Sie erreicht dies vor allem durch die Vorstellung von einer nicht zu Ende gelangenden ›Suche‹, denn damit wird das Ich einerseits dem Dichter entfremdet, andererseits aber zum Gegenstand seiner Sehnsucht nach Identität. Bachmann entwirft dieses komplexe literarische Ich vor dem Hintergrund einer zur Verfügung stehenden einfachen Besetzung der Ich-Rolle. Als Beispiel dienen ihr Memoiren von öffentlich etablierten Personen: »Wir verlangen von diesem Ich, daß es mit dem Autor identisch sei.«40 In solchen autobiographischen Schriften ist die Identität zwischen empirischem Autor und sprechendem Ich durch Gattungskonventionen vorgegeben, wenn auch nicht ohne die Möglichkeit einer Differenz, die dann allerdings als mangelnde Authentizität zur Kritik herausfordert. Das Ich im literarischen Werk dagegen ist der aristotelischen Tradition zufolge gerade durch die Differenz zum empirischen Autor gekennzeichnet. Bachmann begnügt sich jedoch nicht mit einer solch vorgegebenen, spannungslosen Differenz, sondern verdeutlicht vielmehr nach zwei Richtungen hin eine Komplexität, die potenziell jedem kommunikativen Akt eignet. Beim Übergang nach ›außen‹ in die Rede »verändert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es wird formal und rhetorisch«.41 Sucht man das Ich dagegen »hinter dem Ich«,42 so wird es zur ständigen Herausforderung, die selbst unter höchstem Einsatz des »Verstandes« nicht zu bewältigen ist, denn das Ich befasst sich ja ohne jeglichen äußeren Anhaltspunkt mit dem Ich. Die Metapher vom ›Entgleiten‹ aktualisiert das idealistische Misstrauen gegenüber der Rhetorik, die durch äußerlichen Prunk von der Wahrheit ablenkt; zugleich jedoch wird durch die Raummetapher vom Ich »hinter dem Ich« die Möglichkeit ausgeschlossen, dass der »Verstand« das wahre Ich finden könnte. Bachmann eröffnet dem schreibenden Ich auf diese Weise einen unendlichen Spielraum, in dem die Kraft der Imagination gefordert ist, ohne je zur Ruhe zu kommen. 39 40 41 42
Ebd., S. 218. Ebd., S. 219 f. Ebd., S. 217. Ebd.
1. Im Inneren des Dichters
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Bachmann bezieht sich in ihrem Gegenentwurf zum komplexen literarischen Ich auf die Gattung der Autobiographie. Allerdings ist auch der Dichtung eine Identität zwischen dem empirischen Autor und dem im Gedicht sich projizierenden Ich durchaus nicht fremd. So ist für die Wirkung von Goethes Lyrik das ›authentisch‹ wirkende Ich mit seinen dokumentierten autobiographischen Bezügen wesentlich. Einen beispielhaft ›natürlichen‹ Ausdruck des Ich bietet »Über allen Gipfeln«:43 Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch.44
Das inmitten der Natur stehende Ich ist sich seiner mühelos einfachen Identität nicht bewusst: Es nimmt sich mit Auge, Ohr und Haut nur in seinem Bezug zur Natur wahr und äußert sich lediglich in der Anrede an das ›Du‹, das mit dem Ich potenziell identisch ist, aber die Implausibilität beziehungsweise Künstlichkeit des Monologs oder der Apostrophe vermeidet. Zeit und Ort sind so dargestellt, als sei der Leser ›dabei‹, ohne dass eine Anrede an einen notwendig vom Sprecher geschiedenen Leser den Eindruck vom einsamen, still reflektierenden Dichter in der Natur stören würde. Kommunikative Spannung erzeugt einzig der Ausblick auf die Zukunft, der aus der Zeit des Gedichts hinausführt; am Ende jedoch kommt der Dichter und Mensch über die imaginierte Zukunft in der zeitlosen Natur zur Ruhe. Kennzeichnend für das Ich ist die Abwesenheit von Merkmalen der Rede: Es inszeniert sich nicht als das ›eigentliche‹, schreibende Ich, sondern allein durch die Sinneswahrnehmungen und durch einen Moment der philosophischen Reflexion, der dem besonderen Eindruck eine allgemeine Einsicht abgewinnt. Der Eindruck der Natürlichkeit beruht nicht zuletzt auf der Ausblendung sprachlicher Kommunikation, wodurch die Einheit des Ich gewahrt bleibt. Die mit der Verschriftlichung eintretende Distanz wird in diesem Gedicht jedoch nicht nur durch Ausblendung der sprachlichen Vermittlung gemieden, sondern zusätzlich durch die dokumentierte Authentizität und Naturverbundenheit der schriftlichen Form überwunden: Noch 43
44
Dieses Gedicht gilt als Inbegriff ›natürlicher‹ Poesie. Vgl. den Kommentar von Wilkinson, den Trunz statt eines eigenen Kommentars wiedergibt: Das Gedicht zeige »the inner process of nature as known by the mind, an organic order of the evolutionary progression in nature […]. A natural process […] has become language« (Elizabeth M. Wilkinson: Goethe’s poetry, 1962, zit. nach Trunz 1981, S. 556). Goethe 1985 ff., Bd. 2, S. 65 (Ein Gleiches). Vgl. zu Varianten ebd., Bd. 1, S. 388 und den Kommentar des Herausgebers, S. 1072.
306
IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
heute kann sich der Leser – wenn auch nur in photographischer Form – den Moment des spontanen Schreibens auf dem Kickelhahn, dem Hausberg Ilmenaus, vergegenwärtigen.45 Das Gedicht kommuniziert keine offensichtlich poetologische Aussage: Es findet sich keinerlei Reflexion über das Dichten oder poetische Kreativität, und weder das Werk noch der Rezipient gewinnen als solche Kontur. Interessant ist es im gegenwärtigen Zusammenhang, weil es gerade durch das Fehlen einer poetologischen beziehungsweise metasprachlichen Reflexion eine ›konfessionale‹ Poetik des authentischen Individuums vermittelt. Aufgrund der Ausblendung sprachlicher Vermittlung meint der Rezipient, er befinde sich im authentischen ›Kern‹ des Dichters selbst – zumal er aufgrund seiner praktischen Kommunikationserfahrung dazu neigt, in Abwesenheit anderslautender Signale ein Ich als ›authentisch‹ zu verstehen. Goethe vermittelt hier ein ganzheitliches Bild vom denkenden, fühlenden, wahrnehmenden Menschen in der Natur. Das Ich erhält seine Identität aus dem Bezug zur äußerlichen Welt, ohne zu ihr in Spannung zu stehen. Die innere Welt, die Werther entdeckt – »Ich kehre in mich selbst zurük, und finde eine Welt!«46 – führt dagegen weg von der äußeren Welt und erzeugt eine separate Identität, wobei die Vorstellung von einer ›inneren‹ Identität des Menschen in der fundamentalen Erfahrung vom Körper als einem Behälter gründen dürfte. Die imaginativen Möglichkeiten des dadurch geschaffenen ›Innenraums‹ werden bereits in der Bibel genutzt, so wenn Jesus den Pharisäern erklärt, das »Reich Gottes« komme nicht »mit eusserlichen Geberden«, sondern sei »inwendig in euch«.47 Ausgestaltet wird dieser Raum besonders in der mystischen Tradition, auf die Goethe mit seinem Werther rekurriert. So finden sich im Pietismus beispielsweise folgende sprachliche Ausformungen: »in sich gehen«, »in sein Herz gehen«, »einkehren«, »inwendig«, »innerlich«, »Innigkeit«, »der innere Mensch«, »das innere Reich«.48 Ganz in Einklang mit der mystischen beziehungsweise pietistischen Tradition führt die Erkundung des inneren Ich bei Novalis in den Hymnen an die Nacht weg von der äußeren Realität.49 Die Anrufung an den »Heiligen Schlaf« in der zweiten Hymne50 zeigt das implizite Ich im Raum der Imagination, zu dem nicht die Sinne Zugang gewähren, sondern Traum, Trunkenheit, Rausch, Liebe und religiöses Erlebnis. Der vom Tod seiner Geliebten erschütterte und sensibilisierte empirische Autor projiziert sich in 45 46 47 48 49 50
Vgl. Michel 1982, S. 363. Goethe 1985 ff., Bd. 8, S. 22 (Die Leiden des jungen Werthers, 1. Theil, 22. Mai). Zitiert wird nach der ersten Fassung von 1774. Luk. 17, 21. Langen 1954, S. 153–162. Langen zitiert in diesem Zusammenhang Werthers Worte. Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 131–157 (Hymnen an die Nacht, Athenäumsdruck). Ebd., S. 133 (2. Hymne).
1. Im Inneren des Dichters
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die Rolle des ›Eingeweihten‹, um dem Leser in überschwänglichen Bildern das Wissen von einem Reich zu vermitteln, das irdische Dimensionen transzendiert: zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. – Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf – beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk. Nur die Thoren verkennen dich und wissen von keinem Schlafe, als den Schatten, den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst. Sie fühlen dich nicht in der goldnen Flut der Trauben – in des Mandelbaums Wunderöl, und dem braunen Safte des Mohns. Sie wissen nicht, daß du es bist der des zarten Mädchens Busen umschwebt und zum Himmel den Schoß macht – ahnden nicht, daß aus alten Geschichten du himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender Bote.51
Während anfangs die Räumlichkeit negiert wird, um in Gegensatz zur alltäglichen Welt des Lichts eine rein spirituelle Realität zu evozieren, gibt Novalis der spirituellen Erfüllung mit der Metapher vom Schlüssel räumliche Kontur. Als Vermittler überirdischen Wissens folgt der Dichter Jesus, der den Jüngern in den »alten Geschichten« verkündet hatte: »Jn meines Vaters hause sind viel Wonungen.«52 Der Leser begleitet den Dichter dann auf seinem Weg »Hinunter zu der süßen Braut, | Zu Jesus, dem Geliebten –« und erfährt die imaginative Versenkung »in des Vaters Schoß«.53 Anders als der von Bachmann dargestellte Dichter kommt dieser Dichter zur Ruhe, denn die anfängliche Spannung gründet nicht in der mangelnden Einheit und Identität des Ich, sondern in der Entfremdung des Ich von seinem göttlichen Urgrund. Der »Schoß« wird zum bergenden Raum, in dem der Mutterschoß, der Schoß der Geliebten und die himmlische Wohnung assoziativ vereinigt sind. In Novalis’ Zyklus besteht ebensowenig wie in der mystischen Literatur eine Trennung zwischen dem empirischen Ich des Autors und dem sprechenden Ich. Vielmehr wird die emotionale Wirkung des Dargestellten durch die Identität von Autor und Sprecher eher noch verstärkt: Das Bewusstsein um die biographischen Umstände, die das Werk inspirierten, hat zweifellos zu seinem Erfolg bei der Mit- und Nachwelt beigetragen. Das Gedicht kommuniziert die Erfahrungen und Werte des empirischen Autors über die sprachlich vermittelten Vorstellungen des sprechenden Ich. Die Anrede des Dichters an die personifizierte Nacht blendet jedoch den Leser als Addressaten aus und substituiert ein zwar belebtes, aber konturloses, sprachloses Wesen. Evoziert wird auf diese Weise ein »Wissen«, das sprachliche Kommunikation transzendiert: Die »schweigende« Nacht verweist auf eine Welt »unendlicher Geheimnisse«. 51 52 53
Ebd., S. 133–135. Joh. 14, 2. Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 157 (6. Hymne, V. 55 f. und 60).
308
IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Eine besondere Ausgestaltung erfährt diese Tradition der Innerlichkeitsmetaphorik in der poetologischen Entwicklung Rilkes. Während er im Stundenbuch eine überbordende Fülle von Metaphern für die Beziehung zwischen Dichter und Gott erprobt, konzentriert er die Vorstellung vom Dichten zunehmend auf Prozesse, die das dichterische Ich zum produktiven ›Gefäß‹ machen. Eine psychologische Variante findet sich in der Entdeckung eines dem Protagonisten unbekannten, ›unterbewussten‹ Ich in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.54
Rilkes Malte Laurids Brigge unterzieht sich einem Lernen, das mit den künstlerischen Lernprozessen seines Schöpfers nicht identisch ist, sich aber doch bedeutungsvoll darauf bezieht, denn das »Sehen« ist in der Zeit der Neuen Gedichte und des Malte Rilkes zentrale poetologische Metapher. Das Gedicht Archaïscher Torso Apollos, in dem Rilke ein poetisches Äquivalent zu den Skulpturen Rodins schafft, projiziert das ›Sehen‹ als wirkende Kraft in das Kunstwerk selbst: »Denn da ist keine Stelle, | die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.«55 Vier Jahre nach Malte konstatiert das poetologische Gedicht »Wendung«: »Werk des Gesichts ist getan, | tue nun HerzWerk | an den Bildern in dir.«56 Produktion und Rezeption werden hier im Werk interaktiv wirksam. Das Sehen wird hier zunehmend zu einem produktiven Akt und zur Voraussetzung für die Verwandlung der Dinge in den »Weltinnenraum«.57 Verfolgen lässt sich dies in der Metaphorik Maltes, die mit der Behältermetapher den Körper zum Gefäß macht und mit der Wegmetapher das Auge zum Eingangstor. Geschaffen wird damit der Raum, in den die Bilder eingehen können: Die Metaphorik der Tiefe evoziert im Zeitalter Freuds den Bereich des ›Unterbewussten‹, der das Ziel der Bilder ist und in dem ein Vorgang stattfindet, der dem lernenden Malte noch nicht zugänglich ist. Durch die Wahrnehmung Maltes lässt Rilke den Leser an einem Vorgang teilhaben, der die sinnliche Wahrnehmung kreativ werden lässt und den Übergang vom physischen Sehen zum neuen, poetischen Sehen vermittelt, womit er zugleich einen Leser heranbildet, der die neue Kunst wahrzunehmen versteht. Die dann in den Duineser Elegien geforderte ›Verwandlung‹ der konkreten Dinge in den abstrakten ›Weltinnenraum‹ ist physisch und 54 55 56 57
Rilke 1996, Bd. 3, S. 456 (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge). Ebd., Bd. 1, S. 513 (Der neuen Gedichte anderer Teil, Archaïscher Torso Apollos, V. 13 f.). Der Band ist Rodin gewidmet (ebd., S. 512). Ebd., Bd. 2, S. 102 (Wendung, V. 48–50). Ebd., S. 113 (Es winkt zu Fühlung fast […], V. 14).
2. Grenzüberschreitungen: Denken und Sprache
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logisch unmöglich. Vorstellbar und nachvollziehbar ist sie jedoch als metaphorischer Prozess: Denn jeder Leser, vor allem aber der Dichter, hat die imaginative Fähigkeit, physische Dinge in die Welt des Abstrakten zu projizieren. Mehr noch als ein diskursiv poetologischer Text vermittelt das Gedicht performativ die produktive Kraft der Imagination.
2. Grenzüberschreitungen: Denken und Sprache Die Beziehung zwischen mentalen und sprachlichen Vorgängen ist für poetologische Reflexion grundlegend. Je nach sprachtheoretischer Voraussetzung und poetologischem Kontext und Ziel lässt sich der dichterische Prozess auffassen als Mittel, eine von der Sprache unabhängig vorgestellte fiktionale ›Welt‹ aufzubauen, zu erkunden und zu kommunizieren, oder als Mittel, die Interaktion zwischen mentalen und sprachlichen Prozessen poetologisch wirksam und potenziell auch erkenntniswirksam einzusetzen. Diese Wahl bestimmt die Rolle des Dichters, und umgekehrt bestimmt die projizierte Rolle des Dichters die poetologische Wirkung. Dabei ist die Darstellungsweise einer poetologischen Äußerung so bedeutsam wie die Aussage. Am einen Extrem wird ausgegangen von der Trennung zwischen Denken und Sprache sowie auch zwischen Inhalt und Form, und auf der anderen von einer prozessualen Kongruenz oder gar – beispielsweise in mancher Lautpoesie oder in wortunabhängigen Anordnungen von Buchstaben – von einer Verselbständigung der Sprache. Festzuhalten bleibt gewissermaßen zur Orientierung, dass einerseits jedes rezipierbare Werk der Dichtung ein sprachliches Konstrukt ist und dass andererseits jedes Werk der Dichtung in seiner Sprachlichkeit auch semantische Bedeutung vermittelt oder wenigstens erwarten lässt. Die je andere Hervorhebung spezifischer Fähigkeiten sowie die Gestaltung angenommener mentaler Prozesse ist jedoch nie ›neutral‹, denn über die mentale ›Wirklichkeit‹ gibt es nur Hypothesen. Somit ist jede Fokussierung poetologisch bedeutsam. Zu einer Trennung von Denken und Sprache hat nicht nur die Philosophie tendiert, sondern ebenfalls die Rhetorik. Denn wenn auch Cicero die »Trennung gleichsam zwischen Zunge und Gehirn« verwirft,58 so legt doch die Strukturierung der rhetorischen Lehrbücher mit der nachgeordneten, separaten Behandlung der elocutio eine solche Trennung nahe. Dies ergibt ein praktisches Lehrmodell, bei dem der Dichter sein Handwerk in separaten Stadien vermitteln kann, so wenn Harsdörffer die inventio und dispositio scharf von der elocutio abgrenzt:
58
Cicero 1976, S. 460 f. (III, 6, 24).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
der Inhalt / oder die Erfindung deß Gedichts [muß] erstlich untersucht / und in den Gedancken verfasset werden / bevor solcher in gebundener Rede zu Papier fliesse. Daher jener recht gesagt: Mein Gedicht ist fertig / biß auf die Wort.59
Der Verfasser kontrolliert hier restlos die im Vordergrund stehende Erstellung des »Inhalts«, während die Ausarbeitung in dieser »ersten Stund« des Unterrichts keine Aufmerksamkeit beanspruchen soll; die Metapher des ›Fließens‹ vermittelt unter Ausblendung der Arbeit am Stil einen automatischen Prozess, der ohne Zutun des Dichters vonstatten geht. Andernorts stellt Harsdörffer dagegen unter Wahrung der Trennung allein die Sprache als Bereich der Kunstfertigkeit dar, wobei der Dichter mit einem Handwerker verglichen wird: »Wie der Töpfer erstlich muß den Don haben / ohne welchen er nichts bilden oder drehen kan / so muß der Poet wissen / was er schreiben will / bevor er die Feder ansetzet.«60 Der Vergleich macht die Gedanken zu einem vorgegebenen Material, um die Arbeit am Wort in den Vordergrund zu rücken. Produktionsästhetisch ist auch hier jegliche Interaktion zwischen res und verba im Prozess des Dichtens ausgeschlossen. Eine mögliche Verbindung ergibt sich jedoch daraus, dass die Sprache auch in der Ausarbeitung der res zum Tragen kommen kann, dann nämlich, wenn »die Erfindung […] von dem Wort [hergeführet wird]«: »Das Wort giebet eine Erfindung entweder in seinem angebornen Laut / und bekanter Deutung / oder mit versetzten Buchstaben.«61 Die Metapher vom ›Herführen‹ macht das Wort zum Ausgangspunkt. Der Dichter erweist hier seine Kunstfertigkeit in der einfallsreichen Arbeit mit den Strukturen und Elementen sowie den semantischen Möglichkeiten seines Mediums. Dem Lehrbuch gemäß geht die geistige Arbeit mit der Sprache der sprachlichen Arbeit mit dem geistigen Material voraus. Der eigentliche Prozess des Meisters dürfte allerdings eher einer Wechselwirkung gleichkommen. Das kreative Potenzial in dieser Vorstellung wurde – wenn auch nicht zum ersten Mal – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannt: Gerade in der mentalen Arbeit mit der Sprache sind die Übergänge zwischen Denken und Sprache wieder zur Geltung gekommen. Gegen eine Trennung von Denken und Sprechen argumentiert Kleist in Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, wobei er insbesondere den Akt der zwischenmenschlichen Kommunikation – hier mit der Schwester – für förderlich hält.62 Die (rhetorische) Begeisterung und das Interesse an der Wirkung des Gesagten bieten den Impuls für die synergetische Verbindung von Erkenntnis und Ausdruck:
59 60 61 62
Harsdörffer 1969, 1. Teil, S. 4 f. (1. Stund, Abs. 6). Ebd., S. 10 (Abs. 14). Ebd. (Abs. 15). Kleist 1990.
2. Grenzüberschreitungen: Denken und Sprache
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weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge […] und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. […] Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben.63
Mit der personifizierenden Aufwertung der Sprache als ›fortschreitender‹ Rede geht eine Schwächung der geistigen Kontrolle einher sowie auch die Einbeziehung verschiedenster mentaler Fähigkeiten und Prozesse. Der Satz wird unversehens vollendet und der Ausdruck ›geschenkt‹; beteiligt ist nicht nur die »Vernunft«, sondern auch »Gemüt« und »Begeisterung«; am Ende des Prozesses steht die »Erkenntnis« und zugleich die fertige Satzstruktur. Bedeutsam ist die Handwerksmetaphorik, die hier auf Gedanken und Sprache bezogen ist: Der auf der Basis seiner zur Werkzeugbank herabgewürdigten Vernunft arbeitende, sprachliche »Kunstgriffe« anwendende Redner ist der Handwerker, die Idee das Werkstück; aber auch die Wörter ›zieht‹ er ›in die Länge‹. Ein noch besserer Handwerker ist das »Gemüt«, denn diesem gelingt unabhängig vom Willen des Redners die vollkommene ›Ausprägung‹ der »Vorstellung«. Das Kunstprodukt vereinigt die »Erkenntnis« und ihre sprachliche Form. Eine Entsprechung zu dieser Metaphorik in Bezug auf das Schreiben bietet Nietzsche: »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.«64 Das historische Spektrum an Möglichkeiten der Trennung oder Interaktion von Denken und Sprache sowie deren Beziehung zu den Emotionen oder zur Phantasie regt in der neueren Poetik insbesondere in Bezug auf Lyrik zu Reflexion an. Dabei geht es vor allem um die beteiligten mentalen Fähigkeiten und Prozesse. Der gegenwärtig hohe Status der kognitiven Wissenschaften spiegelt sich in Durs Grünbeins Ansatz: Die Seele als Zentrum der menschlichen Identität und selbst als Hauptschauplatz der Literatur hat ausgedient. Es scheint uns absolut logisch, daß das Gehirn jenes Steuerungsorgan ist, das auf allen Feldern von Biochemie und Informatik bis zu Psycholinguistik und Pathologie erkundet wird.65
63 64 65
Ebd., S. 535 f. Nietzsche 1975 ff., Abt. 3, Bd. 1, Nr. 202, S. 172 (Nietzsche an Heinrich Köselitz, Ende Februar 1882). Vgl. Stingelin 2000, der eine Fülle von Metaphern für das Schreiben diskutiert und weiterführende Hinweise zur Forschung bezüglich des Schreibprozesses liefert. Grünbein 2001, S. 69.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Signalisiert wird mit der Fokussierung des Gehirns, der Betonung der ›Logik‹ und der technischen Metapher vom Gehirn als »Steuerungsorgan« eine rationalistische Poetik. »Schauplatz der Gedichte« ist nun »das Gehirn mit seinen verschiedenen Arealen, alle versammelt auf engstem Raum. Die Formel von der Innerlichkeit führt in die Irre.«66 Grünbeins Poetik richtet sich somit gegen die romantische Tradition. In seiner Lyrik ist allerdings ein komplexerer Bezug zur Tradition feststellbar, denn das Gehirn bewohnt einen ›Raum‹, und im folgenden Gedicht begegnen zudem rilkesche Engel: Das Gehirn, beinah täglich stößt es sich, Wort für Wort Am factum brutum der Nöte, verwandelt in Stein. Über Stunden weidet es an den flüchtigen Grenzen Des Sprechens und dieser Bosheit aus Zement und Prothesen, Die vor den Engeln mit Zähnen knirscht. […]67
Diese Verse führen eine Tradition dichterischen Sprechens fort, die von der Bibel über Klopstocks Darstellung des himmlischen Raums in seinem ›Singen‹ des Messias bis hin zu Rilkes Evokation des ›Weltinnenraums‹ im hypothetischen ›Schreien‹ und artikulierten ›Rühmen‹ der Duineser Elegien reicht. Im Vordergrund steht als Thema das Gehirn. Es verliert jedoch in der Metapher vom ›weidenden‹ Tier seine rationalistischen Assoziationen und geht implizit eine Verbindung mit den Engeln ein, die – anders als bei Rilke – in ihrer Opposition zur »Bosheit« als traditionell moralisch definierte Wesen erscheinen. Zugleich geht es ständig auch um die Sprache. Ihr mangelt die physische Konkretheit des Gehirns, denn als zeitlicher Prozess ist sie der ›Flüchtigkeit‹ anheimgegeben. Aber mit der Formel »Wort für Wort« wird das Sprechen in die Bewegung des Gehirns integriert, und in Form von »Grenzen« kommt es mit dem Gehirn in Berührung und grenzt zugleich die »Bosheit« der physischen Requisiten des Mundes aus. Die von Cicero beklagte ›Trennung‹ zwischen Denken und Sprache ist nicht überwunden, aber durch vielfältige Metaphorik klaren rationalistischen Kategorien enthoben. Wenn Grünbein andernorts erklärt, dass »in Neurologie die Poetik der Zukunft versteckt« liegt,68 so reduziert er die Poesie auf ihren gedanklichen Aspekt und überträgt einer Naturwissenschaft die Leitfunktion. Im Gedicht jedoch kommt die Sprache zu ihrem Recht: nicht als separate Kategorie und auch nicht als höchster Wert, aber in ihrer komplexen Vermittlerrolle zwischen dem Denken und der Außenwelt und vor allem in Metaphern, die rationalistische Grenzen außer Kraft setzen. Dezidiert subjektbezogene, irrationale Prozesse des Dichtens stellt Friederike Mayröcker ins Zentrum ihrer poetologischen Texte. Interessanter66 67 68
Ebd., S. 33. Grünbein 1994, S. 100 (Wer bist du, daß…, Nr. 1, V. 1–5). Grünbein 1996, S. 20 (Mein babylonisches Hirn). Hervorhebung KK.
2. Grenzüberschreitungen: Denken und Sprache
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weise unterscheidet sich ihre Poetik jedoch dadurch nicht nur von jener der Zeitgenossen, sondern auch von jener früherer Dichter, weil sie das Schreiben gewissermaßen als performatives Experiment mit den Möglichkeiten des Schreibens erforscht und verschiedene geistige Prozesse im Spannungsfeld des Schreibens interagieren lässt: Ein Quell der Erfahrungen, Grenzüberschreitungen ist mir das Schreiben geworden. Ein Lehrmeister ist mir das Schreiben, das Schreiben ernährt mich im Geiste, durch mein Schreiben erfahre ich über mich selbst, über die Natur und die Welt und die Menschen. Und die Wildheit wird immer umfänglicher, immer kalkulierter. Was die Intuition an Wahnwitz und Ungestüm wagt, wird vom Verstand gleichzeitig oder im nachhinein bedachtvoll, präzise und streng in wahrheitstreue Form gebracht, fixiert und versiegelt. So wird Ekstase zu einer Disziplin. Trotzdem hat es seine Richtigkeit, wenn ich sage: ich reagiere fast nur vom Gefühl her.69
Hier ist nicht primär die Dichterin metaphorisiert, sondern das Schreiben, das als personifiziertes Subjekt in immer wieder neuen Rollen die Autorin ›bildet‹, bereichert und zu Neuem befähigt: als »Lehrmeister«, »Ernährer« und Vermittler von Erfahrung und Wissen. In komprimierter Form werden mit den Begriffen »Wildheit«, »Ungestüm«, »Intuition«, »Verstand«, »Ekstase«, »Disziplin« die poetologischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit für den persönlichen Schaffensprozess wirksam gemacht. Indem Mayröcker die Intuition, den Verstand, das Gefühl und das Schreiben selbst im dichterischen Prozess integriert, vermittelt sie die Beteiligung der ganzen Person, ohne einen Aspekt zu privilegieren. Die Metapher von der »Grenzüberschreitung« ist nur eine unter vielen, erhält jedoch eine besondere Dynamik durch die Vorstellung von einer Fortbewegung, die etablierte Grenzen übertritt und neue Gebiete erkundet, sowie durch den alogischen Bezug zur Metapher vom »Quell« – in der Antike eine physische Quelle dichterischer Inspiration. Dass von der Sprache her das Denken in Fluss gebracht werden kann, zeigt besonders eindrücklich die Lyrik von Oskar Pastior. Bedeutsam ist dabei seine intensive Arbeit mit den Elementen und Prozessen der natürlichen Sprache, ein Interesse, das er selbst auf seine Mehrsprachigkeit zurückführt. So geht es ihm in einem ambitionierten Übersetzungsprojekt zum experimentellen Dichter Welimir Chlebnikow um den Reiz der »Unmöglichkeit, diesen Wortgebilden mit einer Sinn-Klang-Rhythmus-Übertragung beizukommen«: Wirkliche Hilfe im einzelnen waren, glaube ich, die Ko- und Tugendbolde meiner durch relative Mehrsprachigkeit, durch ein eklektisches Germanistikstudium und durch die Liebe zu barocker und experimenteller Literatur erworbenen »Aufweichung« des normativen Denkens – sie gaben mir den Mut zu Hochstapelei & Invention.70 69 70
Mayröcker 1987, S. 129 (Durchschaubild Welt, Versuch einer Selbstbeschreibung). Pastior 1987, S. 18 f. (Vom geknickten Umgang mit Texten wie Personen).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Als sprachlicher ›Hochstapler‹ und ›Erfinder‹ macht Pastior durch seine Texte dem Rezipienten im Prozess des Hörens oder Lesens die Interaktion von Sprache und Denken bewusst. Der Prozess der »Aufweichung« ist vor allem dann unmittelbar eingängig, wenn er Idiome und Redewendungen abwandelt. Als Beispiel sei hier nur die Abwandlung des Klischees ›der langen Rede kurzer Sinn‹ angeführt: Der langen Rede zentrifuges Schinkenklopfen zurp zurp… –71
Die Substitution des ›kurzen Sinns‹ durch längere Wörter derselben Wortart, die den Sinn witzig ad absurdum führen, unterminiert die konventionelle Priorisierung des Sinns gegenüber der »Rede«. Während das Adjektiv »zentrifug(al)« immerhin mit seiner Kreisbewegung einen semantischen Gegensatz zur impliziten Linearität der Redewendung bildet, steht das Spiel »Schinkenklopfen« in keinerlei logischem Zusammenhang mit der Redewendung oder auch einem ihrer Elemente. Die eigene Sprache schleudert den Leser aus logischen Bahnen in einen semantischen Freiraum, in dem menschliche Sprache in insektenähnliches, lautmalerisches ›Zurpen‹ übergeht. Eine zielgerichtete, vom Dichter kontrollierte Kommunikation wird hier gewissermaßen durch die der Sprache innewohnenden Prozesse außer Kraft gesetzt. Wer oder was den dichterischen Prozess leitet ist eine Frage, die schon in der Antike ein Gegenstand der Poetik ist – besonders in der Auseinandersetzung um die Inspirationstheorie. Möglicherweise fällt die Antwort für jeden Dichter anders aus und bleibt auch im Werk eines Dichters nicht konstant. Durchaus einzigartig sind Kafkas Tagebücher, in denen eine schier unendliche Fülle von Modellen mit je unterschiedlichen Ausgestaltungen der Rolle des Dichters zu finden ist. Dies lässt vermuten, dass Gegenüberstellungen von Inspiration und techne, Herz und Kopf zwar apologetisch wichtige Funktionen erfüllen, aber keineswegs der Vielfalt dichterischer Prozesse gerecht werden und dass Grenzziehungen zwischen Denken und Sprache sowie auch die Voraussetzung einer vom Denken zur Sprache führenden Sequenz an der komplexen Praxis der Dichtung vorbeiführen. Kafkas letzter Tagebucheintrag verdeutlicht, wie ein individueller Schaffensprozess eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann. Die Metapher vom Wort als ›Waffe‹ verwandelt hier das Schreiben in einen fortlaufenden Existenzkampf: Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob
71
Pastior 1986, S. 104 (Lesung mit Zerrer, Nr. 1, Die Haare wachsen noch […]).
3. Reden und Schreiben
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Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.72
3. Reden und Schreiben Die sprachliche Rolle des Dichters variiert je nach Medium, Darstellung des Mediums und Rezeptionsmodus. Als typisch für die ›Literatur‹ gilt das zeitliche und räumliche Auseinandertreten von Dichter, Werk und Rezipient sowie die Trennung von Produktions- und Rezeptionsprozess durch die Zwischenschaltung der Schrift. Bei einem aufgeführten Drama wirkt in der Inszenierung die schriftlich vermittelte Sprache des Autors nur mittelbar: Sie ist abhängig von der Interpretation des Regisseurs und der mündlichen Realisierung durch die Schauspieler. Beim gelesenen Gedicht oder Erzählwerk dagegen geschieht die Umwandlung der Schrift in Bedeutung im Prozess des Lesens, wobei der Rezipient die Kontrolle darüber hat, ob der Text leise oder laut, analytisch oder unter Aufbietung imaginativer Kräfte rezipiert wird. Dass Schriftlichkeit im Werk selbst oft ausgeblendet oder metaphorisch verleugnet wird, erklärt sich daraus, dass die Schrift gegenüber der mündlichen Form als abstrahierendes Medium erfahren wird. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive geht die mündliche Sprache der Schrift voraus; aus philosophischer Perspektive sind die Schriftzeichen gegenüber den Lauten sekundär;73 aus rhetorischer Perspektive kommt die Macht der Sprache erst in der performativen Rede zur Wirkung;74 und in der Erfahrung des Textes vermittelt die Stimme Präsenz, die Schrift dagegen Abwesenheit, die es zu überwinden gilt. So bemerkt Harsdörffer in seinem Teutschen Secretarius, »die Feder [ist…] der Abwesenden Zunge / und die Schrifft derselben Sprache«.75 Die Macht der mündlichen Sprache äußert sich am wirksamsten in der magischen oder religiösen Anrufung: Sie hat die Kraft, Wirklichkeit herzustellen. Auch schriftlich übermittelte Dichtung macht sich diese Kraft zunutze, wobei eine Spannung zur wirklichen Kommunikationssituation 72 73
74 75
Kafka 1990, Bd. 1, S. 926 (12. Heft, nach dem 12.6.1923). Einen hochinteressanten Einblick in Kafkas ›materiellen‹ Schreibprozess bietet Schütterle 2002. Aristoteles: de Interpretatione (1.16a 3–8), zitiert nach der Übersetzung in Aristoteles 1995b, S. 280 f. (Anm. 155). Vgl. auch Platon, bei dem die »geschriebene« Rede mit einem »Schattenbild« der »lebenden und beseelten Rede des wahrhaft Wissenden« verglichen wird (Platon 1994, Bd. 2, S. 605; Phaidros; 276a). Die rhetorische Lehre kulminiert in der actio: »Alle Gefühlswirkungen müssen matt werden, wenn sie nicht ihr Feuer erhalten durch die Stimme, das Mienenspiel und nahezu alles in der Haltung des Körpers« (Quintilian 1995, Bd. 2, S. 608 f.; XI, 3, 2). Harsdörffer 1971, Bd. 1, S. (6.). Harsdörffer bemerkt, die Metapher stamme vom »sinnreichen Spanier Antonio Perez« (ebd). Ihm geht es in diesem Kontext darum, die räumlich und zeitlich unbegrenzte Kommunikationsfähigkeit der schriftlichen Sprache hervorzuheben.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
entsteht, die vom Leser imaginativ zu überbrücken ist. Der antike Musenanruf und im christlichen Kontext die invocatio Dei ist nicht nur ein dichterischer Topos, sondern ein Gebet sowie auch die performative Verwirklichung und Vermittlung der göttlichen Inspiration des Dichters. In einem religiösen Werk wie Otfrids Evangelienbuch ermöglicht erst die invocatio die angemessene Produktion und Rezeption des Werkes: Fíngar thínan dua anan múnd minan, theni ouh hánt thina in thia zúngun mina, Thaz ih lób thinaz si lútentaz, giburt súnes thines, drúhtines mines; (Lege Deinen Finger auf meine Lippen | und berühre mit Deiner Hand meine Zunge, | auf daß ich laut Deine Taten lobpreise, | die Geburt Deines Sohnes, meines Herrn.)76
Der Dichter projiziert sich – in der Tradition des Psalmisten77 – als körperlich und sprachlich präsent; der Leser ›sieht‹ ihn als Propheten und Priester. Dieses Phänomen lässt sich auf verschiedene Weise analysieren, so vor allem über die rhetorische evidentia. Poetologisch gesehen ist es insofern metaphorisch, als der (vermutlich selbst) schreibende Autor hier im Werk sein Schreiben als Lobsingen darstellt und sich personifizierend einbringt, um durch metonymische Fokussierung seines Sprachorgans die Wirkung des Buches zu bestimmen und zu verstärken. Indem er auch Gott personifiziert und dessen »Finger« hervorhebt, verleiht er der Inspiration eine vorstellbare physische Kraft.78 Das schriftliche Werk erhält seine eindringlichste Legitimation in dieser ›körperlichen‹ Berührung des menschlichen Sprachorgans durch Gott. Eine zusätzliche Dimension erhält die Anrufung mit der Wahl der Vulgärsprache, des Rheinfränkischen: Denn damit gibt Otfrid der Zuversicht Ausdruck, dass diese direkt mit den fränkischen Rezipienten kommunizierende »Zunge« der höchsten Wahrheit gerecht werden kann – der Menschwerdung Gottes.79 Das Wort Gottes artikuliert sich der Bibel zufolge sowohl mündlich als auch schriftlich und wird von den Menschen in beiden Medien weitergegeben. Die schriftliche Kommunikation Gottes mit den Menschen zur Zeit Moses thematisiert Catharina Regina von Greiffenberg in ihrem Sonett »Auf die von Gott selbst geschriebenen Gesetz Tafeln«,80 um die Kraft seiner Schrift auch für die eigene Person und die eigene Zeit fruchtbar zu machen:
76 77 78 79 80
Otfrid 1987, S. 46 f. (1. Buch, Kap. 2, V. 3–6). Zu Otfrids invocatio Dei vgl. Haug 1992, S. 40–42. »Herr thu meine Lippen auff / Das mein Mund deinen Rhum verkündige« (Ps. 51, 17). Zum »Finger« Gottes vgl. Ex. 31, 18. Zur Verwendung von ›Zunge‹ mit der Bedeutung ›Sprache‹ – lat. ›lingua‹ – vgl. z. B. Otfrid 1987, S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 31; 1. Buch, Kap. 1). Greiffenberg 1983.
3. Reden und Schreiben
317
»Ach schreib’ auch in mein Herz / mit deines Fingers Krafft.«81 Wie in Otfrids invocatio manifestiert der Finger Gottes seine direkte Beziehung zu dem Geschöpf, das seine Wahrheit durch Sprache weiterzugeben vermag. Vorausgesetzt ist die für die christliche Tradition grundlegende Vorstellung von Gott als einer Person (›Vater‹), die hier mit einem Körperattribut ausgestaltet wird; und biblisch etabliert ist auch Gottes physische Schreibfähigkeit, auf die Greiffenbergs Gedichttitel verweist. Sie macht in dem Gedicht metaphorisch ihr Herz zum Schriftträger, analog den Tafeln der zehn Gebote. Konkretisiert wird damit die Vorstellung vom Herz als Medium der innerlichen Erfahrung Gottes. Die »Zunge« wiederum wird zum metaphorischen Schreibgerät, das Gottes Wort aus dem Herzen der Dichterin in die Herzen der Mitmenschen zu übertragen vermag: »Daß meine Zunge doch möcht eine Glutkohl werden / | in andre Herzen schrieb’ auch diesen Heiles Bund!«82 Es besteht hier keinerlei Spannung zwischen Erkenntnis, Handeln und Sprache, sie sind vielmehr als Einheit konzipiert: »Denn dein Wort wissen / thun / und in die Welt ausbreiten: | war / ist / und bleibt mein Ziel.«83 Das Ziel der Wirkung integriert auch die mündliche und schriftliche Vermittlung, denn beide dienen der Verbreitung von »Gottes Ruhm«.84 In der direkten Kommunikation mit dem Göttlichen verwirklicht sich die Kraft der Sprache in ihrer eindrucksvollsten Form. Vermittelt wird damit die Zuversicht, dass die Sprache an der Wahrheit Teil hat und sie adäquat zu vermitteln vermag. Die dichterische Anrufung steht somit in diametralem Gegensatz zu einer Nachordnung der Sprache gegenüber der unmittelbaren, vorsprachlichen Erfahrung, wie Schiller sie in seinem berühmten Aphorismus artikuliert: »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.«85 Es wird hier dem Leser bewusst gemacht, dass eine Seele nur metaphorisch ›spricht‹ und in Wahrheit keine sprachliche Kommunikationsfähigkeit hat. Zugleich vermittelt der Gestus der Klage die Priorisierung der Seele gegenüber der Sprache. Eindrucksvoll ist diese Klage besonders deshalb, weil die Sprachmächtigkeit selbst des großen Dichters a priori seiner Erkenntnis nicht genügen kann – und die Kommunikation der erfahrenen Aporie dennoch auf Sprache angewiesen ist. Eine ähnliche, aber anders geartete Spannung erzeugt Hölderlin in seiner Ode »Die Kürze«. Bedeutsam ist die Wahl der Gattung, denn charakteristisch für die Ode ist die Apostrophe, mittels derer sie abstrakte Dinge sprachlich belebt und damit die Wirkkraft der Sprache bezeugt. Hölderlin dagegen nutzt sie hier eloquent, um dichterisches Verstummen zum Ausdruck zu bringen: 81 82 83 84 85
Ebd., V. 1. Ebd., V. 9 f. Ebd., V. 13. Ebd., V. 11. Schiller 1988–2004, Bd. 1, S. 181 (Votivtafeln [47], Sprache).
318
IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Die Kürze »Warum bist du so kurz? liebst du, wie vormals, denn Nun nicht mehr den Gesang? fandst du, als Jüngling, doch, In den Tagen der Hoffnung, Wenn du sangest, das Ende nie!« Wie mein Glück, ist mein Lied. – Willst du im Abendrot Froh dich baden? hinweg ists! und die Erd’ ist kalt, Und der Vogel der Nacht schwirrt Unbequem vor das Auge dir.86
Rede und Gegenrede bilden einen kommunikativen Kontext, der inspirierten »Gesang« mit dichterischem Unvermögen kontrastiert. Antithetik bestimmt die Bilder: Überschwang und Lakonismus, Jugend und Alter, Finden und Verlust, Tag und Nacht, Hoffnung und Verzweiflung, Unendlichkeit und Begrenztheit, Glück und Unglück, Farbe und Farblosigkeit, Freude und Trauer, Vereinigung und Trennung, Gegenwärtigkeit und Abwesenheit, Himmel und Erde, Wärme und Kälte, Wohlgefühl und Unwohlsein, Ohr und Auge. In der ersten Strophe ›spricht‹ ein nur durch den Akt des Sprechens sich verwirklichendes Gegenüber (Prosopopöie) und erinnert den Dichter an den sprachmächtigen Gesang seiner vergangenen Jugend. In der zweiten Strophe dagegen artikuliert sich das Ich des Dichters direkt, aber monologisch: Ich (»mein«) und Du (»du«, »dich«, »dir«) sind hier identisch, die evokative Kraft des Dichters ist verloren. Vermittelt wird dies über die rhetorisch fundierte Vertikalmetaphorik der Stilhöhe: Der hohe »Gesang« ist zum niedrigeren »Lied« herabgesunken.87 Metaphorische Gestalt erhält die Abwertung in der Verwandlung des mit dem Dichter identischen, inspirierten, beredten pindarischen Adlers in einen fremden, störenden, »schwirrenden« »Vogel der Nacht«. Die Antithetik ist poetologisch bedeutsam, denn sie vermittelt die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Inspiration und Entfremdung. Die positiven Merkmale bieten eine umfassende Charakterisierung des hohen »Gesangs« und damit des hölderlinschen Dichtungsideals. Kontur gewinnt es jedoch vor allem aus der Perspektive des Dichters, der seinen Zugang zu diesem Ideal verloren hat. Dichtung verwirklicht sich hier in der spannungsvollen Entfernung von der Alltagskommunikation, und der Leser ist Zeuge der Rede, ohne selbst direkt angesprochen zu sein. Seine angemessene Rolle hat der Dichter im Akt des inspirierten Singens, das hier aus der Distanz des Verlusts evoziert ist. 86 87
Hölderlin 1992–1994, Bd. 1, S. 199 (Die Kürze). So werden bei Klopstock ›Gesang‹ und ›Lied‹ unter Bezug auf die Psalmen in Bezug auf ihre Stilhöhe klar unterschieden: Der hymnische ›Gesang‹ ist im hohen Stil der Ode, das weniger anspruchsvolle ›Lied‹ im mittleren Stil (Klopstock 1981, Bd. 2, S. 1009–1016; Einleitung zu den geistlichen Liedern). Allerdings unterliegen diese Begriffe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erheblichen Schwankungen in der Definition.
3. Reden und Schreiben
319
Die Profilierung der schriftlichen Vermittlung im Werk entspricht in Bezug auf die Entstehung des schriftlichen Textes eher der wirklichen Schaffensweise, legt jedoch die Mittelbarkeit der Kommunikation offen. Dies bietet Entfaltungsmöglichkeiten für die Kommunikation mit dem personifizierten ›geneigten Leser‹ oder auch für komplexe Spiele mit der Schriftlichkeit. So benutzt Jean Paul in Hesperus die Gattung der Vorrede, um mit Reflexionen über das Schreiben, emotionalen Anreden und extravaganten Abschweifungen sowohl dem Autor als auch dem Leser persönliche Präsenz zu verleihen. Mit jeder Auflage kommt eine weitere Vorrede hinzu, die auf die vorherigen Bezug nimmt; geschaffen wird damit ein zunehmend komplexer Spielraum für Ironie, in dem der Leser die notwendige Rezeptionshaltung erlernt.88 Hoffmann macht in den Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern89 das Papier zum kompositorischen Prinzip des Romans, mittels dessen die Perspektiven des Künstlers und des Philisters ironisch verflochten werden. Die Beziehung zwischen den wirklichen Seiten des Buches und den vom Kater benutzten, im fortlaufenden Text explizit als solchen gekennzeichneten Seiten des mit Makulaturblättern durchsetzten Manuskripts entspricht der Beziehung zwischen dem empirischen Autor und dem fiktionalen ›Herausgeber‹ des Werkes. Die Wirkung des Werkes beruht auf einem nuancierten Zusammenspiel von Wirklichkeit (z. B. Hoffmanns eigener Kater), Fiktion, Ironie und wechselnder Erzählperspektive. Die im Text mit »Mak. Bl. (Makulatur Blatt)« beziehungsweise »M. f. f. (Murr fährt fort)«90 gekennzeichneten Blätter sind insofern als metaphorisch zu verstehen, als sie die Übergänge zwischen der Autobiographie des Katers und der fragmentarischen Biographie Kreislers markieren und mit einem konkreten Bild veranschaulichen; auch bleibt dem Leser die Metaphorizität dieser Blätter durch die wahrnehmbare Differenz zu den wirklichen Seiten des Buches stets präsent. Anders als bei der Metaphorik der Alltagssprache geht es hier jedoch nicht um die Verdeutlichung einer abstrakten Vorstellung zum Zwecke der effektiven Kommunikation; und anders als in der diskursiven Poetik dient sie nicht der Vermittlung von Reflexionen über das Schreiben. Motiviert wird diese Metapher vielmehr von einer komplexen, durch Implausibilität ironisch gebrochenen Fiktion, die mit Humor und Schmerz zwischen dem empirischen Schreiben des Autors und den weit ausgreifenden Möglichkeiten und tragischen Behinderungen des Künstlertums spielt. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, die existenziellen Spannungen künstlerischen Schreibens zu vermitteln.
88 89 90
Jean Paul 1960, S. 475–490. Hoffmann 1985 ff., Bd. 5, S. 9–458. Ebd., S. 12 und z. B. S. 23 und 38.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Die Hervorhebung des schriftlichen Mediums lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Beziehung zwischen Autor, Werk und Rezipient und wird besonders in der Nachkriegsliteratur zur kritischen Hinterfragung etablierter ›Geschichten‹ verwendet, so in Günter Grass’ Die Blechtrommel,91 wo der Leser das Dargestellte durch die verfremdenden Perspektiven des in der Irrenanstalt schreibenden Oskar und des zwergenhaften, erlebenden Oskar erfährt. In Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster führt der ostentative Schreibprozess verschiedene Textsorten und Erfahrungsschichten zusammen. Die Sentenz »Das Vergangene ist nicht tot« leitet eine Reflexion über das Erinnern und die problematische ›Ich‹-Identität ein, um dann die Wahl des »sprachlos«-Bleibens einerseits und des Lebens »in der dritten Person« in den Prozess des Schreibens übergehen zu lassen:92 Was du heute, an diesem trüben 3. November des Jahres 1972, beginnst, indem du, Packen provisorisch beschriebenen Papiers beiseite legend, einen neuen Bogen einspannst, noch einmal mit der Kapitelzahl 1 anfängst.93
Die Diskrepanz zwischen der gedruckten Kapitelzahl 1 am Anfang der Buchseite und der erzählten »Kapitelzahl 1« schafft eine Differenz zwischen der empirischen Autorin und deren textinterner Entsprechung an der erzählten Schreibmaschine, womit die thematisierte Identitätsproblematik erzähltechnisch wirksam wird und zugleich die Beziehung zwischen empirischer und fiktionaler Wirklichkeit ins Zentrum des erzählerischen Prozesses rückt. Das textinterne Reflektieren über das Schreiben regt den Rezipienten zu einem selbstreflexiven Lesen an, in dem die eigene festgewordene Identität in Fluss geraten soll: Es geht nicht nur um die »Kindheit« der Autorin, sondern vor allem um die individuelle Reflexion des Lesers nach ihrem »Muster«: Diese Metapher setzt das zwischen Autobiographie, Dokumentation und Fiktion sich bewegende Werk in direkte Beziehung zum Leser, um zum aktiven Nachvollzug herauszufordern. In dem textexternen poetologischen Gespräch Erfahrungsmuster fasst Wolf ihr Ziel wie folgt zusammen: »Das ist es, was ich so gern versuchen möchte, diese Klischees etwas aufzuweichen.«94 ›Aufgeweicht‹ werden nicht nur die »Erfahrungsmuster« der Leser, sondern auch die Grenzen zwischen fiktionalem Werk, Poetik und wirklicher Erfahrung, um mittels der Profilierung der komplexen Autorin die Interpretation auf den Bezug zwischen Werk und Wirklichkeit zu fokussieren. In dem ebenfalls programmatisch betitelten Gespräch Subjektive Authentizität verdeutlicht Wolf die intendierte Wirkung: Zu einem Zeitpunkt, wo die faschistische Vergangenheit allgemein als »bewältigt« gilt und in der DDR ohnehin als Schuld der 91 92 93 94
Grass 1959. Wolf, C. 1976, S. 9. Ebd. Wolf, C. 1999 ff., Bd. 8, S. 53 (Erfahrungsmuster. Diskussion zu »Kindheitsmuster«).
4. Körper
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Bewohner des anderen Deutschland gesehen wird, geht es ihr darum, mit dem Roman einen Prozess der »immer tieferen, dabei auch immer persönlicheren Verarbeitung« »auszulösen«.95 Die Vertikalitätsmetapher vermittelt einen Wirkungsprozess, der in die ›Tiefen‹ des Unterbewussten führen soll. Grundlegend für die psychologische Wirkung des Erzählwerks ist die moralisch profilierte Person der empirischen Autorin Christa Wolf. Gerade ihre wirklichkeitsorientierte Einbringung der eigenen auktorialen Person machte sie im ›Literaturstreit‹ zum Hauptangriffsziel einer ästhetisch orientierten Gruppierung, die für ein von Politik und Moral abgregrenztes Reich der Literatur plädierte, zugleich jedoch Wolfs von protestantischer Erziehung und Stasi-Involvierung gekennzeichnete Biographie zu ihrer Diskreditierung nutzte.96 Die Geschichte der Autorin, die Notwendigkeit einer neuerlichen ›Vergangenheitsbewältigung‹ nach dem Ende der DDR sowie die Rezeption in einem radikal veränderten literarischen Umfeld haben auf diese Weise der Bedeutung des Romans weitere Erzählschichten hinzugefügt. Wolf thematisiert sowohl in ihrem fiktionalen Werk als auch in ihrer diskursiven Poetik durchgängig kommunikative Prozesse, so bereits in dem programmatischen Aufsatz Lesen und Schreiben von 1968, der die literarische Kommunikation als Kreislauf erkundet.97 In dem Roman Kindheitsmuster bewegt sie sich wie Grass zwischen Geschichte und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart, Individuum und politischem Kontext. Der Druck der katastrophalen deutschen Vergangenheit machte eine für schriftliche Kulturen zentrale Rolle aktuell: jene des Chronisten, die nur in der aristotelischen Tradition von der des Dichters streng getrennt ist. In Umkehrung der traditionellen Funktion der gemeinschaftlichen Identitäts- und Ruhmstiftung dient sie in der Nachkriegszeit der Anregung einer individuellen, verantwortungsbewussten Auseinandersetzung mit der Nationalgeschichte.
4. Körper Die performative Dimension von Dichtung lässt in der Vermittlung des Textes den ganzen Körper mitwirken. Die Schrift dagegen schafft eine Distanz, die den Körper des Dichters gänzlich auszublenden vermag, bis hin zum ›Tod des Autors‹; denn in schriftlicher Form kann das Werk sich dem Leser selbst vermitteln. Dass die körperliche Präsenz des Dichters jedoch auch in der vom schriftlichen Text dominierten Poetik eine bedeutende Funktion hat, zeigt sich beispielsweise in der namentlichen Nennung von Vorbildern sowie in Genealogien. So führt Sigmund von Birken die Dich95 96 97
Ebd., Bd. 4, S. 414 (Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann). Vgl. zu dieser Debatte Anz 1995. Wolf, C. 1999 ff., Bd. 4, S. 238–282.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
tung seiner Zeit auf die hebräische Poesie der Bibel zurück, indem er in biblischen Personen Held und Dichter verbunden sieht:98 Moses ist sowohl »der Mann Gottes« und »Fürst und Heerfürer des volks Gottes« als auch »der Poeten Fürst und Vorgänger« und »der erste Kunstdichter«.99 Aber auch Debora, Miriam, Hanna und die »heldin Judith« erweisen, »daß der Heldenmut und Dichtergeist gern in einem gehirn beisammen wohnen« und bieten eine Erklärung dafür, »daß zu unserer zeit der Dichtgeist aus vielen Hochfürstlichen Prinzessinnen und anderen Stands-Frauenpersonen so herzlich herfür flammet«.100 Die mittels des Namens zu ›verkörperten‹ Personen ausgestalteten ›Vorbilder‹ verdeutlichen lebhaft die zu vermittelnden Werte und regen zugleich zur ambitionierten Nachahmung an. Über solche Vorbilder lässt sich auch zeitgenössischer Ruhm herstellen und vermitteln: So wurde Anna Louisa Karsch von den Zeitgenossen als ›deutsche Sappho‹ gefeiert,101 wodurch der Ruhm der älteren Dichterin auf das Werk der modernen Dichterin übertragen wurde. Dass eine wirkliche körperliche Präsenz noch im Zeitalter der Virtualität einen besonderen Reiz ausübt, zeigt die Popularität von Dichterlesungen, Performances sowie auch Poetry Slam: Dichter präsentieren sich hier persönlich und überzeugen durch die Authentizität des spontanen Vortrags. Denn weder die Macht der Persönlichkeit noch die Attraktion des Körpers haben abgenommen – dies zeigen tagtäglich die Massenmedien sowie die Zurschaustellung von Körper und Sexualität durch Body-Art. Die Provokation der These vom ›Tod des Autors‹ gründete nicht zuletzt darin, dass es gerade im postromantischen Kontext extrem schwierig ist, sich Texte ohne Verfasser vorzustellen; entsprechend nutzen Autoren und Verlage die belebende Funktion des ganzen Menschen, um dem Werk mit Autorpoetiken die Ganzheit der Person zu vermitteln. Wenn Peter Bichsel am Anfang der Druckversion seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen schreibt, »Ich hätte nun vielleicht zu begründen, warum ich hier stehe«,102 so ist dies wohl kein absichtlicher Anklang an Luthers legendäres »Hier stehe ich!«,103 das Nietzsche wiederum in seinen Dionysos-Dithyramben uminterpretierte.104 Die Funktion jedoch ist ähnlich, insofern als wirkliche oder vorgestellte körperliche Präsenz stärker als jedes rein verbale Mittel die Autorität der Person 98 Birken 1669, S. )( )( iv. 99 Ebd., S. )( )( ir. 100 Ebd., S. )( )( iv. Zur Partizipation von Frauen am poetologischen Diskurs im 17. Jahrhundert auch unter Bezug auf Prozesse der Gruppenbildung vgl. Metzger/Schade 1989. 101 Vgl. das postum veröffentlichte Gedicht »Ob Sappho für den Ruhm schreibt?« (Karsch 1792); s. u., S. 512. Das Gedicht entwickelt sich aus einem komplexen Zusammenspiel von Vorbild und moderner Autorin, empirischer Wirklichkeit und fiktionaler Projektion. 102 Bichsel 1997, S. 7. 103 Zitiert nach Büchmann 1995, S. 404. 104 Nietzsche 1967 ff., Abt. 6, Bd. 3, S. 385 (Dionysos-Dithyramben, Unter Töchtern der Wüste 3).
4. Körper
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etabliert. Indem Bichsel eine Begründung für unmöglich erklärt, zeigt er Bescheidenheit – es ist vielleicht nur »Zufall« oder ein »Irrtum«;105 zugleich jedoch bestätigt er, dass das deiktisch kommunizierte ›Hiersein‹ als Begründung ausreicht. In Gegensatz zu Bichsel, der vornehmlich schriftlich mit seinen Rezipienten kommuniziert, nutzt Ernst Jandl seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen, um die lautliche Form des Gedichts zugleich darzustellen und poetologisch zu reflektieren, wie bereits der Titel signalisiert: Das Öffnen und Schließen des Mundes.106 Beim Lesen des Textes ist sich der Leser des Mangels der performativen Dimension bewusst; sie wird in der Druckform der Vorlesungen lediglich durch Bilder – in fünf Momentaufnahmen vom offenen und dann graduell sich schließenden Mund auf dem Schutzumschlag – und durch beschreibende Erklärungen vermittelt. Jandl betont gleich eingangs die physische Beziehung zwischen Dichter und Rezipient, die im performativen Prozess eine unmittelbare Kommunikation von Gedachtem ermöglicht: das Öffnen und Schließen des Mundes [wird] von meiner Seite immer im Gedanken an Ihre Ohren geschehen […], die etwas aus meinem Inneren in Ihr Inneres zu transportieren haben werden, an die Stelle in Ihrem Inneren, wo es denkt. Was Sie sehen, sind meine Lippen, ein bißchen Zähne, ein bißchen Zunge vielleicht – ich sehe nicht einmal das; aber sehr viel in meinem Inneren wird in Bewegung sein müssen, damit mein Atem etwas von dort, wo es in mir denkt, durch die Luft, die uns verbindet und trennt, bis zu Ihnen befördern kann.107
Indem er dem Leser diesen Prozess der Vermittlung bewusst macht, verdeutlicht Jandl unter Erwähnung der Sprach-, Hör- und Sehorgane die Beteiligung des Körpers und der physischen Luft am Kommunikationsprozess. Die auf den Atem und die Ohren bezogene Metapher des ›Transportierens‹ und ›Beförderns‹ fokussiert den sprachlichen Vorgang, dem die Vorlesungen gewidmet sind, während das Denken sowohl im Autor als auch im Rezipienten durch das unpersönliche Pronomen »es« als willentlich nicht gesteuerter Prozess im Hintergrund bleibt. Indem Jandl die Aufmerksamkeit auf die Rede lenkt, sensibilisiert er die Rezipienten für eine Dimension des Gedichts, die im schriftlich vermittelten Text nicht zur Geltung kommt. In Jandls Poetik-Vorlesungen geht es um das körperlich erzeugte Gedicht, wie es im physischen Raum für den Rezipienten hörbare Gestalt annimmt. Mit ähnlichen poetologischen Komponenten arbeitet Rilke in einem seiner Sonette an Orpheus, um jedoch eine ganz anders geartete Vorstellung von Dichtung zu evozieren. Er setzt einer räumlich und zeitlich in der Realität verankerten Körperlichkeit eine dezidiert poetische Körperlich105 Bichsel 1997, S. 7. 106 Jandl 1985. 107 Ebd., S. 6 f.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
keit entgegen, die sich im personifizierten Gedicht verwirklicht. Das Ich spricht hier als archetypischer Dichter: Atmen, du unsichtbares Gedicht! Immerfort um das eigne Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht, in dem ich mich rhythmisch ereigne.108
Rilke identifiziert in dieser Strophe den körperlosen Prozess des körperlichen Atmens mit einem Gedicht, das imaginativ wirksame Metapher und zugleich das sprachlich verkörperte Gedicht selbst ist. In der Apostrophe wird das körperliche ›Sprechen‹ des Dichters eins mit dem verkörperten Adressaten und dem gesprochenen Wortkörper. Zugleich ist das atmend gesprochene Gedicht eine entkörpernde Metapher für das geschriebene Gedicht, das dem Leser in sichtbarer, physischer Form vorliegt. Fokussiert ist in diesem Sonett an Orpheus der Dichter als zeitlich wirksames, ›sich ereignendes‹ Ich, das Dichten als zeitlicher Prozess, und das Gedicht als des Dichters Wirkung. Denn indem sein dichtendes »Atmen« Subjekt und Objekt gleichwertig aufeinander bezieht, vermag er die äußere Welt in Inneres zu verwandeln: Das Atmen schafft im Gedicht selbst den symbolischen »Weltinnenraum«.109 Die Apostrophe ist an sich schon in hohem Grade poetisch,110 und hier verdichtet Rilke sie zur Verkörperung seiner Poetik, indem er sie metonymisch das Sprechen, den Mund, den Dichter, das Gedicht und den ›Weltinnenraum‹ darstellen lässt. Fokussiert ist nicht die Seele, das Herz oder das Gehirn, sondern das Sprechen als schwerelose und interaktive Verbindung von Innen und Außen. Die Metapher vom »Gegengewicht« rekurriert auf die grundlegende körperliche Erfahrung des Gleichgewichts und ermöglicht dem Leser jenseits logischer Bezüge ein intuitives Verständnis für die Reziprozität von wirklicher Welt und ›Weltinnenraum‹. Es ist eine Poetik der Sprache, aber nicht der rhetorischen, vom »allgemeinen Interesse«111 bestimmten Sprache, sondern der Sprache der Poesie. Rilkes Gedicht bezieht seine Aussagekraft aus der Spannung zwischen Körperlichkeit und Abstraktion, indem er körperliches Sprechen auf metaphorischem Wege in das reine Gedicht ›verwandelt‹. Noch in diesem Abstraktionsprozess zeigt sich die kommunikative Kraft, die vom körperlich vorstellbaren Dichter ausgeht. Die poetologische Macht der Metaphorik vom Originalgenie gründete nicht zuletzt in der stark profilierten, gesunden Körperlichkeit, mit der schon Young sein Ideal ausgestattet hatte. In Deutschland verwirklichte es sich in 108 Rilke 1996, Bd. 2, S. 257 (Sonette an Orpheus, II/1, V. 1–4). 109 Ebd., S. 113 (Es winkt zu Fühlung fast […], V. 14). Das Symbol des Baums in diesem Gedicht (ebd., V. 16) klingt auch am Ende des Sonetts in »Rinde« und »Blatt« an (Rilke 1996, Bd. 2, S. 257; Sonette an Orpheus, II/1, V. 13 f.). 110 Zur Poetizität der Apostrophe vgl. Culler 1981. 111 Quintilian 1995, Bd. 1, S. 260 f. (II, 17, 36).
4. Körper
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der Person Goethes: Er tritt in seiner Liebeslyrik als ausgeprägt körperliches Individuum auf und entwirft in seiner Shakespeare-Rede einen kraftstrotzenden Dichter, der zum Muster des ›Kraftkerl‹-Typus werden konnte. Dekonstruiert wird der Typus des Kraftkerls und Originalgenies in Bodo Kirchhoffs Stück Body-Building, in dem der Protagonist Arnold sich in einem naturlosen Raum vor überdimensionalen Spiegeln und der abgewrackten, in einem Bett liegenden Alberta bewegt, ohne sexuell tätig zu werden. Die Spiegel rekurrieren auf die Ästhetik des Realismus, unterminieren jedoch die Vorstellung vom einen, wirklichkeitsgetreuen Abbild durch ihre Vielzahl: Der Körper ist alles und nichts; erst durch sein Erscheinen im Spiegel erhält er Bedeutung. Der Spiegel entwendet das Selbst – es gibt kein Jenseits des Anderen. BODY-BUILDING ist die Hoffnung auf ein Original – auf das Eigentliche, das sich unentwegt verschiebt; verletzend weist es auf den Mangel hin – und verdeckt ihn zugleich. Alle Personen in dem Stück sind soufflierte Erscheinungen.112
Das geistig und körperlich authentische, organische Individuum wird – platonisch – zum bloßen Abbild, und die wahre Idee verschwindet – rhetorisch – jenseits des Jenseits. Damit gerät die fixierte »Bedeutung« des Abbilds, mit der sich die philosophische Tradition gegen die Wirkung der Sprache abgesichert hatte, in einen Prozess unendlicher ›Verschiebung‹. Der Autor distanziert sich von der Rolle seines körperbesessenen Protagonisten: Er zeigt sich als entkörperter Analytiker, der sich mental aktiv in den Diskursen seiner Zeit bewegt. Einen ähnlich distanzierten Bezug zum Körper vermittelt Kirchhoff in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, nun unter Bezug auf die eigene Biographie. In der Metaphorik des Titels Legenden um den eigenen Körper sind das Schreiben und der Körper räumlich verbunden, ohne doch durch ein Possessivpronomen mit dem schreibenden Ich identifiziert zu werden. Bereits dem Kind schreibt Kirchhoff eine Distanz zum eigenen Körper zu, die über das Verprügeltwerden in einer fremden Dialektwelt gewonnen wird: »Dem Kind war nun endgültig eingeschrieben, daß nicht nur der Körper, sondern auch die Sprache von außen kam.«113 Über die entwicklungspsychologischen Ausführungen zur eigenen Person wird somit zugleich ein Bezug und eine Distanz zwischen dem Ich und dem Körper geschaffen. In der vierten Vorlesung erzeugt dies verschiedenartige Entfremdungen vom eigenen Körper, so die existenzielle Frage des gefangenen Ich – »Weshalb bin ich gerade ich, hier und jetzt lebend, in diesen Körper eingeschlossen?«114 Die Behältermetapher macht hier das ›Ich‹ vom Körper unabhängig und identifiziert es mit einem Geistigen, das den Körper als Gefängnis
112 Kirchhoff 1980, S. 32 (Schauspiel: Anmerkung). 113 Kirchhoff 1995, S. 20 (Das Kind und die Buchstaben). 114 Ebd., S. 171 (Dem Schmerz eine Welt geben).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
erfährt. Thematisiert wird damit eine Spannung, die in der rationalistischen Philosophie sowie auch in der religiösen Literatur eine lange Tradition hat. Die Bedeutung des Körpers für die Poetik um die Jahrtausendwende geht auch aus den 2004 veröffentlichten Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Angela Krauß hervor, wie der Titel ihrer dritten Vorlesung verdeutlicht: Die Körper, die erfundene Zeit.115 Anders als bei Kirchhoff findet hier jedoch der Körper Akzeptanz: als Grund menschlicher Existenz, als Verbindung zur physischen Umwelt, als Strukturgebung für menschliche Erfahrung und als Grund des Schreibens. Der Körper ist dem Ich nicht entgegengesetzt, sondern das Ich entwickelt seine Identität aus ihm heraus und entnimmt anderen Körpern ein »tiefes unbewußtes Wissen über die Beschaffenheit der Welt«,116 wobei die physisch erfahrene Identität der geistig bewusst erfahrenen zeitlich vorausgeht. Assoziativ entwickelt Krauß die Verbindung zur Umwelt aus einem Bild von der heimischen Landschaft: Leitmotivisch sei es erneut aufgerufen: das Erzgebirge. Das Erzgebirge, in seiner vorgegebenen Gestalt, liegt da als ein Gesteinskörper mittlerer Größe. Es ruht in seinem absoluten Gleichgewicht, in seinem Zustand erstarrt. So bietet es sich dem bloßen Auge. Einem imaginären Auge freilich, denn einen Körper dieser Größe kann kein Mensch überschauen, Ausgangspunkt ist stets sein eigener, von hier aus nimmt er alle Dimensionen wahr, die diesen übersteigen oder unterbieten. Der eigene Körper ist das Zentrum und die Grenze aller Erfahrung.117
Was sich zunächst als Naturbild darstellt, wird im Laufe der Vorlesung zu einem umfassenden anthropologischen Kontext für das Schreiben ausgestaltet. Es zeigen sich dabei Parallelen zu Mark Johnsons Ausführungen bezüglich der Entstehung von Bildschemata und den daraus entwickelten Metaphern der Alltagssprache. Ähnlich wie für Johnson körperliche Erfahrungen – so die Erfahrung des Körpers als Behälter und Enthaltenes oder die Erfahrung des Gleichgewichts im Stehen – den Bildschemata zugrundeliegen, bilden für Krauß die frühen Erfahrungen des Ich als Körper in einer »Welt aus Körpern«118 die Voraussetzungen für den dichterischen Prozess. Auch bei ihr entwickeln sich aus dieser körperbezogenen Selbsterfahrung und Wahrnehmung die Möglichkeiten kommunikativer »Gestaltung«, wenn sie ihre »Baugründe des Poetischen […] nicht in der Sphäre der Gedanken« ansiedelt, sondern in körperlichen Prozessen: Meine poetischen Baugründe sind die Körper und der leere Raum. Die Körper, deren Anwesenheit uns letztlich als Spiegel unserer eigenen Leibhaftigkeit dient. 115 116 117 118
Krauß 2004, S. 59–82. Ebd., S. 64. Ebd., S. 59. Ebd., S. 64; s. a. S. 60.
4. Körper
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Der Raum, der von Körpern freigelassene, von Körpern verdrängte und von Körpern umbaute Raum. Das ist die sinnlich faßbare, dreidimensionale Szenerie, in der wir uns bewegen, von der unsere Daseinsspannung gespeist wird auf der Wahrnehmungsebene. Eine Art Elektrizität: Ladungen, Felder, Ströme. Stark wahrgenommen projizieren sie sich ins Bewußtsein und lösen dort einen Gestaltungsimpuls aus. So jedenfalls fühlt sich das an.119
Die Metapher vom Spiegel erhält hier eine andere Bedeutung als in der platonischen Tradition, denn sie verdeutlicht nicht einen Prozess der rational gesteuerten künstlerischen Nachbildung, sondern eine dem Gestalten vorausgehende Erfahrung der physischen Reziprozität zwischen Individuum und Umwelt. Die »Szenerie« verweist nicht wie in der Barockzeit oder auch in Kirchhoffs Body-Building auf die Vorstellung von der Welt als einem insubstanziellen Schauplatz, sondern konkretisiert die Dimensionen des wirklichen Raums. Die elektrische Metaphorik vermittelt eine Poetik des unbewussten Schaffens, das aus physischen, dem gedanklichen Gestalten vorausgehenden Kräften entsteht. Der Nachsatz »So jedenfalls fühlt sich das an« verdeutlicht die Metaphorizität der Ausführungen sowie auch die kommunikative Funktion der poetologischen Metaphern: Sie geben dem Leser einen Eindruck von einem Prozess, der rational nicht fassbar und nicht direkt kommunizierbar ist, weil er dem Denken und der sprachlichen Kommunikation vorausgeht und sich im körperlich-psychischen Gefühl vollzieht. Wie Durs Grünbein bedient sich Krauß hier naturwissenschaftlicher Metaphorik; auch auf die Biologie rekurriert sie, wenn sie jenen Prozess, der »dem Schreiben vorausgeht«, mit einem »den Körper durchflackernden Wissen« vergleicht: »Es ist zu spüren, eine Art Dominolauf der Zellen, die davon geflutet werden.«120 In Gegensatz zu Grünbeins Fokussierung zerebraler Prozesse geht es Krauß jedoch um die Vermittlung eines vom physischen Gefühl geleiteten Vorgangs, den sie unter Bezug auf verschiedene semantische Felder verdeutlicht. Mit ihrem Einsatz der Flüssigkeitsmetapher »fluten« verwendet sie eine Analogie, die in gefühlsbetonten Poetiken eine lange Tradition hat, so besonders in den vom Pietismus inspirierten Dichtungsauffassungen. Deutlich wird hier sowohl die Kontinuität poetologischer Metaphorik, als auch ihre Anpassungsfähigkeit an die jeweils aktuellen Diskurse.
119 Ebd., S. 65. 120 Ebd., S. 66.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
5. Geschlecht Die Geschlechtlichkeit bietet vor allem als Universalie gesellschaftlich ausgeprägter Binärität vielfältige Möglichkeiten, poetologische Werte zu kommunizieren. Die Bedeutung des Geschlechts für die Vorstellung vom Dichter lässt sich durchgängig in der Poetik verfolgen und bewegt sich zwischen dem empirischen Geschlecht und geschlechtspezifischen Attributen in personifizierenden Darstellungen. Das Potenzial der Binärität erhellt aus der Charakterisierung der sapphischen und alkäischen Odenstrophen bei Opitz, der die geschlechtsspezifischen Attribute der Dichter, mit denen die Strophenformen assoziiert werden, auf die Strophen überträgt: ohne zweiffel / wann Sappho hat diese verse gantz verzucket / mit vneingeflochtenen fliegenden haaren vnnd lieblichem anblicke der verbuhleten augen / in jhre Cither / oder was es gewesen ist / gesungen / hat sie jhnen mehr anmutigkeit gegeben / als alle trompeten vnd paucken den mannhafftigen vnnd kühnen versen / die jhr Landtsmann Alcéus / als er ein Kriegesoberster gewesen / ertichtet hat.121
Die aus der Dichtungstradition überlieferte Assoziation bestimmter Formen mit namentlich bekannten Dichtern wird hier besonders aussagekräftig, weil die Personen eine geschlechtliche Differenzierung ermöglichen: Die Gegenüberstellung von Frau und Mann erlaubt eine so knappe wie eingängige Kontrastierung der Strophen und ihrer inhaltlichen Eignung. Zugleich wird die antike Tradition für die Gegenwart belebt und den gegenwärtigen Dichtern als Vorbild empfohlen. Da der literarische Diskurs bis ins 20. Jahrhundert von Männern dominiert wird, ist es nicht weiter erstaunlich, dass die männlichen Charakteristika zumeist eher positiv bewertet werden, die weiblichen Charakteristika dagegen besonders in Bezug auf das aktive Dichten negativ. So führt Gottsched seine Vorgänger Opitz, Fleming und Dach als nachahmenswerte »Muster« an, indem er sie als maskuline Helden darstellt, die das Stilideal der perspicuitas verkörpern: Ich will […] dadurch […] den gesunden und männlichen Geschmack dieser Helden in unserer Sprache und Dichtkunst anpreisen, und bekannter machen; um wo möglich, der neuen Sucht, gekünstelt, versteckt und unergründlich zu schreiben, die sich hin und her reget, zu steuren.122
Herder nutzt das gleiche Bewertungsmuster, um unter Einbezug auch organischer Metaphorik eine entgegengesetzte poetologische Position zu vertre121 Opitz 1966, S. 46 (Kap. 7). Es handelt sich bei dieser Passage um eine Übersetzung aus Ronsards Vorbemerkung zu zwei Sapphischen Oden (Ronsard 1914–1975, Bd. 17, S. 396 f., Anm. 1); vgl. die Anmerkung des Herausgebers in Opitz 1968 ff., Bd. 2/1, S. 404 f. (Anm. 65). 122 Gottsched 1962, S. xxiv (Vorrede zur 3. Aufl.).
5. Geschlecht
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ten: Er kritisiert die »Gottschedianer«, weil sie das Deutsche »entmannt« und dem »wahren Genie der deutschen Sprache« geschadet hätten, während bei den Schweizern eher der »Kern der deutschen Sprache« erhalten sei; implizit ist hier dichterischer Wert mit männlicher Kraft und Fruchtbarkeit gleichgesetzt.123 Ein beliebter Topos ist ferner die Personifizierung der deutschen Sprache, der Poesie oder der Poetik – in Übereinstimmung mit dem grammatischen Genus – als Jungfrau, die es zu umwerben oder zu schützen gilt. So zeigt sich bei Kempe »als auf einem offentlichen Schau Platze das keusche und liebseelige Jungfräulein / die Poeterey / allen denen / die zu ihr ein Belieben tragen«.124 Bei Johann Jacob Rambach wird der Verfasser zum Helden, wenn er in der Vorrede zu seiner geistlichen Dichtung die Poesie als »gefangene Sclavin« von den weltlichen »Tyrannen« »der Wohllust, des Ehrgeitzes und Geldgeitzes« zu befreien sucht.125 Gottsched bedient sich des Topos gar zur Verteidigung seiner von »Pfeilen« der Gegner angegriffenen, »unschuldigen« Critischen Dichtkunst.126 Seine Heldenleistung besteht in der Beständigkeit, mit der er die »Feindseligkeiten« erduldet, ohne der Märtyrerin beizustehen: »Und meine Dichtkunst lebet noch! Sie lebet, sage ich, und hat alle die Anfälle überstanden, die man die Zeit her auf sie gethan; und denen ich sie bloß gestellet gelassen, ohne ihr im geringsten zu Hülfe zu kommen.«127 Eine dezidiert maskuline Poetik vertritt vor allem der Sturm und Drang, und der Typus des Kraftkerls ist zugleich die eindrucksvollste Verkörperung des Originalgenies. Es ist dies die extreme Ausprägung einer Tradition, in der sowohl die öffentlich wirksame Tat als auch die öffentliche Rede Sache des Mannes ist. Moralisch verankert ist dieses Prinzip in dem einflussreichen Diktum von Paulus: »Ein Weib lerne in der stille / mit aller vnterthenigkeit. Einem Weibe aber gestatte ich nicht / das sie lere / auch nicht / das sie des Mannes Herr sey sondern stille sey.«128 Wenn auch die Romantik sich von der maskulinen Poetik des Sturm und Drang abwandte und Frauen einen größeren Schaffensspielraum eröffnete, so wirkt das paulinische Diktum doch fort, besonders in der katholischen Tradition. Eine idyllisierende Variante bietet Eichendorff, wenn er das Phänomen der »Sa-
123 Herder 1985–2000, Bd. 1, S. 191 f. (Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. II. Fragmente von Abhandlungen. Von den Lebensaltern einer Sprache, Fragment 6). 124 Kempe 1971, S. 1 (1. Kap., § 1). S.a. Harsdörffer 1969, 2. Teil, S. A vir (Vorrede, Abs. 5). Zur Bedeutung des grammatischen Genus für Personalmetaphern vgl. Curtius 1993, S. 142. 125 Rambach 1727, S. )( 2v. 126 Gottsched 1962, S. vii (Vorrede zur 4. Aufl.). 127 Ebd., S. v. 128 1Tim. 2, 11 f. Paulus begründet dies damit, dass Adam als erster geschaffen wurde und Eva die Sünde einführte; einziger Weg zur Seligkeit für das Weib ist es, Kinder zu zeugen und sie im Glauben zu erhalten (1Tim. 2, 13–15).
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lon-Poesie der Frauen« durch die archetypische Funktion der Frau in der Gesellschaft erklärt: das Verhältnis der Frauen, wie es nun einmal ist und wohl auch niemals anders wird, ihre Erziehung und äußere Stellung zur Welt, wehrt den Anfall des ganzen, vollen Lebens von ihnen ab, und sie wissen von den großen Kämpfen und Abgründen desselben glücklicherweise nur vom Hörensagen und aus Büchern. Darum ist auch ihre Poesie keine erlebte, […] ein liebevolles Ausmalen fremder Kompositionen, gleichsam ein Art von ästhetischer Kochkunst, die das Wild, das die Männer draußen erbeutet, und wohl auch die Böcke, die diese geschossen, zubereitet und zierlich serviert.129
Das paulinische Verbot ist hier zur grundsätzlichen Unfähigkeit uminterpretiert. Indem Eichendorff für die von Frauen verfasste Dichtung Metaphern einsetzt, die auf spezifisch weibliche Aktivitäten beschränkt sind, und diese zudem gegenüber den heroischen Taten der Männer trivialisiert, schließt er weibliche Dichtung von der Kunst aus und spricht nur der von Männern verfassten Poesie die Möglichkeit zu, künstlerischen Ansprüchen zu genügen. Die maskuline Besetzung der Rolle des Dichters sowie auch der positiven poetologischen Werte stellt bis ins 20. Jahrhundert für Dichterinnen ein Problem dar, denn auch wenn sie über ingenium verfügen und damit im Geniezeitalter prinzipiell reüssieren könnten, geht ihnen zumeist die Legitimation der klassischen Bildung ab, die tendenziell weiterhin als Grundlage der ›Kunst‹ fortwirkt. Entsprechend kann – oder will – beispielsweise Wieland sich weibliches Schreiben nur nach mystischem Modell als naturhaft unbewussten Prozess vorstellen, wie er gegenüber Sophie la Roche erklärt: »Wie ich glaube, [haben] Sie beim Schreiben nichts anderes gemacht […], als die Feder gehen zu lassen; offenbar hat ihr Herz den Rest getan.«130 Indem er nur dem Schreibgerät Aktivität zuschreibt, schaltet er die Autorin aus dem Produktionsprozess aus. Entsprechend ist auch seiner Adressatin eine ›organische‹ Integration von Kopf und Herz, Geist und Körper, Kunst und Natur psychologisch unmöglich. Dass dies zugleich ihr künstlerisches Selbstbewusstsein beeinträchtigt, geht aus einem Brief La Roches an den Freund Johann Caspar Hirzel hervor: Ich, Hirzel, ich sollte Ihre Werke durchlesen, Ihre Muse sein? […] Sie müssen’s gesehen haben, so wie ich es fühle, daß ich ein Stück Herz anstatt Hirn habe. Mit 13 Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht, und meine empfindungsvolle Mutter bereicherte nur mein Herz, in welches alle Geschäftigkeit meines Geistes übergetreten ist. Meine Umstände haben auch 129 Eichendorff 1985–1993, Bd. 6, S. 295 f. (Die deutsche Salon-Poesie der Frauen). Vgl. dazu Seibert 1993, S. 294–296. 130 La Roche 1983b, S. 114 (Wieland an Sophie La Roche, 29.7.1770). Zu den Ausgrenzungsstrategien gegenüber weiblicher Schriftstellertätigkeit besonders im protestantischen Bürgertum vgl. Kord 1996, S. 77–92.
5. Geschlecht
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bisher nur dieses in Übung erhalten. Und hiermit haben Sie die Historie meines Kopfs.131
Vorausgesetzt ist hier in Einklang mit der Aufklärungspoetik die Notwendigkeit der Bildung des Geistes für die künstlerische Tätigkeit – obwohl der Topos von der »Muse« traditionell eher mit irrationaler Inspiration assoziiert wird und gerade in der Zeit des 1771 verfassten Briefes irrationale Kräfte in den poetologischen Vordergrund rückten. Die topische Opposition zwischen »Herz« und »Hirn« beziehungsweise »Geist« wird hier räumlich entfaltet, wobei La Roche beide im »Kopf« situiert, um durch die Substitutionsmetaphorik die Limitiertheit der eigenen geistigen Fähigkeiten zu verdeutlichen. La Roches geschlechtsspezifisch erfahrene »Historie« der eigenen geistigen Entwicklung und ihre geschlechtsspezifische Internalisierung des Topos von der Polarität zwischen Kopf und Herz bestätigt die mangelnde gesellschaftliche Legitimation weiblichen Schreibens. Selbst Dichterinnen, die in einem männlich bestimmten Umfeld weithin Anerkennung fanden, artikulierten die Problematik weiblichen Dichtertums. Besonders in der am ehesten ›autobiographisch‹ rezipierbaren Lyrik geht dies zuweilen mit einer spannungsreichen Differenz zwischen dem biologischen Geschlecht der empirischen Autorin und einem männlichen Dichtertum einher. Als dezidiert weibliches Ich projiziert sich Annette von Droste-Hülshoff in dem 1841/42 verfassten Gedicht Mein Beruf, wo sie sich an ihre männlichen Kollegen wendet und den Ausschluss von Frauen aus dem dichterischen Parnass konstatiert: »Was meinem Kreise mich enttrieb, Der Kammer friedlichem Gelasse?« Das fragt ihr mich als sey, ein Dieb, Ich eingebrochen am Parnasse.132
Behältermetaphorik dient hier der Bestimmung von zwei konventionellen ›Räumen‹, welche beide das weibliche Dichten unterbinden: einerseits der private Bereich, auf den die Frau festgelegt ist,133 andererseits der nur männliche Dichter zulassende Bereich der klassischen Dichtung. In An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich (1844) wendet sich das geschlechtlich nicht bestimmte, aber durch die Autorin des Bandes als weiblich gekennzeichnete Ich selbstbewusst und kritisch an die Kolleginnen – zunächst als »Blaustrümpfe« bezeichnet – um sie vor der Fortschreibung der topischen Rollen der einsamen Melancholikerin, der »Hirtin« oder der »Hetäre« zu warnen und sie unter Einsatz von traditionell männlich besetzter Kampfmetaphorik zu ermutigen, von »wild bewegten Zeiten« zu zeugen, vor
131 La Roche 1983b, S. 155 f. (La Roche an Johann Caspar Hirzel, 8.11.1771). 132 Droste-Hülshoff 1978 ff., Bd. 1/1, S. 97 (Mein Beruf ). 133 S. u., Kap. VI/4.
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allem aber »der Natur geheimnißreichste Laute« zu wecken.134 Das Gedicht kulminiert in der Problematik ausbleibender öffentlicher Anerkennung für Dichterinnen, signalisiert durch den Topos des »Lorbeers«, wobei Droste empfiehlt, den Lohn des eigenen »Gefühls« und den »Segen« höher zu schätzen als »zehntausend Kronen«.135 Das Muster hier ist das traditionell christliche der Selbstbescheidung und ethischen Verpflichtung, allerdings erscheint die Empfehlung im Kontext des Gedichts eher als programmatische Aufforderung zum selbstbewussten, von geschlechtlichen Konventionen uneingeschränkten Dichten unter widrigen Rezeptionsbedingungen. Droste-Hülshoff stellt Dichtende allerdings keineswegs durchgängig als Frauen dar. In dem frühen, 1814/15 verfassten Gedicht »Der Dichter« spricht ein geschlechtlich unbestimmtes, aber durch den Titel als männlich gekennzeichnetes Ich; gestützt wird diese geschlechtliche Bestimmung durch das auf den dichterischen »Geist« verweisende Pronomen »er«.136 Sehr viel komplexer ist das zweiteilige, 1844 entstandenene Gedicht Der Dichter – Dichters Glück.137 Hier handelt der erste Teil in der dritten Person vom männlichen »Dichter«, während im zweiten Teil ein geschlechtlich unbestimmtes »ich« spricht. Das Gedicht weist eine ungewöhnlich weltschmerzliche Auffassung vom Dichtertum, ein ungewöhnlich hohes Pathos sowie eine ungewöhnliche Dichte intertextueller Bezüge auf; die Anspielungen verweisen besonders auf kanonische Gedichte von Goethe, Grillparzer und Freiligrath.138 Diese Merkmale konzentrieren sich jedoch im ersten Teil, der einen geradezu topischen männlichen Dichter entwirft und sich an ein ebenso topisches, philisterhaftes Publikum wendet. Der zweite Teil ist metrisch vom ersten unterschieden, entspricht eher dem drosteschen Ton jener Zeit, wendet sich unter Ausblendung eines Publikums vorwiegend an Naturphänomene und stellt den heroischen Bildern von den Gefahren des Dichtertums das bescheidenere Bild von einer Rose gegenüber, die einem in der Heilkunst verwendeten »Würmlein« als Wirtspflanze dient. Indem sich das sprechende Ich in der abschließenden Frage potenziell mit einer weibli134 Droste-Hülshoff 1978 ff., Bd. 1/1, S. 17–19 (An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich, V. 9–24, 50 und 59). Zum anfänglichen Titel vgl. den Kommentar, Bd. 1/2, S. 649; die substituierte Anrede an die »Schriftstellerinnen« stammt von Levin Schücking, der die Drucklegung betreute. Vgl. zu diesem Gedicht und insgesamt zu Droste-Hülshoffs poetologischer Lyrik Pott 2004, S. 242–261. 135 Droste-Hülshoff 1978 ff., Bd. 1/1, S. 19 (An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich, V. 69–72) 136 Ebd., Bd. 2/1, S. 167 f. (Der Dichter). 137 Ebd., Bd. 2/1, S. 69 f. (Der Dichter – Dichters Glück). Die Herausgeber nehmen besonders angesichts der komplementären Metaphorik an, dass es sich um zwei Teile eines Gedichts statt um zwei Gedichte handelt (vgl. ebd., Bd. 2/2, S. 501 und 505). Vgl. zu dem Gedicht Rotermund 1962, S. 71–76, und Pott 2004, S. 249 f.; Pott bezieht sich nur auf den vierstrophigen Teil I (ebd., S. 249). Rotermund und Pott gehen davon aus, dass Droste-Hülshoff durchgängig den eigenen Standpunkt darstellt. 138 Vgl. Droste-Hülshoff 1978 ff., Bd. 2/2, S. 505 f.
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chen Rose identifiziert und die ethisch bestimmte, eher mit weiblichem Wirken assoziierte Rolle der Heilerin annimmt – »Ach soll ich denn die Rose seyn | Die zernagte, um Andre zu heilen?« – gleicht sich das Ich an die Geschlechtlichkeit der Autorin an.139 Das Gedicht lässt sich somit als Rollengedicht lesen, in dem die Dichterin nur im zweiten Teil mit ihrer eigenen Stimme spricht – nicht also »als ›gespaltene Person‹«, und ohne Aufgabe ihrer »weiblichen […] Schriftstellerei«;140 ein weibliches Dichten wird allerdings hier nicht programmatisch, sondern eher subtil im Bild vermittelt. Der nicht zuletzt psychologischen Problematik eines weiblichen Dichtertums in einem männlich besetzten literarischen Umfeld begegnet die feministische Literaturtheorie und dichterische Praxis im späteren 20. Jahrhundert durch die Aktivierung der weiblichen Stimme und des weiblichen Körpers, um hieraus eine eigene dichterische Kraft zu entwickeln. So stellt Christa Wolf an den Anfang ihrer Erzählung Kassandra als Motto Verse von Sappho: »Schon wieder schüttelt mich der gliederlösende Eros, | bittersüß, unbezähmbar, ein dunkles Tier.«141 Die archetypische Dichterin artikuliert hier als Subjekt eine betont körperliche Erotik, die in der Tiermetapher den kreatürlichen Trieb feiert und sich in der Liebe nicht von einem männlichen Gegenüber abhängig macht, sondern der personifizierten Liebe selbst die Macht über ihren Körper gibt. Wolf integriert damit in die fünfte und letzte ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen eine ›Stimme‹ von den Anfängen westlicher Dichtung und rückt dann mit Kassandra eine Figur in den Vordergrund, die dem Mythos der patriarchalischen Gesellschaft eine weibliche Perspektive gegenüberstellt. Auch die moderne empirische Autorin bringt sich über die autobiographische Tagebuch- und Briefform der Voraussetzungen einer Erzählung (den ersten vier Vorlesungen) und über das in die Erzählung Kassandra einführende ›Ich‹ in den fiktionalen Text ein. Das Ziel dieser auf das weibliche Geschlecht zentrierten Poetik ist jedoch nicht die Ablösung des Patriarchats durch eine weibliche Vormacht, sondern die Herbeiführung einer ganzheitlichen Gesellschaft, in der beide Geschlechter koope139 Ebd., Bd. 2/1, S. 70 (Der Dichter – Dichters Glück, V. 45–48). Zu diesem Bild vgl. auch ebd., Bd. 2/2, S. 509. 140 Vgl. dagegen Pott 2004, S. 250. Liest man die erste Hälfte des Gedichts – beziehungsweise das erste Gedicht – als Darstellung des spezifisch männlichen Dichters, so vollzieht sich eine »Wende« zu einem »der Droste vertrauteren Gebiet« und zu einem für sie typischen »Kontext ethisch-moralischer Überlegungen« nicht erst mit dem letzten Vers (Droste-Hülshoff 1978 ff., Bd. 2/2, S. 506), sondern am Übergang zum zweiten Teil – bzw. das zweite Gedicht bietet den anderen, komplementären Standpunkt. Der erste Teil bzw. das erste Gedicht ist dann weder Ausdruck einer »skeptischen Wende« der Autorin, noch auch eine persönliche »Publikumsbeschimpfung« (Pott 2004, S. 250). Die Unbestimmtheit der Beziehung zwischen dem »Dichter«, dem sprechenden »ich« und der Person der Autorin ist schon an sich kennzeichnend für die spannungsvolle Identität dieser weiblichen Schriftstellerin. 141 Wolf, C. 1983, S. 201 (Kassandra. Erzählung). Zur Reihenfolge der Texte des KassandraProjekts s. u., S. 448, Anm. 185.
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rativ die Zukunft gestalten. Die Binärität der Geschlechter ginge dann nicht auf Kosten eines unterdrückten Geschlechts, sondern wäre in ein Verhältnis der Komplementarität überführt.
6. Liebende Unter den Rollen, die Dichter in Bezug auf ihre Mitmenschen besetzen, hat die des Liebenden wohl die größte Kontinuität. Denn wenn sich auch der gesellschaftliche Kontext des Dichters und damit die Bezugspersonen ändern, so bleibt die Rolle des Dichters als Liebender verfügbar und übertragbar: Auch der Mönch oder die Nonne kann legitim die Liebe zur ›Jungfrau‹ Maria oder zum ›Bräutigam‹ Jesus äußern. Diese Rolle ist in der diskursiven Poetik wenig ausgeprägt; um so bedeutsamer ist sie im literarischen Werk, wobei besonders die Liebeslyrik ein Medium ist, in dem das sprechende Ich zum empirischen Dichter häufig in engem Bezug steht. Die Liebe ergibt gewissermaßen eine Poetik für sich, denn als Quelle der Inspiration vermag sie der göttlichen Eingebung das Feld streitig zu machen und als Garant vollendeter Poesie die handwerkliche techne zu übertrumpfen. So wenigstens will Daniel Casper von Lohenstein sie in seinem Preisgedicht Venus verstanden wissen: Es hat kein pferde-brunn / kein hippocrenen-safft / Kein sterbender gesang der schwanen / eine krafft Zu flössen in das haupt die ader und die gabe Der edlen poesie; daß aber lieben habe Das lieder-dichten uns am ersten unterricht / Darff besseren beweiß / als die erfahrung / nicht. Legt der poeten sinn zusammen auff die wage / Nicht einer ist / der nicht zum lieben liebe trage: Dem Naso pflantzt die brunst die kunst zu tichten ein / Wie soll die poesie denn nicht die tochter seyn?142
Lohenstein rekurriert in diesem poetologischen Gedicht auf Topoi dichterischer Inspiration, um die Überlegenheit der Liebe zu erweisen. Diskreditiert wird die Macht der Musenquelle Hippokrene sowie der mit Orpheus assoziierte Gesang des sterbenden Singschwans. Dies lässt das Feld frei für die Entfaltung einer Poetik der Inspiration durch Liebe: So wie in den Poetiken der Barockzeit der Topos vom Ursprung der Dichtung dazu dient, die jeweils vorherrschende Dichtungsauffassung zu legitimieren, wird er hier eingesetzt, um der Liebe die Priorität zu geben. Eine ähnliche Funktion hat der Topos von der Universalität der Liebe sowie die Profilierung des Vorbilds Ovid (Naso). Der Genealogie-Topos wird hier witzig abgewandelt, 142 Lohenstein 1974, S. 38, V. 994–1003.
6. Liebende
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indem der Dichter die Poesie zur »Tochter« Ovids erklärt, die »brunst« selbst jedoch für die Zeugung verantwortlich macht. Mehr als jede andere Rolle wirkt die Rolle des Liebenden verbindend: In ihr finden geistliche Dichter wie Spee und weltliche Dichter wie Brecht, männliche und weibliche, ›hohe‹ und ›niedrige‹ Schriftsteller zusammen. Selbst anonym vermag der Dichter als Liebender die Zeiten zu überdauern – das folgende Gedicht aus dem 12. Jahrhundert ist auch ohne Übersetzung und historischen Kontext verständlich: Du bist mîn, ich bin dîn, des solt du gewis sîn. du bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist daz sluzzelîn: du muost ouch immêr dar inne sîn.143
Wirkungsvoll ist die Einfachheit, mit der die Liebesbeziehung in Körper, Raum und Zeit sprachlich verwirklicht ist. Das Ich gibt dem Du ein Liebesversprechen, und die spiegelbildliche Syntax vermittelt die Gleichwertigkeit und Wechselseitigkeit ihrer Liebe. Ausgehend von diesem performativen Sprechakt bewegt sich das Gedicht mittels Behältermetaphorik ›einwärts‹: Intuitiv naheliegend führt sie vom Körper des Ich zum fühlbaren Lebensorgan des Herzens und kulminiert dann in dem auffällig metaphorischen, durch das »sluzzelîn« angedeuteten Bild vom Schatzkästlein, in dem der ›Schatz‹ die Vergänglichkeit des Körpers überdauern wird. Ohne einer textexternen Poetik zu bedürfen, versteht der moderne Leser das Gedicht als Ausdruck einer fundamentalen, schon dem Fötus vertrauten Erfahrung der Geborgenheit. Liest man es als Liebesgedicht, bildet es somit einen Kontrast zur höfischen Minnelyrik des Mittelalters, die typischerweise durch Spannung und mangelnde oder nur vorübergehende Erfüllung gekennzeichnet ist, so wenn die ›hohe Frau‹ gesellschaftlich und räumlich vom Dichter entfernt ist, wenn sie seine Liebe nicht erwidert, oder wenn im Tagelied der Moment der schmerzlichen Trennung thematisiert wird. Die zeitüberdauernde Wirkung des Gedichts Du bist mîn, ich bin dîn dürfte nicht zuletzt in der Anonymität des Autors und der damit verbundenen Unbestimmtheit des Sprechers gründen. Denn je nach angenommenem Geschlecht und Kontext des Sprechers und abhängig auch vom Erwartungshorizont des Lesers ändert sich das Bild von der Rolle des Dichters oder der Dichterin. Das Ich kann ein Liebender oder eine Liebende sein, das Du ein menschlicher Geliebter oder eine Geliebte, oder auch Jesus oder Maria. Die Offenheit der namenlosen Pronomina macht das Gedicht 143 Anon. 1995, S. 30. In Margherita Kuhns Übersetzung: »Du bist mein, ich bin dein, | dessen sollst du sicher sein. | Du bist verschlossen | in meinem Herzen, | verloren ist der Schlüssel fein – | du mußt für immer drinnen sein« (ebd., S. 31).
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grenzenlos übertragbar. Überliefert ist das Gedicht am Schluss eines von einer Frau, wohl einer Nonne, um 1180 verfassten lateinischen Liebesbriefs; kontrovers ist die Frage, ob die Verfasserin des Briefes das Gedicht selbst dichtete oder es zitierte.144 Die Formel »Du bist mîn, ich bin dîn« ist im Mittelalter vielfach – und in vielen Varianten – belegt;145 sie kehrt beispielsweise wieder in einem Gedicht vom Tannhäuser, nun mit der Anrede des Mannes an die »frowe mîn«.146 Auch muss der weltliche und der geistliche Kontext kein Gegensatz sein: Die Bibel lieferte übertragbare Modelle, so vor allem das Hohelied Salomos, in dem der ›Freund‹ und die ›Freundin‹ spricht und Wechselseitigkeit thematisiert wird, so in Luthers Übersetzung: »Mein Freund ist mein / vnd ich bin sein.«147 Die Metaphorik des Besitzens ist so einfach wie eindrücklich: Sie vermittelt gerade aufgrund der Ablösung von einem gesellschaftlich und geschlechtlich bestimmten Autor eine grundlegende Form der Vereinigung, deren potenzielle Assoziation mit einem ungleichen Machtverhältnis durch die Reziprozität der Aussage eliminiert wird. Die Rolle des Dichters als Liebender und die darin entwickelte Sprache der Affekte ermöglichte im 18. Jahrhundert im Zusammenspiel mit der im häuslichen Kreis gepflegten mystischen Sprache des Pietismus eine Verquickung geistlicher und weltlicher Tradition, wobei die rhetorische Affektenlehre mit ihrer Ausformung psychologisch wirksamer Sprache diskursbildend wirkte.148 Die Literatur der Empfindsamkeit ist durchgängig geprägt von fließenden Übergängen zwischen der Erbauungsliteratur und Epos, Roman, Gedicht oder Brief. Deutlich wird dieser Übergang vor allem in Goethes 1774 erschienenem Werther-Roman mit seinen zwei Erzählperspektiven: dem vielfältig mit Goethes eigenen Erfahrungen als Liebender verbundenen Protagonisten Werther und dem seelsorgerisch sich gebenden ›Herausgeber‹. Die kommunikative Wirksamkeit der Rolle des spontan in authentisch wirkenden Briefen seine Gefühle äußernden Liebenden wird aus der zeitgenössischen Tendenz zur Identifikation mit Werther ersichtlich. Der Herausgeber scheint zunächst vom erbaulichen Duktus her eine Distanz zum Schicksal des Protagonisten zu schaffen. Allerdings fördert auch er die Identifikation, wenn er der lesenden »guten Seele« wünscht, das Buch möge ihr ein »Freund« sein, wenn sie »keinen nähern finden« kann, und ihr in der Not »Trost« bringen.149 Denn angesichts der mit dem Dogma in 144 145 146 147 148
Vgl. den Kommentar der Herausgeberin (Anon. 1995, Apparat, S. 575 f.). Ebd., S. 575. Tannhäuser 1993, S. 242 f. (V. 62–64). Luther 1972, Bd. 1, S. 1153 (Hohel. 2, 16). Vgl. dazu grundsätzlich Ottmers 1996, S. 117–127; spezifisch zur Empfindsamkeit vgl. Wegmann 1988, bes. S. 26–39. 149 Goethe 1985 ff., Bd. 8, S. 10 (Die Leiden des jungen Werthers, 1. Theil, Vorrede). Die Zitate folgen der Erstausgabe von 1774.
6. Liebende
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Konflikt stehenden Selbstmordthematik konnte das Buch einen »Trost« im christlich-moralischen Sinne gerade nicht bringen. Und auch in der Metapher vom Buch als »Freund« zeigt sich eine Verschiebung der Werte: Statt von einer moralisch festen Basis aus Beistand zu liefern, ermöglicht das Buch die Einfühlung in eine gefährdete Existenz; und dem Leser in extremis gibt es ein ähnlich leidensvolles Schicksal an die Seite. Das Buch als ›Freund‹ vermag auf diese Weise ›Nähe‹ herzustellen und gemeinschaftsstiftend zu wirken. Der Leser ist entsprechend nicht in christlich-moralischem Sinne eine ›schöne Seele‹, sondern aufgrund seines Mitgefühls. Liebender und Freund, Autor und Leser finden so zu einer Gemeinschaft des Gefühls, die physische und moralische Grenzen zu überwinden vermag. Die religiöse Tradition speist auch in der Lyrik der Zeit die Ausgestaltung der Rolle des leidenden Liebenden. So stilisiert sich der an Liebesleid krankende Dichter in Johann Martin Millers Gedicht »An meine Freunde. Den 21 Febr. 1773« zur Passionsfigur und fordert die Freunde auf, sein Leid empathisch mitzuvollziehen: Kommt, ihr Freunde, meine Leiden Mit Erbarmung anzusehn! Froher wird die Seele scheiden, Wenn sie hört in ihre Leiden Eure BarmungsSeufzer wehn.150
Das Gedicht steht in einem Gemeinschaftsbuch des Göttinger ›Hainbundes‹, wodurch die metaphorische ›Zeugenschaft‹ der Freunde eine besondere Bedeutung erhält. Die durch Leiden und Mitleiden erzeugte Intensivierung des Gefühls verleiht dem Gelegenheitsgedicht eine kommunikative Kraft, die in die empirische Freundschaft der Dichter hineinwirkt, um ihr eine über die Zeit hinauswirkende Beständigkeit zu verleihen. Der hohe Wert, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dem authentischen, spontan sich äußernden Gefühl zugesprochen wird, lässt sich in der Liebeslyrik verfolgen, besonders wenn sie wie jene von Goethe auch in der Folgezeit als Ausdruck der Gefühle des empirischen Autors rezipiert wurde. Poetologisch bedeutsam ist dann die Darstellung des Dichters als Mensch, der jegliche Gelehrsamkeit und dichterische Tätigkeit ausblendet, um allein die körperlichen und gefühlsmäßigen Aspekte seiner Person darzustellen. Der Dichter projiziert sich nicht als gestalterisch reflektierendes Ich, wie beispielsweise Hofmannswaldau, der in geistreicher Metaphorik und kunstvoller Sprache und Form die Attribute seiner Geliebten bedichtet, sondern als körperlich aktiver Mann. Es wird dadurch eine unbändige natürliche Schöpferkraft vermittelt, die sich in kraftvoll ausgelebter Sexualität zeigt. Beispiel ist Goethes Willkommen und Abschied, das gewisserma-
150 Miller 1957.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
ßen ein um die Nacht erweitertes Tagelied darstellt.151 Während im Tagelied Vereinigung und Abschied, Glück und Trauer spannungsvoll im Tagesanbruch konzentriert sind und oft auch die Perspektive der Frau artikuliert wird,152 legt Goethe die Spannung an den Anfang der Nacht und situiert sie im männlichen Ich: »fort, wild, wie ein Held zur Schlacht«.153 Die Spannung wird bei Goethe zur sexuellen Anspannung des Mannes in der Vorfreude auf die Geliebte, wobei topische Feuermetaphorik die Intensität seines Gefühls vermittelt: »Mein Geist war ein verzehrend Feuer, | Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.«154 Die Geliebte dagegen bleibt stumm, physisch unbestimmt und passiv, wobei die revidierte Fassung ihre Passivität noch verstärkt.155 Ihre Aufgabe ist es, dem ›Weg‹ des Genies ein Ziel zu bieten und seine körperlich kraftvolle Aktivität zur schöpferischen Tat zu steigern. Eine Verschiebung des Akzents lässt sich in der fünften Römischen Elegie feststellen, denn hier stellt sich das Ich nicht nur als Mann, sondern auch als Dichter dar, der auf dem Körper seiner schlafenden Geliebten Hexameter verfasst.156 Durch die Darstellung ihres Körpers wird zugleich sein Körper in den dichterischen Akt eingebracht und als inspirierende Kraft erfahrbar. Vermittelt wird hier jedoch eine Poetik, die mit Geist und Körper zugleich aus der Tradition und der lebendigen Erfahrung schöpft. Die Problematik der Beziehung zwischen weiblichem Geschlecht und der Rolle des Dichters spiegelt sich in komplexen Beziehungen zwischen dem sprechenden Ich und dargestellten Liebenden, so bei Ingeborg Bachmann. In dem Gedicht Die gestundete Zeit beispielsweise spricht kein explizites Ich, und als Sprecher ist entweder das mit männlichen Aktivitäten charakterisierte ›Du‹ interpretierbar, oder eine außenstehende Person, die von der »Geliebten« berichtet: Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich 151 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 128 f. ([Willkommen und Abschied], Iris-Druck von 1775, noch ohne Titel). Vgl. auch die späteren Fassungen (ebd., Bd. 1, S. 283, und Bd. 2, S. 45). 152 Vgl. z. B. Dietmar von Aist: »Slâfest du, vriedel ziere / Schläfst du, mein schöner Liebster« (Dietmar 1995); Wolfram von Eschenbach: »Den morgenblic bî wahtæres sange erkôs / Das Morgenlicht beim Ruf des Wächters sah« (Wolfram 1995). 153 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 128 ([Willkommen und Abschied], 1775, V. 2). 154 Ebd. (V. 15 f.). Vgl. zur Feuermetaphorik für geschlechtliche Liebe Lakoff/Turner 1989, S. 84, 106 f. und 128. 155 In der Frühfassung ›spricht‹ das »Herz« der Geliebten aus ihren »Blicken«, und sie ist es, die ›geht‹ (Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 129; [Willkommen und Abschied], 1775, V. 26 und 29). In der späteren Fassung ist das Verb ›sprechen‹ eliminiert, es fühlt das »Herz« des Dichters, und auch das Gehen ist auf den Dichter übertragen (ebd., S. 283; Willkomm und Abschied, 1789, V. 26 f. und 29). 156 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 405–407 (Fünfte Elegie, bes. V. 15–18).
6. Liebende
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und willig dem Abschied nach jeder Umarmung.157
Die Geliebte ist wie Eurydike passiv und sterblich, wird jedoch aktiv mundtot gemacht – vom Sand, der zum mehrfach wiederholten männlichen Pronomen mutiert. Die Unterbindung des Sprechens mittels der Alltagsmetapher ›jemandem ins Wort fallen‹ und des Befehls zu ›schweigen‹ erhält hier besondere poetologische Bedeutung, weil die weibliche Figur zur empirischen Autorin geschlechtsmäßig in Bezug steht. Der nächste Vers projiziert dann das Du beziehungsweise den Sprecher in die Rolle des archetypischen Dichters Orpheus: »Sieh dich nicht um.«158 Es bleibt hier keine Möglichkeit eines weiblichen Dichtens; unter Einbezug der empirischen Autorin wird allerdings diese Unmöglichkeit durch die Sprachkraft in Frage gestellt. Radikalisiert wird dann die Eliminierung weiblichen Sprechens in Bachmanns Roman Malina, dem ersten in der geplanten Trilogie »Todesarten«, der wiederum durch eine unstabile Konstellation der Hauptfiguren gekennzeichnet ist. Hier ist die Liebende das sprechende, schreibende, aktive Ich, und im ersten Kapitel ist sie »Glücklich mit Ivan«.159 Zugleich steht sie in einer engen, auch unter dem Aspekt eines Alter Ego lesbaren Beziehung zu dem männlichen Malina, der lediglich einen »›Apokryph‹« verfasst hat.160 Am Ende überlässt die Protagonistin dem Titelhelden das Feld und verschwindet in der Wand, »aus der nie mehr etwas laut werden kann«.161 Der Roman zeigt die Auslöschung des weiblichen Ich sowie auch die Auslöschung ihres schriftlichen Werks, denn Malina »zerreißt ein paar Briefe, er wirft mein Vermächtnis weg, es fällt alles in den Papierkorb«.162 Der letzte Schrei des Ich ist »Ivan!«, und Malina ist es, der endgültig die Kommunikation des Ich mit Ivan abbricht, indem er die Existenz der Protagonistin Ivan gegenüber am Telefon leugnet und die eigene Person an ihrer Stelle einsetzt. Der letzte Satz stammt von einer nicht identifizierten Stimme: »Es war Mord.«163 Indem Bachmann die Protagonistin in einem unstabilen Liebesverhältnis mit beiden männlichen Figuren interagieren lässt, diese jedoch asymmetrisch zu ihr in Bezug setzt und am Ende eine weitere, autoritative Stimme einbringt, wird die Beziehung der empirischen Autorin zur Protagonistin extrem komplex; und der letzte Satz kann nur von der (impliziten) Autorin stammen. Gerade diese narrative Eindeutigkeit des moralischen Urteils, in die das Ende mündet, zwingt jedoch zu einem erneuten Lesen. Denn jedes Motiv am Ende – das Telefon, das 157 158 159 160 161 162 163
Bachmann 1978, Bd. 1, S. 37 (Die gestundete Zeit). Ebd. Ebd., Bd. 3, S. 28 (Malina). Ebd., S. 11. Ebd., S. 337. Ebd., S. 336. Ebd., S. 337.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Papier, das Testament – tauchte schon vorher als Requisit in den Liebesbeziehungen auf, und Mord wurde bereits in der Beziehung zum Vater thematisiert. Die Einbeziehung dramatischer Dialoge, Märchentexte und Anweisungen für den emotionalisierten musikalischen Vortrag (»con fuoco«, »crescendo«)164 macht den Text zu einer kunstvollen Partitur, in der Liebe das Grundthema ist, das in den Beziehungen durchgespielt wird, in der zugleich aber das schriftliche Werk der Protagonistin mit »Todesarten« überschrieben ist.165 Unvereinbar ist in dem Roman wie in dem Gedicht die Rolle der Frau und Liebenden mit der Rolle der Dichterin. Dies kann weder als autobiographische Aussage gelesen werden, noch auch als ›reine‹ Fiktion. Kennzeichnend ist vielmehr die mit Wiederholungsfiguren und betont ›künstlichen‹ Techniken erreichte Verschränkung und zugleich Destabilisierung der Rollen.
7. Unterhaltung und Spiel Die Rolle des Dichters verwirklicht sich mittels ›Veröffentlichungen‹ vornehmlich in der Öffentlichkeit, auch wenn sich der Dichter seit der Romantik eher unter Fokussierung der Produktion als private Person am »abgeschiedenen Ort«166 darstellt. Wenn Horaz konstatiert, der Dichter wolle »entweder nützen oder erfreuen« oder beides zugleich,167 so ist ein Dichter vorausgesetzt, dessen Werk erst aus der Beziehung zum Publikum einen Sinn erhält. Horaz unterscheidet dabei verschiedene Alters- und Bevölkerungsgruppen, die jeweils andere Ansprüche an den Dichter stellen; pragmatisch empfiehlt er, »Süßes« und »Nützliches« zu mischen, um alle zufriedenzustellen: »Solch ein Buch verdient den Sosii [den Verlegern des Horaz] die Groschen, gelangt übers Meer und verlängert seinem bekannten Verfasser die Lebensdauer.«168 Die Unterhaltung des Rezipienten ist in der weltlichen Literatur bis ins 18. Jahrhundert eine Grundvoraussetzung auch anspruchsvoller Dichtung, besonders, wenn sie im gemeinschaftlichen Rahmen zur Wirkung kommt. Über die Verbindung mit dem geselligen Spiel wirkt sie gemeinschaftsstiftend, vor allem in Zusammenhang mit dem populären Thema Liebe. Zu einem kunstvollen Wettstreit gestaltet Walther von der Vogelweide das Spiel im poetologischen Lied »Ein man verbiutet âne pfliht« (Ein Mann überbie-
164 Ebd., S. 331. 165 Ebd., S. 228. 166 Vgl. Horaz 1984, S. 22 f. (V. 295–302). Vgl. auch die abschließenden Ausführungen zum »wahnsinnigen« Dichter in V. 453–476. 167 Ebd., S. 24 f. (V. 333 f.). 168 Ebd., S. 26 f. (V. 343–346).
7. Unterhaltung und Spiel
341
tet rücksichtslos ein Spiel),169 in dem er zu Reinmar dem Alten und dessen Lied »Ich wirbe umbe allez, daz ein man« (Ich strebe nach dem, was für einen Mann)170 in Konkurrenz tritt. Walther wählt den ›Ton‹ von Reinmars Lied171 und nimmt mit intertextuellen Anspielungen Bezug darauf. Reinmars hyperbolischem Lob der Dame setzt er eine zurückhaltende Huldigung entgegen, und auf Reinmars Herausforderung »dâ ist iu mat!« (Damit seid Ihr schachmatt!)172 entgegnet Walter mit dem Gruß seiner Dame und »dâ ist mates buoz« (Damit ist man aus dem ›Matt‹).173 Das Schachspiel der höfischen Gesellschaft wird hier in die Dichtung übertragen. Indem sich der Dichter als Spieler profiliert, integriert er sich und seine Kunst in die höfische Geselligkeit und unterhält sein höfisches Publikum durch die witzige Bezugnahme auf eine andere Form der Unterhaltung. Zugleich inszeniert er in dieser Rolle einen öffentlichen Wettstreit mit seinem Widersacher, um seine überlegene Kunst des Minnesangs unter Beweis zu stellen. Im 17. Jahrhundert gilt die Unterhaltung als legitimes Ziel auch des gelehrten Dichters,174 zumal man noch nicht die Partizipation des »Büffelhirnigen Pövels« zu fürchten braucht;175 Harsdörffers Tiermetapher setzt die gesellschaftliche Exklusivität der dichterischen Kommunikation voraus. Einen weniger gelehrten und exklusiven Anspruch verfolgt die nach französischem Vorbild entwickelte galante Dichtung des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts, wie aus Benjamin Neukirchs Anweisung zu teutschen Briefen hervorgeht: Die galanterie ist nichts anders, als eine schertzhaffte und dabey kluge artigkeit: und diese ist weder in der bibel, noch sonst verbothen. Sie ist das mittel, grosse gesellschafften zu unterhalten: sie ist der weg, sich bey hohen und niedrigen beliebt zu machen.176
Hier wird die gesellige Unterhaltung zum Programm erklärt, wobei die Vertikalmetaphorik die Universalität des angesprochenen Publikums betont. Zielpublikum ist die »gantze Welt«,177 und im Vordergrund steht die Befriedigung des »curieusen Lesers«.178 Wenn den galanten Autoren auch 169 Walther 1995a. Müller übersetzt den Titel »Ein Mann reizt gegen die Regeln« (Müller, U. 1993, S. 137). 170 Reinmar 1995. Vgl. zu den beiden Gedichten und deren Beziehung die Anmerkungen der Herausgeberin ebd., S. 831–835 und 982–985. 171 Die Handschrift gibt an, das Lied sei »in dem dône Ich wirbe umbe allez daz ein man« (Walther 1995a, Anm. d. Hg., S. 982). 172 Reinmar 1995, Str. 1, V. 9. 173 Walther 1995a, Str. 1, V. 9. 174 Das Substantiv ›Unterhaltung‹ findet jedoch in dieser Bedeutung erst seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Verwendung, vgl. Grimm 1984, Bd. 24, Sp. 1609 (Unterhaltung). 175 Harsdörffer 1969, 3. Teil, S. a iiv (Zuschrifft). 176 Neukirch 1727, S. )( 5r. 177 Neukirch 1961, S. 18. 178 Hunold 1988, S. )( 5; vgl. auch den Titel. Zum »Affect« der »Curiosität« vgl. Weise 1970, S. 23.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
noch nicht das große Publikum zugänglich war, das sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete, so waren doch insbesondere die erotischen Romane sehr erfolgreich. Hier eröffnete das dichterische Werk Perspektiven auf die ›Welt‹, die dem Leser sonst nicht offenstand, wie aus Christian Friedrich Hunolds Vorrede zu seinem Roman Die Liebens-Würdige Adalie hervorgeht. Er weckt explizit voyeuristische Erwartungen, wenn er Leser anspricht, die »die Welt nicht als einen aller Augen geöffneten Platz / sondern als ein geheimes Liebes-Cabinet durchsehen«.179 Während das Publikum somit die ganze öffentliche Welt umfassen soll, bezieht das Werk seinen Unterhaltungswert aus Einblicken in private Sphären, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind; besonders kontrovers und zugleich besonders publikumswirksam gestaltete sich dieses poetologische Ziel im Falle des Schlüsselromans.180 Das dichterische Werk wird auf diese Weise zu einem ›Fenster‹, das dem Leser Einblick in einen privaten ›Raum‹ gewährt. Und indem das Werk im geselligen Kontext zum Gespräch anregt, befriedigt es das universale Bedürfnis nach Klatsch.181 Das in Barockpoetiken thematisierte Dichten als Nebentätigkeit wird neben dem »frölichen gemüthe« zum Kennzeichen galanter Dichter: Sie sollen »niemahls eher schreiben / als biß sie sich dazu geschickt befinden / keine stunde damit verderben / als welche sie zu ihrer ergetzung ausgesetzt«.182 Entsprechend erklärt Hunold seine Gedichte bereits im Titel zu Produkten »Academischer Neben-Stunden«.183 Die Nebenbeschäftigung wird auf diese Weise aufgewertet und bleibt zugleich von ernsthafter Arbeit abgegrenzt, was gewissermaßen ihren ›Freizeitwert‹ erhöht. In diesem Bereich verbindet ›Ergötzung‹ die Produktion und die Rezeption: So übergibt Hunold seine Liebens-Würdige Adalie […] Der Galanten Welt zu vergönnter Gemühts-Ergetzung.184 Die galante Literatur stiftet und erhält galante Kultur – und gibt dem Leser Möglichkeiten des Auslebens, wie sie die Wirklichkeit wohl nicht jedem bot. Mit der Etablierung des Buchmarkts und der Ausweitung der Lesefähigkeit über gelehrte Kreise hinaus wird ›Unterhaltung‹ zu einem brisanten Thema. Die Wirkungsmöglichkeiten des unterhaltenden Romans zeigten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als eine Fülle von rührseligen Romanen und Erzählungen eine vorher nicht gekannte »Lesesucht« befriedigte, wie der Publizist Georg Friedrich Rebmann 1793 konstatierte; Maßstab für den 179 Hunold 1967, S. )( 5 v - )( 6r. Zur Poetik des galanten Romans mit besonderem Bezug auf Hunold vgl. Wieder 2005, S. 50–83. 180 Vgl. bes. Hunolds »Satyrischen Roman« von 1706 (Hunold 1973). 181 Vgl. Brown 1991, S. 131. 182 Neukirch 1961, S. 20 und 18. 183 Vgl. z. B.: »Menantes Academische Neben-Stunden allerhand neuer Gedichte / Nebst Einer Anleitung zur vernünftigen Poesie« (Hunold 1713). 184 Hunold 1967 (Titel).
7. Unterhaltung und Spiel
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Wert eines Werkes war nun der »ökonomische« Erfolg, nicht der »innere Wert«, und über die Schriftsteller »richtete« nun nicht ein gelehrtes »Tribunal«, sondern ein Publikum aus »Friseuren, Kammerjungfern, Bedienten, Kaufmannsdienern und dergleichen«.185 Die topische Metapher von der Literatur als einer physisch oder psychisch wirkenden Substanz, die Behältermetapher sowie auch der Kunstrichtertopos dienen hier dazu, eine grundlegende Veränderung des literarischen Kontextes zu erfassen. Diese betraf die Struktur des Publikums, den Bezug zwischen Unterhaltung und Nutzen, die Befähigung des Dichters und die Qualität des Werkes. 1776 erklärt ein Rezensent in Wielands Der Teutsche Merkur: »Es ist wohl kein Land wie Teutschland, wo sich so elende Köpfe […] zum Beruf aufwerfen, das Publikum zu unterhalten.«186 Die Synekdoche fokussiert den ›Kopf‹ als maßgeblichen Körperteil des Gelehrten, dessen Aufgabe es ist, das Volk angemessen – und das heißt geistig und moralisch bildend – zu unterhalten. Wie auch in den Barockpoetiken grenzt sich der gelehrte von hierarchisch untergeordneten Dichtern ab (»elend«, »sich aufwerfen«), um die Produktion einer angemessenen Literatur allein für die Gelehrten zu beanspruchen. Die poetologische Konstellation hat sich jedoch entscheidend verändert, da das Publikum nicht mehr primär aus Gleichgesinnten und gleich Gebildeten besteht. Die Gelehrten begegnen dieser Verschiebung mit einer vertikalen Differenzierung von ›Unterhaltung‹, wie aus Schillers Ankündigung seiner Monatsschrift Die Horen von 1794 hervorgeht.187 Sein Ziel ist es, dem Leser in einer von Kriegsinteressen bestimmten Zeit »Unterhaltung« zu bieten;188 aber die nähere Bestimmung verdeutlicht, dass die Zeitschrift »dem frivolen Geschmacke, der das Neue bloß um der Neuheit willen sucht, keineswegs nachgeben« wird und ein »allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist«, verfolgt.189 Gewidmet ist diese Unterhaltung »der schönen Welt zum Unter185 Rebmann 1968, S. 53 f. Zur »Lesesucht«-Debatte vgl. Schenda 1970, S. 57–66 und 87–88. S.a. Flessau 1980. Flessaus Ansatz beschränkt sich jedoch großteils auf das Aufspüren der Merkmale von ›Trivialliteratur‹. 186 Anon. 1776, S. 261. Als »tief unter aller Kritik« bewertet der Rezensent hier Johann Moritz Schwagers »Martin Dickius Leben und Meynungen« (= Leben und Schicksale des Martin Dickius, 1775–1776) und Johann W.A. Schöpfels »Martin Flachs, eine Geschichte des 18ten Jahrhunderts« (1775–1776); im Ausland dagegen habe »das Schlechteste dieser Art doch wenigstens ein zunftgerechtes Ansehen, und den Manufaktur-Zuschnitt, daß man weiß, was es ist. Dieser Waare ist aber kein Name zu geben, es wäre denn die große Rubrik Makulatur darauf zu prägen« (ebd., S. 262; vgl. die Quellenangaben in Starnes 1994, S. 390 und Kosch 1968 ff., Bd. 16, Sp. 105 und 738). Als Maßstab gilt dem Rezensenten die etablierte Gattung sowie die handwerkliche Gediegenheit. 187 Schiller 1988–1004, Bd. 8, S. 1001–1005 (Ankündigung, Die Horen). Vgl. auch die »Einladung zur Mitarbeit«, ebd., S. 998–1001, und die »Gekürzte Ankündigung«, ebd., S. 1005 f. 188 Ebd., S. 1001 f. (Ankündigung, Die Horen). 189 Ebd., S. 1003 und 1001.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
richt und zur Bildung, und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit, und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen«,190 wobei Schiller die »Aufhebung der Scheidewand« zwischen diesen Welten anstrebt.191 Als Publikum erhofft er sich – wie schon Neukirch – »die ganze lesende Welt«;192 da er es jedoch ablehnte, die Bedürfnisse des »curieusen Lesers«193 zu befriedigen, suchte sich der Großteil des Publikums seine Unterhaltung in unterhaltsameren Publikationen. Während die gelehrten Autoren immerhin den Kontakt zur gesamten Leserschaft suchten, vollzog Kant in der Kritik der Urteilskraft unter dem Primat der »Vernunft« die vertikale Ausgrenzung der gesellschaftlichen »Unterhaltung« sowie auch des »bloßen Spiels« von einer Literatur, die sich als »schöne Kunst« verstehen sollte.194 So unterscheidet er die »schöne Kunst« von den »angenehmen Künsten«, die »bloß zum Genusse abgezweckt werden«; Paradebeispiel für letztere ist ihm das Tischgelage, wo »niemand über das, was er spricht, verantwortlich sein will, weil es nur auf die augenblickliche Unterhaltung, nicht auf einen bleibenden Stoff […] angelegt ist«.195 Damit entzieht er der Literatur, will sie als ›schöne Kunst‹ gelten, die Berechtigung zur Unterhaltung und unmittelbaren Wirkung. Fortan gilt die ›schöne‹ Literatur als ›ernste‹ Kunst, die ausschließlich im bleibenden Wert ihre Rechtfertigung findet. In Abgrenzung von der Redekunst situiert Hegel sie in einer »freien Höhe« jenseits jeglicher Zweckdienlichkeit einschließlich des »bloß oberflächlichen Zeitvertreibens und Vergnügens«.196 Einerseits dient die Vertikalitätsmetaphorik hier dem Entwurf einer religiösräumlich angereicherten Werteskala, um den hohen Wert der Poesie zu sichern, andererseits signalisiert sie in Zusammenhang mit Behältermetaphorik den Wert der ›tiefen‹ Innerlichkeit. Die philosophisch erzeugten Hemmungen der Kunstschaffenden, sich (auch) als ›Unterhalter‹ zu profilieren, wirken noch in der Gegenwart fort. Wenn Hans Magnus Enzensberger seinen Gedichtband Leichter als Luft mit dem Untertitel Moralische Gedichte versieht, so sucht er mit dem »ironischen Echo aus dem 18. Jahrhundert« die Metapher ›leicht‹ auf die Bedeutung ›schwerelos‹ einzuschränken und die mögliche Assoziation ›geis190 191 192 193 194
Ebd., S. 998 (Die Horen, Einladung zur Mitarbeit). Ebd., S. 1003 (Ankündigung, Die Horen). Ebd., S. 999 (Die Horen, Einladung zur Mitarbeit). Hunold 1988, S. )( 5. Kant 1908, S. 303–306 (§ 43, Von der Kunst überhaupt; § 44, Von der schönen Kunst). Vgl. dagegen die Bestimmung der Dichtkunst als »ein bloßes unterhaltendes Spiel« innerhalb des geistigen Bereichs (ebd., S. 327; § 53, Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander). 195 Kant 1908, S. 305 (§ 44 Von der schönen Kunst). S.a. zum grundsätzlichen Primat der »Vernunft« ebd., S. 303 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). 196 Hegel 1986, Bd. 15, S. 268 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., A.2.c., Das freie poetische Kunstwerk).
7. Unterhaltung und Spiel
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tig anspruchslos‹ zu eliminieren.197 Eine englische Rezension wies den Anspruch bereits mit dem Titel zurück: »More lite than light.«198 Dass in Enzensbergers Zusatz einer Gattungsdefinition eine Strategie der poetologischen Standortbestimmung vorliegen dürfte, legen ähnliche Titel und Untertitel bei anderen Autoren nahe. So schreibt Matthias Politycki nicht einen Liebesroman, sondern den Weiberroman. Historisch-kritische Gesamtausgabe, in dem der ›Herausgeber‹ mit betonter, wenn auch ironisierter Gelehrsamkeit darüber reflektiert, »daß ein historisch-kritischer Liebesroman, weiß Gott, des Guten zuviel sein dürfte […] und, gelinde gesagt, reichlich überinstrumentiert«.199 In Bodo Kirchhoffs Schundroman rettet der Titel mit seiner ironischen Gattungszuweisung und dem ehrwürdigen Bezug auf Brechts Dreigroschenroman das Werk aus den Sümpfen des Trivialromans.200 Auf diese Weise verspricht man dem Leser (beziehungsweise Käufer) ein zwar unterhaltsames, aber zugleich postmodern anspruchsvolles Leseerlebnis und entgeht zugleich selbst der Gefahr einer Verwechslung mit dem bloßen Unterhaltungsschriftsteller. Allerdings zeichnet sich hier wohl auch im Gefolge von Poststrukturalismus und Literaturstreit sowie im Kontext einer zunehmenden Orientierung an den anglo-amerikanischen Märkten eine Senkung der Hemmschwelle ab. Das literarische Spiel steht bis ins 18. Jahrhundert in engem Zusammenhang mit der geselligen Unterhaltung, wobei auch das kunstvolle Spiel mit der Sprache zur Unterhaltung beiträgt.201 Insbesondere in der petrarkistischen Lyrik ist das erotische Spiel mit dem sprachlichen Spiel verbunden, so in Hofmannswaldaus anaphorischem Hymnus »Auff den Mund«, in dem die ersten acht Verse jeweils mit dem Ausruf »Mund!« einen preisenden Relativsatz aus preziösen Metaphern enleiten, um dann in einer Variation zu kulminieren: Mund! Ach corallen-mund / mein eintziges ergetzen! Mund! laß mich einen kuß auff deinen purpur setzen.202
Der Dichter gibt sich hier als spielerischer Liebes- und Wortkünstler zugleich. Bis in die Anakreontik wird ein solches geistreiches Spiel weiter gepflegt, verdrängt wird es jedoch durch Poetiken, die den natürlichen Ausdruck des Individuums und die Ausblendung der menschlichen Kunst privilegieren.
197 198 199 200 201
Enzensberger 1999a. Zitat: vorderer Klappentext. Duncan 2003. Politycki 1999, S. 373. Kirchhoff 2002. Vgl. Brecht 1988–2000, Bd. 16 (Dreigroschenroman). S. u., S. 646–648. Zur Tradition des dichterischen Spiels mit Verweisen auf einschlägige Literatur insbesondere zur deutschen Tradition vgl. Matuschek 1998. Zum Spiel als anthropologische Konstante vgl. Huizinga 1949. Zur Unsinnspoesie als Spiel vgl. Liede 1992. 202 Hofmannswaldau 1961a, V. 9 f.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Erst im 20. Jahrhundert werden solche Techniken wieder aufgegriffen, vor allem in der Nachfolge Wittgensteins, dessen Philosophische Untersuchungen das Experiment mit dem »Sprachspiel« anregten und die philosophische Legitimation lieferten.203 Das gemeinschaftlich performative Potenzial der Metapher vom »Sprachspiel« nutzte vor allem die Wiener Gruppe,204 wobei Gerhard Rühms Erinnerungen zufolge das Spiel als poetologische Metapher eine gruppenspezifische, zwischen ›Spiel‹ und ›Arbeit‹ sich bewegende Poetik hervorbrachte: 1956 entstanden die ersten gemeinschaftsarbeiten. artmann stöberte in seinen grammatiken herum […] jeder brachte geeignetes material an (bevorzugt waren anfangs ältere konversationsbücher), wir spielten uns aufeinander ein, warfen uns die sätze wie bälle zu. […] nicht zuletzt aus diesen »poetischen gesellschaftsspielen« (den gemeinschaftstext ›stern zu stern‹ von artmann, bayer und mir machten wir nach einer vorher vereinbarten spielregel) entwickelte sich schliesslich eine bewusste gemeinsame auseinandersetzung mit dem material sprache überhaupt, wie sie dann achleitner, bayer, wiener und ich in sitzungen intensiv betrieben.205
Die Metapher des ›Spiels‹ ermöglicht vom semantischen Spiel mit dem Spiel bis hin zur Aleatorik die unterschiedlichsten Kombinationen, wie in Rühms Gedicht »darum spiel ich« deutlich wird, dessen zweite und letzte Strophe hier zitiert sei:206 darum spiel ich öfters fussball handball kopfball und ballett roll von einem ort zum andern nett fett bett adrett
Das Spiel wird hier zum sprachregelnden Prinzip. Nicht mitspielen durfte Ernst Jandl – er war »draußen […], nie drin gewesen, keine Figur in einem gemeinsamen Spiel«.207 Er entwickelt eine eigene Variante, die das Spiel als Konstante der Dichtung wertet und Dichtung für Kinder miteinschließt, »Spielerei« aber ausschließt: Ich verstehe unter dem Spiel mit Sprache eine Voraussetzung für Poesie überhaupt, jede Art Poesie und zu jeder Zeit. Die Sprache wird dabei ihrer nützlichen Funktion, die sie im Alltag besitzt, mehr oder minder enthoben. Mit ihren Bestandteilen, den Figuren dieses Spiels, sind bestimmte, im Alltag nicht übliche Züge und Kombinationen obligat oder gestattet, und zwar auf Grund von poetischen Spiel203 Wittgenstein 1984, bes. S. 277–281 und S. 287 f. (Philosophische Untersuchungen, 66–71, 83–84 und passim). Wittgenstein steht mit seiner Fokussierung des ›Spiels‹ in der Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht allein. Vgl. Gadamers Bestimmung der Kunst mittels des Spiels in »Wahrheit und Methode« (Gadamer 1975, S. 97–161; Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation). 204 Vgl. Oswald Wieners Bericht von der Bedeutung Wittgensteins für das Dichten der Wiener Gruppe (Wiener 1987). 205 Rühm 1985, S. 22 f. 206 Ebd., S. 48. 207 Jandl 1997, S. 305 (Von Konrad Bayer).
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regeln. Das Spiel ist auf ein Ziel gerichtet; das unterscheidet es in jedem Fall von Spielerei.208
Die Metapher des Spiels ermöglicht hier eine umfassende Universalpoetik, die der Epochenabfolge ein alternatives Modell gegenüberstellt. Die anthropologische Konstante des Spiels wirkt zusammen mit der anthropologischen Konstante der Sprache, um dem Dichter die schier unendlichen Möglichkeiten gespielter und noch nicht gespielter Sprachspiele zu eröffnen. Eine radikale Erweiterung der Möglichkeiten sieht Jandl zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Werk von Gertrude Stein, James Joyce, August Stramm, Kurt Schwitters, Hans Arp: Sie manifestiert sich in der »Auflösung […] so gut wie aller innersprachlichen Bindungen, die der literarische Text […] bis dahin mit der Alltagssprache gemein hatte«.209 Verbindungsmetaphorik dient hier zusammen mit Behältermetaphorik der Markierung einer grundlegenden Veränderung der Struktur der textimmanenten Sprache und ihres Verhältnisses zu einer Sprache, die nun als ›textextern‹ konzipierbar ist. Jandl konzeptualisiert dies als »Erweiterung des Spielraums«, die dem Dichter eine neue »Freiheit« bietet, zugleich aber eine neue Pflicht auferlegt: Die gewonnene Freiheit für die aktiv Partizipierenden ist groß, aber nicht grenzenlos. Für die Puristen etwa beinhaltet sie die Abstinenz von den meisten der bisher praktizierten Spielregeln. Das führt zu einer neuen Art von Nötigung: die Hervorbringung von Kunst wird weitgehend identisch mit der Erfindung neuer Spielregeln.210
Die im Idealismus etablierte Autonomietopik erfüllt hier eine bedeutende Rolle in der Definition experimenteller Literatur im 20. Jahrhundert. Sie wird im Zeichen Wittgensteins auf die Sprache bezogen und erhält in der Zusammenwirkung mit der Metapher des Spiels eine gänzlich andere Wertigkeit. Die antagonistischen Traditionen der Philosophie und der Rhetorik speisen hier eine Poetik, die philosophische Gesetze und rhetorische Wirkungsfunktion spielend außer Kraft setzt. Der Preis einer Literatur, die sich nicht an etablierte Konventionen hält, sondern sich auf die Erfindung immer wieder neuer »Spielregeln« verpflichtet, ist der Verlust des Kontakts mit dem Publikum, das zwangsläufig die Spielregeln nicht kennt. Ein so verstandenes Spiel ist demnach denkbar weit von einer Unterhaltung der ›ganzen Welt‹ entfernt, die sich zum Ziel setzt, die bestehenden Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen. ›Unterhaltung‹ und ›Spiel‹ bieten somit ein enormes Spektrum an Möglichkeiten, innerhalb dessen sich der Dichter profilieren kann. In der gegenwärtigen deutschen Literaturszene erhält die Unterhaltung derzeit einen höheren Stellen-
208 Ebd., S. 188 (Anmerkungen zur Dichtkunst, Spiel mit Sprache). 209 Ebd., S. 189. 210 Ebd.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
wert; es steht daher zu erwarten, dass sich in den nächsten Jahren innerhalb dieses Spektrums eine erhebliche Vielfalt herausbilden wird.
8. Wettstreit und Kunst In The Language Instinct diskutiert Stephen Pinker diverse Erklärungen für die Entwicklung des immens komplexen Sprachsystems. Eine davon lautet ›produktiver Wettstreit‹: »Some anthropologists believe that human brain evolution was propelled more by a cognitive arms race among social competitors than by mastery of technology and the physical environment.«211 Auch für die Dichtung ist diese These diskutierbar, zumal die Dichtung in vielen Zeiten realiter mit wettkämpferischen Praktiken assoziiert wurde und der Wettstreit zu den grundlegendsten poetologischen Topoi gehört. So bietet Scaliger in seiner Poetik Poetices libri septem mehrere Kapitel über klassische Sportwettkämpfe, einschließlich der Olympischen Spiele;212 Opitz bekräftigt seine Ausführungen über die Notwendigkeit der Übung im Dichten durch einen Vergleich mit dem Ringen und Fechten;213 und Gottsched diskutiert als These den möglichen Ursprung der Dichtung in der wettstreitenden Nachahmung des Vogelgesangs: Diejenigen, welche vor andern glücklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern: und weil man sie gern hörete, so legten sie sich desto eifriger auf dergleichen Melodeyen, die gut ins Gehör fielen; bis endlich diese vormaligen Schüler des wilden Gevögels, bald ihre Meister im Singen übertrafen.214
Die europäischen Literaturen jedenfalls sind ohne den kunstfördernden Wettstreit undenkbar. Die griechische Dichtung florierte in performativen Wettkämpfen und schriftlichen Überbietungstopoi;215 die römische Dichtung orientierte sich wetteifernd am älteren Vorbild;216 und die Renaissance etablierte den Wettkampf mit den Alten, um dessen Strukturen dann auf 211 Pinker 1995, S. 368. Die Alternativen schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus. 212 Scaliger 1994–2003, Bd. 1, S. 306–353 (1. Buch, 22.–34. Kapitel; Die Spiele u. a.). Der Übergang zwischen ›Spiel‹ und ›Wettstreit‹ ist fließend. 213 Opitz 1966, S. 54 (Kap. 8). 214 Gottsched 1962, S. 68. 215 Vgl. Griffith 1990. 216 Gerade für den Prozess der Nachahmung wird der Wettstreit als Mittel empfohlen, nicht nur beim Etablierten stehenzubleiben, sondern aus eigener Kraft darüber hinauszugelangen. Aus dem Prinzip der Notwendigkeit des Wettstreits lässt sich sogar die auf die ›Natur‹ sich berufende Genieästhetik herleiten, wie aus Quintilians Ausführungen zur Notwendigkeit der Überbietung hervorgeht: »Alles, was einem anderen ähnlich ist, [ist] zwangsläufig geringer […] als das Nachgeahmte: so etwa der Schatten geringer gegenüber dem Körper, das Abbild gegenüber dem Gesicht und das Spiel der Schauspieler gegenüber dem echten Gefühlsausdruck. Dies gilt auch von den Reden; denn in denen, die wir zum Vorbild nehmen, steckt Natur und echte Kraft, dagegen ist alle Nachahmung etwas Gemachtes und paßt sich einem fremden Plan an« (Quintilian 1995, Bd. 2, S. 488 f.; X, 2, 11).
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den Wettkampf zwischen den Neueren zu übertragen. Für die antik gegründete deutsche Literatur hat der Wettstreit als poetologischer Topos eine nicht zu überschätzende Bedeutung, und zwar weit über die Poetik des Barock hinaus. Eine starke Ausprägung erfährt er in Klopstocks kulturnationaler Deutscher Gelehrtenrepublik, insbesondere in der abschließenden Vision von der Zerstörung nicht-deutscher Kultur und der Etablierung einer kulturellen Vorherrschaft der Deutschen.217 Hier bildet der binäre Topos von ›Feder‹ und ›Schwert‹ ein Medium des Übergangs zwischen Schrift und Tat.218 Andersherum konstruiert Eichendorff mittels dieses Topos eine Tradition, derzufolge die mittelalterlichen »Ritter vom Schwert« durch die modernen »Ritter von der Feder« abgelöst wurden,219 und die große deutsche Literatur gestaltet sich entsprechend als Kampf: Welch ein titanisches Ringen der Geister […], wie viele mächtige Gedanken, Lebensanschauungen, ja ganz neue geistige Provinzen haben z. B. Herder, Göthe, die Romantiker entdeckt und erstritten! Es ist seit Klopstock ein beständiger Eroberungskrieg, fast Alle setzten unbedenklich ihr Leben an die Sache; Manche, wie Heinse, Hölderlin, blieben verblutend auf dem Kampfplatz.220
Dass dies als dezidiert männliche Poetik konzipiert ist, zeigt der Kontext: Es geht um die »Grundverschiedenheit beider Geschlechter«, die sich auch in der Literatur manifestiere: »Die Frauen dagegen sind, wie billig, daheimgeblieben, höchstens hie und da im Hintertreffen bemerkbar.«221 Der dichterische Wettstreit ist hier untrennbar verbunden mit der Vorstellung vom männlichen Kampf. Geradezu zum Grundprinzip geistiger Tätigkeit avanciert der Wettkampf bei Nietzsche. In seinen altphilologischen Studien zeigt sich Nietzsche fasziniert vom berühmten Agon zwischen Homer und Hesiod222 und erklärt: »Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspädagogik.«223 Unter Bezug auf den Geniebegriff projiziert er dies als Gegenmodell zur »›Exclusivität‹ des Genius im modernen Sinne«: In der »natürlichen Ordnung der Dinge« gibt es immer »mehrere Genies […], die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der 217 Klopstock 1974 ff., Abt. Werke, Bd. 7/1, S. 227–234 (Gelehrtenrepublik, Geschichte des lezten Landtages, 12. Morgen). 218 Explizit rekurriert Klopstock auf diesen Topos, wenn er die Streitsüchtigkeit der Gelehrten satirisiert: Die ›Nachtwächter‹ der Gelehrtenrepublik haben die Gespenster jener Gelehrten zu kontrollieren, »welche durch eine spize oder scharfe Feder im Zweykampf erlegt« wurden (ebd., S. 31; Die Geseze, Von den Nachtwächtern). Zum Topos s. o., S. 22. 219 Eichendorff 1985–1993, Bd. 6, S. 293 (Die deutsche Salon-Poesie der Frauen). 220 Ebd., S. 293 f. 221 Ebd., S. 294. 222 Nietzsche 1967 ff., Abt. 2, Bd. 1, S. 271–337 (Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf ). 223 Ebd., Abt. 3, Bd. 2, S. 283 (Fünf Vorreden, Homer’s Wettkampf ). Die grundlegende Bedeutung des Wettstreits für die Ausbildung des jungen Redners betont und erläutert Quintilian (1995, Bd. 1, S. 36–39; 2, 22–26).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Grenze des Maaßes halten«.224 Dass hiermit ein rhetorisches Modell in den Vordergrund rückt, erhellt aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen, wenn er provokativ erklärt, dass Gelehrte vom »Trieb zum Widerspruch« geleitet werden: »Der Kampf wird zur Lust und der persönliche Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit nur der Vorwand ist.«225 Die Variationsbreite des Wettkampftopos bei Nietzsche deutet auf die enorme Produktivität und Anschlussfähigkeit dieses Metaphernkomplexes hin, der sich ohne festen moralischen Bezugspunkt zwischen Spiel und Krieg, geistiger Interaktion und physischem Kampf bewegt; es bildete sich hier eine Tradition der Verflechtung von Wettkampf und Kultur, auf die man in der Nazizeit aufbauen konnte. Der destruktive Einsatz des Wettkampftopos in der Nazizeit und die Dominanz der idealistisch fundierten Autonomieästhetik haben vermutlich dazu beigetragen, dass der Wettkampf in der Nachkriegsliteratur als Topos in den Hintergrund trat, während er in Sport und Wirtschaft durchaus als förderlich gesehen wurde. Gegenwärtig findet er jedoch auch in der Literatur wieder Akzeptanz – man denke an die Wettbewerbe, mit denen sich Verlage, literarische Institutionen und Autoren profilieren.226 Möglicherweise zeigt gerade die Allianz von Sprache, Wettstreit und Kommerz die anthropologische Konstante. Denn zumindest topisch gibt es diese Verbindung schon im Barock, so wenn Sigmund von Birken die Leistung ausländischer und deutscher Romanautoren mit eristischer und kaufmännischer Metaphorik erörtert: Zu unsern zeiten / haben die gelehrtste federn sich gleichsam in einen wettstreit eingelassen / welche die andere in dieser art Schriften überkünstlen könnte. […] zu zeigen / daß auch Teutschland grosse geister habe / die etwas aus eigenem gehirn herfür bringen können / haben die zween teure Palmgenossen [Dietrich von Werder und Wolf Helmhardt von Hohberg] […] ihre eigene Sinnbruten / so preisbar an das tagliecht gestellet / daß sie nicht allein denen ausländischen die wage halten / sondern auch vielen derselben fürwägen können.227
Bezeichnenderweise ist sein Verb ›überkünsteln‹ in der wettstreitorientierten Bedeutung »durch kunst überwinden« nur bis zum 18. Jahrhundert belegt, 224 Nietzsche 1967 ff., Abt. 3, Bd. 2, S. 283 (Fünf Vorreden, Homer’s Wettkampf ). 225 Ebd., Bd. 1, S. 391 (Unzeitgemäße Betrachtungen III, 6). 226 Auch in der Literaturgeschichtsschreibung ist der Topos wieder respektabel geworden. Schlaffers »kurze Geschichte der deutschen Literatur« kann deshalb so kurz ausfallen, weil er das Wettkampfprinzip unter dem Aspekt der ›Verspätung‹ zugrundelegt und die Geschichte auf die ›Sieger‹ – den Kanon – fokussiert (vgl. Schlaffer 2002, bes. S. 155–157). 227 Birken 1669, S. )( ivv - )( vr. Es geht in Birkens Vorrede zu Anton Ulrich von Braunschweigs Roman »Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena« um verschiedene Untergattungen von »Historien oder Geschichtschriften« (ebd., S. )( iiir) und hier insbesondere um die Gattung der »Geschichtgedichte«, die er von »Geschichten« und »Gedichtgeschichten« abgrenzt (ebd., S. )( iiiv). Birkens Vorrede zur Beziehung zwischen Geschichte und Poesie ist ein bedeutender Beitrag zur deutschen Romantheorie, der noch vor Pierre Daniel Huets maßgebendem »Traité de l’origine des romans« von 1670 erschien.
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um dann vom »üblen sinne: durch übermäszige anwendung kleiner künste […] etwas verderben« verdrängt zu werden und schließlich aus der deutschen Sprache zu verschwinden.228 Der Topos vom dichterischen Wettstreit beschränkt sich keineswegs auf die antike Tradition, sondern ist in ritterlicher Ausprägung auch für die vulgärsprachliche Dichtung des Mittelalters kennzeichnend. Ein hochinteressanter Text ist in diesem Zusammenhang der Wartburgkrieg, ein sich um den Topos des Sängerwettstreits konstituierendes Konglomerat von Dichtungen in der Nachfolge Wolframs von Eschenbach.229 Die Dichtung von den wettsingenden »meistern« am thüringischen Hof diente den wandernden Sangspruchdichtern als Ursprungsmythos und den Meistersingern als identitäts- und formstiftende Maßgabe; die Wartburgkrieg-Töne tradierte man bis ins 17. Jahrhundert.230 In der Romantik wurde dann der unterliegende (vermutlich fiktive) Sänger Heinrich von Ofterdingen zum Dichtertypus schlechthin: Seine Kunst erfüllte sich nun individuell und innerlich.231 Die Herausbildung der romantischen Ästhetik lässt sich auch an anderen Uminterpretationen des Wettstreittopos verfolgen: so in Goethes Elegie Herrmann und Dorothea, in welcher der kunstorientierte Wettlauf mit dem hoffnungslos überlegenen Homer einem schaffenspsychologisch ›befreiten‹ Lauf des naturverbundenen Dichters mit den Freunden weicht,232 oder in August Wilhelm Schlegels Auseinandersetzung mit Klopstocks Wettstreitpoetik in der Rezension von dessen Grammatischen Gesprächen im Athenaeum.233 Anstelle der rhetorisch ausgerichteten, maskulinen Körpermetaphorik etabliert sich im Zeitalter der Romantik eine philosophisch-religiös bestimmte, eher feminine Metaphorik der Seele und des Gefühls. Statt die Förderung der Kunst in der gemeinschaftlichen Konkurrenz zu suchen, entdeckt man sie im individuellen ingenium. Im wirklichen oder metaphorischen Wettstreit profiliert sich der Dichter – oder auch eine Gruppe beziehungsweise Nation von Dichtern – durch die systematisch entwickelte Kunst. Er entwickelt seine dichterischen Fähigkeiten, indem er von anderen lernt und sich mit ihnen misst, immer danach strebend, sie zu übertreffen. Der Dichter kann seine Kunst jedoch auch durch Vergleiche mit anderen Künsten darstellen, wodurch typischer228 Zitate Grimm 1984, Bd. 23, Sp. 357 f. Im Duden 1999 nicht verzeichnet; vereinzelte Belege des Partizips in Google.de. 229 Wartburgkrieg 1858; s. a. Wartburgkrieg 1939. 230 Vgl. Boor/Janota 1997, S. 358–362. 231 Vgl. Novalis, »Heinrich von Ofterdingen« (Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 193–334) und E.T.A. Hoffmann, »Der Kampf der Sänger« (Hoffmann 1985 ff., Bd. 4, S. 332–382; Die Serapionsbrüder, 2. Bd., 3. Abschnitt). 232 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 622 f. (Herrmann und Dorothea, V. 27–30). S. u., S. 442 f. 233 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, S. 3–69 (A.W. Schlegel: Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche). Klopstocks »Grammatische Gespräche« waren 1794 erschienen.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
weise bestimmte Fähigkeiten des Dichters oder Aspekte seiner Kunst in den Vordergrund rücken – die imaginative Gestalt, der Klang, die Formgebung. So projizieren sich Dichter als Kämpfer oder Sportler, aber naheliegender noch als Sänger oder Komponisten, Maler oder Bildhauer, Tänzer oder Artisten. Die poetologische Tradition stellt reichhaltige Verbindungsmöglichkeiten zur Verfügung: Vergleiche mit der Malerei können sich auf Platon, Aristoteles oder Horaz (»ut pictura poesis«234) berufen, Vergleiche mit der Musik auf den Topos vom Ursprung der Dichtung in der Musik, auf die praktische Verbindung im Gesang und auf die Rhetorik, die noch das 18. Jahrhundert hindurch zwischen Dichtung und Musik vermittelte, und Vergleiche mit der Bildhauerei auf den Pygmalion-Topos.235 Dass auch hier oft Konkurrenz im Spiel ist, zeigt die mittelalterliche Dichtung: Die Sänger-Dichter konkurrierten nicht nur mit Kollegen um Zuwendungen vom Publikum, sondern auch mit anderen Fahrenden. Durchsetzen musste man sich gegen »Epenerzähler, Ringkämpfer, Seiltänzer, Instrumentalmusiker usw.«,236 und jene Topoi, die in Antike und Neuzeit immer wieder zur Identitätsstiftung dienen – die Überlegenheit der eigenen Kunst und der eigenen Tradition – lassen sich auch in diesen Zusammenhang einordnen. Wenn Wolfram von Eschenbach sich in der letzten Strophe seines Tagelieds »Den morgenblic« auf die Maler bezieht, lässt sich das sowohl als Intensivierung der dargestellten Verflechtung der Körper wie auch als Profilierung der eigenen, überlegenen Kunst verstehen: ir liehten vel diu slehten kômen nâher. sus der tac erschein. weindiu ougen, suozer frouwen kus. sus kunden si dô vlehten ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. swelh schiltær entwurfe daz geselleclîche als si lâgen, des wære ouch dem genuoc. (Ihre leuchtenden, glatten Körper | kamen sich näher. Da wurde es Tag. | Weinende Augen, süßer Frauenkuß. | So verflochten sie | Mund, Brust, die Arme, die blanken Beine. | Wenn ein Maler das entwerfen könnte, | wie sie in der Umarmung dalagen, es wäre wohl sein Meisterstück. Oder: Wenn ein Maler das darstellen wollte, | wie sie vereinigt dalagen, das wäre zu schwierig für ihn.)237 234 Horaz 1984, S. 26 f. (V. 361). 235 Vgl. zu dieser poetologischen Metapher ausführlich Mülder-Bach 1998. 236 Brunner 2003, 243. Vgl. auch Boor/Janota 1997 zum gesellschaftlichen Status der Sangspruchdichter (bes. S. 352). 237 Wolfram 1995, Str. 3, V. 2–8 (die Strophe hat insgesamt 10 Verse). Wiedergegeben ist hier vollständig die Übersetzung von Kuhn (Kasten 1995, S. 535–537). Beigegeben ist jedoch eine alternative Übersetzung (Müller, U. 1993, S. 131), da die Meinungen über die Bedeutung auseinandergehen; vgl. Kastens Anmerkungen in Wolfram 1995, S. 1054 f. Eine Rechtfertigung der Übersetzung »dem [Maler] wäre allzu viel abgefordert« liefert Wapnewski in seiner Interpretation des Gedichts (1972, S. 17–40, bes. S. 30–32 und 34 f., Zitat S. 40); er fasst den Bezug zur Kunst des Malers allerdings nicht als Wettstreit, sondern als Verwandlung
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Wie immer man die letzten Verse interpretiert, zeigt Wolfram hier seine Kunst, den Liebesakt durch Worte zu evozieren. Poetologisch aufgefasst, trägt dieses Gedicht performativ aus dem Blickwinkel des Dichters zur Debatte bei, die Lessings Laokoon in Auseinandersetzung mit Theoretikern fortführt.238 Während die Abgrenzung von anderen Künsten der eigenen Kunst Profil verleiht, ermöglicht die Identifikation mit einem Künstler anderer Gattung eine ungewohnte Perspektive auf die Dichtkunst sowie das Experiment mit neuen Dimensionen. In seinem Band Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich ordnet sich Peter Rühmkorf in die Tradition der Dichtung ein, projiziert sich jedoch zugleich als Artist, der die topische Vertikalmetaphorik in ein akrobatisches Wagnis verwandelt:239 Hochseil Wir turnen in höchsten Höhen herum, selbstredend und selbstreimend, von einem I n d i v i d u u m aus nichts als Worten träumend. Was uns bewegt – warum? wozu? – den Teppich zu verlassen? Ein nie erforschtes Who-is-who im Sturzflug zu erfassen. Wer von so hoch zu Boden blickt, der sieht nur Verarmtes/Verirrtes. Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt, wer sie für wahr nimmt, wird es. Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier, v i e r f ü ß i g – vierzigzehig – Ganz unten am Boden gelten wir für nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Die Loreley entblößt ihr Haar am umgekippten Rheine... Ich schwebe graziös in Lebensgefahr grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.240
Das Ich ist hier interpretierbar als Dichter, der seine Kunst zusammen mit seinem Gedicht – dem »Astralleib« – vorführt, wobei die Identität des Künstlers in der Schwebe bleibt: zwischen Dichter und Gedicht, »wir« und der »sinnlichen Liebesszene« in ein »Sinnbild der Liebe« (ebd., S. 35). Vgl. die Skulptur-Analogie in »Tristan« (Gottfried 1984, Bd. 2, S. 494 f.; V. 18200–18211). 238 Lessing 1985 ff., Bd. 5/2, S. 11–206 (Laokoon). 239 Vgl. zur Projektion des Autors als Akrobat in diesem Gedicht Selbmann 1994, S. 219–222. 240 Rühmkorf 1975, S. 178 (21 Gedichte). Die Bedeutung dieses vielzitierten Gedichts auch für Rühmkorf selbst geht daraus hervor, dass er es in den anlässlich der Expo 2000 zusammen mit Robert Gernhardt verfassten Band »In gemeinsamer Sache« aufnahm (Gernhardt/Rühmkorf 2002, S. 12, im Abschnitt »Kunst«).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
»ich«, »Individuum« und »nichts als Worten«. Die suggestive Wirkung des Titels sensibilisiert den Leser für Spannungen, die das Wir/Ich kunstvoll ausbalanciert: turnend, träumend, schwebend, »grad«-wandernd, astral und körperlich, in Sturz und Flug. Der platonische Topos vom Wahnsinn des Poeten ist entgöttlicht, aber im »Astralleib« verfeinert, im »Klavier« musikalisiert, im »Spielen« moralischen Argumenten entrückt und mit vierzig Zehen – die »vierfüßige« metrische Struktur erweiternd – den mathematischen Naturgesetzen enthoben. Für den Leser bedeutsam ist der Topos von der Lügenhaftigkeit der Dichtung: Will er nicht als vernunftbefangener Beobachter ›auf dem Teppich bleiben‹, so sollte er das Gedicht »für wahr« nehmen. In seiner Rolle als Artist ist der selbstbewusst »verrückte« Dichter ganz Künstler, körperlos körperlich, stark durch Grazie. Im schwerelosen Gedicht kann er selbst die Spannung zwischen romantischer Identität und moderner Ichgefährdung sprachlich aushalten.
9. Beruf Die berufliche Tätigkeit des Menschen bietet einen reichen Fundus für poetologische Metaphern. So implizieren viele Metaphern, die den Prozess des Dichtens als ›Bearbeitung‹ des Sprach-›Materials‹ darstellen, – besonders in der frühen Neuzeit – handwerkliche Aktivitäten: wenn der Dichter beispielsweise die ›Rede bindet‹241 oder – der noch heute gängigen Metapher zufolge – ›Verse schmiedet‹. Demgegenüber evoziert die Metapher vom Dichter als Gärtner eine Tätigkeit, die ein selbständiges organisches Wachstum fördert, eine ›Blüte‹ hervorbringt oder traditionsstiftend wirkt, so wenn Gottfried von Straßburg Heinrich von Veldeke als Begründer der deutschen Dichtung feiert: »er pfropfte das erste Reis | in deutscher Sprache« (»er inpfete daz erste rîs | in tiutischer zungen«).242 Als imaginärer Zimmermann präsentiert sich Jakob Michael Reinhold Lenz am Anfang seiner Anmerkungen übers Theater, um in der Phantasie des Lesers einen zeitübergreifenden Kontext für seine Ausführungen zu erschaffen: »Ich zimmere in meiner Einbildung ein ungeheures Theater, auf dem die berühmtesten Schauspieler alter und neuer Zeiten nun vor unserm Auge vorbeiziehen sollen.«243 Indem er imaginär in die Rolle des Theaterbauers schlüpft, gibt er der Theorie eine konkrete Gestalt. Über solche Konkretisierungen der dichterischen Tätigkeit hinaus schafft die Frage des ›Berufs‹ einen spannungsvollen Vorstellungskomplex, der den Dichter zur privaten und öffentlichen Legitimation herausfordert 241 Vgl. Birken 1973, Titel. 242 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 290 (V. 4738 f.). 243 Lenz 1987, Bd. 2, S. 642 (Anmerkungen übers Theater).
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und zugleich viele Möglichkeiten der Selbstprojektion bietet. Das Selbstverständnis des Dichters hinsichtlich seines Berufs ist in der Gegenwart vordergründig eindeutig: Er ist ›freier Schriftsteller‹. Dabei ist der Zusatz ›frei‹ jedoch keineswegs stabil, und auch die Legitimation über das Schriftstellertum ist keineswegs selbstverständlich. So konstatiert Hans Magnus Enzensberger, man könne »schwerlich in einem Paß lesen, daß jemand Dichter ist«, und er geht davon aus, dass sich der Dichter beruflich »andere Beschäftigungen« suchen müsse, um die Dichtung als wahren »Kern« seines Schaffens zu bewahren.244 Es tut sich hier ein Spielraum auf, in dem die Bestimmung der eigenen Tätigkeit von der physischen Arbeit über die Sicherung des Lebensunterhalts bis hin zu ideellen Werten geht, die dem Broterwerb gerade entgegengesetzt sind.245 Entsprechend lässt sich das Dichten unter Bezug auf alle möglichen Berufe imaginieren, die jeweils andere Aspekte des Dichters und seiner Bedürfnisse beziehungsweise Ideale fokussieren sowie auch Aspekte des fertigen Werkes oder der Wirkung. Dass die Frage des Berufes immer auch eine Frage der gesellschaftlichen Legitimation ist, geht vor allem aus der Problematik weiblichen Dichtertums hervor. So verfügte beispielsweise Marie von Ebner-Eschenbach aufgrund ihres aristokratischen Status über die finanziellen Mittel und die Muße zum Schreiben, genau dieser Status stand jedoch ihrem Bestreben, dem Schreiben als ›Beruf‹ nachzugehen, im Wege, da ihr Mann und die Verwandtschaft einen ihrem Status und Geschlecht angemessenen Lebenswandel erwarteten.246 Zudem erfuhr sie ihr Geschlecht auch generell als Hürde in Bezug auf ihren Status, wie aus einem Tagebuchvermerk anlässlich ihrer Arbeit am Lustspiel Männertreue hervorgeht: Wenn dieses Lustspiel gelänge u. einen guten Erfolg erringen würde hätten die Meinen vielleicht nichts mehr einzuwenden gegen die Ausübung meines Berufes. Das ist er ja doch. Aber freilich ist der künstlerische Beruf einer Frau überhaupt ernst zu nehmen? Wenn er sich nicht gleich von allem Anfang an, durch eine unwidersprechlich große Leistung kundgibt, wer wird an ihn glauben? Ein Suchen u versuchen, tasten, anklopfen – das ist nichts.247
Die Vorstellung von einem ›Beruf‹ ist hier der Maßstab, an dem EbnerEschenbach ihre eigene Identität als Schriftstellerin misst; in Gegensatz zur ›innerlich‹ gefühlten ›Berufung‹ bedarf der ›Beruf‹ jedoch der öffentlichen Anerkennung. Häufig definiert sich die poetologische Rolle des Dichters unter Bezug auf die eigene empirische berufliche Rolle – wenn auch typischerweise in abgewandelter Form. Dies lässt sich an Gottfried Benns Entfaltung seiner 244 245 246 247
Enzensberger 1999b, Buch, S. 4 f. Vgl. zum Thema des ›Dichterberufs‹ Selbmann 1994, passim. Vgl. Fliedl 1988. Ebner-Eschenbach 1991, S. 199 (Tagebucheintrag 22.7.1873).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Labormetaphorik verfolgen. In einem Brief vom 2. Januar 1943 schreibt er dem Freund Friedrich Wilhelm Oelze: Nehmen Sie also Grüsse […] von meinem Schreibtisch, an dem ich immer noch sitze; aus meinem Laboratorium, dem Laboratorium für Worte, in dem ich in Anbetracht einiger dienstfreier Tage tätig bin, bestrebt, sie so zu laden und zu füllen, dass ihre Sprengwirkung durch einige Jahrzehnte geht.248
Explizit wird hier der Schreibtisch des nebenberuflichen Dichters mit einem Raumtypus identifiziert, der zu seiner dienstlichen Tätigkeit als praktischer Arzt in Bezug steht; abgewandelt ist jedoch die Form der Tätigkeit (Labor statt Praxis) sowie auch die fachliche Disziplin (angewandte Physik statt Medizin). In dem 1943/1944 verfassten Prosastück Lyrik249 erscheint die Metapher in verallgemeinerter Form. Die Rede ist nun vom »Lyriker«, und der zeitliche Anlass für die Projektion der Wirkung durch »Jahrzehnte« – das neue Jahr – ist ausgeblendet. Die Arbeit mit dem Wort wird jetzt noch vielfältiger ausgestaltet (›modellieren‹, ›fabrizieren‹, ›öffnen‹, ›sprengen‹, ›zertrümmern‹), während die »Sprengwirkung« zur »Spannung« geworden ist. Indem Benn sein Dichten als beruflich-wissenschaftliche Arbeit imaginiert, gibt er dieser Tätigkeit eine dem Brotberuf zumindest ebenbürtige Bedeutung und stimuliert zugleich produktive Vorstellungen von der Natur der dichterischen Arbeit und der erhofften Wirkung des Gedichteten. In der verallgemeinerten Formulierung wird die Metapher zur Bestimmung des modernen Lyrikers schlechthin. Bedeutsam für die poetologische Selbstbestimmung sind als Grundtypen die empirischen Rollen, die im Laufe der Geschichte den Status und Lebenswandel sowie die Wirkungsweise der Dichter bestimmt haben, so der Sänger oder der Gelehrte. Eine Unterteilung der deutschen Literatur in die drei Großepochen Mittelalter, frühe Neuzeit, Neuzeit ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, denn in Bezug auf Beruf, Sesshaftigkeit sowie Gelehrsamkeit ergeben sich je nach gesellschaftlichem Kontext grundlegend andere Konstellationen – wenn auch mit vielen Variationen sowie Kontinuitäten. Einerseits wird die eigene empirische Rolle reflektiert, andererseits projizieren sich Dichter in frühere Rollen, um den gegenwärtigen Möglichkeiten Alternativen entgegenzusetzen sowie ältere Dichtungsweisen aufzugreifen. Im Mittelalter sind die Dichter typischerweise nicht sesshaft, auch wenn manche eine Zeit an einem kunstfreundlichen Hof verbringen. Die ständische Herkunft ist bei den meisten nicht geklärt, und neben den wenigen gut etablierten und auf uns gekommenen Dichtern gab es eine nicht abzuschätzende Zahl von fahrenden Sängern, die ein äußerst ungesichertes Leben führten. Von grundlegender Bedeutung ist die Beziehung zu Mäze248 Benn 1977, S. 326 (Benn an F.W. Oelze, 2.1.1943). 249 Benn 1986–2003, Bd. 4, S. 355 (Lyrik, 1943/44); s. o., S. 302.
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nen250 und zum Publikum, da die Sänger von ihnen abhängig sind. Eine wichtige Rolle für die Selbstlegitimation spielt auch der Grad der Gelehrsamkeit. So betont Wolfram von Eschenbach beziehungsweise der textinterne Autor, er sei nicht schriftgelehrt (»ine kan decheinen buochstap«) und habe seinen Parzival ohne die Hilfe anderer Schriften verfasst (»disiu âventiure | vert âne der buoche stiure«).251 Gottfried von Straßburg dagegen hebt das Studium schriftlicher Quellen hervor und setzt mit der Technik des Akrostichons eine Kommunikation auch mit Lesern voraus.252 Wieder anders gibt sich Hartmann von Aue im Iwein, wenn er sich als gelehrten, bücherlesenden Ritter darstellt, der nur dichtet, wenn er nichts Besseres zu tun hat: Ein rîter, der gelêret was unde ez an den buochen las, swenner sîne stunde niht baz bewenden kunde, daz er ouch tihtennes pflac […] (Ein Ritter, der gebildet war und aus Büchern schöpfte (wenn er seine Zeit nicht besser verwenden konnte, pflegte er auch zu dichten) […]253
Hartmann identifiziert sich hier vornehmlich mit seinem Rittertum, das ihm primär den notwendigen gesellschaftlichen Status verleiht, und die Gelehrsamkeit stellt er vornehmlich als Attribut seines Rittertums dar. Wenn er das Dichten als Nebentätigkeit kennzeichnet, so lässt sich dies als Bescheidenheitsformel verstehen; zugleich aber dient es dazu, sein Dichten dezidiert von der Tätigkeit fahrender Sänger abzusetzen, die darauf angewiesen sind, sich mit ihrer vorgetragenen Dichtung einen Lebensunterhalt zu verdienen. Insgesamt kann man nicht davon ausgehen, dass die Darstellung der auktorialen Eigenständigkeit oder Gelehrsamkeit eine empirische Tatsache darstellt; vielmehr ist dies wie auch in der Folgezeit ein Topos, der weniger biographische Gegebenheiten als poetologische Werte vermittelt. Die drei Beispiele Wolfram, Gottfried und Hartmann ergeben ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das bis in die Moderne Gültigkeit behält. Der Dichter, der sein Werk schriftlich vermittelt, hat kraft seiner Erstellung eines Textes immer einen potenziellen Bezug zum Gelehrten; dieser lässt sich betonen und im Werk durch Hervorhebung der Schriftlichkeit thematisieren oder aber ausblenden. Gelehrsamkeit geht Hand in Hand mit der zur Schau gestellten Rezeption von älteren Schriften. Zudem wird damit das Dichten tendenziell als intellektuelle Tätigkeit gekennzeichnet. Der Anspruch auf Originalität sowie auch die Fokussierung auf die Inspiration 250 Vgl. grundlegend Bumke 1979. 251 Wolfram 1994, S. 196 f. (Buch 2, Abschnitt 115, V. 27–30). Vgl. jedoch zu dieser hochkontroversen Stelle Bumke 1997, S. 5–8. 252 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 18–21 (Prolog, V.155–166); Akrostichon bes. S. 10–13 (Prolog, V. 1–45). Vgl. Chinca 1993, S. 49–53, und Coxon 2001, S. 24. 253 Hartmann 1992, S. 6 f. (Prolog, V. 21–25).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
oder die Emotionen lässt sich dagegen am ehesten durch die Ausblendung eines Bezugs zur Gelehrsamkeit und zum vorhandenen Schrifttum vermitteln. Nicht weniger bedeutsam ist der Stellenwert des Dichtens innerhalb der Gesamttätigkeit des Dichters. Ein gesellschaftlicher Status, der den Lebensunterhalt ohne Brotberuf sichert und daher unbegrenzt viel Zeit für das Dichten zur Verfügung stellt, ist normalerweise der Aristokratie vorbehalten, die sich dann meist über diesen Status und nicht über das Dichtertum definiert. Für Angehörige niedrigerer Stände impliziert die ausschließliche Tätigkeit als Dichter immer die Abhängigkeit von einem Geldgeber: vom Hof, von einem anderen Mäzen oder von einem kommerziellen Verlag. Typisch ist dagegen auch in der Gegenwart zumeist die Verbindung zwischen dichterischer Tätigkeit und einem anderen Brotberuf oder zumindest Tätigkeiten, die nicht unmittelbar der Produktion von Dichtung dienen (Dichterlesungen, freiberufliche Medien- oder Verlagsarbeit u. ä.). Zu den fortlaufenden Themen der Poetik gehören daher Diskussionen um den Stellenwert des Dichtens in Bezug auf andere Tätigkeiten, die damit verbundenen Zwänge und Frustrationen, und die Problematik der Verbindung von Dichten und materiellem Lohn. In der frühen Neuzeit ist die Beziehung zwischen städtisch bürgerlichen und gelehrten Dichtern keineswegs nur durch Gegensätze gekennzeichnet. Sowohl die Meistersinger als auch die Gelehrten sind sesshaft, verstehen sich als Teil von geregelten Institutionen, organisieren sich in Gruppen und beziehen ihr gesellschaftliches Ansehen aus ihrem Stand und ihrer nichtdichterischen Tätigkeit; beide Gruppen vereinbaren religiöse und weltliche Ziele unter moralischem Aspekt und sehen sich als moralische Autoritäten; beide orientieren sich inhaltlich und formal streng an älteren Vorbildern und konzipieren ihr Dichten als performativen beziehungsweise sprachlichen Wettstreit, bei dem ein zu krönender Dichter ermittelt wird. Die Meistersinger sehen sich primär als Mitglieder ihrer Handwerkszunft. Explizit wird diese auch ins Werk eingebracht, so wenn der Nürnberger Wundarzt und Barbier Hans Folz manche seiner Gedichte und anderen Werke mit Varianten der Formel »spricht hans folcz zu nürmberg barwirer« endet254 oder wenn Hans Sachs sein didaktisches Gedicht Ein Tischzucht mit dem Bezug auf sein eigenes Handwerk beschließt: Nach dem sollt du vom Tisch aufstehn, dein Händ waschen und wieder gehn an dein Gewerb und Arbeit schwer. So sprichet Hans Sachs, Schumacher.255
254 Folz 1960, S. 142 (Item von einem reichen kargen oder vngenügigen man der eins vastags einen armen zu haws lud). Vgl. auch beispielsweise das Ende seines »Hausratbüchleins« (Folz 1961, S. 368). 255 Sachs 1911, S. 69.
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Der formelhafte Abschluss bezeichnet eine empirische Tatsache, ist jedoch gerade dadurch poetologisch bedeutsam, denn das dichterische Werk wird damit in der textexternen Zunftkultur verankert. Es erhält aus dieser Kultur seine Identität, seine handwerklich gediegene Form und seinen moralischen Sinn. Entsprechend beziehen der Dichter sowie auch das Werk ihren Status aus der Institution der zunftmäßig organisierten ›Singschule‹. Der institutionalisierte dichterische Wettstreit dient der systematischen Entwicklung des Könnens und wirkt zugleich gemeinschaftsstiftend. Die Gelehrten messen sich ebenfalls an den anderen Dichtern der unmittelbaren Gruppe, darüber hinaus jedoch schriftlich an der internationalen Konkurrenz. Im Kontext der internationalen Gelehrsamkeit dient die Dichtkunst der systematischen Entwicklung der Nationalkultur, die sich vor allem über die Nationalsprache definiert. Die Dichtung erhielt ihren Sinn daher aus der Aktivität der Sprachgesellschaften, in denen sich die Gelehrten zusammenschlossen, um eine systematische Sprach- und Kulturförderung zu betreiben. Dass die Dichtung auch für die Gelehrten eine Nebentätigkeit ist, wird in den Poetiken von Opitz an betont;256 insgesamt ist bemerkenswert, dass die beruflichen Umstände des Dichters in der frühen Neuzeit ein poetologisch bedeutsames Thema sind. So ist Neukirchs Empfehlung der galanten »mittel-strasse« durchaus pragmatisch motiviert, denn um in der Dichtung wirklich »groß« zu sein, brauchen Dichter über die besondere Begabung hinaus die notwendigen finanziellen und zeitlichen Voraussetzungen. Um sich dichterisch hervortun zu können, benötigen sie »entweder selbst mittel / oder doch auskömmlichen unterhalt«; und sofern sie sich durch ein Amt den Lebensunterhalt verdienen, müssen sie zumindest »bey ihren amts-geschäfften die freyheit haben / daß sie drey oder vier stunden des tages verschwenden dürffen«.257 Wenn Neukirch die Metapher vom »(Zeit) verschwenden« hier mit »freyheit« identifiziert, so ist eine Verbindung hergestellt, die auf die spätere, im Idealismus entwickelte Topik von der ›freien Kunst‹ vorausweist, denn auch dort geht es um die Loskopplung der Kunst von der Lohnarbeit; allerdings hat das ›Verschwenden‹ einen negativen Aspekt, während die idealistische Ästhetik die Kunst höher bewertet als lohnorientierte Aktivitäten. Auch die im Idealismus benutzte Vertikalmetaphorik findet sich in der frühen Neuzeit – allerdings eher mit entgegengesetzter Bewertung der Dichtung. Christian Weise zufolge »wird die Poeterey aestimirt, wenn der Mann etwas anders darneben hat, davon er sich bey Mitteln und bey respect erhalten kan«; nur so kann er erweisen, dass er »neben den Versen was höhers und ansehnlichers studiret« hat, und sicherstellen, dass er »der Verse wegen kei-
256 Vgl. Opitz 1966, S. 3 (Widmung). 257 Neukirch 1961, S. 18–20.
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nem Menschen etwas abbetteln« muss.258 Das Dichten bedarf der externen Legitimation, da es selbst keinen Status verleiht. Einflussreich ist zudem bis ins 18. Jahrhundert die Auffassung Luthers und des Protestantismus, das Wissen sei ein Geschenk Gottes, das nicht zu Geld gemacht werden dürfe; noch 1723 legt ein juristisches Gutachten der Universität Jena fest, den Autoren seien »die herrlichen Gaben […] nicht zu dem Ende verliehen, daß sie damit Geld und Reichtum zusammenscharren und kratzen«, sondern zu dem Zwecke, dass sie »Gottes Ehre befördern und ihren Mitnächsten im Leben erbauen«.259 Diese zunächst theologisch motivierte und dann vom Idealismus aufgegriffene Dichotomie zwischen Dichtung und Geldverdienst macht noch heute den kommerziell interessierten Schriftsteller suspekt. Die Umwandlung des nebenberuflichen Dichters zum hauptberuflichen ›freien Schriftsteller‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erzeugt enorme Spannungen zwischen künstlerischem Anspruch und materieller Wirklichkeit.260 Die graduelle Lösung des Dichtertums von höfischen, zunftmäßigen, akademischen und theologischen Institutionen ermöglicht die Unabhängigkeit von den Zwängen der Auftragsdichtung, der kollektiven Bindung sowie der moralischen Zweckbestimmung; auch die Möglichkeit, in dem sich etablierenden Buchmarkt allein durch das ›frei‹ geschaffene dichterische Werk ein Auskommen zu finden, erlaubt – nach dem Vorbild beispielsweise von Alexander Pope in England – die Aufwertung des Dichtertums zum finanziell abgesicherten ›Beruf‹, der durch ingenium und göttliche Inspiration zudem die Legitimation einer metaphysischen ›Berufung‹ erhält. Bestenfalls konnte man gegen Ende des 18. Jahrhunderts gut dabei leben, besonders wenn man dem Patriziat beziehungsweise finanziell abgesicherten Bürgertum entstammte, ein Amt bekleidete, das Zeit für das Dichten ließ, und über einen gewissen Pragmatismus verfügte. So kommentiert Goethe seine Vermarktung des Versepos Herrmann und Dorothea wie folgt: Ich habe […] meine Zeit gut angewendet, das Epische Gedicht wird gegen Ostern fertig und kommt auch in Kalenderform bey Vieweg in Berlin heraus. Auf diesem Wege wird es am meisten gelesen und am besten bezahlt. Was kann ein Autor mehr verlangen.261
Der Dichter identifiziert sich hier mit kommerziellen Bestrebungen und erweist sich als Nachfolger des weltgewandten Horaz, der das poetologische Ziel des Dichters mit der strategischen Erweiterung der Käuferschaft in Zusammenhang bringt.262 Kennzeichnend für die Vermittlung der rein 258 259 260 261 262
Weise 1977, S. 234 (2. Teil, 1. Kap., Abs. XII, 1). Zit. nach Haferkorn 1963, S. 183. Vgl. Haferkorn 1963, S. 183, und Ungern-Sternberg 1980, S. 169–171. Goethe 1887–1919, Abt. 4, Bd. 12, S. 72 (Goethe an Heinrich Meyer, 18.3.1797). Horaz 1984, S. 24–27 (V. 333–346); s. o., S. 56.
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materiellen Tatsachen ist die lapidare Bezeichnung der Umstände. Der Nachsatz allerdings deutet die nicht-kommerziellen Ziele an, die besonders in dieser Zeit die Poetik bestimmten. Die Ideale der ambitionierten – typischerweise gelehrten – Dichter um 1800 sowie die Ästhetik des Idealismus definierten sich aus dem Kontrast zu kommerziellen Bestrebungen heraus. So erklärt Kant die absolute Trennung von handwerklicher »Lohnkunst« zur Grundbedingung der »freien Kunst«.263 Entsprechend verpflichtet Hölderlin den Dichter in seiner großen Ode »Dichterberuf« auf höchste metaphysische Aufgaben und verdammt die Sucht nach »schnödem Geld«.264 Kommerzielle Interessen werden mit dem sesshaften Philister identifiziert, während der Typus des wandernden Sängers zum Ideal avanciert: antik mythologisiert in Hölderlins Dichtern, die »wie des Weingotts heilige Priester, | […] von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht«;265 mittelalterlich romantisiert in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen; und christlich idyllisiert in Eichendorffs Taugenichts.266 Der ›Beruf‹ konstituiert sich hier aus der metaphysischen ›Berufung‹ und ist dem bürgerlichen Beruf entgegengesetzt. Problematisch war die kantische Polarisierung besonders für Dichter, die absoluten ästhetischen Ansprüchen Genüge tun wollten, ohne über einen standesmäßigen Rückhalt zu verfügen, zumal der zersplitterte deutsche Buchmarkt nicht die Verdientsmöglichkeiten des französischen oder englischen Markts bot. Für Schiller manifestiert sich die Polarität als Mangel jener »glücklichen Muße […], an der allein die Werke des Genius reifen«;267 die finanziellen Umstände werden hier in Analogie zum Klima konzipiert, welches das organische Wachstum fördern oder unterbinden kann. Die ›Kunst‹ rückt nun in eine Position, die vormals der Herrscher für den Hofdichter hatte, indem sie Anforderungen an seine Kunst stellt, aber sie bietet nicht die finanzielle Unterstützung, die für die Erfüllung der Anforderungen notwendig wäre: Zugleich die strengen Forderungen der Kunst zu befriedigen, und seinem schriftstellerischen Fleiß auch nur die nothwendige Unterstützung zu verschaffen, ist in unsrer deutschen literarischen Welt, wie ich endlich weiß, unvereinbar. Zehen Jahre habe ich mich angestrengt, beides zu vereinigen, aber es nur einigermaßen möglich zu machen, kostete mir meine Gesundheit.268
263 Kant 1908, S. 304 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). 264 Vgl. den ersten Entwurf zu Vers 40 (Stichwort »feil«), in Hölderlin 1992–1994, Bd. 1, S. 306 und S. 781 (Anm. d. Hg.) (Dichterberuf ). 265 Ebd., S. 290 (Brot und Wein, V. 123 f.). 266 Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 193–334 (Heinrich von Ofterdingen); Eichendorff 1985–1993, Bd. 2, S. 446–561 (Aus dem Leben eines Taugenichts). 267 Schiller 1988–2004, Bd. 11, S. 588 (Schiller an J.I. Baggesen, 16.12.1791). 268 Ebd.
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Schillers Personifikation der Kunst verdeutlicht die Autorität des ästhetischen Ideals, dem er gerecht zu werden versucht. Für den mittellosen Dichter erzeugt es eine nicht zu überwindende Spannung, die sich bei Schiller in der Zerrüttung seiner physischen Gesundheit manifestiert. Die Freiheit des ›freien Schriftstellers‹ war und ist somit relativ269 – und läuft letztlich auf die Freiheit des ›Freiberuflers‹ hinaus, der die Wahl hat zwischen kommerziellen Zwängen und Brotlosigkeit. Die von Schiller erfahrene Spannung kennzeichnet auch die dichterische Laufbahn vieler Dichter in der Gegenwart. Die Notwendigkeit eines »Brotberufs« für den mittellosen Dichter konstatiert die Dichterin und Lehrerin Friederike Mayröcker, um zugleich dessen negative Auswirkungen auf die dichterische Tätigkeit hervorzuheben. Ihre Ausführungen zu den Verhältnissen ihrer Wiener Dichterkollegen in der Nachkriegszeit verdeutlichen, dass die konventionalisierte Metapher für sie durchaus wörtlich zu nehmen war: Oswald Wiener hat noch einen Brotberuf gehabt. Rühm, Bayer und Artmann waren freiberuflich. Die haben ja nur geschrieben. Die haben sozusagen von nichts gelebt. Das heißt: Rühm […] hat […] noch bei den Eltern wohnen können. Und Artmann hat bei seiner Mutter gewohnt. Der war also auch ein bisserl versorgt, aber nicht gut. Immerhin hat er zu essen gehabt.270
Die ›Freiheit‹ des modernen Dichters entpuppt sich hier als Abhängigkeit von kommerziellen Verlagen, von ›Brotberufen‹ und von der Familie; ergänzend kommen in einer entwickelten literarischen Kultur staatliche beziehungsweise gemeinnützige Institutionen hinzu, die gewisse Funktionen des mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Hofes erfüllen. Ein eindeutiger ›Fortschritt‹ zeichnet sich für den Autor nicht ab, zumal mit den digitalen Medien die im 18. Jahrhundert mühsam erkämpften Autorrechte wieder gefährdet sind und die deutschen Autoren in einem zunehmend anglo-amerikanisierten Markt auch kaum mehr auf die Mäcenas-Funktion des Verlags und Verlagslektors zählen können. Ins Zentrum rückt nun der Agent, dem der Autor die Jagd nach dem schnöden Geld überträgt – für eine finanzielle Gegenleistung. Der romantische Dichtertypus ist mitsamt seinem unschuldigen Werk den Marktzwängen erlegen: »Du siehst mir aus, mein Buch, als schieltest du nach Markt und Börse.«271 Die Hauptmöglichkeit, dem Dichter sein Brot und dem Werk seine Unabhängigkeit zu sichern, ist somit für die meisten Autoren wie schon in der frühen Neuzeit das Dichten als Nebenberuf; Beispiele lieferten Mayröckers Ausführungen. Die auf diese Weise erreichte Unabhängigkeit auch des Werkes feiert Hans Magnus Enzensberger, wenn er erklärt, die Poesie sei in
269 Vgl. Haferkorn 1963, passim. 270 Mayröcker 1995, S. 27. 271 Horaz 1993, S. 498 f. (Epistulae I, 20: An mein Buch).
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Unterscheidung zur kommerziell produzierten Kunst »etwas Seltenes«, das nicht nach Zeitplan und Vorsatz entstehe: Die Vorstellung, daß man nach dem Frühstück sich hinsetzt und dichtet bis es fünf Uhr nachmittags ist und man dann sozusagen die Mappe zumacht, ist ja eine perverse Vorstellung, und ich finde es ein bißchen krankhaft. […] Es gibt ja viele große Dichter, die auch sozusagen anständige Berufe hatten, wie Dr. Gottfried Benn, der Arzt für Geschlechtskrankheiten war. Da hatte er etwas Gesundes, und wenn man so etwas nicht gelernt hat, dann muß man sich eben auf anderen Terrains ein bißchen umsehen: das Theater et cetera; es gibt ja genügend Spielwiesen, auf denen man sich herumtreiben kann.272
Enzensberger grenzt hier sein Dichtertum von einem ›beruflichen‹ Schaffen ab und nähert sich damit der Position von Benjamin Neukirch, der große Dichter aufgrund ihrer Seltenheit mit exotischen »paradieß-vögeln« vergleicht und selbst die galanten Dichter darauf verpflichtet, »niemahls eher [zu] schreiben / als biß sie sich dazu geschickt befinden«.273 Enzensberger löst die große Lyrik auf ähnliche Weise aus dem Kontext des Normalen und macht sie von der Gunst der Stunde abhängig. Der professionalisierte, bürgerliche ›Dichterberuf‹ ist dagegen durch Krankheitsmetaphorik abgewertet. Wenn Enzensberger zudem bemerkt, es sei »traurig«, dass manche Menschen »wirklich nichts anderes im Leben zu tun wissen, als Gedichte zu schreiben«,274 so klingt die Frage der Selbstlegitimation über das Dichten an, die schon Hartmann thematisiert. Jenseits der Zwänge und Möglichkeiten empirischer Bedingungen bietet der imaginative Raum des literarischen Werks unbegrenzte Möglichkeiten für den Autor, von materiellen Zwängen ungehindert ganz andere Berufe auf realistische oder gänzlich implausible Art zu erproben – als Ich oder Alter Ego, Held oder Antiheld. Angedeutet seien die Möglichkeiten mit dem Spektrum, das sich bei Kafka auftut, wobei die Namengebung – »K.«, »Josef K.«, »Samsa«275 – die Fluidität der Rollen in Bezug auf den empirischen Autor verdeutlicht. Die Berufe seiner Protagonisten umfassen unter anderem neben dem eigenen Brotberuf des Versicherungsangestellten (Der Prozess): Landvermesser (Das Schloss), Vertreter (Die Verwandlung), Arzt (Ein Landarzt), Forschungsreisender (In der Strafkolonie), Schuster (Ein altes Blatt), Bergmann (Ein Besuch im Bergwerk), Gruftwächter (Der Gruftwächter), Hungerkünstler (Ein Hungerkünstler), Varietéartist (Ein
272 Enzensberger 1999b, Buch, S. 4 f. 273 Neukirch 1961, S. 6 f. und 18. Vgl. Opitz: »Ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil / sondern wenn er kan« (Opitz 1966, S. 11; Kap. 3); Opitz bringt dies in Zusammenhang mit dem Inspirationstopos. 274 Enzensberger 1999b, Buch, S. 4. 275 In »Das Schloß«, »Der Prozess« und »Die Verwandlung« (Kafka 1950–1974, Das Schloss (1958); Der Prozess (1958); Erzählungen (1958), S. 71–142).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Bericht für eine Akademie), Sängerin (Josefine, die Sängerin).276 Demgegenüber suchten sich die Barockdichter für ihre mußevollen Nebenstunden eine paradiesische Alternative zum beruflichen Alltagstrott: Legitimiert durch römische Autoritäten vergnügten sie sich vorzugsweise mit anderen Hirten und Hirtinnen, um in der arkadischen Idylle ungestraft auch das sonst Unerlaubte auszuleben.
10. Der Dichter als sittliches Wesen Die moralische Rolle des Dichters ist seit der Antike und bis in die Gegenwart ein zentrales und kontroverses Thema der Poetik, wobei einerseits der Bezug des Dichters zur moralischen Wahrheit diskutiert wird und andererseits seine Verantwortung beziehungsweise Autonomie gegenüber gesellschaftlich definierten Normen. Während bis ins 18. Jahrhundert die Institution der Kirche sicherstellte, dass der Dichter moralisch zur Verantwortung gezogen wurde, suchte der Idealismus das Künstlertum aus moralischen Zwängen zu lösen. Die Möglichkeit eines rein von ästhetischen Kriterien bestimmten Dichtertums wurde allerdings vom Nationalsozialismus radikal in Frage gestellt. Bis in die Gegenwart hinein ist die Frage des moralischen Engagements in der deutschsprachigen Poetik einerseits von den Extremen der idealistischen Autonomiepoetik und andererseits von dem Bewusstsein für die Gefahr einer Abkopplung der Dichtung von moralischen Fragen bestimmt. In frühneuzeitlichen Poetiken ist ein steter Topos die Verteidigung der Dichter gegen moralisch gegründete Angriffe von Kritikern, die Dichtertum und moralische Rechtschaffenheit für unvereinbar halten: »Sie wissen […] viel von jhren [der Poeten] lügen / ärgerlichen schrifften vnd leben zue sagen / vnd vermeinen / es sey keiner ein gutter Poete / er musse dann zu gleich ein böser Mensch sein.«277 Dieser in der Antike gründende und vor allem von Platon ausgehende Topos wurde besonders in Bezug auf die weltliche Literatur fortgeführt, wohingegen die Rolle des geistlichen Dichters christlich-moralisch bestimmt war. Die Rolle des weltlichen Dichters konnte, aber musste nicht dazu in Gegensatz stehen, zumal beide Rollen oft in einer Person vereint waren und auch im Werk verbunden sein konnten. Eine radikale Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Dichtung entzieht in ihrer extremsten Form der weltlichen Dichtung jegliche 276 Kafka 1950–1974, Der Prozess (1958); ebd., Das Schloss (1958); ebd., Erzählungen (1958), S. 71–142 (Die Verwandlung), S. 146–153 (Ein Landarzt), S. 199–237 (In der Strafkolonie), S. 155–158 (Ein altes Blatt), S. 165–168 (Ein Besuch im Bergwerk), S. 255–268 (Ein Hungerkünstler), S. 184–196 (Ein Bericht für eine Akademie), S. 268–291 (Josefine, die Sängerin); ebd., Beschreibung eines Kampfes (1958), S. 301–319 (Der Gruftwächter). 277 Opitz 1966, S. 9 (Kap. 3).
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Legitimation: Die Gabe der Poesie kommt von Gott und darf nur für geistliche Zwecke eingesetzt werden. Entsprechend betitelt Johann Jacob Rambach im frühen 18. Jahrhundert die Vorrede zu seiner geistlichen Dichtung Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie, um christlich-moralische Maßstäbe für die Beurteilung von Dichtung absolut zu setzen: Ich bin […] der Meynung, […] daß eine Arbeit, so die gemeine Erbauung zu ihrem einigen Zweck hat, keiner geharnischten Vorrede bedürfe, und daß nicht so wol diejenigen, die ihr poetisches Talent zur Ehre Gottes, und zum Besten ihrer Nächsten anwenden; als diejenigen, welche vergiftete und unreine Poesien zum Aergerniß so vieler Leser gemein machen, Gott und Menschen Rechenschaft zu geben verbunden seyn.278
Die überzeugendste Legitimation ist somit deren Überflüssigkeit. Dieses Argument gründet in der Voraussetzung, dass die Literatur mit anderen Formen der Sprache und Kultur untrennbar verbunden ist und weder eigener Kriterien bedarf noch auch eigene Kriterien zulässt. Sie unterliegt daher im christlichen Kontext tendenziell denselben Gesetzen wie die Homiletik, das Gebet oder das Kirchenlied. Als »gemeinste« und »gefährlichste« Art des Missbrauchs sieht Rambach die erotische Dichtung in der Nachfolge römischer Autoren – bei Anakreon, Ovid, Properz –, deren »natürliche Neigung zur fleischlichen Wohllust […] durch die Verfassung ihrer heydnischen Religion genähret und gestärcket« wurde.279 In Gegensatz zum Naturkult des späteren 18. Jahrhunderts ist hier somit das Natürliche negativ besetzt, denn es wird mit körperlichen Gelüsten assoziiert, die christlichen Werten zuwiderlaufen: Die Dichter erotischer Werke »[wenden] ihre Geschicklichkeit dazu an […], daß sie die Bewegungen und Ausbrüche der unreinen Lust aufs natürlichste ausdrücken, und bey ihren Lesern gleiche Regungen zu erwecken suchen«.280 Das weltlich-erotische Werk wird somit als direktes Medium des Lasters interpretiert und mit heidnischem Kulturgut gleichgesetzt, das eine Gefahr für die christliche Zivilisation bedeutet, denn für Rambach ist »die Welt mit solchen Poesien überschwemmet, und deren Menge ist einer der stärcksten Beweiß-Gründe, von der grossen Verderbniß unsrer Zeiten«.281 Die negative Bewertung des Natürlichen wird in der hyperbolischen Flutmetaphorik zur Naturkatastrophe, die dem Menschen jegliche Kontrolle nimmt. Auch das Schreibwerkzeug wird dazu benutzt, weltliche Dichter zu geißeln: Besonders in Hochzeitsgedichten lassen diese Autoren »der muthwilligen Feder den Zügel schiessen«, und bei den schlimmsten von ihnen wird die Tinte selbst zum Schmutz, wenn sie »ihre poetische Feder so tief in die unreinen Pfützen der Geilheit eintuncken, daß sie das Papier mit den unflä278 279 280 281
Rambach 1727, S. )( 2r-v. Ebd., S. )( 3r. Ebd. Ebd., S. )( 3v.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
tigsten Zoten beflecken«.282 Die Verbindung geistlicher und weltlicher Gedichte in einer Sammlung zeige besonders deutlich die Unfähigkeit moralisch verwerflicher Autoren, »mit der Feder wider den Strom [zu] schwimmen«, um den Anforderungen des geistlichen Gedichts gerecht zu werden, wohingegen sie »bey unkeuschen Sachen von dem Strom der LustSeuche fortgerissen werden, und sich in ihrem rechten Element befinden«.283 Die Metaphorik der Befleckung, der Krankheit und der mangelnden Kontrolle lässt die eigene geistliche Poesie umso tugendhafter, maßvoller und reiner erscheinen. Der Dichter bedient sich in seiner Vorrede in gehäufter Form der homiletischen Metaphorik für das Laster, um für die erbauliche Dichtung, der seine eigene Gedichtsammlung zugehört, die alleinige poetologische Legitimation zu beanspruchen. Deutlich wird in Rambachs Vorrede die Spannung zwischen moralischem und ästhetischem Anspruch der Dichtung: Für ihn ist ästhetische Qualität kein Kriterium, mit dem sich Dichtung legitimieren ließe; ästhetisch ansprechende erotische Dichtung erweist vielmehr umso schlüssiger die Lasterhaftigkeit des Dichters und die Gefahr des Werks für den Rezipienten. Das Urteil über das Werk der Dichtkunst kommt somit allein dem Sittenlehrer zu; und nur der sittlich vorbildliche Dichter vermag die Ansprüche einer gottgemäßen Dichtkunst zu erfüllen. Aus Rambachs Vorrede geht jedoch auch die Macht der antiken Poesie im Kontext des Humanismus hervor: Sie ist von den moralischen Maßstäben der christlich bestimmten Literatur unabhängig und steht daher zu ihr potenziell in Konkurrenz. Die Erbauungsliteratur hatte die Autorität der Kirche auf ihrer Seite und legitimierte sich vornehmlich aufgrund ihrer moralischen Aufgabe. Auch die weltliche Literatur nutzte moralische Argumente, selbst wenn der Hauptzweck die Unterhaltung und nicht zuletzt der Verkauf des Buches war. So beansprucht der Erfolgsautor Hunold in seiner Vorrede zum Roman Die Liebens-Würdige Adalie, die Darstellung des Lasters diene mittels Kontrastierung dem Lob der Tugend: »Wenn hier einige Laster mit vorgestellet werden / so setzet man sie denen Tugenden wie die schwartzen Africaner denen schönen Europäerinnen an die Seite / damit sie deren Glantz durch ihre heßliche Gestalt vollkommener machen.«284 Indem er in seinem Vergleich das Laster mit einer als fremd und minderwertig geltenden Menschenrasse koppelt, besetzt er die Darstellung der »schönen«285 Europäerin Adalie mit automatischer Tugendhaftigkeit.
282 283 284 285
Ebd. Ebd., S. )( 4r. Hunold 1967, S. )( 6v. Hunold 1967, S. )( 5v.
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Der Maßstab der Moral verschwindet dem gängigen Bild der deutschen Literatur zufolge gegen 1770, um einer Literaturauffassung Platz zu machen, welche die Autonomie der Literatur gegenüber der Theologie und anderen moralischen Gesetzgebern durchsetzt. Eine solche Literaturgeschichte privilegiert jedoch die protestantische Konfession und deren von der Aufklärung ausgehende säkulare Auflösung.286 Der solchermaßen konstruierte lineare ›Fortschritt‹ legitimiert die Ausblendung abweichender Schriftsteller und ganzer Territorien, um auf diese Weise zugleich die entworfene Geschichte zu bestätigen. Die ›Autonomie‹ der Dichtung gegenüber Religion und Politik entspricht der ›Freiheit‹ des Individuums gegenüber der Gemeinschaft und bezieht ihre Faszination aus ihrem utopischen Charakter. Denn weder Autor, Werk noch Leser können sich je ganz der anthropologischen Konstante der Moralität entziehen. So bleibt die Autonomie als extreme Möglichkeit des reinen Künstlertums am Horizont, ohne das moralische Selbstverständnis der Autoren zu eliminieren. Die moralische Funktion von Literatur bleibt vor allem in politisch engagierter Literatur bedeutsam, wobei hier allerdings auch die religiöse Tradition zur Verstärkung der moralischen Dringlichkeit beizutragen vermag. So wählt Freiligrath 1844 für seine der Freiheit des deutschen Volkes gewidmeten »Zeitgedichte« den Titel Ein Glaubensbekenntniß und projiziert sich mit dem Zitat »Ich kann nicht anders!« in lutherscher Pose.287 Einen bedeutsamen Beitrag zur Autonomieästhetik lieferte bekanntlich Nietzsche; allerdings erwächst seine Legitimation des Künstlers aus einem Werk, das sich umfassend mit der christlichen Tradition und Ethik auseinandersetzt. Entsprechend bot es vielerlei Möglichkeiten der Abwandlung des moralisch engagierten Dichters. So begrüßt Thomas Mann 1914 in Gedanken im Kriege den Ausbruch des ersten Weltkriegs als »Künstler«, der sich als »sittliches Wesen« versteht und in seinem Inneren einen der Gemeinschaft und Gott verpflichteten »Soldaten« entdeckt: Als sittliche Wesen […] hatten [wir] im tiefsten Herzen gefühlt, daß es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe. Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens […] Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? […] Wie 286 Vgl. Schlaffer, der den »geglückten Anfang« der deutschen Literatur im protestantischen Pfarrhaus entdeckt, aber Goethe die Führungsrolle zuspricht, da er der protestantischen Kirche wenig »verdankt« und daher nicht der »Angst und Heuchelei« verfällt, wie sie für die protestantischen Dichter typisch ist (Schlaffer 2002, S. 58). In den »Leiden des jungen Werthers« – einer »ketzerischen Neudeutung« der »Imitatio Christi« – sieht er die »Vergangenheit und Zukunft« der deutschen Literatur (ebd.). Für eine differenzierte Literaturgeschichte plädiert dagegen Breuer; die Fragen, die er 1979 für die oberdeutsche Literatur im Zeitraum 1565–1650 stellt, wären auch in Bezug auf spätere Jahrhunderte im Detail zu untersuchen (Breuer 1979, S. 1–21 u.ö.). 287 Freiligrath 1844, S. VIII (Vorwort). Zu dem (nicht authentischen) Ausspruch Luthers vor dem Reichstag zu Worms vgl. Duden 1998, S. 223.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!288
Wie Rambach beansprucht Mann hier den Status des Sittenrichters über eine Welt, die er mit hyperbolischen Metaphern als verdorben darstellt. Maßstab ist ihm jedoch nicht ein institutionell verbürgtes Dogma, sondern das subjektive Gefühl, und »Gott« ist nicht der Garant des objektiv Guten, sondern der Erfüller eines Impulses, der die Zerstörung sucht, ohne ein moralisch definiertes Ziel zu bestimmen. Statt wie Rambach eine Gruppe von Menschen für die Verderbnis verantwortlich zu machen, schreibt Mann sie dem kollektiven Geist sowie der gesamten Zivilisation zu. Diese werden entmenschlicht, indem der Geist zum Nährboden für ekelerregende Schädlinge erklärt wird und die Zivilisation zum Auslöser zerstörerischer chemischer Prozesse. Die Integration von »Künstler und Soldat« verweist wie in politischen Poetiken auf eine Tätigkeit jenseits der Ästhetik; da diese Tätigkeit jedoch ohne konstruktives Ziel ist, wird die beanspruchte ›Sittlichkeit‹ zu einer Kategorie, die nur mehr Reminiszenzen der christlichen Ethik aufweist und vage mit dem Ästhetischen in Verbindung tritt. Wenn auch die moralische Rolle des Autors mit dem Idealismus und dann mit Nietzsche ihrem Ende zuzugehen schien, so hat sie tatsächlich durchgängig fortgewirkt, verflochten mit der Rolle des Erziehers in der Privatsphäre und des moralischen Vorbilds in der Öffentlichkeit. Ungebrochen weitergeführt wird vor allem in der deutschen Kinderliteratur die moralische Lehre. Wenn sich auch die Erziehungsmethoden und vorrangigen Werte seit Wilhelm Buschs Max und Moritz und Dr. Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter geändert haben, so wird doch sichergestellt, dass dem Buch eine klare moralische Aussage zu entnehmen ist und das Gute über das Böse den Sieg davonträgt. So entwirft Christine Nöstlinger in Die feuerrote Friederike eine Außenseiterin, die wegen ihrer roten Haare von ihren Schulkameraden schikaniert wird, sich aber durch die magische Kraft ihrer Haare in ein Zauberland retten kann.289 Auf die Geschichte folgt eine Nachschrift der Autorin, in der sie zunächst die Fehlinterpretation ihrer kleinen Nachbarin Katinka vorstellt, die meint: »Eigentlich muß diese Friederike den anderen Kindern dankbar sein. Wenn die Kinder nicht so gemein gewesen wären, wäre sie ja nie in dieses herrliche Land gekommen.«290 Die korrekte Interpretation richtet die Autorin dann direkt an ihre kleinen »Leser«, denen sie »zu bedenken« gibt: »Selbst wenn die Gemeinheit der Kinder Friederike in das herrliche Land verholfen hat: ich jedenfalls würde mich zu einer solchen Hilfe nicht hergeben.«291 Die im Prozess des Lesens her288 289 290 291
Mann, T. 2002, S. 31 f. Nöstlinger 1984. Ebd., S. 84. Ebd.
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gestellte Vertrauensbeziehung zwischen Autor und Leser dient als Basis, um dem Kind ein moralisch angemessenes Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen zu vermitteln. Explizit gemacht wird damit der Zweck des Buches: Es soll nicht nur erfreuen, sondern auch nützen. Eine moralische Herausforderung von ungekanntem Ausmaß war der Nationalsozialismus, zumal gerade die deutschen Autoren aufgrund der Vorgaben des Idealismus einen hohen Anspruch an die Ernsthaftigkeit der literarischen Aufgabe stellten, sie jedoch tendenziell eher ästhetisch als moralisch-politisch verstanden. Allerdings war die poetologische Reaktion durchaus vielgestaltig und keineswegs klar nach politischen Richtungen klassifizierbar; zum Teil identifizierten sich gegensätzliche politische Positionen mit ähnlichen poetologischen Modellen und unter Bezug auf dieselben Vorbilder.292 Die Bedeutung poetologischer Metaphern für die Diskussion um moralische Verantwortung geht schon aus dem kontroversen Topos von der »inneren Emigration« hervor, mit dem sich der in Deutschland verbliebene Autor Frank Thiess gegenüber dem politischen Emigranten Thomas Mann legitimierte.293 Diese Behältermetapher setzt die in Pietismus und Romantik entfaltete Vorstellung vom ›inneren Reich‹ voraus,294 das in der von 1934 bis 1944 publizierten Zeitschrift Das Innere Reich literarische Gestalt annahm; kennzeichnend für diese Zeitschrift ist der ambivalente politisch-moralische Standpunkt. In den Diskussionen um die moralische Position jener Autoren, die in Deutschland verblieben waren, wurde das ›innere Reich‹ zu einem Ort, der von den in der Öffentlichkeit verübten Verbrechen nicht tangiert war und ein dem öffentlichen Engagement äquivalentes privates Engagement mehr oder weniger plausibel machte. Dieser apologetische Einsatz der Metapher ist nur aus dem Kontext einer von der romantischen Innerlichkeitsmetaphorik geprägten Kultur erklärlich. In der Nachkriegszeit entwickelte die während des Krieges vor allem von Thomas Mann vertretene moralische Rolle des deutschen Autors einen hohen Status und erhielt auch internationale Anerkennung: Identifiziert wurde sie vor allem mit den Nobelpreisträgern Heinrich Böll und Günter Grass, die durch ihr Werk die Auseinandersetzung der Bevölkerung mit ihrem Staat und mit der unmittelbaren Vergangenheit anzuregen suchten und sich öffentlich zur jeweiligen Gegenwartspolitik äußerten. Die deutsche Öffentlichkeit quittierte dieses politisch-moralische Engagement mit dem Topos vom Schriftsteller als ›Gewissen der Nation‹:295 Die Nation wird hier als Mensch konzipiert; der Schriftsteller fungiert als ihr kollektives »Be292 293 294 295
Vgl. Elliott 2006, passim. Vgl. dazu Grimm 1972. S.o., S. 306–309. In dieser moralischen Metapher konzentriert sich in der BRD der Nachkriegszeit – wenn auch kontrovers – die Vorstellung von der politischen Rolle des Schriftstellers (vgl. Bullivant 1988).
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wusstsein von Gut und Böse des eigenen Tuns«.296 Böll und Grass selbst lehnten diese Rolle ab, da sie »voraussetzt, daß man das Gewissen woanders wegnimmt und ausgerechnet an die Schriftsteller delegiert, die keine Macht haben, etwas durchzusetzen«.297 Grass wendet sich hier nicht gegen die Rolle des ›Gewissens‹ als solche, sondern gegen die durch das Delegieren erzeugte Trennung des moralischen Bewusstseins von politisch wirksamer Handlung. Einen spezifisch konfessionellen Aspekt hatte das politische Engagement für Böll, dessen 1963 publizierter Roman Ansichten eines Clowns eine Kontroverse mit der katholischen Kirche auslöste. Der außerehelich mit seiner Freundin zusammenlebende katholische Protagonist setzt sich hier aus einer Außenseiterposition heraus kritisch mit dem Nachkriegs-Deutschland und der katholischen Kirche auseinander.298 Im Nachwort zur 1985 veröffentlichten Neuauflage legitimiert Böll seinen Roman mit religiös fundierten Argumenten und stellt die Kontroverse in eine Tradition, die er bis zu einer gegen »verkitschte Erbauungsliteratur« gerichteten Streitschrift von Carl Muth aus dem Jahre 1896 zurückführt.299 Jener hatte die provokante Frage gestellt: Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?.300 Böll konstatiert hinsichtlich des »kulturellen Defizits« beim »Verbandskatholizismus« seitdem »eine hundertjährige Rückentwicklung«.301 Von seiner Kritik ausgenommen ist jedoch die »immerhin erhebliche statistische Masse von ungefähr 26 Millionen deutschen Katholiken«,302 an die sich das Buch mit seiner Infragestellung der katholischen Konzeption von Ehe richtet. Wie im 18. Jahrhundert beispielsweise Lessing, stimuliert der Autor auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit der Autorität des theologischen Dogmas. Zugleich wirft Bölls lineare Metapher von einer sich ›nach vorne‹ beziehungsweise ›zurück‹ entwickelnden Kultur ein Licht auf die Rolle der Konfession in der professionellen Rezeption von Literatur. Denn er kritisiert nicht nur die katholische Literaturkritik, sondern auch die nicht-konfessionelle (beziehungsweise protestantische) Literaturkritik, die gerade für den konfessionellen Aspekt seines Werkes einen blinden Fleck hat: Die liberale, nicht kirchlich orientierte Literaturkritik begriff einiges, nicht alles, da für sie der Katholizismus, ob verbandsgebunden oder nicht, ein eigentlich uninteressantes Thema ist und war; eine Täuschung, wie ich finde, da der Katholizismus der Adenauer-Ära eine erhebliche Macht darstellte.303 296 297 298 299 300
Duden 1999, Bd. 4, S. 1512 (Gewissen). Grass 1999. Böll 1963. Böll 1988, S. 260 f. Ebd., S. 261, mit Verweis auf Carl Muths unter dem Pseudonym Veremundus veröffentlichte Schrift. 301 Ebd. 302 Ebd., S. 260. 303 Ebd., S. 261.
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Hier deutet sich im Kleinen an, was für die deutsche Literaturgeschichtsschreibung als Ganzes gelten dürfte: Die Ausblendung der katholischen Tradition ergibt eine nach konfessionellen Kriterien vereinfachte Version deutscher Literaturgeschichte. Auch wird deutlich, dass der moderne Literaturbegriff, wie der frühneuzeitliche, in Bezug auf Fragen der Konfession normativ geprägt ist – nur liegt die Vormacht seit dem Idealismus bei den weltlichen Normgebern. Die Bedeutung des politisch-moralischen Engagements für die Literatur der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik sowie auch in der DDR wurde besonders nach der Wende deutlich, als Christa Wolfs Erzählung Was bleibt eine Grundsatzdiskussion über den Wert der gesamten Nachkriegsliteratur der BRD und DDR auslöste: Ziel der Attacken auf Wolf war letztlich die Eliminierung des politisch-moralischen Engagements aus der Literatur. Die Enthüllung ihrer kurzfristigen Mitarbeit bei der Stasi unterminierte nicht nur ihren persönlichen Ruf, sondern stellte auch ihre literarische Integrität in Frage, da diese untrennbar mit ihrer Selbstprojektion als moralische Instanz verquickt war. Dass die Rolle des Autors jedoch weiterhin in die moralischen Belange der Gesellschaft eingebunden blieb und bleibt, zeigte der Skandal um die Mitgliedschaft von Günter Grass bei der Waffen-SS. Obwohl seine frühe Involvierung mit dem brutalsten Arm des Nazi-Staats lange vor dem Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn lag, stellte sein autobiographisches Eingeständnis manchen Stimmen zufolge ein Werk in Frage, das in der kritischen Auseinandersetzung mit jener Zeit gründete und dessen Autor sich auch durch seine politische Tätigkeit für moralische Integrität eingesetzt hatte. Der Spielraum der Fiktion und die Gabe der Eloquenz sollten in diesem Kontext der Wahrheit des geschichtlichen Faktums weichen, wie aus dem Kommentar in Der Spiegel deutlich wird: Es ist, als wolle Grass Spuren verwischen, statt sie aufzufinden. Er lenkt ab, wortreich, rabulistisch, und man beginnt mit ihm zu fragen: Ist das nun die Wahrheit, die ganze Wahrheit oder wieder eine neue Erfindung? Hat er tatsächlich keinen Schuss abgegeben?304
Die Metapher der ›Spurensuche‹ und die Aufladung des Wahrheitsbegriffs mit gerichtlichen Assoziationen verdeutlicht die moralischen Erwartungen der Gesellschaft an einen Autor, der selbst diese Erwartungen durch seine öffentliche Selbstprojektion als moralischer Richter hervorgerufen hatte. Die Entdeckung, dass Grass nicht über die Schwächen seiner Zeitgenossen erhaben, sondern so »fehlbar und verstrickt«305 war wie jene Personen, die sein fiktionales Werk bevölkern, führt hier nicht zu einer Infragestellung der Erwartungshaltung einer Öffentlichkeit, die im Autor die moralische Autorität sucht, sondern gibt der Erwartung nur eine neue Aktualität: Die Weg304 Kurbjuweit, Bönisch u. a. 2006, S. 60. 305 Ebd., Titel.
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metapher macht es dem Autor zur Aufgabe, wie ein Detektiv die »Spuren« des Täters zu finden – wiewohl er sich selbst als Mittäter entlarvt hat. Erwartet wird vom Autor somit noch im späten Eingeständnis der Involvierung eine an der reinen Wahrheit orientierte moralische Distanz und Integrität. Als problematisch erwies sich in diesem Kontext besonders die Dimension der Öffentlichkeit, in der sich das Geständnis und dessen Rezeption vollzog. So attackierte Zeit online sowohl den Autor als auch die FAZ, weil sie auf »skandalöse« Weise noch das Schuldgeständnis als »GeständnisEvent« inszeniert hätten, statt die »Mea-culpa-Geste« gewissermaßen im kleinen Raum des Beichtstuhls auszuführen.306 Dass sowohl Autoren als auch die Presse von der öffentlichen Kommunikation und damit auch von der medialen Inszenierung leben, wird in der Empörungsgeste ausgeblendet, die letztlich darauf hinausläuft, die moralische Führerschaft medienwirksam für das eigene Organ zu beanspruchen. Es zeigte sich in dieser Debatte die spannungsvolle Rolle des Autors in einem moralisch umstrittenen öffentlichen Raum: In dem Maße, wie er sich mittels seiner Rede als öffentliche Person projiziert, muss er sich als vir bonus bewähren. Die Rolle des Autors als moralische Instanz erhielt zwar durch den extremen Druck der NS-Vergangenheit eine besondere Dringlichkeit, ist jedoch keineswegs darauf beschränkt, wie ebenfalls im Jahre 2006 die Kontroverse um die Verleihung des Heine-Preises an Peter Handke zeigte. Es beteiligten sich daran die Mitglieder der Jury, der Düsseldorfer Stadtrat und der Oberbürgermeister, die Medien, Kritiker wie Ulrich Greiner sowie auch Schriftsteller, vor allem Botho Strauß, Günter Grass und Handke selbst. Im Zentrum stand die Frage, ob Handke der zuerkannte Preis aufgrund seines langjährigen Engagements für Serbien und seines Besuchs am Grabe von Slobodan Miloševic´ wieder aberkannt werden solle; Handke verzichtete schließlich auf den Preis. Verhandelt wurde in diesem Zusammenhang unter Bezug auf etablierte poetologische Muster die moralische Verantwortung des Autors zwischen seiner Rolle als »Dichter« und seiner Rolle als »öffentliche Person«,307 wobei jeweils andere poetologische Strategien eingesetzt wurden, um den Dichter gegenüber dem einhellig moralisch verurteilten Verbrechen zu positionieren. So beansprucht der Schriftsteller Martin Mosebach für den Romancier das »Königsvorrecht«, den von der Gesellschaft Verurteilten Aufmerksamkeit zu schenken: »Handke rettet geradezu die Ehre seiner Zunft, wenn er […] als Künstler seine Stimme für den Verfemten erhebt.«308 In dem Moment, wo der Schriftsteller von der Gesellschaft angegriffen wird, dient somit die Vorstellung von einer mit bestimmten Rechten ausgestatteten ›Zunft‹ zur Wahrung der Unabhängigkeit. 306 Finger 2006. 307 Matussek 2006, S. 140. 308 Mosebach 2006.
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Botho Strauß wählt für seine Verteidigung den Titel Was bleibt von Handke? und nutzt die Kontroverse zu einer Aktualisierung des Literaturstreits von 1990 im Zeichen der politischen Korrektheit, die er mittels Vertikalmetaphorik als »am Boden schleifendes träges Ungetüm« attackiert.309 In Gegensatz dazu stellt er jene wie Handke, die »in der Höhe sich härter ausbilden [müssen]«. Das lediglich im unmittelbaren politischen Kontext moralisch »Richtige« wird damit diskreditiert und vertikal vom »Guten« geschieden, das sich erst im Langzeiteffekt manifestiere, wie Strauß unter Bezug auf illustre Vorbilder – Ezra Pound, Martin Heidegger, Bertolt Brecht – geltend macht; reklamiert wird zugleich – mit einem Seitenhieb auf die Diskussion um das Holocaust-Denkmal – für den »deutschen Geist« das Recht, sich nicht »nur geduckt«, sondern mit »erhobener Stirn« zu bewegen. Ziel ist die Wiederherstellung des ›Volkes der Dichter und Denker‹, dessen moralischer Makel unter Einsatz von Märtyrer- und Drogenmetaphorik nun geradezu zur Voraussetzung für seine Größe erklärt wird: »Wer Schuld und Irrtum nicht als Stigmata (im Grenzfall sogar Stimulantien) der Größe erkennt, sollte sich nicht mit wirklichen Dichtern und Denkern beschäftigen, sondern nur mit den richtigen.« Strauß sucht auf diese Weise eine an Nietzsche orientierte Kulturvorstellung wieder ins Zentrum des deutschen Selbstverständnisses zu stellen. Handke bedient sich zu seiner Verteidigung nicht des von Strauß angebotenen »Geniebonus«,310 sondern sucht der Sprache apologetische Möglichkeiten abzugewinnen. Dabei rekurriert er vor allem auf den Gegensatz zwischen der privaten Sphäre, in der er seine Identität als Dichter situiert, und einem von den Medien bestimmten öffentlichen Bereich. So distanziert er sich von dem in den Medien diskutierten Bild seiner selbst mit der Bemerkung, es sei lediglich das »durch die Öffentlichkeit (?) geisternde Phantom meiner Person«;311 beansprucht wird hier eine private Identität, die in der Öffentlichkeit ihre Wirklichkeit verliert und zum Trugbild wird. Als Motivation seiner Solidarität mit Miloševic´ führt er nicht dessen Person oder Handlungen an, sondern die Sprache der Öffentlichkeit: Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wusste über diesen »Schlächter« und »zweifellos« schuldigen »Diktator« […] nicht eine Loyalität zu Slobodan Milosevic, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache. Verbreitern wir die Öffnung. Auf dass die Bresche nie wieder von schlimmen oder vergifteten Worten verstopft werde. Hinaus böse Geister. Verlasst endlich die Sprache.312
309 310 311 312
Strauß 2006. Die folgenden Zitate entstammen ebenfalls diesem Artikel. Begriff von Grass, der die von Strauß vorgebrachten Argumente ablehnt (Grass 2006). Handke 2006b. Handke 2006a.
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Handke trennt hier nach hegelschem Muster die Sprache der Dichtung von anderen Formen der Sprache und identifiziert sie zugleich mit der Sprache der privaten Sphäre und der Sprache des Individuums. Indem Handke die öffentliche Sphäre als »so genannte Welt« bezeichnet, entzieht er ihr die Berechtigung, die »Welt« zu repräsentieren; übertragen wird dieses Recht implizit auf das Individuum. Der individuelle Dichter, der es als Aufgabe begreift, gegen die »herrschende Sprache« vorzugehen, wird damit zum Bewahrer der allein gültigen, reinen und guten Sprache. Handkes Einsatz von Metaphern des Giftes und des Exorzismus rekurriert auf Muster der frühneuzeitlichen Homiletik: Er sucht seine moralischen Gegner dadurch zu besiegen, dass er die Sprache der Subjektivität, auf der sein dichterischer Ruhm gründet, zur moralischen Waffe umrüstet. Die Debatte um den Heine-Preis zeigt, dass die moralische Rolle des Autors unumgänglich ist, weil er notwendigerweise nicht nur als private Person agiert, sondern als öffentliche Person den moralischen Fragen der Zeit ausgesetzt ist. Je mehr sich die Dichter öffentlich profilieren, desto mehr hat die Gesellschaft den »Wunsch nach der Einmischung der Dichter«313 – und im Extremfall vermag sie die Dichter als ›sittliche Wesen‹ in moralischen Zugzwang zu bringen.
11. Der Autor in der Gesellschaft Die Gesinnungsästhetik […] ist das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literaturen von BRD und DDR. Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in beiden deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus etcetera.314
Ulrich Greiner rekurriert in seinem Beitrag zum ›Literaturstreit‹ auf die idealistische Metapher von der Literatur als abgregrenztem Bereich; nur unabhängig von ›externen‹ ›Aufträgen‹ vermag sie ihre wahre Bestimmung zu erfüllen. In der »Gesinnungsästhetik«, so Greiner, »sind Werk und Person und Moral untrennbar« – ein »grandioses Mißverständnis«, das er als avancierter Zeitgenosse der Vergangenheit zuordnet: »Vierzig Jahre haben wir gebraucht, um das zu begreifen, und manche brauchen länger.«315 Indem er politisches Engagement unter dem altmodisch und damit minderwertig erscheinenden Aspekt der »Moral« diskutiert, legitimiert er zugleich seinen persönlichen Angriff auf Christa Wolf, die nach der Auflösung des »Kultur-
313 Grass 2006. Zitiert wird hier eine Frage des Gesprächsleiters Christof Siemes. 314 Greiner 1995b, S. 213 f. 315 Ebd., S. 216.
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schutzgebiets DDR«316 zum ästhetisch indiskutablen Freiwild geworden ist. Theoretisch untermauert wird die Abgrenzung durch Karl Heinz Bohrers Essay Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit, der die idealistische Autonomieästhetik noch zu überbieten sucht.317 Wieder einmal verkündet man einen neuen Anfang der wahren deutschen Literatur, um nun nicht die peinlichen Verirrungen der Nazizeit, sondern jene der Nachkriegszeit ad acta zu legen. Das philosophische »Mißverständnis« ist ein rhetorisches ›Verständnis‹: Aus rhetorischer Perspektive sind Werk, Person und Moral untrennbar verbunden,318 und Maßstab ist das ›allgemeine Interesse‹:319 homo rhetoricus verwirklicht sich vor allem im öffentlichen Bereich. Die Autonomie der Literatur sowie auch die Unterdrückung des Autors zugunsten des unabhängigen Textes sind insofern Argumente, nicht die Wahrheit. Wie die Metapher vom aktiven ›Gebrauch‹ der Literatur als ›Waffe‹ basiert die kontemplativ sich verwirklichende ›Freiheit‹ der Literatur auf einem Prozess der Übertragung, denn abgeleitet ist der ästhetische Freiheitsbegriff aus politischen und vor allem christlichen Diskursen: »[Jr] werdet die warheit erkennen / vnd die Warheit wird euch frey machen.«320 Indem der Idealismus der Dichtung die Legitimation lieferte, ihren eigenen – wie auch immer bestimmten – Gesetzen zu folgen, erweiterte er die poetologischen Möglichkeiten; dass dies eine Trennung von anderen als philosophischen Diskursen notwendig macht, ist jedoch nur aus idealistischer Perspektive schlüssig. Verortet man dieses Argument historisch und synchronisch, so ergeben sich hochinteressante Fragen zur wechselnden gesellschaftlichen Rolle des Dichters sowie zur Funktion spezifisch dichterischer Werke innerhalb eines Œuvres; denn auch unter Dichtern, die ihr fiktionales Schaffen als Hauptberuf betrachten, dürfte es kaum einen geben, bei dem nicht schriftliche Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen vorliegen. Dies macht auch die Beziehung zwischen dem fiktionalen Werk und der empirischen Welt interessant, zumal der Autor typischerweise aus letzterer seinen ›Stoff‹ nimmt, den er dann dichterisch ›bearbeitet‹; dadurch wird das Werk potenziell zu einer Stellungnahme gegenüber dem Dargestellten. Denn indem der Autor das Werk ›veröffentlicht‹ und die Öffentlichkeit das Werk rezipiert, wird Dichtung zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit.
316 So der Titel eines im »Merkur« (Oktober/November 1990) erschienenen Aufsatzes von Karl Heinz Bohrer (1990b). Greiners Artikel erschien am 2.11.1990 in »Die Zeit«. 317 Bohrer 1990a, im selben Heft des »Merkur«. Zum kantischen Topos s. u., S. 404. 318 Grundlegend ist die »Forderung, daß nur ein wirklich guter Mann ein Redner sein kann; und deshalb fordern wir nicht nur hervorragende Redegabe in ihm, sondern alle Mannestugenden« (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 6 f.; I, Pr, 9). 319 Ebd., S. 260 f. (II, 17, 36). 320 Joh. 8, 32. Zur Autonomietopik s. u., Kap. V/3.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Die traditionelle Verbindung zwischen Literatur und Rhetorik eröffnet ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Verbindung zwischen der Dichtung und einem moralischen oder politischen Ziel. Friedrich von Spees lateinische Kampfschrift gegen die Hexenprozesse, Cautio Criminalis, und seine deutschsprachige Darstellung der Leiden verurteilter Hexen im Güldenen Tugend-Buch entstehen aus der gleichen Beichtvatertätigkeit, jesuitischen Gelehrsamkeit, religiösen Erfahrung und rhetorischen Sprachkraft wie seine geistliche Dichtung in der Trutz-Nachtigall, die besonders für die katholische Romantik bedeutsam wurde.321 Lessing überträgt in Nathan der Weise seine theologische Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze auf die Bühne322 und schafft, indem er sie dichterisch virtuos zur Darstellung seines Credos nutzt, den Inbegriff des Aufklärungsdramas. Büchners inhaltlich und formal innovatives Stück Woyzeck ist dem gleichen politischen Impuls zuzuordnen wie die Aussage in Der hessische Landbote323 oder seiner Briefe, wobei die extremen Unterschiede zwischen den Texten dazu nicht in Widerspruch stehen: Getreu dem Prinzip des aptum entwickelt Büchner die Möglichkeiten der jeweiligen Gattung, um maximale Wirkung beim Rezipienten zu erzielen. Auch Brechts literarische Innovationen erklären sich aus dem Streben nach politischer Wirkung, wobei gerade die wechselnden politischen Kontexte seiner Experimentierfreudigkeit entgegenkommen. Diese Bezüge zeigen die jeweiligen Autoren als gesellschaftlich engagiert, wenn auch bei jedem die Beziehung zwischen dem dichterischen Werk und dem moralisch-politischen Werk anders ausfällt. Dabei ergeben sich stofflich, sprachlich und formal Unterschiede zwischen dem dichterischen Werk und anderen Werken; aber die Unterschiede sind je anders gelagert und keineswegs durch klare ›Grenzen‹ gekennzeichnet. Wie bei nicht-fiktionalen Äußerungen ist sowohl im Prozess der Produktion als auch im Prozess der öffentlichen Rezeption eines literarischen Werkes die gesellschaftliche Stellung und nicht zuletzt das auf die öffentliche Legitimation sich auswirkende Geschlecht des empirischen Autors miteinzubeziehen. Dabei zeigt sich besonders in Bezug auf weibliche Autoren die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fest etablierte Grenze zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich,324 da Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein tendenziell von der Partizipation am öffentlichen Bereich ausgeschlossen waren; noch um die Jahrtausendwende konstatiert 321 Spee 1968 ff., Bd. 3 (Cautio criminalis), Bd. 2 (Güldenes Tugend-Buch) und Bd. 1 (TrutzNachtigall). Clemens Brentano gab 1817 eine Ausgabe der »Trutz-Nachtigall« heraus. 322 Lessing 1985 ff., Bd. 9, S. 483–627 (Nathan der Weise). Zur Entstehung des Dramas aus der theologischen Auseinandersetzung mit Goeze heraus vgl. ebd., S. 1132 f. sowie die auf Goeze bezogenen Schriften ebd., Bd. 9, passim. 323 Büchner 1992–1999, Bd. 1, S. 143–219 (Woyzeck); ebd., Bd. 2, S. 53–66 (Der hessische Landbote). 324 S. u., Kap. VI/4, bes. S. 561.
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Elfriede Jelinek eine solche Grenze: »Als Frau für das Theater zu schreiben, ist eine maßlose Herausforderung, eine Überschreitung der Grenzen.«325 Die Bedeutung des gesellschaftlichen Status sowie auch des Geschlechts für die öffentliche Rezeption von Literatur geht aus den Spannungen hervor, denen Marie von Ebner-Eschenbach sich ausgesetzt sah. Mit dem Drama – zunächst dem Geschichtsdrama – hatte Ebner-Eschenbach als ambitionierte Autorin jene Gattung gewählt, die in der öffentlichen Wahrnehmung den höchsten Rang beanspruchte; sie konnte jedoch nicht reüssieren.326 Dass ihr Geschlecht bei der Beurteilung künstlerischer Leistung mitspielte, geht aus einer Tagebuchnotiz des Karlsruher Theaterleiters Eduard Devrient hervor, der nach dem Lesen eines ihrer Stücke die Nachricht von der wahren Identität des talentvollen Autors Eschenbach wie folgt kommentierte: »Also eine Dichterin. Das ist überraschend bei diesem männlichen Geiste.«327 Konstatiert wird hier die fehlende Übereinstimmung zwischen dem Geschlecht der empirischen Autorin und dem vorgestellten – metaphorischen – ›Geschlecht‹, das sich im Werk manifestiert. Die Pressekritik fokussierte auch den aristokratischen Status der Autorin. So lobt eine Rezension ihres Stücks Das Waldfräulein zwar die Figur des »republikanisierenden Grafen«, fährt jedoch fort: »So weit ging die Selbstverleugnung der aristokratischen Verfasserin nicht, daß sie einem demokratischen Grafen ein hübsches Mädchen gegönnt hätte.«328 Es wird hier vom empirischen Status der Autorin auf die Motivation ihres fiktionalen Stückes geschlossen, wobei nun der gesellschaftliche Status der Autorin unter Ausblendung ihres Geschlechts in den Vordergrund rückt: Vorausgesetzt wird, dass Ebner-Eschenbach sich mit dem siegreichen, demokratisch nicht engagierten Aristokraten identifiziert. Grundlegend ist hier wie auch in Devrients Urteil die Annahme, dass das fiktionale Stück eine Projektion des Geistes beziehungsweise der Wunschvorstellungen des Autors ist; je nach Kontext und Erwartungshaltung des Rezipienten werden jedoch andere Aspekte des Werkes fokussiert, um daraus ein Bild vom Autor und dessen Intentionen zu konstruieren. Die öffentliche Wirkung konstituiert sich somit in höchst komplexer Weise aus der Kommunikation zwischen dem Autor, dem Werk und dem Rezipienten. An der Rezeption von Ebner-Eschenbachs Werk lässt sich auch die Bedeutung der jeweiligen gesellschaftlichen Vorgaben zum Zeitpunkt der Rezeption verfolgen. Zu ihrer Zeit fand Ebner-Eschenbach den ersehnten Erfolg, als sie sich narrativen Gattungen zuwandte, aber der Ruhm hielt nicht an, und es lässt sich spekulieren, warum sie auch trotz des verstärkten 325 326 327 328
Jelinek 1996. Vgl. Reichard 1994. Devrient 1964, S. 393. Vgl. Giesing 1999, S. 264. Neue Freie Presse. 15.1.1873. Zit. nach Reichard 1994, S. 117. Vgl. auch die Diskussion der Pressekritik und des Publikums in Bramkamp 1990, S. 56–60.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Interesses an Literatur von Frauen seit den 1970er Jahren erst allmählich mehr Beachtung findet.329 Hier mag sich wiederum ihr aristokratischer Status in Bezug auf die dargestellte Gesellschaft bei der Bewertung ihres Werks negativ auswirken. Während noch die Zeitgenossen ihre Stoffwahl beispielsweise in dem gesellschaftskritischen Roman Das Gemeindekind als fortschrittlich werteten, gilt er modernen feministisch ausgerichteten Leserinnen aufgrund des »traditionellen Sozialmodells von Gutsherrschaft und Untergebenen« und dem dargestellten Bildungsprozess des mittellosen Protagonisten in seinem Dorf als »idyllisierend-regressiv«;330 die Fortschrittsmetaphorik wird hier durch den Bindestrich mit der Annahme gekoppelt, dass die literarische Entwicklung weg von der Idylle und hin zu einer politisch realistischen Literatur führt. Dabei sticht der Roman in seiner von poetischen Realismen dominierten Zeit eher durch seine anti-idyllische Darstellung der Figuren und Konflikte hervor. Es steht zu vermuten, dass bei der modernen Verurteilung des Romans Ebner-Eschenbachs Zugehörigkeit zur Gruppe der Gutsherren mitspielt, denn auch in der postumen Rezeption steht die Beziehung zwischen dem Werk und dem gesellschaftlichen Status und Geschlecht der Autoren in einem komplexen Wechselverhältnis, das je nach politischem und geschlechtlichem Standpunkt der Rezipienten unterschiedlich gewichtet wird. Die Bedeutung gesellschaftlicher Vorgaben für den Autor lässt sich in Bezug auf Frauenliteratur besonders deutlich verfolgen, da die Funktion von Frauen klar bestimmt war. So wurde Frauen im 19. Jahrhundert besonders in der erzählenden Literatur eine aktive Rolle zugestanden, weil sie hier als Erzieherinnen von ›jungen Töchtern‹ fungieren konnten. Wie weibliche Autoren die Erwartungen der Gesellschaft erfüllten, verdeutlicht eine Anzeige für Ernestine Diethoffs Erzählungsband Der Veilchen-Bund.[…] Eine Mitgabe für junge Töchter: Dieses Buch behandelt die Geschichte einiger der verschiedensten Lebenskreisen angehörenden jungen Mädchen, welche mit einander konfirmiert wurden. – Die Frau in ihrer Thätigkeit und Wirksamkeit als Gehülfin des Mannes, in ihrem Verhältnisse zur Gesellschaft, im weiteren Sinne wie im engeren Raume ihrer Häuslichkeit, Kindern und Untergebenen gegenüber: diese mannigfachen Vorkommnisse bilden den Kernpunkt dieser Erzählung. – Nicht weniger betont die Verfasserin die Pflichten, die das Vaterland von seinen Töchtern fordert; es führt endlich die Frauen als Pflegerinnen des Idealen, als Priesterinnen des Schönen vor Augen.331
329 In der »Deutschen Literaturgeschichte« von Beutin, Ehlert u. a. 1992 erscheint der Name Ebner-Eschenbach gar nicht, in der Auflage von 2001 dagegen zweimal. In Brinker-Gabler 1988 und Gnüg/Möhrmann 1999 wird ihr Werk nur gestreift. Insgesamt ist das Interesse in der Forschung wenig ausgeprägt; vgl. jedoch den aspektreichen Sammelband von Polheim (1994). 330 Fliedl 1988, S. 81. 331 Anon. 1988.
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Die ›Welt‹ der Literatur wird auf diese Weise der empirischen Welt angeglichen: Die weibliche Verfasserin hat die Aufgabe, durch ihre ›Mitgift‹ junge Leserinnen auf speziell weibliche Aufgaben vorzubereiten. Sie wird damit auf eine Literatur festgelegt, die ihren Wert aus dem moralischen Nutzen statt aus ästhetischer Qualität bezieht, wobei die projizierte Vielfalt der dargestellten »Vorkommnisse« über deren strikte gesellschaftliche Funktionalisierung hinwegtäuscht. Wenn auch die Autorin sowohl den »engeren Raum« der »Häuslichkeit« als auch den ›weiteren Raum‹ der »Gesellschaft« behandelt, so ist sie doch hinsichtlich ihrer Adressaten auf die private Welt eingeschränkt; ihre Aufgabe ist es, der Gesellschaft als Sprachrohr für deren kollektive Bedürfnisse zu dienen, indem sie ihre private Rolle als Erzieherin erfüllt. Die Anzeige für Diethoffs Buch verdeutlicht die Spannungen, denen der Autor und das Werk in Bezug auf die Gesellschaft ausgesetzt ist, zumal dem Autor in der Konstruktion der dargestellten Welt viele Möglichkeiten des Bezugs auf die empirische Welt offenstehen und die Beziehung zwischen der im Werk dargestellten Welt und der empirischen Welt im Rezeptionsprozess der Interpretation unterliegt. Dabei wirken Gattungsvorgaben sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption mit. Die Komplexität lässt sich an Fontanes Roman Effi Briest verfolgen. Hier gibt die persönliche, politische und moralische Neutralität des Erzählers keine eindeutige Autorintention zu erkennen; entnehmen kann man sie spekulativ der sympathischen Darstellung der Titelheldin und ihrem traurigen Ende.332 In einem Brief kommentiert Fontane jedoch die Sympathie des Publikums für Effi mit Befremden und wertet die Tatsache, dass die Leser(innen) die moralische Überlegenheit Instettens nicht zu erkennen vermögen, als moralische Insuffizienz: Ja, Effi! Alle Leute sympathisiren mit ihr und Einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen »alten Ekel« zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, giebt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten »Moral« liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind.333
Der Autor projiziert sich hier als moralischer Richter über seine Leser. Dass sie ›falsch‹ lesen, erweist er durch die Fokussierung ihres Gefühls (›Sympathie‹, ›Liebenswürdigkeit‹, »Herz«). In beiden Texten entscheidet er den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft zum Nachteil des Individuums, aber die Rolle des empirischen Autors differiert: Im Falle des Romans erlaubt die seit Aristoteles ästhetisch legitimierte Distanz und die Einschiebung des neutralen Beobachters eine unverfängliche Herausstellung der Perspektive des devianten Individuums; im Falle des Briefes, in dem gattungsspezifisch die Identität von Produzent und Ich vermittelt wird, stellt sich 332 Fontane 1962–1997, Abt. 1, Bd. 4, S. 7–296 (Effi Briest). 333 Ebd., Abt. 4, Bd. 4, S. 493 f. (Fontane an Clara Kühnast, 27.10.1895).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Fontane als Stütze der Gesellschaft dar. Wie sich diese Rollen zum ›wirklich‹ authentischen Fontane verhalten, ist eine Frage für Biographen; für die Literaturwissenschaft bleibt die Spannung zwischen den Rollen bedeutsam, weil sie sich wechselseitig schärfer profilieren und als aussagekräftig erkennbar werden. Beachtenswert ist zudem aus heutiger Sicht die Fokussierung der »Moral« in einem Kontext, der politisch kommentierungswürdig erscheint: Privilegiert ist unter Ausblendung politischer Implikationen die Oberschicht und eine frauenfeindliche Moral – eine Moral, die der Roman in Frage zu stellen scheint, die Fontane brieflich jedoch bestätigt. Selbst die idealistisch legitimierte, von ästhetischen Kriterien geleitete ›künstlerische Hand‹334 ist weder moralisch noch politisch neutral, es sei denn, man erklärt den literarischen Text a priori zum ästhetischen Schutzgebiet. Extremer Druck von Seiten der Gesellschaft kann zum Verstummen von Literatur führen oder zu Ausweichmanövern; typisch ist auch der literarische Gegendruck. Eine besondere Ausprägung zeigt die DDR-Literatur, weil die Erfahrung des Faschismus eine Kongruenz der Ideale von Staat und Schriftsteller nahelegte und der Staat die Rolle des Schriftstellers als Meinungsbildner wertschätzte. Was als produktive menschliche Zusammenarbeit erscheinen konnte, basierte allerdings auf dem Streben nach einer umfassenden Verdinglichung der Schriftsteller. Dass diese geradezu zu den Grundbedingungen dichterischen Schaffens gehörte, verdeutlicht ein Diktum von Lenin, dessen Status als Ideologiegeber seinen Aussagen nicht nur für die Politik, sondern auch für die Kulturpolitik und das Schaffen des einzelnen Autors in der DDR durchgreifende Autorität verlieh. Lenin bestimmt die Funktion des Schriftstellers umfassend durch Maschinenmetaphorik: die literarische Tätigkeit […] darf überhaupt keine von der allgemeinen Sache des Proletariats unabhängige individuelle Angelegenheit sein. Weg mit dem parteilosen Literaten! Weg mit dem literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muß zu einem Bestandteil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem »Rädchen und Schräubchen« des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden […]. Die Literaten müssen auf jeden Fall den Parteiorganisationen angehören. Die Verlagsunternehmungen und Lager, die Läden und Lesezimmer, die Büchereien und verschiedenen Buchhandlungen – alles das muß der Partei unterstehen und ihr zur Rechenschaftslegung verpflichtet sein.335
Mit der Ablehnung des »literarischen Übermenschen« wird dem Autor das seit dem 18. Jahrhundert geltend gemachte Privileg des Genies genommen und das in der traditionellen gesellschaftlichen Hierarchie ›unten‹ angesiedelte Proletariat zum Maßstab erklärt. Die Metapher von der literarischen 334 Vgl. Fontane 1969, S. 241; s. o., S. 270. 335 Lenin 1972. Angesichts der Ausrichtung der Kulturpolitik der DDR am sowjetischen Kommunismus wird hier nicht ein deutschsprachiger Kulturpolitiker, sondern die grundlegende Aussage von Lenin zitiert.
11. Der Autor in der Gesellschaft
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Tätigkeit als »Bestandteil« des politischen Mechanismus bildet den Gegenpol zur Autonomieästhetik: Die hierarchische Verbindungsmetapher von der ›Abhängigkeit‹ strukturiert den gesamten kommunikativen Prozess, durch den das Werk an den Leser vermittelt wird. Die Literatur der 40-jährigen Republik lässt sich gewissermaßen als Experiment in der Abhängigkeit der Literatur von politischen Vorgaben verfolgen, wobei die leninsche Metaphorik grundsätzlich die bis zuletzt herrschenden Mechanismen verdeutlicht. Die Autoren waren in einen gemeinschaftlichen Prozess eingebunden; das Werk wurde zum interaktiven Gemeinschaftsprojekt, bei dem die vorgegebenen Normen als Leit- oder Gegenbild fungierten und als ›Schere im Kopf‹ sowie in der Hand der Gutachter den Text mitgestalteten; und die Rezipienten verstanden Autoren und Werke als Teil eines geschlossenen Systems, in dem individuellen Aussagen immer auch gesellschaftliche Relevanz zukam. Die Bekanntheit dieses Prozesses erlaubte jedoch zunehmend differenzierte Abweichungen von vorgegebenen Linien. Der kommunikative Prozess bezüglich der Produktion des literarischen Werkes gestaltete sich zum Teil aufgrund der Partizipation unterschiedlicher Institutionen und Individuen äußerst komplex,336 und auf der Basis des marxistischen Kanons gab es in Einzelfällen – so im Werk von Heiner Müller – auch radikale Abweichungen von der literarischen Parteilinie. Vor allem florierte die aussagekräftige Ironie. Beispiel ist Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman, der 1981 der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur vorlag, aber erst 1985 publiziert wurde.337 Sozialistischen Vorstellungen getreu konzipierte man das Ringen um den Text als gemeinsame »Arbeit«, wie aus einem 1984 verfassten Gutachten zu Brauns Manuskript hervorgeht: Während der langwierigen Arbeit am Manuskript wurde u. a. erreicht, daß zwei größere, künstlerisch und ideologisch bedenkliche Passagen gestrichen wurden: die Episode einer ausschweifenden Feier Kunzes bei einem kirchlichen Repräsentanten sowie ein Abstecher in die Westberliner Chaoten-Szene. Weitere, wesentlich erscheinende Veränderungen konnten zu dieser Zeit nicht durchgesetzt werden.338
336 Die Interaktion zwischen Dichter und staatlichen Institutionen ist punktuell sehr gut dokumentiert, so in dem Ausstellungsband zur »Zensur in der DDR« von Wichner/Wiesner 1991. Vgl. auch die differenzierte Darstellung der Beziehung zwischen Partei und Autoren in Emmerich 1996, passim. 337 Braun 1985a. Ich beziehe mich auf die Ausgabe des Mitteldeutschen Verlags. Diese unterscheidet sich durch die Beigabe einer »schöngeistigen Lesehilfe von Dieter Schlenstedt«, die als bedeutender Teil der intertextuellen Struktur des Romans zu werten ist, da hier mit Ironie auf die Beziehung zwischen Verlag und Leser eingegangen wird und Briefe »aus dem Verlagsvorgang ›Hinze-Kunze-Roman‹« dargeboten sind. Die Suhrkamp-Ausgabe (Braun 1985b) bietet stattdessen einen kurzen »Nachtrag« vom Autor; auch dieser integriert den Text allerdings in die umliegende Textlandschaft: Am Ende biegt der Verfasser »um die Ecke, in eine unbeschriebene Gegend« (ebd., S. 199). 338 Neubert 1991.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Das literarische Schaffen wird mit dieser Metapher in das gesamtgesellschaftliche Projekt integriert, das auf produktive, gemeinschaftliche Arbeit fokussiert ist und Konflikte als Teil eines dialektischen Prozesses versteht, der auf kollektiven Fortschritt ausgerichtet ist. In diametralem Gegensatz zu einer autonomieästhetischen Literaturkonzeption finden die gesellschaftlichen Prozesse, denen die Produktion des Werkes ausgesetzt ist, Eingang in das Werk. Der Effekt der Zensur manifestiert sich in Brauns Werk nicht nur implizit als Resultat der staatlich gesteuerten ›Arbeit‹ am Manuskript, sondern wird ironisch explizit gemacht, wenn Braun eine Lesung beschreibt, in der er sich selbst »im gesellschaftlichen Interesse« einem »Gremium« stellt, das er »im selben Interesse nicht näher beschreibt« – wobei es sich um den Schriftstellerverband handelt und die dargestellte Kritikerin eine öffentlich anerkannte Autorität ist: Hätte sich der Autor B., fuhr Frau Prof. Messerle fort, an das gehalten, was wir gesagt haben, immer wieder gesagt haben, immer und immer wiederholt haben in unseren Modezeitschriften, hätte er einmal die Strickvorlagen angesehn! Wie der Autor N., dessen Buch der Hauptverwaltung sehr gefallen hat, der sich, nach einem schwierigen Beginn, die Mühe machte, seine Figuren hinzu-, schrieb/las ich stockend, biegen, hinzukriegen.339
Hier spricht weder der alleinverantwortliche Schöpfer des Romans, noch auch ein romantisch selbstreflexiver Verfasser. Es schreibt vielmehr – wenn auch ironisch verkompliziert – der empirische Autor Volker Braun, der seinen Text gegenüber den staatlich vorgegebenen Texten und in Gegensatz zum offiziell erwünschten Bild von »Autor B.« durchsetzt. Die Verdinglichung der auch dem Leser bestens bekannten staatlichen Ideologeme und Instanzen zum erkennbaren Klischee ermöglicht die direkte Kommunikation zwischen Autor und Leser über die Prozesse der Kommunikation im gemeinsamen Kommunikationsraum DDR. Der Prozess der Zensur, das Eingreifen staatlicher Instanzen in den Text sowie auch die Anpassung an staatliche Vorgaben werden durch Metaphern der Lächerlichkeit preisgegeben: Der Name »Messerle« vermittelt die öffentliche ›Beschneidung‹ des Textes; die »Modezeitschriften« und »Strickvorlagen« ironisieren die phantasielose Festlegung der Literatur auf vorgegebene Muster in den literaturkritischen Zeitschriften und Rezensionen; und die Metaphorik eines handwerklichen ›Hinbiegens‹ der Figuren, damit sie vorgegebenen Formen entsprechen, kommuniziert die Anpassung parteitreuer Autoren. Die Tatsache, dass der schließlich publizierte Roman erfolgreich durch den Prozess der Zensur hindurchgegangen ist, erweist die Machtlosigkeit der Zensur über das Werk, zumal die satirische Thematisierung der Zensur ihr die Spitze nimmt. Der Maßstab war jedoch letzlich dennoch das von der Partei 339 Braun 1985a, S. 145 f. »Frau Prof. Messerle« = Prof. Anneliese Löffler, die später das Werk negativ rezensierte. »N.«= Dieter Noll, Roman »Kippenberg« (1979).
12. Außenseiter
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bestimmte ›gesellschaftliche Interesse‹: Die Veröffentlichung verdankte Braun der Überzeugung des Verlags, dass Braun »mit seiner ganzen Person auf unserer Seite steht« und dass bis dahin »sein künstlerisches Schaffen […] für das Ansehen unserer Republik und unserer Literatur im Ausland sehr nützlich« gewesen sei.340 Die Beurteilung des Werkes ist somit eingebunden in eine groß angelegte, internationale politische Konstellation. Die ›Arbeit‹ am Text ist Teil eines umfassenden politischen Bildungsprozesses, den der Autor mit seinem Werk an den Rezipienten weitervermittelt. Die DDR-Literatur entwickelte sich aus einer ganz spezifischen politischen Konstellation heraus, die bedeutende Auswirkungen für die Rolle des Autors hatte. Diese sind nicht nur negativ zu sehen. Denn Zensur bezeugt öffentliches Interesse an Literatur und macht den Text gerade in einem politisch restriktiven Kontext für viele Leser besonders interessant – wenn sie sich das Unterlaufen der Kontrolle erhoffen oder aber eine Wertstiftung suchen, die Alternativen zum offiziellen Diskurs bietet. Dies fördert ein Gespür für kommunikative Strategien und Prozesse, die sich auf verschiedenste Weise literarisch nutzen lassen. Die Autoren begegneten dieser Herausforderung mit enormem Erfindungsgeist, indem sie sich in Auseinandersetzung mit der Tradition besondere Rollen schufen und immer wieder neue intertextuelle Techniken erprobten. Diese gilt es zu verfolgen; jenseits von Fragen spezifisch ästhetischer Qualität sensibilisieren sie für Möglichkeiten der literarischen Kommunikation, die in anderen Gesellschaften nicht gegeben sind.
12. Außenseiter Die Rolle des Dichters als Außenseiter ist schon seit der Antike ein stehender Topos: Homer, der archetypische Dichter, war ein Vagant, der mangels eines festen Wohnsitzes, treuer Freunde und nutzbringender Fähigkeiten gezwungen war, im Land umherzuziehen, um mit seinen Gesängen ein Auskommen zu suchen. So jedenfalls will es Platon341 – wiewohl der Kontext seiner Charakterisierung deutlich macht, dass Homer zumindest zu Platons eigenen Zeiten als Vermittler der grundlegendsten Werte griechischer Kultur galt und sein Werk eine zentrale Rolle in der Gesellschaft hatte. Auch in der Folgezeit birgt der Topos vom gesellschaftlichen Außenseitertum des Dichters immer die Möglichkeit, dass sich gerade darin seine Bedeutung für die Wahrung jener Werte manifestiert, welche in den Wirren der unmittelbaren Gegenwart verdrängt werden. Wenn Martin Mosebach anlässlich der Debatte um den Heine-Preis vom Schriftsteller verlangt, er solle die Sache 340 Günther 1991, S. 155. 341 Platon 1982, S. 438 (10. Buch; 600b-e). S.o., S. 42 f.
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des »Verfemten« vertreten,342 so steht diese Vorstellung von der grundsätzlichen ethischen Verantwortung der ›Zunft‹ mit der Erwartung in Zusammenhang, dass der Schriftsteller aufgrund seiner Phantasie und Sensibilität sowie seiner gesellschaftlichen Stellung eine besondere Affinität zu den Außenseitern hat. Vor allem seit der Romantik ist der von Horaz satirisierte Dichtertypus, der am »abgeschiedenen Ort« ein von den Werten und Praktiken der zivilisierten Welt unabhängiges Dichtertum verwirklicht,343 geradezu das Idealbild des Dichters, da ihm eine besondere Empfänglichkeit für natürliche oder übernatürliche Inspiration zugesprochen wird. In der deutschen Literaturgeschichte konzentriert sich die Idealvorstellung vom Dichter als Außenseiter in der Figur von Hölderlin, zumal dieser das Außenseitertum thematisiert, biographisch ein Außenseiter war und auch aus der Literaturgeschichte bis zu seiner Wiederentdeckung durch den George-Kreis ausgegrenzt wurde. Für Hölderlin konstituiert sich das moderne Dichtertum aus der Spannung zur antiken Kultur, und seine hohe Aufgabe verwirklicht sich geradezu in der gesellschaftlichen Isolation: Indessen dünket mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein, So zu harren, und was zu tun indes und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester, Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.344
Der Wert des Dichters als Außenseiter ist in Hölderlins dreiteiligem Geschichtsbild begründet: Denn den Dichtern kommt die Aufgabe zu, die Ideale der goldenen Zeit durch die »dürftige Zeit« hindurch zu retten, damit sie dann in der Zukunft wirksam werden können. Der Vergleich der Dichter mit den Priestern des Dionysos enfaltet somit eine intensive Wirksamkeit, denn er evoziert zugleich die Werte der antiken Welt, die Aufgabe des Dichters in der modernen Welt, und seine Ausrichtung auf eine Zukunft, von der nur die Seher wissen. Dass Hölderlin die ›Dürftigkeit‹ der eigenen Zeit allerdings auch mit der materiellen Bedürftigkeit des Dichters assoziiert, geht aus einem Brief an den Bruder hervor. Hier nun rückt die Kunst in den Vordergrund, denn er macht sie, nicht die menschliche Gesellschaft, für eine Existenz verantwortlich, die ihre Berufung nicht zu verwirklichen vermag: Weißt Du die Wurzel alles meines Übels? Ich möchte der Kunst leben, an der mein Herz hängt, und muß mich herumarbeiten unter den Menschen, daß ich oft so herzlich lebensmüde bin. Und warum das? Weil die Kunst wohl ihre Meister, aber den Schüler nicht nährt. […] Ist doch schon mancher untergegangen, der zum
342 Mosebach 2006. 343 Horaz 1984, S. 22 f. (V. 295–302). 344 Hölderlin 1992–1994, Bd. 1, S. 290 (Brot und Wein, V. 119–124).
12. Außenseiter
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Dichter gemacht war. Wir leben in dem Dichterklima nicht. Darum gedeiht auch unter zehn solcher Pflanzen kaum eine.345
»Kunst« versteht Hölderlin als von Gott und Natur stammende Gabe und Aufgabe: In einem anderen Brief führt er aus, sie sei eine »von Gott gegebene natürliche Gabe«, deren ›Aufopferung‹ eine »Sünde« sei.346 In diesem Passus jedoch rückt er mit der Pflanzenmetaphorik die Kunst als Natur ins Zentrum, die ihre Aufgabe der Pflege vernachlässigt und nicht das geeignete Klima schafft, in dem das von ihr Hervorgebrachte gedeihen könnte. Hölderlin vollzieht in seinem Selbstverständnis nach, was Kant philosophisch gegenüber Platon durchsetzte: Kant legitimiert die Dichtung, indem er sie gesellschaftlichen Zwängen und materiellen Interessen enthebt. Hölderlin zieht hier nicht die mögliche Konsequenz, der Gesellschaft die Verantwortung für die Pflege der hohen Kunst zuzuweisen, sondern sublimiert die Dichtung zur heiligen Aufgabe und stellt sein Dichterschicksal der Kunst selbst anheim. Erwogen wird auch die Alternative, »daß ich die Freiheit, die mir nötig ist, […] ertrotze«; dazu jedoch sei er ein zu »schwacher Held«, zumal auch der »Krieg« der Kunst nicht günstig sei.347 So ist der Dichter der existenziellen Gefährdung ausgesetzt, die im ›Untergang‹ enden kann. Hölderlin reflektiert sein Selbstverständnis und seine dichterischen Möglichkeiten höchst individuell in den etablierten Metaphern der zeitgenössischen Diskussion um die Dichtung und setzt auch Topoi ein, die in den Poetiken der frühen Neuzeit erörtert wurden, so den Topos vom geeigneten Klima für die Dichtung, der die nordeuropäischen Nationalliteraturen zur Legitimation zwang und erst mit der Entdeckung des im unwirtlichen Klima von Schottland reüssierenden ›Ossian‹ ad acta gelegt wurde. Wie bei Goethe werden diese Metaphern zu grundlegenden Strukturen der eigenen Poetik und dichterischen Laufbahn und prägen zudem das Bild in der Rezeption. Hölderlin endete isoliert im Turm, durch Wahnsinn tragisch ausgegrenzt von der Gesellschaft und vom öffentlich produktiven Dichtertum. Für Dichter im 20. Jahrhundert verkörperte er den Wanderer, der sein Genie als Außenseiter der Gesellschaft verwirklichte und damit zum Urbild des modernen Dichtertums wurde. Insbesondere Georg Trakl stellte sein Dichten zunehmend ins Zeichen Hölderlins, so vor allem in dem Gedicht Helian, in dem mythische Figuren aus Antike und Christentum mit dem Mythos vom wahnsinnigen Dichter zusammenwirken, um das eigene Dichten imaginativ auszugestalten und performativ zu verwirklichen.348 Biographie, Mythos, dichterische Tradition, Bildlichkeit, Sprache und Rhythmik
345 346 347 348
Ebd., Bd. 3, S. 288 (Hölderlin an den Bruder, 12.2.1798). Ebd., S. 339 (Hölderlin an die Mutter, Januar 1799). Ebd., S. 288 (Hölderlin an den Bruder, 12.2.1798). Trakl 1987.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
wirken auch in Trakls Dichtung zusammen, um nachfolgenden Generationen das Bild vom Dichter als Außenseiter einzuprägen. Hölderlins Dichtertum ist getragen von der Überzeugung der göttlichen Legitimation – ein Topos, der in der Antike stark ausgeprägt ist und in der deutschen Tradition besonders von dem Messias-Dichter Klopstock unter christlichem Aspekt erneuert wurde. Er vermag dem Dichter unabhängig von gesellschaftlicher Anerkennung und materiellem Erfolg Selbstbewusstsein zu vermitteln. Allerdings schafft auch dieser Legitimationstopos Außenseiter: So erfährt Christine Lavant die eigene Kunst als ›Sünde‹ gegen das Göttliche, denn als Frau im katholischen Kärnten erwartet sie von sich die Erfüllung weiblicher Lebensbestimmung. In diesem Dichterschicksal manifestiert sich somit zugleich der geschlechtliche Aspekt des Topos – der poeta vates ist vornehmlich ein männlicher Typus – und die Bedeutung der Konfession als Kontext für die Poetik. Geprägt ist Lavants Identität von mangelnder Gesundheit und Kinderlosigkeit: Überhaupt ist mir das Dichten so peinlich. Es ist schamlos […] wäre ich gesund und hätte 6 Kinder, um für sie arbeiten zu können: das ist Leben! Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar.349
›Kunst‹ gerät hier sowohl zum natürlichen Leben als auch zum moralisch Guten in Gegensatz, weil die von Gott gegebene Aufgabe der Frau das natürliche Gebären und nicht die geistige Arbeit ist. Dabei ist die Metapher von der Kunst als ›verstümmeltes Leben‹ zugleich spezifisch persönlich: Einerseits bezieht sich die Bemerkung nur auf jene von der Autorin geschaffene Kunst (»Kunst wie meine«) und zum anderen reflektiert die Metapher von der ›Verstümmelung‹ die eigene biographische Situation. Zur Verfügung steht ihr jedoch aus dieser Spannung des Außenseitertums heraus der Bezug zu biblischen Vorbildern und deren dialogischer Auseinandersetzung mit Gott. Lavants Dichten bewegt sich zwischen Gebet und Anklage, Aufforderung und Herausforderung, Klage und Liebe. Sie bringt sich dabei mit ihrem ganzen Körper und religiösen Erfahrungsschatz ins Gedicht ein: ZERSCHLAGE DIE GLOCKE in meinem Gehör, durchschneide den Knoten in meiner Kehle, erwärme mir mein erdrosseltes Herz und mache die Augäpfel zeitig. Verkümmert kam ich vom Mutterleib. O hättest du mich in die Sonne geworfen und nachts in den Hundsstern! – Dein Zartsinn ist schuld, daß ich notreif die Brandstatt durchwühle.
349 Lavant 1978, S. 234.
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Wer hat mir die Erde zu früh verlöscht? Die Glocke wäre darin geschmolzen, der Knoten verbrannt und mein Herz ganz erglüht, meine Augäpfel hätten jetzt Kerne.350
Das Gedicht ist intertextuell verknüpft mit Psalm 22, der wiederum mit der Passionsgeschichte verbunden ist: »Mein Gott / mein Gott / warumb hastu mich verlassen?«;351 als verachteter »Wurm« statt als »Mensch« bewegt sich der Psalmist zwischen Gottverlassenheit und Gottvertrauen. Zum Zentrum des Gedichts macht Lavant die Geburt, die der Psalmist als Grund der Zuversicht feiert: »Denn du hast mich aus meiner Mutterleibe gezogen / Du warest meine Zuuersicht / da ich noch an meiner Mutter brüsten war. Auff dich bin ich geworffen von Mutterleibe / Du bist mein Gott von meiner Mutterleib an.«352 Gottes aktive Teilnahme an der Geburt des Psalmisten wird bei Lavant zu verfehltem Handeln, das die Klage in der Tradition Hiobs hervorruft: »Warumb hastu mich aus Mutterleib komen lassen? Ah / das ich were vmbkomen.«353 Die Tradition biblischer Außenseiterstimmen, die zu Gott in Dialog treten, ermöglicht ein Dichten, das trotz Scham und Sünde und trotz des »Knotens« in der »Kehle« wirksam zu sein vermag. Das nicht verwirklichte aktive Leben äußert sich metaphorisch – im Zerschlagen, Durchschneiden, Erwärmen, Schmelzen, Verbrennen, Erglühen und Fruchtbarwerden. Eine politisch gegründete Tragik entfaltet das Schicksal des dichterischen Außenseitertums in der Zeit des Nationalsozialismus, als eine Ideologie der Ausgrenzung unzählige Exilanten hervorbrachte. Für jüdische Dichter – wenn sie nicht ermordet wurden – brachte die Vertreibung nicht nur die persönliche Entwurzelung, sondern auch den Verlust der kulturellen und sprachlichen Heimat sowie den Wegfall einer unmittelbaren Rezeptionsgemeinschaft. Unermesslich ist, wie viele Dichter selbst in der Nachkriegszeit aufgrund der Exilbedingungen aus der schriftstellerischen Außenseiterstellung nicht herauskamen.354 Eine besondere Wirkkraft entwickelt die Rolle des Wanderers und Exilanten in dem großartigen, fragmentarisch gebliebenen Zyklus Eroberungen des Dichters und Anthropologen Franz Baermann Steiner,355 den er während des Kriegs verfasste und als »meta-
350 351 352 353 354
Lavant 1959, S. 104. Ps. 22, 1. Vgl. Matt. 27, 46 und Mark. 15, 34. S.a. Ps. 22, 19 und Joh. 19, 23 f. Ps. 22, 10 f. Hiob 10, 18. Diese Schicksale lassen sich nur spekulativ erschließen, wobei individuelle Biographien einen Einblick in die Problematik geben; vgl. z. B. H.G. Adlers autobiographische Essays (Adler, H.G. 1998a und 1998b). 355 Steiner 1964. Vgl. auch Steiner 2000. Konzipiert waren 13 Teile, von denen zwei nicht und einer nur unvollständig ausgearbeitet wurde.
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physisches autobiographisches Gedicht« bezeichnete.356 Der Wanderer erscheint subjektlos mythisch im ersten und letzten Teil des Werkes: »Der schritt schwingt hin, | Den abend durcheilt der leib, | Gedehnte brust achtet nicht der arme.«357 Andere Figuren weiten den Kreis, so der »Einsame« und der »Sterbende«.358 Besonders die Figur des »Einsamen« zeigt die Macht der Personifikation. In dieser Figur erhält die Einsamkeit des Exils Gestalt und wird verknüpft mit der Joseph-Figur, die das spezifische Exil des jüdischen Volkes verkörpert: Er ist der »erste von uns, der die heimat verlor«.359 Zugleich evoziert diese Gestalt Steiners eigenes Exil in Großbritannien, das wiederum mit der Babylonischen Gefangenschaft verflochten wird. Das gegenwärtige Schicksal der jüdischen Vertriebenen und Toten wird in den mächtigen Rhythmen der paränetischen Elegie beklagt: Wenn die gemeinsamen straßen der schönen erde Voll sind der fliehnden, schwarzer donner Kindlein und schreie verschlingt, die geliebten leiber der menschen (jeder das rätselgeschäft von selig verädertem blut, von besungenen, keinmal geborgenen schätzen) Frevlich zerhaun, verwesen auf offnem feld, Daß verwandtes getier und vögel der zeiten und lüfte Lumpen verschleppen, gefetzt aus trautem gewand, Zerren und sammeln der mädchen gepriesenes haar Für den in erdgang und wipfel klügeren bau; Wenn dies alles so ist, wie aber und aber geweissagt: Schweige.360
Das Schicksal des jüdischen Volkes wird in seiner mythisch tradierten Geschichte und »geweissagten« Bestimmung evoziert, indem das Gedicht in erschütternden Bildern von der gegenwärtigen Verfolgung zeugt. Steiner setzt hier die höchste sprachliche Kraft – entwickelt aus der intensiven Arbeit mit der Dichtung von Klopstock, Hölderlin, Rilke und Trakl – für die Aufforderung zum ›Schweigen‹ des Gedenkens ein. Steiner entfaltet zwischen dem durch die Schrift vermittelten, eindringlichen Sprechen im bewegendsten Stil und dem als Vorstellung wirksamen, das Sprechen an emotionaler Intensität noch überbietenden ›Schweigen‹ ein großes Spektrum sprachlicher Äußerung: das dichterische ›Besingen‹ und ›Preisen‹, die »schreie« der existenziellen Bedrohung, das von Sehern ›Geweissagte‹ und den an die Stimme Jahwes gemahnenden »donner«. Steiner trägt zur Literatur des jüdischen Volkes ein Gedicht bei, das die deutsch356 Steiner an Rudolf Hartung, 5.4.1948. Zitiert nach Fleischli 1970, S. 42. Zu den aus komplexen autobiographischen und intertextuellen Bezügen entwickelten Figuren des Werkes vgl. Kohl 2003. 357 Steiner 1964, S. 12 (I, V. 8–11); s. a. ebd., S. 60 (XIII, V. 61–76). 358 Titel des V. bzw. VIII. Teils und passim. 359 Steiner 1964, S. 28 (V, V. 153). 360 Ebd., S. 47 (X, V. 10–21).
13. Bezüge zum Übernatürlichen
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jüdische Katastrophe besingt – in der Sprache der Verfolger, die auch die eigene Sprache ist. Zugleich geht es um die Toleranz gegenüber dem Anderen – eine Toleranz, deren Notwendigkeit besonders der Wanderer und Exilant begreift und die sich auf den »gemeinsamen straßen der schönen erde« verwirklicht. Indem Steiner Texte aus verschiedenen Traditionen, Sprachen und Kulturen zusammenführt,361 setzt er dem brutalen Mord am Fremden eine Poetik der Liebe menschlicher Vielfalt entgegen. Die deutschen Literaturen der Nachkriegszeit waren geprägt von deutsch-deutschen Grenzen und der Auseinandersetzung mit der Geschichte deutschsprachiger Kultur. Die moralischen und politischen Herausforderungen, die im ›Literaturstreit‹ unter dem Banner der ›Gesinnungsästhetik‹ verhandelt wurden, sind mit der Wende nicht geringer geworden. Vielmehr haben die neuen politischen und kulturellen Strukturen erst recht Fragen nach den Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens aufgeworfen, wobei im Zeitalter der Globalisierung weniger Übereinstimmung denn je über die ›Grenzen‹ zwischen Nationen und Kulturen besteht. Die Notwendigkeit, aufeinander einzugehen, ohne die Vielfalt kultureller Identitäten im Namen einer ›Leitkultur‹ zu unterdrücken, zeigen besonders Autoren, die aus der Perspektive des für kulturelle Differenzen sensibilisierten ›Außenseiters‹ schreiben, wie um die Jahrtausendwende Herta Müller, Emine Özdamar, Libuše Moníková oder Feridun Zaimoglu. Indem sie das Fremde und das Einheimische zueinander in Bezug setzen, verdeutlichen sie Prozesse der Ausgrenzung, aber auch Möglichkeiten der produktiven Interaktion.
13. Bezüge zum Übernatürlichen Sprache dient nicht nur der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern auch einer Sinnstiftung, die über die Existenz physischer Phänomene hinausgeht. In Beschwörungsformel, Zauberspruch und Gebet äußert sich zudem das Vertrauen in die Kraft der Sprache, metaphysische Mächte zu beeinflussen: Semantische, strukturelle und klangliche Intensivierung verstärkt ihre geistige Macht. Die Beziehungen zwischen Dichter und Magier, Prophet, Priester, Medium oder gottgleichem Schöpfer sind ungemein vielfältig, nicht nur bezüglich der Verbindungen zwischen den Rollen, sondern auch hinsichtlich der Beziehung zwischen dem empirischen Glauben des Autors, der im Werk projizierten Rolle und der Reaktion der Rezipienten auf den metaphysischen Anspruch – eine Reaktion, die von Akzeptanz bis 361 Im geplanten, aber nicht ausgeführten neunten Teil sollten ein walachisches und ein jiddisches Lied in einem wilden Medley verbunden werden, um im Kontext der magyarischen Eroberung die ethnische Vielfalt von Karpathorussland zu evozieren (vgl. Steiner 1964, S. 102–104).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Ablehnung reichen kann und die im Fortgang der Zeit der Veränderung unterworfen ist. Trotz der Säkularisierungstendenz seit dem 18. Jahrhundert bleibt der konfessionell oder individuell geprägte Glaube weiterhin für die Dichtung bedeutsam. Daneben bieten die Rollen beispielsweise des Magiers oder der Hexe dem modernen Dichter Möglichkeiten der Legitimation oder der – auch ironisch gebrochenen – Einflussnahme. Eine besondere Bedeutung hat mystisches Schrifttum, weil sich hier die Inspiration gewissermaßen in authentischer Form darstellt. Der inspirierte Mensch erfährt direkt die Stimme Gottes und teilt das Erfahrene möglichst originalgetreu mit, wodurch er allerdings zur offiziellen Lehre in Konkurrenz tritt. In Mechthild von Magdeburgs Das fließende Licht der Gottheit wird die Autorin zum Medium für die Wahrheit Gottes, die in direkter Rede gewissermaßen die Autorschaft übernimmt:362 Do offenbarte sich got […] und hielt dis buoch in siner vordern hant und sprach: »Lieb minú, betrübe dich nit ze verre, die warheit mag nieman verbrennen. Der es mir us miner hant sol nemmen, der sol starker denne ich wesen. Das buoch ist drivaltig und bezeichent alleine mich.« (Da offenbarte sich Gott […] und hielt dieses Buch in seiner rechten Hand und sagte: »Meine Liebe, betrübe dich nicht zu sehr, die Wahrheit kann niemand verbrennen! Wer es aus meiner Hand nehmen will, muß stärker sein als ich. Das Buch ist dreifaltig und verweist allein auf mich.«)363
Die Kennzeichnung des Textes als absolute »Wahrheit« schützt ihn und die (potenziell ketzerische) Autorin vor Angriffen seitens der Geistlichen, die für die Vermittlung der Wahrheit von Gott zuständig sind. Von dieser grundlegenden Legitimation ausgehend flicht Mechthild in einem auch für die mystische Tradition höchst ungewöhnlichen Werk Gattungen und Redeformen zusammen, so Erzählungen, Beobachtungen, Dialoge, Gebete und Hymnen, in denen immer wieder andere Perspektiven bestimmend werden. Entsprechend wechseln die Rollen: Mechthild erscheint als Visionärin, Liebende, Lehrerin, Mahnerin, Beraterin. Ihr Buch vermittelt die Erfahrung Gottes nicht als festgelegtes Dogma, sondern im Zusammenspiel von Reden und Schreiben als lebendigen Prozess. Die Wassermetaphorik im Titel des Werkes vermittelt zugleich die Form der Kommunikation zwischen Gott und der Inspirierten, wie sie ein zeitgenössischer Kommentator konzipiert: Dise schrift, die in disem buoche stat, die ist gevlossen us von der lebenden gotheit in swester Mehtilden herze und ist also getrúwelich hie gesetzet, alse si us von irem herzen gegeben ist von gotte und geschriben mit iren henden. Deo gratias. 362 Mechthild 2003. Mechthilds mittelniederdeutscher Text (entstanden zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und dem Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts) ist nur in einer lateinischen Version sowie in der hier zitierten oberdeutschen Version von Heinrich von Nördlingen (14. Jh.) erhalten. 363 Ebd., S. 136 f. (2. Buch, Abschnitt 26).
13. Bezüge zum Übernatürlichen
391
(Die Aufzeichnung, die sich in diesem Buche findet, ist aus der lebendigen Gottheit in Schwester Mechthilds Herz geflossen und ist hier genau so wiedergegeben, wie sie aus ihrem Herzen in göttlichem Auftrag hervorgegangen und mit ihren Händen niedergeschrieben worden ist. Deo gratias.)364
Die für die mystische Tradition zentrale Vorstellung von der Empfänglichkeit eines inneren, göttlichen Organs (Seele, Herz) im Körper des Individuums für die Stimme Gottes ist hier in das schriftliche Medium transponiert: Empfangen wird die von Gott ausgehende »Schrift« im »Herzen« Mechthilds, dem Leser mitgeteilt wird sie wiederum schriftlich von ihren »Händen«. Die Vorstellung, die Schrift sei in Mechthilds Herz »geflossen«, beansprucht Akzeptanz als Wahrheit: Der mystische Kontext ermöglicht das Wörtlichnehmen eines physisch implausiblen Prozesses. Die Produktivität solcher Beschreibungen für die Poetik zeigt beispielsweise Goethes Rezeption von Klopstocks Gelehrtenrepublik: »hier fliesen die heiligen Quellen bildender Empfindung lauter aus vom Trone der Natur.«365 Die Direktheit und physische Einfachheit des mystischen Kommunikationsprozesses ist hier einem unbestimmteren, säkularisierten Prozess gewichen: Der Gottheit entspricht die »Natur«, und dem Fließen der sprachlichen Äußerung von Gott ins Herz der Empfängerin entspricht das Fließen der »Empfindung« vom Autor mittels des Werkes in das Gefühl des Lesers. Das empfangende Herz ist mit der sprachlichen Äußerung zu einer allgemeineren ›Empfindung‹ verquickt, die Autor und Rezipient verbindet. Die Flüssigkeitsmetaphorik macht ähnlich wie bei Mechthild den Prozess der Kommunikation vorstellbar, es ist jedoch anzunehmen, dass Goethe diesen Prozess nicht physisch-wörtlich, sondern metaphorisch verstand. In Bezug auf die Vorstellung, dass das Individuum als Medium für die direkte Vermittlung von Gottes Wort fungiert, kann gerade mangelnde Gelehrsamkeit den authentischen Wert der Schrift erhöhen: Plausibel wird dadurch eine Unmittelbarkeit der Kommunikation, die den Gelehrten nicht erreichbar ist, da sie darauf angewiesen sind, die von anderen im äußerlichen Text tradierte, in ferner Vergangenheit direkt von Gott kommunizierte Wahrheit der Heiligen Schrift zu interpretieren. So betont Mechthild, sie sei »ungeleret«,366 wobei dies zu einer Zeit, als die Verbreitung der Lehre von Gott allein dem gelehrten Klerus zustand, auch eine apologetische Funktion hatte. Das Modell der Offenbarung des Johannes und der Topos vom Schreibbefehl Gottes wird von ihr noch überboten, denn Gott ist der Autor, der das Buch fertig in ihre Hände legt, der ihm den Namen gegeben hat und der sogar als eine Art ›Verlag‹ fungiert, indem er es 364 Ebd., S. 516 f. (6. Buch, Abschnitt 43). Zur Vermittlung von »Sprechen und Schreiben« in Mechthilds Werk vgl. Grubmüller 1992. 365 Goethe 1985 ff., Bd. 28, S. 377 (Goethe an G.F.E. Schönborn, 10.6.1774). 366 Mechthild 2003, S. 572 f. (7. Buch, Abschnitt 21).
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
in aller Welt verbreitet.367 Aus heutiger Sicht mag man annehmen, dass Mechthild hier die Gegebenheiten der Verbreitung von Schrifttum auf die religiöse Kommunikation übertragen hat und somit ein metaphorischer Prozess vorliegt. Für Mechthild und ihre Anhänger entsprach die Beschreibung der Wahrheit. Die geistliche Lyrik bis ins 18. Jahrhundert ist Teil eines breiten Spektrums an religiöser Literatur, und der Dichter erfüllt hier eine ähnliche Funktion wie der Autor erbaulicher Werke; so sind Gedichte beispielsweise ein wichtiger Bestandteil von Begräbnisschriften, und sie wirken mit anderen sprachlichen Gattungen zusammen, um den Trauernden Trost zu bringen. In der Auseinandersetzung mit dem Tod, aber auch mit der Vergänglichkeit des Lebens vermag der Dichter die Sprache der Bibel auf vielfältige Weise umzuwandeln und ihre bildliche Kraft sinnstiftend bewusst zu machen. Dies geht aus zwei Versen von Gryphius hervor – dem Abschluss des Gedichts »Abend«: Vnd wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen / So reiß mich auß dem thal der Finsternuß zu Dir.368
Das Leben als Zeitabschnitt ist hier auf konventionelle Weise durch eine Behältermetapher sowie die Analogie vom Lebensende als Abend dargestellt.369 Wirksam ist die Ausgestaltung. Dreidimensionale Landschaftsmetaphorik macht die räumliche Dimension visuell vorstellbar, und durch die direkte Anrede an Gott und die Lichtmetaphorik wird sie in kosmische Dimensionen ausgeweitet. Eine zeitliche Dimension ersteht aus der Metapher »Finsternis«, die im christlichen Kontext des Gedichts mit weltlicher Vergänglichkeit assoziiert wird. Emotionale Intensität vermittelt die Metapher vom »Tal der Finsternis« durch den Imperativ »reiß« und intertextuelle Assoziationen mit dem Psalter: »VNd ob ich schon wandert im finstern Tal / fürchte ich kein Vnglück / Denn du bist bey mir«, und »du hast meine Seele aus dem Tode gerissen«.370 Das ›Ich‹ des Gedichts verbindet den Psalmisten, den Dichter und den Leser, um in der Aufforderung an Gott die Zuversicht in die Rettung kundzutun. Der Dichter entwickelt hier einen wirksamen sprachlichen Ausdruck für die Auseinandersetzung des Menschen mit der Vorstellung vom Tod, der auch über den konfessionell bestimmten Rahmen hinaus tradiert wird. Die luthersche Bibelübersetzung und die dichterische Verknüpfung von ›Athen und Jerusalem‹ im 17. und 18. Jahrhundert schaffen einen reichen Fundus für eindrückliche Metaphorik, kraftvolle Sprache und starke Rhyth367 Ebd., S. 18 f. und 406 f. (1. Buch, Prolog, und 5. Buch, Abschnitt 34). Vgl. dazu Grubmüller 1992, S. 340. 368 Gryphius 1963–1983, Bd. 1, S. 66 (Abend). 369 Vgl. Baldauf 1997, S. 130 f., 320; Aristoteles 1994, S. 68 f. (Kap. 21; 1457b). 370 Ps. 23, 4 und Ps. 116, 8. Vgl. auch das »Jamertal« in Ps. 84, 7.
13. Bezüge zum Übernatürlichen
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mik, die es Dichtern selbst ›nach Auschwitz‹ möglich macht, in deutscher Sprache den von der Katastrophe des Dritten Reichs hervorgebrachten Verlust zu bezeugen und die Gefühle und Reflexionen der Überlebenden in Klage, Anklage, Gebet und Hoffnung zu artikulieren. An der Tradition der Lutherbibel und der Dichtung Klopstocks und Hölderlins geschulte jüdische Dichter wie Paul Celan, Nelly Sachs, Franz Baermann Steiner oder H.G. Adler schaffen in der Auseinandersetzung mit dem Mord an ihrem Volk eine Lyrik, die auch das Unaussprechbare sprachlich zu kommunizieren vermag. Mit einem rein weltlich ästhetisch fundierten Dichtungsverständnis lässt sich diese Lyrik nicht fassen; die angemessene Rezeption bedarf des Bewusstseins für eine Tradition der Dichtung, die über weltliche Schönheit hinaus metaphysische Werte einbezieht. Die Kommunikation vollzieht sich typischerweise nicht zwischen Autor und Leser, sondern zwischen Autor und Gott, oder Autor, Gott und Leser. Die Sprache kann auf diese Weise ihre vermittelnde Funktion besonders wirksam entfalten. So leitet Gerhard Tersteegen mit dem folgenden Gedicht seine Sammlung Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen ein. Es zeigt den Dichter in der Rolle eines Gärtners, der die Mithilfe des himmlischen Künstlers und Gärtners erbittet, um den nachfolgenden Gedichten die angestrebte spirituelle Wirkung zu sichern: Die Blümlein stehen hier Gepflantzet aufs Papier: Gott wolle selbst sie mahlen, Begiessen und bestrahlen; Das Hertz sey seine Erd, Und jedes Blümlein werd’ Zur Warheit, Krafft und Wesen In allen die sie lesen!371
Das Gedicht ist performativ: Die Anempfehlung an den Leser ist zugleich Anempfehlung an Gott, und durch die Metaphorik wird der Prozess der spirituellen Verinnerlichung vorgeführt, der die Gedichte im Herzen des Lesers vollkommen werden lässt. Dem »Papier« als wirklichem Träger des Gedichts und zugleich als Metapher für die wirkliche Erde soll des Lesers »Hertz« als spiritueller Boden entsprechen, in dem die Blumen/Gedichte mit Gottes Hilfe fruchtbar werden können. Die rhetorische Wirkung des menschlichen Wortes ermöglicht mit Hilfe Gottes die effektive Kommunikation seiner Wahrheit. Eine Spannung zwischen Rhetorik und Philosophie, Natur und Kunst, Mensch und Gott, Prozess und Stabilität, sprachlichem Wort und geistiger Bedeutung ist außer Kraft gesetzt: Wenn Gott so will, wirken sie zusammen.
371 Tersteegen 1747, S. A1v.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Inspirierte, Propheten, Priester und nicht zuletzt Gott als sprachlich wirksamer Schöpfer reizen zur Bestimmung, Legitimation und Aufwertung des Dichtens, wobei zwischen religiösem Erleben und schaffenspsychologischer Strategie mannigfaltige Übergänge möglich sind. Unter dem Eindruck religiös Inspirierter greift beispielsweise Shaftesbury 1708 in seinem auch theologisch motivierten und dann für die Genieästhetik bedeutsamen Letter concerning Enthusiasm372 den Topos vom furor poeticus auf und erklärt (hier in der Übersetzung des Göttinger Hainbund-Dichters Ludwig Heinrich Christoph Hölty): »Kein Dichter […] kann etwas Großes in seiner Kunst hervorbringen, ohne sich die Gegenwart einer Gottheit einzubilden, wodurch er sich zu einem Grade dieser Leidenschaft erhebt.«373 Als besonderen Vorteil versteht er dabei den wirklichen Glauben an die eigene Inspiration: Welch ein wichtiger Vortheil muß es nicht für einen alten Dichter gewesen seyn, daß er so orthodox war, und sich, durch Hülfe seiner Erziehung, und durch Zuneigung obendrein, zu dem Glauben an eine göttliche Gegenwart, an eine himmlische Begeisterung erheben konnte?374
Es findet sich hier die psychologische Grundlegung der deutschen Poetik von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis hin zu Eichendorff. Sie ist geprägt von der Zuversicht in die Aktualisierbarkeit dieses Vorteils und erlaubt es der Dichtung, zugleich aus dem wirklichen Glauben und aus den metaphorischen Übertragungen seiner Prozesse zu schöpfen. Das antike Ideal des poeta vates verwirklicht sich bei Hölderlin im Außenseitertum, bei seinem Vorbild Klopstock dagegen im Kontext des gesellschaftlich legitimierten christlichen Glaubens. Kennzeichnend für sein Epos Der Messias ist die wechselseitige Steigerung antiker und christlicher Inspiration. Die enthusiastische Rezeption des Epos als Erbauungsliteratur und zugleich »Dichtkunst« erklärt sich daraus, dass die göttliche Inspiration, die der zutiefst gläubige Dichter in sich fühlte, von den Lesern anerkannt wurde.375 Entsprechend projiziert sich Klopstock in seiner Hymne »Die Frühlingsfeier« als neutestamentliche David-Figur, wenn er seine »Harfe« anruft: »Preise den Herrn!«376 Die schöpferische Rezeption der biblischen Lyrik in seinen freirhythmischen Hymnen377 konnte in einem Zeitalter der vielfältigen Übertragungen zwischen geistlicher und weltlicher Tradition auf verschiedenste Weise fruchtbar werden, so in Lottes enthusias372 373 374 375
Shaftesbury 1981. Shaftesbury 1776, S. 67. Vgl. dazu Schneider, U.-M. 1995, bes. S. 147–155. Shaftesbury 1776, S. 8. Vgl. Klopstocks Legitimation der dichterischen Behandlung des Stoffes am Anfang des »Messias«, in: Klopstock 1974 ff., Abt. Werke, Bd. IV/1, S. 1 (Messias I, 8–17). 376 Klopstock 1981, Bd. 1, S. 90 (Die Frühlingsfeier, V. 39 f.). 377 Vgl. Klopstocks komplexe Rezeption biblischer Texte und insbesondere der Psalmen in seinen freirhythmischen Hymnen von 1758/1759 (Kohl 1990, passim).
13. Bezüge zum Übernatürlichen
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miertem Ausruf »Klopstock!«, der vorbildhaft das Höchste der Dichtung, Natur und Religion in der menschlichen Liebesgemeinschaft vereinigt.378 Eher pantheistisch geprägt ist Herders hymnisches Feiern der Gottgleichheit – »Ich wie Gott!«379 – sowie seine Verschmelzung von menschlicher, natürlicher und göttlicher Inspiration im Genie. Goethe, gestärkt durch die Symbolik seines religiös bestimmten Umfelds, aber unabhängig von der Macht der Konfession und christlichen Sittenlehre, vermag diese Kraft dichterisch auszuleben. Viele Dichter der Romantik schöpfen wieder aus dem religiösen Glauben, und in Gegensatz zu idealistischen Bestrebungen der Abgrenzung suchen sie den Anschluss an Mystik und Magie, so Novalis in den Hymnen an die Nacht und Eichendorff in seinem programmatischen Gedicht Wünschelrute.380 Metaphysische Rollen haben eine mächtige Wirkkraft, die sich Nietzsche zunutze machte, indem er in seinen Dionysos-Dithyramben den Bezug des Dichters zu den Göttern der Antike – wenn auch in ironischen Brechungen – aktualisierte und in Also sprach Zarathustra den Dichter als anti-christlichen Propheten darstellte.381 Damit waren für den Expressionismus die großen metaphysischen Rollen präsent. Eine metaphysische Aufwertung wirkt auch dort noch, wo der Glaube an übernatürliche Instanzen dem Glauben an den Dichter gewichen ist. So gibt Stefan George seinem ersten Gedicht im frühesten Lyrikband Hymnen von 1890 den Titel »Weihe«,382 und es wäre müßig, unterscheiden zu wollen, inwieweit dies sein reales Selbstverständnis vermittelt oder wirkungsstrategisch motiviert ist. Gänzlich anders gelagert ist in dem dezidiert weltlichen Kontext der DDR die explizite Strategie, mit der in Irmtraud Morgners Amanda. Ein Hexenroman magische Alter Egos eingeführt werden. Kommentiert wird das Geschehen durch die Trobadora Beatriz, Titelheldin aus Morgners vorhergehendem Roman, die in reinkarnierter Gestalt als Sirene mit Menschenkopf und Vogelleib auftritt. Vor allem die von Morgners Alter Ego Laura durch einen Teufel abgespaltene Hexe Amanda entwickelt die revolutionäre Energie, gegen verfestigte patriarchalische Strukturen eine (utopisch bleibende) bessere Welt durchsetzen zu wollen: »Die für die Weltgeschichte nicht länger entbehrlichen weiblichen Erfahrungswerte [lassen sich] nur auf dem Blocksberg schnell experimentell in nutzbare Formen bringen.«383 Der Blocksberg als »alte Heimat der Seher« eignet sich möglicherweise als »neue 378 Goethe 1985 ff., Bd. 8, S. 52 (Die Leiden des jungen Werthers, 1. Theil, 16. Juny). 379 Herder 1985–2000, Bd. 3, S. 812 (Die Schöpfung. Ein Morgengesang). 380 Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 131–157 (Hymnen an die Nacht, Athenäumsdruck); Eichendorff 1985–1993, Bd. 1, S. 328 (Wünschelrute). 381 Nietzsche 1967 ff., Abt. 6, Bd. 3, S. 373–409 (Dionysos-Dithyramben); ebd., Abt. 6, Bd. 1 (Also sprach Zarathustra). 382 George 1982 ff., Bd. 2, S. 10 (Hymnen, Weihe). 383 Morgner 1983, S. 547 f.
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IV. Die Welt poetologischer Metaphern: Rollen des Dichters
Heimat der Retter«: Vonnöten sind nicht Götter und Zauberer, sondern »Friedensforscher«.384 Die Rolle der übermenschlichen Hexe entlarvt das Selbstbild der gegenwärtigen Gesellschaft als menschenfeindlich und dient zur Einübung von Denkweisen, in denen die lebensnotwendige Imagination wirksam werden kann. Die übernatürliche Rolle wird hier zu einer politischen Kraft; die Literatur wird zum Raum, in dem eine Utopie Gestalt gewinnen kann, um die Wirklichkeit zu verändern. Es besteht in der säkular gegründeten deutschen Literaturwissenschaft die Tendenz, die kulturellen Wandlungen im 18. Jahrhundert als Ende der geistlichen Dichtung zu bestimmen und religiöse Dichtung zur ›modernen‹ Dichtung in Gegensatz zu bringen.385 Dies verkennt eine der bedeutendsten Rollen des Dichters: Er ist ›berufen‹, die Sprache und die Schriften seiner Kultur sinnstiftend zu tradieren und im Gedächtnis wachzuhalten. Diese Rolle unterliegt keinen weltanschaulichen Grenzen, denn jede Kultur braucht solche Sinnstifter. Gerade eine säkularisierte Kultur benötigt Dichter, die den Umgang mit ihren religiösen Texten pflegt. Denn sie vermögen den Sinn der Bücher alter Zeiten auch in die moderne Welt hineinzutragen und für die Gegenwart auszulegen: Die Stimme, Der Ruf: »Im Anfang schuf« heißt es im Buche. So wallt es fort, die Sprache wittert Über den Geheimnissen hin. Höre nur, was Alles war und wird, denn alles, alles ist Dabei.386
H.G. Adler zitiert hier den grundlegenden Text der jüdischen und christlichen Kultur. Er weckt damit eine Ahnung von der Wirkkraft der schöpferischen Stimme.
384 Ebd., S. 548. 385 Vgl. z. B. die Schwierigkeiten der Literaturwissenschaftler mit der Lyrik Christine Lavants: So wird beispielsweise in ihrer Bibelrezeption eine thematisch dominante »religiös-theologische Perspektive« von einer metaphorisch wirksamen »poetischen Perspektive« geschieden (Wiesmüller 1988, S. 72 und 85); und für die ›moderne‹ Lyrik wird Lavant reklamiert, indem man eine »konsequente« Entwicklung zu der »Einsicht« herausliest, »daß heute die Zeit des Gebets nicht mehr ist« (Strutz 1979, S. 172). 386 Adler, H.G. 1980, S. 77 (Im Anfang schuf, V. 22–27). Vgl. Gen. 1, 1.
V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung Die Literatur braucht aber kein Pantheon, sie versteht sich nicht aufs Sterben, auf den Himmel, auf keine Erlösung, sondern auf die stärkste Absicht, zu wirken in jeder Gegenwart, in dieser oder der nächsten.1 Ingeborg Bachmann
In der Dichtung manifestiert sich das kommunikative Potenzial der Sprache in konzentrierter Form, und Poetik handelt immer auch von literarischer Wirkung. Die Provokation, die von Programmen wie »L’art pour l’art« oder »poésie pure« ausgeht, besteht in der Unmöglichkeit einer völligen Lösung sprachlicher Gebilde aus ihren zeitlichen und räumlichen Koordinaten, ihrem gesellschaftlichen Kontext und ihren kommunikativen Verbindungen. Ein absolut solipsistisches Gedicht, das keinerlei Wirkung erzeugt und erfordert, ist nur als ›rein‹ mentales Konstrukt denkbar und stellt somit einen in der gesprochenen und geschriebenen Sprache unerreichbaren Grenzwert dar. Der entgegengesetzte Grenzwert ist die Identität mit der Alltagskommunikation beziehungsweise nicht-literarischen Kommunikation. Die Wirkung eines literarischen Werkes bewegt sich zwischen diesen Extremen, und es gehört insbesondere seit dem Idealismus zu den wichtigsten Funktionen der Poetik, das jeweilige literarische Projekt in Bezug zu ihnen zu verorten. Die Wirkung eines Werkes vermag sich im Kleinen wie im Großen zu manifestieren, in der Gegenwart und bei der Nachwelt; und sie konstituiert sich aus der Tradition heraus. Metaphern erfüllen in diesem Prozess eine bedeutende Aufgabe, denn sie bieten die Möglichkeit, den Dichter beziehungsweise das Werk diachronisch in einer kohärenten Tradition und synchronisch in einem Kontext zu situieren, ein individuelles oder kollektives Profil zu entwerfen und die Rezipienten für das jeweilige Projekt empfänglich zu machen, so dass es auch in der Zukunft noch fortwirken kann. Dabei ist zu vermuten, dass poetologische Metaphern gerade dann eine besondere Wirkkraft auch über die eigene Zeit hinaus entfalten, wenn sie in anthropologischen Konstanten ihren Grund haben. Von besonderer strukturgebender Bedeutung wären somit jene körperbezogenen Bildschemata, die
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Bachmann 1978, Bd. 4, S. 260 (Frankfurter Poetik-Vorlesungen V: Literatur als Utopie).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Mark Johnson in den Vordergrund stellt, wie ›Behälter‹, ›Vertikalität‹, ›Weg‹, ›Verbindung‹ oder ›Gleichgewicht‹, aber auch grundlegende soziale Strukturen, kultische Rituale und kollektive Praktiken wie Wettstreit oder Spiel. Synchronisch können poetologische Metaphern eine ›Welt‹ schaffen, in der sich Dichter mit anderen Dichtern real oder virtuell zusammenfinden und von anderen Gruppen abgrenzen. Sie helfen aber auch, ein bestimmtes Publikum anzusprechen, Rezipienten zum Hörer- oder Leser-›Kreis‹ heranzubilden oder als Teilnehmer an einem literarischen Ereignis zu involvieren. Diachronisch ermöglichen Metaphern die Vorstellung von einer zusammenhängenden Tradition und einem über den Tod hinaus durch Zeiten und Kulturräume fortlaufenden Dialog. Auch wenn bestimmte grundlegende Metaphern in der Poetik immer wiederkehren, so sind gerade diese in hohem Maße anschlussfähig und hinsichtlich ihrer Ausprägung und Bedeutung variabel. Ihre spezifische Bedeutung in ihrer Zeit ist letztlich immer abhängig von ihrer kommunikativen Funktion im jeweiligen Kontext, aber sie können in anderen historischen Zusammenhängen auch durchaus veränderte Bedeutungen annehmen. Als Beispiel mag eine Behältermetapher Eichendorffs dienen, der in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands erklärt, die Dichtung sei »in ihrem Kern […] religiös«.2 Seine Bestimmung steht in Gegensatz zu Tendenzen der idealistischen Ästhetik, welche die Dichtung von theologischen und christlich moralischen Vorgaben unabhängig zu machen suchte und sie der Autorität der Philosophie unterstellte. In Gegensatz zu Hegel, der die Dichtung mittels geographischer Abgrenzungsmetaphorik von anderen Diskursen trennt,3 verknüpft Eichendorff die Dichtung mit der Religion, wobei er jedoch nicht Verbindungsmetaphorik benutzt, sondern mittels einer Behältermetapher die Religion ins Innerste der Dichtung verlegt. Diese Metapher verändert grundlegend die Struktur der Beziehung: Die Dichtung ist nun nicht mehr von der Religion trennbar, da sie in die Dichtung eingeschlossen ist. Verstärkt wird die Wirkung dieses Arguments durch die spezifischen Assoziationen, die von der organischen Ausprägung dieser Behältermetapher ausgehen. Denn die Metapher vom »Kern« im Innersten der ›Frucht‹ impliziert Fortpflanzungsfähigkeit und lebensstiftende Energie. Die organischen Assoziationen versehen das Argument gerade in einem romantisch geprägten Kontext mit einem positiven Wert und lassen es als naturgegebene Wahrheit erscheinen, zumal es sich um eine wenig auffällige Alltagsmetapher handelt. Eichendorffs Metapher ermöglicht auf diese Weise eine Bestimmung der Dichtung, die nicht rational definierte Grenzen fokussiert, sondern das zeitlose Wesen der Dichtung und ihre naturgegebene Wirkung. 2 3
Eichendorff 1985–93, Bd. 6, S. 820 (Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands). Hegel 1986, Bd. 15, S. 283 f. (Ästhetik, 3. Teil, 3. Abschnitt, 3. Kap., B.2.a., Die poetische Sprache überhaupt). S.o., S. 8–10.
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Eichendorff stellt seine Poetik mit dieser Aussage in eine lange Tradition sakral bestimmter Poetiken, richtet sie jedoch spezifisch auf die religiösen Verhältnisse seiner Zeit aus und öffnet sie zugleich für allgemeinere Interpretationen. Seine Metapher reflektiert ein geistiges Umfeld, in dem die Religion nicht mehr als von ›außen‹ wirksame, allgemein anerkannte kirchliche Autorität präsent ist und in dem sie somit gegenüber der Dichtung einer neuen Art der Rechtfertigung bedarf. Als »Kern« der Dichtung ist die Religion nicht zwangsläufig christlich bestimmt, sondern auch mit pantheistischen Vorstellungen vereinbar und für vielfältige Bezüge zur Natur offen. Entsprechend ist auch keine konfessionell bestimmte Gebrauchsfunktion impliziert. Diese Unbestimmtheit ermöglichte es späteren Rezipienten, den konfessionellen Aspekt auszublenden und im Gedicht nur die zeitlose Natur zu sehen – oder auch kulturspezifisch die deutsche Natur. Eichendorffs poetologische Metapher entspricht der Beschaffenheit seiner Lyrik, deren Wirkung besonders darin beruht, dass sie mit einfachen Aussagen, bekannten Bildern und musikalischer Sprache in die ›Tiefe‹ der menschlichen Natur eindringt – dorthin also, wo unsere Kultur traditionell die Seele situiert. Dadurch vermag sie religiöse Gefühle anzusprechen, ohne ein bewusstes Bekenntnis zur Religion vorauszusetzen oder zu fordern. Eichendorffs assoziationsreiche Metapher ist insofern ein Beispiel für die komplexe Funktion und Wirkungsweise selbst einfacher poetologischer Metaphorik. Deutlich wird daraus die strukturgebende Funktion solcher Metaphern sowie die Kontextabhängigkeit der Bedeutung. Den großen Kontext bilden in der Poetik – wie allgemein im Leben – der Raum und die Zeit. Diese Dimensionen strukturieren den poetologischen Prozess als physische Größen, sie unterliegen jedoch selbst einem immens komplexen Prozess der Konzeptualisierung und sprachlichen Vermittlung, der vielfältigste Möglichkeiten metaphorischer Ausgestaltung bietet. Dies lässt sich an Strukturierungen der Zeit verfolgen, mit denen die Jetztzeit und die Vergangenheit zueinander in Bezug gesetzt werden, denn sie erlauben die Konstruktion einer identitätsstiftenden Geschichte. Auch räumliche Metaphern, die mittels ›horizontaler‹ Abgrenzung und ›vertikaler‹ Hierarchie poetologische Differenzierungen vornehmen, vermögen Identität zu schaffen. Eine bedeutende identitätsstiftende Funktion haben zudem je nach Kontext sowohl Bindungs- als auch Autonomiemetaphern; besonders an den letzteren lässt sich verfolgen, wie das kommunikative Umfeld die Bedeutung eines Metaphernkomplexes formt. In der Metaphorik von Vorbildern, Dialogen und intertextuellen Bezügen zeigt sich der Beitrag menschlicher und textueller Interaktion zur Vorstellung vom poetologischen Diskurs; ermöglicht wird dadurch eine höchst differenzierte Verortung des Dichters und des Werks. Die besprochenen Metaphernkomplexe sind auf vielerlei Weise einsetzbar. Im Vordergrund stehen in diesem Kapitel jedoch die Funktionen der
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung, da diese für den poetologischen Diskurs zentral sind. Die gemeinschaftsstiftende Funktion poetologischer Metaphorik zeigt sich am unmittelbarsten im gemeinsam erlebten dichterischen Ereignis, in dem das Werk direkt auf die Rezipienten wirkt, wobei in manchen Formen auch der Dichter in das Ereignis integriert ist. In Zeiten, wo die Schrift dominant ist, bleibt die Macht des lebendigen Wortes als dichterische Möglichkeit präsent; sie bietet aufgrund ihrer Prozessualität Schwierigkeiten der Bewertung und aufgrund ihrer Vergänglichkeit Schwierigkeiten der Einordnung in einen Kanon, kann jedoch auch ein beachtliches Erneuerungspotenzial bergen. Das gemeinschaftliche Ereignis kann auch eine wichtige gruppenstiftende Funktion entfalten: Dichterbünde definieren sich typischerweise über Zusammenkünfte, bei denen die dichterische Tätigkeit im Vordergrund steht. Allerdings ist in Zusammenwirkung mit der synchronischen Kohärenz zumeist auch eine diachronische Kohärenz – die ›Geschichte‹ der Gruppe – bedeutsam. Die traditionsbildende Funktion poetologischer Metaphern lässt sich besonders eindrucksvoll in Prozessen der Kulturstiftung verfolgen, da hier die Sprache gewissermaßen als Werkzeug zur Identitätsfestigung benutzt wird und zugleich selber kulturelle Tradition und Identität verwirklicht. Den Abschluss des Kapitels bildet das Thema Ruhm – sowohl in Form der Rühmung anderer, als auch im Streben nach persönlichem Ruhm. In der Rühmung erhält das Wort die Aufgabe, die Wirkung des Individuums über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinauszutragen. Im Dichterruhm verwirklicht sich die kommunikative Macht des Wortes im Interesse des Dichters. Die Tradition bietet dem Dichter einen reichen Fundus an Möglichkeiten, die eigene Identität in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft in der Jetztzeit zu bestimmen. Dichter bewegen sich dabei in einem reich entwickelten Diskurs, der traditionelle Vorstellungen zur Verfügung stellt, die kreative Phantasie stimuliert und die Sprachkraft herausfordert. Wenn Ingeborg Bachmann konstatiert, die Literatur brauche »kein Pantheon« und verstehe sich nicht auf den »Himmel«,4 so evoziert sie ex negativo physische und metaphysische Räume, die auf die klassische Fama-Funktion der Dichtung sowie die christliche Tradition anspielen. Entsprechend verweist sie auf das »Sterben« als physische Grenze des zeitlichen Lebens und auf die metaphysische Extension des Lebens in die ewige »Erlösung« als potenzielle Gegenstände der Literatur.5 Für die Verortung ihres Projekts entwirft sie damit einen groß angelegten Kontext, der mögliche Motivationen und Legitimationen der Dichtung ins Gedächtnis ruft. Dieser Kontext ermöglicht eine so genaue wie bezugsreiche Bestimmung des eigenen poetologischen Ziels: »Die Literatur […] versteht sich […] auf die stärkste Absicht, zu 4 5
Bachmann 1978, Bd. 4, S. 260 (Frankfurter Poetik-Vorlesungen V: Literatur als Utopie). Ebd.
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wirken in jeder Gegenwart, in dieser oder der nächsten.«6 Fokussiert ist damit räumlich die Wirkung in der menschlichen Welt und zeitlich die Wirkung in der Gegenwart. Zugleich jedoch öffnet Bachmann »[die] Gegenwart« zur Zukunft hin, indem sie »jede« und »diese« statt des bestimmten Artikels benutzt; selbst eine metaphysische Ewigkeit scheint in der »nächsten Gegenwart« am Horizont auf. Dem Dichter stehen damit alle menschlichen Zeiten offen. Bezeichnet ist in Bachmanns Aussage weniger ein Gegensatz zu früheren Vorstellungen von Dichtung als eine Verschiebung des poetologischen Schwerpunkts; die alten Strukturen bleiben verfügbar und erlauben die Fortführung früherer Gedankengänge in veränderten Konstellationen. Denn in einer säkularen Welt hat das Bedürfnis der Dichter, mit ihrem Werk den eigenen Raum und die eigene Zeit zu transzendieren, nicht abgenommen. Bachmann will nicht nur in ihrer Zeit wirken, sondern zu »jeder Gegenwart« in Bezug treten. Der George-Kreis setzt sich zum Ziel, »an die grosse und ewige Kunst wieder an[zu]bauen«;7 implizit ist dabei die Notwendigkeit der Gemeinschaft, denn erst in der kollektiven Anerkennung kann Dichtung ›Größe‹ erlangen und erst im kollektiven Gedächtnis ›Ewigkeit‹. Brecht erklärt 1935 in einem Gedicht: »Schreiben ohne Ruhm | ist schwer.«8 Dichtung bedarf der Tradition, um ein klares Profil zu erlangen, und sie bedarf einer Gemeinschaft, um im Akt der wirksamen Kommunikation ihre Identität zu entfalten. Der Ruhm eröffnet Dichtern die Möglichkeit, ihre Wirkung räumlich und zeitlich ins Unendliche zu projizieren.
1. Das Alte und das Neue Die Dimension der Zeit definiert das menschliche Leben mit seinem biologisch bestimmten Anfang und Ende, sie weist dem Individuum im Fortgang der Generationen eine Position zu, sie bestimmt den physisch wahrnehmbaren Prozess der Vergänglichkeit sowohl des eigenen Körpers wie der physischen und menschlichen Umwelt, und sie wird tagtäglich in der irreversiblen Abfolge von Ereignissen erfahrbar. Der existenziellen Bedeutung der Zeit entspricht ihre Bedeutung in der kognitiven Metaphorik. Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass die Metapher ›Zeit ist Bewegung‹ (Time Is Motion)9 entwicklungspsychologisch zu den ›primären Metaphern‹ gehört;10 eine beschleunigte Form ist der Topos tempus fugit, bei dem die Zeit selbst in Bewegung ist. Für die Poetik zentral ist jene Form, in welcher 6 7 8 9 10
Ebd. George/Klein 1967 (Bd. 2), 3. Folge, 5. Band, Okt. 1896, S. 131. Brecht, B. 1988–2000, Bd. 14, S. 315 (Über das Lehren ohne Schüler, V. 1–3). Lakoff/Johnson 1999, S. 52. Zu Zeitmetaphern s. a. Kövecses 2002, S. 33 f. S.o., S. 168.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
der Mensch oder die Dichtung sich durch die Landschaft bewegt und die Zeit zu einem ›Weg‹ wird, wie in den alltagssprachlichen Metaphern vom ›Lebensweg‹ oder vom ›Fortschritt‹. Es lassen sich auf dieser Basis ›Anfänge‹ setzen, ›Ziele‹ definieren und verschiedenartige Stadien auf dem Weg entwerfen. Das Zurückliegende wird so zum ›Alten‹, und das Gegenwärtige beziehungsweise Zukünftige zum ›Neuen‹. Dabei haben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft tendenziell eine je andere poetologische Funktion. Jedes Individuum und jedes dichterische Projekt entwickelt sich in einer ›fortschreitenden‹ Jetztzeit. Es erhält seine Bedeutung und sein Profil aus dem Bezug zur Vergangenheit und zum Gleichzeitigen, während seine Wirkung sich zwischen dem Gleichzeitigen und der Zukunft entfaltet. Um die Wirkung geht es unten in den Abschnitten zum gemeinschaftlichen Ereignis und zum Ruhm. Hier soll die Beziehung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen im Vordergrund stehen. Alle Kulturen verfügen über Vorstellungen von Zeit und vermögen diese auszudrücken; zu den Universalien zählen offenbar die Vorstellungen von unterschiedlichen Generationen, zeitlicher Dauer, zeitlichen Einheiten, zeitlichem Rhythmus sowie die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.11 Allerdings bietet die Zeit im Gegensatz zum Raum keine ›festen‹ Orientierungspunkte, so dass für kulturspezifische Strukturierungen – zumeist wohl durch Raummetaphorik – und kulturspezifische Bewertungen der Strukturen erheblicher Spielraum besteht. Die Religion dient nicht zuletzt dazu, der jeweiligen Kultur solche Strukturen und Wertsysteme zur Verfügung zu stellen und die Zeit durch narrative Prozesse mit Sinn und Wert zu erfüllen. So liefert in der christlichen Kultur die Heilsgeschichte eine lineare Struktur mit einem Anfang und einem Ende sowie einer Zäsur im Jahre 0. Die Geschichte selber erhält dadurch zwei Teile, die als das ›Alte‹ und ›Neue‹ Testament unterschiedliche Bedeutung haben; das Alte Testament erzählt die Vorgeschichte für ›unsere‹ christliche Zeit, die dann im Neuen Testament zur Erfüllung gelangt, wo auch die Zukunft des Menschen definiert ist. Die Heilsgeschichte vermittelt mit der Abfolge von Stammvätern und aufeinander folgenden Generationen eine Vorstellung von menschlicher Zeit, die bis an den ›Anfang‹ der irdischen Welt zurückführt, und lässt im zentralen Jahre 0 einen göttlichen Helden in die fortschreitende menschliche Zeit eintreten. Zugleich jedoch vermittelt sie auf vielfältige Weise immer wieder Vorstellungen von einer metaphysischen Ewigkeit, die als Ursprung und Ziel präsent bleibt und als fortwirkende Alternative zur irdischen Zeit die Vergänglichkeit zu transzendieren vermag. Dass die Komponenten dieser Geschichte aus anderen religiösen Perspektiven eine grundsätzlich veränderte Wertstruktur erhalten, verdeutlichen die beiden anderen abrahamitischen Religionen, das Judentum und 11
Vgl. Brown 1991, S. 133.
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der Islam; und ein Blick jenseits der abrahamitischen Religionen zeigt gänzlich andere Zeitvorstellungen. Die Bedeutung der Bibel und ihrer christlichen Interpretation für die deutsche Poetik wurde bereits erörtert;12 eine komparatistische Untersuchung würde vermutlich die kulturspezifische Ausprägung poetologischer Zeitmetaphorik erweisen. Für Dichter sowie auch Rezipienten – und nicht zuletzt die Literaturwissenschaft – liefern die grundlegenden Zeitvorstellungen der eigenen Kultur einen Vorstellungskomplex, der literarische Phänomene und Prozesse mit Sinn erfüllt und dadurch ihre Wirkung steuert. Erkennbar wurde dies am Einsatz von Strukturen der Heilsgeschichte in der Selbstprojektion Goethes und der darauf aufbauenden nationalen Literaturgeschichtsschreibung.13 In der Poetik hat die Beziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen eine nicht zu überschätzende Bedeutung, weil das Vergangene die ›Welt‹ von Vorstellungen bildet, aus der das Gegenwärtige seinen Sinn und seinen Status bezieht. Altersunterschiede erlauben mittels binärer Vereinfachung die besondere Profilierung des ›Jungen‹ sowie auch des ›Alten‹. Sie ermöglichen zudem die Gruppenbildung, so wenn die familiäre Generationenabfolge (Großeltern – Eltern – Kinder) auf die Gesamtheit der Teilnehmer am literarischen Geschehen ausgeweitet wird und (annähernd) Gleichaltrige zu einer ›Generation‹ fügt. Einen ›epochalen‹ Status beansprucht die Gruppe, wenn sie sich mit einem zeitbezogenen poetologischen Programm versieht und vom Vorhergehenden als ›modern‹ (das heißt ›neu‹, ›nach der jetzigen Mode‹14) abzuheben sucht, oder wenn sie in Analogie zum Weg einer Armee als ›Avantgarde‹ ›ihrer Zeit voraus‹ ist. Solche Neuigkeitstopik bringt das Problem mit sich, dass sie mit zunehmender Konventionalisierung ihren Effekt einbüßt. Dies macht dann andere Formen der zeitlichen Profilierung erforderlich; Beispiele sind im 19. Jahrhundert die Ästhetik der ›Epigonalität‹ – das ›Nachgeborensein‹ – und im 20. Jahrhundert die Ästhetik der ›Postmoderne‹. Das kollektive Bedürfnis, sich durch ein betont selbstreflexives Hervorheben der Wiederholung zu profilieren, zeigt die Macht der etablierten Originalitätsästhetik, die den Jungen die Möglichkeit einer Profilierung durch das spontan aus dem Nichts entstehende ›Neue‹ nimmt. Eine eigene Identität können sie in diesem Kontext am ehesten dadurch entfalten, dass sie sich als besonders traditionsbewusst darstellen und die Möglichkeit des Neuen negieren. Verfolgen lässt sich daran die Relativität der zeitlichen Topik, die von der vorgestellten Struktur der Zeit und von den Standpunkten des Sprechers und des Rezipienten abhängig ist. 12 13 14
S.o., Kap. I/5. S.o., Kap. III, bes. S. 204 f. Vgl. Grimm 1984, Bd. 12, Sp. 2446 (modern). Das Wort wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen.
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Reichhaltige poetologische Möglichkeiten bietet – aufbauend auf dem Alltagstopos vom ›Lebensweg‹ – die Vorstellung vom künstlerischen ›Weg‹ des Dichters. Dieser ist eindrucksvoll in Goethes Dichtung und Wahrheit ausgestaltet.15 Er lässt sich beispielsweise mit der Vorstellung von einer schicksalsartigen Führung verbinden, so bei Theodor Storm in der melancholischen Frage des Erzählers am Ende der Skizze Der Amtschirurgus – Heimkehr: »O meine Muse, war das der Weg, den du mich führen wolltest?«16 Der verallgemeinerten Form des Lebenswegs im ›Weg‹ der Menschheit entspricht die Vorstellung vom ›Weg‹ der Dichtung, der Nationalliteratur oder der Poetik, wobei die Elaborierung der Metapher durch spezifische ›Etappen‹ die Möglichkeit der epochalen Strukturierung bietet. Die Macht dieses metaphorischen Komplexes geht aus Kants berühmter Definition der Aufklärung hervor: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.«17 Hier ist spezifisch der Zeitpunkt des ›Übergangs‹ vom Kind zum Erwachsenen fokussiert, und zwar in der Form, dass die Kindheit als abgeschlossener ›Zeitraum‹ dargestellt ist, das Erwachsensein dagegen als unbegrenzter, freier Raum. Da der Zeitpunkt des Mündigwerdens hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen den wichtigsten Moment in seinem Leben darstellt, wird die Aufklärung zum wichtigsten Moment in der Geistesgeschichte. Im Kontext einer philosophisch geprägten Literaturwissenschaft gehört der kantische Topos mittlerweile zum kaum mehr reflektierten metaphorischen Grundbestand, der sich besonders in der Vorstellung von der ›Autonomie‹ der modernen Literatur ausprägt. Programmatischen Wert erhielt dieser Topos zum Zeitpunkt der ›Wende‹, als Karl Heinz Bohrer ihn im Merkur unter Bezug auf Kant zum Zwecke einer Abrechnung mit der ›Gesinnungsästhetik‹ einsetzte: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit.18 Der Topos bezog seinen Sinn spezifisch aus dem Kontext der deutschen geistigen Tradition und suchte in einer Zeit der extremen politischen, moralischen und poetologischen Destabilisierung eine idealistisch definierte Richtung vorzugeben, indem er moralisch-politisch orientierte Autoren als abhängig und kindisch diskreditierte und an die große Zeit der deutschen Literatur erinnerte. Wie bereits mehrfach deutlich wurde, dient in Poetiken eine lineare Geschichte vorangegangener Dichtung traditionell der Verortung des eigenen Projekts: Das Projekt braucht einen Kontext, der auf einfachste Weise durch einen ›Anfang‹ und eine davon ausgehende Entwicklung herstellbar ist, denn das Projekt gewinnt damit an Aktualität und erscheint als Summe und Kulmination der vorangegangenen Literatur. In Poetiken der frühen 15 16 17 18
Vgl. Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 12 u.ö. (Dichtung und Wahrheit, 1. Teil [Vorwort]). Storm 1972, S. 400. Fontane interpretiert die Frage autobiographisch (Fontane 1962–1997, Abt. 3, Bd. 4, S. 376; Von Zwanzig bis Dreißig, Der Tunnel über der Spree, 4. Kap.). Kant 1900 ff., Bd. 8, S. 35 (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?). Bohrer 1990a. S.o., S. 375.
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Neuzeit beispielsweise liefert der Topos vom ›Ursprung‹ der Dichtung nach rückwärts hin eine strukturgebende Abgrenzung des eigenen Projekts, während die systematische Darstellung der Regeln der Dichtung zur ›zeitlosen‹ Erfüllung wird. Dies geht bereits aus dem Titel von Daniel Georg Morhofs Poetik hervor: Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang und Lehrsätzen (1682). Der ›Ursprung‹ der deutschen Dichtung wird hier mit dem Ursprung deutscher Kultur verbunden, wenn Morhof sich auf Tacitus beruft: »Die Uhralte Zeit bestehet in den Carminibus, deren Tacitus gedacht.«19 Zugleich nimmt Morhof diese Verbindung zum Anlass, der Poesie die zeitliche Vorrangstellung gegenüber der Geschichte zuzusprechen: »Die Poësis ist die älteste bey allen Völckern / und dienet an staat der Historien.«20 Auch Gottsched entwickelt seine Poetik auf der Basis einer zusammenhängenden Literaturgeschichte, wobei er hier eine gattungsmäßige Differenzierung unternimmt: »Die Gesänge sind […] die älteste Gattung der Gedichte, und die ersten Poeten sind Liederdichter gewesen.«21 Zugleich liefert er eine (ebenfalls topische) psychologische Motivation, wenn er die Poesie mit dem Ausdruck der »Gemüthsneigungen des Menschen« beginnen lässt.22 In seiner Poetik wird der Fortgang der Dichtung somit ganz in Einklang mit den Prämissen der Aufklärung zu einem Prozess zunehmender gattungsmäßiger Ausdifferenzierung und rationaler Systematisierung. Solche Darstellungen des Ursprungs und der fortlaufenden Geschichte der Dichtung benutzen durchgängig traditionelle Topoi. Im jeweiligen Einsatz der Topoi, in ihrer subtilen Abwandlung und in ihrer wechselnden Verbindung mit anderen Topoi liegt jedoch eine erhebliche Aussagekraft, die es erlaubt, die spezifischen Werte eines poetologischen Projekts in den Vordergrund zu stellen. Dies ist nicht nur ein Merkmal frühneuzeitlicher Poetiken, sondern es findet sich auch noch in der Gegenwart, wie Raoul Schrotts Anthologie Die Erfindung der Poesie verdeutlicht.23 Insgesamt kann nicht vorausgesetzt werden, dass erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Bedürfnis entsteht, »eine Geschichte der deutschen Poesie« zu schreiben, oder dass »Geschichtsschreibung, auch der Literatur, […] vor 1770 andere Aufgaben zu übernehmen [hatte] als die Tradition zu einem, in Gegenwart mündenden Sinnzusammenhang zu erklären«.24 Auch in komprimiertester Form dienen Literatur-›Geschichten‹ dazu, einen Sinnzusammenhang zu schaffen, in dem das Gegenwärtige seinen Platz findet und aus dem heraus 19 20 21 22 23 24
Morhof 1682, S. 276 (Kap. 6, Von der Teutschen Poeterey / und zwar von der ersten Zeit). Ebd. Gottsched 1962, S. 69 (1. Hauptstück: Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt). Ebd., S. 67. S.o., S. 223–227. Vgl. Fohrmann 1989, S. 1.
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die spezifische Aussage von Projekten der Jetztzeit verständlich wird. Nicht zuletzt dienen Literaturgeschichten der Feier von großen Leistungen illustrer Vorgänger, die der Nation oder auch dem Einzelnen die emotionale Zugehörigkeit zu einer kohärenten Tradition sowie auch eine Identität vermitteln. Ähnlich wie ein Pantheon schafft die Literaturgeschichte einen literarischen ›Raum‹, in dem die Lebenden sich den Wert der Toten bewusst machen und zu ihnen identitätsstiftend in Verbindung treten können: »Die Literaturgeschichte ist die große Morgue wo jeder seine Todten aufsucht, die er liebt oder womit er verwandt ist.«25 Heine verwandelt das vergängliche Leben in räumliche Dauerhaftigkeit – wobei er allerdings nicht die Lebendigkeit der Toten suggeriert, sondern die Lebenden in den Raum der Toten führt. Heines Metapher setzt eine familiäre Verwandtschaft zwischen Dichtern unterschiedlicher Generationen voraus und ist insofern eine elegische Variante menschlicher Fortpflanzungsmetaphorik. Diese gehört zu den grundlegenden poetologischen Metaphern, durch die diachronische Verbindungen hergestellt werden, zumal sie eine ›Genealogie‹ mit einer Abfolge von jeweils synchronisch konzipierbaren ›Generationen‹ ergibt. Die dichterische Traditionsbildung bedient sich häufig der genealogischen Metaphorik – so im gelehrten Topos von Opitz als »Vater der deutschen Dichtkunst»26 oder in der Bezeichnung des Lyrikers Lawrence Ferlinghetti als »Urvater der amerikanischen Beatniks«.27 Entsprechend vermittelt die Metapher von der ›Sterilität‹ fehlende Schöpferkraft und mangelnde Traditionsfähigkeit. Wirksamer als durch jeden sachlichen Verriss schadete Karl Kraus dem Ruf von Alexander Lernet-Holenia als Lyriker, indem er ihn als »eine Art Sterilke« bezeichnete:28 Der Name signalisierte die bis zur Identitätsauflösung gehende Abhängigkeit von einem etablierten Dichter, der für seine Erzeugung von Nachahmern berüchtigt war, und vermittelte zugleich auf unmittelbar verständliche und einprägsame Weise die Unmöglichkeit einer Wirkung auf die Nachwelt. Die Vorstellung von einer kohärenten Genealogie liegt der Epigonalitätstopik zugrunde, die besonders im 19. Jahrhundert in den Vordergrund trat29 – zu einer Zeit, als die ›Klassiker‹ und insbesondere Goethe einerseits die Notwendigkeit der Originalität zum sine qua non künstlerischer Qualität gemacht hatten, andererseits jedoch mit ihren ruhmreichen Leistungen die Möglichkeiten der Originalität ausgeschöpft zu haben schienen. Pro25 26 27 28 29
Heine 1973–1997, Bd. 8/1, S. 135 (Die romantische Schule). S.o., S. 197. Literaturwerkstatt 2004a. Kraus 1968–1976, Jahrg. 27 (1925–1926) (= Nachdr. Bd. 31), Nr. 706–711 (Dez. 1925), S. 54 (Notizen). Vgl. zu dieser Topik Meyer-Sickendiek 2001, passim. Deutlich wird die zunehmende Komplexität der Auseinandersetzung mit dem Problem der Epigonalität.
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grammatisch setzt sich Karl Immermann in seinem Roman Die Epigonen mit der Problematik des »Nachgeborenseins« auseinander, wie aus einem Brief an den Bruder hervorgeht: [Der Roman] hat jetzt den Namen bekommen: »Die Epigonen«, und behandelt, wie Du aus dem Titel vielleicht ahnest, den Segen und Unsegen des Nachgeborenseins. Unsre Zeit, die sich auf den Schultern der Mühe und des Fleißes unsrer Altvordern erhebt, krankt an einem gewissen geistigen Überflusse. Die Erbschaft ihres Erwerbes liegt zu leichtem Antritte uns bereit; in diesem Sinne sind wir Epigonen. Daraus ist ein ganz eigentümliches Siechtum entstanden, welches durch alle Verhältnisse hindurch darzustellen, die Aufgabe meiner Arbeit ist.30
Die Metapher vom »Nachgeborensein« ermöglicht eine besondere Art der Abgrenzung nach ›hinten‹ hin, indem nicht wie in der Modernitätstopik die Größe der eigenen Epoche im ›Zentrum‹ der Zeit steht, sondern die Größe der vorhergehenden Epoche. Indem Immermann jedoch das ›Nachgeborensein‹ mit Krankheitsmetaphorik in Zusammenhang bringt, gewinnt er ihm eine identitätsstiftende ›Eigentümlichkeit‹ ab, die im Kontext der Nachromantik über positive Assoziationen verfügt und auf ihre Art identitätsstiftend wirkt. Eine bedeutende Möglichkeit der synchronischen Identitätsstiftung bietet das (meist junge) Alter und die Vorstellung von der Zugehörigkeit zu einer ›Generation‹, die einer prinzipiell unbegrenzten Anzahl von etwa zur gleichen Zeit geborenen Menschen den Charakter einer Gruppe geben kann. So verknüpft Kasimir Edschmid 1918 in seiner Rede »Über die dichterische deutsche Jugend« die »Jugend« mit dem Begriff von der »Generation«: Die Bindung ist das Ziel geistiger Kunst. Wir spürten Jungsein in uns, als wir aufwuchsen, niemals um uns aber Jugend. Wir blieben einzelne, bis selbst schaffend, an gleicher Arbeit erglüht, wir gemeinsame Ziele, gleiche Begeisterungen an Stirn und Gesicht erkannten. Nun waren wir herausgeschleudert aus abseitiger Verzweiflung, nun waren wir ganz: Generation.31
Edschmid stärkt die »Bindung« im Weiteren durch militärische Metaphern: Die Generation steht im Nachkriegschaos als »Schar« und »Phalanx«,32 womit sie zur klar organisierten und nach außen hin abgegrenzten Formation aus Menschen mit einem gemeinsamen Ziel wird. Auch einen – vertikal angelegten – Ursprung bekommt diese Generation, denn »ganz unten steht die Rotte um Goethe«, die noch »chaotisch« das vorbereitete, was Edschmids Generation vollenden soll;33 mit der Metapher »Rotte« wird die kraftvolle Spontaneität des ›Sturm und Drang‹ angedeutet, vor allem aber 30 31 32 33
Immermann 1981, S. 669 (Karl Immermann an Ferdinand Immermann, 24.4.1830). Vgl. zu dem Roman Meyer-Sickendiek 2001, S. 108–137. Edschmid 1919, S. 12. Ebd. Ebd., S. 14.
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dessen Anspruch auf bleibende Geltung abgelehnt. Auf metaphorischem Wege spricht Edschmid den Dichtern seines Alters den Status einer Gemeinschaft zu, die es erst noch zu stiften gilt. Solidarität erzeugt er in einer Zeit der nationalen Krise durch ein traditionsreiches Ziel: Es geht um »unser aus blutendstem Herzen erschrienes, aus letzter Sehnsucht und jetzt schon fast verzeifelt ersehntes Ziel: deutsche Kultur.«34 Wie schon in Zeiten der politischen Fragmentierung vor der deutschen Vereinigung sollen die Dichter in der Vorstellung von der deutschen Kulturnation ein identitätsstiftendes Programm finden. Der Topos von der ›Generation‹ ist allerdings gerade deshalb nützlich, weil er relativ unbestimmt ist. Er ermöglicht die Vorstellung von einer Identität als Gruppe, ohne der klaren Abgrenzung durch geographische Grenzen, durch eine institutionelle Organisation oder durch ein dokumentiertes Programm zu bedürfen. So ist Edschmids programmatische Verwendung des Topos gerade durch das Fehlen solch anderer gemeinschaftsdefinierender Faktoren motiviert. Ähnlich verwendet ihn ein Jahrzehnt später Klaus Mann in seinem Nachwort zu der von ihm und Willi Fehse herausgegebenen Anthologie jüngster Lyrik von 1927.35 Er schreibt aus einer Zeit heraus, in der sich retrospektiv der Expressionismus mit seinem ausgeprägten Stil als eine dermaßen kohärente »Gruppe« etabliert hatte, dass im nachfolgenden literarischen Leben nur Strukturlosigkeit erkennbar ist.36 Mann erfüllt diesen Mangel mit Sinn, indem er ihn zu einer »schicksalhaften Schwierigkeit« erklärt37 und mit der Vorstellung vom Schicksal die Assoziation einer »Richtung« verbindet, die gewissermaßen automatisch im Verlauf der Zeit einen eigenen »neuen ›Stil‹« hervorbringen wird: Etwa einen neuen »Stil« zu suchen, ist unter solchen Umständen bestimmt unsere Aufgabe nicht. Sind wir endlich unserer Richtung sicher, wird der neue »Stil« bestimmt von selber kommen. Es ist deswegen kein Zufall, sondern von strenger Notwendigkeit, daß im jungen literarischen Deutschland sich eine eigentlich neue »Gruppe« nicht mehr zu bilden vermochte, seitdem der Expressionismus abgewirtschaftet hat.38
Die Metapher vom ›abwirtschaften‹ lässt die Vorgänger unter Ausblendung ihrer hohen geistigen Ansprüche als materiell orientierte Institution erscheinen und eliminiert sie als Vorbilder aus dem gegenwärtigen literarischen Geschehen – eine Form der Abgrenzung vom Alten, die der neuen Gruppe eine eigene Identität sichert und einem etwaigen Vorwurf der Nachahmung den Boden entzieht.
34 35 36 37 38
Ebd. Mann, K. 1927. Ebd., S. 159. Ebd. Ebd.
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Der Generationentopos dient Mann vor diesem Hintergrund dazu, das Gefühl einer noch unbestimmten, aber ihrer gemeinsamen Bestimmung zustrebenden Gemeinschaft zu vermitteln: Glauben wir uns über die Richtung auch noch im unklaren zu sein – verbindend ist auch die Richtungslosigkeit, wir sind eine Generation, und sei es, daß uns nur unsere Verwirrtheit vereine. Ist uns sogar das Ziel noch nicht gemeinsam, das uns erst zur Gemeinschaft weihen könnte, so ist es doch das Suchen nach einem Ziel. Und haben wir erst gefunden, sind wir so weit, daß wir’s verkünden dürfen – ich glaube beinah, wir werden es erfahren, daß wir alle dem gleichen entgegengestrebt haben. Dann wird die Stunde gekommen sein, da unsere heute vereinzelten Beichten zusammengehalten das Dokument unserer heutigen Lage sind.39
Tatsächlich ist die von Mann dargestellte Art der Gemeinschaft gerade für die Konstitution des Expressionismus typisch, und die religiöse Metaphorik erinnert stark an den expressionistischen Duktus. Indem er jedoch die Bewusstwerdung der erst zu konstituierenden Gemeinschaft in die Zukunft projiziert, negiert er jeden Zusammenhang mit der Vorgängergruppe. Die Vorstellung von einer ›Generation‹ trennt die gegenwärtigen Dichter zeitlich von den vorhergehenden und fungiert hier als Vorstadium für die Gründung einer gänzlich neuen »Gemeinschaft«, deren »Ziel« erst noch ›gesucht‹ wird. Zugleich wird die Bestimmung der Gemeinschaft als jetzt schon zu ›dokumentierende‹ Befindlichkeit dargestellt, deren Sinn sich in der biblisch anmutenden, ›kommenden‹ »Stunde« erfüllen wird.40 Es zeigt sich hier die apologetische Funktion von Manns Argumentationsführung in Bezug auf das von ihm kommentierte Projekt: Die Anthologie jüngster Lyrik ist »das Dokument unserer Lage«, vor allem aber die Gründungsurkunde einer neuen Gemeinschaft. Es ist daher sicher kein Zufall, wenn ihr Titel an die kanonstiftende Anthologie der expressionistischen Lyrik erinnert, die erst sieben Jahre zuvor erschienen war: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Lyrik.41 Die Nachahmung hat hier allerdings den Effekt der Überbietung, denn im Marsch der Zeit verdrängt das aktuell Jüngste zwangsläufig das vormals Jüngste von seinem Platz. Eine ähnliche Relativität eignet bekanntlich dem Neuen. Wenn schon im Prediger Salomo im Kontext einer umfassenden Darstellung der Eitelkeit der Welt und der Mühen des Menschen das Wort steht, »[es] geschicht nichts newes vnter der Sonnen«,42 so kann man davon ausgehen, dass das Streben nach dem Neuen und die Überzeugung, man selber tue etwas 39 40 41
42
Ebd., S. 160. Vgl. Joh. 5, 25; 16, 32 u.ö. Pinthus 1920. Ab dem 5. Tausend wurde der Untertitel in »Symphonie jüngster Dichtung« (meine Hervorhebung) abgeändert. Angesichts der Verbreitung dieser Anthologie macht allerdings das programmatische Adjektiv »jüngst-« auch allein den Bezug zwischen den beiden Anthologien deutlich. Pred. 1, 9.
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Neues, sowie insgesamt die Diskussion um den Status des Neuen gegenüber dem Alten mindestens so alt ist wie die jüdisch-christliche Zeitvorstellung. In der griechischen und römischen Antike gehörte die spannungsvolle Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen dem ›Alten‹ und dem ›Neuen‹ zu den Standardfragen, und schon zu Homers Zeiten wurde dem Neuen ein besonderer Wert zugemessen: »Denn der neuste Gesang erhält vor allen Gesängen | Immer das lauteste Lob der aufmerksamen Versammlung.«43 Das Erkennen des ›Neuen‹ ist somit ein Merkmal des »aufmerksamen« Lesers, der in der Tradition bewandert ist und das Neue nicht zuletzt deshalb schätzt, weil es die Erfahrung bereichert. Der komplexe poetologische Wert der im Spannungsfeld zwischen ›Alt‹ und ›Neu‹ sich entfaltenden Topik geht aus Quintilians einführender Rechtfertigung seiner Ausbildung des Redners hervor. Er berichtet hier, er sei gebeten worden, »wenn auch nichts Neues zu erfinden, so doch jedenfalls meine Stellung zu dem Alten zu bezeichnen«; entsprechend honoriert er die umfassenden Schriften, welche »die bedeutendsten Sachkenner […] der Nachwelt hinterlassen« haben, betont jedoch, dass er mehr als das Geforderte leisten wolle, »um nicht nur auf ausgetretenem Wege fremden Spuren zu folgen«.44 Die auch von Horaz und später Young zur Vermittlung von ›Originalität‹ verwendete Wegmetapher45 ist hier Teil eines Diskurses, durch den der Autor seine Leistung hervorhebt und dem Leser die spezifische Wichtigkeit seines Werkes in einem reich besetzten Umfeld verdeutlicht. Quintilians sorgfältig abwägende Vermittlung zwischen dem Alten und dem Neuen zeigt die Haltung des Gelehrten, der sich in eine geschätzte Tradition einordnet und eine Verbindung zu etablierten Gewährsmännern herstellt; sie erweist die Belesenheit des Autors und eine rhetorisch wirksame Bescheidenheit gegenüber der Leistung anderer. Die Hervorhebung des Bezugs zum ›Alten‹ ermöglicht die bewusste Pflege und Elaborierung des Bestehenden, subtile Formen der intertextuellen Kommunikation sowie das geistreiche Spiel mit der Wiederholung. Der Anspruch, etwas ›Neues‹ zu bieten, erreicht dagegen eine scharfe zeitbezogene Profilierung. Er lässt das Werk wichtig erscheinen, weil es über das Bestehende ›hinausgeht‹, statt es nur zu wiederholen, und er erzeugt mit der Vorstellung vom ›Neuanfang‹ einen Schnitt in der Zeit. Denn wenn auch das ›Neue‹ den Vergleich mit dem Alten nahelegen mag, so lässt es doch zumeist den Vergleich mit dem Alten irrelevant erscheinen und lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Leistung des Autors und die Bedeutung des Werkes selbst. Die Vorstellung 43
44 45
Homer 1996, S. 450 (Odyssee I, V. 351 f.). Den Hinweis auf diese Stelle und insgesamt die Bedeutung des ›Neuen‹ in der griechischen Antike verdanke ich Armand D’Angour. Vgl. die Formel ›ich bringe noch nie Gesagtes‹ in der epischen Exordialtopik, ein Topos, der auch im Mittelalter gängig ist (vgl. Curtius 1993, S. 95 f.). S.a. Longinus 1988, S. 14 f. (5, 1). Quintilian 1995, Bd. 1, S. 4 f. (I, Pr., 1–3). S.o., S. 54 und 277.
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vom ›Neuen‹ und ›Originalen‹ ist extrem kontextspezifisch und tritt in vielerlei Ausprägungen von Teilaspekten auf: so in der Kodifizierung der Autorschaft und des namentlich autorisierten Textes, in der Abgrenzung von namentlich genannter Literatur oder in der Inanspruchnahme völliger Unabhängigkeit. Der Begriff des ›Neuen‹ ist grundsätzlich zweideutig, weil er einerseits den Anschluss an das Alte und andererseits den Bruch mit dem Alten in den Vordergrund rücken kann. Dies geht aus der Bezeichnung ›neue Gedichte‹ hervor, die je nach Kontext den Bezug zu früher erschienenen Gedichten herstellen kann oder Originalität vermittelt. Wenn Heine erklärt, seine Neuen Gedichte seien »als der zweite Theil des ›Buchs der Lieder‹ zu betrachten«,46 so ist die Kontinuität gegenüber seiner früheren Sammlung vorausgesetzt; eine ähnliche Kontinuität liegt dem Anspruch auf qualitative Steigerung in Deutschland. Ein Wintermährchen zugrunde: »ein neues Lied, ein besseres Lied, | O Freunde, will ich euch dichten!«47 Es bleibt allerdings dem Interpreten überlassen, dem Neuigkeitstopos Originalität zu entnehmen, so wenn Heines Herausgeberin Elisabeth Genton feststellt, es handle sich bei den Neuen Gedichten tatsächlich um »eine neue und andersartige Lyrik Heines«.48 Rilkes im Kontext der ›Moderne‹ erschienene Sammlungen Neue Gedichte und Der neuen Gedichte anderer Teil werden trotz des Bezugs zu Heines Titeln tendenziell als ›neu und andersartig‹ interpretiert, zumal sie sich durch die programmatische Orientierung an der Skulptur von seinen vorhergehenden Sammlungen abheben. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass eine von der Romantik geprägte Literaturwissenschaft generell daran interessiert ist, den Wert ihres jeweiligen Forschungsgegenstands mittels der Zuerkennung von Originalität zu etablieren. Ohne jeglichen Originalitätsanspruch oder intertextuellen Bezug erscheint dagegen die Bezeichnung »neue Gedichte« auf der Homepage der Website Brallos Home of Poetry, die den Surfer damit zu verschiedensten, im Jahre 2001 von Brallo verfassten Gelegenheitsgedichten führt: »Hier geht es zu den neuen Gedichten, online seit dem 26. Dezember: Gedichte-Update«; diese auf Dezember 2001 datierten Gedichte wurden dann am 29.11.2004 durch »weitere«, nun gebührenpflichtige Geburtstagsgedichte ergänzt, die eigens mit »Neu!« gekennzeichnet waren.49 Es handelt sich somit hier um ›Neuerscheinungen‹, die vorher physisch nicht existent waren, aber konzeptuell ein bewährtes Muster fortsetzen; die Bezeichnung ›neu‹ weckt Aufmerksamkeit durch die Hervorhebung der Aktualität und setzt diesen Effekt marktgerecht ein. 46 47 48 49
Heine 1973–1997, Bd. I/1, S. 567 (Buch der Lieder, Vorrede zur fünften Auflage, geschrieben 1844). Ebd., Bd. 4, S. 92 (Deutschland. Ein Wintermährchen, Caput I). Ebd., Bd. 2, S. 215. Brallo 1999–2004 (Homepage).
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Deutlich wird bei Heine, Rilke und Brallo die Kontextabhängigkeit der Bezeichnung ›neu‹ sowie spezifisch die Abhängigkeit der Bedeutung vom Bezug zum ›Alten‹, der von der Weiterführung bis hin zum Gegensatz reichen kann. Gemeinsam ist den Verwendungen wie auch schon bei Homer offenbar die intendierte Wirkung: Das Neue beansprucht mehr Aufmerksamkeit als das schon Dagewesene. Dies ist ein wohl biologisch fundiertes Phänomen, das sich in der Kunst wirksam einsetzen lässt, aber seine Wirkung einbüßt, sobald das ›Neue‹ zum Alten wird. Der Topos von der ›Originalität‹ lässt sich als eine mögliche Lösung dieses Problems verstehen: Das in seinem zeitgenössischen Umfeld als ›neu‹ sich Projizierende wird als geistig neu und daher ›zeitlos‹ kreativ gewertet. Den entgegengesetzten Weg ging die im Jahre 2003 erschienene Anthologie Lyrik von JETZT:50 In einem originalitätsmüden Zeitalter begab sie sich des Anspruchs auf geistige ›Neuigkeit‹, konnte jedoch mit ihrer typographisch hervorgehobenen deiktischen Zeitangabe die Reihe der ›neuen Gedichte‹ an Aktualität noch überbieten – wenn auch nur für einen kurzen Moment. In den Poetiken individueller Autoren und in den Manifesten von Gruppen ist das ›Junge‹, das ›Neue‹ und das ›Moderne‹ zwangsläufig und anerkanntermaßen standortspezifisch; daraus erklärt sich die Bedeutung dieser zeitlichen Topoi für die Profilierung poetologischer Positionen. Deutlich wurde dies in der Querelle des anciens et des modernes und in ihrem Erbe. Die binäre sprachliche Bezeichnung hat der Debatte für die Folgezeit ein klar strukturiertes Profil gegeben, das dem ›Alten‹ das ›Moderne‹ entgegensetzt: Synchronisch werden zwei entgegengesetzte Gruppen identifiziert; diachronisch erscheinen sie auf einer ›Linie‹, die mit den anciens in die Antike weist und mit den modernes in die unendliche Zukunft. Die Auswirkungen dieses zum Topos gewordenen Gegensatzes sind noch in den gegenwärtigen Diskussionen um ›die Moderne‹ zu verfolgen. Die enorme Tragweite dieses topischen Komplexes erklärt sich aus seiner Anschlussfähigkeit und der Variabilität seiner Elemente:
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Aus den zwei an der Querelle beteiligten Gruppen – den anciens und den modernes – lassen sich binär aufeinander bezogene, diachronisch aufeinander folgende Poetiken und Epochen ableiten. Die Literatur wird durch die zugleich synchronische und diachronische Binärität (metaphorisch) in zwei ›Räume‹ geteilt, die auf einer diachronischen ›Linie‹ angeordnet sind. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit der metaphorischen Ausgestaltung zu einem ›Weg‹, der von einem älteren ›Raum‹ über eine ›Epochenschwelle‹ in einen neuen ›Raum‹ beziehungsweise eine neue ›Epoche‹ führt; der alte Raum ist zur Zukunft hin abgeschlossen, der neue Raum dagegen offen. Kuhligk/Wagner 2003.
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Die ›Linie‹ ähnelt strukturell der Heilsgeschichte, in der das ›Neue‹ die Erfüllung bringt und somit einen höheren Wert erlangt als das ›Alte‹. Anders als die Heilsgeschichte hat die ›Linie‹ keinen festen Punkt, der das ›Neue‹ vom ›Alten‹ scheidet, so dass der ›Anfang‹ der ›neuen‹ Zeit je nach Standpunkt und Rechtfertigungsbedürfnis beliebig verschiebbar ist. Der Gegensatz zu den anciens verleiht der Poetik der modernes je nach Bedarf die Assoziation ›jetzig‹, ›neu‹, ›jung‹, ›anti/untraditionell‹, ›anti/ unklassisch‹ und/oder ›innovativ‹. Assoziert werden kann auch ›unabhängig‹, da es in der Querelle um die ›Befreiung‹ der vulgärsprachlichen Kulturen von der römischen ›Fremdherrschaft‹ und insgesamt von der antiken Kultur ging.
Die Debatte schuf auf diese Weise einen höchst produktiven poetologischen Spielraum, in dem sich die spannungsvolle Diskussion um die Beziehung zwischen Konvention und Innovation entfalten konnte. Dabei lassen sich entweder beide Teile des Begriffspaares aktivieren, um die Beziehung zwischen dem Alten und Neuen und ihren jeweiligen Wert zu diskutieren, oder es kann einseitig die ›Modernität‹ zur Profilierung des Gegenwärtigen eingesetzt werden. Die Auseinandersetzung mit dem Status der Antike prägte noch die ›Moderne‹ um 1900. So wurden im Jahre 1887 von einer »freien literarischen Vereinigung junger Dichter, Schriftsteller und Literaturfreunde« in der Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung zehn Thesen veröffentlicht, die einen »Wendepunkt« in der deutschen Literatur geltend machten und erklärten: »Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne.«51 In dieser Bestimmung eines ästhetischen Orientierungspunkts bezeichnet »Moderne« eine bereits bestehende, zur »Antike« zeitlich und ästhetisch in Gegensatz stehende Kunst; elaboriert wird dies in der Feststellung einer »Revolution in der Literatur zu Gunsten des modernen Kunstprinzips«.52 Ein unmittelbarer Bezug des ›Modernen‹ zur damaligen Jetztzeit geht jedoch aus dem Aufruf an die »Dichter der Gegenwart« hervor, sie sollen »zusammentreten«, um »der Zukunft prophetisch und bahnbrechend vorzukämpfen«.53 Der ›Wendepunkt‹ wird hier aus der traditionellen Wegmetaphorik konstruiert, indem die Dichter ›nach vorne‹ ausgerichtet werden. Die Vergangenheit verschwindet aus dem poetologischen Blick, indem die Bewohner der Gegenwart zusammen in die Zukunft marschieren. Zugleich wird der Zukunft durch die Dativ-Konstruktion eine wesenhafte Substanz verliehen (›jemandem/einer Sache vorkämpfen‹), die ihr eine 51 52 53
Freie literarische Vereinigung 1971, S. 2. Ebd. Ebd., S. 1.
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identitätsstiftende Kraft als anzustrebendes Ideal verleiht. Verstärkt wird diese durch die Kampfmetaphorik, so in der Vorstellung von einem »Kampf […] gegen die überlebte Epigonenklassizität«.54 Das ›Moderne‹ gewinnt aus dem Bezug zu den »jungen« Autoren und zum textuellen Umfeld die Assoziationen ›jung‹, ›antiklassisch‹, ›aktuell‹, ›zukunftsorientiert‹, ›lebendig‹, ›kraftvoll‹. Eine ähnliche Begriffsassoziation ergibt sich aus Eugen Wolffs Die jüngste deutsche Literaturströmung und das Princip der Moderne (1888), wie schon der Titel verdeutlicht. Es geht um den »Kampf gegen die Antike« und dichterische »Ideale«, die sich an »›Egmont‹ und ›Wallenstein‹« statt an »›Iphigenie‹ und ›Die Braut von Messina‹« orientieren;55 gesucht wird »neuer Geist« und »neues Leben«.56 Wie schon in der Zeit des ›Sturm und Drang‹ dient Shakespeare als Gewährsmann der ›Neueren‹: »Wo uns die Antike in der freien Bewegung hindert, da stürmen wir mit Shakespeare vorwärts.«57 Das »Princip der Moderne« ist hier mit Weg- und Freiheitsmetaphorik assoziiert, durch die es eine zur Zukunft hin offene Aktualität erhält. Wenn auch beide Texte sich programmatisch zur ›Moderne‹ bekennen und das Jetzige in den Vordergrund rücken, so beziehen sie sich dennoch durchgängig auf das Alte, denn erst aus diesem Kontrast heraus erhält das Argument seine Durchschlagskraft. Wie das ›Neue‹ und ›Junge‹ bezieht das ›Moderne‹ seinen poetologischen Wert aus seiner standortspezifischen Perspektive auf die Vergangenheit, von der es sich in der unmittelbaren Kommunikation mit den gleichzeitig lebenden Rezipienten absetzen will. Die retrospektiv arbeitende Literaturgeschichtsschreibung neigt demgegenüber dazu, den deiktischen Charakter des Begriffs auszublenden, um aus den jeweils als ›modern‹ sich profilierenden Gruppen abgrenzbare Zeitabschnitte mit einer eigenen ›Entwicklung‹ zu machen. Jede so konstruierte ›Epoche‹ erhält auf diese Weise eine eigenständige Struktur mit einem ›Anfang‹ und ›Ende‹ sowie eigenen ›Helden‹, und sie dient auf diese Weise zugleich der Strukturierung der gesamten ›Geschichte‹. Besonders in der deutschen Literaturwissenschaft besteht zudem die Tendenz, das ›Moderne‹ von zeitspezifischen Gruppen abzulösen und als stabilen Epochenbegriff zu fassen, der ›unsere‹ Zeit zwischen ihrem ›Anfang‹ und unserem ›Jetzt‹ umfasst.58 Den Anfang des ›Modernen‹ beziehungsweise ›der Moderne‹ lie54 55 56 57 58
Ebd., S. 2. Wolff 1971, S. 16. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 16. Der Sammelband »Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne« (Moog-Grünewald 2002) geht über diese Tendenz noch hinaus, indem er nicht nur die ›Moderne‹ als gruppenunabhängige Epoche betrachtet, sondern zudem ›das Neue‹ tendenziell auf diese ›Moderne‹ einschränkt. Die so konstruierte »Denkfigur« klingt allerdings eher nach einer Tautologie, in der die ursprüngliche Bedeutung von ›modern‹ hervortritt: »Die Moderne ist das Neue, das Neue ist die Moderne« (ebd., S. vii). Dabei liefert der Band reichliches Material, das die im Titel vor-
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fern daher vorzugsweise Goethe, die deutsche Romantik oder auch die idealistische Ästhetik, in der die moderne Literaturwissenschaft ihren eigenen Anfang sieht.59 Gerade die Literatur lebt jedoch aus dem produktiven, unendlich erneuerungsfähigen Zusammenspiel des Alten und des Neuen, denn sie vollzieht sich in der Zeit und bezieht ihre Energie aus der Zeit. Jeder Autor, jede Autorin und jede Gruppe bringt in die Debatte die Neuigkeit der eigenen Perspektive auf die Zeit ein. Die Literatur holt sich ihre Stoffe aus der Vergangenheit und ihre Utopien aus der Zukunft, aber ihre unmittelbare Wirkung entfaltet sie in der jeweiligen Gegenwart des Rezipienten. Hier kann auch das ganz Alte ganz neu wirken – eine Erfahrung, die Autoren virtuos einsetzen, denn »die Literatur […] versteht sich […] auf die stärkste Absicht, zu wirken in jeder Gegenwart«.60 So greift Heine in dem folgenden Gedichtanfang eine geradezu klischeehaft in der Literatur behandelte Lebenssituation auf: »Ein Jüngling liebt ein Mädchen, | Die hat einen andern erwählt;«61 auch die Fortführung des Gedichts bringt nichts inhaltlich Originelles. Wirkungsvoll ist dennoch der unmittelbare emotionale Effekt am Ende, der das Alte zum (metaphorisch) ›Neuen‹ macht: Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.62
Poetologisch bietet das Gedicht eine Replik auf den seit Young etablierten Originalitätsdruck, indem es die unbegrenzte Erneuerungsfähigkeit des Alten im lebendigen Gefühl erfahrbar macht.
59 60 61 62
gestellte These in Frage stellt (vgl. bes. Fricke 2002, der das »stetige Spannungsverhältnis von Innovation und Konvention« betont). Eine überzeugende Replik liefert Nies 2004 unter Bezug auf die französische Literatur des Mittelalters. Problematisch ist allerdings seine abschließende Hypothese, die er der Forschung zur Überprüfung anempfiehlt: »Im Keim enthalten [Neues und Neuheit als ›Denkfiguren‹] bereits die moderne Fortschrittsideologie« (ebd., S. 248); denn mit der Metapher vom »Keim« verwurzelt er schon in der Fragestellung die Privilegierung des Neuen. Notwendig ist vielmehr ein Ansatz, der das von Fricke konstatierte »Spannungsverhältnis« zwischen dem Alten und dem Neuen im Blick zu behalten vermag. S. u., Anm. 427. Bachmann 1978, Bd. 4, S. 260 (Frankfurter Poetik-Vorlesungen V: Literatur als Utopie). Heine 1973–1997, Bd. I/1, S. 171 (Buch der Lieder, Lyrisches Intermezzo 39). Ebd.
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2. Grenzen und Hierarchien Ohne die Metaphorik von Grenzen und Hierarchien ist Poetik kaum denkbar.63 Diese schon von klein auf körperlich erlebten und kognitiv verarbeiteten Strukturen des Raums manifestieren sich in Behälter- und Vertikalitätsmetaphern, die maßgebende Werte vermitteln. Erst anhand solcher Strukturen wird die Beziehung zwischen der ›Welt‹ des Dichters, der ›Welt‹, die im Werk dargestellt ist, und der ›Welt‹ des Rezipienten vorstellbar. Die Vorstellung von einem ›Behälter‹ verleiht einer abstrakten Vorstellung eine ›Form‹ – wobei schon dieser für die Literatur bedeutsame Begriff eine Metapher ist. Entsprechend lässt sich die ›Gattung‹ als Behälter konzipieren, womit sie eine ›Festigkeit‹ erhält, die ihren normstiftenden Einsatz ermöglicht. Gottsched beispielsweise behandelt zunächst die formalen Merkmale der Tragödie, um dann zu ihrer ›inneren‹ Beschaffenheit überzugehen: »Von diesen äußerlichen Stücken einer Tragödie, die auch einem Ungelehrten in die Augen fallen, komme ich auf die innere Einrichtung derselben, die nur ein Kunstverständiger wahrnimmt.«64 Die Gattung entfaltet hier durch die Behältermetapher und die Metaphorik des Sehens eine objektive Realität: Geschaffen wird ein für jeden ›sichtbares‹, physisches Objekt. Gottsched nutzt über die spezifische Aussage zur Gattung des Trauerspiels hinaus die Möglichkeiten dieser Behältermetapher, um die Gelehrten von den Ungelehrten abzugrenzen: Das ›Äußere‹ ist für jeden sichtbar; das ›Innere‹ dagegen ist nur dem Kundigen zugänglich. In Bezug auf das Innere wird nun wiederum die metaphorisch konstruierte ›physische‹ Struktur vergeistigt: Denn nur der Gelehrte ist fähig, die Struktur des Inneren wahrzunehmen. Die Poetik wird damit als esoterische Kunst gekennzeichnet. Auch der Kanon kann zu einem ›Behälter‹ werden: Er ›enthält‹ und schützt das Aufzubewahrende und gibt es an die Nachwelt weiter.65 Besonders einsichtig wird dies dann, wenn er eine physische Form annimmt, so in den zusammengebundenen Büchern der Bibel oder in der Anthologie. Die Anthologie stellt einen materiell durch Buchdeckel begrenzten ›Behälter‹ von ausgewählten Texten dar, die für tradierungswürdig befunden werden – wobei mittels der wörtlichen Übersetzung des griechischen Wortes, ›Blumenlese‹, eher der Prozess der Auswahl des Schönsten in den Vordergrund gerückt werden kann. Die Anthologie hat den Charakter eines Objekts, das durch seine physische Form und den Titel auch das Heterogene mit einer 63 64 65
Zu poetologischen ›Grenzen‹ und ›Übergängen‹ besonders im 20. Jahrhundert vgl. Görner 2001 und Lamping 2001. Gottsched 1962, S. 610 (2. Teil, 1. Abschnitt, 10. Hauptstück: Von Tragödien, oder Trauerspielen). Vgl. dagegen Bloom 1994, der den Kanon produktionsästhetisch unter dem Aspekt der autorzentrierten ›Einflussangst‹ erkundet.
2. Grenzen und Hierarchien
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kohärenten, zugleich materiellen und ideellen Identität versieht; Beispiel ist die Anthologie Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Lyrik,66 die zum ›Kanon‹ der expressionistischen Lyrik wurde. Die Interaktion zwischen dem Buch, der Metapher von einer spezifischen Tageszeit und der Metapher von der musikalischen Gattung vereint die Gedichte zugleich physisch und geistig und verleiht ihnen den Stempel des Typischen. Entsprechend erlangte die Manessische Liederhandschrift eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Tradierung mittelalterlicher Lyrik: Die Vereinigung und Reihung der Bilder und Texte in einem Prachtkodex vermittelt den hohen Wert dieser ›kanonischen‹ Werke und Autoren, zumal das Bild von »Keiser Heinrich« mit seinen Insignien den Anfang bildet.67 Das Buch kommuniziert die künstlerische Wertschätzung der auserwählten Dichter und bildet sie zu einer kohärenten Gruppe. Späteren Zeiten diente das Buch als Grundlage für eine Vorstellung von mittelalterlicher ›Lyrik‹.68 Das Zusammenwirken der materiellen Form und der geistigen ›Eingrenzung‹ sicherte die Tradierung von Gedichten und Bildern, die sonst vermutlich der Vergessenheit anheim gefallen wären. Die Bibliothek fungiert ebenfalls als wertstiftender ›Behälter‹: Sie dient als »materielle Grundlage des literarischen Kanons« und verwandelt »das historische Nacheinander der verfügbaren Bücher in ein Nebeneinander der zu lesenden Bücher«.69 Die Bibliothek nutzt die Materialität der schriftlichen Überlieferung, um der Vergänglichkeit des Gedichteten entgegenzuwirken und es normstiftend geordnet an die Nachwelt weiterzugeben. Entsprechend gehörte es für Opitz zu den höchsten Zielen des Autors, »in die bibliothecken einverleibet« zu werden.70 Die Körpermetapher verleiht der Bibliothek ein ›Leben‹, das auch nach dem Tode des Poeten die Fortwirkung seines Werkes garantiert. Die ›Welt‹, in der literarische Werke ihre Wirkung entfalten, ist ›horizontal‹ und ›vertikal‹ nach gesellschaftlichen Gruppen und Schichten strukturiert. In den Barockpoetiken ist die Abgrenzung der eigenen Gruppe nach unten hin ein gängiger Topos, so wie auch der Inspirationstopos eine von oben kommende, göttliche Beteiligung vermittelt, die dem Dichter einen erhöhten Status und seiner Kunst eine besondere »Hoheit«71 verleiht. Die Hierarchien der Schöpfung setzt Harsdörffer ein, wenn er die »Zahnbre66 67 68
69 70 71
Pinthus 1920. Manesse 1971, S. ir. Die um 1300–1330 in Zürich entstandene Große Heidelberger Liederhandschrift C ist »der wichtigste Textzeuge in der Überlieferung der deutschsprachigen Lyrik des 12.–14. Jahrhunderts« und stand »immer schon im Mittelpunkt der Forschung« (Holznagel 1995, S. 140). Vgl. Holznagels Ausführungen zur Handschrift, ihrem literarischen Profil und ihrer Überlieferung (ebd., S. 140–207). Schlaffer 2002, S. 154. Opitz 1966, S. 55 (Kap. 8). Buchner 1966, S. (2.).
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cher / Spruchsprecher / Fatznarren und Possenreisser« von der Kategorie der »Poeten« ausschließt; sie sind nichts weiter als »unglückselige Mißgeburten«72 und »so wenig Poeten / als die ungestalten Affen Menschen / ob sie uns wol unter allen Thieren am ähnlichsten sind«.73 Die traditionsreiche Metaphorik von der ›Kette der Wesen‹74 wird hier für die Poetik der eigenen Gruppe nutzbar gemacht. Ferner grenzt Harsdörffer jene aus, die »nicht in den Wissenschaften und freyen Künsten wol erfahren« sind.75 Ausgeschlossen sind sie nicht nur von der Produktion, sondern auch von der Rezeption: »Daher auch solche kunstsinnige Gedichte dem gemeinen Mann nicht gefallen können / weil sie ihm zu hoch / und er nicht loben kan / was er nicht versteht.«76 Entsprechend geißelt Gottfried Wilhelm Sacer in Nützliche Erinnerungen Wegen der Deutschen Poeterey die »Lumpen-Reime« der ungebildeten »Poetaster«: »Wer nicht genau versteht / | Was Rom war und Athen / heist weit nicht ein Poet.«77 Das einzige ihnen angemessene Publikum seien »Bauren«.78 Hier wird die gesellschaftliche Hierarchie eingesetzt, um der eigenen, gesellschaftlich ›höheren‹ Gruppe die alleinige Legitimation zu sichern. Die Beziehung zwischen den ›Welten‹ des Dichters, des Werkes und des Rezipienten ist wesentlich komplexer, als es der Fiktionalitätsbegriff glauben macht, denn typisch ist weniger die absolute Grenze zwischen der fiktionalen Welt des Werkes und den empirischen Wirklichkeiten von Autor und Rezipient als das Experiment mit vielfältigsten Möglichkeiten des Übergangs, der spannungsvollen Annäherung und der partiellen Koinzidenz. Übergänge zwischen dem textexternen empirischen Autor und textinternen Rollen wurden bereits im letzten Kapitel erörtert. Nicht weniger bedeutsam sind sie für die Beziehung zwischen der Welt des Werkes und der empirischen Welt des Rezipienten. So ist die vom Rezipienten zu leistende Durchbrechung dieser Grenze für den Schlüsselroman gattungstypisch; und in der Satire ist der Rezipient aufgefordert, Bezüge zwischen der verzerrt dargestellten Welt und der eigenen empirischen Welt zu erkennen. Die Schäferdichtung schafft mit der Landschaft Arkadien eine Welt, die von der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitmöglichst geschieden ist, sich aber mit ihr auch im gesellschaftlichen Spiel verschmelzen lässt, wenn die ›Rollen‹ der Dichter und Rezipienten mit den literarischen Figuren übereinstimmen;
72 73 74 75 76 77 78
Harsdörffer 1969, 1. Teil, S. )( vr (Vorrede, Abs. 6), und 2. Teil, S. A vr (Vorrede, Abs. 3). Ebd., 2. Teil, S. A vr (Vorrede, Abs. 3), unter Verweis auf 1. Teil, S. )( vr (Vorrede, Abs. 6). Vgl. Lovejoy 1964. S.a. Lakoff/Turner 1989, S. 160–213 und Kövecses 2002, S. 124–127. Solche Abgrenzungen gegenüber den Ungebildeten sind auch für die Poetik des Mittelalters charakteristisch, vgl. Curtius 1993, S. 366. Harsdörffer 1969, 1. Teil, S. 5 (1. Stund, Abs. 7). Sacer 1661, S. 60 f. (§ 52). Ebd., S. 61.
2. Grenzen und Hierarchien
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das Gesellschaftsspiel führt Dichter wie Rezipienten in eine idyllische, aus der Antike tradierte Welt des gelebten Textes. Die poetologische Bedeutung der räumlichen und zeitlichen Abgrenzung unterschiedlicher Welten geht aus Salomon Gessners Vorrede zu seinen 1756 veröffentlichten Idyllen hervor, wenn er einerseits den Gegensatz zwischen dem Raum der »Stadt« und dem Raum der »unverdorbenen Natur« hervorhebt und andererseits den Gegensatz zwischen »unsren Zeiten« und einem vergangenen »goldnen Weltalter« thematisiert.79 In Bezug auf den Raum vollzieht der Leser eine Flucht, die der physischen Bewegung von der Stadt aufs Land entspricht, wie sie der Autor oftmals in Wirklichkeit vollzieht, um hier »glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter« zu leben: »Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben.«80 Entsprechend vermögen wir uns beim Lesen der Idylle unter Einsatz unserer »Einbildungs-Kraft« »aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter [zu] setzen«,81 wobei die textuelle Tradition zusätzlich zur Versetzung in einen anderen Raum die Versetzung in eine andere Zeit ermöglicht. Die antike Tradition – so vor allem Theokrit – rückt uns näher an die ursprüngliche »Einfalt der Natur«,82 als dies von der zeitgenössischen wirklichen Natur geleistet werden kann, da diese von gesellschaftlichen Hierarchien kontaminiert ist: Das »goldne Weltalter« zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen noch nicht »Sclavischen Verhältnissen« ausgesetzt sind, wie sie für das zeitgenössische Leben auf dem Lande kennzeichnend sind.83 Gessners Metaphern der ›Flucht‹ und des ›Entreißens‹ und ›(Ver)setzens‹ verdeutlichen den positiven Wert des Eskapismus: Die glückbringende Wirkung der in eine ideale Zeit projizierten, naturhaften Welt ergibt sich aus dem Erleben ihres radikalen Gegensatzes zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Welt. Besonders das Theater konstituiert sich aus der spannungsvollen Grenze zwischen der empirischen Welt und der literarischen Welt heraus und evoziert dadurch unterschiedliche Seinsformen. Während sich einerseits das Theater als ›Leben‹ darstellt, bietet diese Beziehung andererseits schon seit der Antike eine reiche Topik zur Vorstellung vom Leben als Theater.84 Die Bühne macht die Differenz zwischen der dargestellten Welt und der Welt der Rezipienten als räumliche Differenz erfahrbar. Die in der topischen Metapher von der ›vierten Wand‹ vertikal ausgestaltete kognitive Abgrenzung schafft im Prozess des Zuschauens die Illusion einer eigenständigen 79 80 81 82 83 84
Gessner 1973, S. 15 f. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 15. Vgl. Platon 1994, Bd. 3, S. 480 (Philebos; 50b); Curtius 1993, S. 148 f.
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Welt; in Einklang mit aristotelischen Prämissen erhält sie eine Kohärenz und Plausibilität, die sie zur ›wahrscheinlichen‹ Entsprechung der wirklichen Welt macht. Brechts Verfremdungstechniken machen dagegen die Grenze als Illusion bewusst, um das Publikum mittels der Differenz zwischen den Welten zur Reflexion herauszufordern. Im Barock wird der Prozess des Schauspiels zu einem Agieren auf der Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit, Traum und Leben: »Selbst der Zuschauer spaltete sich in einen Träumenden und einen Wachenden, den einen, der der Täuschung erliegt und einen, der sich ihrer bewußt bleibt.«85 In einer Zeit, die von der christlichen Ausrichtung des Lebens am Jenseits bestimmt war, erlaubte der Gegensatz zwischen Theater und Wirklichkeit und das Spiel mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen die Sensibilisierung für die ›Wirklichkeit‹ einer Welt, die den physischen Sinnen nicht zugänglich ist. Gryphius nutzt diese Möglichkeiten in der Vorrede zu Cardenio und Celinde, Oder Unglücklich Verliebete. Trauer-Spiel für eine Unterscheidung zwischen zwei Rezipientengruppen, wenn er seine Darstellung von Geistern durch die Wiedergabe zweier Berichte von Geistersichtungen der Wirklichkeit annähert, aber einräumt, dass nur manche Rezipienten daran glauben werden. Den anderen empfiehlt er, das Werk als das »Geticht« aufzufassen, als das die Gattungsbezeichnung es ausweist: Kan nun jemand diesen Erzehlungen Glauben zustellen: So wird Celinden vnd Cardenio Gesichte jhm nicht so vngereimet vorkommen. Deren Meynung aber / die alle Gespenster vnd Erscheinungen als Tand vnd Mährlin oder traurige Einbildungen verlachen: Sind wir in kurtzem vernünfftig an seinem besonderen Ort / zu erwegen entschlossen / vnd geben jhnen indessen vnseren Cardenio vor ein TraurSpiel / das ist vor ein Getichte.86
Indem der Autor hier in der Anrede an die künftigen Rezipienten zwei diametral entgegengesetzte Gruppen voraussetzt, die er unter Bezug auf die Frage der Fiktionalität des Stoffes voneinander abgrenzt, spricht er das gesamte Spektrum von potenziellen Rezipienten an: Diese Lehre betrifft ohne Unterschied jeden Menschen, denn sie handelt von der letztgültigen Grenze zwischen Schein und Sein: »Wer hier recht leben wil und jene Kron ererben | Die vns das Leben gibt: denck jede Stund ans Sterben.«87 Das lebhaft auf der Bühne dargestellte Diesseits mit seiner Hinführung auf den Höhepunkt der plötzlichen Verwandlung einer vermeintlich Lebenden in ein Skelett soll in der Phantasie des Rezipienten die entgegengesetzte, metaphysische Welt des Jenseits präsent machen, auf welche die Lehre des Stückes ausgerichtet ist. Die biblische Metapher von der »Krone«, die durch ein rechtschaffenes Verhalten im »Leben« zu erwerben ist, ruft in der Vor85 86 87
Vgl. Hoffmeister 1987, S. 176 f. Gryphius 1963–1983, Bd. 5, S. 103 (Cardenio und Celinde, Vorrede). Ebd., S. 167 (5. Abhandelung, V. 429 f.).
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stellung des Rezipienten die Bedeutung dieser Krone für das Leben nach dem Tode wach.88 Die Unterscheidung zwischen den zwei entgegengesetzten Perspektiven auf die Wirklichkeit verweist implizit auf die für die moralische Lehre des Stückes zentrale Grenze zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits. Denn die Alltagsmetapher »vngereimet« fordert den Rezipienten zu einem Überdenken der Beziehung zwischen »Geticht« und Wirklichkeit heraus: Diejenigen, die dem ›gereimt‹ Dargestellten »Glauben« schenken können, sind für das Jenseits besser gerüstet, als jene, die darin keinen ›Reim‹ und Sinn entdecken können. Gryphius verleiht seinem Trauerspiel auf diese Weise einen moralischen Wert und legitimiert es in einem Kontext, in dem christliche Unterweisungsliteratur den höchsten Status beanspruchte. Die physische ›Grenze‹ zwischen dem Raum des Spiels und dem Raum der Zuschauer vermittelt somit auf komplexe Weise kognitive Grenzen: die räumliche Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, die zeitliche Grenze zwischen Leben und Tod, die moralische Grenze zwischen Glauben und Nicht-Glauben und die philosophische beziehungsweise literarische Grenze zwischen Gedicht und Wirklichkeit. Während das Theater physisch zwischen der Welt des Stückes und der Welt des Rezipienten unterscheidet, wird im Roman die Differenz allein auf sprachlichem Wege erzeugt. Wie im Theater kann der Unterschied bewusst gemacht oder ausgeblendet werden; ob die dargestellte ›Welt‹ als solche ein besonderes, von der Welt der Rezipienten abgegrenztes Profil erhält, unterliegt nicht zuletzt der Handhabung der Erzählerfunktion. Dass diese Beziehung vom Kontext der literarischen Kommunikation zwischen Autor und Rezipient abhängt, geht aus der Poetik des galanten Romans hervor. Hier wird die ›Welt‹ zu einer wirkungsorientierten poetologischen Metapher ausgestaltet, denn der galante Roman reflektiert nicht nur die Welt der empirischen Wirklichkeit, sondern ist spezifisch auf eine sich herausbildende gesellschaftliche Gruppe zugeschnitten und soll deren ›Welt‹ hervorbringen helfen. Oft signalisiert dies bereits der Titel, wie im folgenden Roman von Michael Erich Franck: Die Galante und Liebens-würdige SALINDE, Der Galanten Welt in einem Academischen und Liebes-Roman, Zu erlaubten Zeitvertreib / nebst einem völligen in der Vorrede enthaltenen Unterricht / Wie ein neu-angehender ACADEMICUS Seine CONDUITE So wohl in Prosecution seiner Studien, als auch in Compagnien bey Frauenzimmer / in seinem Beutel und anderer Orten mehr einrichten solle […].89 Deutlich wird hier die identitätsfestigende Funktion der Behältermetaphorik: Der Roman verspricht, mit Unterhaltung und Belehrung die Werte der Galanterie zu vermitteln und auf diese Weise die ›galante Welt‹ als eigenständige Gruppe zu bestätigen; die Vorrede dient nicht der theoretischen Einführung des fiktionalen 88 89
Vgl. beispielsweise Jak. 1, 12 und Offb. 2, 10. Franck 1718 (Titel).
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Werkes, sondern dem praxisnahen Unterricht in galanten Verhaltensweisen. Die weitere Bestimmung dieser ›Welt‹ kann zur Abgrenzung sowie auch Eingrenzung dienen. So definiert Hunold in der Vorrede zu Die Verliebte und Galante Welt die dargestellte Welt als »Schauplatz der Liebe«,90 eine Metapher, die er räumlich visuell konkretisiert, wenn er in der Vorrede zu Die Liebens-Würdige Adalie »die Welt nicht als einen aller Augen geöffneten Platz / sondern als ein geheimes Liebes-Cabinet« verstanden haben will.91 Der Reiz dieses Intimbereichs gründet im Kontrast zur großen öffentlichen Welt, und der Erfolg des Romans beruht auf der Offenbarung vermeintlicher ›Geheimnisse‹, die dem Leser einen privilegierten ›Einblick‹ in eine Welt verschaffen, die ihm sonst zumeist verschlossen bleibt. Die Grenzverschiebungen im Leserkreis, die sich mit gesellschaftlichen Veränderungen und der zunehmenden Lesefähigkeit auch in weniger gebildeten Teilen der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergaben, boten dem Schriftsteller die Möglichkeit, sein Publikum enorm zu vergrößern. Schiller erhofft sich für die 1795 gegründete Zeitschrift Die Horen in der lesefähigen Bevölkerung eine geradezu unbegrenzte Wirkung, wie aus seiner Einladung zur Mitarbeit deutlich wird. Auch hier findet sich unter Bezug auf die vorgesehenen Rezipienten die Metapher von der ›Welt‹, wenn Schiller die Monatsschrift sowohl der »schönen Welt« als auch der »gelehrten [Welt]« widmet und damit den unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen inklusiv entgegenzukommen sucht.92 Weiterhin geht er davon aus, dass jeder verdienstvolle Schriftsteller »in der lesenden Welt seinen eigenen Kreis« hat; entsprechend unternimmt er mit dem Projekt die Stiftung einer »literarischen Assoziation« der »vorzüglichsten Schriftsteller der Nation«, um der Zeitschrift als Käuferschaft und Publikum die »ganze lesende Welt« zu sichern.93 Verbindungsmetaphorik dient bei ihm dazu, mit der Vision einer Überwindung der problematischen Fragmentierung des deutschen Publikums jene Vereinigung der Schriftsteller zu stiften, die auch Klopstock mit seiner zum imaginierten Staat ausgebauten Deutschen Gelehrtenrepublik angestrebt hatte: Dort ist eine durch interne Hierarchien differenzierte ›Welt‹ der Gelehrten entworfen, die ihre Werte in Gesetzen festlegt und auf Landtagen bespricht und die sich zum Ziel setzt, deutsche Kultur in alle Lande zu tragen. Dass solche Hoffnungen auf Fehleinschätzungen des zeitgenössischen Publikums beruhten, zeigen beide Projekte: Das Befremden über Klopstocks Werk besonders beim nicht-gelehrten Teil des Publikums bedeutete, dass er den Plan zu einem zweiten Teil der Deutschen Gelehrtenrepublik auf90 91 92 93
Hunold 1988, S. )( 4v. Hunold 1967, S. )( 5v - )( 6r. S. o., S. 342. Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 998 (Die Horen, Einladung zur Mitarbeit). Ebd., S. 999.
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geben musste; und Schillers Horen scheiterten schon 1797 trotz eines illustren Aufgebots an Beiträgern einschließlich Herder, Goethe, Fichte, August Wilhelm Schlegel, Alexander und Wilhelm von Humboldt sowie Hölderlin. Die Spaltung des Publikums ist zu dieser Zeit ein bedeutender Topos, der von Friedrich Schlegel 1797 vertikalmetaphorisch als »schneidender Kontrast der höhern und niedern Kunst« sowie als ›Nebeneinander‹ zweier Gruppen reflektiert wird:94 Ganz dicht nebeneinander existieren besonders jetzt zwei verschiedene Poesien nebeneinander, deren jede ihr eignes Publikum hat, und unbekümmert um die andre ihren Gang für sich geht. Sie nehmen nicht die geringste Notiz voneinander, außer, wenn sie zufällig aufeinander treffen, durch gegenseitige Verachtung und Spott; oft nicht ohne heimlichen Neid über die Popularität der einen oder die Vornehmigkeit der andern. Das Publikum, welches sich mit der gröbern Kost begnügt, ist naiv genug, jede Poesie, welche höhere Ansprüche macht, als für Gelehrte allein bestimmt, nur außerordentlichen Individuen oder doch nur seltnen festlichen Augenblicken angemessen, von der Hand zu weisen.95
Die Spaltung des Publikums wird durch verkörpernde Personifikation und Metaphern des gesellschaftlichen Umgangs sinnfällig gemacht. Die Metaphorik des ›Nebeneinander‹ erhält mit der Ernährungsmetaphorik einen vertikalen Aspekt, da jene Rezipienten, die sich mit der »gröbern Kost« begnügen, zu den Rezipienten mit »höheren Ansprüchen« in Gegensatz gebracht werden; letztere werden mit einem (für Aristokratie und Großbürgertum charakteristischen) verfeinerten Geschmack identifiziert und mit dem Anspruch auf eine von ›oben‹ kommende Breitenwirkung verbunden, die über die Gruppe der Gelehrten hinausstrebt. Auf komplexe Weise ist hier die in der frühen Neuzeit etablierte vertikale Metaphorik der Gelehrten fortgeführt, allerdings unter Ausblendung einer Abgrenzung nach unten. Mit typischer Radikalität artikuliert Schiller ähnliche Bestrebungen in Bezug auf die erhoffte Wirkung des Theaters: Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.96
Neuplatonische Metaphorik ist hier auf die Kunst übertragen: Das Theater wird zum Medium der Aufklärung und Läuterung aller Menschen, wobei die Verquickung von Flüssigkeits- und Lichtmetaphorik auch für die mysti94 95 96
Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 1, S. 227 (Über das Studium der Griechischen Poesie). Ebd., S. 227 f. Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 197 (Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?). Die 1785 schriftlich veröffentlichte Vorlesung erschien 1802 in umgearbeiteter Form mit dem Titel »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet«.
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sche Tradition typisch ist, wie beispielsweise aus Mechthilds Titel Das Fließende Licht der Gottheit hervorgeht.97 Der Künstler beansprucht die höchste Weisheit und macht es sich zur Aufgabe, sie wie ein Priester an die Menschen weiterzugeben. Die rationalistische Tradition gibt sich allerdings in dem ›Blut‹ des Volks sowie dem Ziel der Kulturstiftung zu erkennen: Durch die »Adern« des Volks fließen »Begriffe« und »Grundsätze«, und das »siegende Licht« erscheint am Ende eines Prozesses der Zivilisierung. Die Vorstellung von einer vertikalen Struktur bietet hier einen kognitiven Rahmen, in dem Autor und Rezipient sich verorten und ihre Beziehung zueinander bestimmen können. Diese Struktur begegnet in unterschiedlicher Ausprägung. Die gelehrte Literatur ist dadurch gekennzeichnet, dass Autor und Rezipient derselben Elite angehören und sich von dem ›unter‹ ihnen situierten Rest der Bevölkerung abgrenzen. In der Homiletik ist dagegen typischerweise die Kommunikation mit dem weniger gebildeten Teil der Bevölkerung vorausgesetzt: Der Autor hat einen ›höheren‹ Wissensstand und spricht ›von oben herab‹ zur Gemeinde seiner Leser, um die Lehre zu vermitteln, wobei er sein Werk entweder dem Wissensstand der Gemeinde nähern oder diese durch ein anspruchsvolles Werk auf seine Ebene ›hinaufziehen‹ kann: »Soll er [der christliche Dichter] viele zu sich erheben? Oder soll er sich zu den meisten herunterlassen?«98 Wenn auch die Bedeutung der homiletischen Tradition für die Literatur im Laufe des 18. Jahrhunderts abnahm und der Gelehrtenstand zunehmend seine praktische Partizipation am literarischen Leben aufgab, blieben die hierarchischen Rezeptionsmuster dennoch bestimmend, wie die Debatte um den Status der Unterhaltungsliteratur noch am Anfang des 21. Jahrhunderts zeigt.99 Auch bei Autoren, die keinen ›hohen‹ Anspruch verfolgen, lässt sich eine Orientierung an dieser Hierarchie feststellen. So unterscheidet Hedwig Courths-Mahler in ihrer Antwort auf eine Umfrage zu dem Thema »Warum werden Ihre Bücher viel gelesen?« zwischen dem »Volk« als einer großen »Gemeinde« und der kleinen, »hochliterarischen Gemeinde« der »Hochgeistigen, Anspruchsvollen«, für welche die ambitionierteren Schriftsteller schreiben.100 Ihren Erfolg erklärt sie damit, dass sie mit ihrer Ausrichtung auf die Zielgruppe des Volks automatisch eine größere Leserschaft anspricht. Wohl aufgrund ihrer mangelnden Bildung sieht sie dies als Notwendigkeit (sie musste die Schule frühzeitig verlassen und war zunächst Dienstmädchen): Sie ist eine Schriftstellerin, der es »nur gegeben ist, zu dem Volke zu reden«. Dieser empirische soziale Status, der sie ihren Lesern sozial gleichstellt, wird jedoch durch ein anderes Argument ergänzt, das 97 Mechthild 2003. 98 Klopstock 1981, Bd. 2, S. 1010 (Einleitung zu den geistlichen Liedern). S.o., S. 318, Anm. 87. 99 S. u., S. 644–650. 100 Courths-Mahler 1928. Die folgenden Zitate beziehen sich ebenfalls auf diesen kurzen Text.
2. Grenzen und Hierarchien
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eher in die Richtung des rhetorischen aptum geht, da eine dem Rezipienten angemessene Kommunikation gefordert wird: Wenn der Autor zum Volke redet, muß er ihm geben, was des Volkes ist, redet er hingegen zu den hochgeistigen, literarisch anspruchsvollen Lesern, so muß er diesen bringen, was sie wünschen. […] Meines Erachtens nach muß sich der Autor in das Wesen seiner Leser hineindenken können, sich nach ihnen richten und nicht verlangen, daß der Leser sich nach ihm richtet in seinem Geschmack.
Wenn Courths-Mahler auch einen vertikalen literarisch-sozialen Kontext voraussetzt, so fordert sie für den Prozess der literarischen Kommunikation doch vor allem eine genaue Entsprechung zwischen der ästhetischen Beschaffenheit des Werkes und der ästhetischen Erwartung des Lesers. Die Aufgabe des Autors ist nicht, den Leser aus seiner Komfortzone zu führen und über seine gewohnte geistige Situation zu ›erheben‹ oder geschmacklich über das hinaus zu bilden, was er mitbringt, sondern ihm zu liefern, was er »leicht begreifen« kann und was »Freude und Behagen schafft«. Garant für den Erfolg des Werkes beim Volk ist nicht der soziale Status des Autors, sondern dessen imaginative Leistung in Bezug auf den Leser. Das ›Hineindenken‹, das der Leser den Romanhelden entgegenbringt, wird hier als poetologisch wirksames Mittel des Autors in der Kommunikation mit dem Leser verstanden. Vertikalitätsmetaphorik hat in der Poetik eine enorme Bedeutung, wenn es um die Bewertung von Qualität geht: Wie in anderen Diskursen auch, dient sie in den vielfältigsten Variationen dazu, das Wertvolle vom Wertlosen oder weniger Wertvollen zu unterscheiden. Die ›höchsten‹ Auszeichnungen rekurrieren dabei häufig auf Symbole, die aus gesellschaftlichen Hierarchien abgeleitet sind. So ist die Symbolik des poeta laureatus, die in der frühen Neuzeit als begehrteste Anerkennung des Dichters galt, nicht gänzlich geschwunden: Die Wertschätzung von Autoren und Werken drückt sich noch immer am prägnantesten in der ›Preiskrönung‹ aus. Diese kann zu einem poetologischen Ereignis werden, so wenn die Büchnerpreisträger unter Bezug auf den großen Vorfahren ihr poetologisches Credo darlegen und auf diese Weise publikumswirksam die unvermindert maßgebende Tradition der ›Höhenkammliteratur‹101 bestätigen. Die Bedeutung des Vertikalitätstopos für die Struktur des modernen literarischen Lebens geht vielleicht am deutlichsten aus einer Schimpfrede von Thomas Bernhard hervor, der sich wiederholt provokant in Preisreden und dann durch die Verweigerung von Preisen gegen eine solche ›Erhö101 »Unter Höhenkammliteratur, auch Hochliteratur genannt, versteht man die anerkannte, in Schule und Wissenschaft als hochstehend angesehene Literatur. Darunter fallen u. a. die Klassiker. Der Begriff wird als Gegensatz zur Trivialliteratur (Schemaliteratur) verwendet« (Wikipedia 2006; Höhenkammliteratur). Die relativ neue Prägung zeigt die anhaltende Bedeutung der Vertikalitätsmetaphorik für die Strukturierung der literarischen Landschaft.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
hung‹ äußerte.102 In Wittgensteins Neffe liefert er eine Begründung für die Ablehnung – in einer Rollenprosa, deren Grenze zur Meinung des Autors fließend sein dürfte.103 Im Zentrum steht die Bedeutung der mit einer Preisverleihung assoziierten Vertikalitätsmetaphorik: Preisverleihungen […] erhöhen nicht, wie ich bevor ich meinen ersten Preis bekommen habe, glaubte, sondern sie erniedrigen, und zwar auf die beschämendste Weise. Nur weil ich immer an das Geld, das sie einbringen, dachte, habe ich sie ausgehalten, nur aus diesem Grund bin ich in die verschiedensten alten Rathäuser und in alle diese geschmacklosen Festsäle hineingegangen. Bis vierzig. Habe ich mich der Erniedrigung dieser Preisverleihungen unterzogen. Bis vierzig. Habe ich mir in diesen Rathäusern und Festsälen auf den Kopf machen lassen, denn eine Preisverleihung ist nichts anderes, als daß einem auf den Kopf gemacht wird. Einen Preis entgegennehmen, heißt nichts anderes, als sich auf den Kopf machen zu lassen, weil man dafür bezahlt wird. Ich habe Preisverleihungen immer als die größte Erniedrigung, die sich denken läßt, empfunden, nicht als Erhöhung. Denn ein Preis wird einem immer nur von inkompetenten Leuten verliehen, die einem auf den Kopf machen wollen und die einem ausgiebig auf den Kopf machen, wenn man ihren Preis entgegennimmt. Und sie machen einem mit vollem Recht auf den Kopf, weil man so gemein und so niedrig ist, ihren Preis entgegenzunehmen.104
Die Metaphorik ist hier aufgeladen mit Werten, die den Status des ›freien Schriftstellers‹ bestimmen: Nur durch die Verweigerung des Preises kann er seine Unabhängigkeit von Institutionen, die Unabhängigkeit seiner Kunst von materiellem Lohn und seinen Anspruch auf eine geistige und ästhetische Elitestellung zur Geltung bringen. Die Verkehrung der ›Krönung‹ in ein ›auf den Kopf Pinkeln‹ verdeutlicht den hierarchischen Aspekt des Bewertungsvorgangs, der dem Akt der Preisverleihung vorausgeht. In der Annahme des Preises drückt sich die Akzeptanz der Bewertung und damit die Akzeptanz der Autorität der ›Kunstrichter‹ aus. Mit der Verweigerung des Preises nimmt der Dichter den Kunstrichtern das Recht, sein Werk zu beurteilen.
102 Vgl. Karl Heinz Bohrers Kommentar zum Skandal, den Bernhards Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Literatur 1967 auslöste (Bohrer 1968). Im Jahre 2000 lehnte Bernhards Halbbruder und Nachlassverwalter Peter Fabjan die geplante Einführung eines Thomas-Bernhard-Literaturpreises ab, da Bernhard »in seinen letzten Lebensjahren bekanntlich keinen Preis mehr angenommen [hat]. Und zwar deshalb, weil ihm die Hintergründe solcher Preisvergaben zuwider waren« (Fabjan 2000). 103 Uwe Schweikert konstatiert, dass »Bernhards für die Öffentlichkeit bestimmte Reden […] kunstvoll komponierte Rollen-Monologe sind. In nichts unterscheiden sie sich […] von den Monologen seiner Romanfiguren« (Schweikert 1974, S. 6). Zu Bernhards Auseinandersetzung mit der öffentlichen Sphäre in »Wittgensteins Neffe« vgl. Konzett 1995, S. 253–258. 104 Bernhard 1982, S. 107 f.
3. Bindung und Autonomie
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3. Bindung und Autonomie Die Metaphorik der Autonomie hat in der Geschichte der deutschen Poetik eine besondere Bedeutung, weil sich hierin der ›Anfang‹ der modernen Literatur konzentriert und zugleich auch der ›Anfang‹ der Ästhetik sowie der Literaturwissenschaft. Der Topos von der Autonomie hat eine solche semantische Fülle und Eigenständigkeit entwickelt, dass er mittlerweile geradezu als Bestimmung der Dichtung erscheint.105 Ermöglicht wird diese Fülle durch die enorme Assoziationsfähigkeit der im Autonomietopos sich konzentrierenden Metaphern und zudem durch die produktive Beziehung der Autonomie zu ihrem Gegensatz: der Bindung. Der Autonomietopos, wie er sich gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ausprägt, lässt sich als enorm produktive und wandelbare Kombination von Behälter-, Vertikalitäts- und Verbindungsmetaphorik und nicht zuletzt Personifikation beziehungsweise Belebung verstehen. Die deutsche Literatur stellt sich somit dar
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als ›Behälter‹, der von anderen Einheiten abgregrenzt und daher eigenständig ist, als ›oben‹ situierte Instanz, die anderen Instanzen übergeordnet ist, als ›unabhängige‹ Einheit, die nicht an andere Einheiten ›gebunden‹ ist, und als aus sich heraus entwicklungsfähiger ›Organismus‹ beziehungsweise als eigenständiges ›System‹.
Diese Denkmuster lassen sich vielfältig miteinander verknüpfen und unter Bezug auf zeitspezifische Prozesse weiterentwickeln. Zu ihren wichtigsten 105 S. o., S. 8–10. Vgl. die Bedeutung der Autonomietopik für Silvio Viettas idealistisch orientierte Bestimmung des ›Moderne‹-Begriffs in »Die literarische Moderne« (Vietta 1992, S. 7–37). Eine Bestimmung der Moderne unter Bezug auf die Querelle lehnt er aufgrund von deren »nationalkultureller Ausrichtung« ab und eine auf 1900 zentrierte Moderne aufgrund der Involvierung »zweitrangiger Autoren«; in beiden Fällen stört er sich zudem an den »zeitgenössischen Problemstellungen« (ebd., S. 18 f.). Seine Verortung der »Epochenschwelle« zur ›Moderne‹ um 1793 (ebd., S. 9 f. und passim) macht die »Autonomie« (ebd., bes. S. 39–44) zum entscheidenden Kriterium (vgl. Französische Revolution, Kants »Kritik der Urteilskraft«). Auch die Einschränkung des Modernebegriffs auf jene kanonischen deutschen Autoren, die »eine Gegenwelt zur wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Moderne« entwarfen (ebd., S. 322), dient dazu, die ›Moderne‹ dem zeitlichen Fluss konkurrierender Literaturvorstellungen zu entheben und ›die moderne deutsche Literatur‹ auf ein systematisierbares Ideal zu reduzieren. Die Perspektiven der ›Postmoderne‹, auf die Vietta abschließend eingeht (ebd., S. 319–325), hätten den nationalkulturellen Aspekt seines Modells sowie die Fokussierung auf die Interessen jener Gruppe, die die Geschichte dieser ›Moderne‹ erzählt, verdeutlichen können. Sie liefern ja nicht nur das potenzielle Ende der ›Geschichte der Moderne‹, sondern regen zu alternativen Geschichten an.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Funktionen gehört die Legitimation der Dichtung gegenüber anderen Diskursen. Der Topos von der ›Freiheit‹ des Kunstwerks gründet in den disziplinären Verschiebungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in denen die Philosophie die Rhetorik sowie auch die Theologie aus dem Felde schlägt, um zum Leitdiskurs zu avancieren. Eine systematische Grundlegung für die weiterführende Dichtungstheorie liefert Kant in seiner Kritik der Urteilskraft. Er bestimmt die Dichtung als Teil der Kunst, siedelt sie unter Einsatz von geographischen Metaphern im »Gebiete der Philosophie« an, unterstellt sie der »Gesetzgebung« der Philosophie106 und verpflichtet sie auf eine philosophische Freiheit und Schönheit, die zu ihrem sprachlichen Aspekt in Gegensatz steht. So argumentiert er, man solle »nur die Hervorbringung durch Freiheit, d.i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen«,107 und bestimmt gegenüber dem »Geist, der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt«, den sprachlichen Aspekt der Dichtkunst als »etwas Zwangsmäßiges«, das dem Körper entspricht.108 Ihre »Regel« erhält die Kunst allein vom »Genie« oder »ingenium«,109 wodurch der Bezug zwischen Subjekt und Werk zentral wird: »Die Natur im Subjecte [… muß] der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne Kunst ist nur als Product des Genies möglich.«110 Die Dichtung wird durch diese Argumente systematisch dem Zugriff theologischer Dogmen, der Maßgabe moralischer Instanzen sowie auch der Autorität rhetorischer Lehre entzogen und allein dem Zuständigkeitsbereich der Philosophie zugeordnet. Zugleich aber liefert der Topos der Belebung und die Assoziation mit dem ingenium in Zusammenhang mit dem Freiheitstopos vielfältige Legitimationsmöglichkeiten für eine auch von der Philosophie unabhängige Dichtkunst. Aus dem geschichtlichen Kontext ergibt sich der enorme Facettenreichtum des Autonomiebegriffs, der das Destillat einer spannungsreichen, von Philosophen und Dichtern vorangetriebenen Legitimation ihres jeweiligen Interessenbereichs darstellt und viele metaphorische ›Freiheiten‹ und ›Unabhängigkeiten‹ in sich vereinigt:
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die (deutsche) Literatur als eine sich entwickelnde Person, die in der Spätaufklärung ›mündig‹ wird; die Verkörperung der deutschen Literatur in dem ›autonomen‹ AutorSubjekt Goethe, der allein aus seinem ›Inneren‹ schafft und als ›Befreier‹ der deutschen Literatur gilt; der Anspruch auf die absolute ›Willkür‹ des Dichters;
106 107 108 109 110
Kant 1908, S. 174 (Einleitung, II: Vom Gebiete der Philosophie überhaupt). Ebd., S. 303 (§ 43, Von der Kunst überhaupt). Ebd., S. 304. Ebd., S. 307 (§ 46, Schöne Kunst ist Kunst des Genies). Ebd.
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3. Bindung und Autonomie
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die ›Befreiung‹ der Dichter von institutionellen Bindungen (Hof, Kirche, Universität); die ›Befreiung‹ der Dichter von materiellen Bindungen an Auftraggeber; die ›Befreiung‹ der deutschen Literatur von der Bestimmung durch fremde (bes. französische und/oder antike) Literaturen; die ›Befreiung‹ der deutschen Literatur von der ›Autorität‹ der Theologie und insgesamt der Zweckbestimmung des docere; die ›Befreiung‹ der Literatur aus den ›Fesseln‹ der Rhetorik durch die Philosophie; die ›Befreiung‹ der Literatur von der Verpflichtung auf die ›Nachahmung‹ der Natur; die Orientierung der Literatur am ›zweckfreien‹ Schönen als dem ›eigenen‹ Gesetz der Kunst bzw. Literatur; die Etablierung der Literatur als ›eigengesetzlicher‹ Leitdiskurs gegenüber Theologie und Philosophie.
Der hiermit entworfene Komplex ermöglicht eine Unmenge von Übertragungen aus anderen Bereichen, die poetologischen Konzepten eine Struktur verleihen und ihren jeweiligen Wert definieren. So lassen sich religiöse oder politische Topoi wirksam für poetologische Zwecke einsetzen, weil sie bereits ein entwickeltes Assoziationsfeld und etablierte Bewertungen mit sich bringen. Beispielsweise diskutiert Heine die deutsche neoklassizistische Literatur des 18. Jahrhunderts unter Bezug auf den Arminius-Topos, um einerseits die »tölpischen Tempel« neoklassizistischer Dichter – allen voran Gottsched – gegenüber den Kunstwerken des Auslands als barbarisch abzutun, andererseits jedoch die Tat Lessings als nationale Befreiungstat zu feiern: »Lessing war der literarische Arminius der unser Theater von jener Fremdherrschaft befreyte.«111 Heine evoziert mit dieser Gleichsetzung die Befreiung der Deutschen von der römischen Fremdherrschaft und die Etablierung einer eigenständigen deutschen Kulturnation. Übertragen auf die Literaturgeschichte wird Lessing damit zum Begründer einer eigenständigen deutschen Literatur. Zugleich wird der Neoklassizismus durch die Metapher von der »Fremdherrschaft« als wertlose Nachahmung diskreditiert, die zu einer deutschen Literatur keinen Beitrag leisten kann. Vor allem die mit der Französischen Revolution verbundenen Topoi entwickelten in der Poetik jener Zeit eine enorme Schlagkraft. Konzipieren lässt sich in diesem Kontext der Dichter, aber auch das Werk, als Entsprechung zum autonomen bürgerlichen Individuum,112 das sich in der Französischen Revolution ein für allemal von feudalen Abhängigkeiten löste. 111 Heine 1973–1997, Bd. 8/1, S. 134 (Die romantische Schule). 112 Vgl. Hegels Bestimmung des »Kunstwerks« als »reales, in sich abgeschlossenes, einzelnes Individuum« (Hegel, 1986, Bd. 14, S. 245; Ästhetik, 3. Teil, Einleitung).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Der Autonomiebegriff erzeugt damit in der deutschen Literaturgeschichte einen Bruch, der die gesamte vorhergehende Literatur als fremdbestimmt, gebunden, abhängig, uneigenständig, unfrei, unentwickelt, unmündig, untergeordnet erscheinen lässt. Diese Metaphorik ist typisch für die Überbietungsdynamik des poetologischen Diskurses; einzigartig ist jedoch die wissenschaftliche Autorität, die dieser Metaphorik aufgrund ihrer philosophischen Legitimation in der Folgezeit zugesprochen wurde und wird. Der Literaturgeschichtsschreibung eröffnete dieser Metaphernkomplex über den Topos der Personifikation eine Geschichte, die in dem Autor Goethe ihren Helden erhielt. Der Literaturwissenschaft erschien Goethe als absoluter Maßstab einer Poesie à la Friedrich Schlegel, die »allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkühr des Dichters kein Gesetz über sich leide«.113 Dass Schlegel mit gleicher Programmatik auch jedes System und jede disziplinäre Begrenzung ablehnte, wurde dabei oft ausgeblendet. Vielmehr hat die Literaturwissenschaft dazu tendiert, die Verselbständigung des Werkes zur Abgrenzung und Systematisierung von Literatur und Poetik zu nutzen. Dies geht zu Lasten diachronischer Kontinuitäten des literarischen Diskurses über diese ›Epochenschwelle‹ hinweg und verdeckt synchronische Kontinuitäten der Kommunikation zwischen Autor, Werk, Rezipient und deren gesellschaftlichem Kontext. In der praxisbezogenen poetologischen Diskussion war und ist diese Metaphorik nicht weniger produktiv, die Metaphern der Freiheit und Autonomie stehen jedoch in einer extrem wandelbaren und spannungsvollen Beziehung zu Metaphern der Bindung und Abhängigkeit, wobei die jeweiligen Bewertungen sich erst aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus konstituieren und der Legitimation des jeweiligen dichterischen Projekts in seinem Umfeld dienen. Dabei geht es zumeist darum, die Kunst von ganz bestimmten Institutionen, Zwecken und Zwängen freizusprechen, so wenn Bertolt Brecht und Hanns Eisler unter Bezug auf das »Lehrstück« Die Maßnahme erklären, dass sie dessen Aufführung »aus allen Abhängigkeiten heraus[nehmen]« wollen, um die »Kunst« den Laien zuzuweisen, die sie um der Kunst selbst willen betreiben:114 Spezifisch handelt es sich hier um eine Autonomie gegenüber finanziellen Abhängigkeiten und antikommunistischer Zensur; die Verbindungsmetapher der ›Abhängigkeit‹ dient hier der negativen Konkretisierung von wirtschaftlich-politischen Machtverhältnissen im Kontext des professionellen Theaters und lässt das Laientheater demgegenüber als frei erscheinen. Ähnlich argumentiert Günter Grass, dass der Schriftsteller in Gegensatz zu Politikern einen »Grad von Autarkie« hat, der es ihm ermöglicht, »verbreiteten Meinungen zur Artikulation« zu verhel113 Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 1, S. 183 (Athenäumsfragment 116). 114 Brecht, B. 1972, S. 236 (Brecht und Hanns Eisler: Offener Brief an die künstlerische Leitung der Neuen Musik).
3. Bindung und Autonomie
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fen.115 Die Konnotationen des Wortes »Autarkie« fokussieren eine spezifisch wirtschaftlich-politische Unabhängigkeit, um die politische Rolle des von Interessengruppen unbeeinflussten Schriftstellers zu legitimieren. Das Argument zielt somit in eine Richtung, die der ästhetisch bestimmten Autonomie des Idealismus und Symbolismus entgegengesetzt ist. Wenn sich die Autonomie gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Poetik als positiver Wert durchsetzt, so ist dies nicht zuletzt als Funktion der sich verändernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rolle des Dichters zu sehen. Im Mittelalter besteht kein Grund, eine Autonomie des Dichters oder der Dichtung anzustreben. Denn in einer theologisch und gesellschaftlich stark hierarchisierten Welt hat der ›unabhängige‹ berufsmäßige Dichter einen extrem niedrigen Status; sofern seine Kunst anerkannt wird, tut sich dies in einer institutionellen Anbindung und einem finanziell gesicherten Verhältnis zum Auftraggeber kund. Erst diese Anbindung erlaubt auch die Tradierung der Dichtung, da die Erstellung von Manuskripten bis ins 13. Jahrhundert nur in den Skriptorien der Klöster und im Dienste adliger Auftraggeber erfolgte. Um als Sänger überleben zu können, muss der Dichter die Erwartungen von Auftraggebern erfüllen; zählen kann er allerdings auf deren Bedürfnis nach Status und zeitüberdauerndem Ruhm. Der gesamte literarische Prozess ist von einer Struktur des ›Dienstes‹ geprägt, und des Dichters ›Freiheit‹ ist in diesem Kontext auch für die Bedichteten ein eher negativer Wert, wie aus dem an die »frowe« addressierten Lied »Saget mir ieman, waz ist minne« von Walther von der Vogelweide hervorgeht: sî aber ich dir gar unmære, daz sprich endelîche, sô lâze ich den strît unde wirde ein ledic man. du solt aber einez wizzen: daz dich rehte lützel ieman baz danne ich geloben kan. (Bin ich dir aber ganz und gar gleichgültig, | dann sage es eindeutig, so gebe ich die Bemühung auf | und werde ein freier Mann. | Doch eines sollst du wissen: daß dich wirklich | niemand besser preisen kann als ich.)116
Artikuliert ist hier eine gegenseitige Abhängigkeit von Dichter und Adressatin, die für den kommunikativen Akt konstitutiv ist: Das ›Preisen‹ ensteht erst aus der Bindung heraus. Der binäre Metaphernkomplex von Freiheit und Bindung ist für den Minnesang zentral, und die Vorstellung vom Dichter als »ledic man« ist metaphorisch zu verstehen, insofern als die Abhängigkeit von der Frau hier nicht in einer legalen Bindung gründet, sondern 115 Grass 2006. 116 Walther 1995c, S. 438 f., Str. 3, V. 3–7. Das Wort ›ledic‹ bedeutet allgemeiner als im heutigen Gebrauch ›frei‹, und ›ledig‹ ist noch bei Grimm primär in der Bedeutung »frei, los, von gefangenschaft, strafe, schuld, verpflichtung« aufgeführt (Grimm 1984, Bd. 12, Sp. 497–504; ledig; Zitat Sp. 497). Die heute primäre Bedeutung ›unverheiratet‹ erscheint dort erst an vierter Stelle (ebd., Sp. 500 f.).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
durch die ›Fesseln der Liebe‹ hergestellt wird.117 Poetologisch gesehen ist es nicht die ›Freiheit‹, sondern die ›Bindung‹, die positiv besetzt ist, denn sie bildet die Motivation für das Gedicht. Wenn Werke dieser Zeit eine hohe Qualität erreichen, so tun sie dies nicht trotz, sondern aufgrund der Interaktion der Interessen; es manifestiert sich in ihnen das gesellschaftliche Spiel mit der daraus erzeugten Spannung. Aus diesem Wechselspiel fruchtbarer Verbindungen und gegenseitiger Abhängigkeiten eine vermeintliche Autonomie als alleinigen positiven Wert herauszulösen, würde den Blick für die Komplexität und literarische Produktivität dieses Prozesses verstellen.118 Produktive Kraft entwickelt die potenzielle ›Freiheit‹ als Gegenpol zur notwendigen und erstrebten Bindung; ihre poetologische Bedeutung wird erst aus dem Bezug zum thematisierten Preisen deutlich. Der Einbezug von Auftraggeber und Rezipient in die Theorie vom Autor und vom Kunstwerk verdeutlicht die Problematik einer Isolierung der Autonomie als Bestimmungsmerkmal des Dichters und des Werkes: Die ›Freiheit‹ des dichterischen Werkes ist in manchen Zeiten ein legitimierendes Argument und produktives Denkmuster, aber auch im Zeitalter des ›freien‹ Schriftstellers keine Tatsache. Die Spannung zwischen Bindung und Freiheit des Dichters ist dann von fundamentaler Bedeutung für sein Selbstverständnis, wenn er das Dichten ohne anderweitige finanzielle Absicherung betreibt und sein gesellschaftlicher Status nicht durch andere Tätigkeiten gesichert ist: Dies ist das Thema am Anfang des 10. Buches von Goethes Dichtung und Wahrheit. Goethe entwirft dort anhand des Kriteriums der Autonomie vier Möglichkeiten des Dichtertums: der Dichter als Mitglied einer »Gilde«; der »subordinierte« Dichter ohne Status und gesichterten Lebensunterhalt, der gezwungen ist, sein »Talent« als »Spaßmacher und Schmarutzer« zu »vergeuden«; der nebenberufliche Dichter von hohem gesellschaftlichen »Ansehen«; und das »Dichtergenie«, das »sich selbst gewahr« ist, »sich seine eignen Verhältnisse« schafft und es versteht, »den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen«.119 Implizites Fazit dieser 117 Vgl. Grimm 1984, Bd. 12, Sp. 497 (ledig); als Beleg für den Topos »[frei] in bezug auf die fesseln der liebe« ist dieses Gedicht von Walther sowie ein weiteres Minnegedicht angeführt. 118 Beispielsweise konstruiert Liebertz-Grün eine Literaturgeschichte, die sich von der »theologisch gebundenen Literatur«, die »ganz im Dienst der Theologie« steht, zur höfischen Dichtung hin entwickelt, in der »Autoren und Publikum unter dem Einfluß der französischen Adelskultur und -literatur die volkssprachige Literatur als autonomes Medium einer undogmatischen Wahrheitssuche entdeckten«; Autoren und Publikum bringt sie durch den Autonomietopos in Gegensatz zueinander, wenn sie feststellt, dass einige Autoren hochrangige »Kunstwerke« zu schaffen vermochten, »obwohl ihre Gebundenheit an die Interessen der Herrenschicht ihre Texte unverkennbar geprägt hat« (Liebertz-Grün 1988, S. 7–9). Beide Feststellungen übertragen ohne Berücksichtigung des poetologischen Kontexts die Prämissen und Metaphern der modernen Autonomieästhetik auf das Mittelalter. 119 Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 433 f. (Dichtung und Wahrheit, 10. Buch).
3. Bindung und Autonomie
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Charakteristik ist die Selbstlegitimation Goethes als Dichtergenie: Im Typus des einzigartigen Genies gelangt das individuelle Dichtertum zur Apotheose. Goethe identifiziert zwar zunächst Klopstock als ›Begründer‹ der Epoche des Dichtergenies, kennzeichnet dann jedoch dessen Person und Werk als überholt; Klopstock wird damit zu einer Johannes-der-TäuferFigur, die dem wahren Genie den Weg bereitet. In Bezug auf den Dichter ist die Etablierung der ›Autonomie‹ somit untrennbar verflochten mit dem Geniekult; die Autonomie stellt sich dar als extreme Ausformung des ingenium-Topos, der mit den aufklärerischen Werten des ›mündigen‹ Individuums angereichert ist. Betrachtet man den Dichter in dieser Zeit im Kontext seines literarischen Umfelds, so wird deutlich, dass sich die Abhängigkeiten zwar gewandelt haben, aber keineswegs überwunden sind. Die Profilierung des Autonomietopos in dieser Zeit steht vielmehr in Zusammenhang mit einem gesteigerten Bewusstsein von einer mangelnden Unterstützung durch staatliche Institutionen, mangelnden Möglichkeiten für deutsche Dichter im Vergleich zu ihren englischen und französischen Kollegen und einer starken Abhängigkeit vom Buchhandel. So begegnet Novalis dem von Seiten des Verlags drohenden Abbruch des Athenaeum-Projekts – maßgeblich waren finanzielle Gründe – mit einem Plan, den er in Fortführung zeitgenössischer Selbstverlagsprojekte sowie des ›Gelehrtenrepublik‹-Topos zu einem »Hauptgeschäft« machen will, wie er Ende 1798 Friedrich Schlegel mitteilt: Mein neuer Plan geht sehr ins Weite – […] Bleib ich bey euch, so soll dieser Plan ein Hauptgeschäft meines Lebens werden – Er betrift Die Errichtung eines litterairischen, republicanischen Ordens – der durchaus mercantilisch politisch ist – einer ächten Cosmopoliten Loge. Eine Buchdruckerey – ein Buchhandel muß das erste Stamen seyn. [….] Gemeinschaftlicher Fleis, gemeinschaftlicher Kopf – gemeinschaftlicher Kredit kann den kleinen Zündfunken bald vergrößern. Ihr sollt nicht mehr von Buchhändlern litterairisch und politisch gewissermaaßen dependiren. […] Man muß in der Welt seyn, was man auf dem Papier ist – Ideenschöpfer.120
Im Bild vom »Stamen« ist die dichterische Aussage der »Blüthenstaub«-Fragmente121 mit dem pragmatisch-materiellen Kontext des Athenaeum verknüpft. Sowohl die materielle Absicherung als auch die »litterairische« Unabhängigkeit sind für die Dichter im ausgehenden 18. Jahrhundert deshalb ein vorrangiges Desiderat, weil eine Autonomie in der Praxis nicht gegeben ist. Aus Novalis’ Plan geht ferner hervor, dass eine Unabhängigkeit vom Buchhandel nur durch neue Arten der Verbindung zu erreichen ist: Der Autor sieht sich hier nicht als frei schaffendes Individuum, sondern als Teil einer Interessengemeinschaft. Die Metaphern vom »Orden« und der »Loge« 120 Novalis 1975 ff., Bd. 4, S. 268 f. (Novalis an Friedrich Schlegel, 10.12.1798). 121 Ebd., Bd. 2, S. 413 (Blüthenstaub, Titel).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
rekurrieren auf etablierte Formen der Gemeinschaft, in denen weltanschauliche, gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Interessen verquickt sind. Erkennbar ist hier die auch in der Alltagsmetaphorik festzustellende Tendenz, neue Konzepte durch Übertragung etablierter Begriffe zu bezeichnen, um sie damit zu strukturieren und verständlich zu machen. Novalis nimmt mit dem Wort »Loge« vermutlich Bezug auf zeitgenössische Freimaurerlogen;122 die projizierte literarische Interessengemeinschaft erhält dadurch eine klare kognitive Struktur und zugleich einen hohen Status. ›Freiheit‹ ist in diesem Kontext ein erst in der Gemeinschaft zu verwirklichender Wert. Das hier von Novalis entworfende Projekt erstrebt anders als die idealistische Ästhetik nicht die Abschottung der Dichtung von materiellen Einflüssen, sondern sucht vielmehr die »Ideen« vom »Papier« in die »Welt« zu tragen, um sie dort zugleich »litterairisch« und »mercantilisch politisch« wirksam werden zu lassen. Im freien Markt sind für den Erfolg des Werkes – angefangen bei seiner Publikation – die vermittelnden Instanzen sowie auch das Publikum maßgebliche Faktoren. Seit dem Mittelalter hat sich sowohl die Literatur als auch ihr Umfeld kontinuierlich gewandelt, aber es ist keineswegs ausgemacht, dass dieser Wandel zur ›Autonomie‹ der Literatur hingeführt hat. In der Gegenwart ist davon auszugehen, dass sich die Konstellation zwischen künstlerischem Anspruch, zeitlichem Schaffensspielraum, finanziellen Bedürfnissen, Publikationsmöglichkeiten und institutionellen Bindungen für jeden Autor anders darstellt und dass die daraus entstehenden Spannungen unterschiedlich gehandhabt werden. Wenn Enzensberger einerseits solche Dichter bemitleidet, die »wirklich nichts anderes im Leben zu tun wissen, als Gedichte zu schreiben«, andererseits jedoch die Poesie als »Kern« seines Schaffens begreift, den er dadurch vor der Kommerzialisierung schützt, dass er sein Dichten von einem Brotberuf abgrenzt, so ist dies eine von vielen möglichen Strategien, dem Werk im freien Markt eine Sonderstellung zu geben: Es gelingt dem Dichter damit, seine Lyrik schaffenspsychologisch und wirkungsstrategisch abzugrenzen von dem Werk solcher Pseudo-Kunst-Produzenten, die »im Kaufhaus […] meterweise malen«.123 Die organische Behältermetapher des »Kerns« tradiert ein romantisches Dichtungsverständnis, und zugleich rekurriert Enzensberger auf das theologisch fundierte Misstrauen gegenüber dem Einsatz der Gottesgabe der Dichtung zum Zwecke des materiellen Gewinns.124 Der Autonomietopos bezieht seine philosophische Schlagkraft aus der Konkurrenz zur rhetorischen Integration der Diskurse, und hieraus erklärt 122 Fünf Tage nach dem Datum des Briefes, am 15.12.1798, erhielt in Freiberg, wo sich Novalis aufhielt, eine neue Freimaurerloge das königliche Patent; vgl. Schneider 2003, S. 66. 123 Enzensberger 1999b, Buch, S. 4. Zu Enzensbergers Ausführungen s. o., S. 355 und 362 f. 124 S.o., S. 360.
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sich auch seine apologetische Bedeutung. In der frühneuzeitlichen Legitimation der Dichtung spielt er ebenfalls eine wichtige Rolle – aber unter umgekehrten Vorzeichen, wie aus dem dritten Kapitel von Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey hervorgeht. Das Kapitel handelt »Von etlichen sachen die den Poeten vorgeworffen werden; vnd derselben entschuldigung« und erklärt die »vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute« zum »vornemsten zweck« der Dichtkunst.125 Opitz verteidigt hier den Dichter gegenüber den Beschuldigungen, er verbreite »lügen« und müsse »ein böser mensch sein«, vor allem aber wendet er sich gegen die Kritiker, die meinen, dass sich der Dichter »in dieser angenemen thorheit vnd ruhigen wollust so verteuffe / das er die andern künste vnd wissenschafften / von welchen man rechten nutz vnd ehren schöpffen kan / gemeiniglich hindan setze«.126 Das kontemplative, auf das Subjekt zentrierte ›Vertiefen‹ in eine eigene dichterische Welt, das seit der Romantik den wahren Dichter auszeichnet,127 ist bei Opitz negativ besetzt; er sucht die Dichtung vielmehr gerade durch die Öffnung zu anderen Diskursen hin aufzuwerten: »So ist auch ferner nichts närrischer / als wann sie meinen / die Poeterey bestehe bloß in jhr selber; die doch alle andere künste vnd wissenschafften in sich helt.«128 Ciceros Legitimierung der Rhetorik aufgrund ihrer unbegrenzten Verbindung mit allen Wissenschaften129 ist hier auf die Dichtung übertragen. Entsprechend bringt Opitz die Dichtung in Gegensatz zur Philosophie – im Sinne einer pseudophilosophischen Schwätzerei –, wenn er sich gegen jene wendet, die das Wort »Poet« als Beleidigung verwenden, und sich dabei auf Erasmus von Rotterdam beruft; dieser habe auf diese negative Verwendung des Wortes entgegnet: »Er schätze sich dessen lobes viel zue vnwürdig; denn auch nur ein mittelmässiger Poete höher zue halten sey als zehen Philosophastri.«130 In dieser rhetorisch bestimmten Argumentationsführung ist der »gemeine nutze« der vertikale Maßstab, an dem die Disziplinen gemessen werden;131 das Hauptkriterium für den Nutzen ist aus der Perspektive der Rhetorik die Integration mit den anderen Wissenschaften. Allerdings hatte kein anderer als Quintilian erklärt, der vielleicht größte Gewinn erwachse dem Rhetoriker aus seiner Kunst, wenn er sie abgelöst von ihrem Nutzen kontemplativ verfolge132 – deutlich wird hier die Komplementarität von Integration und Autonomie in der Bestimmung der Diskurse. 125 Opitz 1966, S. 9–14 (Kap. 3), Zitate S. 9 und 12. 126 Ebd., S. 9 (Kap. 3). 127 Die Bedeutung von Metaphern der Abwärtsbewegung für die Poesie und Poetik der romantischen Tradition verdeutlicht Peucker 1987. 128 Opitz 1966, S. 10 (Kap. 3). 129 Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 21–23). 130 Opitz 1966, S. 9 (Kap. 3). 131 Ebd., S. 10. 132 Quintilian 1995, Bd. 1, S. 264 f. (II, 18, 4).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Die Debatte um die Beziehung der Dichtung zu den anderen Künsten und/oder Wissenschaften erzeugte in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerlei Vorschläge.133 Dass hier eine Kontinuität der Diskussion vorausgesetzt wird, zeigt beispielsweise der programmatische Titel von Karl Philipp Moritz’ Schrift Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten von 1785.134 Denn aufgegriffen wird hier der Ansatz von Batteux,135 aber er wird entscheidend abgewandelt: Moritz führt – in Auseinandersetzung auch mit Alexander Gottlieb Baumgarten und Moses Mendelssohn – unter seinem »Begriff« die schönen Künste und Wissenschaften zusammen, statt nur die Künste zu vereinigen und damit von den Wissenschaften zu trennen. Exakt an die Stelle des batteuxschen »einzigen Grundsatzes der Nachahmung«136 setzt er seinen »Begriff des in sich selbst Vollendeten«, um damit die aristotelische Poetik durch seine neue Poetik zu ersetzen. Diese Situierung seines Begriffs lässt sich jedoch nur aus dem Kontext der poetologischen Tradition heraus verstehen. Auch Friedrich Schlegel greift den Topos von der Verbindung mit anderen Wissenschaften auf, wenn er die »romantische Poesie« zur »Universalpoesie« erklärt und unbegrenzt zu anderen Diskursen in Bezug setzt;137 hier jedoch erhält die Sprache eine einigende Funktion. Schlegel benutzt nicht die räumliche Behältermetaphorik, derzufolge bei Opitz die »Poeterey […] alle andere künste vnd wissenschafften in sich helt« und bei Moritz das »in sich selbst Vollendete« zum Prinzip wird, sondern betont vielmehr die Entgrenzung sowie die Prozessualität. Die bei Opitz als statisch und fertig vorgestellte Vereinigung wird damit zur zeitlich vektoriellen Bestimmung einer »ewig« im »Werden« begriffenen Poesie.138 Die Sprache lässt sich auf diese Weise philosophisch dynamisieren und mittels Verbindungsmetaphorik zum universalen Prinzip machen; der moralische Nutzen dagegen ist eliminiert. Zugleich setzt Schlegel eine Behältermetapher ein, um der Poesie eine vielfältige Ausdehnung zu ermöglichen: »Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein.«139 Verfolgen lässt sich an dieser komplexen Abwandlung eines traditionellen Arguments die nuancierte Umwertung, mit der das Neue gegenüber dem Alten durchgesetzt wird. Die Bedeutung von Schlegels 116. Athenäumsfragment besteht nicht in der Unabhängigkeit von vorhergehenden
133 134 135 136 137 138 139
S.o., Kap. I/6. Moritz 1997. Vgl. Batteux 1746. Vgl. die Übersetzung von Gottsched (1754, Titel). Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 1, S. 182 (Athenäumsfragment 116). Ebd., S. 183. Ebd.
4. Vorbilder, Dialoge und intertextuelle Bezüge
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Bestimmungen der Poesie, sondern in der provokanten Umwertung tradierter Argumente. Heine dagegen befürwortet dezidiert die »Autonomie« der Kunst, um sie vor einer Vereinnahmung durch andere Disziplinen zu schützen und in sich selbst abzurunden, so in einer Verteidigung von Victor Hugo gegen die Saint-Simonisten: »Ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion, noch der Politik soll sie als Magd dienen, sie ist sich selber letzter Zweck, wie die Welt selbst.«140 Die Disziplinen werden hier mittels einer aus gesellschaftlichen Hierarchien entlehnten Metapher zueinander in Beziehung gebracht, um der Vorstellung von der Autonomie der Dichtung ein klares Profil zu verleihen. Der Autonomiebegriff gibt der Dichtung in einer säkularen und post-feudalen Welt einen absoluten Eigenwert und ermöglicht ihr die Abgrenzung gegenüber ›äußeren‹ Ansprüchen und Maßstäben. Deutlich ist die apologetische Funktion des Begriffs: Er dient nicht nur zur Abschottung gegenüber ›äußeren‹ Ansprüchen und Maßstäben, sondern soll die Dichtung jeglicher Notwendigkeit einer Legitimation entheben. Dass Heine die Autonomie jedoch nur als eine Möglichkeit der Dichtung verstand, zeigt die Bedeutung der politisch eingreifenden Satire in seinem Werk. Die Herauslösung der ›Autonomie‹ aus ihrem kommunikativen Umfeld und aus ihrer produktiven Wechselbeziehung zu Bindung und Integration erreicht eine philosophische Stabilisierung des Dichtungsbegriffs – aber der Preis ist die Isolation der Dichtung. Diese steht nicht im Interesse der Dichter. Wenn Ernst Jandl »das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie« situiert und erklärt, produktiv sei die »absolute Autonomie« als eine jener »Vorstellungen von etwas, das man sich nur als Vorstellung vorstellen kann«,141 so wird sie zu einer (Un-)Möglichkeit der Dichtung, die zur Alltagskommunikation in Gegensatz steht, ohne doch je die Loslösung von ihr zu erreichen. Geschaffen wird damit ein Spannungsfeld, in dem die Dichtung nicht zur Ruhe kommen kann, sondern in immer wieder neuen Konstellationen den Kontakt zu anderen Diskursen sucht.
4. Vorbilder, Dialoge und intertextuelle Bezüge Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Literatur sowie auch die Vielfalt intertextueller Bezüge wurden lange Zeit aus der Poetik ausgeblendet, um die Dichtung ins Zeichen der (diachronischen) Originalität und (synchronischen) Autonomie zu stellen. Beide Topoi haben das Ziel, das künstlerische Individuum und das Kunstwerk aus dem jeweiligen Kontext heraus140 Heine 1973–1997, Bd. 12/1, S. 259 (Ueber die französische Bühne, 6. Brief). 141 Jandl 1999, S. 145 (Mitteilungen aus der literarischen Praxis, 2: Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
zulösen. Während damit einerseits ein poetologischer ›Freiraum‹ geschaffen wird, kann sich die Abgrenzung auch negativ auswirken, denn die Auseinandersetzung mit Vorbildern und Konkurrenten wird nun suspekt und intertextuelle Bezüge können dem Werk das Anrüchige des Epigonenhaften oder gar die Rechtswidrigkeit des Plagiats einhandeln. Walter Jens erklärte bereits 1961, die Epoche der »Originalität« sei vorbei. Kontext waren Plagiatsanschuldigungen gegen Paul Celan:142 In unserer, von den Gesetzen der Pluralität und Kontemporaneität bestimmten Epoche beginnt die Dichtung nun einmal nicht »von vorn«: Austausch, Lernen und Lehren, Geben und Nehmen allüberall, nirgendwo Schein-Privilegien einer sogenannten »Originalität«!143
Claire Goll hatte nach dem Tod ihres Mannes den vordem befreundeten Paul Celan bezichtigt, in Mohn und Gedächtnis (1952) Anleihen von Yvan Golls Traumkraut (1951) gemacht zu haben. Im Zentrum der Rufmord-Affäre, die Celan bis zu seinem Tod verfolgte, stand das seit dem 18. Jahrhundert für den Status eines Dichters maßgebende Kriterium der Originalität, das in der Zwischenzeit im Begriff vom ›geistigen Eigentum‹ gesetzliche Kraft erlangt hatte.144 In besonders spannungsvoller und rechtlich verschärfter Form wird hier eine Debatte fortgeführt, die schon bei Erscheinen des grundlegenden Werks zu diesem Thema aktuell war, Edward Youngs Conjectures on Original Composition in a Letter to the Author of Sir Charles Grandison von 1759.145 Während Young die Originalität seines Themas beanspruchte, wurde sein Werk von Samuel Johnson als Kompendium etablierter Topoi gewertet – ein Befund, den Gerhard Sauder unter Bezug auf die in der Querelle des anciens et des modernes verhandelten Topoi bestätigt und ausreizt: »Das Reklamieren von ›Originalität‹ für die Wahl des Themas ›Original-Composition‹ dürfte selbst als Topos zu beurteilen sein.«146 Indem Jens einen Anspruch auf Originalität für seine bereits im Jahre 1961 postmoderne »Epoche« ablehnt, signalisiert er die Überwindung einer Zeit, in der die Originalität für den wahren Dichter vorausgesetzt wurde; zugleich unterminiert er diese Epochenkonstruktion durch die grundsätzliche Infragestellung dichterischer Originalität. Versteht man Originalität als Teil eines topischen Komplexes, so liefert seine Aussage eine Zusammenfassung der Beziehungen, durch die jedes dichterische Werk in seinen literarischen Kontext eingebettet ist. Schon indem der Dichter in seinem Werk das Medium der Sprache benutzt, tradiert er Denk- und Sprachmuster, die zur Dichtung der jeweiligen Kultur in Verbindung stehen. Andererseits aber ist 142 Zur Debatte um die Plagiatsanschuldigungen vgl. Wiedemann, B. 2000. 143 Jens 2000, S. 268. 144 Vgl. Woodmansee 1984. Zur Diskussion um Originalität und Plagiat im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Large 2004. 145 Young 1759. 146 Sauder 1977, S. [15].
4. Vorbilder, Dialoge und intertextuelle Bezüge
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die Sprachfähigkeit als anthropologische Konstante so angelegt, dass sie dem Individuum die Möglichkeit gibt, innovative sprachliche Formen zu schaffen.147 Im Topos der Originalität konzentriert sich somit der Anspruch des betont Subjekt-orientierten Individuums auf Einmaligkeit, ein Anspruch, der seinen Sinn jedoch erst aus seiner Teilhabe am menschlichen Geschlecht und an einer spezifischen Gruppe mit ihren Konventionen zu sehen ist. Welchen Stellenwert die dichterische Innovation hat, hängt von ihrer Profilierung durch den Dichter, vom poetologischen Umfeld sowie auch von der literarischen Erfahrung und den poetologischen Interessen des Rezipienten ab, wobei die jeweilige Innovativität zwangsläufig erst gegenüber der Konvention bestimmt werden kann. Im Falle der Goll-Affäre wurden Befunde des Plagiats von den finanziellen Interessen der Witwe, den antisemitischen Interessen einiger Diskussionsteilnehmer und nicht zuletzt der Sensationslust eines Literaturbetriebs gestützt, dem der Sturz eines großen Autors willkommenes Gesprächsmaterial bot. Die Verteidigung Celans konnte sich dagegen auf eine Tradition der Dichtung berufen, deren Originalität schon immer auch die Möglichkeit verschiedenster intertextueller Bezüge zu Werken toter und lebendiger Autoren umfasst hatte – bis hin zum Zitat ohne Anführungszeichen und Quellenangabe. Literarische Tradition konstituiert sich über das komplexe Zusammenspiel menschlicher und textueller Teilnehmer am literarischen Diskurs: Auftraggeber, einzelne Dichter, Dichtergruppen sowie auch die Rezipienten leisten ihren Beitrag, aber auch die Texte mit ihren Überlieferungsgeschichten. Das Lernen vom ›Meister‹, die spannungsvolle Auseinandersetzung mit dem großen ›Vorgänger‹, der Kampf mit dem ›Konkurrenten‹ kann so bedeutsam sein wie der Text als Teil des maßgebenden Kanons, die Gattung als zu erfüllende Norm oder das etablierte Werk als zu überbietende Leistung beziehungsweise Anregung zur Abwandlung. Die Bedeutung solcher Topoi für die dichterische Identitätsstiftung zeigt Der Wartburgkrieg,148 zumal das über zwei Jahrhunderte gebildete Textkonglomerat offenbar geradezu aus diesem Identitätsbedürfnis heraus konstituiert und tradiert wurde. Das in der Nachfolge Wolframs von Eschenbach stehende Werk galt lange Zeit als Darstellung eines historischen Sängerwettstreits um 1206/1207 auf der Wartburg. Die Sangspruchdichter 147 Vgl. die folgenden zwei grundlegenden und komplementären Aussagen von Chomsky: »Language appears to be a true species property, unique to the human species in its essentials and a common part of our shared biological endowment, with little variation among humans apart from rather serious pathology« (Chomsky 1988, S. 2); »in normal speech one does not merely repeat what one has heard but produces new linguistic forms – often new in one’s experience or even in the history of the language – and there are no limits to such innovation« (ebd., S. 5). 148 Wartburgkrieg 1858. S.a. Wartburgkrieg 1939. Vgl. Boor/Janota 1997, S. 358–362, und Wachinger 1999.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
schufen sich hiermit »eine Art Ursprungsmythus«, wobei sich in Umformungen und Weiterdichtungen »im Laufe der Zeit thematisch verwandte Strophengruppen an den ursprünglichen Kern angelagert haben«;149 auch zum Lohengrin stellt eine Fassung eine Verbindung her, um Wolfram als dessen Verfasser darzustellen.150 Im ersten Text, Fürstenlob (um 1260/1270), treten die ›meister‹ Wolfram, Walther von der Vogelweide und drei andere Dichter mit dem Ziel an, den thüringischen Landgrafen um die Wette zu loben; als Herausforderer kommt jedoch der – möglicherweise als »Maske« für den Fürstenlob-Dichter dienende151 – Heinrich von Ofterdingen hinzu, der demgegenüber den Ruhm des österreichischen Fürsten geltend macht. Heinrich verpfändet sein Leben, und so wird das Wettsingen ein Kampf um Leben und Tod, in dem Heinrich unterliegt. Eingeschaltet wird als sein Beistand Klingsor aus Wolframs Parzival, der im zweiten Text, Rätselspiel (um 1239), mit Rätseln als seiner kaufmännischen Ware Wolfram auf die Probe stellt. Indem der Zauberer Klingsor den Teufel involviert, wird die Handlung zum Wissensstreit, in dem der fromme Laie Wolfram den gelehrten Klingsor besiegt. Der facettenreiche Text wurde inhaltlich und formal bedeutsam für das Selbstverständnis der Meistersinger als Gruppe, wobei besonders mit der Reformation auch der Ort der Wartburg identitätsfestigend wirkte.152 Für die Romantiker – Novalis in Heinrich von Ofterdingen, Hoffmann in Der Kampf der Sänger153 – bot der Außenseiter Heinrich das Vorbild des individuellen, gefährdeten Künstlers und der Stoff die Möglichkeit der Darstellung alternativer Poetiken. Wagner diente er als Beitrag zur nationalen Identitätsstiftung.154 Noch in der Weimarer Republik konstituierte sich aus dieser Tradition der deutschvölkische ›Wartburgbund‹, dem die zwölf besten Dichter Deutschlands angehören sollten.155 Verknüpft sind in diesem Wartburg-Komplex die Konstitution des Textes und die Rezeption, Traditionsbildung und Gruppenstiftung, individuelle Identitätsfindung und die Herausbildung eines repräsentativen Dichtertypus; als mythisches Zentrum fungiert der Ort Wartburg. Der Text tradiert ein persönliches Charisma, dessen biographische Verkörperung im Dunkeln liegt; ausschlaggebend ist 149 150 151 152 153
Boor/Janota 1997, S. 358 und 360. Ebd., S. 360. Ebd., S. 359. Zum Ort Wartburg vgl. François 2002. Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 193–334 (Heinrich von Ofterdingen); Hoffmann 1985 ff., Bd. 4, S. 332–382 (Die Serapionsbrüder, 2. Bd., 3. Abschnitt, Der Kampf der Sänger). In Gegensatz zu Novalis stellt Hoffmann den Wettstreit in den Vordergrund. Auch bettet er die Geschichte explizit in die textuelle Überlieferung ein, mit Verweisen auf Wagenseils »Buch von der Meister-Singer Holdseligen Kunst« (vgl. Wagenseil 1975) und Novalis’ »Heinrich von Ofterdingen« (ebd., S. 332, 382 u.ö.). 154 Vgl. Frenzel 1998, S. 312–315; Wachinger 1999, Sp. 764 f. 155 Hermand 1998, S. 231–234.
4. Vorbilder, Dialoge und intertextuelle Bezüge
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die durch Wolframs Werk und das Wartburgkrieg-Konglomerat ermöglichte Bedeutung des Vorbilds für die jeweils gegenwärtige Generation. Indem der Text verschiedene Dichtertypen zur Verfügung stellt, erlaubt er die unterschiedlichsten Aktualisierungen und ermöglicht auf diese Weise auch die Profilierung des Individuums. All diese Aspekte konzentrieren sich in der Metapher des »Kriegs«, der durch den Titel ins Zentrum des dargestellten dichterischen Prozesses gestellt wird. Das Werk stellt diesen Prozess in fiktionaler Form dar und spornt zugleich zur wirklichen Konkurrenz an. Textuelle Bezüge und menschliche Bezüge sind in der Poetik zumeist verflochten. Wenn Verbindungen über den schriftlichen Text mit der Genie- und Autonomieästhetik tendenziell ausgeblendet werden, so hängt dies mit der Abgrenzung der Dichter gegenüber den auf die Schrift ausgerichteten Gelehrten zusammen. Verbindungen zu etablierten Autoren werden nun bevorzugt über die Person und deren Geist hergestellt, wobei eine extreme Selektivität einen besonders hohen Anspruch signalisiert, wie aus Herders Reaktion auf Youngs Schrift hervorgeht: Es herrsche dort »der Youngische Geist […], der aus seinem Herzen gleichsam ins Herz; aus dem Genie in das Genie spricht; der wie der Elektrische Funke sich mitteilt«.156 Dem humanistischen Modell sprachlicher Verbindungen wird hier ein christliches Modell der sprachunabhängigen Vermittlung des Geistes gegenübergestellt. In Anlehnung an das Pfingstgeschehen lässt sich ein spontan durch den göttlichen Geist inspiriertes Sprechen konzipieren, das unabhängig von sprachgebundener Gelehrsamkeit mit den Zuhörern kommuniziert. In den Vordergrund tritt das grosse Vorbild, das allein denjenigen Dichter legitimiert, der sich durch Kongenialität ausweisen kann. Entsprechend orientiert sich George an Goethe und Nietzsche und etabliert durch die in den Blättern für die Kunst vermittelte Kunsttheorie eine weitestmögliche Exklusivität der großen, heiligen Dichter, die den geistigen Umgang mit großen Vorbildern pflegen. Religiöse Metaphorik und der Barbarentopos dienen der Abgrenzung von den »›Epigonen‹« der vorangegangenen Epoche, deren Identität sich in Nachahmung und Philistertum erschöpft: Mit ernst und heiligkeit der kunst nahen: das war dem ganzen uns vorausgehenden dichtergeschlecht unbekannt. keiner der ›Epigonen‹ – so wenig der hochgeborene Schack wie der bescheidene bürgerliche reimer – ist frei von der abstossenden behäbigen bravheit und diesem rest von barbarentum den von Goethe bis Nietzsche alle grossen Deutschen getadelt haben.157 156 Herder 1985–2000, Bd. 1, S. 275 (Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. II. Einleitung in die Fragmente: über die Mittel zur Erweckung der Genies in Deutschland). Vgl. auch die religiöse Bedeutung der Metapher vom ›Funken‹ in Herders »Erläuterungen zum neuen Testament« unter Bezug auf Joh. 1, 1: »der Funke der Gottheit, das innere Ich« (Herder 1877–1913, Bd. 7, S. 355). Zum Funkentopos s. o., S. 277. 157 George/Klein 1967, (Bd. 2), 3. Folge, 2. Band, März 1896, S. 33.
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Die räumliche Metapher des ›Nahens‹ macht den großen Dichter zum Priester, der seine Aufgabe gegenüber dem Heiligtum der Kunst erkennt. In den Blättern für die Kunst wird George zum Urvater eines eigenen »Geschlechts« stilisiert, der als »grosser Deutscher« das Erbe illustrer Vorgänger weiterführt. Eine verwandte Form der Legitimation ist die Gründung der eigenen Bedeutung in einer ›neuen‹ Zeit, die von der Zeit der Vorgänger getrennt ist. So begegnet Heine der Gefahr einer Einordung als Nachahmer dadurch, dass er sich als Verkörperung einer dichterischen Zeitenwende in die deutsche Literaturgeschichte einschreibt: Trotz meiner exterminatorischen Feldzüge gegen die Romantik, blieb ich doch selbst immer ein Romantiker, und ich war es in einem höheren Grade, als ich selbst ahnte. […] ich bin ihr [der Romantik] letzter Dichter: mit mir ist die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward. Diese Doppelbedeutung wird mir von den deutschen Literarhistorikern zugeschrieben. Es ziemt mir nicht, mich hierüber weitläuftig auszulassen, aber ich darf mit gutem Fuge sagen, daß ich in der Geschichte der deutschen Romantik eine große Erwähnung verdiene.158
Heine spielt hier verschiedene Möglichkeiten des Bezugs zur Romantik durch: Die Feldzugsmetapher projiziert ihn als unabhängigen Gegner der Romantiker, die potenzierte Identifikation als Exponenten der Romantik und die Metapher von den »Schulen« als ihren Vollender. Er sichert sich auf diese Weise einen herausragenden Platz in der Geschichte der romantischen Epoche und stellt sich zugleich als Begründer an den Anfang der ›jetzigen‹ Zeit. Goethe ist in der für immer ›abgeschlossenen‹ alten Zeit ad acta gelegt und scheidet aus der Konkurrenz aus. Nicht er steht am Anfang der »modernen deutschen Lyrik«, sondern Heine. Die Spannung, die vom Drang zur dichterischen Profilierung in Bezug auf und zugleich in Gegensatz zu einem großen Vorbild ausgeht, ist als bedeutende poetologische Triebkraft zu werten.159 Dies lässt sich an Goethes 1796 entstandener Elegie Herrmann und Dorothea verfolgen, die ursprünglich als Einleitung zum Epos desselben Namens konzipiert wurde.160 Die Wahl der Gattung des Epos ruft zwangsläufig den mächtigsten Dichter der antiken Dichtungstradition auf den Plan: Homer. Andersherum gesehen, tritt der Dichter mit der Wahl des Epos in Konkurrenz zu dem Dichter, der die Gattung schuf. Entsprechend setzt sich dieses Prolog158 Heine 1973–1997, Bd. 15, S. 13 (Geständnisse). 159 Zur Bedeutung der Auseinandersetzung mit großen Vorbildern bei ›starken‹ Dichtern vgl. die an Freud anknüpfenden Arbeiten von Harold Bloom, bes. Bloom 1997, Bloom 1982a und Bloom 1982b. S.o., S. 275–277. Für die deutsche Literaturgeschichte hat Lee diesen Ansatz unter Bezug auf Goethe und Klopstock fruchtbar gemacht (Lee, M. 1999). 160 Vgl. jedoch zur Komplexität der Bestimmungen dieser Elegie Ockenden 2004, bes. S. 197–204.
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Gedicht mit der Rolle des Vorläufers auseinander – um ihn unter Berufung auf die zeitgenössische Philologie zur Schimäre zu erklären. Zitiert sei hier der mittlere Teil des Gedichts, das den Dichter im häuslichen Kreise zeigt: Schüret die Gattin das Feuer, auf reinlichem Herde zu kochen; Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig dazu. Laß im Becher nicht fehlen den Wein! Gesprächige Freunde, Gleichgesinnte, herein! Kränze! sie warten auf euch. Erst die Gesundheit des Mannes, der, endlich vom Namen Homeros Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn. Denn wer wagte mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen? Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön. Darum höret das neuste Gedicht! Noch einmal getrunken! Euch besteche der Wein, Freundschaft und Liebe das Ohr. Deutschen selber führ’ ich euch zu, in die stillere Wohnung, Wo sich nach der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht.161
Die Form der Elegie verbindet das Gedicht mit der Antike, zentrales Argument ist jedoch die Relativierung und Vermenschlichung der Tradition: Friedrich August Wolf hatte in seinen 1795 veröffentlichten Prolegomena ad Homerum einflussreich die Meinung vertreten, dass die homerischen Epen mehrere Verfasser hätten.162 Goethe projiziert sich als poeta doctus, der seine Klassiker kennt und auf dem höchsten Stand der wissenschaftlichen Philologie ist, vor allem aber als aktuell schaffender Dichter – er arbeitet gerade am »neusten Gedicht«. Das Motiv der ›Befreiung‹ markiert die Verabschiedung einer von Autorität und übermenschlichem Heldentum geprägten Traditionsvorstellung: Die neue, dem bürgerlichen Epos angemessene Tradition ist jene der »volleren Bahn«, in der viele ebenbürtige »Homeriden« »Kränze« gewinnen können – aber es sind nicht mehr die Lorbeerkränze des öffentlichen Ruhms, sondern »häusliche« Kränze aus »Rosen«.163 Die Befreiung vom Druck der Tradition entspricht der im Anfangsteil der Elegie ausgesprochenen Zurückweisung der für die lebendige Antike unempfänglichen öffentlichen Meinung und moralisch engstirnigen Konvention; alleinige Instanz ist dem Dichter die als »Göttin« angesprochene Muse: »Du, Muse, befiehlst mir allein.«164 Es ist dies der ›Geist‹, der schon das homerische Epos inspirierte; der jüngere, den »Homeriden« ebenbürtige Dichter ist nicht auf Nachahmung angewiesen. Einer antik geprägten Welt der Konkurrenz mit den »Göttern« wird hier eine heimisch-deutsche Welt entgegengesetzt, die sich »nach der Natur« bildet. 161 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 622 f.; Herrmann und Dorothea, V. 23–34. S.a. Kommentar und Anmerkungen des Herausgebers, ebd., S. 1197–1202. 162 Vgl. die Anmerkung ebd., S. 1202, und Goethes Brief an Friedrich August Wolf vom 26.12.1796 (Goethe 1887–1919, Abt. 4, Bd. 11, S. 296 f.). 163 Goethe 1985 ff., Bd. 1, S. 622 (V. 21). 164 Ebd. (V. 15 und 12).
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Ein entsprechender Konkurrenzkampf mit dem etablierten Vorbild ist in Heines Beziehung zu Goethe zu verfolgen, insbesondere im Kommentar zu einem Projekt, mit dem er sich mit ihm auf dessen eigenstem Feld messen wollte: Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem.165 Heines an den Leiter der Londoner Opern-Bühne Her Majesty’s Theatre adressierte Erläuterungen166 stellen die Herausforderungen dar sowie die Sorgen des Scheiterns, aber auch die Zuversicht, dass Heine selbst ein überlegenes Werk geschaffen habe. Wenn er konstatiert, Faust sei Goethes »größtes Meisterwerk«,167 so verschärft er damit die Waghalsigkeit seines Unternehmens, und ein weiteres Risiko entsteht ihm durch die Verschiedenheit der Gattungen: Wäre es […] schon gefährlich genug bey gleichen Mitteln der Darstellung mit einem solchen Dichter zu wetteifern, wie viel halsbrechender müßte das Unternehmen seyn, wenn man mit ungleichen Waffen in die Schranken treten wollte! In der That, Wolfgang Goethe hatte, um seine Gedanken auszusprechen, das ganze Arsenal der redenden Künste zu seiner Verfügung […]. Wie kümmerlich dagegen sind die Mittel, womit ich Aermster ausgerüstet bin, um das, was ich denke und fühle, zur äußern Erscheinung zu bringen! Ich wirke nur durch ein magres Libretto.168
Die ›Gefährlichkeit‹ des dichterischen Wettstreits dient als captatio benevolentiae und wird um Metaphern erweitert, welche die ungleichen dichterischen und persönlichen Bedingungen beider Dichter vermitteln: Während Goethe von der »Jugendfrische des Stoffes« und der langen Schaffenszeit seines »blühenden Götterlebens« profitierte, ist Heine der »bekümmerte Kranke«, der unter dem Zwang des vierwöchigen Termins steht.169 Goethe hat hier das Attribut der Göttlichkeit angenommen, das vordem Homer charakterisierte. Wie der Dichter in Goethes Elegie vermag der Jüngere nur zu konkurrieren, indem er sich als Mensch projiziert, nun jedoch als romantischer Dichtertypus. Moralische Überlegenheit beansprucht Heine aufgrund der binären Opposition von philosophischer Wahrheit und rhetorischem Prunk, wobei eine für die romantische Tradition typische Innerlichkeitsmetaphorik dem eigenen Projekt den größeren Wert verleiht: In Gegensatz zu Goethe, der mit seiner Sprachmächtigkeit beeindruckt, aber die »wirkliche Sage, die Ehrfurcht vor ihrem wahrhaftigen Geiste, die Pietät für ihre innere Seele« vernachlässigte, will Heine die Sage so, wie sie »im deutschen Volksbewußtseyn lebte«, auf die Bühne bringen.170 Heines Erläuterungen haben daher das Ziel, das Libretto um poetologisch wirksame Ausführungen zu frühen Bear165 Heine 1973–1997, Bd. 9, S. 83–97 (Der Doktor Faust). Das Ballett kam jedoch nicht zur Aufführung (vgl. Kommentar d. Hg., ebd., S. 693–698). 166 Ebd., S. 99–121 (Der Doktor Faust. Erläuterungen. To Lumley, Esqre, Director of the Theatre of Her Majesty the Queen). 167 Ebd., S. 101. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 102.
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beitungen des Fauststoffs zu ergänzen: Sie sollen die Wahrheitstreue des eigenen Werkes und damit zugleich dessen Überlegenheit gegenüber dem vordergründig siegreichen Werk des großen Vorgängers erweisen. Heine diskreditiert Goethe als »Skeptiker des achtzehnten Jahrhunderts«, der die wahre Sage »weder empfinden noch begreifen konnte« und der mit dem »lendenlahmen zweiten Theil« seines Faust scheiterte.171 Mit der Metapher von der dichterischen Impotenz des Vorgängers entledigt sich Heine der mächtigen Vaterfigur, um die eigene Schöpfungskraft umso freier entfalten zu können. Die Faust-Tradition verdeutlicht die Komplexität der Rezeption kanonischer Werke, wobei gerade strategische Veränderungen poetologisch besonders aussagekräftig sind.172 Dies lässt sich auch in weiblichen Varianten des Faust-Stoffs verfolgen.173 So spielt Ida Gräfin Hahn-Hahn in ihrem Roman Gräfin Faustine die moralische Problematik des faustischen Strebens in femininer Besetzung durch und verwandelt sie in ein gesellschaftliches Experiment: »Wie benimmt sich eine prächtig begabte reich organisirte Natur, die nichts sucht, will und verlangt als ihre eigene Befriedigung ohne Rücksicht auf Andre«174 – wobei am Ende das Gewissen siegt. Man mag die schon im Titel mit dem gesellschaftsbezogenen Zusatz »Gräfin« vollzogene Ausschaltung der metaphysischen Sphäre sowie auch die Integration der Heldin in die bestehenden moralischen Normen als Trivialisierung des Stoffes sehen, zumal über einige Charakterzüge der Protagonisten hinaus kaum eine Ähnlichkeit zwischen Goethes und Hahn-Hahns Werk besteht. Dennoch ist der Prozess charakteristisch für die auch bei Goethe und Heine zu verfolgende Übertragung alter Stoffe in neue Kontexte. In Hahn-Hahns Roman signalisiert der Titel eine zweifache Übertragung: Die dem Namen hinzugefügte Endung bewirkt eine Transposition des Geschlechts, und der Adelstitel erzielt eine Transposition der gesellschaftlichen Stellung und damit des Handlungskontexts. Wenn auch Faustine in Vielem den moralischen Erwartungen der Zeit entgegenhandelt, so steht der Roman doch grundsätzlich in Einklang mit der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts typischen geschlechtsspezifischen ›Arbeitsteilung‹ im Bereich der Literatur:175 Hahn-Hahn wählt die für den häuslichen Bereich geeignete erzählende Prosa, domestiziert den Stoff und richtet ihn so ein, dass er besonders die zu erziehenden jungen Frauen anspricht. Es ergibt sich dadurch eine Beziehung zwischen Goethe und Hahn-Hahn, die 171 Ebd. 172 Vgl. zur Rezeption des Fauststoffs in der Literatur und anderen Medien Möbus, SchmidtMöbus u. a. 1995. 173 Zu weiblichen Faust-Gestalten vgl. Doering 1995. Auch Mephisto erscheint in weiblichen Varianten, so in Heines Mephistophela, einer Abwandlung, die wiederum Thomas Mann aufgreift (vgl. Robertson 1995, S. 114). 174 Hahn-Hahn 1844, S. IV. 175 S. u., Kap. VI/4.
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einer Konkurrenz den Boden entzieht, denn die Autoren besetzen geschlechtlich entgegengesetzte Rollen und bewegen sich entsprechend in entgegengesetzten literarischen Sphären. Der Titel Gräfin Faustine ist an sich nicht metaphorisch, aber sein Bezug zum berühmten Gegentext regt zu einer metaphorischen Extension der Bedeutung an. Der hohe Status Goethes stellt noch im 20. Jahrhundert einen monumentalen Maßstab dar, der besonders einen ›starken‹ Dichter (im Sinne Harold Blooms176) dazu herausforderte, das eigene Werk mit ähnlicher Schlagkraft in die Öffentlichkeit zu projizieren und das Werk des Vorgängers zu überbieten: Thomas Mann. So ist es bedeutsam, dass Thomas Mann für die »Summa […] am Ende seines Lebens«177 den Faust-Stoff wählte, denn damit begab er sich in direkte Konkurrenz zu dem Dichter, in dessen Nachfolgeschaft er sich im Goethejahr 1932 in einem Brief an Käte Hamburger eingeordnet hatte: Goethe – Sie notieren ganz mit Recht meine Zugehörigkeit zum »sentimentalischen« Gegentyp. Und doch – lassen Sie es mich dem kritischen Freundesgeist unter vier Augen gestehen: Das Verwandtschaftsgefühl, das Bewußtsein ähnlicher Prägung, einer gewissen mythischen Nachfolge und Spurengängerei ist sehr lebhaft und hat in den Reden dieses Goethejahres innig-versteckten Ausdruck gefunden. »Ich bin kein Goethe, aber einer von seiner Familie«, schrieb Stifter.178
Mann zeigt hier ein Interesse, spezifisch als Nachfolger Goethes und nicht nur als Schiller-ähnlicher Gegentypus gesehen zu werden. Wenn auch die Konkurrenz mit dem ›Vorgänger‹ nicht explizit zur Sprache kommt, so klingt sie doch in der topischen Wegmetaphorik an, und auch die genealogische Metaphorik deutet darauf hin. Vor allem lässt die »versteckte« Absicht in den »Reden« eine Strategie der Nachfolge vermuten, die auf eine öffentliche Anerkennung der Nachfolgeschaft abzielt – eine Anerkennung, die jedoch erst dann geleistet ist, wenn das Publikum dem Dichter originale Größe jenseits des Vergleichs bescheinigt. Manns Auseinandersetzung mit Goethe ist nicht nur in Aufsätzen, sondern auch im Werk durchgängig erkennbar.179 Gerade der Roman Doktor Faustus jedoch, dessen Titel den Vergleich mit Goethes größtem Werk herausfordert, ist als Thomas Manns Goethe-fernstes Werk diskutiert worden180 – obwohl Mann sich durch Goethes Faust zu seinem Werk anregen ließ. Tatsächlich leistet Goethes untragische ›Tragödie‹ keinen offensichtlichen Beitrag zu dem Roman, denn Mann greift direkt auf die ›ursprüng176 »Strong poets [are] major figures with the persistence to wrestle with their strong precursors, even to the death. Weaker talents idealize; figures of capable imagination appropriate for themselves« (Bloom 1997, S. 5). 177 Koopmann 2001, S. 494. 178 Mann 1961, S. 323 (Mann an Käte Hamburger, 10.9.1932). 179 Vgl. Koopmann 2001, passim; zum Wettstreit mit Goethe bes. S. 477 und 492 f. 180 Berendsohn 1964 (Titel).
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liche‹ Quelle zurück, das Volksbuch von 1587. Mit virtuoser Eigenständigkeit schafft er aus demselben Stoff in einer anderen Gattung ein gänzlich anderes Werk und entfaltet in der Darstellung des spannungsvollen Verhältnisses zwischen dem humanistischen Gelehrten und dem nietzscheanischen Künstler die ganze Tragik der deutschen Geistesgeschichte zwischen Luther und Nationalsozialismus. Damit erweist Mann in seinem kongenialen Meisterstück die Unabhängigkeit vom großen Vorbild. Indem er eine Traditions-›Linie‹ konstruiert, die direkt vom deutschen Volksbuch zu seinem deutschen, das Alte und Moderne integrierenden Roman führt, eliminiert er gewissermaßen Goethes übernationalen Faust aus der deutschen Tradition. Zugleich übertrumpft er damit seinen Vorgänger als Nationaldichter. Am Faust-Stoff lässt sich die Bedeutung der Zusammenwirkung des kanonischen Autors und seines kanonischen Werks für die Situierung des eigenen Schreibens in der Tradition verfolgen, wobei Autoren nicht nur immer wieder anders mit dem Druck und den Anregungen der ›Vorgänger‹ umgehen, sondern auch in der Projektion des Verhältnisses erheblich voneinander abweichen. Während Mann seine emotionale Auseinandersetzung mit Goethes Status sowie auch seine Strategien der Überbietung nur ›versteckt‹ anklingen lässt, artikuliert Thomas Bernhard seine Reaktion betont affektiv in öffentlicher, wenn auch (leicht) fiktionalisierter Form im Kontext einer ausgedehnten Schimpfrede. Sowohl der Autor Goethe als auch sein Lebenswerk Faust geraten hier in den Sog einer umfassenden Auslöschung: Das kanonische Werk ist dem Icherzähler des Romans zufolge der »total mißglückte Versuch eines schreibenden Größenwahnsinnigen«.181 Dem topischen Vorbild Shakespeare wird Goethe untergeordnet, da er »in allem nur das Mittelmaß zustande gebracht« habe: »Seine Theaterstücke sind gegen die Stücke Shakespeares beispielsweise so gegeneinander zu stellen, wie ein hochgewachsener Schweizer Sennenhund gegen einen verkümmerten Frankfurter Vorstadtdackel.«182 Bernhard wandelt das Vertikalitätsschema – also das grundlegende Muster quantitativer und qualitativer Bewertung – publikumswirksam ab, indem er es personifizierend belebt, nur um den großen Künstler zum tierischen Attribut des Kleinbürgers zusammenschrumpfen zu lassen. Bernhards mit weiteren vertikalen Metaphern arbeitende Invektive gegen den »Großbürger« und »Dichterfürsten« Goethe183 steht jedoch im Kontext einer umfassenden, auch selbsterniedrigenden Auseinandersetzung mit dem Schreiben im Monolog des Erzählers. Von dem Prozess der ›Auslöschung‹ verschont wird einzig die »große, die einmalige, die bestehenbleibende« Literatur der Dichterin Maria; in ihr huldigt Bernhard der verstor181 Bernhard 1986, S. 577. 182 Ebd., S. 576 f. 183 Ebd., S. 575.
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benen österreichischen Kollegin Ingeborg Bachmann.184 Der Vergleich kanonischer Autoren führt ein bekanntes poetologisches Muster der Traditionsbildung fort, um es in der ›Auslöschung‹ negativ zu überbieten. Zugleich stellt er dem ›deutschen‹ Kanon mit der Idealisierung Bachmanns einen ›österreichischen‹ Kanon gegenüber. Der Roman wird hier zum Raum, in dem der Autor seine höchst komplexe, widersprüchliche Auseinandersetzung mit anderen Dichtern, ihren Werken und ihrem öffentlichen Status im Prozess des Schreibens sprachlich auslebt – um damit nicht zuletzt performativ die Spannungen der eigenen Rolle in der Öffentlichkeit wirksam werden zu lassen. Diachronisch bietet der intertextuelle Bezug die Möglichkeit, auch mit viel früheren Autoren imaginativ in Verbindung zu treten. In radikalisierter Form nutzt Christa Wolf diese Möglichkeit in ihren Frankfurter PoetikVorlesungen, wenn sie Poetik mit Dichtung interagieren lässt und in der letzten Vorlesung die historisch-mythische Kassandra auf fiktionalem Wege ›zum Leben erweckt‹.185 Wolf ›nähert‹ sich ihrer Protagonistin im Laufe des Kassandra-Projekts durch die Darstellung ihrer Reise nach Griechenland und ihre historischen Nachforschungen. Sie verwendet dabei Gattungen, die in einer traditionell männlich besetzten Schriftkultur zunehmend auch Autorinnen offen standen: Reisebericht, Arbeitstagebuch, Brief und fiktionale Prosa; einbezogen werden dabei Stimmen verschiedener Autorinnen sowie Photographien, mit denen Vergangenheit und Gegenwart zueinander in Bezug treten. Die Poetik kulminiert in der Erzählung Kassandra, mit der sich Wolf gewissermaßen als Medium projiziert, durch das die Gedanken einer sprachmächtigen, aber der Schrift unkundigen ›Vorgängerin‹ an die Nachwelt gelangen. Vorstellbar wird die Tradierung der Gedanken durch die Mittel der metaphorischen Belebung, wenn Kassandra sich fragt: »Lebt der Gedanke, einmal in der Welt, in einem andern fort?«186 Indem Wolf 184 Ebd., S. 617. Ihr schreibt er auch vermutungsweise den Titel des Werks zu: »Ich glaube, er ist von Maria, die mich ja auch einmal einen Auslöscher genannt hat« (ebd., S. 542). Vgl. Dittmar 1990, S. 308 f. 185 Wolf, C. 1983. Die poetologisch bedeutsame Vielschichtigkeit des Projekts wird nur in der hier benutzten Erstausgabe des Aufbau-Verlags deutlich, in der die Poetik-Vorlesungen und die Erzählung (in dieser Reihenfolge) in einem Band veröffentlicht sind. Erst in dieser Form werden die intertextuellen Bezüge und die Bezüge auch zum photographischen Material in den »Voraussetzungen« wirksam; allerdings erscheint in dieser Ausgabe die dritte Vorlesung mit zensurbedingten Kürzungen (dazu Hilzinger 2000, S. 437 f.). Der Luchterhand Verlag veröffentlichte 1983 die »Erzählung« und die »Voraussetzungen« getrennt und erst ab 1990 in einem Band mit der Erzählung am Anfang (vgl. Wolf, C. 1990). In der Werkausgabe sind die Vorlesungen der Erzählung vorangestellt (Wolf, C. 1999 ff., Bd. 7); eine empfindliche Schmälerung des Projekts ist jedoch die Auslassung des Bildmaterials. Zur Entstehung des Projekts und den verschiedenen Ausgaben vgl. Hilzinger 2000, S. 429–440. Während sie ausführlich auf die textuellen Kürzungen der DDR-Ausgabe eingeht, bleibt die Eliminierung der Fotos in der Werkausgabe des Luchterhand Verlags unerwähnt. 186 Wolf, C. 1983, S. 204 (Kassandra. Erzählung).
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ihre Protagonistin Kassandra am Anfang der Erzählung aus der dritten Person in die Position des sprechenden »Ich« treten lässt, verleiht sie ihr die direkte sprachliche Wirkkraft, die ihr eine patriarchalische Tradition vorenthalten hat. Das Kassandra-Projekt wird so zu einer Erkundung der Möglichkeiten »›weiblichen‹ Schreibens«187 bis in vorgeschichtliche Zeit und zugleich zu einem Prozess der Traditionsstiftung. Das mittlerweile zum Topos gewordene ›weibliche Schreiben‹ ist in diesem Kontext insofern biologisch zu fassen, als es Wolf darum geht, Autorinnen in einem männlich geprägten Umfeld zu Wort kommen zu lassen. Vor allem aber ist der Topos als poetologische Metapher zu sehen. Denn er dient vornehmlich weder der biologischen Bestimmung noch auch der ästhetischen Definition, sondern entwirft eine kohärente, in früheste Zeiten reichende Tradition und verleiht weiblichen Perspektiven in der Auseinandersetzung um die menschliche Zukunft ein klares Profil. Der Bezug zu ›Vorbildern‹ und die intertextuelle Verbindung mit etablierten Werken ist aus dem Prozess des Schreibens nicht wegzudenken und gestaltet sich in unzähligen Varianten. ›Nachahmung‹, ›Innovation‹ und ›Originalität‹ sind als topische Metaphern zu verstehen, die solche Prozesse vorstellbar machen. Ernstzunehmen ist jedoch die ganze Vielfalt von Metaphern, in denen Dichter ihre Auseinandersetzung mit anderen Autoren und Texten zur Sprache bringen, zumal auch die Literaturwissenschaftler auf solche Metaphern angewiesen sind. Bedeutsam sind in diesem Kontext Arno Schmidts Dialoge, in denen er vergangene Autoren zu lebenden Stimmen ausgestaltet und hörbar macht. Schmidt vermittelt seinen Zeitgenossen hier im Medium des Rundfunks so eigenwillige wie unterhaltsame Einblicke in die deutsche Literatur. Die Dialoge umfassen Brockes, Schnabel und Klopstock, von Meyern, Tieck und Pape bis hin zu Karl May, Paul Scheerbart und Gustav Frenssen.188 Im Vorspiel setzt sich Schmidt durch das Medium dreier Stimmen mit etablierten Bildern großer Autoren auseinander, indem er Zitate von Germanisten mit Zitaten von Autoren und Personen in deren Umfeld als Dialog inszeniert. So ergänzt Christiane Vulpius das germanistische Goethe-Bild »in betrübt=fraulichem Kaffeesächsisch; aber ja nicht übertreibend!«.189 Am Ende des Vorspiels steht das einstimmig verkündete »Credo«:
187 Ebd., S. 146 (3. Vorlesung). 188 Die Beiträge zu den aufgelisteten Autoren wurden vorwiegend im Süddeutschen Rundfunk gesendet. Zu einer Art Literaturgeschichte zusammengestellt erscheinen die Dialoge zur deutschen Literatur (unter Einbezug auch von Aufsätzen) in der postum kompilierten Ausgabe »Das essayistische Werk zur deutschen Literatur« (Schmidt, A. 1988). S.a. Schmidt, A. 1990–1991. 189 Schmidt, A. 1990–1991, Bd. 2, S. 139. Die Erstveröffentlichung des Dialogs »Vorspiel« (ebd., S. 137–142) erfolgte 1958 in schriftlicher Form.
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Müde vom Durchwandern öder Letternwüsten, voll leerer Hirngeburten, in anmaaßendsten Wortnebeln; überdrüssig ästhetischer Süßler wie grammatischer Wässerer; entschloß ich mich: Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln ! – – –190
Die schriftliche Literatur wird hier zu einer metaphorischen ›Welt‹ ausgestaltet, die aus etablierten Alltagsmetaphern (›Hirngespinst‹, ›Fehlgeburt‹) und alltäglichen Assoziationen mit Schrifttum (›toter‹ Buchstabe, ›trockene‹ Abhandlung) konstruiert ist. Dem wird eine rhetorisch geprägte Vorstellung von Literatur gegenübergestellt, die den Text als ›Raum‹ konzipiert, in dem der Leser und Autor direkt miteinander kommunizieren. Die ›Belebung‹ des toten Autors und die Betonung des Affekts – »in Liebe und Haß« – schaffen eine Vorstellung von Unmittelbarkeit, die das Lesen der ›toten Buchstaben‹ zum lebendigen Ereignis macht. Zugleich ersteht auf dieser Basis eine Poetik, die unabhängig von zeitlicher Abfolge und räumlicher Entfernung Texte zueinander in Beziehung setzen kann. Das hier präsentierte ›Credo‹ zielt nicht auf die Rekonstruktion des empirischen Autors, sondern fordert gewissermaßen die Personifikation des impliziten Autors. Es gründet in der Zuversicht, dass der dichterische Text eine Art Destillat des Autors vermittelt, wie Schmidt in einem fiktiven Brief »An den Leser !« feststellt: versuchen Sie bitte nicht, meine Bekanntschaft zu machen; ich würde Sie äußerlich und auch im Auftreten enttäuschen; das Beste was ich bin und habe, gebe ich Ihnen ohnedies nach mancher Arbeit konzentriert und gereinigt in meinen Büchern: Der Mensch Schmidt ist von diesen nur eine Verwässerung.191
Auch hier gründet die Metaphorik in einem rhetorisch ausgerichteten Dichtungsverständnis. Die in einem Prozess der »Arbeit« erzeugte, schriftlich artikulierte Sprache wird als Darstellung der auktorialen Identität konzipiert, die ›besser‹ ist als der in der Wirklichkeit lebende, spontan sein ›wahres‹ Innenleben ausdrückende, authentische »Mensch« selbst. Der Text kann daher auch nach dem Tod des empirischen Autors ›lebendige Gegenwart‹ vermitteln und als gesprochene, performativ realisierbare Sprache erlebt werden. Literatur verwirklicht sich auf diese Weise in einem Prozess komplexer, produktiver Auseinandersetzung, der mit den tendenziell autorzentrierten Begriffen ›Nachahmung‹, ›Innovation‹ und ›Originalität‹ nur unzureichend erfassbar ist. Der Dialog ist für die Poetik auch insofern wichtig, als Autoren ihre Poetik oft über den Austausch mit Kollegen entwickeln – so im lebendigen Gespräch der Gruppe, in Briefen oder auch im virulenten öffentlichen Streitgespräch. Gegenwärtig floriert das Gespräch über Poetik in Form von Veranstaltungen in Literaturhäusern, wo das Publikum einen Einblick in 190 Ebd., S. 142 (Vorspiel). 191 Schmidt, A. 1995. Der Brief ist Teil der Sammlung »Briefe aus der ›Wundertüte‹«.
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die Welt des poetischen Schaffens erhält: »So werden Gedichte spannender als Krimis«, versprach 2004 die Literaturwerkstatt Berlin in Bezug auf die Veranstaltungsreihe »A propos Poesie. Gespräche«.192 Auch in gedruckter, auditiver und elektronischer Form bietet die Form des Dialogs Möglichkeiten der Profilierung entgegengesetzter oder kooperativ aufeinander bezogener Poetiken.193 Fortgeführt wird zudem die Tradition des poetologischen Streitgesprächs in schriftlicher Form, in dem die eigene Position durch den Angriff auf einen etablierten Gegner gestärkt werden soll. Ein Beispiel aus der humanistischen Tradition ist Klopstocks Abhandlung Vom deutschen Hexameter, in der er seine Theorie in Auseinandersetzung mit einer gegen den Hexameter gerichteten Schrift von Gottfried August Bürger entwickelt; Klopstock zitiert diese ohne Angabe von Autor und Quelle als gegnerische ›Stimme‹.194 Eine ähnliche poetologische Methode benutzt Raoul Schrott im ersten Teil seiner Fragmente einer Sprache der Dichtung, die den Titel »Polemisches« trägt. Hauptangriffsziel ist der namentlich nicht genannte Büchner-Preisträger Durs Grünbein, der in seinem viel beachteten Aufsatz Mein babylonisches Hirn festgestellt hatte, dass »in Neurologie die Poetik der Zukunft versteckt« liege195 – ein Satz, den Schrott ohne Autor- und Quellenangabe zitiert, um ihn polemisch zu widerlegen.196 Der intertextuelle Dialog dient Schrott dazu, sich öffentlich mit Grünbein auf dem Feld der Poetik zu messen. Dabei setzt er Grünbeins »jetzt allseits herbeizitierter« Gehirnmetaphorik197 eine eigene Uhrenmetapher entgegen, die er zeitgleich in seiner Anthologie Die Erfindung der Poesie im Detail entwickelt.198 Schrotts Metapher verschiebt das poetologische Gewicht von der ›inneren‹ Kognition auf die ›äußere‹ Wirkung der Sprache: »Bei einer Uhr interessiert ja auch nicht, aus wievielen Teilen sie besteht und wie sie gedämpft und gelagert werden, sondern allein das Zifferblatt und die Zeit, die man daran abliest.«199 Schrott sucht hier den Konkurrenten mit der Waffe einer überlegenen poetologischen Metapher aus dem Felde zu schlagen. Ebenso wissenschaftlich fundiert,200 aber friedlicher, gestaltet sich der intertextuelle Dialog, den Ulrike Draesner in der Danksagung zu ihrem Gedichtband Gedächtnisschleifen würdigt: 192 Literaturwerkstatt 2004b. 193 Z. B. Scheck/Winkels 1999. Zu einer elektronischen Form des poetologischen Dialogs s. u., Kap. VI/9. 194 Klopstock 1823–1830, Bd. 15, S. 85–220; vgl. Hellmuth 1973, S. 47–51. 195 Grünbein 1996, S. 20 (Mein babylonisches Hirn). 196 Schrott 1997b, S. 21 f. 197 Ebd., S. 19. 198 Ebd., S. 9. S.o., Kap. III/2. 199 Ebd., S. 22. 200 Draesner promovierte mit einer Arbeit zu intertextuellen Verweisen in Wolframs »Parzival« unter dem Titel »Wege durch erzählte Welten« (Draesner 1993).
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Die sich kreuzenden und mischenden Bezüge auf Texte von Friederike Mayröcker […], Thomas Kling […], Reinhard Priessnitz […], Dieter M. Gräf […], Durs Grünbein […], Friedrich Hölderlin […], Claude Simon […], Ingeborg Bachmann […], Anna Achmatova […] sind so wenig Zufall wie bloße Absicht. Die Gedächtnisschleifen dieser Autoren ziehen sich durch den Band, ihre Werke sind, einmal näher, einmal ferner, Anstoß und Ausgang gewesen, Sprachenschule, Hörgesetz, für die Stimme »wigwam des tanzes«. Ich danke ihnen allen.201
Draesner macht in ihrem Lyrikband die vielfältigen Verbindungen mit Texten anderer Autoren zu Thema, Methode und sprachlichem Prozess. Abgelehnt wird eine binäre Opposition zwischen Zufall und auktorialer Absicht sowie auch die Reduktion einer Arbeit mit anderen Texten auf einen spezifischen Zweck. Die evozierten Verbindungen entstehen aus immer wieder anderen Metaphern, deren Wandelbarkeit und Bewegung durch Raum und Zeit, visuelle Bilder und auditive Sprache bis hin zum Tanz die Suche nach neuen Prozessen anregen. Mit der Metapher von einem Text, der »Gedächtnisschleifen« anderer Autoren zusammenführt, rückt der literarische Prozess in die Nähe des durch Schrift sich konstituierenden ›kulturellen Gedächtnisses‹.202 Die Autorin ist hier nicht bestrebt, in der Konkurrenz mit anderen ein individuelles Profil in die Öffentlichkeit zu projizieren, sondern öffnet sich einer Vielfalt von Bezügen. Entsprechend evoziert die abschließende Metapher vom »›wigwam des tanzes‹« eine Welt der Rituale, in denen Kultur gemeinschaftlich entsteht. Autorpoetiken thematisieren immer wieder – direkt und indirekt und auf unterschiedlichste Weise – die Bedeutung der Arbeit mit bestehenden Texten und etablierten Autoren. Metaphern verleihen den Bezügen vorstellbare Strukturen, die auf unterschiedlichste Weise zur Weiterarbeit, zur Abwandlung oder zur Erkundung neuer Verbindungen anregen können. Auch in der Rezeption dienen existierende Formen und bekannte Prozesse als Ausgangspunkt für den Umgang mit dem Anderen und Neuen. Unvorstellbar ist einzig eine Poetik ohne jeglichen Bezug zum Bestehenden.
5. Dichtung als gemeinschaftliches Ereignis Die deutsche Dichtung bewegt sich seit dem Anfang ihrer Überlieferung zwischen der Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung des Werks auf ein versammeltes Publikum und der mittels der Schrift erreichbaren, theoretisch unbegrenzten Extension, die es dem im 9. Jahrhundert lebenden Otfrid erlaubt, noch mit Lesern im 21. Jahrhundert zu kommunizieren. Trotz ihrer zunehmenden Bedeutung hat die schriftliche Literatur zu kei201 Draesner 2000, S. 108. Das Zitat verweist auf das Gedicht »Totem« (ebd., S. 51). 202 Vgl. Assmann, J. 1992, passim.
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nem Zeitpunkt das ›lebendige‹ Literaturereignis verdrängt.203 Es ist schwer abzuschätzen, welcher Stellenwert der mündlich kommunizierten Dichtung zuzumessen ist, denn die schriftliche Literatur ist ungleich traditionsfähiger, besitzt in einer von Gelehrten verfassten Literaturgeschichte einen weit höheren Status und lässt sich aufgrund ihrer fixierten Form leichter einordnen und bewerten. Zudem ist die mündliche Literatur aus früheren Zeiten nur indirekt überliefert und erst seit der Erfindung von Tonträgern direkter rezipierbar; selbst mit filmischen Mitteln lässt sich allerdings der ›live‹-Effekt nur reproduzieren, nicht produzieren. Dass die mündlich vermittelte Literatur zu jeder Zeit eine wichtige Rolle spielte und weiterhin spielt, erhellt schon aus der durchgehenden Bedeutung des Dramas, wobei besonders in der frühen Neuzeit das Drama zu anderen Formen gesellschaftlicher Ereignisse, zu Festen und Spektakeln hin offen war.204 Auch seit dem Schub hin zu einer breiteren Partizipation an der schriftlichen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert gibt es die vielfältigsten Veranstaltungsformen, in denen Dichter direkt mit ihrem Publikum kommunizieren, so in Autorlesungen, Performances, Poetry Slam, Poesie-Festivals oder anderen populären ›Events‹ – am Anfang des 21. Jahrhunderts zeigt allein schon die Einführung neuer Wörter mit engem Bezug zur Popkultur die Bedeutung von Veranstaltungen, in denen der Dichter beziehungsweise Künstler real anwesend ist. Die Möglichkeit einer direkten Kommunikation mit dem Publikum bietet in Zeiten, die von der schriftlichen Literatur dominiert sind, ein erhebliches Erneuerungspotenzial, denn der Reiz der Unmittelbarkeit ist in schriftlicher Form nur annäherungsweise und über die Imagination zu erreichen. So wurden im Expressionismus besonders unter dem Eindruck der rhetorisch ausgerichteten Poetik Nietzsches die Möglichkeiten der Stimme und der Performanz poetologisch genutzt, um der Dichtung emotionale Direktheit zu verschaffen. Stefan Zweig konstruiert in seinem Aufsatz »Das neue Pathos« von 1909 eine dreistufige Literaturgeschichte, die ausgeht von einem angenommenen »Urgedicht, […] das längst entstand vor Schrift und Druck,«205 und das es in der Gegenwart zu erneuern gilt. Gekennzeichnet war das »Urgedicht« durch ein im Augenblick der unmittelbaren Kommunikation entstehendes Pathos, das mit fortschreitender Verschriftlichung schwand: immer mehr verlor [das Gedicht] von jenem geheimnisvollen pathetischen Feuer, das nur genährt wird vom Augenblick, vom Gegenüberstehen einer erregten Men-
203 Vgl. Walter Benjamins Überlegungen zur Bedeutung eines ungleich komplexer gefassten »Hier und Jetzt« für das Kunstwerk (Benjamin 1972 ff., Bd. 1/2, S. 476 f.; Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit). 204 Vgl. Béhar/Watanabe-O’Kelly 1999. 205 Zweig 1909, Sp. 1701.
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ge, durch die magische Einströmung von Anspannung und Reiz aus dem Herzen des Hörers in das eigene Wort.206
Zweig evoziert das verlorene Pathos durch die Fokussierung der Massenkommunikation, deren Wirkung er mit Metaphern des Feuers, der Flüssigkeit und der Spannung verdeutlicht und mit einer vorrationalen ›Magie‹ in Verbindung bringt. Der Bezug zwischen dem Dichter und dem Rezipienten wird durch die Flüssigkeitsmetapher zum physischen Prozess, der anders als in der Rezeption eines schriftlichen Textes direkt auf das dichterische Wort zurückzuwirken vermag, wodurch Produktion und Rezeption im »Augenblick« des poetischen Geschehens verschmelzen. In Gegensatz zu den im 19. Jahrhundert dominierenden poetologischen Werten, die sich an einer philosophisch orientierten Poetik und an einer schriftlich übermittelten, im privaten Bereich realisierbaren und auf die Ewigkeit hin angelegten Literatur orientierten, versteht Zweig das Gedicht rhetorisch als gemeinschaftliches Ereignis, das sich erst in der Zusammenkunft von Dichter, Werk und Publikum verwirklicht: Das Gedicht jener Großen und Fernen, die zuerst aus dem aufspringenden Schrei des Gefühls Wort und Rede fanden, war eine Ansprache an die Menge, eine Mahnung, eine Anfeuerung, eine Extatik, eine direkte elektrische Entladung von Gefühl zu Gefühl. Der Dichter sprach zu den anderen, ein Einzelner zu seinem Kreise. […] Jenes Gedicht und sein Vortrag war nicht zur Prüfung gebotene Vorzeigung eines Fertigen, ein Gerät oder ein Schmuck, schon gehämmert und ganz gefügt, sondern ein noch Entstehendes, ein im Augenblick neu Werdendes, ein Kampf mit dem Hörer, ein Ringen um seine Leidenschaft. Diesen innigen, glühenden Kontakt mit der Masse haben die Dichter seit der Schrift verloren.207
In einer enthusiastischen Häufung von Metaphern, die schon an sich Pathos vermittelt, sucht Zweig dem Leser die Wirkung des lebendigen Vortrags nahezubringen. Die Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient wird vorgestellt als elektrische Entladung, als magische Strömung, als glühender Kontakt und als Kampf. Anknüpfend an Nietzsches Zarathustra überträgt Zweig dem Dichter die Rollen des geistlichen und weltlichen Rhetorikers: Er ist »heute wieder […] befähigt, wenn nicht der geistige Führer der Zeit, so doch der Bändiger […], der Entfachende des heiligen Feuers: der Energie« zu sein; entsprechend soll das neue Pathos »im Dichter den Demagogen, den Musiker, den Schauspieler, den Redner […] wieder erschaffen«.208 In Gegensatz zu den Vergleichen der Dichtung mit den visuellen Künsten, die für den Realismus typisch sind, stellt Zweig den akustischen Prozess der Sprache in den Vordergrund: Das Gedicht ist die »letzte Steigerung« der
206 Ebd., Sp. 1702. 207 Ebd., Sp. 1701. 208 Ebd., Sp. 1703 f.
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Sprache, ein »Festliches im Alltag«.209 Das Publikum darf nicht passiv bleiben, sondern soll im Laufe des unmittelbaren Rezeptionsprozesses am Gedicht mitwirken und damit zur ursprünglichen Form der Dichtung zurückfinden. Angestrebt wird eine extreme, bis zur Ekstase gehende emotionale Bewegung, die sich nur im kommunalen Raum und im gemeinsam erlebten Augenblick erzeugen lässt und die nicht nur die Gebildeten, sondern auch den »Arbeiter« und den »Werkmann« anzusprechen vermag.210 Das Publikum wird zur elementaren Masse, und der Dichter profiliert sich nicht als besonderes Individuum, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Die Rückkehr zum ›ursprünglichen‹ Kontakt zwischen Dichter und Publikum manifestiert sich Zweig zufolge bei Dichterlesungen in Sälen, Kirchen, Universitäten und bei politischen Kundgebungen. Das Theater erwähnt er als »erste Brücke zwischen der Poesie und der Menge«, um es dann jedoch gegenüber der Lyrik abzuwerten, da der Schauspieler hier als »Mittler des gesprochenen Wortes« benötigt werde211 – es spricht hier der Autor, der unmittelbar auf das Publikum wirken will. Gerade im Drama kommt jedoch die unmittelbare Wirkung des dichterischen Wortes und die Ereignishaftigkeit der Literatur am stärksten zur Geltung. Wiewohl es den Bedürfnissen der Historiographen entgegenkommt, von der Priorität des fixierten und von einem individuellen Autor verfassten dramatischen Textes auszugehen, so ist doch vor allem die akustisch und visuell realisierte Performanz für diese Gattung konstitutiv. Es besteht in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung die Tendenz, das schriftliche Kunstdrama historisch von anderen dramatischen Formen abzugrenzen und die Tradition des für die neuzeitliche Literatur bedeutsamen Dramas erst mit Opitz und dann vor allem im 18. Jahrhundert beginnen zu lassen. Vorausgesetzt wird dabei die Priorität der Schriftform, der gelehrten beziehungsweise bürgerlichen Kulturträger und der antiken Tradition und Maßgaben, wobei die von Aristoteles ausführlich theorisierte und am höchsten bewertete Tragödie als Maßstab dient. Das Resultat ist eine Geschichte, die von Metaphern der mangelnden Verbindung geprägt ist. So gilt das mittelalterliche geistliche Spiel als »eigenständige literarische Gattung«, ohne »historischen Zusammenhang« mit dem »antiken Drama« einerseits und dem »literarischen Drama der Neuzeit« andererseits.212 Das von Opitz mit seiner wohl als Lesedrama konzipierten Seneca-Übersetzung Trojanerinnen inaugurierte Barockdrama hat »kein Vorbild«, findet im älteren Theater keine »konkreten Anknüpfungspunkte, von denen aus sich eine 209 210 211 212
Ebd., Sp. 1702. Ebd., Sp. 1703. Ebd. Vgl. demgegenüber Rudolf Kaysers Aufsatz »Das neue Drama« (Kayser 1918). Bergmann 1984, S. 65. Bergmann konstatiert, dieser Gattung käme gerade deshalb ein besonderes Interesse zu, weil ihr »Anfang und Ende überschaubar sind« (ebd.).
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Linie zum 17. Jahrhundert ziehen ließe« und stellt im europäischen Kontext eine »Sonderentwicklung« dar.213 Entsprechend ist dann die Herausbildung des bürgerlichen Theaters im 18. Jahrhundert »umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sie gleichsam beim Nullpunkt begann«, wobei die Wanderbühnen und das von französischen und italienischen Schauspieltruppen getragene »feudale Hoftheater« als Kontrast fungieren.214 Die Geschichte des deutschen Dramas wird damit zu einer Geschichte der isolierten Gattungen, der Brüche, Neuanfänge und Sonderwege.215 Mit alternativen Metaphern lässt sich eine andere Geschichte entwerfen, wie hier nur angedeutet sei. So fasst Werner Bauer seine Ausführungen zum spätmittelalterlichen geistlichen Schauspiel mit dem Fazit zusammen: »Trotz seiner unverwechselbaren ästhetischen Struktur war es ein wichtiges Substrat für die spätere Entwicklung dramatischer Gattungen.«216 Hansjürgen Linke unterscheidet das mittelalterliche Spiel von der »aristotelischen Dramatik«, um es »in den breiten weltliterarischen Strom des epischen Theaters« einzuordnen,217 und Peter Brenner konstatiert immerhin, dass das deutsche Barockdrama »in der breiten Kontinuität der abendländischen Rhetorik, Poetik und Dramaturgie« steht.218 Im 18. Jahrhundert existieren bekanntlich komplexe Verbindungen zwischen dem englischen Kunstdrama, dem populären Drama der Wanderbühnen und Puppenspieler und dem deutschen Kunstdrama, wie allein schon Goethes Faust bezeugt; und Gottscheds Theaterreformen gründen sowohl in seiner Rezeption des klassischen französischen Dramas als auch in seiner produktiven Auseinandersetzung mit dem Drama der Wanderbühnen und seiner Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Caroline Neuber. Dass sich Kontinuitäten über größere Zeiträume hinweg durchaus auch in dramatischen Formen verfolgen lassen, die nicht in der antiken Tradition gründen, zeigt die Rezeption der Commedia dell’arte in Gryphius’ Horribilicribrifax und Goethes Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern sowie in den
213 Brenner 1999, S. 539. 214 Inge Stephan in Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 160. 215 Ein von ungemein vielfältigen Verbindungen geprägtes Bild ergibt sich dagegen aus der umfangreichen, von Manfred Brauneck herausgegebenen Darstellung der »Geschichte des europäischen Theaters« unter dem Titel »Die Welt als Bühne« (Brauneck 1993 ff.). 216 Bauer 1991, S. 84. 217 »Die von der Antike unabhängige Eigenständigkeit des mittelalterlichen Dramas zeigt sich besonders auffällig darin, daß es seines abweichenden Baus wegen mit den Kategorien der aristotelischen Dramatik nicht zu erfassen ist. Es gehört vielmehr in den breiten weltliterarischen Strom des epischen Theaters« (Linke 1987, S. 154). Allerdings fördern gerade die Topoi von der ›Unabhängigkeit‹ und »Eigenständigkeit« die Ausblendung von Tradition. Fragwürdig ist zudem die Übertragung der apologetisch motivierten, binären Kategorien Brechts (›aristotelisch‹ – ›anti-aristotelisch bzw. episch) auf frühere Formen. 218 Brenner 1999, S. 539.
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Komödien von Raimund und Nestroy.219 Der Reiz der Stegreifkomödie ist hier in schriftlich fixierte Texte überführt – und in Lessings Emilia Galotti gar in die Tragödie.220 Goethe verdeutlicht die Entstehung seines Jahrmarktsfests aus der Lust am geselligen Spiel und der »augenblicklichen« Darstellung,221 und in Wilhelm Meisters theatralische Sendung entwirft er als Gedankenexperiment eine weiterführende Tradition der Commedia dell’arte in Deutschland.222 Die Prinzipalin der dargestellten Schauspieltruppe – Schlüsselfigur für Caroline Neuber – beklagt, sie habe sich von den »Kunstrichtern« überreden lassen, Possen, Schwänke und insgesamt das »Extemporieren« aufzugeben, zumal sie selber »ernsthaft« veranlagt sei:223 [ich hielt] mich und meine Truppe für zu vornehm, als daß ich die Zuschauer, wie bisher, belustigen sollte. […] wenn wir Verstand und Glück genug gehabt hätten, unsern Plan zu rechter Zeit auszuführen, so hätten wir den Deutschen ein treffliches Geschenk machen können, das der Grund eines National-Theaters geworden wäre.224
Strukturgebend ist hier der Kontrast zwischen ›ernster‹ Literatur und ›Unterhaltungsliteratur‹, der noch am Anfang des 21. Jahrhunderts die deutsche Kulturlandschaft bestimmt.225 Dass hier eine vertikale Wertungsskala wirksam wird, geht aus der Kategorie des ›Vornehmen‹ hervor: Die Schauspielerin orientiert sich an einer gesellschaftlich fundierten Kategorie, mittels derer implizit eine ›hohe‹ von einer ›niedrigen‹ Kunst geschieden wird.226 Die Kritik der Prinzipalin an den Maßgaben der »Kunstrichter« fokussiert einen bedeutsamen Moment in der deutschen Theater- und Literaturgeschichte: Es ist der Moment, in dem das ›Theatralische‹ – als Beispiel erwähnt sie Molière – zugunsten von »nicht theatralischen« Stücken deutscher Schriftsteller verdrängt wird, wobei diese aus der Perspektive der Schauspielerin keine ›Entschädigung‹ für den Verlust liefern.227 Als vertane Gelegenheit beklagt wird die Möglichkeit der Schöpfung eines »National-Theaters« – ein Thema, das die bedeutendsten Schriftsteller der Zeit 219 Gryphius 1963–1983, Bd. 7, S. 41–119; Goethe 1985 ff., Bd. 4, S. 255–265 und Bd. 5, S. 125–147. Zur deutschen Rezeption der Commedia dell’arte im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Hinck 1965. Zur Tradition der Alt-Wiener Volkskomödie vom barocken Welt-Theater bis hin zu Nestroy vgl. Rommel 1952. 220 Lessing 1985 ff., Bd. 7, S. 291–371. Zu Lessings Rezeption der Commedia dell’arte vgl. Müller, K.-D. 1972. 221 Goethe 1985 ff., Bd. 14, S. 646 (Dichtung und Wahrheit, 13. Buch). 222 Ebd., Bd. 9, S. 150–152 (Wilhelm Meisters theatralische Sendung, 3. Buch, Kap. 8). Vgl. Hinck 1965, S. 365–367. 223 Goethe 1985 ff., Bd. 9, S. 150. 224 Ebd., S. 150 f. 225 S. u., S. 644–650. 226 Grimm zufolge impliziert das Wort ›vornehm‹ »die vorstellung des auswählens aus einer weniger werten mehrheit, des vorzuges vor andern« und spezifisch »den vorzug durch geburt, rang und stand« (Grimm 1984, Bd. 26; vornehm). 227 Goethe 1985 ff., Bd. 9, S. 150 f.
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bewegte. Die Schauspielerin meint jedoch nicht ein Theater, das die Ansprüche der gelehrten »Kunstrichter« befriedigt, sondern eines, das durch die unmittelbare Wirkung des Performativen die gesamte Kulturnation ansprechen und unterhalten kann. Das goethesche Gedankenexperiment fortführend ließe sich spekulieren, wie sich bei anderen Verhältnissen in Deutschland die Theaterlandschaft fortentwickelt hätte. Denn markiert ist mit der Debatte in Wilhelm Meister jene Zeit, in der die Weichen für die ›moderne‹ deutsche Literatur gestellt wurden – im Zeichen des auf Innerlichkeit gepolten Protestantismus und der kontemplativ ausgerichteten Philosophie. Genau jene Faktoren, welche die ›hohe‹ Literatur der ›deutschen Klassik‹ hervorbrachten, standen einer Breitenwirkung der Literatur und einer Entfaltung des Performativen im Wege. Instruktiv ist der Blick auf eine alternative Tradition deutschsprachigen Theaters: Denn das Theater in Österreich weist eine durchaus abweichende Tradition auf, die sowohl kontinuierlicher als auch weniger exklusiv ist. So kann man die Alt-Wiener Volkskomödie immerhin »vom barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys« verfolgen,228 mit Nachspielen bei Ludwig Anzengruber und Ödön von Horváth; und Hofmannsthal vermochte sogar das mittelalterliche geistliche Spiel publikumswirksam zu erneuern. Dass Goethe nicht nur theoretisch die kommunikativen Möglichkeiten des Performativen erkannte, sondern sie auch praktisch einzusetzen suchte, zeigt nicht zuletzt sein Lebenswerk Faust. Bezeichnenderweise stellt er dem Werk nicht eine theoretische Vorrede für den Leser voran, sondern ein multiperspektivisches Vorspiel auf dem Theater,229 in dem eine inklusive Dramenpoetik vermittelt wird. Nachdem die einführende Zueignung in lyrischer Form die individuelle Autorperspektive dargestellt hat, wird dem Publikum im Vorspiel die Perspektive des betont gewinnorientierten Direktors, jene des Theaterdichters sowie jene des Schauspielers dargeboten – wobei letzterer bezeichnenderweise nicht ein Darsteller ernster Gehalte ist, sondern die Lustige Person. Goethe setzt damit dem Schriftsteller, der seine Stücke für die »Nachwelt« verfasst, einen Vertreter der ›theatralischen‹ Tradition entgegen, der »der Mitwelt Spaß [machen]« will.230 Dem Direktor geht es darum, ein möglichst großes Publikum anzulocken, und ihm wird die Definition eines deutschen Theaters in den Mund gelegt, das experimentierfreudig mit einem breiten Spektrum an theatralischen Möglichkeiten arbeitet: Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen Probiert ein jeder was er mag; 228 Vgl. den Titel der umfangreichen Studie von Rommel (1952). 229 Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 13–21 (Faust, Vorspiel auf dem Theater). 230 Ebd., S. 16 (V. 74–77).
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Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen. Gebraucht das groß’ und kleine Himmelslicht, Die Sterne dürfet ihr verschwenden; An Wasser, Feuer, Felsenwänden, An Tier und Vögeln fehlt es nicht. So schreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.231
Die Aufforderung, »in dem engen Bretterhaus | Den ganzen Kreis der Schöpfung [auszuschreiten]«, lässt sich als Ankündigung des Faust-Stoffes verstehen, der die kleine und die große Welt, das Diesseits und das Jenseits umfasst. Zugleich aber vermittelt sie das poetologische Programm für ein Stück, das alle Bedürfnisse eines gemischten Publikums befriedigen soll; poetologisch verstanden, impliziert das ›Ausschreiten‹ die Ausschöpfung der gesamten von der Tradition zur Verfügung gestellten Möglichkeiten. Denn die Worte des Direktors schlagen die Verbindung zu einer dramatischen Tradition, die zum religiösen Ritual und gemeinschaftlichen Fest hin offen ist: Evoziert wird als Pendant zum Theater im »engen Bretterhaus« die Dramatik des mittelalterlichen Spektakels, bei dem der Marktplatz oder Domplatz des jeweiligen Ortes den weltlichen Schauplatz des Heilsgeschehens abgab und Himmel und Hölle im Bühnenbild dargestellt waren, um die menschliche Handlung zwischen Gott und Engeln, Satan und den anderen Teufeln zum Weltspiel auszuweiten. Bedeutsam ist der Bezug zu dieser Tradition nicht zuletzt aufgrund der im Faust gebotenen Auseinandersetzung mit den zentralen theologischen Fragen des Zeitalters der Säkularisation. Denn indem Goethe mit den Worten des Direktors die mittelalterliche Tradition des Dramas einbezieht, erinnert er an ein Theater, das im christlichen Ritual entstand und zunehmend aus dem Raum der Kirche in den säkularen Bereich hinaustrat; auch dort wechselten ernste Szenen mit publikumswirksamen, komischen Szenen, die der Darstellung antichristlicher Kräfte dienten.232 Goethe verknüpft in seinem monumentalen Faust diese geistliche Dramentradition mit der Tradition des Puppenspiels und der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels. Wenn er auch das Ziel eines Nationaltheaters nicht als Institution verwirklichte und vornehmlich ›hohe‹ Ansprüche erfüllte, so gelang ihm doch ein Werk, das zum Herzstück der deutschen Literatur wurde; Faust vermochte mit seiner gattungsmäßigen Komplexität und seiner Integration verschiedenster Traditionsstränge das humanistisch fundierte Streben nach einem
231 Ebd., S. 20 f. (V. 231–242). 232 Vgl. hierzu Bauer 1991, S. 84–99.
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Nationalepos auf dramatischem Wege zu befriedigen.233 Zugleich sollte das Werk in der Aufführung »an diesem Tag« seine Wirkung entfalten, wie der Direktor betont. Gerade indem das Werk eine unvergleichliche Herausforderung für die Phantasie des Regisseurs darstellt, ist sichergestellt, dass jede Inszenierung dem Publikum zum einmaligen Ereignis wird. Dass selbst das mittelalterliche Spiel auch in der Gegenwart noch als »Publikumshit« wirken kann,234 zeigt Hofmannsthals Jedermann, ein Projekt, mit dem er 1911 eine so gut wie obsolete Tradition »erneuerte«235 – und mehr noch als Goethe eine Breitenwirkung erzielte. Schon der Titel signalisiert den umfassenden Anspruch des Werkes. Es ist die Wiederbelebung eines »allen Zeiten gehörigen und allgemeingültigen« Stoffes, der im Mittelalter kursierte, gegen 1500 im englischen Everyman-Spiel Bedeutung erlangte und 1549 von Hans Sachs in Ein comedi von dem reichen sterbenden menschen dramatisiert worden war.236 In Hofmannsthals Stück wird Jedermann vor den Richterstuhl Gottes geladen, um sich zu rechtfertigen; die Zuhörer nehmen an dem Rechtsfall als Zeugen Teil. Das Stück, das Jahr für Jahr im Rahmen der Salzburger Festspiele auf dem Domplatz aufgeführt wird, sprengt moderne Erwartungen gegenüber dem Drama, wie aus der Theaterkritik deutlich wird: »Generationen von Rezensenten haben sich die Finger wundgeschrieben, kritisierten und parodierten – es nützt nichts. Hofmannsthals ›Spiel vom Sterben des reichen Mannes‹ erweist sich als ironie- und hohnresistent«, konstatiert am Anfang des 21. Jahrhunderts Die Welt.237 Die Wirkung des Stückes ist somit durch die Diskrepanz zwischen anhaltendem Publikumserfolg und ebenso konsequentem Negativurteil der ›Kunstrichter‹ gekennzeichnet, wobei die Metapher von der ›Resistenz‹ dem Werk die naturgegebene Widerstandsfähigkeit eines eigenständigen Organismus verleiht, statt dass die Gründe für die positive Publikumsreaktion analysiert würden. Entsprechend begnügt sich der Rezensent der Frankfurter Rundschau damit, die Rätselhaftigkeit des Erfolgs zu konstatieren: »Warum Hugo von Hofmannsthals holzschnittartiger, simpel gestrickter Jedermann ein Klassiker geworden ist, hat bis heute kein Mensch so richtig erklären können.«238 Tatsächlich dürften mit der Hyperbel »kein Mensch« die Kritiker selbst gemeint sein. Statt jedoch die eigenen Beurteilungskriterien zu hinterfragen, suggerieren sie, dass die Wirkung rational nicht erklär233 Es deutet einiges darauf hin, dass Goethe mit seinem »Faust« strategisch Klopstocks Nationalepos »Der Messias« zu überbieten suchte; vgl. Kohl 2000, S. 143–147, bes. S. 146 f. 234 Kulturzeit 2002. 235 Hofmannsthal 1975 ff., Bd. 9, S. 31 (Jedermann, Vorrede und Untertitel). Vgl. Frenzel 1998, S. 370 f. Die erste Fassung von Hofmannsthals Stück, in Prosa, entstand 1906. 236 Sachs 1884. Dies ist die von Hofmannsthal benutzte Ausgabe von Sachs’ Komödie, vgl. den Kommentar des Herausgebers in Hofmannsthal 1975 ff., Bd. 9, S. 110–112. 237 Weinzierl 2002. 238 Michalzik 2002.
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bar ist beziehungsweise in dem mangelnden Kunstverstand eines irrationalen Publikums gründet. Dem Erfolg wird immerhin mit dem positiv besetzten Topos der ›Klassizität‹ Rechnung getragen, wobei eine Rolle spielen dürfte, dass Hofmannsthal ein etablierter ›Klassiker‹ ist. Indem jedoch der Kritiker das Stück mit der nahezu obsoleten und durch einfache Konturen gekennzeichneten Kunstform des Holzschnitts vergleicht und durch die abwertende häusliche Handwerksmetapher »simpel gestrickt« jeglichen künstlerischen Wert des Stückes negiert, hebt er die Verfehlung jener Kriterien hervor, die mit ›Klassizität‹ assoziiert werden: intellektueller Anspruch und literarische Komplexität. Erklärbar wird der Erfolg unter Einbeziehung performativer Faktoren, die in der Vermittlung ›klassischer‹ Literatur sekundär sind, zumal diese sich traditionell an der schriftlichen und damit traditionsfähigen Literatur der Antike orientiert.239 Hofmannsthal konzipierte sein Stück nicht primär für den Druck, sondern spezifisch für die Aufführung im Rahmen eines gemeinschaftsstiftenden Kulturfestes. Diesem Zweck entspricht der traditionelle, zeitlose Stoff, der eine ritualistische Wiederholung erlaubt, ohne langweilig zu erscheinen, sowie die Einfachheit der Handlung und Charakterisierung, die ihre Wirksamkeit auch in einem großen Areal entfalten. Intensiviert wird die Publikumswirksamkeit des Stückes durch den Monumentalcharakter der Inszenierung und des Bühnenbildes, die kontinuierliche öffentliche Diskussion um Regisseure und Besetzungen und nicht zuletzt durch den hohen gesellschaftlichen Status des Kulturereignisses. Jedermann ist nicht primär ein Stück Literatur. Aus dem geistlichen Spiel ist vielmehr ein »Kulturspektakel« und »elegantes gesellschaftliches GroßEvent« geworden,240 das alljährlich ein Publikum aus aller Welt nach Salzburg führt. Jedermann bereitet den Kritikern nicht zuletzt deshalb Schwierigkeiten, weil hier die religiöse Tradition als Kulturfaktor weiterhin fortwirkt – bezeichnenderweise im katholischen Österreich, dessen literarische Entwicklung in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung als ›verspätet‹ gilt.241 Ganz in Einklang mit Hofmannsthals Poetik sucht man bei der Inszenierung den Bezug zum geistlichen Laienspiel zu wahren, wie man ihn weiterhin vor allem im ebenfalls katholischen Oberammergau pflegt.242 So bot man 2002 eine Neuinszenierung des Stücks durch den Oberammer239 Die ›klassische Literatur‹ moderner Kulturen erfüllt auf diese Weise jene Funktionen, die der kulturstiftende ›Kanon‹ in den von Jan Assmann untersuchten frühen Hochkulturen erfüllte (vgl. Assmann, J. 1992, S. 87–129). 240 Bunte 2004. 241 Vgl. Schlaffer 2002, S. 135–137. 242 Vgl. Hofmannsthals Aufsatz »Festspiele in Salzburg« von 1921 zur bayerisch-österreichischen Volksspieltradition (Hofmannsthal 1979–1980, Bd. 9, S. 264–268). Zu Hofmannsthals Erneuerung des katholischen Dramas vgl. Beniston 1998.
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gauer Regisseur Christian Stückl, dessen Großvater und Vater bei den dortigen Spielen mitwirkten und der »schon die Oberammergauer Passionsspiele sanft, aber entschieden in die Gegenwart geführt« hatte.243 Diese Zeitmetaphorik aus einem Kommentar der Presse honoriert ein Traditionsverständnis, das nicht den Bruch mit dem Vergangenen sucht, sondern die Kontinuität. Die Vielschichtigkeit des Aktualisierungsprozesses geht aus einem Kommentar Stückls hervor, wenn er einerseits die Wirkung der ursprünglichen »Botschaft« wahren will, andererseits den Originator der Botschaft nur umschreibend durch eine abstrakt binäre Metapher andeutet: »Ich habe beim Arbeiten an diesem Stück die Sorge, dass es irgendwann ›umknickt‹, dass die Leute, die unten sitzen, dem Teufel mehr Recht geben als dem Anderen, und dass irgendwann die eigentliche Botschaft das Publikum nicht mehr erreicht.«244 Der Regisseur befasst sich hier aus spezifisch christlich-moralischer Perspektive mit der Publikumswirkung des Stoffes und versteht es als seine Aufgabe, durch die Inszenierung den ›Weg‹ der christlichen »Botschaft« im Moment der Aufführung sicherzustellen. Dass dieses moralische Ziel dem Erfolg auch in der Gegenwart keineswegs abträglich sein muss, zeigte Stückls Besetzung der Rolle von Jedermanns Buhlschaft mit Veronica Ferres, die nicht nur den Ruf einer guten Schauspielerin mitbrachte, sondern vor allem die Bekanntheit als »Superweib des deutschen Films, Sexbombe, Busenwunder«.245 Die Besetzung mit der personifizierten weiblichen Sexualität entsprach den Vorgaben des geistlichen Spiels, das die weltliche Versuchung möglichst lebhaft vor Augen zu stellen sucht, und erzeugte zugleich einen starken Medieneffekt, der die modernen Mittel der Kommunikation für das Stück nutzbar machte. Wie sich die Wirkung dieses modernen dramatischen Ereignisses zur Wirkung des spätmittelalterlichen Spiels verhält, ließe sich allenfalls mit einem kulturanthropologischen Ansatz untersuchen. Immerhin ist es bemerkenswert, dass sich das spätmittelalterliche Dramen-Konzept in »hollywoodkompatibler Form«246 als »unverwüstliches Spektakel« behauptet;247 es ist demnach das populäre Pendant zum ›zeitlosen Klassiker‹. Das Phänomen Jedermann lässt darauf schließen, dass »Ritus und Fest als primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses«248 nicht nur für vorschriftliche Kulturen bestimmend sind, sondern neben und mit der Schrift auch in der Gegenwart fortwirken. Die identitätsstiftende Macht von Ritualen wurde in der deutschen Literatur wiederholt auch unter Rückgriff auf die pagane Tradition erprobt, 243 244 245 246 247 248
Kulturzeit 2002. Stückl 2002, S. 28. Kulturzeit 2002. Michalzik 2002. Kulturzeit 2002. Assmann, J. 1992, S. 56.
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wobei Tacitus’ Germania, die humanistische Barbarentopik, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende Bardenkult und die Erschließung mittelalterlicher Literatur in der Romantik einen reichen Fundus bereitstellten. Wagner schuf auf dieser Basis ein theatralisches Werk, das in der eigens konstruierten Kultstätte Bayreuth seine Apotheose erfuhr und dort weiterhin eine enorme Anziehungskraft ausübt. Die stimulierende Wirkung, die seine Metapher des ›Gesamtkunstwerks‹ auf nachfolgende Künstler aller Disziplinen ausübte, beruht auf der Vorstellung eines Werkes, das die Künste ohne vorgegebene Grenzen und Hierarchien zueinander in Bezug bringt und ihre Wirkung im Moment des performativen Ereignisses kulminieren lässt. Das politische Potenzial einer solchen Kunst erkannten die Nationalsozialisten, die mit dem ›Thing-Spiel‹ den nationalen Geist zu festigen suchten.249 Gefeiert wurde damit zugleich die Stätte der Aufführung, die im Kontext der ›Blut-und-Boden‹-Ideologie besondere Signifikanz erhielt. Mittels der identitätsstiftenden Kraft des emotional gesteigerten Wortes wurde dem Publikum die Bedeutung der eigenen Geschichte bewusst gemacht sowie auch die Bedeutung des historischen Ortes, den es für nachfolgende Generationen zu bewahren galt. Durch die Möglichkeit der direkten Kommunikation mit einem versammelten Publikum hat das Theater ein besonderes didaktisches Moment, das im geistlichen Spiel – so im theaterhistorisch bedeutsamen Jesuitendrama – für die Vermittlung der christlichen Lehre genutzt wurde und das auch im modernen Drama poetologisch wirksam blieb, so wenn Lessing fordert, das Theater solle »die Schule der moralischen Welt« sein,250 und Schiller es als »moralische Anstalt« bezeichnet.251 In diesen Metaphern manifestiert sich die Bedeutung der direkten Kommunikation mit dem versammelten Publikum in einem Raum, der spezifisch für die Vermittlung einer Lehre oder Botschaft konzipiert ist. Im Vordergrund steht hier das Theater als Institution, ein Gedanke, der in dem Streben nach einem ›Nationaltheater‹ kulturnationale Bedeutung erhielt. In eine entgegengesetzte Richtung führen Brechts um 1930 verfasste »pädagogische Versuche«: Er entwickelt seine »Lehrstücke« »abseits des Theaters, das durch den Zwang, Abendunterhaltung zu verkaufen, allzu unbewegliche Grenzen hatte«.252 Die Lehrstücke stellen den Versuch dar, 249 Vgl. Stommer 1985, der das Thing-Spiel als ›Inszenierung‹ und die Thingstätten als ›Architektur‹ der Volksgemeinschaft erörtert. S.a. Niven 2000 zum Scheitern der Bewegung. 250 Lessing 1985 ff., Bd. 6, S. 192 (Hamburgische Dramaturgie, 2. Stück). 251 »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet«, Titel der revidierten Version des Aufsatzes »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?« (vgl. Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 1247). 252 Brecht, B. 1972, S. 249 (Text für den Aufsatz »Das Deutsche Theater der zwanziger Jahre«). Zum Folgenden vgl. auch die Kommentare des Herausgebers Manfred Nössig zu den Lehrstücken in Brecht 1988–2000, Bd. 3, Stücke 3.
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ein radikal auf seinen Lehrwert fokussiertes Drama zu entwickeln. Statt wie beispielsweise in seiner Dreigroschenoper die Unterhaltung pädagogisch zu nutzen, signalisert Brecht hier mit der Grenzmetaphorik einen radikalen Gegensatz zum kommerziellen Theater. Die gesuchte Entgrenzung manifestiert sich physisch in der Verlegung des Dramas in die Räume des angesprochenen Publikums, darstellerisch in der Involvierung des Publikums als Schauspieler und strukturell in der vorgesehenen Interaktion zwischen dem dramatischen Geschehen und der Diskussion durch die Teilnehmenden. Angestrebt wird nicht ein stabiler Text, sondern ein variables Rollenspiel, das sich an die jeweilige Aufführungssituation anpassen lässt und aufgrund von Reaktionen Mitwirkender abgewandelt werden kann. So wurde die in Schulen inszenierte »Schuloper« Der Jasager aufgrund von Diskussionen mit Schülern um die Version Der Neinsager ergänzt253 und auf diese Weise als dialektischer Prozess erkennbar. Die Maßnahme ist Brecht zufolge »so angelegt, daß man jederzeit Änderungen vornehmen« kann und es möglich ist, »Teile hinein- oder herauszumontieren«;254 auch können »ganze szenen frei eingefügt werden«.255 Die Handwerksmetaphorik macht das Stück als veränderbares Konstrukt vorstellbar, dessen Komponenten wie mechanische Teile ausgewechselt und ergänzt werden können. Die von Stefan Zweig vorgesehene Mitwirkung des Publikums am Gedicht ist hier in den fortlaufenden Bearbeitungsprozess einbezogen: Anlässlich der Uraufführung der Maßnahme lag dem Programmheft ein Fragebogen bei, der die Zuschauer zum »politischen Lehrwert« und zu etwaigen »politischen Einwänden« befragte;256 Zeitzeugen zufolge berücksichtigten Brecht und Eisler die Reaktionen bei der folgenden Bearbeitung des Stücks.257 Zugleich jedoch wird der ›innige Kontakt‹ zwischen Dichter und Publikum, den Zweig anstrebt, in dieser Form des Dramas zum politischen ›Einfluss‹, den der Dichter als Repräsentant der ›Gesellschaft‹ auf die Darstellenden ausübt: es liegt dem lehrstück die erwartung zugrunde, daß der spielende durch die durchführung bestimmter handlungsweisen, einnahme bestimmter haltungen, wiedergabe bestimmter reden und so weiter gesellschaftlich beeinflußt werden kann.258
Brechts Metapher von der ›Beeinflussung‹ des politisch weniger gebildeten Darstellers ist dem didaktischen Impuls Schillers verwandt, der mittels der Schaubühne die gesamte Bevölkerung zu bilden sucht, da »von dem den253 Brecht, B. 1988–2000, Bd. 3, S. 47–72 und 420–430 (Anm. d. Hg.) (Der Jasager; Der Jasager. Der Neinsager). S.a. die Materialien in Brecht 1966. 254 Brecht, B. 1972, S. 238 (Zitat eines Zeitzeugen, der Brechts Aussage in einer Diskussion eine Woche nach der Uraufführung zitiert). 255 Ebd., S. 252 (Zur Theorie des Lehrstücks). 256 Ebd., S. 237 f. (vermutlich Manuskript für den Fragebogen). 257 Ebd., S. 238 und 342 (Berichte von Zeitzeugen). 258 Ebd., S. 251 (Zur Theorie des Lehrstücks).
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kenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt« und dem Volk »richtigere Begriffe« vermittelt werden.259 Brechts poetologisches Konzept ist jedoch weit stärker auf die Teilnehmenden und den Vorgang des Lernens fokussiert: »Die Vorführenden […] haben die Aufgabe, lernend zu lehren.«260 Im Zentrum dieser prozessualen Poetik steht nicht wie bei Zweig der Dichter, sondern der Darsteller; und die anzusprechende Masse ist hier nicht eine allgemeine, spontan mit Herz und Leidenschaft antwortende Menschenmenge, sondern beispielsweise in der Maßnahme spezifisch die halbe Million Arbeitersänger Deutschlands, die politisch gebildet werden sollen. Sie haben dann die Aufgabe, das Gelernte über die zeitlichen Grenzen des Stückes und die räumlichen Grenzen des Vorführungsortes hinauszutragen, um es für die ganze Gesellschaft fruchtbar zu machen. Brechts dramatisches Bildungsmodell ist tendenziell weniger ›vertikal‹ angelegt als Schillers; es geht ihm in den Lehrstücken darum, mit minimalen dramatischen Mitteln einen Kontext zu schaffen, in dem sich Bildung gewissermaßen von selbst als zwischenmenschlicher Prozess entfaltet. Die Auseinandersetzung mit Brechts Dramenpoetik wird vor allem in den sechziger Jahren zu einem bedeutenden Antrieb für die Reflexion über das Theater als Ort. Tankred Dorst erklärt die Bühne zum »absoluten Ort« und das Theater zu einer »Sache für wenige«.261 Peter Weiss dagegen entgrenzt es: Er erklärt 1968 in der Zeitschrift Theater heute das dokumentarische Theater zum »Bestandteil des öffentlichen Lebens, wie es uns durch die Massenmedien nahe gebracht wird,« und erprobt Methoden des dramatischen Eingriffs in die Realität des Publikums.262 Dabei unterscheidet er jedoch zwischen der »Kundgebung auf offener Straße« und dem dokumentarischen Theater, bei dem er »eine geschlossene Aufführung«, »einen bestimmten Zeitpunkt« und »einen begrenzten Raum« voraussetzt.263 Einen Monat später führt Peter Handke diesen Ansatz in derselben Zeitschreift mit seinem Beitrag »Straßentheater und Theatertheater« weiter: Er lehnt nun den geschlossenen »Kunstraum« ab, um das engagierte Theater in die offene Außenwelt zu verlegen.264 Maßstab ist der platonische Wahrheitsbegriff, Ziel die Diskreditierung des etablierten Theaters, das als Welt des Spiels und des Scheins keine gesellschaftsverändernde Funktion erfüllen kann:
259 Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 197 (Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?); s. o., S. 423 f. 260 Brecht, B. 1972, S. 242 (Brecht, Hanns Eisler u. Slatan Dudow: Anmerkungen zur »Maßnahme«). 261 Dorst 1962, S. 113. 262 Weiss 1968, S. 33 (Abschnitt 2). Der Aufsatz erschien im März 1968. 263 Ebd. (Abschnitt 5). 264 Handke 1968, S. 7. Der Aufsatz erschien im April 1968.
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Wann wird man die Verlogenheit, die ekelhafte Unwahrheit von Ernsthaftigkeiten in Spielräumen endlich erkennen?? Das ist nicht eine ästhetische Frage, sondern eine Wahrheitsfrage, also doch eine ästhetische Frage? […] Das engagierte Theater findet heute nicht in Theaterräumen statt (nicht in diesen verfälschenden, alle Wörter und Bewegungen entleerenden Kunsträumen), sondern zum Beispiel in Hörsälen, wenn einem Professor das Mikrofon weggenommen wird, wenn Professoren durch eingeschlagene Türen blinzeln, wenn von Galerien Flugblätter auf Versammelte flattern […].265
Der ›Raum‹ des Theaters wird hier nicht mehr kommerziell diskreditiert wie bei Brecht, sondern moralisch. Die Poetik des Engagements bestimmte das Theater als »Kunstraum« und »Spielraum«; mit der Metapher der ›Entleerung‹ spricht Handke ihm jedoch den von Brecht beanspruchten Wirklichkeitsbezug ab. Handke sucht Brechts Drama unter Ausblendung von dessen Lehrstücken – die ja nicht für das herkömmliche Theater konzipiert sind – als grundsätzlich aristotelisch zu entlarven, um das wahrhaft »engagierte Theater« als radikalere Widerlegung der platonischen Theorie von der Scheinhaftigkeit der Dichtung zu präsentieren: Vorausgesetzt wird die von Platon geforderte reine moralische Bildungsfunktion der Dichtung, die daher besonders im »Hörsaal« verwirklicht werden kann. Dem Vorwurf von der Scheinhaftigkeit der Literatur begegnet Handke insbesondere damit, dass er das Theater in die »Welt« verlegt. Dies läuft auf eine Umkehrung der üblichen dramatischen Verhältnisse hinaus, die an den barocken ›Sein-undSchein‹-Topos erinnert: Die Welt wird nun zum »Nachbild des Theaters«.266 Alte Topoi sind hier verbunden und transponiert, um ein Theater zu schaffen, das »unmittelbar wirksam« sein soll und durch das »die Wirklichkeit ein einziger Spielraum« wird.267 Erreicht werden soll dies vor allem durch die Substitution neuer Orte: »Es gibt jetzt das Straßentheater, das Hörsaaltheater, das Kirchentheater (wirksamer als 1000 Messen), das Kaufhaustheater, etc.«268 Die sprachlich vollzogene Kopplung des Theaters mit Orten der Alltagswirklichkeit verschmilzt Sein und Schein im Ereignis. Elimiert wird damit jedoch die Differenz, aus der sich der Sinn des Spiels konstituiert. Im Happening ist die absolute räumliche und zeitliche Koinzidenz von Dichter, Schauspieler, Werk und Publikum erreicht; das Theater wird rein prozessual. Es stellt daher einen poetologisch interessanten Grenzwert der performativen Dichtung dar. Die Praxis in den sechziger Jahren blieb allerdings hinter dem theoretischen Anspruch zurück; der Effekt dieses mithilfe des Publikums »im Augenblick neu Werdenden«269 lief oft für die Zu265 266 267 268 269
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zweig 1909, Sp. 1701.
6. Dichterbünde
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schauer beziehungsweise Teilnehmenden auf »Jux und Langeweile« hinaus.270 Dies lässt darauf schließen, dass die künstlich konstruierte Sensation, die ohne künstlerisch gestaltete Handlung und Sprache mit alltäglichen Mitteln im alltäglichen Raum inszeniert wird, nicht ausreicht, um einen »glühenden Kontakt mit der Masse«271 zu schaffen oder auch nur als Dichtung erkennbar zu sein; und ohne Sinnstiftung wird bei allem ›Engagement‹ auch ein politischer Sinn nicht erkennbar. Für die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Performanz unerlässlich ist offenbar ein ›Kunstraum‹, der durch den physischen Ort, eine besondere Sprache und/oder die von der Handlung aktivierte Imagination von der Wirklichkeit abgegrenzt ist. Denn wenn die Wirklichkeit nicht nur metaphorisch, sondern wirklich zum Theater wird, verliert das performative Ereignis seine Bedeutungskraft.
6. Dichterbünde Versteht man Dichtung primär als Kommunikation, so sind die einsamen Dichter, die wie Homer ohne festen Wohnsitz umherziehen, die sich am ›abgeschiedenen Ort‹ verwirklichen oder die in einem Dachstübchen vor sich hin schreiben,272 eher Sonderfälle. Mindestens ebenso charakteristisch für das Dichtertum ist die gesellige Erfahrung von Dichtung, die nicht nur im Prozess der Rezeption, sondern auch im Prozess der Produktion eine bedeutende Funktion erfüllen kann. Die Dichtung als gemeinschaftliches Ereignis vermag auf vielererlei Weise gruppenstiftend zu wirken, und die über das Interesse an der Dichtung gebildete Gemeinschaft bietet dem Dichter einen unmittelbaren Kontext, in dem das Werk angeregt, diskutiert und rezipiert werden kann. Die Vorstellung von der Dichtung als »einsames Handwerk«273 täuscht nicht nur über die Bedeutung gemeinschaftlicher Identität hinweg – die beispielsweise in der Vorstellung von einer ›Generation‹ prägend ist –, sondern auch über die Bedeutung dichterischer Gruppen, die von kleinen, ephemeren Vereinigungen bis hin zu großen, organisierten Verbänden reichen. So identifiziert Jost Hermand in Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club allein im deutschen Sprachraum über 100 literarische Zusammenschlüsse, die »klare ideologische Leitziele entwickelten und zugleich einen ausgeprägten Sinn für Solidarität oder zumindest innere 270 Dies ist das gegenüber Wolf Vostell geäußerte Fazit von Ulrich Brecht nach seiner 1964 erfolgten Veranstaltung von Vostells Happening »In Ulm, um Ulm und um Ulm herum« (Brecht, U. 1974, S. 102). 271 Zweig 1909, Sp. 1701. 272 Vgl. Platon 1982, S. 439 (10. Buch; 600d-e); Horaz 1984, S. 22 f. (V. 295–302); Hoffmann 1985 ff., Bd. 2/1, S. 321 (Der goldne Topf, 12. Vigilie). 273 Krüger 2003, S. 149; s. u., S. 649.
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Konsistenz bewiesen«.274 Dabei kann das Ziel einer Gruppe von der gemeinschaftlichen Entwicklung des eigenen Dichtens oder der Durchsetzung professioneller Interessen über die Sprach-, Literatur- und Kulturstiftung bis hin zum politischen Programm reichen. Metaphern dienen der Festigung dieser ›inneren‹ Konsistenz und Solidarität, der Abgrenzung nach ›außen‹ und der effektiven Projektion poetologischer Ziele in die kulturelle Umwelt. Sie entstehen im Zusammenspiel mit den Praktiken der jeweiligen Gruppe und haben die Funktion, diese Praktiken sinnstiftend zu artikulieren und zu tradieren. Es kann hier nur darum gehen, beispielhaft einige Metaphern zu beleuchten, die der Gruppenbildung dienen; eine Studie der für die jeweils besprochenen Gruppen typischen Metaphern müsste sehr viel weiter ins Detail gehen, als es hier möglich ist. Bei kleineren Dichterbünden basiert der Zusammenhalt zumeist auf persönlicher Freundschaft und gemeinsamen Interessen, beispielsweise bei den Bremer Beiträgern, dem Göttinger Hain oder den studentischen Gruppen der Frühromantik. Eine bedeutende Funktion erfüllt häufig der Ort der Zusammenkunft, denn typischerweise handelt es sich bei Dichterbünden um Gemeinschaften, die sich treffen, statt nur schriftlich zu kommunizieren; auch ein Land, eine Stadt oder ein Stadtteil kann eine identitätsstiftende Funktion erfüllen, die häufig schon mit dem Namen signalisiert wird, so bei der Wiener Gruppe, der Sächsischen Dichterschule oder dem Prenzlauer Berg. Auch die zeitliche Dimension wird identitätsstiftend eingesetzt, beispielsweise mit einem festgelegten spezifischen Gründungsmoment und einer gruppeneigenen Geschichte. Eine Person oder mehrere können als Gründungsinstanzen beziehungsweise Orientierungs- und Leitfiguren dienen oder auch als Feindbilder – wie Wieland im Falle des Göttinger Hain.275 Darüber hinaus bestimmen oft gewisse Rituale die Zusammenkünfte, wobei der Vortrag oder die Diskussion von Dichtung im Zentrum steht. Wichtig sind häufig gruppeneigene Symbole, vor allem aber die schriftliche Festigung der Tradition durch die Übertragung von Dokumen274 Hermand 1998, S. 4 f. In einem Kontext »akademischen Desengagements« versteht Hermand seine Studie als Beitrag zu einer »nutzversprechenden Sinnstiftung« für die Germanistik (ebd., S. 4). Eingeordnet werden die Dichterbünde in die narrative Kontinuität eines »allmählich erstarkenden bürgerlichen Selbstbewußtseins«, das als »Hauptschubkraft« gewertet wird (ebd., S. 5), und vorrangig geht es Hermand um die Bestimmung des gesellschaftlichen Engagements, das oft genug die Mangelhaftigkeit der Bünde zutage fördert: »Zugegeben, viele dieser Bünde haben falschen Zwecken gedient, sich korrumpieren lassen, sich in ihren Wirkungschancen getäuscht oder sich mit einem elitären Modernismus ohne gesellschaftliche Folgerungen begnügt« (ebd., S. 11). Diese Priorisierung gesellschaftspolitischer Interessen ergibt ein so vereinfachtes wie verzerrtes Bild, denn der gemeinsame Nenner von Dichterbünden ist das literarische, nicht das gesellschaftspolitische Interesse. Dies schmälert allerdings nicht das Verdienst dieser Studie zu solchen Vereinigungen. Vgl. auch zum 18. Jahrhundert Peter 1999. 275 Vgl. Lüchow 1995.
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tationsformen beispielsweise aus der juristischen oder historiographischen Tradition, so in Gesetzen, Chroniken oder Regelwerken; eine ähnliche Funktion können Anthologien erfüllen, indem sie Muster vorgeben, die von der Gruppe sanktioniert sind. Dass allerdings auch ganz anders konstituierte Gemeinschaften den Status einer ›Gruppe‹ erhalten können, zeigt das Junge Deutschland: Hier waren vor allem ›äußere‹ Instanzen für den Gruppenstatus maßgebend, so das an die deutschen Regierungen gerichtete Dekret der Bundesversammlung vom 10.12.1835, mittels ihrer »Straf- und Polizei-Gesetze« vorzugehen gegen die Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter der Schriften aus der unter der Bezeichnung »das junge Deutschland« oder »die junge Literatur« bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinr. Heine, Carl Gutzkow, Heinr. Laube, Ludolph Wienbarg und Theodor Mundt gehören.276
Wenn auch die genannten Schriftsteller durch eine mehr oder weniger gemeinsame Zielsetzung verbunden waren und allesamt der ›jungen Generation‹ angehörten, so waren sie doch keine »Schule« im Sinne einer kohärenten, an einem gemeinsam anerkannten Meister oder einem gemeinsam verfassten Programm sich orientierenden Gruppe; Hermands Kriterium einer »inneren Konsistenz« ist hier nicht erfüllt.277 Deutlich wird damit letztlich die Unmöglichkeit, literarische Gruppen zahlenmäßig zu erfassen oder auch begrifflich einzugrenzen: Ihre Möglichkeiten der Konstitution umfassen all die vielfältigen Möglichkeiten, die dem Menschen als sozialem Wesen zur Verfügung stehen. So bildet beispielsweise in der Frühromantik die familiäre Beziehung zwischen den Gebrüdern Schlegel gewissermaßen das Samenkorn einer Gruppe. Oft auch bildet die jeweilige Gruppe nur einen Kontext, in dem die beteiligten Dichter sich engagieren. Zudem halten sich Gruppen nicht immer an nationale und sprachliche Grenzen. Beispiel ist die internationale Gruppe Oulipo, die – wenn auch mit humorvoller Ironie – selbst die Grenze zwischen Leben und Tod nur bedingt akzeptiert: »Aufgrund ihres Ablebens gelten einige Mitglieder bei Vollversammlungen als entschuldigt.«278 Die wohl bedeutendste ›Gruppe‹ der deutschen Literaturgeschichte sind die Meistersinger. Ihre über Jahrhunderte hinweg gepflegte Tradition gibt einen Einblick in ›Verbindungs‹-Mechanismen dichterischer Gruppenstiftung, die in verschiedenen Konstellationen auch für andere Gruppen kennzeichnend sind. Ihr Selbstverständnis beziehen sie aus der Tradition der Sangspruchdichter und insbesondere der zunftmäßigen Organisation der Handwerke, was sich in der Übertragung des ›Meister‹-Status auf den 276 Bundesversammlung 1835, S. 1171. Zitiert nach dem dankenswerterweise vom Bundesarchiv zur Verfügung gestellten Text. 277 Zur Problematik einer Designation des Jungen Deutschland als ›Gruppe‹ vgl. Hermand 1998, S. 106 f. 278 Oulipo 1996, S. 137.
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Bereich der Dichtung manifestiert. Übertragen werden aber auch Praktiken aus der christlichen Tradition (›Taufe‹ der Sänger279) und aus der zu jener Zeit unter Handwerkern beliebten Fechtkunst; eine Affinität ergibt sich hier vor allem in der Wettstreitkultur.280 Organisiert waren die Meistersinger jeweils in einer genossenschaftlichen ›Singschule‹, die einen institutionellen Rahmen für die Wahrung des detailreichen Regelwerks und seine Vermittlung an die nachfolgende Generation bot und die im Ereignis des Wettsingens – dem ›Hauptsingen‹ in der Kirche und ›Zechsingen‹ im Wirtshaus – ihren gemeinschaftlichen Mittelpunkt hatte. Im Zentrum der ebenfalls mit ›Singschule‹ bezeichneten Singveranstaltung stand der ›Singstuhl‹ und das mit Vorhängen versehene ›Gemerk‹, in dem sich die richtenden ›Merker‹ befanden und nach den in der ›Tabulatur‹ festgehaltenen Kunstregeln das Vorgetragene bewerteten.281 Grundlegende Bedeutung hatten der Ursprungsmythos und die Vorbilder, denn darüber legitimierten die Meistersinger ihre Herkunft, ihren gesellschaftlichen Status, ihre Gelehrsamkeit sowie auch die Formen und Praktiken, deren Pflege als Grundstock und Maßstab der Kunst diente. Zeitloses geistliches Vorbild ist König David, für die Form des Meistersangs – insbesondere die ›Töne‹ – sind jedoch vor allem die zwölf ›Altmeister‹ maßgebend (Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide u. a.), die eine Verbindung zu den Minnesängern und Sangspruchdichtern herstellen und sowohl Vorbilder als auch eine kontinuierliche Tradition liefern. Adam Puschman betont 1571 in seinem Gründlichen Bericht des deutschen Meistergesangs die von den Altmeistern sich herleitende hohe gesellschaftliche Stellung des Meistersangs: »Vnd ist diese Kunst sonderlich lieb vnd werd zu halten / darumb / Das sie anfangs / Adelicher hoher ankunfft ist / Als die erstlich von Fürtrefflichen hohen Leuten / erfunden worden.«282 In den zwölf Vorbildern – einer an die zwölf Jünger Jesu gemahnenden Zahl – wirken die Werte der Gruppe in Form einer Autorität fort, die am Anfang der ›Schule‹ in Erinnerung gerufen wird, wie ein von Puschman angeführtes Lied verdeutlicht, das in komprimierter Form die in seiner Poetik ausgeführte Lehre darlegt: Ein Schulkunst / vorher zu singen wenn man Schul helt / darinnen angezeigt der vrsprung dieser Kunst / wer / wie / wenn / vnd warumb sie erfunden. Mit angeheffte Schulregister oder Straffartickel. Ein gefünfft Lied in den 4. Gekrönten Haupt-Thönen der 4. Gekrönten Meister.283
279 280 281 282 283
»Zeremonie zur Treueverpflichtung des Singers gegenüber dem MS« (Nagel 1962, S. 14). Vgl. Puschman 1984, Bd. 2, Fassung 1596, S. 40. S.a. Taylor 1984, S. 100 f. Eine ausführliche Erläuterung der Begriffe sowie ihrer Tradition bietet Plate 1967. Puschman 1984, Bd. 2, Fassung 1571, S. A 3r. Ebd., S. 18v -21r, hier S. 18v.
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Besungen werden dort zunächst der »Vorfahrer« David und die zwölf »Meister« sowie deren (fiktive und anachronistische) Auszeichnung durch Kaiser Otto I., der im Jahre 962 ihnen und »jrn nachkomden allsam / | Ein Güldin Kron zum Schulkleinod« verlieh;284 dieses ›Kleinod‹ wird den Nachkommen weiterhin im Wettsingen zugesprochen. Die Krone gleicht dem »Lorberkrantz« der »Alten | Poeten […] | In Græcia«,285 wodurch dem biblischen Ursprung eine antike Legitimation an die Seite gestellt wird. Puschman begründet die ›Erfindung‹ des Meistersangs mit der damaligen Mangelhaftigkeit des Singens, dem abzuhelfen auch den jetzigen Meistern obliege angesichts des »unkünstlichen« Gesangs »In Gassen / Kirchen vnd Wirßhauß«.286 Wie schon bei Otfrid wird die Kunst der eigenen Gruppe durch qualitative Abgrenzung vom Umfeld aufgewertet, wobei hier die Qualität der Kunst und nicht die Moral das Unterscheidungskriterium darstellt. Der Ursprungsmythos verknüpft auf vielfältigste Weise die gegenwärtige Kunst mit der weltlichen und geistlichen Tradition: Verbindungsmetaphorik dient so der umfassenden künstlerischen Legitimation. Indem das Lied zu Anfang des Wettsingens in Inhalt und Form die Werte der Gruppe bestätigt, bindet es die gegenwärtigen Sänger durch den ›Vergleich‹ mit den Altmeistern in die ehrwürdige Tradition ein: Aber wer vermeidet die Straffen all / Den vergleichet man gar billich / Den ersten zwölff Meistern weis rein und pur / Die erstes mal erfunden doch / Meistergesang nach ihr Tabulatur.287
Der Sieger darf dann beim nächsten Wettsingen im Gemerk sitzen,288 wodurch die ungebrochene Tradierung des Meistersangs gesichert ist. Zentral ist die Frage, wer ›erfinden‹ darf: Besonders darauf beruhen die Spannungen zwischen Tradition und Erneuerung, der Gemeinschaft und dem Einzelnen. Bereits Hans Folz führte 1480 in Nürnberg als entscheidende Reform ein, dass der ›Meister‹ sich durch einen neuen Ton – also »eine poetisch-kompositorische Originalschöpfung« – auszuzeichnen hatte.289 Das zentrale Anliegen Puschmans in seinem Gründlichen Bericht ist es demgegenüber, den gemeinschaftlichen Bestand zu sichern, die Meistersinger auf die Ursprünge zu verpflichten und die etablierte Kunst vor dem Verfall zu bewahren.290 So bezeichnet er in einer Widmung aus dem Jahre
284 285 286 287 288 289 290
Ebd., S. 18v -19r u. 20r. Ebd., S. 20v. Ebd. Ebd., S. 20r. Ebd., S. 16v. Nagel 1962, S. 3. Puschman 1984, Bd. 2, Fassung 1571, S. 17r-v.
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1588 die Bestrebungen Einzelner als Gefahr, die er durch regelbezogene und moralische Verurteilung aus der Kunst ausgrenzt. Als zentrale Metapher benutzt er hier das »Fundament«, das all jene Faktoren vereinigt, welche die Meistersinger an die ›gute‹, ›alte‹, ›richtige‹, gemeinschaftlich anerkannte Kunst binden: Den das beste und gröste Fundament ist, erstlich viel Tone recht und wol lernen vnd singen, den inn den Tönen (sonderlich in Alten vnd nicht in Neuen) mus man die ard vnd eygentschaft der Zal Mahs vnd Gebende291, der Meister Singer kunst erlernen, Nachdem sich alle rechte Componisten richten müssen, in dieser alten Singekunst, damitt sie ihr geticht richtig an tag geben ins Gemerck recht zu singen, Den solcher gestalt kan Man zu rechtem verstande vnd grunde dieser alten deutschen Poeterey kumen, und nicht aus eygenem guttduncken vnd eygensinnigem Imaginiren falsche böse lieder zu tichten. Drumb kumpt hirinnen das rechte Fundament (wie vorgemelt) von der alten Meister getichten Tonen, Derwegen haben sich die furnempsten Singer beflissen, Die alten furnempsten töne zu lernen, vnd daraus das fundament dieser Kunst erkennett.292
Auffällig ist die insistierende Nennung des ›Rechten‹ und ›Richtigen‹: Etabliert wird mit Puschmans Schrift eine verbindliche Norm, die der künftigen Entfaltung der Kunst zugleich als »Fundament« und als ›Gesetz‹ dienen soll. Puschmans Werk erfüllt somit für die Meistersinger jene Funktionen, die der Schriftkultur für Volksgruppen zukommen: Die Kunst wird aus der vergänglichen Erinnerung Einzelner und dem allein auf Wiederholung beruhenden Ritual in eine feste, dauerhafte Form überführt, die auch die verschiedenen Meistersang-Gruppen über geographische Entfernungen hinweg zu verbinden vermag. Seine Poetik festigt die »konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbilds, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt«.293 Zu verfolgen ist an den Praktiken der Meistersinger die Bedeutung des Wettstreits für die Dichtung.294 Indem dieser den Einzelnen zu Höchstleistungen anspornt, fördert er die Qualität der Gemeinschaftsleistung; anders gesehen macht er das Bedürfnis des Einzelnen nach Selbstprofilierung für die Bestrebungen der Gemeinschaft fruchtbar. Die Spannung des Wettstreits gibt der potenziellen Spannung zwischen Individuum und Gemein291 Zahl, Maß und Gebände, wobei das Gebände die Art bezeichnet, »wie die einzelnen Verse durch Reime verknüpft werden« (Plate 1967, S. 241). 292 Puschman 1984, Bd. 2, Fassung 1584 [Anhang], S. 96 (Dedikation an Wolffgang Herold, datiert »1. Janu: Anno 88«). 293 Assmann, J. 1992, S. 16 f. 294 Plate bemerkt, dass die »Herausforderungen zum Singwettstreit« als Liedergattung »in jener Zeit so zahlreich sind, dass sie das Gebiet der Poesie geradezu überschwemmen« (Plate 1967, S. 236 f.). Er verweist auf die Herleitung der Gattung aus dem Mittelalter sowie auf Parallelen bei den Provenzalen, in den Volksliedern der Zeit, aber auch in verwandten germanischen Literaturen (ebd.).
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schaft einen legitimen Rahmen. Man wird diesem Phänomen nicht gerecht, wenn man wie Hermand davon ausgeht, dass es grundsätzlich der Gruppenbildung entgegenwirkt. So versteht er im Kontext des Hochmittelalters »das Gesetz des Wettstreits« als Ausdruck der »ungesicherten ökonomischen und sozialen Situation« der fahrenden Sänger,295 begründet dagegen die Praxis des Wettsingens der Meistersinger mit der »marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung […], in der bereits das Gesetz von Angebot und Nachfrage und damit ein unübersehbares Konkurrenzprinzip herrschte«, das dem gruppenorientierten Denken zuwiderlaufe: »Während also die Meistersinger einerseits […] noch genossenschaftlich dachten […], huldigten sie andererseits beim ›Hauptsingen‹ stets der Vorstellung eines unerbittlichen Wettstreits.«296 Die vermeintlichen Widersprüche entstehen aus Hermands linearem Geschichtsverständnis und seiner mangelnden Berücksichtigung der performativen und agonalen Aspekte der Dichtung. Der Wettstreit – auch in Form des dichterischen Wettstreits – ist eher als anthropologische Konstante zu sehen, wenn auch nicht als einzige Möglichkeit des Zusammenwirkens von Individuum und Gemeinschaft. Das Individuum trägt dabei in gemeinschaftlich geregelter und bewerteter Form seine beste Leistung zur Errungenschaft der Gruppe bei. Bei den Meistersingern konstituiert sich im öffentlichen Ereignis des dichterischen Wettstreits die Gemeinschaft in ihrer intensivsten Form, und in der Performanz des besten Dichters erreicht die für die Legitimation der Gruppe zentrale Kunst ihren Höhepunkt. Zugleich ergibt dieser Vorgang ein unterhaltsames Ereignis, das dem breiteren Publikum die Teilhabe am Leben der Gruppe erlaubt und der Gruppe wiederum eine öffentliche Legitimationsmöglichkeit bietet, indem sie auf diese Weise auch ihrer moralisch-didaktischen Funktion gerecht werden kann. Während für den Meistersang die dichterische Veranstaltung und die Tradierung der performativen Dicht- und Gesangskunst im Vordergrund steht, geht es den höfisch ausgerichteten, gelehrten literarischen Sozietäten des 17. Jahrhunderts vornehmlich um die moralisch untermauerte Pflege der schriftlichen deutschen Sprache im kulturpatriotischen Wettstreit mit anderen Sprachen. Die bedeutendste deutsche Sprachgesellschaft war die Fruchtbringende Gesellschaft, die auf Initiative von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen 1617 in Weimar nach dem Vorbild der Accademia della Crusca gegründet wurde, um die Förderung höfischer Moral mit Sprachpflege und Kulturpolitik zu verbinden. Dokumentiert sind diese Ziele ausführlich von dem Gruppenmitglied Carl Gustav von Hille in Der Teutsche Palmbaum: Das ist / Lobschrift Von der Hochlöblichen / Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang / Satzungen / Vorhaben / Namen / Sprüchen / Gemählen / 295 Hermand 1998, S. 12. 296 Ebd., S. 20 f.
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Schriften und unverwelklichem Tugendruhm.297 Bereits aus dem Titel geht die Bedeutung der schriftlichen Festsetzung hervor, die von dem Buch verkörpert wird, sowie auch die gruppenstiftende Bedeutung der Pflanzenmetaphorik. Die Gesellschaft widmet sich der »Erhalt- und Fortpflantzung aller Adelichen Tugenden […]; so ohne schriftliche Hinterlassung / in welcher die höchste Sprachübung bestehet / leichtlich in die hinfallende Vergessenheit sinken würden«; die Gesellschaft »wird unverwelklich grunen [sic] und grünen / und mit gesamter Handbietung / wider die einreissende Sprachverderbung ritterlich streiten / so lang des Teutsche teutsch / und die Welt Welt seyn wird«.298 Die organische Metaphorik macht eine kontinuierliche Tradition und zugleich eine weitverzweigte Gemeinschaft vorstellbar, wobei das Emblem der ›unverwelklichen‹ indianischen Palme (Kokospalme) den Wert der Schrift als Kulturträger und Voraussetzung für den ewigen Ruhm vermittelt. Die kulturfestigende Kraft der Schriftsprache wird in der verdoppelten Wiederholungsfigur erfahrbar, mit der dem »Teutschen« die Dauerhaftigkeit der »Welt« zugesprochen wird. Die Publikationen der Gesellschaft gestalten den Namen der Gesellschaft in Zusammenwirkung mit dem Palmbaum-Emblem und dessen Motto »Alles zu Nutzen«299 zu einem weitläufigen Metaphernkomplex aus, der die moralischen und kulturpolitischen Bestrebungen der Gesellschaft sowie ihren Anspruch auf Unvergänglichkeit geltend macht. Bereichert um biblische Assoziationen wird die amerikanische Palme programmatisch in den deutschen Kontext verpflanzt, so wie auch die Fruchtbringende Gesellschaft die Genealogie illustrer weltlicher und geistlicher Gesellschaften auf deutschem Boden fortführt – immerhin reicht die Genealogie zurück bis zu der vom »ersten Gesellschaftsstiffter« Gott geschaffenen Gemeinschaft zwischen Adam und Eva.300 Schottel zufolge zeigt die Frucht- und Palmenmetaphorik, wie die Gesellschaft »weit und breit durch Teutschland gepflantzet« werden kann;301 gegen Ende der Kriegswirrnisse weist sie »den Weg […] / wie ein jeder Mitgenosse in diesem eröfnetem grossen Kunstgefilde der Muttersprache / ein fruchttragendes Pfläntzchen / nach seinem Vermögen und Belieben setzen […] könte«.302 Sprachliche und visuelle Bilder interagieren, um dem verheerten deutschsprachigen Territorium die Vorstellung von einer räumlich sich ausbreitenden deutschen Sprachkultur mit einer 297 Hille 1970, S. 5* (Titelblatt). 298 Ebd., S. 56 (Satzungen). Vgl. auch Schottels Ausführungen zur kulturpatriotischen Orientierung der Gesellschaft in seiner Vorrede »An die Hochlöblichste Fruchtbringende Gesellschaft» in seinem »Fruchtbringenden Lustgarten« (Schottel 1967, S. )( iiir-viir) sowie sein detailreiches Titelkupfer. 299 Hille 1970, S. 58 (Satzungen). 300 Vgl. die ausführliche Darstellung der Genealogie in Hille 1970, S. 26–56 (Satzungen); Zitat ebd., S. 27. 301 Schottel 1967, S. )( iiiir. 302 Ebd., S. )( vr.
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fruchtbaren Zukunft gegenüberzustellen. Die metaphernreiche Ausgestaltung ist somit keineswegs entbehrlicher ›Sprachschmuck‹, sondern stimuliert die Imagination, um den Rezipienten für das sprachpolitische Ziel der Gesellschaft empfänglich zu machen. Zum intertextuellen Kunststück wird diese Metaphorik in Harsdörffers Lobgedicht Zu Erklärung des Kupfertitels, in dem er das Frontispiz von Hilles Der Teutsche Palmbaum kommentiert. Das Kupfer zeigt zwischen zwei Palmen ein pantheonartiges, halbrundes Gebäude mit Bildnissen der Leitfiguren der Gesellschaft; in der Mitte steht die personifizierte Fruchtbringende Gesellschaft mit einem Kranz von Kornähren (Fruchtbarkeit), Buch, Helm und Schild (Wort-und-Waffe-Topos) und anderen bedeutungsträchtigen Requisiten:303
Frontispiz in: [Carl Gustav von Hille:] Der Teutsche Palmbaum […]. Nürnberg: Endter 1647
Harsdörffer setzt das Gebäude in einer idyllischen Landschaft in Szene: Der Dichter entdeckt es auf einem Spaziergang am Pegnitzfluss, nachdem er zu einer ganzen Assoziationsreihe von Bibelworten über das Wort ›Frucht‹ inspiriert worden war. Es sind Zitate, die in immer wieder neuen Bildern von Fruchtbarkeit und Dauer die sprachlichen Ziele der Gesellschaft legitimieren und feiern; zugleich bestätigt er damit die Bedeutung der luther-
303 Harsdörffer 1970. Hille 1970, Titelkupfer.
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schen Bibelübersetzung für die Bestrebungen der Gesellschaft.304 Nachdem der Dichter sich der »schönen Gleichnisse« erinnert hat »welche die H. Schrift / von dem Wörtlein Frucht hernimmet«,305 macht er die Beziehung zur Sprache explizit: Solches kan mit Grund gesagt werden […] / von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft / welche untersich gewurtzelt / und übersich Frucht getragen / in dem sie erstlich GOtt Frucht zu bringen / und zu Erhalt- und Handhabung der Teutschen Heldensprache / als der Frucht unsers Mundes gewidmet worden. Das Gedeien der Frucht ist von dem HERRN kommen. An den Früchten merket man / wie des Baumes gewartet ist: also merket man an der Rede / wie das Hertz geschikkt ist. An ihren Früchten sol man sie erkennen: sie werden zur Speise und ihre Blätter zur Artzney dienen.306
Wie der Dichter, der »mit diesen Gedanken spielte«,307 kann auch der Leser die Assoziationskraft des Emblems nutzen. Vorgeführt wird auf exemplarische Weise, wie Harsdörffer – genannt »der Spielende« – im Zeichen des Palmbaums seinen spezifischen Beitrag zum Nutzen der Gemeinschaft leistet. Poetologisch gesehen wird hier eine bedeutende sprachtheoretische Einsicht für die Wirkung der dichterischen Werke der Gesellschaft fruchtbar gemacht: dass sprachliche Metaphern kreative Assoziationen und mentale ›Bilder‹ zu stimulieren vermögen.308 Als Kulmination dient der im Frontispiz konkretisierte, zu erwartende Ruhm. Die bedeutendste »Gesellschaft«, die in der Genealogie im Teutschen Palmbaum aufgeführt wird, ist die von Jesus gegründete: So hat […] der HErr Jesus Christ / die hochheilige Gesellschaft seiner zwölff lieben Jünger […] gestifftet[.] Aus welchem Fruchtbringenden Gnadengarten dann viel seligmachende Tugendfrüchte erwachsen; welches sich nachgehends […] in siebentzig auserwehlte Gesellschaftsjünger fruchtbringend erweitert / und in viel Christliche / und tugendhafte Gesellschaftshertzen / grünend und blüend fortgepflantzet worden; allermassen er ihnen die Gabe mit frembden Zungen zu reden an dem H. Pfingsttag ertheilet / daß durch dieselbe / das Wort des Evangelii fortgepflantzet / und alle Welt durch die Predigt zu der Christlichen Kirchen gesamlet würde.309
Gefeiert wird hier die gruppenstiftende Kraft der Sprache: Wie Pflanzen sich durch die Zeit hindurch und über geographische Räume hinweg fortpflanzen und vermehren können, so vermag eine Leitfigur Werte über gruppenstiftende »auserwählte Gesellschaftsjünger« sprachlich an andere weiter304 Vgl. Hille 1970, S. 9 (Anfang und Stiftung). 305 Harsdörffer 1970, S. 36*. 306 Ebd., S. 37*. In Form von Randglossen finden sich folgende Bibelverweise zu diesem Absatz: »Esa. 37/3 [Apokr.?, KK]. Rom 7/4. Spr. 13/2. 4. Esr. 9/32 [Apokr., KK]. Sir. 27/7. Matth. 12/33. Hesek. 47/12.« 307 Harsdörffer 1970, S. 37*. 308 S.o., Kap. II/6. 309 Hille 1970, S. 27 f.
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zugeben. Das vom Neuen Testament zur Verfügung gestellte Modell der Gemeinschaftsstiftung, in dessen Genealogie Hille die Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft durch den »löblichen Fürst Ludwig zu Anhalt« einordnet,310 findet sich auch in anderen Gruppen der deutschen Literaturgeschichte, zumal es sich auf vielerlei Weise ausgestalten lässt: Je nach Kontext und Zweck kann das unmittelbar wirkende Charisma der Leitfigur oder die vermittelnde Funktion der Jünger, die mündliche Kommunikation oder die Schrift, der physische Kontakt oder die rein geistig erfolgende Übertragung fokussiert werden. Strategisch genutzt wurde das neutestamentliche Modell vor allem vom George-Kreis.311 Deutlich wird die Affinität mit religiöser Gemeinschaftsbildung in der Metapher von der »Sendung Stefan Georges«312 und in dem prozessualen Begriff von der »Gemeindung«, mit dem Stefan Georges ›Jünger‹313 Friedrich Gundolf in seinem Buch George dessen kulturreformatorische Mission darstellt: Die Gestaltung, die Gemeindung und – langsam stufenweise – die Volkwerdung des Ewigen Menschen, dessen letzter Ruf Nietzsche gewesen, und damit das Ende des Fortschritts, die Voll=endung des Gesamtmenschentums, das ist Georges besondere Sende.314
Die Weg- und Stufenmetaphorik macht die Gemeinschaftsbildung als Prozess der Vervollkommnung vorstellbar, der in der größtmöglichen Gruppe überhaupt – dem »Gesamtmenschentum« – sein Ziel erreicht. Ähnlich setzt Friedrich Wolters die Stufenmetapher ein: In dem von George veranlassten und unter seiner Mithilfe verfassten Buch Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 behandelt er 1930 »den Verlauf einer Bewegung von Stufe zu Stufe […], einer Bewegung, die anfangs so klein war, daß ein Atemzug sie hätte wegblasen können, die aber nach einem Halbjahrhundert zu allgemeinster Bedeutung gelangt ist«.315 Die zunächst aufsteigende »Bewegung« wird zur »Bewegung« im Sinne einer großen, durch gemeinsame Interessen verbundenen Gruppe. George suchte ein geschlossenes Bild seiner selbst und seiner Lehre zu vermitteln. Dadurch nahm er sich gewissermaßen selbst aus der vergänglichen Zeit und stilisierte sich zu einem fest konturierten ›Vor-Bild‹. Er erreichte dies durch die strenge Auswahl der Freunde, durch deren »Erzie310 Ebd., S. 52. 311 Herausgegriffen ist hier nur ein Aspekt der Gruppenbildung des George-Kreises. Eine reich ausdifferenzierte Studie zum George-Kreis bietet Kolk 1998. S.a. Kolks von Max Weber übernommenen Begriff der »charismatischen Führung« (ebd., S. 168–176). S.a. Norton 2002, der den George-Kreis vor allem zum politischen Kontext der Zeit in Bezug bringt. 312 Klein 1935 (Titel). 313 Vgl. Gundolfs Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel »Gefolgschaft und Jüngertum« (Gundolf 1909). 314 Gundolf 1968, S. 31. 315 Wolters 1930, S. 6. Vgl. dazu Winkler 1972, S. 3.
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hung«, die sie wiederum an ihre »Zöglinge« weitergaben,316 und durch die systematische Steuerung der aus dem George-Kreis hervorgehenden Publikationen, wobei die Metapher von konzentrischen »Kreisen« – dem »engsten freundeskreis«, dem »engeren kreis«, »weiteren kreisen«317 – den Prozess der Gruppenbildung über die Verbreitung der Schriften bestimmte. So wurde nicht nur der »streng exclusive Charakter« der 1892 begründeten Blätter für die Kunst betont und der Kreis der Mitarbeiter auf »ganz intime gefährten und gefährtinnen« beschränkt,318 sondern es wurden auch die Leser auf eine Weise festgelegt, welche die Zeitschrift selbst zum metaphorischen ›Treffen‹ einer erweiterten ›Gruppe‹ machte: »Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis.«319 Mit drei von George veranstalteten Auswahlbänden der Zeitschrift wurde dann unternommen, »den weg der öffentlichkeit zu beschreiten«.320 Die Metaphorik entwirft auf diese Weise eine ›Bewegung‹, die zunehmend nach einer Vergrößerung des ›Kreises‹ und nach ›Fortschritt‹ strebt. Bereits die Vorrede von Wolters’ Darstellung des George-Kreises bezieht sich – in Entgegnung auf die antizipierte Kritik an der »Einseitigkeit« seiner Darstellung – auf das Streben nach einem »einheitlichen Bild«; die Perspektive des Verfassers ist jene des Jüngers, der das Ziel hat, »das Miterlebte so zu schildern wie wir es mit unseren Augen gesehen und an uns selbst erfahren haben«.321 Dies erinnert an den Anfang des ersten Johannesbriefs, der die »Gemeinschafft« der Nachfolger Jesu untereinander und mit Vater und Sohn preist sowie die körperliche Erfahrung des erschienenen »Lebens«: »Das wir gehöret haben / das wir gesehen haben mit vnsern augen / das wir beschawet haben / vnd unser Hende betastet haben.«322 Der ›innere‹ George-Kreis lebt aus der körperlichen Gegenwart der Leitfigur. Andere Konstitutionsmethoden benötigt er nicht, wie Gundolf ausführt: Er betont, der »Kreis« sei »weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel«; »vereinigt« würden die Einzelnen durch die »Verehrung eines großen Menschen« und die Bestrebung, »der Idee die er ihnen verkörpert […] zu dienen«.323 Entsprechend soll die Idee bis in die Körper seiner Anhänger hinein und durch sie hindurch wirken: Wolters zufolge ist es Ziel der Bewegung, dass »Deutsche, wie ehmals vom Geiste 316 Wolters 1930, S. 515. 317 Vgl. die »Nachrichten« zu den Büchern der »Blätter für die Kunst«, zitiert nach der Zusammenstellung in Winkler 1972, S. 7. 318 So Carl August Klein 1892 in einem Brief an Hofmannsthal, in dem er ihn um Vorschläge hinsichtlich weiterer Mitarbeiter bittet (Klein 1953, S. 21). 319 George/Klein 1967 (Bd. 1), 1. Folge, 1. Band, Okt. 1892, Titelblatt (u.ö.). 320 George/Klein 1899, S. 5. 321 Wolters 1930, S. 5. 322 1. Joh. 1, 1–3. 323 Gundolf 1968, S. 31.
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Goethes, so heute vom Geiste Georges so tief durchdrungen werden, daß ihr Tun und Lassen in allen Lebensäußerungen vom Herzen bis zum Finger davon bedingt und geformt wird«.324 Die Metapher von der ›tiefen‹ ›Durchdringung‹ »aller Lebensäußerungen« führt über Dichtung und Sprache weit hinaus und signalisiert einen Absolutheitsanspruch, der mit der politisch-religiösen Metaphorik vom »neuen Reich« die geistige und weltliche Macht in der Person des Dichters zusammenzuführen sucht: George ist der Herrscher. Wir sehen es als ein hohes Glück unseres Geschickes an, daß heute der Dichter unseres Volkes auch zutiefst ein staatlicher Mensch ist, der irdische Herrschaft will und formt und zugleich mit dem ersten Wachwerden seiner dichterischen Kräfte den Keim seines Reiches zu bilden begann.325
Die Pflanzenmetaphorik vermittelt hier nicht wie bei der Fruchtbringenden Gesellschaft eine Verbesserung bestehender Kultur, sondern deren Ersetzung durch eine gänzlich neue, kräftigere Kultur im Zeichen Georges. Der George-Kreis zeichnete sich durch seine strenge Abgrenzung vom zeitgenössischen Literaturbetrieb aus und vertrat eine Dichtung, die »unangetastet von dem geilen markt« bleiben sollte; bedeutsam ist die sexuelle Personifizierung, mit welcher der Dichtung eine moralische Reinheit zugesprochen wird, die im 18. Jahrhundert – so bei Rambach – die geistliche von der erotisch weltlichen Dichtung unterschieden hatte.326 Angestrebt wurde durch diese Abgrenzung des Kreises und die solchermaßen sichergestellte Reinhaltung der Lehre des ›Meisters‹ letztlich eine Eliminierung von Literaturbetrieb, Markt und zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen. Einen offenbar diametralen Gegensatz dazu bildet die Gruppe 47, die aus politischen Zielen hervorging, zugleich aber den Autoren in einer kriegsverheerten Literaturlandschaft eine marktorientierte Infrastruktur bot – auch wenn dies mit politisch-moralischen Skrupeln verbunden war. Die von Hans Werner Richter gegründete Gruppe, die keinen festen Mitgliedskreis hatte, traf sich ein- oder zweimal im Jahr zu Tagungen, die Autoren mit Kritikern, Verlegern und Vertretern der Medien zusammenführten und somit all jene Instanzen involvierte, die für die erfolgreiche Verbreitung von Literatur notwendig waren: So kam es vor, »daß eine gute Erzählung bereits wenige Stunden, nachdem sie gelesen worden war, an drei Sendestationen verkauft war«.327 Wenn auch Hans Mayer 1971 retrospektiv eine 324 Wolters 1930, S. 586. 325 Ebd., S. 545. S.a. den Titel von Georges letztem Gedichtband, »Das neue Reich« (George 1983 ff., Bd. 9). 326 George 1983 ff., Bd. 9, S. 30 (Das neue Reich, Dem Andenken des Grafen Bernhard Uxkull). S. o., S. 364–366. 327 Dies berichtet 1951 der Journalist Ernst Theo Rohnert (Rohnert 1967, S. 59). Vgl. auch den Beitrag von Irmela Schneider mit dem bezeichnenden Titel »›Fast alle haben vom Rundfunk gelebt‹«, aus dem die Bedeutung der Partizipation von Hörfunkredakteuren an den Tagungen hervorgeht (Schneider, I. 1991).
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Geschichte konstruierte, derzufolge die Gruppe 47 »als Protest gegen die Ökonomie« begann und später zum »Service für sie [pervertierte]«,328 so wurden die Tagungen doch schon in den frühen fünfziger Jahren als »Literaturmesse«329 und »Börse«330 tituliert. Ruth Rehmann erfährt die Kritik im Anschluss an ihre Lesung als »Auktion«: Dort »steigt im Hin und Her der Schätzungen dein Objekt im Wert«331 – der Wert wurde öffentlich von anerkannten Instanzen beglaubigt und hatte durchaus materielle Auswirkungen. Rückblickend be- und verurteilt Peter Rühmkorf die Gruppe 47 als »Wertpapierbörse, wo die Tageskurse gemacht wurden, die oft nur Schwindelkurse waren, obwohl sie über Jahre einen Rang stabilisieren konnten – unten oder oben«.332 Es sind dies Metaphern, die zugleich eine reale Funktion der Zusammenkünfte bezeichnen. Trotz dieser grundsätzlichen Unterschiede gegenüber dem Selbstverständnis des George-Kreises gibt es dennoch gewisse Ähnlichkeiten mit dessen Prozessen der Gruppenbildung, so besonders im ursprünglichen Ziel einer über das Literarische hinausgehenden ›Erziehung‹ und in der gruppenstiftenden Funktion der Leitfigur. In komprimierter Form lässt sich dies den Ausführungen entnehmen, die Hans Werner Richter anlässlich des 15. Jubiläums der Gruppe für den von ihm herausgegebenen Almanach der Gruppe 47 verfasste, in einem einleitenden Aufsatz mit dem Titel Fünfzehn Jahre.333 Als guter Chronist beginnt Richter mit dem politisch-publizistischen »Ursprung« der Gruppe.334 Er findet deren »Keimzelle« in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern bei den künftigen Herausgebern der Zeitschrift Der Ruf, die von einer gemeinsamen politischen Idee geradezu religiös inspiriert waren: »Ihr Glaube war eine neue Art von demokratischem Sozialismus.«335 Man versteht sich als »politischer, literarischer Freundeskreis«,336 und die Gruppenmitglieder suchen »vorerst nicht die Massen zur Demokratie zu erziehen, sondern sich selbst, ihresgleichen, jene also, die fähig sind, mit dem Wort Einfluß zu gewinnen. Ihre Grundkonzeption war die einer demokratischen ›Elitenbildung‹«.337 Die Gruppe 47 sieht Richter als schwachen Ersatz für das Forum der verbotenen Zeitschrift, wie seine Raummetaphorik verdeutlicht: Man wurde »in das Gebiet der 328 Mayer 1987. 329 So in der Überschrift eines Zeitungsartikels von Hans Georg Brenner (gez. mit Pseudonym Th[eodor] G[rabe]) in »Der Tagesspiegel« (8.6.1952): »Deutsche Literaturmesse 1952. Gruppe 47 tagte im Ostseebad Niendorf«. Titel zitiert in Arnold 1987, S. 177. 330 Rohnert 1967, S. 59. 331 Rehmann 1988, S. 50. 332 Rühmkorf 1972, S. 135. 333 Richter 1962. 334 Ebd., S. 8. 335 Ebd., S. 11. 336 Ebd., S. 13. 337 Ebd., S. 10.
6. Dichterbünde
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Literatur verwiesen oder abgedrängt oder begab sich selbst aus Ohnmacht und frühzeitiger Resignation freiwillig in dieses Gebiet«.338 Konstitutiv war Richter zufolge das Ziel der gesellschaftlichen Erneuerung: »Hier sammelten sich alle Impulse, alle ideellen Bemühungen, alle Bestrebungen und alle Sehnsüchte nach einem neuen Anfang und nach einer Regeneration des gesamten deutschen gesellschaftlichen Lebens.«339 Der voll entwickelte ›Keim‹ sollte somit wie beim George-Kreis die in Deutschland bestehende Gesellschaft ersetzen. Wenn auch Richter sich weniger als Dichter denn als Publizist und als Teil einer demokratisch und »antiautoritär« ausgerichteten Gruppe verstand,340 so erfüllte er doch eine Funktion, die ihn zur maßgeblichen Autorität der Gruppe 47 machte.341 Er betont in seinem Aufsatz, dass die Gruppe »ohne Programm, ohne Verein, ohne Organisation« auskam und »oft unbewußt Maßstäbe« setzte, wobei auch der Prozess des literarischen »Durchfallens« »nie besprochen« wurde.342 Deutlich wird daraus seine entscheidende Rolle als Leitfigur: Die Maßstäbe entstanden aus einer Gruppe heraus, deren Zusammensetzung und Praktiken seiner Autorität unterstanden, denn er lud in alleiniger Verantwortung zu den Tagungen ein und bestimmte die Beurteilungsmechanismen.343 Er sieht sich nicht in der Rolle eines ›Herrschers‹ wie George, benutzt jedoch legislative und militärische Metaphorik, um den Prozess der Kritik darzustellen. Für die Beurteilung der vorgetragenen Literatur verficht er ein Auswahlsystem, das die Kritiker – gewissermaßen als ausführendes Organ seiner Oberherrschaft344 – in die Rolle der Richter, den Autor in die Rolle des Hinzurichtenden versetzt: »Der Stuhl, auf dem der jeweils Vorlesende Platz nimmt, im Scherz ›elektrischer Stuhl‹ genannt, wurde literarisch meinungsbildend.«345 »Meinungsbildend« war der Stuhl nicht zuletzt insofern, als die Kritik durch die Vortragssituation »gezwungen« war, bei der Maßstabfindung »Disziplin« zu üben.346
338 339 340 341 342 343 344
345 346
Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13 Vgl. die Arbeit von Artur Nickel, die diverse Aspekte seiner Rolle als »Ziehvater der Gruppe 47« untersucht (Nickel 1994, Titel). Richter 1962, S. 11 f. Vgl. z. B. Rehmann 1988, S. 48. Dies geht aus Rehmanns militärischer und musikalischer Metaphorik hervor. Die »alte Garde« der Kritiker sitzt »immer in der gleichen Gegend« und hat eine »feste Hierarchie und Rollenverteilung, ihren Ritus«: »Richter gibt den Einsatz, und sie spielen ihren Part« (Rehmann 1988, S. 50). Zur Komplexität, ja Unmöglichkeit der Rekonstruktion eines kritischen Prozesses, der sich als »Ereignis« konstituierte, vgl. Vormweg 1991, bes. S. 239. Richter 1962, S. 12. Ebd.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Dass nicht nur das vorgelesene Werk, sondern vor allem auch die Kampffähigkeit des Autors auf die Probe gestellt wurde, geht aus einem militärischen Vergleich hervor: Wenn man den literarischen oder den kritischen, aber auch oft den politischen Maßstäben nicht gerecht werden konnte, dann wurde die Einladung nicht wiederholt. Sie blieb für die nächste Tagung aus. Wer aber das besaß, was in der Gruppe 47 oft mit dem an preußische Traditionen erinnernde, hier aber anders gemeinten Wort »Haltung« bezeichnet wird, wer also auch die schärfste und vernichtendste Kritik hinnehmen konnte, ohne emotionelle Reaktionen zu zeigen, der konnte gewiß sein, auch dann wieder eingeladen zu werden, wenn er literarisch nicht gleich zum Zuge gekommen war.347
Unklar bleibt der Unterschied zwischen »literarischen« und »kritischen« Maßstäben sowie deren relativer Stellenwert gegenüber den »politischen Maßstäben«. Ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur Gruppe ist das Urteil Richters über die moralischen Qualitäten des Vortragenden, wobei hier Werte maßgeblich sind, die unhinterfragt aus der deutschen Tradition maskuliner Gruppenbildung und dem soldatischen Ehrenkodex auf die Literatur übertragen werden; dem entsprach die Reputation der Gruppe: »Da wird scharf geschossen.«348 Das Wort »›Haltung‹« ist somit nur insofern »anders gemeint«, als es in übertragener Bedeutung benutzt wird: Es bezieht sich hier auf einen Kontext, in dem nicht das Gewehr, sondern das Wort die ›Waffe‹ ist. Die militärische Orientierung erklärt auch den problematischen Status von Frauen in der Gruppe 47. Prinzipiell waren sie zwar beteiligt und konnten durchaus – wie Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann – reüssieren, aber zumeist waren sie in der Rolle der Ehefrauen anwesend, »deren große Stunde beim traditionellen Schlußfest schlägt. Sie schweigen bei der Diskussion«.349 Vorgegeben ist insgesamt mit der Verquickung literarischer, politischer und moralischer Kriterien die bundesdeutsche Variante der ›Gesinnungsästhetik‹, die dann im Literaturstreit von 1990 im Kreuzfeuer der Kritik stand. Wenn auch das Selbstverständnis und die Praktiken der Gruppe 47 für ihre Zeit spezifisch sind, so werden doch damit allgemeinere gruppenbildende Muster tradiert. Mit der Gerichtsmetaphorik führte sie die Tradition der ›Kunstrichter‹ fort, denen das Urteil über die Befolgung gemeinschaftlich festgelegter ›Gesetze‹ obliegt. Die Fokussierung auf den Vortrag von einem zentralen Stuhl aus, die Stegreifkritik sowie der Wettstreit um den Preis (seit 1950) finden sich in ähnlicher Form bei den Meistersingern.350 347 Ebd., S. 12 f. 348 Rehmann 1988, S. 48. 349 Ebd., S. 50. Rehmann erwähnt dies, ohne die Geschlechterdifferenz kritisch zu kommentieren. Zum ›Schweigen‹ von Frauen im öffentlichen Diskurs s. o., S. 329. 350 Der Vergleich ist nicht neu; vgl. den Zeitungsartikel von Albrecht Knaus anlässlich der Tagung von 1950: »Die Meistersinger von Inzigkofen« (Knaus 1967).
7. Kulturstiftung
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Auch machte die Gruppe das ›Handwerkliche‹ wieder aktuell, wenn man die Tagungen als »Werkstatt« begriff.351 Typisch für die Gruppenbildung war jedoch vor allem die zentrale Bedeutung der Zusammenkünfte, bei denen Dichtung, Poetik und literarische Infrastruktur im gemeinsamen Kreis diskutiert wurden. In einem fragmentierten Literaturgebiet ohne Hauptstadt und in einer Zeit, wo die Infrastruktur erst wieder im Entstehen war, bot die Gruppe 47 den Schriftstellern als »Zentralpunkt, Kaffeehaus, Metropole und Diskussionsbühne« ein enorm wichtiges Forum.352 Damit erfüllte die Gruppe 47 ein Bedürfnis, das wohl in jeder literarischen Epoche Formen der Gruppenbildung fördert.
7. Kulturstiftung Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Dichtung manifestiert sich nicht nur in Bezug auf das eigene Interesse der Dichter, sondern weit darüber hinaus: Zu ihren bedeutendsten Aufgaben zählt die Kulturstiftung. Sprache ermöglicht die Beeinflussung nicht nur der Mitmenschen, sondern – so in Zauberspruch und Gebet – auch die Beeinflussung jener übernatürlichen Mächte, denen die jeweilige Kultur den Akt der Schöpfung und die Erhaltung des Lebens zuerkennt. Sprache erlaubt die Weitergabe von kollektivem Wissen um die Natur, die Religion und die Strukturen der eigenen Gemeinschaft, so in Mythen, Gesetzen und Sprichwörtern. Die imaginative ›Kraft‹ der Sprache wächst in dem Maße, wie sie semantisch verdichtet wird und in der Intensität der Deutung ihre Entsprechung findet. Die lautliche Verdichtung ermöglicht die Wiederholung, auf der die rituelle Weitergabe des gemeinschaftlichen Wissens beruht. Die schriftliche Verdichtung schafft mit dem Text einen dauerhaften Hort für das kulturelle Gedächtnis, aus dem sich die Identität der jeweiligen Kultur konstituiert. Die moderne Dichtung und Poetik hat den Bezug zu dieser kulturstiftenden Macht der Sprache nicht verloren. Im deutschsprachigen Kontext zeigt sich dies am deutlichsten in der Dichtung Hölderlins, der als archetypisch ›moderner‹ Dichter die Verbindung zu Ritus und kulturfestigender Textpflege vermittelt: Wir haben gedienet der Mutter Erd’ Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, Unwissend, der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepfleget werde 351 Vgl. Hupka 1967, S. 47. Die Metapher wurde 1988 in der Ausstellung »Dichter und Richter« aufgegriffen: »Auf den Podien betritt man die literarische Werkstatt« (Schutte 1988, S. 7). 352 Richter 1962, S. 12.
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V. Traditionsbildung und Gemeinschaftsstiftung
Der feste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.353
Am Ende von Hölderlins Hymne Patmos bekennt sich der deutsche Dichter zu der Aufgabe, die »heiligen Schriften«354 zu »pflegen« und das vom Vater Gestiftete »gut« zu »deuten«. Die Verse evozieren einen in der Zeit erfolgenden Prozess der Kulturstiftung mit der »Verlagerung des Sinns […] von den geschichtlichen und kosmischen Phänomenen in die heiligen Schriften und deren Deutung«; gefordert wird die »Textpflege« und »Sinnpflege«.355 Indem Hölderlin die Pflege der schriftlich ›gefestigten‹ Kultur zur Aufgabe der Dichtung macht und zugleich das poetologische Bekenntnis in der Form des Gesangs verkündet, bezeugt er performativ die Fähigkeit der Dichtung, diese kulturellen Aufgaben zu erfüllen. Der Dichter ist der Wissende, Weise und Priester, der den Text und Sinn seines Volkes tradiert und auf diese Weise dessen Identität sichert. Hölderlins Gedicht schuf eine bedeutende Verbindung zwischen der Tradition biblischer Dichtung,356 der in der Insel Patmos repräsentierten Antike und der Zukunft »deutschen Gesangs«. Mit seiner gewichtigen Sprache verkörpert das Gedicht geradezu die deutsche Kulturstiftung. Die identitätsstiftende Kraft der Dichtung Hölderlins für die deutsche Nation wurde vor allem in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erkannt – als man sie destruktiv für die Ziele des Nationalsozialismus einsetzte. Diese Vereinnahmung wird gerne als ›Entstellung‹ des wahren hölderlinschen Geistes gesehen;357 dies wäre jedoch zu kurz gegriffen. Denn die Grenzen zwischen dem Streben nach kulturnationaler Identität und einem destruktiv nationalistischen Expansionismus sind fließend. Kulturstiftende Metaphern sind in diesem Zusammenhang von höchster Bedeutung, denn sie bergen sowohl das Potenzial der kulturellen Identitätsstiftung durch Sprache, als auch das Potenzial des Übergangs von Wort oder ›Feder‹ zu ›Schwert‹.358 Es ist insofern durchaus nachvollziehbar, dass Hölderlins 353 Hölderlin 1992–1994, Bd. 1, S. 356 (Patmos, V. 220–226). 354 Ebd. (V. 207). 355 Assmann, J. 1992, S. 88, unter Bezug auf diese Verse. In Assmanns wichtiger Studie »Das kulturelle Gedächtnis« geht es um »Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen« (ebd., Titel). 356 Im Zentrum von »Patmos« steht Johannes, der Autor des biblischen Buchs der Offenbarung, und gewidmet ist die im Januar 1803 entstandene Reinschrift »Dem Landgrafen von Homburg« (Hölderlin 1992–1994, Bd. 1, S. 350; Patmos, Untertitel). Der pietistisch geprägte und vom »Messias« begeisterte Landgraf hatte 1802 Klopstock um ein anti-aufklärerisches Bibelgedicht gebeten; dieser antwortete, er fühle sich dazu nicht imstande, und es ist anzunehmen, dass Hölderlin daraufhin »Patmos« verfasste, zumal die Hymne eine Fülle von Anspielungen auf den »Messias« aufweist (vgl. zu diesem Hintergrund, den Anspielungen und Hölderlins Auseinandersetzung mit der Bibel den ausführlichen Kommentar und die Anmerkungen des Herausgebers, ebd., S. 969–1009). 357 So z. B. als »perfide Umwertung« (Inge Stephan in Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 438). 358 Zu dem Topos s.o., S. 22.
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Dichtung einerseits enthusiastisch von den Nationalsozialisten für die militärische Durchsetzung einer absoluten deutschen Vormacht eingesetzt wurde, andererseits aber in der Lyrik von Franz Baermann Steiner, Paul Celan, Nelly Sachs oder Johannes Bobrowski in deutscher Sprache einer poetischen Bewahrung der Identität von Kulturen diente, die brutal von den Nationalsozialisten vernichtet worden waren. Beide Aspekte sind Ausprägungen des ›deutsch(sprachig)en Geistes‹ und untrennbar Teil der Geschichte ›unserer‹ deutschsprachigen Kultur. Die kulturpflegende Bedeutung der Dichtung ist in Hölderlins Gedicht verquickt mit der kulturpflegenden Bedeutung der Poetik. Poetik lässt sich verstehen als die Pflege literarischer Kultur, und sie ist mit anderen Aspekten der Kulturpflege verknüpft. Jede Poetik situiert das im Zentrum stehende dichterische Projekt in einem zeitlichen Kontext und setzt eine Kultur voraus – oder entwirft eine Kultur – zu der das Projekt beitragen soll. Dieser Kontext ist nicht statisch, sondern ein geschichtlicher Prozess, in dem Gegenwart auf komplexe Weise mit der Vergangenheit verwoben ist sowie auch mit Bestrebungen, die in die Zukunft weisen: Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation; sie wird immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von den Bezugsrahmen einer Gegenwart geformt.359
Schon eine Gattungszuordnung oder die Bezugnahme auf einen älteren Dichter setzt eine – konstruierte – kontinuierliche literarische Tradition voraus und bestätigt diese als gültig, um dem eigenen Projekt einen ›Ort‹ und eine Bedeutung zuzuweisen. Der Anspruch, eine Gattung zu schaffen oder abzuwandeln, sucht dagegen dieser Tradition eine neue ›Form‹ zu geben, so wie auch die ›Kanonisierung‹ eines Dichters, die Etablierung eines ›klassischen‹ Zeitalters oder die Zurückweisung des etablierten Kanons die ›festen‹ Bezugspunkte in der Tradition verändert. Die bewegte deutsche Geschichte bot immer wieder Anlass, gesellschaftlich-politische Ereignisse poetologisch als ›Brüche‹ zu reflektieren, zumal damit meist auch eine grundlegende Veränderung oder gar eine Zerstörung der literarischen Infrastruktur verbunden war. Zugleich boten solche Ereignisse die Möglichkeit, die deutsche Literatur ›neu‹ entstehen zu lassen und ihr die Aufgabe zu erteilen, zur Erschaffung einer gänzlich anderen, besseren Kultur beizutragen. Der Vergleich mit kulturell und politisch weniger fragmentierten Nationen gab dem humanistischen Topos vom kulturellen Wettstreit vor allem in der Prägung von der ›verspäteten Nation‹ eine besondere und anhaltende Relevanz, und der ›Barbaren‹-Topos diente der Abgrenzung der eigenen literarischen Kultur gegenüber früheren und gleichzeitigen Kulturen. 359 Assmann, J. 1992, S. 88.
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In eigenständigen Poetiken gehören Ausführungen zum Ursprung der Poesie sowie auch zur Entwicklung der deutschsprachigen Dichtung zum Standardrepertoire.360 Aber auch in knappen Äußerungen zu einem Werk erfüllt oft die geschichtliche Verortung eine bedeutende Funktion, weil sie dem Werk einen diachronischen Kontext gibt und es in Bezug auf seinen kulturellen Kontext legitimiert. So bezieht sich Hofmannsthal am Anfang seiner kurzen Vorrede zu Jedermann auf die Geschichte der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, um den Sinn des eigenen Werkes zu verdeutlichen: Die deutschen Hausmärchen, pflegt man zu sagen, haben keinen Verfasser. Sie wurden von Mund zu Mund weitergetragen, bis am Ende langer Zeiten, als Gefahr war, sie könnten vergessen werden oder durch Abänderungen und Zutaten ihr wahres Gesicht verlieren, zwei Männer sie endgültig aufschrieben.361
Hofmannsthals Geschichte ist implizit dreiteilig und besteht aus dem Ursprung der Märchen, ihrer mündlichen Tradierung durch »lange Zeiten« hindurch und ihrer schriftlichen Fixierung »am Ende«. Damit sind die drei Grundelemente des Wegschemas gegeben, die für Vorstellungen zeitlicher Prozesse typisch sind362 und die auch die individuelle menschliche Geschichte (Geburt, Leben, Tod) sowie den christlichen Mythos von der Entwicklung der Menschheit prägen (Paradies, weltliche Geschichte, Jüngstes Gericht). Der Ursprung wird in »deutschen« ›Häusern‹ verortet und mit der Erwähnung eines potenziellen »Verfassers« angedeutet, aber sowohl hinsichtlich der Autorschaft als auch der Zeit unbestimmt gelassen, wobei der Einschub »pflegt man zu sagen« auf die Bekanntheit des Topos von der anonymen Entstehung dieser Märchen ›im Volk‹ verweist, der für die kollektive Identitätsstiftung wesentlich ist. Das ›Tragen‹ der Märchen »von Mund zu Mund« durch »lange Zeiten« evoziert die frühe Form deutscher Kultur, als die Menschen ihren kommunalen Kulturschatz ohne Hilfe der Schrift durch den Prozess des Erzählens vor dem Vergessen bewahrten. Mit der Verschriftlichung vollzieht sich zugleich die Individuation, indem profilierte Helden die personifizierten Märchen (»wahres Gesicht«) aus der »Gefahr« des Identitätsverlusts retten, womit auch das Ende der spannungsreichen Handlung dieser Geschichte erreicht ist. Nicht in Frage gestellt wird die Bewahrung des »wahren Gesichts« der Märchen im Verlauf dieses langen Prozesses: Die von den Gebrüdern Grimm »endgültig« festgelegte schriftliche Form hat den Wert der originalgetreuen Dokumentation des ursprünglichen Märchens, das nun für alle Zeiten der Relativierung und dem Wandel enthoben ist.
360 S.o., S. 405 f. 361 Hofmannsthal 1975ff, Bd. 9, S. 33 (Jedermann, Vorrede). 362 S.o., S. 165.
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Hofmannsthal erinnert eingangs an diese bekannte Tradition, um der deutschen Kulturnation die Bedeutung seines Jedermann-Projekts zu Bewusstsein zu bringen – wiewohl diese Geschichte nicht der grimmschen Sammlung entstammt, gibt es doch ausreichende Ähnlichkeiten angesichts ihrer mündlichen Tradierung und anschließenden Verschriftlichung, um die Verbindung plausibel zu machen. Die Schrift erhält in Bezug auf die Jedermann-Geschichte jedoch einen veränderten Stellenwert, der einen neuerlichen ›Rettungsakt‹ notwendig macht, denn der »tote« Text bedarf nun der ›Wiederbelebung‹: Alle diese Aufschreibungen stehen nicht in jenem Besitz, den man als den lebendigen des deutschen Volkes bezeichnen kann, sondern sie treiben im toten Wasser des gelehrten Besitzstandes. Darum wurde hier versucht, dieses allen Zeiten gehörige und allgemeingültige Märchen abermals in Bescheidenheit aufzuzeichnen. Vielleicht geschieht es zum letztenmal, vielleicht muß es später durch den Zugehörigen einer künftigen Zeit noch einmal geschehen.363
Hofmannsthal übernimmt hier für die Gegenwart eine Rolle, die jener der Gebrüder Grimm entspricht. Seine Leistung besteht darin, die Geschichte dem Lethe-ähnlichen Vergessen entrissen und ins ›Leben‹ des deutschen Volkes zurückgeholt zu haben. Unter Verwendung der Bescheidenheitsformel räumt er ein, dass sein Beitrag in Gegensatz zu jenem der Gebrüder Grimm möglicherweise nur ein vorläufiger sei, womit die Geschichte eine Extension in die Zukunft erfährt: Möglich ist die Notwendigkeit einer künftigen Veränderung des Textes für eine spätere Zeit. Durchgespielt werden in Hofmannsthals Vorrede die verschiedenen Medien, über die gemeinsames sprachliches Kulturgut tradiert wird, wobei der Wert der mündlichen und schriftlichen Tradition kontextabhängig variiert. Die mündliche Tradierung hält die Geschichten im Volk ›lebendig‹, setzt sie jedoch angesichts der Zufälle menschlicher Schicksale der Gefahr des Vergessens aus. Die Schrift macht die Geschichten als ›fester Buchstab‹ von der Zeit und den Menschen unabhängig und dient somit der ›Bewahrung‹ des Schatzes. Zugleich jedoch birgt sie die Gefahr, dass die Geschichten zu ›toten Buchstaben‹ werden, die nur noch in der vom lebendigen Volk abgetrennten Welt der Gelehrten fortexistieren. Hofmannsthal nutzt in seinem Jedermann-Projekt beide Medien. Er rettet die Geschichte aus dem »toten Wasser des gelehrten Besitzstandes«, indem er es neu für seine Zeit »aufzeichnet«, zugleich aber sicherstellt, dass wie schon im 15. Jahrhundert in England »die einzelnen Gestalten lebendig auf eine Bühne treten«.364 In den lebendigen Kulturbesitz seines Volkes überführte er es vor allem jedoch durch die rituelle Form der Tradierung, die sich seit der Inszenierung durch
363 Hofmannsthal 1975 ff., Bd. 9, S. 33 (Jedermann, Vorrede). 364 Ebd.
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Max Reinhardt im Jahre 1920 in der performativen Wiederholung des Spiels auf dem Domplatz zu Salzburg vollzieht. Hofmannsthal bekennt sich in seiner Vorrede zu einem einheitlichen »deutschen Volk« – eine Identität, deren Konstruiertheit nicht zuletzt aus seiner eigenen österreichischen Herkunft hervorgeht. Zugleich situiert die ritualistische Inszenierung das Stück im Herzen des österreichischen Kulturlebens oder im Zentrum Europas, je nach Perspektive und Kommunikationszweck.365 Kulturstiftung ist hier ein komplexer Prozess, der die Aktualisierung unterschiedlicher, zum Teil sich überschneidender und potenziell in hohem Maße unstabiler Identitäten erlaubt. Gerade die sich wandelnde Beziehung zwischen dem ›Deutschen‹ und dem ›Österreichischen‹ zeigt die Bedeutung der durch Sprache bezeichneten und durch Sprache verwirklichten kulturellen Identität. Denn die Geschichte der deutschen Territorien stellt den deutschsprachigen Autoren bis auf den heutigen Tag viele Möglichkeiten der kulturellen Identitätsbildung zur Verfügung, die besonders im 20. Jahrhundert höchst brisante Debatten hervorriefen. Die ›Grenzen‹ der literarischen Identität lassen sich je nach Bedürfnis geographisch, politisch, kulturell und/oder sprachlich definieren, wobei jede Form der Definition noch weitere Differenzierungen zulässt: So ermöglichen die politischen Grenzen die Identifikation mit Europa, der Nation oder dem Bundesland. Während den schweizer Schriftstellern eine vom deutschen Machtwahn unkompromittierte Identität sicher blieb, stellte sich insbesondere für österreichische Schriftsteller die Frage nach der kulturellen Identität immer wieder neu. Dass auch die auf die Literatur bezogenen kulturellen ›Grenzziehungen‹ durch verschiedenste Faktoren motiviert sein können, sei an verschiedenen Aussagen von Ingeborg Bachmann verdeutlicht. 1955 ordnet sie sich in einem Interview einer »deutschen Literatur« zu, die österreichische Schriftsteller umfasst, mit der Begründung, daß »alle provinziellen und regionalistischen literarischen Produkte zum Tod verurteilt sind und sein werden«;366 die über die deutsche Hochsprache hergestellte ›deutsche‹ Identität sichert dem österreichischen Autor immerhin das Interesse der mächtigsten Verlage, den Zugang zum größten Publikum und somit die besten Chancen auf eine ›lebendige‹ Fortwirkung. Andererseits jedoch betont Bachmann im selben Interview die über »geographische Kategorien« hinausgehende »politische und kulturelle Eigenart Österreichs« und macht die getrennte Identi365 Vgl. die Rede des österreichischen Staatssekretärs Franz Morak anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele 2000, in der er die Festspiele zum »typisch österreichischen Offert an Europa« erklärte und unter Ausblendung des großen deutschsprachigen Nachbarn die Identität Österreichs im »Zentrum« Europas feierte, unter Bezug auch auf Hofmannsthal (Morak 2000). 366 Bachmann 1983, S. 12 (Interview, N.N. mit Bachmann, Anfang 1955). Vgl. zu diesem Komplex Rapisarda 1991.
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tät der österreichischen Literatur geltend: »Dichter wie Grillparzer und Hofmannsthal, Rilke und Robert Musil hätten nie Deutsche sein können.«367 Eine geographisch von »Deutschland« getrennte Identität betont sie auch 1965, wenn sie es als ›schwierig‹ empfindet, »daß ich deutsch schreibe, zu Deutschland nur durch diese Sprache in Beziehung gesetzt bin, angewiesen aber auf einen Erfahrungsfundus, einen Empfindungsfundus aus einer anderen Gegend«.368 Und in verschärfter Form grenzt sie sich 1973 anlässlich einer Lesereise, die auch nach Auschwitz und Birkenau führte, von den Deutschen ab. Nun verweist sie auf George Bernard Shaws Unterscheidung zwischen Briten und Amerikanern, um das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern zu bestimmen: »Wir haben sehr viele Fehler gemeinsam, […] nur eins haben wir nicht gemeinsam – und das ist die Sprache. Sprache heißt aber auch: Unser Denken ist anders, weil unsere Sprache anders ist.«369 Hatte sie 1965 die spezifisch österreichische »Erfahrung« und »Empfindung« von der deutschen »Sprache« getrennt, so definiert sie nun – implizit wohl unter Bezug auf Theorien aus der Linguistik (Sapir-Whorf-Hypothese) – auch die Sprache österreichischer Autoren als unabhängig von der deutschen mentalen Identität, Kultur und Geschichte. Ex negativo wird gerade aus dieser kontinuierlichen Arbeit an der sprachlich-kulturellen Identität die kulturstiftende Funktion der Sprache für den Schriftsteller ersichtlich. Die kulturstiftende Bedeutung deutschsprachiger Poetik entwickelt sich bis ins 17. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit der auf ›deutschem‹ Boden verfassten lateinischen Literatur, wobei in Hinblick auf die Pflege einer Literatur in deutscher Sprache immer auch das jeweilige gruppenspezifische Ziel zu berücksichtigen ist. So dienen die Bemühungen um die deutsche Sprache bei Otfrid sowie auch bei Luther der Heranbildung einer Volkssprache, die fähig werden soll, den Laien die Bibel nahezubringen. Ihr Projekt ist die Übertragung der biblischen Botschaft in eine Sprache, die erst im Prozess der Übertragung literaturfähig gemacht wird: Die fränkische beziehungsweise deutsche Sprache muss den alten Sprachen und insbesondere dem Lateinischen so weit wie möglich entsprechen können, um die biblische Lehre adäquat zu vermitteln. Otfrid entwirft das Bild von einem großen, kühnen und gläubigen fränkischen Volk, dessen Sprache jedoch im Vergleich zu den Sprachen anderer
367 Bachmann 1983, S. 11 f. 368 Ebd., S. 63 (Interview, Josef-Hermann Sauter mit Bachmann, 15.9.1965). 369 Ebd., S. 132 (Interview, Alicja Walecka-Kowalska mit Bachmann, Mai 1973). S.a. das Interview mit Karol Sauerland (Mai 1973), ebd., S. 135–142. Vgl. die sprachliche Abgrenzung zwischen deutschen und österreichischen Schriftstellern bei Raoul Schrott (Schrott 1997b, S. 115 und 117). Hier steht die ›Zweisprachigkeit‹ im Vordergrund; die Geschichte thematisiert er in diesem Zusammenhang nicht.
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Völker noch »bäurisch« und »unkultiviert« ist (»agrestis«, »incultus«).370 Aktiviert wird mit dieser agrarischen Metaphorik die schon in der Antike etablierte metaphorische ›Übertragung‹ der Kultivierung des Ackers (agri cultura) auf die Pflege des menschlichen Geistes.371 In Otfrids Einsatz des Kultivierungstopos manifestiert sich sowohl dessen diachronische Bedeutung für die vulgärsprachlichen Gemeinschaften als auch sein synchronischer Aspekt. Entsprechend der Fruchtbarmachung des Ackers durch den Bauern impliziert der Topos einen Prozess der graduellen Kultivierung des Volkes durch Gelehrte oder andere Kulturträger, wobei die Antike den Maßstab entwickelter Kultur darstellt; das Lateinische bleibt noch lange das maßgebende sprachliche Medium für die Vermittlung ›hoher‹ Kultur und ist das Ideal, an dem sich die Vulgärsprachen schulen und messen. Synchronisch gesehen ergibt sich daraus bis ins 18. Jahrhundert zwischen den Völkern im Gebiet des einstigen Römischen Reiches ein spannungsvolles ›Gefälle‹ hinsichtlich der ›Kultiviertheit‹, das sich identitätsbildend in einem für die Poetik strukturgebenden apologetischen ›Wettstreit‹ der Sprachen und Literaturen manifestiert. Otfrids Thematisierung der unzureichenden Kultiviertheit der fränkischen Sprache in seiner lateinischen Widmung legitimiert sein Projekt gegenüber den Gelehrten als Mittel, die fränkische Sprache kulturfähig zu machen, damit die Franken nicht nur durch ihre physischen Taten, sondern auch durch ihre geistigen Errungenschaften mit den Nachbarvölkern mithalten können. Otfrid benutzt jedoch auch Argumente aus der christlichen Tradition, die eine auf die Volkssprache selbst zentrierte, von anderen Sprachen unabhängige Kulturstiftung ermöglichen. Das Ideal ist hier nicht das kunstvolle Latein, sondern die Botschaft Christi in ihrer »Sprache von besonderem Adel« (»in edilzungun«).372 Legitimation verleiht Otfrid seinem Projekt durch die Hervorhebung des göttlichen Ursprungs der Sprache, die Gott den Franken gegeben hat, damit sie in ihr sein Lob verkünden mögen,373 sowie durch das Ziel, denjenigen Franken, die der vollendeten Sprachen der Griechen und Römer nicht mächtig sind, Gottes Lehre in ihrer eigenen »Zunge«374 zu vermitteln; dabei evoziert die dem Lateinischen ›lingua‹ nachgebildete metonymische Bezeichnung ›Zunge‹ für ›Sprache‹375 einen körperlichen Bezug mit der mündlichen Sprache. Die mündliche Sprache nimmt Otfrid zum Maßstab, wenn er sich am »gewöhnlichen Sprach370 Otfrid 1987, S. 20 f. (lat. Widmung an Liutbert, Z. 63 f.) und S. 24 f. (ebd., Z. 112 f.). 371 Vgl. Cicero, »cultura […] animi philosophia est« (Cicero 1971, S. 159; 2, 13); Quintilian 1995, Bd. 2, S. 180 f. (VIII, 3, 75). 372 Otfrid 1987, S. 38 f. (1. Buch, 1. Kap., V. 53). 373 Ebd., S. 24 f. (Widmung an Liutbert, Z. 129 f.). 374 Ebd., S. 34 f. (1. Buch, 1. Kap., V. 119–122); zur »Zunge« vgl. auch ebd., S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 31). 375 Vgl. dazu Grimm 1984, Bd. 32, Sp. 603 (Zunge).
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gebrauch« (»usus cotidianus«) der Franken orientieren will.376 Indem er sein Projekt sowohl gegenüber weltlichen als auch gegenüber geistlichen Instanzen legitimiert, bietet er eine umfassende Poetik der Kulturstiftung: Sein Evangelienbuch soll den Franken ihre christliche Berufung bewusst machen und sie dazu anspornen, sich mit einer ›kultivierten‹ Sprache für den kulturellen Wettstreit mit anderen Völkern zu rüsten. Gesichert werden soll damit – ausgehend vom göttlichen Ursprung der fränkischen Sprache – der bleibende Ruhm des fränkischen Volkes im Diesseits und im Jenseits. Luthers Bedeutung für die Entfaltung einer kohärenten ›deutschen‹ Identität liegt in der einzigartigen Radikalität, mit der er die Kultur- und Literaturfähigkeit der deutschen Sprache voraussetzte, dialektale Unterschiede überwand und die gesprochene Alltagssprache zum Maßstab für das Schriftdeutsche machte. Diesem Prinzip, das in seiner theologisch fundierten Überzeugung gründete, jeder Christ müsse ohne die Vermittlung des Klerus einen direkten Zugang zur Heiligen Schrift haben, verleiht er in seinem Sendbrief vom Dolmetschen einprägsamen Ausdruck. Für seine Argumentationsführung nutzt er die gängige ›Abgrenzung‹ zwischen der Gemeinschaft der Gelehrten und der Gemeinschaft des ungebildeten Volks, kehrt jedoch ihren Status unter Bezug auf die ›Kette der Wesen‹ um, indem er das gemeine Volk mittels der belebenden Figur der distributio als differenzierte Menschengruppe darstellt, die Gelehrten dagegen der Tierwelt zuordnet: den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet.377
Als Unterscheidungsmerkmal fokussiert Luther die Sprache: Die Gelehrten identifiziert er mit dem Lateinischen und der Schriftsprache, das Volk dagegen mit dem Deutschen und der mündlichen Sprache. Auch hier wird der konventionelle Status umgedreht: Während er Mütter, Kinder und Männer als sprachfähige Menschen in den kommunikativen Kontexten ihres täglichen Lebens situiert, erscheinen die Gelehrten als sprachlich inkompetent, da sie nicht mit Menschen, sondern mit toten Buchstaben kommunizieren und nicht angemessen zwischen den Sprachen und ihren unterschiedlichen Verwendungszwecken zu unterscheiden wissen. Luther kennzeichnet dadurch seinen eigenen Ansatz als radikale Anwendung des aptum-Prinzips, 376 Otfrid 1987, S. 22 f. (Widmung an Liutbert, Z. 103). Gisela Vollmann-Profe kommt angesichts unterschiedlicher Interpretationen der Charakteristika von Otfrids Übersetzungspraxis in der Forschung zu dem Schluss, es sei »nicht unmöglich, daß er doch mehr ›dem Volke aufs Maul geschaut‹ hat, als man bisher anzunehmen geneigt war«; die Schwierigkeit der Beurteilung ergibt sich aus der Unmöglichkeit, das gesprochene Althochdeutsch ausreichend zu rekonstruieren (Vollmann-Profe 1987, S. 256–258, Zitat S. 258). 377 Luther 1883 ff., Bd. 30/2, S. 637 (Sendbrief vom Dolmetschen).
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wobei die biblische Tradition einen Umgang mit der Sprache ermöglicht, der auch dem ›niedrigen‹ Stil hohen Wert zuerkennt. Die Projektion des Übersetzers in einen Dialog mit den deutschsprachigen Menschen in ihrem Lebenskontext verdeutlicht die Angemessenheit der polemisch dargestellten Methode für die Erforschung der lebendigen ›Rede‹. Das Prinzip des ›dem Volk aufs Maul Schauens‹378 beschreibt die physische Beobachtung der Sprachorgane und vermittelt zugleich metaphorisch die Notwendigkeit, die geistige Aufmerksamkeit auf die mündliche Sprache statt die Schrift zu lenken. Luther entzieht auf diese Weise den am Lateinischen orientierten Gelehrten die Autorität über die Volkssprache und überträgt sie aufs Volk selbst. Ausgeblendet bleibt in der einheitlichen Assoziation des Volks mit der Sprache »Deutsch« die Vielfalt der Dialekte, die noch im 18. Jahrhundert als Hindernis für die Etablierung einer literaturfähigen Sprache diskutiert wurde. Indem Luther jedoch mittels des kanonischen Textes eine Schriftsprache schuf, die über dialektale Unterschiede hinweg Akzeptanz fand, gelang ihm das erste, an Wirkung unübertroffene »klassische Buch« deutscher Sprache.379 Während die Volkssprache in der mittelalterlichen höfischen Literatur seit dem ausgehenden 11. Jahrhundert mit »erstaunlicher Selbstverständlichkeit« verwendet wird380 und auch die Dichtung des städtischen Bürgertums von volkssprachlichem Selbstbewusstsein geprägt ist, steht in humanistisch geprägten Kreisen noch bis ins ausgehende 18. Jahrhundert die Unzulänglichkeit der deutschen Sprache beziehungsweise ihre Verteidigung im Vordergrund, da sie am Latein und zunehmend auch an den zeitgenössischen europäischen Sprachen, vor allem dem Französischen, gemessen wird. Der Verteidigung des Deutschen gilt die Programmschrift von Opitz mit dem bezeichnenden Titel Aristarchus sive De Contemptu Linguae Teutonicae (Aristarchus oder wider die Verachtung der deutschen Sprache),381 die mit der Aufforderung schließt: »Bringt es endlich dahin, daß ihr den übrigen Völkern, welche ihr an Tapferkeit und Treue übertrefft, auch an Trefflichkeit eurer Sprache nicht nachsteht.«382 Im Hintergrund steht die im ›Federund-Schwert‹-Topos vorausgesetzte Äquivalenz von Sprachkraft und militärischer Macht. Eingeschrieben wird damit der Nationalsprache wie schon bei Otfrid ein politischer Wert, der sich im nationalen Projekt einer agonal 378 Luthers einprägsame Formulierung ist mittlerweile in leicht abgewandelter, assonierender Form sowohl in der Umgangssprache als auch – trotz des ›niedrigen‹ Stils – in der Sprachtheorie topisch geworden (vgl. z. B. Vollmann-Profes Definition von Otfrids Ansatz, s. o., Anm. 376) – Beispiel für Luthers Gabe, das ganze Volk anzusprechen. 379 Kontext ist Herders Nachruf auf Klopstock (1803) und eine Würdigung seines »Messias«: »Nächst Luthers Bibelübersetzung bleibt er Euch das erste klassische Buch Eurer Sprache« (Herder 1985–2000, Bd. 10, S. 763; Adrastea, 5. Bd., 9. Stück, 7. Brief). 380 Haug 1992, S. 72–74. 381 Opitz 1968 ff., Bd. 1, S. 51–75. Dt. Übers. in: Opitz 2002, S. 77–94. 382 Opitz 2002, S. 94.
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geprägten Sprachpflege manifestiert.383 Wie weit die Deutschen allerdings noch vom Ziel entfernt sind, geht aus der Tatsache hervor, dass das Programm auf Lateinisch verkündet wird. Die Pflege der deutschsprachigen Dichtung steht im späthumanistischen Kontext ganz im Zeichen der Sprachpflege, wobei Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey schon dadurch »zue beßerer fortpflantzung vnserer sprachen« dient,384 als es auf Deutsch verfasst ist. Gesucht wird nichtsdestoweniger die Anbindung an die lateinische Dichtung, die weiterhin als Maßstab für eine entwickelte Kultur dient: ich bin der tröstlichen hoffnung / es werde nicht alleine die Lateinische Poesie / welcher seit der vertriebenen langwierigen barbarey viel große männer auff geholffen / vngeacht dieser trübseligen zeiten vnd höchster verachtung gelehrter Leute / bey jhrem werth erhalten werden; sondern auch die Deutsche / zue welcher ich nach meinem armen vermögen allbereit die fahne auffgesteckt / von stattlichen gemütern allso außgevbet werden / das vnser Vaterland Franckreich vnd Italien wenig wird bevor dörffen geben.385
Opitz setzt hier strategisch den aus der Antike tradierten und im Wettstreit der neueren Kulturen etablierten ›Barbaren‹-Topos ein, mit dem sich die eigene Kultur synchronisch oder diachronisch gegenüber der fremden ›Unkultur‹ beziehungsweise ›Antikultur‹ abgrenzen lässt. Während die romanischen Kulturen die legitime Nachfolge Roms beanspruchen konnten, haftete gerade dem Deutschen der Ruf des ›Barbarischen‹ an, den Opitz hier auszuräumen sucht, indem er die »barbarey« in eine abgeschlossene Vergangenheit bannt und eine ›neue‹ Zeit konstruiert, in der die deutschsprachige Kultur mit der lateinischen gemeinsame Sache macht. Die besonders gegenüber dem Ausland als Schmach empfundene Anfälligkeit des Deutschen für die Assoziation mit dem ›Barbarischen‹ sollte allerdings noch im 18. Jahrhundert die Debatte um den Status der deutschen Sprache und Literatur bestimmen. So greift Sulzer 1771 bei seinem Lob von Opitz’ Leistung den Barbarentopos auf, wenn er bemerkt, dieser große Dichter hätte »nach einer so langen Barbarey« der »Nation« den Geschmack an echter Poesie vermitteln können; tatsächlich jedoch hätten erst Bodmer, Haller und Hagedorn »den Schimpf der Barbarey […] von Deutschland weggenommen«.386 Verfolgen lässt sich hier die Bedeutung des Topos für die Aufwertung der jeweiligen ›Jetztzeit‹: Die Überwindung der ›Barbarei‹ lässt sich beliebig in neuere Zeiten übertragen, um der eigenen Kultur ein klares Profil und einen hohen Wert zu verleihen. Die kulturpolitische Sig383 Vgl. zu diesem topischen Komplex Stukenbrock 2005. Sie behandelt in ihrer wichtigen Studie zum »Sprachnationalismus« die Bedeutung der »Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland« zwischen 1617 und 1945 (ebd., Untertitel). 384 Opitz 1966, S. 7 (Kap. 1). 385 Ebd., S. 14 (Kap. 3). 386 Sulzer 1771–74, Bd. 1, S. 257 (Dichtkunst. Poesie).
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nifikanz des Topos noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt die Schrift De la littérature allemande von Friedrich dem Großen aus dem Jahre 1780, in der er sich – bezeichnenderweise auf Französisch – zum Stand der deutschen Literatur äußert; bereits der Titel (hier in der im selben Jahr erschienenen offiziellen Übersetzung) verdeutlicht den programmatischen Charakter der Schrift: Über die deutsche Literatur; die Mängel, die man ihr vorwerfen kann; die Ursachen derselben und die Mittel, sie zu verbessern.387 Die Schrift lässt sich als Poetik mit kulturstiftendem Ziel fassen und traf angesichts des Status ihres Verfassers auf erhebliche Resonanz.388 Friedrich hatte sich in Bezug auf die deutschsprachige Geisteskultur vor allem dadurch hervorgetan, dass er ihr jede Unterstützung verweigerte und damit auch das Desinteresse der deutschen Aristokratie – also des finanzkräftigsten Teils der Bevölkerung – legitimierte; mit einem Jahresgehalt von 5000 Talern und weiteren Zuwendungen wurde nicht ein deutscher Dichter, sondern Voltaire nach Sanssouci eingeladen. Dargestellt ist Friedrichs Schrift als Ansporn eines väterlichen Förderers, der besorgt ist um die Rückständigkeit der deutschen Literatur, für die ihm Goethes Götz von Berlichingen – ein »ekelhaftes Gewäsche« – als schlagender Beweis dient.389 Friedrich erklärt diese Rückständigkeit mit den verheerenden Kriegen, die Deutschland »ebenso arm an Menschen als an Gelde machten«,390 vor allem aber mit der Unzulänglichkeit der deutschen Sprache, die »gar nicht kultiviert« wurde,391 da sie an den Höfen nicht gesprochen und von den Gelehrten nicht wissensfördernd an die Bevölkerung vermittelt wird, und die sich noch keinem einheitlichen Standard fügt:392 nun finde ich eine noch halb-barbarische Sprache, in so viele Dialekte verteilt, als Deutschland Provinzen hat. […] Es ist also physisch unmöglich, daß auch ein Schriftsteller von dem größten Geist diese noch ungebildete Sprache vortrefflich behandeln könne. Verlangt man vom Phidias eine Venus von Gnidus, so muß man ihm einen Marmor ohne Fehler, feine Meißel und gute Grabstichel geben. Nur dann darf man von seiner Arbeit etwas erwarten; aber ohne Werkzeug läßt sich kein Künstler denken.393
Friedrich entwirft ein Bild von einer Sprachkultur, die das Stadium der Kulturfähigkeit noch nicht erreicht hat; Maßstab ist ihm die Identität als Nationalsprache, wie sie das Französische erlangt hatte. Indem er die Sprache zugleich zu Stoff und Werkzeug erklärt, spricht er den deutschen Dichtern »physisch« die Möglichkeit ab, erfolgreich zu dichten. Er erteilt ihnen den 387 388 389 390 391 392 393
Friedrich II. 1985. Vgl. die Dokumentation in Steinmetz 1985. Friedrich II. 1985, S. 82. Ebd., S. 66. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 61 f.
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Rat, sie müssten »nur die alten und neuern klassischen Schriftsteller in unsre Sprache übersetzen«, um dem Mangel abzuhelfen394 – ein Programm also, das bereits die humanistischen Bestrebungen im 16. und 17. Jahrhundert bestimmt hatte, wobei zu jener Zeit immerhin auch Werke in deutscher Sprache verfasst wurden. Zum Ziel erklärt Friedrich jenes, das schon Otfrid nach römischem Muster den Franken anempfahl, um sie dazu zu bewegen, ihre Sprache und Dichtung zu pflegen: den nationalen Ruhm. Friedrich begreift die Literatur als notwendigen Teil des nationalen Profils und sieht sie wie schon Otfrid als unerlässliche Ergänzung zur militärischen Macht, wobei die zu besingenden ruhmreichen Taten hier seine eigenen sind. Er will seinen Landsleuten »Mut einflößen, durch unermüdete Arbeit die Schätze der Literatur auch für uns zu erwerben. Ihr Besitz fehlt nur noch, um den Ruhm unsrer Nation ganz vollkommen zu machen.«395 Friedrich schließt seine verspätete Kulturstiftung mit der Vorausschau auf »das gelobte Land« einer entwickelten Sprache mit »klassischen Schriftstellern«: »Indes übertreffen die Spätern zuweilen ihre Vorgänger. Dies könnte vielleicht bei uns eher der Fall sein, als man es glauben sollte.«396 In die Zukunft projiziert wird hiermit jenes ›klassische Zeitalter‹, das die Schriftsteller der Kulturnation zu jener Zeit ohne die Hilfe der großen Regenten zu verwirklichen suchten, wobei Friedrich die Erfüllung dieser Hoffnung paradoxerweise in der Unterstützung durch »unsre Regenten« sieht: Sie sollen die deutschen »Medicis« und »Auguste« sein, durch die »Genies« und »Virgile« »hervorkeimen« werden.397 Das ›Klassische‹ fungiert hier als zeitunabhängige Wertkategorie, mittels derer das in der Antike gründende Kunstideal in die neuere Kultur verpflanzt werden kann. Friedrichs Verurteilung der deutschen Sprache und Literatur ist für die Zeit extrem, aber seine Argumente finden durchaus auch bei Dichtern Entsprechungen. Lessing hatte 1767 in der Hamburgischen Dramaturgie aus der Perspektive des Dichters die Franzosen mit den Deutschen verglichen, wobei er deren Hochschätzung literarischer Kultur und vor allem deren Überzeugung vom »Werte eines Dichters« hervorhob, um unter Einsatz der Verspätungs- und Barbarentopik zum gleichen Schluss zu kommen wie Friedrich: »Wie weit sind wir Deutsche […] noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren!«398 Goethe attackiert 1786 in einem Brief an Charlotte von Stein »diese barbarische Sprache« und bezeichnet das Deutsche in den Venetianischen Epigrammen anhand ähnlicher Kunstmetaphorik wie bei Friedrich als »schlech394 395 396 397 398
Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 78. Ebd., S. 99. Ebd. Lessing 1985 ff., Bd. 6, S. 272 (Hamburgische Dramaturgie, 18. Stück).
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testen Stoff«.399 Thema des Aufsatzes Literarischer Sanscülottismus von 1795, in dem Goethe sich mit einer anonymen, wahrscheinlich von Daniel Jenisch verfassten Be- und Verurteilung der zeitgenössischen deutschen Literatur auseinandersetzt, sind der Mangel an deutschen ›klassischen Schriftstellern‹ und die Bedingungen, die für deren Entfaltung notwendig wären.400 Die retrospektiv als ›»Goldenes Zeitalter«‹ gefeierte Epoche der deutschen Literatur401 ist somit geprägt von der Reflexion über die Kriterien, die ein solches Zeitalter auf deutschem Boden ermöglichen könnten. Die Bedeutung des topischen Komplexes von ›Kultur‹ und ›Barbarei‹, deutscher ›Verspätung‹ und erstrebter ›Klassik‹ für die gemeinschaftliche Leistung deutschsprachiger Dichter im späteren 18. Jahrhundert lässt sich nicht systematisch definieren, denn es liegt in der Natur der Metapher, dass sie in ihrer wirksamsten Form Kognition, Sprache und Handlung untrennbar zusammenwirken lässt. Der nationalen Kulturstiftung jedenfalls lieferten diese Topoi im Bereich der Literatur die grundlegenden Muster. Glaubt man Heinz Schlaffer, so wird die gesamte ›Geschichte der deutschen Literatur‹ aus der ›Verspätung‹ und den dadurch motivierten zwei ›klassischen Zeiten‹ erklärbar, während die übrigen Zeiten jenem vorkulturellen Zustand ähneln, den das 17. und 18. Jahrhundert als ›barbarisch‹ bezeichnete.402 Man mag allerdings in der Reduktion dieser germanistischen Geschichte auf humanistisch gegründete Topoi vor allem die Macht identitätsstiftender Metaphern in der Legitimation der eigenen Zunft sehen – und in der Beachtung, die diese Kurze Geschichte erfuhr, die Attraktivität eines komfortablen Schemas, das tief im kulturellen Gedächtnis der Nation wurzelt. Die Erörtertung der Mängel deutscher Literatur geht nicht nur bei Friedrich II. einher mit der Hoffnung auf einen Sieg des ›verspäteten‹ Volkes, nach dem Muster der Fabel von Hase und Igel.403 Der Zuversicht, dass 399 Goethe 1985 ff., Bd. 29, S. 624 (Goethe an Frau von Stein, 26.1.1786); ebd., Bd. 1, S. 449 (Venetianische Epigramme, Nr. 29, V. 6). 400 Ebd., Bd. 18, S. 319–324 (Literarischer Sanscülottismus). Vgl. auch den Kommentar d. Hg., ebd., S. 1185 f. 401 Schlaffer 2002, S. 156. 402 Ebd., S. 136, 156 u. passim. 403 Literaturgeschichtlich ausgewertet ist dieser Topos in Schlaffers These, dass die Konzentration deutscher kanonischer Autoren in der Goethezeit und Moderne jeweils auf »Verspätung« zurückzuführen sei: im Falle der klassisch-romantischen Epoche auf das von den Protestanten ausgehende Aufholen der »deutschen Literatur« (ebd., S. 156 u.ö.), im Falle der Moderne auf ein regional und gruppenspezifisch verstandenes Aufholen der »verspäteten« katholischen Region Österreich und der emanzipierten Juden (ebd., S. 136). Dies lässt sich als Tatsache interpretieren, als Beispiel der realitätsstiftenden Macht eines allgemein akzeptierten Topos, oder als Beispiel für das anhaltende Bestreben deutscher Literaturgeschichtsschreiber, »die Physiognomie eines Besonderen, eben der Geschichte der deutschen Literatur, zu erhellen« (ebd., 157) – ohne dass sich diese Interpretationsmöglichkeiten gegenseitig ausschließen müssen.
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die Deutschen ihre ›Vorgänger‹ überholen werden, gibt Novalis in seinen Blüthenstaub-Fragmenten Ausdruck, nun nicht durch die Metapher des beschrittenen Weges, sondern durch individualisierende Personifikation und genealogische Metaphorik: Der Deutsche ist lange das Hänschen gewesen. Er dürfte aber wohl bald der Hans aller Hänse werden. Es geht ihm, wie es vielen dummen Kindern gehn soll: er wird leben und klug seyn, wenn seine frühklugen Geschwister längst vermodert sind, und er nun allein Herr im Hause ist.404
Artikuliert ist hier ein Anspruch auf die Alleinherrschaft deutscher Kultur. Eine typisch goethesche Uminterpretation erfährt dieser Topos in Wilhelm Meisters Wanderjahre in einem Spruch »Aus Makariens Archiv«. Der Deutsche wird nun aus dem humanistischen Wettkampf herausgelöst, um sich so zu einer unabhängigen, andere Nationen gerade dadurch an Wert übertreffenden Größe zu entfalten: Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen Nachbarn zu steigern; es ist vielleicht keine Nation geeigneter sich aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten Vorteil gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm.405
Dieses Argument entspricht auf nationaler Ebene der für Goethes eigene schöpferische Entwicklung kennzeichnenden Lösung aus dem Zwang zum Wettstreit, wie sie in der Elegie Herrmann und Dorothea artikuliert ist.406 Eine andere Variante deutscher Selbstlegitimation findet sich bei Schiller, der in Die deutsche Muse die von Friedrich entfaltete Topik nutzt, um der deutschen Dichtung eine eigene Identität und Größe zu verleihen, die gerade darauf beruht, dass ihr »Kein Augustisch Alter blühte« und »Keines Medicäers Güte« und dass sie von Friedrich »schutzlos, ungeehrt« sich entwickeln musste.407 Er gründet die Feier des deutschen Genies auf dessen Eigenständigkeit: Rühmend darfs der Deutsche sagen, Höher darf das Herz ihm schlagen, Selbst erschuf er sich den Wert. Darum steigt in höherm Bogen, Darum strömt in vollern Wogen Deutscher Barden Hochgesang, Und in eig’ner Fülle schwellend, Und aus Herzens Tiefen quellend Spottet er der Regeln Zwang.408
404 Novalis 1977, Bd. 2, S. 437 (Blüthenstaub, Nr. 61). 405 Goethe 1985 ff., Bd. 10, S. 769 f. (Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, Aus Makariens Archiv, Nr. 148). 406 S.o., S. 442 f. 407 Schiller 1988–2004, Bd. 1, S. 201 (Die deutsche Muse, V. 1 f. und 9). 408 Ebd. (V. 10–18).
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Friedrich wird hier gewissermaßen ex negativo zum Stifter der deutschen Dichtung erklärt: Indem er, der »größte deutsche Sohn«,409 ihr den väterlichen Schutz versagte, ermöglichte er ihr die unabhängige Entfaltung ihrer innersten und ursprünglichsten Kräfte. Der große Herrscher des Aufklärungszeitalters verhalf ihr damit zum ›Ausgang aus ihrer künstlerischen Unmündigkeit‹. Die »deutschen Barden« in Schillers Gedicht sind die positive Entsprechung zum Barbarentopos und haben ebenfalls eine beachtliche poetologische Tradition, die im Bardenkult der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und insbesondere der Verehrung des keltischen ›Homer‹, James Macphersons ›Ossian‹, ihre stärkste Ausprägung erfuhr, aber beispielsweise schon in Schottels Fruchtbringendem Fruchtgarten Bedeutung erlangte.410 Schottel beruft sich auf Tacitus, um unter Einsatz von Reinheitsmetaphorik zu erweisen, dass die »alten Teutschen« ihre »alte Muttersprache […] unvermengt / und unverdorben bewahret / und auf uns gebracht« haben,411 und konstruiert für die deutschen Dichter eine Genealogie, in der ihre Vorfahren, die Kelten, bis in die Antike zurückreichen.412 So erklärt Widod, ein »Celtischer uhralter Poet«, der als einzelgängerischer Vorfahr der Sprachgesellschaften »nach unserer edelsten Teutschen Muttersprache« forscht: »Die alten Celter / Egypter / und Griechen / seynd weise / hocherfahrne / Tugendergebene / und nicht slechte Barbarische Leute / wie ein Unverstendiger denken möchte / gewesen.«413 Entsprechend nutzt auch Lessing diesen Topos, um ein in der deutschen Geschichte wurzelndes Ideal literarischer Kultur zu evozieren. Denn nachdem er im 18. Stück der Hamburgischen Dramaturgie – wie oben zitiert – die gegenwärtigen Deutschen gegenüber den Franzosen als »Barbaren« diskreditiert hat, wertet er sie noch weiter ab, indem er die historischen Barbaren als vergleichsweise vorbildlich darstellt: [Wir sind] Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersänger ein sehr schätzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgültigkeit gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Bärfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre? sicherlich für die Frage eines Narren gehalten hätten!414
Der Wert des Dichters wird damit zur Selbstverständlichkeit erklärt, die in der eigensten literarischen Kultur verankert ist, aber von den deutschen Zeitgenossen nicht erkannt wird. 409 410 411 412
Ebd. (V. 7). Zur Suche der Deutschen nach ihrer kulturellen Identität vgl. See 1994, bes. S. 31–82. Schottel 1967, S. )( iiiv (Vorrede). Vgl. Klaj, demzufolge »die alten Weltweisen in Griechenland von den Ebraeern und ihren Nachkommen / denen Celten / unterrichtet« wurden und das Lateinische wiederum »aus der alten Celtischen / das ist Teutschen / und der Griechischen Sprachen […] ausgeputzet« wurde (Klaj 1965, S. [391]-[392]; im Original S. 7 f.). 413 Schottel 1967, S. 214 f. (4. Abtheilung). 414 Lessing 1985 ff., Bd. 6, S. 272 (Hamburgische Dramaturgie, 18. Stück).
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Das flexible Legitimationspotenzial dieses topischen Komplexes greift Klopstock 1774 in seiner Deutschen Gelehrtenrepublik auf, um in literarischer Form einem Projekt Gestalt zu geben, das in der Realität deutscher Kulturgeschichte gescheitert war: Sein ambitionierter ›Wiener Plan‹ – in den er auch Lessing und andere Schriftsteller einweihte – sollte Kaiser Joseph II. dazu bewegen, als neuer ›Augustus‹ eine umfassende Förderung deutscher Geisteskultur in Angriff zu nehmen.415 Der Wiener Hof jedoch zeigte sich desinteressiert. So fand der Wiener Plan als in die Zukunft projiziertes »Fragment aus einem Geschichtschreiber des neunzehnten Jahrhunderts« unter Beigabe von brieflichen Dokumenten Eingang in die Deutsche Gelehrtenrepublik, um dort noch einmal die »Unterstüzung der Wissenschaften, die wir zu erwarten haben«, einzufordern.416 Der in der humanistischen Tradition als übernational konzipierte Topos von der respublica litteraria soll den Deutschen in germanisierter Form die Vision von einer großen, historisch gegründeten deutschen Kultur vermitteln. Als Poetik ist das Werk insofern zu betrachten, als es eine Geschichte deutscher Kultur entwirft, die der Dichtung in programmatischer Verbindung mit der Geschichtsschreibung und Redekunst eine herausragende Bedeutung für die Entfaltung der deutschen Kultur zuweist. Das Werk bietet somit eine rhetorisch gegründete Antwort auf den platonischen Philosophenstaat:417 Ziel ist nicht die Erforschung und Vermittlung einer übermenschlichen Wahrheit unter dem Primat des Denkens, sondern die wirklichkeitsorientierte Kulturstiftung durch Sprache mittels der ganzen Spannweite ihrer diachronischen und synchronischen Wirkungsmöglichkeiten. Die ›interne‹ Identitätsstiftung der ›Republik‹ erfolgt durch die lebendige Pflege des ›festen Buchstabs‹ in einer bewohnten Kulturlandschaft, wo die Entdeckung eines uralten, in Stein gehauenen Gesetzes in der Gegenwart diskutiert wird, um die Richtung der Republik für die Zukunft zu bestimmen. Das Werk dokumentiert die unter Bezug auf römische und germanische Rechtsdenkmäler entworfenen »Gesetze« der Republik sowie die im gegenwärtigen Prozess von fiktiven Chronisten erzählte »Geschichte des lezten Landtages« vom Jahre 1772, als sich »die Republik, der Gewonheit gemäß, an dem alten Eichenhaine« versammelte;418 Eiche und Hain als Symbole der ›germanischen‹ Landschaft vermitteln eine ungebrochene Tradition germanischer Kultur auf germanischem Boden. Ergänzt werden die zeitlosen Gesetze und die Chronik durch »Verse«, geschichtliche »Denkmale 415 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1–2. S.a. den ausführlichen Kommentar von Hurlebusch, ebd., Bd. 7/2. S.a. Kohl 2000, S. 108–121. 416 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 219–226, Zitate S. 220 f. (Geschichte des lezten Landtages, Unterstüzung der Wissenschaften, die wir zu erwarten haben). 417 Vgl. Kohl 2000, S. 108 f. 418 Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 93 (Erster Morgen).
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der Deutschen« sowie Berichte von Projekten, die eine kollektive Pflege der deutschen Sprachkultur verwirklichen: »Aus einer neuen deutschen Grammatik«, »Von einem zu schreibenden deutschen Wörterbuche« und »Zur Poetik«.419 Diese Projekte sind unter Bezug auf ähnliche Bestrebungen in den maßgeblichen Nationalkulturen – besonders Großbritannien, Frankreich und Italien – konzipiert und sollen die deutsche Sprache für den Kampf mit den anderen Kulturen rüsten. Der Wettstreit dient der ›außenpolitischen‹ Identitätsfestigung, indem er zur produktiven Nacheiferung herausfordert. Durchgängig wird die fiktive Republik zur empirischen Wirklichkeit in Bezug gesetzt, so durch die Person des fiktiven ›Herausgebers‹ und empirischen Autors Klopstock und die Einbeziehung der wirklichen Korrespondenz zum ›Wiener Plan‹. Den Höhepunkt des Landtags bildet die Darstellung einer Vision von der Expansion deutscher Kultur: Mobilisiert wird dadurch eine »heilige Cohorte« von Jünglingen, in denen sich die Mitglieder des Göttinger Hain wiedererkannten.420 Das Werk ist keineswegs fiktional im Sinne der aristotelischen Tradition. Vielmehr projiziert Klopstock seine in der zeitgenössischen Wirklichkeit nicht realisierbare Vorstellung von einer deutschen Nationalkultur in einen metaphorischen ›Raum‹, der als ›kulturelles Gedächtnis‹ im Sinne der Definition von Jan Assmann fungieren soll: Das Gruppengedächtnis [hat] keine neuronale Basis […]. An deren Stelle tritt die Kultur: ein Komplex identitätssichernden Wissens, der in Gestalt symbolischer Formen wie Mythen, Liedern, Tänzen, Sprichwörtern, Gesetzen, heiligen Texten, Bildern, Ornamenten, Malen, Wegen, Landschaften objektiviert ist.421
Indem Klopstock ein aus vielen Bestandteilen zusammengesetztes Textkonvolut schafft, das auf vielfältigste Weise mit der Wirklichkeit deutscher Kultur und Kulturgeschichte verknüpft ist, stellt er den Deutschen ein im ›Buchstab‹ gefestigtes ›Gedächtnis‹ zur Verfügung. Die Ausgestaltung der deutschen respublica litteraria ist jedoch keineswegs statisch auf die Vergangenheit fokussiert. Vielmehr evoziert der ›Feder-und-Schwert‹-Topos eine in die Zukunft weisende Dynamik: Der Landtag kulminiert im »neuen Gesez vom Übertreffen«, das die gewaltsame Ausrottung der »falschen Cultur« und die ›Besetzung‹ von »Gegenden«, »Landschaften« und »Reichen« durch die gemeinschaftlich entwickelte deutsche Kultur vorschreibt; vorausgesetzt ist dabei der Einsatz des Wortes als Waffe.422 Verbunden ist diese 419 420 421 422
Ebd., vgl. Inhalt, S. 237–243. Ebd., S. 233 (Geschichte des lezten Landtages, 12. Morgen). Vgl. Lüchow 1995. Assmann, J. 1992, S. 89. Klopstock 1974 ff., Werke, Bd. 7/1, S. 228 f. (Geschichte des lezten Landtages, 12. Morgen). Vgl. andernorts die Gegenüberstellung von »Handeln« und »Schreiben« (ebd., S. 22), den Vergleich zwischen dichterischem und militärischem »Lorber« (ebd., S. 146) und die satirische Ausgestaltung des ›Feder-und-Schwert‹-Topos in Bezug auf gelehrte Streitschriften (ebd., S. 31 f.).
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Metaphorik mit agrarischer Kultivierungsmetaphorik, so wenn den Deutschen empfohlen wird, in den eroberten Ländern als »Anbauer« den »Pflug« zu benutzen und »Saat zu streun«.423 Wenn auch das Werk aufgrund mangelnden Publikumserfolgs scheiterte – der für 1775 vorgesehene zweite Teil wurde nicht fertiggestellt – so hatte es doch gerade unter den Dichtern der Zeit eine erhebliche Wirkung.424 Die kulturnationalistisch geprägte Sprachpflege, Landschaftssymbolik und Wettstreittopik wiesen in eine Richtung, die für die Entwicklung deutscher Identität enorme Bedeutung erlangen sollte – und zum Inbegriff moderner ›Barbarei‹ wurde. Von besonderem Interesse ist das Werk nicht zuletzt deswegen, weil es der Feder eines Schriftstellers entstammte, der den politischen Eroberungskrieg dezidiert ablehnte.425 Denn aus heutiger Sicht macht Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik die Nähe zwischen dem weit in die Vergangenheit zurückreichenden, mittels der Feder propagierten deutschen Kulturnationalismus und den katastrophalen Auswüchsen des militärisch durchgesetzten politischen Nationalismus erschreckend deutlich.426 Die Diskussion um die Notwendigkeit einer identitätsfestigenden Verbindung zwischen Sprache und Literatur bleibt nach dem 18. Jahrhundert weiterhin aktuell, wenn auch in wechselnden Argumentationskomplexen. So erstrebt Otto Ludwig in seinen Shakespeare-Studien eine eigenständige deutsche Dichtung, die von einem »Nachschaffen« shakespearescher Techniken profitiert, ohne doch in ein »Nachahmen« zu verfallen.427 Garant für die Vermeidung der Nachahmung ist ihm das »Studium der deutschen Sprache« und vor allem das Vorbild Martin Luthers, in dessen Schriften er die »Sprache des Lebens« zu finden hofft:428 Wenn irgendwo die echtdeutsche Erscheinung von Leidenschaft und vertraulichem und Weltleben zu studiren ist, so muß sie bei dem urdeutschen Luther zu studiren sein. Von dorther könnte deutsche Sprache, deutsches Wesen wieder concretes Blut gewinnen.429
Untrennbar verbunden sind hier deutsche Sprache, deutsche Literatur und deutsches Wesen, lebendig verkörpert im »urdeutschen« Vorbild Luthers. In dieser personifizierenden Projektion deutscher Identität ist das »Blut« eine Spielart der traditionellen genealogischen Metaphorik; im folgenden Jahr423 424 425 426
Ebd., S. 229 (Geschichte des lezten Landtages, 12. Morgen). Vgl. die Rezeptionsdokumente ebd., Bd. 7/2, S. 313–377. Vgl. die Ode »Der Erobrungskrieg«, in: Klopstock 1981, Bd. 1, S. 150 f. Klopstocks »Gelehrtenrepublik« ist für die Entwicklung des deutschen Sprachnationalismus zentral, findet jedoch in Stukenbrock 2005 keine Berücksichtigung; dies ist wohl ein Reflex der weitgehenden Ausblendung des Werkes aus der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. 427 Ludwig 1874, S. 348 (Die Sprache Luther’s). 428 Ebd. 429 Ebd.
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hundert wurde die Metapher bis hin zur Züchtung eines genetisch ›reinen‹ deutschen Blutes konkretisiert. Das destruktive Wirklichkeitspotenzial solcher sprachlicher Metaphern zeigte sich im Nationalsozialismus, als sie mit einzigartiger Konsequenz für die gewaltsame Durchsetzung einer expansionistischen Politik nutzbar gemacht wurden. Allerdings verdeutlicht der Bezug zur griechisch-römischen Antike – der ja gerade im Selbstverständnis der deutschen Kulturträger bedeutsam blieb und beispielsweise in den Olympischen Spielen von 1936 gefeiert wurde –, dass ein solcher Bezug zur politischen Praxis keineswegs neu war; dichterischer Wettstreit, sportlicher Wettkampf und blutiger Krieg waren auch in der Antike verknüpft. Gerade aufgrund der kontinuierlichen, ehrwürdigen Tradition dieses Zusammenspiels konnte es so wirksam auf deutschem Boden inszeniert werden. Die Verbindung zwischen Kulturstiftung, Sprachstiftung und Literaturstiftung blieb in der Nachkriegszeit in einem radikal veränderten gesellschaftlichen und geistigen Kontext aktuell: Sie diente nun dazu, den Bruch mit einer nationalsozialistisch bestimmten Kultur, Sprache und Literatur zu markieren, zugleich aber ermöglichte sie eine neuerliche Identitätsfindung. In seinem Nachwort zu Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten fordert Wolfgang Weyrauch im Jahre 1949 die zeitgenössischen Schriftsteller auf, eine Literatur zu entwickeln, »welche die unsre ist«; sie soll sich mit ausländischen Literaturen auseinandersetzen, sie aber nicht »nachahmen«.430 An den Anfang dieses Projekts stellt er die Sprache, wenn er konstatiert, dass »die Verfasser der Kahlschlag-Prosa […] von vorn anfangen, ganz von vorn, bei der Addition der Teile und Teilchen der Handlung, beim A – B – C der Sätze und Wörter«.431 Die auf Natur und Kindheit rekurrierende Metaphorik des Bruchs und Neuanfangs suggeriert die Möglichkeit einer Literatur ohne Tradition und ohne Gedächtnis und eliminiert auf diese Weise die Notwendigkeit der Trauerarbeit und Auseinandersetzung mit der Schuld. Heinrich Böll befasst sich 1964 in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen ebenfalls mit der Sprache, hier jedoch ist die Sprache als menschenwürdiger Raum konzipiert, den es zu schaffen gilt: Böll macht sich auf die »Suche nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land«.432 Die Metapher leitet er aus H.G. Adlers Roman Die Reise ab, in dem das ›Gebot‹ der Nationalsozialisten an die jüdischen Deutschen im Zentrum steht: »Du sollst nicht wohnen!«433 Für den aus Prag stammenden, deutschsprachigen, jüdischen Dichter Adler selbst blieb allerdings die ehemalige – beziehungsweise ehemals – deutschsprachige Heimat unbewohnbar und die dich430 431 432 433
Weyrauch 1949, S. 216. Ebd. Böll 1979, S. 53. Adler 2002, S. 10; vgl. Böll 1979, S. 53. Zur Problematik der Identität jüdischer Kultur im deutschsprachigen Raum vgl. Robertson 1999.
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terische Arbeit mit der deutschen Sprache aus dem Exil heraus ein Prozess der spannungsvollen »Konfrontation«.434 Seit der Wende partizipiert die Literatur an der Diskussion um die brisanten Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen in einem politisch, aber nicht kulturell vereinigten Deutschland. Zur Disposition steht die seit der NS-Zeit destabilisierte ›Heimat‹, die Identität ›deutscher‹ Kultur sowie auch die deutsche Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Sprachen. In einer politisch in Bewegung sich befindenden Landschaft erhält die Literatur den Wert eines metaphorischen ›Raums‹, der Autoren verschiedener Herkunft zusammenzuführen vermag, wie die deutsch schreibende Tschechin Libuše Moníková konstatiert: »Die Literatur ist selbst der Ort, an dem ich mich als Schriftstellerin befinde. Die Autoren können dann aus einem beliebigen Land kommen – Joyce aus Irland, Pynchon aus Amerika, aus Deutschland Arno Schmidt.«435 Indem sie Deutschland als Ort projiziert, der »kein Zuhause und kein Zentrum« darstellt,436 hinterfragt sie in ihren Romanen zugleich die Privilegierung nationalstaatlicher Zentren gegenüber exotischen Peripherien: Dargestellt ist eine Welt, in der »die Ferne […] in gewisser Weise relativ« ist.437 In Herta Müllers Reisende auf einem Bein wird das Motiv des Reisens als Variante des Wegschemas zu einem Prozess der Identitätssuche, dem die Möglichkeit der Ankunft versagt ist: Die Reise hat aus dem »anderen Land« nach Deutschland geführt,438 aber das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft bringt keine Erfahrung nationaler Identität.439 Am Ende des Romans sieht die Protagonistin in Deutschland nicht sesshafte Nationalbürger, sondern »Menschen, die nicht mehr wußten, ob sie nun in diesen Städten Reisende in dünnen Schuhen waren. Oder Bewohner mit Handgepäck«;440 die Unmöglichkeit der Ankunft wird hiermit auch auf die Ansässigen übertragen. Für Müller ist die Sprache kein Mittel der Identitätsfindung, denn für sie befindet sich »die Poesie […] in der Welt, nicht in der Sprache«.441 Die Sprache »transportiert ja nur«; sie ist »eine geruch-, geschmack- und farblose Sache, und es hängt ja immer individuell von jedem einzelnen ab, was er daraus macht«.442 Die natürliche, kulturgebundene Sprache wird hier durch zweierlei Raummetaphern radikal abgewertet: Nicht die Sprache kann bewohnbar gemacht werden, sondern nur die Welt; 434 435 436 437 438 439 440 441 442
Adler, H.G. 1998b, S. 25. Moníková 1997, S. 452. Ebd., S. 453. Ebd. Müller, H. 1995, S. 7. Ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Ebd., S. 470. Ebd.
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und die Sprache wird ihrer sinnlichen Kraft beraubt, um den Dingen den Vorrang und dem Individuum die Verantwortung zu geben. Auf diese Weise schafft Müller eine sprachunabhängige Poetik, die nationale und kulturelle Grenzen transzendiert. Für andere Autoren dagegen steht die Sprache poetologisch im Vordergrund. Wie schon bei Otfrid ist dabei die in Deutschland benutzte ›Zunge‹ nicht selbstverständlich die deutschsprachige Zunge. Wenn Emine Sevgi Özdamar in Mutterzunge eingangs schreibt, »In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache«, so ist ›ihre‹ Sprache das Türkische, das sie sich unter Einbezug türkischer Sprachelemente als »Mutter Zunge« und mit Einbezug auch der arabischen Schrift als »Großvater Zunge« auf Deutsch erschreibt.443 Der ebenfalls aus der Türkei stammende Schriftsteller Zafer S¸enocak liefert unter dem Titel Zungenentfernung einen aus Essays bestehenden Bericht aus der Quarantänestation Deutschland, um die Einstellung der Deutschen gegenüber türkischen Einwanderern unter dem Aspekt einer potenziell pathologischen Abgrenzung zu diskutieren.444 Zugleich jedoch geht es um die eigene Beziehung zur deutschen Sprache, die zu einer Möglichkeit der intensiven emotionalen Verbindung wird: »Ich und mein Deutsch haben eine Liebesbeziehung.«445 Die deutschsprachige Literatur ist hier das Medium, in dem Sprache und Denken, Kultur und Deutung der Welt, Eigenes und Fremdes, Wirklichkeit und Utopie in ein allumfassendes Interaktionsverhältnis zu treten vermögen: Wenn ich mein Verhältnis zur deutschen Sprache skizziere, dann nicht als Verhältnis zu einer Fremdsprache, sondern zu einer Literatursprache, in der ich denken, die Welt deuten, träumen und das Angedachte und Erträumte schreiben kann.446
Vorausgesetzt ist eine auf die menschliche Gemeinschaft ausgerichtete Literatur, die keiner Abgrenzung gegenüber dem ›Fremden‹ bedarf, sondern sich als sprachliche Beziehung zum Mitmenschen verwirklicht: »Wenn man schreibt ist man niemals allein, sondern man kommuniziert.«447 Diese Kommunikation ist nicht an die eigene Sprache, die nationale Identität oder einen geographischen Raum gebunden, sie ist nicht auf die eigene Zeit beschränkt und auch nicht in einen ästhetisch autonomen Bereich eingegrenzt: Daß ich mich mit dem Koran und der Mathnawi des Mystikers Rumi beschäftige, ist für mich genauso selbstverständlich wie die Beschäftigung mit der Lyrik von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Von dort aus ist es nicht mehr weit zu Heidegger, zu Wittgenstein und zur Bibel.448 443 444 445 446 447 448
Özdamar 1998, S. 9 und 15. S¸enocak 2001. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 92. Ebd.
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8. Rühmung und Ruhm Die Erklärung Friedrichs des Großen, es bedürfe der Literatur, »um den Ruhm unsrer Nation ganz vollkommen zu machen«,449 bezieht sich auf die bis ins 18. Jahrhundert wohl bedeutendste Möglichkeit der öffentlichen Legitimation von Dichtung: die Fama-Funktion. Auf diese verweist auch Rilke mit seiner Bestimmung des archetypischen Dichters Orpheus: Er ist »Ein zum Rühmen Bestellter«.450 Im Ruhm konzentriert sich die Vorstellung von einer kommunikativen Kraft, welche die räumlich und zeitlich begrenzte, unmittelbare Wirkung des Menschen und seiner Taten zu überwinden vermag. Bertolt Brecht empfiehlt im Jahre 1935, die neu entstehenden Gebäude in der Sowjetunion mit Gedichten zu beschriften, die den revolutionären »Heroismus« der Bevölkerung feiern, denn es sei »Aufgabe« der Lyrik, »die Taten großer Generationen zu besingen und dem Gedächtnis aufzubewahren«.451 Sein Vorschlag verdeutlicht die Entstehung und Tradierungsweise des Ruhms sowie seine Bedeutung in einer Schriftkultur: Notwendig ist die lobenswerte Tat, die in der Gemeinschaft kommunikative Anerkennung findet und durch ein zeitüberdauerndes Medium an die Nachwelt weitergegeben wird. Wenn Brecht ebenfalls den individuellen Ruhm des Dichters für erforderlich hält – »Schreiben ohne Ruhm | ist schwer«452 – so ist dies der FamaFunktion nicht entgegengesetzt, sondern Teil derselben Vorstellung von der Notwendigkeit einer raum- und zeitübergreifenden Wirkung. Je mehr sich der individuelle Dichter in einer Gemeinschaft profiliert, desto wirkungsvoller kann er sein eigenes Werk als lobenswerte Tat auf die Nachwelt bringen. Rühmung und Ruhm, Held und Dichter, große Tat und großes Gedicht, ›Schwert‹ und ›Feder‹ finden im Ruhm ihre gemeinsame synergetische Bestimmung. Die Schrift ermöglicht eine Tradierung der Erinnerung über den Tod von Individuen hinaus und eine vorgestellte Unsterblichkeit, die sich Aleida Assmann zufolge als weltliche Entsprechung zur Unsterblichkeit der Seele verstehen lässt: »Die Verewigung des Namens ist die weltliche Variante des Seelenheils. Für sie kommen nicht Familienangehörige, Priester, Klöster und Stifter auf, sondern Sänger, Dichter, Historiker.«453 Während im alten Ägypten der religiöse Totenkult mit der weltlichen Fama-Kultur verknüpft 449 Friedrich II. 1985, S. 78. 450 Rilke 1996, Bd. 2, S. 244 (Sonette an Orpheus, I/7, V. 1). 451 Brecht, B. 1988–2000, Bd. 22/1, S. 141 (Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur). Vgl. auch das Gedicht »Vorschlag, die Architektur mit der Lyrik zu verbinden« (ebd., Bd. 14, S. 301 f.). 452 Ebd., Bd. 14, S. 315 (Über das Lehren ohne Schüler, V. 1–3). 453 Assmann, A. 1999, S. 38.
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war, entwickelt letztere im antiken Griechenland eigenständige Institutionen;454 die zunächst als Herrschaftsprivileg geltende Fama-Funktion des Dichters wird demokratisiert und verwirklicht sich vor allem in der Wettkampf-Kultur. Der Dichter erlangt einen hohen Status, da er dem Helden und seinen Taten ewige Geltung versprechen kann: »Dem Dichter wird in einer solchen Kultur eine besondere Kunst (oder Magie) der Ferne-Kommunikation zugeschrieben, kraft derer er auf die noch ungeborenen Adressaten einer späteren Zeit einzuwirken vermag.«455 Diese besondere kommunikative Wirkung, die sich im kollektiven Gedächtnis vollzieht, hat in der deutschsprachigen Poetik eine Bedeutung, die sich mit den wechselnden Funktionen der Dichtung verändert, ohne doch je den Bezug zu den grundlegenden Funktionen in der Antike zu verlieren, zumal auch dort schon der individuelle Ruhm des Sängers Profil gewinnt. Das Verlangen nach möglichst weitreichendem Ruhm hat auch in der heutigen Gesellschaft an Attraktion nichts eingebüßt – man denke an das Bedürfnis, ›im Fernsehen zu sein‹. Gegenüber dem schriftlich tradierten Ruhm, der eine zeitliche Verzögerung beziehungsweise Extension impliziert und vor allem im Humanismus in die zeitliche Unendlichkeit strebt, bietet das Medium des Fernsehens die Möglichkeit eines sofortigen, in die räumliche Weite strebenden Ruhms. Er hat den Vorteil, dass er das Ruhmbedürfnis sofort befriedigt; gerade dadurch wird jedoch die Vergänglichkeit des Ruhms fühlbar, denn es drängen immer wieder neue, bessere, jüngere Ruhmbedürftige in das Medium. Die Bedeutung des Topos liegt in der Spannung zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit, dem kleinem geselligen Kreis und der großen Welt, der dauerhaften Substanz und dem Nichts. Der Topos ist nicht aufgrund einer systematischen ›Übertragung‹ metaphorisch, sondern insofern, als er eine ›Ferne-Kommunikation‹ vorstellbar macht, die durch physische Träger vermittelt wird, ohne von physischen Grenzen eingeschränkt zu sein. Die Bedeutung der Rühmung großer Taten für die Entfaltung einer kultivierten Sprache und Literatur hebt Otfrid hervor: Die Rückständigkeit der fränkischen Sprache führt er unter anderem darauf zurück, dass die Franken, anders als viele andere Völker, ihre eigene Geschichte und die Taten der Vorfahren nicht an die Nachwelt überliefern; wenn sie es tun, so nicht in der eigenen Sprache.456 Im Mittelalter steht der ›Dienst‹ des Dichters gegenüber dem Besungenen im Vordergrund. Die Fama-Funktion dient in der geistlichen Dichtung Gott, dem ›Herrscher‹ der Welt, und in der höfischen Dichtung vornehmlich dem Hof, der seinen Ruhm am Ideal des Artushofs steigert, so in Hartmanns Iwein: König Artus »hat sich Ruhm 454 Ebd. 455 Ebd., S. 39. 456 Otfrid 1987, S. 24 f. (Widmung an Liutbert, Z. 116–118).
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erworben, | so daß noch immer sein Name lebt, | auch wenn er selber gestorben ist« ([König Artus] »hât den lop erworben, | ist im der lîp erstorben, | sô lebet doch iemer sîn name«).457 Im Minnesang gilt das Rühmen der verehrten Dame, wobei Walther die gegenseitige Abhängigkeit von Sänger und Besungener betont, wenn er sein Leid über die Abwendung derjenigen beklagt, der er ein hohes Ansehen verschaffte: »Ja, sie weiß nicht, daß ihr Ruhm vergeht, wenn ich aufhöre zu singen« (»Jâ enweiz si niht, swenne ich mîn singen lâze, daz ir werdekeit zergât«).458 Wie den Sänger und den Helden eint hier Verbindungsmetaphorik den Sänger und die geliebte Frau; der Ruhm bestimmt im öffentlichen Kontext den Wert der Besungenen, und er bedarf der sprachlichen Vermittlung. Etabliert ist jedoch im Mittelalter auch die Notwendigkeit einer öffentlichen Anerkennung des Dichters und seines Werkes. So wird im Prolog zu Gottfrieds Tristan ein kunstverständiges Publikum gefordert, das bereit ist, gute Kunst zu loben: Tiure unde wert ist mir der man, der guot und übel betrahten kan, der mich und iegelîchen man nâch sînem werde erkennen kan. Êre unde lop diu schepfent list, dâ list ze lobe geschaffen ist: swâ er mit lobe geblüemet ist, dâ blüejet aller slahte list. Rehte als daz dinc z’unruoche gât, daz lobes noch êre niene hât, als liebet daz, daz êre hât und sînes lobes niht irre gât. (Lieb und teuer ist mir derjenige, | der Gut und Schlecht abzuwägen versteht, | der mich und jeden anderen | nach seinem Wert richtig beurteilen kann. || Hochachtung und Anerkennung fördern die Kunst, | wo Kunst zum Lobe taugt. | Wo sie mit Lobpreis verherrlicht wird, | da blüht sie in vielerlei Art. || So wie das Werk in Gleichgültigkeit absinkt, | das weder Anerkennung noch Ruhm erworben hat, | so gefällt dasjenige, das gepriesen wird | und dem Lob nicht versagt bleibt.)459
Gottfried liefert hier eine komprimierte Theorie von der Bedeutung der öffentlichen Rezeption für das Leben und produktive Fortleben des Werkes. Die organische Metaphorik mit der reziproken Beziehung zwischen den Verben ›blüemen‹ (mit Blumen schmücken, verherrlichen) und ›blüejen‹ (blühen) vermittelt die förderliche Wirkung von Anerkennung und Ruhm: Erst die geistige und sprachliche Teilnahme des Publikums durch fundiertes Lob ermöglicht die Entfaltung der Schönheit und fruchtbringenden Kraft der 457 Hartmann 1992, S. 6 f. (Prolog, V. 15–17). 458 Walther 1995b, Str. 2, V. 6. 459 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 10 f. (Prolog, V. 17–24).
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Dichtung. Im Literaturexkurs geht es dann um die Frage, welchem Dichter »schapel« (Kranz) und »lôrzwî« (Lorbeerzweig) gebühren.460 Indem Gottfried die großen Vorgänger Revue passieren lässt, fordert er das Publikum auf, den nächsten Dichter in der ruhmreichen Tradition zu bestimmen. In der frühen Neuzeit lässt sich die Bedeutung des Ruhms als Möglichkeit der Legitimation von Dichtung vor allem am Topos von ›Feder und Schwert‹ verfolgen, der die Verbindung und Gleichwertigkeit von Dichtung und heldenhafter Tat signalisiert oder auch die Überlegenheit einer von beiden. Opitz benutzt ein historisches Exempel, um Ludwig, Fürst zu AnhaltKöthen, daran zu erinnern, dass Helden der Dichter bedürfen: So legte Alexander seinen Tolch vnnd den Homerus allzeit zusammen; ohne Zweiffel anzuzeigen / daß seine ritterliche Thaten bald musten verschwiegen bleiben / wann sie nicht durch sinnreiche Schrifften vnnd Zuthun der Poeten erhalten würden.461
Wie die pictura in einem Emblem zeigt das topische Exempel die Entsprechung zwischen Waffe und rühmendem Gedicht; Opitz betont dann in seiner Auslegung die Abhängigkeit des Helden vom Dichter. In Hofmannswaldaus Sonnett Rede der schreibe-feder erläutert das Schreibwerkzeug selbst seine Macht, denn es entstammt zwar einem »schwachen thier«, kann aber durch seine »kunst« »thron und kron […] besiegen«:462 Rom war bey aller welt durch mich so groß geacht / Daß / wenn sich könige und fürsten musten biegen / So stieg ich über diß. Den lorbeer-krantz von kriegen Hat eintzig und allein vermehret meine pracht. Der himmlische Virgil saß in Augustus schooß / Und Cicero hat offt durch reden Rom beweget.463
Vorausgesetzt ist hier der unübertroffene Ruhm des Römischen Reiches, der schriftlich auf die Nachwelt gekommen ist. Dem in Benjamin Neukirchs Anthologie abgedruckten Gedicht entgegnet allerdings sogleich ein Verkehrtes sonnet der schreibe-feder von einem unbekannten Verfasser. Dargestellt ist hier das Gegenargument: Es sey / daß ein Virgil saß in Augustus schooß / So stand die majestät nur auff der schwerdter pracht. Diß käysers purpur stieg durch glücke von den kriegen / Offt muß beredsamkeit sich vor dem fürsten biegen / Und ein schlecht feder-kiel wird nicht so groß geacht / Als wenn ein tapffrer muth den feind zu nichte macht /464
460 Ebd., S. 284 f. (Tristans Schwertleite, V. 4637). 461 Opitz 1968 ff., Bd. 2/2, S. 543 (Acht Bücher Deutscher Poematum, 1625, Widmungsvorrede). 462 Hofmannswaldau 1961b, V. 1 f. 463 Ebd. (V. 5–10). Er bezieht sich hier vermutlich auf die Schlussverse von Vergils »Georgica« (IV, 559–566); vgl. dazu Curtius 1993, S. 237 f. 464 Anon. 1961, S. 364, V. 6–11.
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Die Dichtung wird in beiden Sonetten mit der Beredsamkeit assoziiert und mittels Vertikalitätsmetaphorik an der öffentlichen Wirkung gemessen, denn diese bestimmt ihren Wert. Hofmannswaldau hebt zudem die Bedeutung des »Lorbeerkranzes« hervor: Dieser symbolisiert seit der Krönung Petrarcas die Ebenbürtigkeit von Dichter und Held, sprachlicher und politischer Macht, Vergil und Augustus. Besonders die Gegenüberstellung der beiden Gedichte verdeutlicht die Wettstreitstruktur dieses Topos: Dichter und Held steigern sich aneinander. Entsprechend entwirft Friedrich der Große ganz im Zeichen der Antike für sein Volk eine ruhmreiche Zukunft, in der sich Pantheon und Parnass die Waage halten: »Man fängt an, vom Ruhm der Nation zu reden; wir wollen uns in gleiche Reihe mit unsern Nachbarn erheben, und Wege zum Parnaß so wie zum Tempel des Andenkens bahnen.«465 Erst die Zusammenwirkung von Tat und Gedicht kann die Ebenbürtigkeit mit den anderen Kulturnationen sicherstellen. Die Wandelbarkeit des Topos zeigt sich dann in Rilkes Prosa-Dialog Feder und Schwert, der eine moderne, aus Metall gefertigte Feder mit dem kampfbereiten Schwert reden lässt und das nun beiden gemeinsame Material des »nützlichen Erzes« als metonymische Basis für den Vergleich nutzt; wie bei Hofmannswaldau siegt die Feder – aber nicht, weil sie militärische Taten rühmt, sondern weil sie als Schreibinstrument dazu dient, Friedensverträge zu unterzeichnen.466 Für ein an der Antike sich orientierendes Dichtungsverständnis ist das Rühmen untrennbar verflochten mit dem persönlichen Ruhmesstreben: Der Ruhm ist für den humanistischen Dichter der höchste ›Lohn‹. Opitz malt die zu erwartende Anerkennung aus, die vom höfischen Zimmer über die hohe Gesellschaft, die materielle Veredelung des Buches und die Kanonisierung durch Aufnahme in die Bibliothek bis hin zur Tradierung durch die Nachwelt reicht. Bedeutsam ist die an Platons – dort negativ gewertete – Magnetmetapher erinnernde Kontinuität der Wirkung, durch die erst der Ruhm sich einstellt:467 Welches denn der grösseste lohn ist / den die Poeten zue gewarten haben; daß sie nemlich inn königlichen vnnd fürstlichen Zimmern platz finden / von grossen vnd verständigen Männern getragen / von schönen leuten (denn sie auch das Frawenzimmer zue lesen vnd offte in goldt zue binden pfleget) geliebet / in die bibliothecken einverleibet / offentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet werden. Hierzue kömpt die hoffnung vieler künfftigen zeiten / in welchen sie fort für fort grünen / vnd ein ewiges gedächtniß in den hertzen der nachkommenen verlassen.468
Wie bei Gottfried vermittelt Pflanzenmetaphorik die Wirkung des Werkes, nun jedoch als immergrüne Variante, die in die »ewige« Zukunft fort465 466 467 468
Friedrich II. 1985, S. 97. Rilke 1996, Bd. 3, S. 11–14. Vgl. Platon 1994, Bd. I, S. 72 (Ion, Kap. 5; 533e); s. o., S. 44 f. Opitz 1966, S. 55 (Kap. 8).
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besteht. Die Bibliotheken dienen als körperartige Aufbewahrungs-›Räume‹, vor allem aber ist es das wertschätzende Publikum, welches das Fortleben des verdienstvollen Dichters sicherstellt: Dieser findet metonymisch durch sein Werk in die große Welt Eingang und vermag in den »hertzen« späterer Rezipienten so lange zu leben wie die Menschheit selbst. Der topisch selbstreflexive Charakter des Ruhms ist dieser Wirkung keineswegs abträglich, sondern verstärkt sie: Denn indem der Dichter sich als Teil einer ruhmvollen Tradition projiziert, die mit dem Ruhm der größten Helden konkurrieren kann, wird er angespornt, seine Vorgänger noch zu überbieten. Im öffentlichen Wettstreit um den höchsten Ruhm steigert sich die ruhmstiftende Wirkung der Sprache. Aus theologischer Perspektive dagegen wird das Streben nach eigenem Ruhm abgelehnt, denn im weltlichen Bereich hat der Dichter die Aufgabe, die Besserung seiner Mitmenschen zu fördern, und im Bereich des Himmels steht im Zentrum der Ruhm Gottes. So gilt Otfrid das Streben nach eigenem Ruhm als Sünde,469 und Luther betont in seinem Sendbrief vom Dolmetschen unter Bezug auf seine Bibelübersetzung, er habe seine »ehre drinnen nicht gemeinet«, sondern die Übersetzung vielmehr den Christen »zu dienst« und Gott »zu ehren« verfasst.470 Entsprechend geißelt Johann Jacob Rambach den Missbrauch der Poesie »zum Dienst des Ehrgeitzes« und diskrediert sowohl das persönliche als auch das kollektive Ruhmesstreben als heidnisch.471 Während Otfrid die literarischen Werke der Griechen und Römer aufgrund ihrer mit Elfenbeinarbeiten vergleichbaren Vollkommenheit als vorbildlich preist,472 benutzt Rambach die Handwerkstopik, um das Streben nach sprachlich-formaler Perfektion zu verurteilen: Statt dass der Dichter »seine Gedichte vor lauter Meisterstücke ansiehet«, solle er diese Stunden »für die Ewigkeit zubringen«.473 Angegriffen wird ferner das nationale Ruhmesstreben, das »verlanget, daß gleichsam alle Völcker, Leute und Zungen vor den Geburten unsers Ingenii, wie dort vor Nebucadnezars güldnen Bilde, Dan. 3, 5.6. niederfallen, und dieselben mit tiefster Ehrerbietigkeit anbeten sollen«.474 Die Assoziation zwischen meisterhaft perfektioniertem Werk und Götzenbild bindet den Dichter an den moralischen, auf Gott ausgerichteten Zweck und an formale Schlichtheit; das ingenium ist damit in enge Grenzen gebannt. 469 470 471 472
Otfrid 1987, S. 46 f. (Buch 1, Kap. 2, V. 17 f.). Luther 1883 ff., Bd. 30/2, S. 640 (Sendbrief vom Dolmetschen). Rambach 1727, S. )( 5r - 6r. Otfrid 1987, S. 34 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 16). Vgl. dazu Vollmann-Profe 1976, S. 104–106. Otfrid benutzt in diesem Zusammenhang auch mit positiver Assoziation den Begriff »girustit« (Otfrid 1987, S. 34 f.; 1. Buch, Kap. 1, V. 14), eine Entsprechung zum lateinischen ornatus (vgl. Haug 1992, S. 35). 473 Rambach 1727, S. )( 5v. 474 Ebd.
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Diesem Dichtungsverständnis diametral entgegengesetzt ist Klopstocks am heidnischen Homer und christlichen Milton orientiertes Epos Der Messias, mit dem er das humanistische Dichterideal in neue, nur den Christen zugängliche ›Höhen‹ zu führen sucht. In die auf Gott ausgerichtete Fama-Funktion integriert er – für die Zeit höchst provokativ – sogar die Geliebte, mit der er gemeinsam in »reiner Wollust« Gottes »erhabnen Ruhm« singen will.475 Klopstock verpflichtet in dieser Zusammenführung der Traditionen die deutschen Dichter auf ein Ruhmesstreben, das im longinischen Erhabenen seine Orientierung findet: »Ringen um Ruhm und Kranz [ist] schön und des Streites um den Sieg wert.«476 Ein allumfassendes Ziel findet dieses Streben in der Unsterblichkeit: Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit Ist ein großer Gedanke, Ist des Schweißes der Edlen wert!477
Der »große Gedanke« an die dichterische Unsterblichkeit dient als Ansporn, den körperlichen »Schweiß« der Tat ganz der Dichtkunst zu widmen. Klopstock sucht damit die psychologische Kraft des Ruhmestopos für die Avancierung der deutschen Dichtkunst einzusetzen, ein Ziel, das er in der Deutschen Gelehrtenrepublik auf die Kulturnation und ihre Wirkung in der Welt ausdehnt. Gegenüber dem Ruhm des Helden im Eroberungskrieg bleibt jener des Dichters »der bessere Ruhm«.478 Die Überspanntheit dieses gedanklich-sprachlichen Konstrukts mag dazu beitragen, die abnehmende Geltung Klopstocks schon gegen Ende seines Lebens zu erklären; zugleich dürfte das so dezidiert als Ideal proklamierte Ruhmesstreben nicht unerheblich zur ›Blüte‹ deutscher Dichtung im klassisch-romantischen Zeitalter beigetragen haben, denn dem dichterischen ingenium waren nun keine Grenzen mehr gesetzt. Entsprechend wertet Goethe das Ruhmesstreben um. Auch ihm gilt der Ruhm als Ansporn, den »Kranz« zu erlangen, und auch er verortet im Kontext seiner Orientierung an der griechischen Klassik die Dichtung im Wettstreit, aber er wertet den Ansporn als Aspekt des ingenium: »Der Wunsch nach Beifall, welchen der Schriftsteller fühlt, ist ein Trieb, den ihm die Natur eingepflanzt hat, um ihn zu etwas höherem anzulocken.«479 Wie bei Klopstock erscheint das persönliche Geltungsbedürfnis in sublimierter Form, nun jedoch im Zeichen der Natur.
475 Klopstock 1981, Bd. 1, S. 49 (An Gott, V. 121–128). 476 Longinus 1988, S. 43 (13, 4). 477 Klopstock 1981, Bd. 1, S. 54 (Der Zürchersee, V. 49–52). Vgl. Longinus: »Ringen um Ruhm und Kranz [ist] schön und des Streites um den Sieg wert« (Longinus 1988, S. 43; 13, 4). 478 Klopstock 1981, Bd. 1, S. 9 (Der Lehrling der Griechen, V. 29). 479 Goethe 1985 ff., Bd. 18, S. 459 f. (Einleitung Propyläen).
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Gerade die utopische Komponente des Ruhmestopos erlaubt auch die Legitimation einer entgegengesetzten Poetik des carpe diem und der unmittelbaren Geselligkeit. So stellt Anna Louisa Karsch – die für einen kurzen Moment als ›deutsche Sappho‹ galt – in dem Gedicht Ob Sappho für den Ruhm schreibt? die Frage, »Frau, schreib ich für den Ruhm, und für die Ewigkeit?«, um sie negativ zu beantworten: »Nein, zum Vergnügen meiner Freunde!«480 Denn »das Gerüchte trägt nur eine kurze Zeit | Mit unserm Ruhme sich«, und auch die Schrift vermag dem nicht dauerhaft entgegenzuwirken – Beweis ist der Verlust der Schriften Sapphos bis auf einen »kleinen Rest«.481 Vergänglich ist vor allem aber der Mensch, und das menschliche Gedächtnis ist unbeständig: Noch ehe sich an mir die Würmer satt gefressen, Dann, Frau, hat schon die Welt mich und mein Buch vergessen.482
Die Dichterin evoziert die antiken Medien des Ruhms – »Gerücht« und »Lob«, Bücher, Abschreiben, Abbildung auf »Gedächtniß-Münzen«, Marmorbildnisse.483 Ihre eigene Poetik gründet sie auf den bescheideneren, weniger heldenhaften Erfolg des Hier und Jetzt – wobei allerdings nicht davon ausgegangen werden kann, dass dies die einzige Ambition der Karschin war. Der Ruhm im Zeichen des öffentlichen Wettstreits verwirklicht das dichterische Potenzial als performative Sprachkunst. Goethe dagegen nutzt den Topos, um einem neuen Dichtertypus Profil zu verleihen: dem Dichter des Gefühlsausdrucks. Am Anfang von Torquato Tasso steht mit der Krönung des Protagonisten das Ideal der Ebenbürtigkeit von Held und Dichter: Indem Leonore den Lorbeerkranz auf Geheiß des Herzogs vom Haupte des »Ahnherrn« Vergil auf das Haupt Tassos überträgt, wird ihm das Kennzeichen des »allgemeinen Ruhms« verliehen, das »selbst der Held, der seiner stets bedarf«, dem Dichter gönnt.484 Schon im zweiten Aufzug, nach dem Auftritt des weltgewandten Helden Antonio, gehört jedoch dieses Ideal der Vergangenheit an, und die Prinzessin kann Tasso nur noch daran erinnern: Und schienst noch kurz vorher so rein zu fühlen, Wie Held und Dichter für einander leben, Wie Held und Dichter sich einander suchen, Und keiner je den andern neiden soll? Zwar herrlich ist die liedeswerte Tat, Doch schön ist’s auch der Thaten stärkste Fülle Durch würd’ge Lieder auf die Nachwelt bringen.485 480 Karsch 1792, V. 1 f. Das Gedicht trägt den Untertitel »An die Frau von Reichmann, den 10. März 1762«. 481 Ebd., V. 3 f. und 22. 482 Ebd., V. 25 f. 483 Ebd., V. 3, 18, 16. 484 Goethe 1985 ff., Bd. 5, S. 745 f. (Tasso, 1. Akt, 3. Szene, V. 462, 442, 460). 485 Ebd., S. 756 (2. Akt, 1. Szene, V. 801–807).
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Gebrochen ist das Ideal in der Reflexion des Dichter-Subjekts, in dessen Seele sich »Gedanken ohne Maß | Und Ordnung regen« und der sich am liebsten in der »Einsamkeit« aufhält.486 Die Krise löst sich nicht in der Wiederherstellung des humanistischen Anspruchs, sondern im Verlassen des Hofes und in einer neuen Legitimation. Als Dichter findet sich Tasso in einer Artikulation inneren Gefühls, für die er »kein Beispiel der Geschichte« sieht: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, | Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.«487 Das dichtende Subjekt verwirklicht sich nun im einzigartigen, betont individuellen Ausdruck, nicht mehr in der öffentlichen Wirkung. Damit aber ist dem Ruhm sein Tradierungsmedium der sprachlichen Kommunikation mit dem Mitmenschen entzogen: Doch ach je mehr ich horchte, mehr und mehr Versank ich vor mir selbst, ich fürchtete Wie Echo an den Felsen zu verschwinden, Ein Widerhall, ein Nichts mich zu verlieren.488
Goethe spielt in seinem Protagonisten Tasso die Möglichkeit und Gefahr des romantisch-melancholischen Dichtertypus durch, ohne selbst dieser Bahn zu folgen: Er selbst verstand es wie der weltgewandte Horaz, seine Wirkungsstrategien schon bei der Mitwelt erfolgreich einzusetzen. Mit der Veränderung des literarischen Umfelds und der poetologischen Prämissen wird der Ruhm problematisch. Wenn nicht die Orientierung am Publikum, sondern ausschließlich die ›inneren‹ Gesetze des Dichters und des Kunstwerks als treibende Kraft fungieren sollen, so stehen die Strategien und Wirkmechanismen des Ruhms in Spannung zum Anspruch und zur Bestimmung des Dichters. Einerseits bedarf der ›freie Schriftsteller‹ der öffentlichen Anerkennung, um seine materielle Lebensgrundlage zu sichern, andererseits gilt die Selbstvermarktung als suspekt. Diese Widersprüche schaffen für den Dichter höchst prekäre Daseins- und Schaffensbedingungen. Prekär ist die Situation des Dichters jedoch vor allem aufgrund der (keineswegs neuen) Erfahrung einer mangelnden Kontrolle über die öffentliche Wirkung, der Robert Musil um 1932 während der Arbeit an Der Mann ohne Eigenschaften Ausdruck verleiht. Offenbar in einem Augenblick der Verzweiflung entwirft er einen – dann doch nicht veröffentlichten – Aufruf an das Publikum, der überschrieben ist: »Ich kann nicht weiter.«489 Bezeichnenderweise leitet er ihn mit den Worten ein: »Ich spreche von mir selbst, u. seit ich Schriftsteller bin, geschieht es zum erstenmal.«490 Damit wird eine Form der Kommunikation signalisiert, die mit seiner bisherigen Autor486 487 488 489 490
Ebd., S. 755 (V. 751–753). Ebd., S. 833 (5. Akt, 5. Szene, V. 3422 und 3432 f.). Ebd., S. 756 (2. Akt, 1. Szene, V. 797–800). Musil 1981, Bd. 7, S. 958 f. (Ich kann nicht weiter). Ebd., S. 958.
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rolle unvereinbar ist – überschritten wird hier die Grenze der Unabhängigkeit des Autors, der zwar anstrebte, »meiner Nation als Dichter zu dienen«,491 der aber aufgrund seines privaten Vermögens nicht auf die Öffentlichkeit angewiesen war, da er ohne materiellen Gewinn leben und schreiben konnte. Der Rest des Textes bietet eine Reflexion über seinen »Ruf«, wobei das Wort bezeichnend ist: Der Ruf ist gewissermaßen die notwendige Vorstufe des Ruhms. Musil unterscheidet zwischen verschiedenen Formen, die in der jeweiligen Beziehung zwischen Autor und Publikum gründen, und definiert sie mittels vornehmlich physikalischer Metaphern – Stärke und Lautstärke, ontologische Existenz, Größe, Spiegelung, Sektierertum, Gewicht, Anziehungskraft, Distanz, kommunikative Verbindung: Dieser wunderliche Ruf! Er ist stark, aber nicht laut. Ich bin oft gezwungen worden, über ihn nachzudenken, er ist das paradoxeste Beispiel von Dasein u Nichtdasein einer Erscheinung. Er ist nicht der große Ruf, den Schriftsteller genießen, in denen sich der Durchschnitt (wenn auch verfeinert) spiegelt, es ist nicht der Spezialistenruf der literar. Konventikelgröße. Ich wage von meinem Ruf (nicht von mir) zu behaupten, daß er der eines großen Dichters ist, der kleine Auflagen hat. Es fehlt ihm das soziale Gewicht. Es fehlen ihm die vielen, die von der Möglichkeit eines Betriebs angezogen werden. [..] Gewisse Mittlerschichten, die anscheinend unentbehrlich sind, haben sich immer von mir ferngehalten. Es fehlen mir die Zehntausende, die bei anderen gerade noch mitkönnen oder mitmüssen.492
Musil unterscheidet zwischen eher ›statischen‹ Formen des Rufs, die mit den Metaphern des ›Spiegels‹, des »Konventikels«, des »Gewichts« und des »Betriebs« gekennzeichnet sind, und seinem eigenen Ruf, den er mit einer dynamischen Wegmetapher bestimmt. Statt diese nach humanistischen Vorgaben zur Konkurrenzmetapher auszugestalten, benutzt er sie zur Verdeutlichung seiner Beziehung zu seinem Publikum: Er ist der Vorauseilende, dem das Publikum folgen muss; sein Fehler ist jedoch, dass er zu schnell läuft. Hieraus erklärt sich wiederum die Unterscheidung zwischen »stark« und »laut«: Die Mithaltenden sind nicht zahlreich genug, um laut zu sein, aber es sind starke Läufer. Musils Reflexion stellt sich als Ausgestaltung des Bescheidenheitstopos dar, der auf versteckte Weise ein selbstbewusstes Sprechen signalisiert: Er redet nicht von sich und beansprucht keinen Ruhm, zugleich jedoch vermittelt er mit wirkungsvollen Metaphern eine Größe, welche jene des üblichen Rufs übertrifft. Wirkungsvoll ist die Metaphorik nicht zuletzt deshalb, weil sie den angesprochenen Lesern schmeichelt. Angesichts seines heutigen hohen Status erweist sich Musils Metapher als erkenntnisfördernd, denn sie macht das Phänomen des verspäteten Ruhms verständlich: Musil war wie Hölderlin oder Büchner ein Autor, der 491 Ebd. 492 Ebd., S. 958 f.
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›seiner Zeit voraus‹ war. Der große Nachruhm kann auch durch die Wenigen zustande kommen, die »gerade noch mitkönnen« und graduell eine postume Leserschaft heranbilden. Musils ›horizontal‹ verlaufende Metapher ist eine Entsprechung zu Klopstocks ›vertikaler‹ Metapher, »Soll er [der christliche Dichter] viele zu sich erheben? Oder soll er sich zu den meisten herunterlassen?«493 In beiden Fällen projiziert sich der Dichter als seinem Publikum überlegen. Die Voraussetzungen sind jedoch unterschiedlich: Der christliche Dichter orientiert sich an Gott; der naturwissenschaftlich geprägte Dichter orientiert sich an der Zukunft. Beiden Dichtern gelang es, in den Annalen der Literaturgeschichte einen Platz zu finden. Während Klopstocks Ruhm im Zuge der Säkularisierung verblasste, wuchs Musils Ruhm im Zuge des Fortschritts. Den wenigsten Dichtern ist allerdings ein Ruhm gegeben, der wie jener Homers die Jahrtausende überdauert. Die spannungsvollen Widersprüche, in die sich tendenziell der von Romantik und Idealismus geprägte Dichtertypus verstrickt, verloren mit der Postmoderne an Wirkung. Dass der Autor (vielleicht) besser vorankommt, wenn er eine marktgerechte Ruhmstrategie verfolgt, ist das ironisch-pragmatische Thema von Robert Gernhardts Ratgeber Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung.494 Der Autor präsentiert sich als Mentor und vermittelt den zu Adressaten stilisierten jüngeren Kollegen mögliche dichterische Laufbahnen. Der Titel macht mittels der Wegmetaphorik den Ruhm zum ›Ziel‹ schriftstellerischer Tätigkeit – ganz im Sinne des von Opitz und Klopstock entworfenen Dichtungsverständnisses. Hier erscheint jedoch der Ruhm weniger als gerechter Lohn für große Dichtung denn als Funktion von Prozessen des literarischen Marktes, in dem nicht literarische Qualität, sondern finanzielle Kriterien über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Als Beispiel wählt Gernhardt ein Werk, dessen Ruhm mittlerweile fest etabliert ist: Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Gernhardt berichtet von einem Verlags-Test der satirischen Zeitschrift pardon, bei dem zwei wenig bekannte Passagen aus dem Roman als getipptes Manuskript mit veränderter Benennung der Figuren und einem anderen Autornamen an mehrere Verlage geschickt wurden. Der Suhrkamp Verlag konstatierte in Reaktion auf die Einsendung, dass das Manuskript »mit unseren Vorstellungen von Literatur nicht ganz übereinstimmt«, und Musils eigener Verlag Rowohlt lehnte aufgrund von »verlagstechnischen Überlegungen« ab.495 Die Beispiele unterminieren die seit dem Idealismus vorherrschenden Werte vom stabilen Kunstideal und der Unabhängigkeit des Künstlers: Im ersten Falle stehen 493 Klopstock 1981, S. 1010 (Einleitung zu den geistlichen Liedern). 494 Gernhardt 1999. Dass der Ruhm auch anderweitig in Gernhardts Werk eine Rolle spielt, geht aus der Frage von Haas hervor: »Ist Robert Gernhardt besessen vom Gedanken an den Ruhm?« (Haas 1999, S. 378). 495 Gernhardt 1999, S. 27.
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dem Erfolg auseinanderklaffende »Vorstellungen von Literatur« bei Autor und Rezipient im Wege, im zweiten Falle die marktorientierten Mechanismen der für die Wirkung des Kunstwerks unerlässlichen Institution. Angefangen mit der Wahl eines publikumswirksamen Namens und einer klappentextgerechten Herkunft – »Mein Rat: Befrag den Brecht«496 – über Ängste, Kritik und Einkünfte bis hin zum »richtigen Sterben« und »Nachleben«497 geht Gernhardt die Stadien durch, die den ›Weg‹ zum Erfolg ebnen und dem Autor »Startvorteile gegenüber der massenhaften Konkurrenz verschaffen«.498 Die seit der Antike für die Laufbahn des Dichters eingesetzte Weg- und Wettkampfmetaphorik erscheint hier in adaptierter Form: Der Autor ordnet sich in das Umfeld des Marktes ein und zeigt die Strategien, mit denen sich Kollegen den Erfolg gesichert oder auch verbaut haben – Beispiele für Fehlschläge liefert zumeist Gernhardts eigene Karriere. Die idealistische Unterscheidung der Kunst von ihrem Umfeld wird hier zugunsten der Integration abgelehnt, da »der reine Künstler natürlich eine Künstlererfindung« ist.499 Legitimiert wird damit die Nutzung der gebotenen Strukturen zum Vorteil des Autors. Dass es sich – in Einklang mit den Prämissen des freien Markts und entgegen humanistischen Idealen – allein um den Ruhm des Dichters, nicht aber um eine FamaFunktion gegenüber anderen handelt, geht bereits aus der einleitenden Zusammenfassung hervor: Das Buch handelt davon, wie man »aus seiner Ruhmsucht veritablen Ruhm macht […], denn keine Sau […] will mehr rühmen, doch ›jedes noch so dumme Schwein will berühmt werden‹«.500 Das Buch lässt sich als Satire über den Dichterberuf und die Strategien berühmter Kollegen lesen sowie auch – bei aller Ironie – als Anleitung zu einem pragmatischen Zugang zum Publikum. Gernhardt trifft damit einen wichtigen Aspekt erfolgreichen Schriftstellertums, wie aus folgender Strategie hervorgeht: »Als Schriftsteller nämlich bist Du der, der Du sein willst, und als Mann des Wortes kannst Du planmäßig dafür sorgen, daß der Mitund Nachwelt das Dir genehme […] Bild vermittelt und überliefert wird.«501 Er bezeichnet damit die Macht des dichterischen Mediums, die sich besonders im anhaltenden Erfolg von Goethe, Thomas Mann oder Brecht erweist: Sie steuerten mit ihrer Sprachkraft das Bild, das sie von sich in die Öffentlichkeit projizierten, und verdanken nicht zuletzt dieser Strategie auch ihren Nachruhm. Warum einer solchen Strategie jedoch nur in den seltensten Fällen Erfolg beschert wird, geht aus der Vielzahl der Stadien hervor, die der Autor durchlaufen muss: Am öffentlichen Bild von Autor und 496 497 498 499 500 501
Ebd., S. 19. Vgl. die Kapitelüberschriften, ebd., S. 5. Ebd., S. 11. Ebd., S. 81. Ebd., S. 2. Ebd., S. 35.
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Werk haben schon immer auch andere sprachmächtige Menschen mitgearbeitet, und erst ihr Zusammenwirken bestimmt, ob das Werk »offentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet«502 wird. Verlängert man den Weg in die Welt des Nachruhms, so kommen die Literatur-Chronisten hinzu, die je nach poetologischen Prämissen auch aus dieser Selektion nur einen Bruchteil auswählen. Gernhardts Strategien verfolgen konsequent die Stadien auf dem illustren ›Weg zum Ruhm‹, die erst den für den Ruhm erforderlichen kontinuierlichen Kommunikationsprozess ergeben. Aus der nüchternen Erfahrung des Schriftstellers heraus erzählt er jedoch vor allem von den viel zahlreicheren Straßen in die Vergessenheit. Indem Gernhardt sich als weltgewandter Autor präsentiert, der aus der Schreibwerkstatt plaudert und seinen Kollegen sowie der Nachwelt seine langjährigen Erfahrungen mit dem literarischen Markt mitteilt, tritt er in eine illustre Tradition: Schon Horaz erläuterte die für Wirkung und Ruhm notwendigen Strategien.503 Wenn der Ruhmestopos von Dichtern in immer wieder anderer Form thematisiert wird und zwischen Fama-Funktion und individuellem Ruhmesstreben die verschiedensten Varianten durchmacht, so erweist er die anhaltende Bedeutung der Wirkung schon für den Prozess der Produktion. Zugleich zeigt das öffentliche Interesse an Dichtung ihre Bedeutung für die Selbstprojektion der Gemeinschaft. Dieses Interesse manifestiert sich nicht nur in der alten Tradition des Hofdichters, sondern auch in der Gegenwart, beispielsweise in der Ernennung von Dichtern zu ›Stadtschreibern‹, die der jeweiligen Stadt als »eine Art geistiger Visitenkarte« dienen und den Ruhm der Stadt als »Literaturstandort« etablieren.504 Denn Dichtung ist als intensivste Form der sprachlichen Kommunikation auf eine Gemeinschaft angewiesen, die ihr Anerkennung zollt und sie in jeder Gegenwart neu wirken lässt. Umgekehrt bedarf die Gemeinschaft der sprachlichen Strukturierung und Vermittlung ihrer Identität – eine Aufgabe, die gerade Dichter besonders wirksam zu erfüllen vermögen.
502 Opitz 1966, S. 55 (Kap. 8). 503 Vgl. Horaz 1984, S. 24–27 (V. 341–346) u. passim. 504 Vgl. die Ausführungen zum »Erfurter Stadtschreiber-Literaturpreis« (Erfurt 2006).
VI. Poetologische Momente Es ist das wahrhaft Großartige an der Gegenwart, daß so viele Vergangenheiten in ihr als lebendige magische Existenzen drinliegen.1 Hugo von Hofmannsthal
Es geht in diesem Teil um individuelle poetologische Texte in chronologischer Abfolge, deren Metaphorik jeweils als kohärenter Komplex untersucht werden soll. Ausgewählt werden Texte aus verschiedenen Epochen der deutschsprachigen Literatur, in einer Art Zeitreise durch die deutsche Poetik. Allerdings wird nur an neun Stationen angehalten, und auch dort nur kurz; die Landschaften dazwischen bleiben unbeachtet. Es wird also keine noch so flüchtige Geschichte der deutschen Poetik angestrebt, sondern eher eine Serie von Schnappschüssen. Die Texte haben in ihrem jeweiligen Kontext eine gewisse Repräsentativität und Prominenz erlangt, die auf einen wirkungsvollen Einsatz von poetologischen Metaphern schließen lassen. Ziel war es zudem, verschiedene Gattungen zu berücksichtigen, in denen Poetik vermittelt wird: Widmung und Prolog (Otfrids Evangelienbuch), werkinterner Exkurs (Gottfrieds Tristan), eigenständige Poetik (Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey), Vorrede (Wielands Vorrede zu La Roches SternheimRoman), Zeitschrift (das Athenaeum der Gebrüder Schlegel), Abhandlung (Fontanes Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848), fiktiver Brief (Hofmannsthals Ein Brief ), schlagkräftiges Diktum (Adornos »Auschwitz«These) und Internetpoetik (neuedichte.de). Der Schwerpunkt liegt auf der Autorpoetik, aber je nach Text ist auch das literarische Umfeld miteinbezogen: So wird das Diktum des Kulturkritikers Adorno zwar im Kontext seines Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft situiert, ebenso geht es jedoch um die Rezeption, denn die poetologische Bedeutung des Satzes liegt in den Repliken der Dichter. Jeder der Texte könnte ein Buch für sich beanspruchen; und bei den meisten gibt es solche Bücher. Hier geht es jedoch nicht um eine umfassende Behandlung der Texte. Ziel ist vielmehr, das Zusammenspiel der in den vorangehenden Kapiteln diskutierten Metaphern in verschiedenen zeitlichen Kontexten und unterschiedlichen poetologischen Bezügen zu erkunden. So werden die in Kapitel II besprochenen Bildschemata – ›Behälter’, ›Weg‹, ›Ver1
Hofmannsthal 1979–1980, Bd. 9, S. 289 (Wiener Brief [III]).
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tikalität‹, ›Verbindung‹, ›Gleichgewicht‹ – in verschiedenen metaphorischen Ausprägungen begegnen, wobei bestimmte Metaphern immer wiederkehren: Ein- und Ausgrenzungsmetaphern, die der Gruppenbildung dienen; Wegmetaphern, die den Fortschritt der Dichtkunst oder die Entwicklung des Dichters evozieren; vertikale Metaphern, die ›hohe‹ von ›niedriger‹ Dichtung scheiden oder die Dichtung als hierarchisch strukturiertes Gebilde darstellen; Metaphern des gemeinschaftlichen Verbunds oder der diachronischen Verbindung über ›Genealogie‹ und ›Vorbild‹; Metaphern des ›Wettstreits‹. Die in Kapitel III betrachtete kommunikative Kraft der von den Autoren verwendeten poetologischen Metaphern ergibt sich aus dem Erfolg der ausgewählten Texte: Von Otfrid bis Adorno haben die Autoren es verstanden, ihre Aussagen wirksam im poetologischen Umfeld zu positionieren. Dabei trägt die jeweils gewählte Form der Poetik entscheidend zur Wirkung auf die Rezipienten bei. So erlauben beispielsweise Otfrids an verschiedene Adressaten gerichtete Paratexte die wechselnde Fokussierung geistlicher und weltlicher Aspekte seines Projekts, aus denen der Leser gewissermaßen die jeweils passende Legitimation auswählen kann; Fontanes zwischen Abhandlung und Manifest sich bewegende Form gibt dem Schlagwort ›Realismus‹ ein klares Profil und erlaubt dessen klare Verortung in dem intensiv theorisierten Spannungsfeld zwischen ›Natur‹ und ›Kunst‹; und Hofmannsthals Wahl der fiktiven Briefform ermöglicht ein höchst komplexes Zusammenwirken von Authentizität und Fiktion, von spontan sich gebendem Ausdruck individueller Erfahrung und rhetorischer Strategie, womit dem Leser die evozierten Reflexionen über Sprache auf emotional eindrückliche Weise nahegebracht werden. Wenn auch die »Textlandschaft« neuedichte.de in vielerlei Hinsicht von den anderen Texten abweicht und vornehmlich eine prozessuale Erforschung neuer kommunikativer Möglichkeiten bietet, so knüpft das Experiment doch an die kanonische Tradition an, und die Autoren sind allesamt der ›hohen‹ Literatur zuzurechnen. Auch erfolgt wie in den anderen acht Texten die Kommunikation durch das Medium der Schrift, wiewohl das Internet neue Rezeptionsprozesse ermöglicht. Wenn auch in der Auswahl der Texte die schriftliche Vermittlungsform von Poetik privilegiert ist, so erscheinen doch mündliche Vermittlungsformen immerhin in metaphorischer Form: Während Otfrid seinem Werk eine mündlich vorstellbare invocatio Dei voranstellt, findet sich in neuedichte.de die einführende Bemerkung, dass die Website »zwölf einzelne Stimmen im Gespräch miteinander verbindet«.2 Zudem ist Mündlichkeit gerade für diese beiden Texte auch in anderer Hinsicht bedeutsam: Otfrids geistlicher Text konkurriert mit einer primär mündlichen, volkssprachlichen, weltlichen Literatur, und die Internet-Poetik neuedichte.de bezieht ihre poetologische Identität nicht zuletzt aus der Spannung zu einem Umfeld, in dem die Literatur 2
Draesner, Egger u. a. 2004a.
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zunehmend über mündliche und performative Formen den Kontakt zur populären Kultur sucht. Die in den Texten projizierten Rollen der jeweiligen Autoren zeigen die in Kapitel IV entworfene Vielfalt, und sie stehen typischerweise zur empirischen Person des Autors in einem Bezug, der hinsichtlich des jeweiligen Werkes eine spezifische apologetische Funktion erfüllt. Otfrids geistlicher und weltlicher Zweck wird durch seine geistliche und gesellschaftliche Identität gestützt: Er schreibt zugleich als Mönch und als Franke, als Glied in der ›Kette der Wesen‹ und als Untergebener seines Herrschers. Seine Autorschaft ist somit durch seinen geistlichen Beruf und seine weltliche Funktion in der gesellschaftlichen Hierarchie legitimiert. Gottfried dagegen projiziert sich ganz als Dichter. Zentral für seine öffentliche Identität ist der Wettstreit mit anderen Dichtern – ein Wettstreit, der dem ritterlichen Wettstreit analog ist und dem Dichter in einem vom höfischen Leben geprägten Kontext Geltung verschafft. Bei Opitz wie auch bei Wieland ist die Rolle des poeta doctus prägend. Beide zeigen sich als Gelehrte in den klassischen Sprachen sowie als versierte Schriftsteller, und beide übernehmen Verantwortung für die Tradierung der von ihnen propagierten literarischen Werte: Opitz als Förderer der Nationalkultur, Wieland als Förderer einer jungen Autorin. Dabei erhält bei letzterem die geschlechtliche Identität eine zentrale Funktion: Während von Otfrid bis Opitz – und tendenziell noch bis hin zu Adorno – das Schreiben für die Öffentlichkeit grundsätzlich als Sache des Mannes gilt, entsteht Wielands Text aus einer Situation heraus, in der Frauen sich zunehmend am Literaturbetrieb beteiligen. Wenn Wieland sich in seiner Vorrede als Mann darstellt, der einer (anonymen) weiblichen Autorin zur Veröffentlichung ihres Romans verhilft, so entspricht dies seiner empirischen Rolle, da er die in jener Zeit nur einem männlichen Autor zu Gebote stehenden Beziehungen zu einem Verlag und zu den männlichen ›Kunstrichter‹-Kollegen nutzte. Zugleich jedoch ist die Fokussierung der geschlechtlichen Differenz zwischen ihm und La Roche strategisch angelegt auf eine umfassende Ausgrenzung des Romans aus dem Bereich der weiterhin von gelehrten Männern besetzten Kunst. Die Gebrüder Schlegel setzen ähnlich wie ihre Vorgänger das Gelehrtentum und den hohen Wert der klassischen Bildung voraus, lenken jedoch als ›freie Schriftsteller‹ die Aufmerksamkeit auf die philosophische Betätigung des Dichters und dessen Unabhängigkeit von moralischen Ansprüchen und gesellschaftlichen Bindungen. Ihr wirkliches Verwandtschaftsverhältnis setzen sie metaphorisch ein, um es im Bereich des Geistigen fruchtbar werden zu lassen und eine ›Verbrüderung‹ der Wissenschaften herbeizuführen. Während sie sich als Keimzelle einer neuen Bewegung darstellen, projiziert sich Fontane als Stimme seiner Zeit, die das benennt, was offen zutage liegt: die allgemeine, in allen Berufen sich manifestierende Tendenz zum ›Realismus‹. Der Schriftsteller erscheint hier als robuster Zeitgenosse, der den Kollegen die einzig zeitge-
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mäße Einstellung zum literarischen Schaffen vermittelt. In Hofmannsthals Ein Brief ist der Schriftsteller dagegen ein hochsensibler Mensch, dem aufgrund seiner intensivierten Erkenntniskraft die allgemeinmenschlichen Möglichkeiten der Kommunikation abhanden gekommen sind. Der Schreibende ist hier ein in seinem Denken und Erleben Eingeschlossener, der gerade noch den Prozess der Isolierung schriftlich zu kommunizieren vermag. Die Wirkung von Hofmannsthals Text beruht auf einer subtilen rhetorischen Kunst, die mittels der Eloquenz das Verstummen und mittels der Fiktion Authentizität vermittelt. Adorno dagegen nutzt die Mittel der krassen Provokation, um ein moralisches Verdikt öffentlich wirksam zu machen. Schlüsselfunktionen erfüllen dabei einerseits das Reizwort ›Auschwitz‹ und andererseits der Barbarentopos, der schon seit der Römerzeit als ultimative Ausgrenzungsmetapher fungiert. Dabei beruht die Wirkung seines Satzes nicht zuletzt darauf, dass er selber nicht als Dichter schreibt, sondern als Kulturkritiker, der es sich zum Beruf gemacht hat, über die Kunst seiner Zeit zu richten. Damit bringt er die Dichter in einen öffentlichen Legitimationszwang, der an die moralischen Bindungen der Dichtung in der frühen Neuzeit erinnert. Keinerlei Anspruch auf moralische Begutachtung oder Bewertung erheben dagegen die Verfasser von neuedichte.de, und auch ästhetisch bilden sie ein dezidiert lockeres Gefüge – wobei allerdings nur die von vornherein ausgewählten Autoren zu dem Projekt beitragen können. Während sie als Individuen mitwirken und erklärtermaßen »keine bestimmte […] Position« repräsentieren, sind sie doch allesamt »Autorinnen und Autoren«, die über das schreiben, »was sie am Dichten und Denken interessiert«.3 Impliziert ist damit ein selbstreflexiver, philosophisch orientierter Anspruch, der die vom Idealismus geprägte Rolle des Dichters tradiert – und den wahren DichterInnen auch im Zeitalter des Internets eine besondere, von den unzähligen Blog-Autoren abgehobene Legitimation sichert. Die in Kapitel V behandelten Prozesse der Traditionsbildung interagieren in den Texten auf komplexe Weise mit Prozessen der Gemeinschaftsstiftung. So situieren Otfrid, Opitz und die Gebrüder Schlegel ihre Projekte jeweils am ›Anfang‹ einer noch zu entwickelnden Tradition, die möglichst viele einbeziehen soll. Gottfried versteht sich als Teil einer von illustren Vorgängern verwirklichten Tradition, die es im gemeinschaftlichen Wettstreit fortzuführen gilt, damit die bereits etablierten Ideale weiterhin dominant bleiben. Wieland geht es um die Sicherung der Tradition einer auf der Antike aufbauenden Literatur und die Festigung der Autorität der ›Kunstrichter‹ zu einer Zeit drohender Destabilisierung durch Dilettanten. Fontane sucht die Zeitgenossen von der Fixierung auf das alles überragende Vorbild Goethe abzubringen und auf die Bedürfnisse der eigenen Zeit zu 3
Ebd.
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verpflichten. Hofmannsthals »Chandos«-Brief artikuliert eine Sprachkrise, die gerade durch die vermittelte Isolation zu einer epochenkonstituierenden Erfahrung wurde, in der sich die ›modernen‹ Leser wiederfanden. Adorno vermittelt die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen durch die grundsätzliche Infragestellung dichterischer Aktivität: Indem er einen Bruch in der literarischen Tradition setzte, unterband er die diachronischen Bezüge, aus denen das einzelne Werk erst seine Gattungsmerkmale und spezifische Bedeutung erhält. Er löste dadurch eine Debatte über die Legitimation von Dichtung aus, welche die Dichter in einer ethischen Debatte zusammenführte und die moralische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einer bleibenden Herausforderung für die Dichter der Zukunft machte. Eine veränderte Sicht auf die Tradition bringt die gemeinschaftlich konstituierte »Textlandschaft« neuedichte.de, denn die durch die Strukturen des Internet angeregte räumliche Metapher macht eine dichterische Kommunikation vorstellbar, in der diachronische Bezüge kaum noch Bedeutung vermitteln und auch die synchronischen Verbindungen zwischen Dichtern, Texten und Rezipienten sich beliebig locker und flexibel konstituieren können. Umso bedeutsamer wird in jenem Kontext jedoch die Struktur dieser für ›Außenseiter‹ nur passiv, nicht interaktiv zugänglichen Website: Schon visuell ist sie durch ein klar begrenztes Rastersystem strukturiert, und die aufrufbaren Verbindungen zwischen den partizipierenden Texten und Autoren sind auf das abgegrenzte System beschränkt. Poetologische Struktur wird dadurch erfahrbar als produktives Zusammenspiel von vorgegebener Konvention und individuell gestaltbarer Abwandlung der Bezüge. Bei der Fokussierung der verschiedenen ›poetologischen Momente‹ geht es um die Hervorhebung von Metaphern, die das jeweilige poetologische Ziel des Autors in seiner Zeit verwirklichen helfen, zugleich aber auch um Kontinuitäten in einem Diskurs, der sich durchgängig damit befasst, sprachliche Kunst mit den Mitteln der Sprache vorstellbar zu machen.
1. Otfrid von Weißenburg: Widmungen und Prolog (Evangelienbuch, 863–871) Der Benediktinermönch Otfrid von Weißenburg ist der erste namentlich bekannte Autor, dessen Dichtung in einem vollständigen deutschsprachigen Werk überliefert ist.4 Er nennt sich selbst mit vollem Namen als Autor: »Ot4
Die von mir behandelten Teile seines Werks sind enthalten in der Auswahlausgabe mit neuhochdeutscher Übersetzung von Gisela Vollmann-Profe (Otfrid 1987), nach der hier zitiert wird. Vgl. auch die dort zugrundegelegte Ausgabe mit anschließendem Wörterbuch (ahd./ nhd.), Otfrid 1973, S. 271–311, sowie die maßgebliche Ausgabe Otfrid 2004. S.a. die kommentierte Übersetzung ins Neuhochdeutsche von Heiko Hartmann (Otfrid 2005).
1. Otfrid von Weißenburg: Widmungen und Prolog (Evangelienbuch, 863–871)
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fridus Uuizanburgensis monachus.«5 Sein Liber Evangeliorum6 ist eine aus 7104 Langzeilen bestehende, in fünf Bücher und insgesamt 140 Kapitel eingeteilte ›Evangelienharmonie‹, in der die Berichte der Evangelisten zu einer chronologischen Vita Christi harmonisiert sind. Mit seinen hierarchisch abgestuften Widmungen und den kunstvollen Akrosticha und Telesticha steht das Werk »ganz und gar in der prunkvollen Tradition lateinischer Buchdichtung«.7 Die hervorragende Überlieferung ist in Otfrids Tätigkeit als Bibliothekar begründet, die den Aufschwung der Bibliothek des Klosters Weißenburg herbeiführte:8 Sein Werk ist vollständig in einer wohl eigenhändig von ihm überarbeiteten Fassung auf die Nachwelt gekommen. Das zwischen 863 und 871 in südrheinfränkischem Dialekt verfasste Evangelienbuch ist im gegenwärtigen Zusammenhang vor allem deshalb bedeutend, weil es »die erste Literaturtheorie zu einer deutschsprachigen Dichtung« bietet.9 Im Zentrum soll hier nicht das Werk als Ganzes stehen, sondern die Widmungen (beziehungsweise Begleitbriefe) und die umrahmenden Kapitel, in denen Otfrid – Theologe, Verfasser exegetischer Werke und seiner eigenen Aussage zufolge ein Schüler von Hrabanus Maurus10 – den Wirkungskontext seines Werkes bestimmt. Es handelt sich um folgende Teile, von denen das Approbationsschreiben an Liutbert in lateinischer Prosa verfasst ist:11
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»Ad Ludowicum« (Widmung an König Ludwig). Ludwig der Deutsche war Herrscher über das ostfränkische Teilreich. »Ad Liutbertum« (Widmung an Liutbert). Liutbert, Erzbischof von Mainz, war Leiter der Diözese des Klosters Weißenburg und ein Anhänger Ludwigs. »Ad Salomon« (Widmung an Salomon). Salomon, Bischof von Konstanz, leitete die größte Diözese im ostfränkischen Raum und war ein Anhänger Ludwigs.
Otfrid 1987, S. 188 (Widmung an Hartmut und Werinbert, Titel). Titel nach der Überschrift zu dem ersten Buch: »Incipit liber evangeliorum […]« (ebd., S. 32). Haubrichs 1988, S. 359. Vgl. Kleiber 1971, S. 131–133 und 151–155 sowie Haubrichs 2004, S. 3–7. So Haug 1992, S. 30. Einen ausführlichen Kommentar zu den Widmungen am Anfang des Werkes und zu den ersten Kapiteln liefert Vollmann-Profe 1976, aber vgl. auch VollmannProfe 1987, S. 204–245 und 250–272. Die umfassendste Untersuchung zu Otfrids Poetik bietet Ernst 1975. Wichtig sind überdies die Ausführungen von Haug 1992 (S. 29–42) – nicht zuletzt deshalb, weil er Otfrids Evangelienbuch in die Geschichte deutschsprachiger Poetik integriert. Grundlegend zu Otfrid vgl. auch Haubrichs 1988, S. 354–377, und Haubrichs 2004. Otfrid 1987, S. 26 f. (Widmung an Liutbert, Z. 135–138). Vgl. zu den Adressaten Haubrichs 2004, S. 8–11.
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VI. Poetologische Momente
»Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit« (Warum der Autor dies Werk in der Volkssprache abfaßte). 1. Buch, Kapitel 1. »Invocatio scriptoris ad deum« (Der Verfasser ruft Gott an). 1. Buch, Kapitel 2. »Oratio« (Gebet). 5. Buch, Kapitel 24. »Conclusio voluminis totius« (Abschluß des gesamten Werkes). 5. Buch, Kapitel 25. »Ad Hartmuat et Werinbertum« (Widmung an Hartmut und Werinbert). Hartmut und Werinbert waren zwei bedeutende Mönche im Kloster St. Gallen.
Bestimmt wird der Kontext von weltlichen und geistlichen Mächten und Bestrebungen: von den politischen Auseinandersetzungen um die Auflösung des fränkischen Großreiches und Ludwigs kulturpolitischem Ziel einer Identitätsstiftung Ostfrankens, von den Bemühungen um die Vermittlung der christlichen Lehre innerhalb der klösterlichen Hierarchie und im fränkischen Volk, von der Freundschaft zu den Mitbrüdern sowie von der Einsicht in die über alle weltlichen und geistlichen Belange herrschende, ewige Macht Gottes. Prägend ist die Metaphorik des Dienstes, der das gesamte Leben des Mönchs strukturiert; und die sprachlich vermittelte Vorstellung von Literatur zielt auf eine umfassende Spiritualisierung des Materiellen. Eine bedeutende Rolle spielt zudem die Vorstellung vom Wettstreit der Völker, denn er liefert die wirksamste weltliche Motivation für die Stiftung einer fränkischen Kultur. Jedes Glied in der von Otfrid vorausgesetzten geistlichen und weltlichen Hierarchie hat seine Aufgabe im Dienste der Höheren zu erfüllen, und das ganze Leben besteht letztendlich darin, Gott zu dienen.12 Entsprechend ist die Produktion und Rezeption des Werkes von einer vertikalen Metaphorik gekennzeichnet. So stellt sich Otfrid in den Texten »Der Verfasser ruft Gott an« und »Gebet« in den Dienst Gottes:13 »Ja, mein Herr und Gott, ich bin Dein Knecht« (»Wola druhtin min, ja bin ih scalc thin«);14 er hat das Buch für seinen Herrscher König Ludwig verfasst;15 und er schrieb es auf Ersuchen von Mitbrüdern und einer edlen Frau namens Judith.16 12 13 14 15 16
Otfrid 1987, S. 186 f. (Widmung an Hartmut und Werinbert, V. 17). Vgl. zur Bedeutung des Dienstes Haubrichs 1988, S. 354 f. Otfrid 1987, S. 46–51 (Der Verfasser ruft Gott an) und S. 174 f. (Gebet). Ebd., S. 46 f. (Der Verfasser ruft Gott an, V. 1). Ebd., S. 14 f. (Widmung an Ludwig, V. 87). Ebd., S. 16 f. (Widmung an Liutbert, Z. 5–14). Curtius betont den topischen Charakter solcher Aussagen: »Unzählige mittelalterliche Autoren versichern, sie schrieben auf Befehl. Die Literaturgeschichten nehmen das als bare Münze. Doch ist es meistens nur ein topos« (Curtius 1993, S. 95). Wo genau die Grenzen zwischen realem Auftrag und topischer Formel liegen, ist in den meisten Fällen nicht zu rekonstruieren. Von der poetologischen Funktion her geht es in beiden Fällen darum, dem Text einen Platz im hierarchischen Gefüge gesellschaft-
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Besonders ausführlich elaboriert Otfrid diese Bindung unter Bezug auf die Tugend der Liebe, wodurch der Dienst zu einem alles erfüllenden Impuls wird: Ni móht ih thaz firlóugnen, nub íh thes scolti góumen thaz ih ál dati thes káritas mih bati; Wanta sí ist in war mín druhtines drútin, ist fúrista innan húses sines thíonostes, Thes selben thíonostes giwált, thaz géngit thuruh íra hant, nist es wíht in thanke mit íru man iz ni wírke! (Ich konnte gar nicht anders: ich mußte mich darauf einstellen, | alles zu tun, worum Caritas mich bat; | denn sie ist wahrlich die Vertraute des Herrn, | sie steht in seinem Haus der Dienerschaft vor, | die Befehlsgewalt über die Dienerschaft liegt in ihrer Hand, | und nichts ist willkommen, was man nicht mit ihrem Einverständnis vollbringt.)17
Die Metaphorik von der Liebe als Dienstherrin im Hause Gottes verschmilzt Auftrag, Dienst und die irdische Gemeinschaft »in der Liebe Gottes« (»in gotes minna«18) zu einer großen Einheit, die auf die ewige Gemeinschaft im Hause Gottes vorausweist. Auch das Verdienst ist Teil des Dienstverhältnisses: Wenn Ludwig oder die Franken ruhmreiche Taten vollbringen, so verdanken sie dies der Hilfe Gottes;19 und wenn Otfrid etwas Beachtenswürdiges geschrieben oder eine gute Formulierung gefunden hat, so ist dies Salomons Unterricht zuzuschreiben20 sowie der »Gnade« (»ginada«) Gottes.21 Die Einbettung in den Dienst an Gott bestimmt auch die Frage des Ruhms. Für den Mönch Otfrid kann nur der Ruhm Gottes, nicht der persönliche Ruhm das Werk legitimieren: Thaz ih ni scríbu thuruh rúam, súntar bi thin lób duan, thaz mír iz iowanne zi wíze nirgange. (Ich schreibe dieses Werk nicht um meines eigenen Ruhmes willen, sondern zu Deiner Verherrlichung, | damit es mir nicht dereinst zum Verderben gereiche.)22
Thematisiert ist hier eine Spannung zwischen individuellem Geltungsbedürfnis und demütiger Integration in eine höhere Ordnung, die noch bis ins 18. Jahrhundert fortwirkte. Das Ziel von Otfrids Werk ist die Förderung des Heils aller Beteiligten. Er erfleht Gottes Gnade und Segen für seine Adressaten und für sich selbst,
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licher Kommunikation zuzuweisen; je weniger real der Bezug zu einem Auftraggeber ist, desto ›metaphorischer‹ wird tendenziell das Szenarium des Gefüges. Otfrid 1987, S. 176 f. (5. Buch, Kap. 25, V. 13–18). Ebd. (V. 8). Ebd., S. 8 f. (Widmung an Ludwig, V. 19–22) und S. 40 f. (Kap. 1,1, V. 80). Ebd., S. 28 f. (Widmung an Salomon, V. 23–26). Ebd., S. 48 f. (1. Buch, Kap. 2, V. 25–28). Ebd., S. 46 f. (V. 17 f.). S. o., S. 506 f.
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und er bittet die Adressaten, für ihn zu beten.23 In diesem Kontext benutzt er eine Wegmetapher, um die Notwendigkeit der Führung Gottes hervorzuheben. So hofft er, Gott möge Salomons Wege in Gottes Reich führen,24 und erbittet am Ende seines Werkes auch für sich selber eine solche Führung: Firdílo hiar thio dáti joh, drúhtin, mih giléiti, thaz ih ni mángolo thes dróf, in hímilriches fríthof Rihti pédi mine thar sin thie drúta thine, (Tilge, o Herr, meine Missetaten und leite mich | in den sicheren Hort des Himmelreiches, auf daß ich seiner nicht verlustig gehe. | Lenke meine Pfade dorthin, wo Deine Vertrauten sind.)25
Anders als in der Originalitätstopik führt der Weg hier nicht in unbekanntes, grenzloses Gebiet, sondern in den bergenden Raum Gottes, und nicht die Unabhängigkeit des Autors soll damit erkennbar werden, sondern seine absolute Abhängigkeit von Gott. Diese Abhängigkeit vermittelt auch die Behältermetaphorik, durch die Otfrid in Bezug auf die Ruhmessucht die Lauterkeit seines Schreibens Gott anheimstellt: Gott kenne Otfrids »Herz« (»herza«) besser als dieser selbst, obwohl es in dessen eigenem »Inneren« lebt (»thoh iz bue innan mir«).26 Wie Otfrids Publikum zusammengesetzt war, lässt sich nicht verlässlich rekonstruieren,27 aber das Spektrum der umrahmenden Texte sowie auch der Kontext legen nahe, dass es sich um ein weltliches und geistliches Publikum handelte. An die ostfränkische Oberschicht wendet sich Otfrid, indem er die Größe, Kühnheit und Rechtschaffenheit Ludwigs und der Franken »in fränkischer Sprache« (»in frenkisga zungun«28) preist und das Verfassen des Evangelienbuchs als Mittel darstellt, den Ruhm der Franken zu vervollkommnen;29 die Leistung der Feder soll die Leistung des Schwerts ergänzen. Es ist dies die weltliche Ausprägung des Ruhmestopos, aber das Ruhmesstreben wird durch die vorausgesetzte Gläubigkeit und Gottgefälligkeit der Franken geistlich legitimiert.30 Am Ende des Rechtfertigungskapitels bestimmt Otfrid sein in fränkischer Sprache verfasstes Werk auch für jene, die das Evangelium »in einer anderen Sprache nicht aufnehmen können« (»in ander gizungi firneman iz ni kunni«).31 Das inklusive Ziel, allen Franken die Heilsbotschaft zugänglich zu machen, ist dabei kongruent mit dem 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. z. B. ebd., S. 182 f. (5. Buch, 25, V. 87–92). Ebd., S. 30 f. (Widmung an Salomon, V. 33–41). Ebd., S. 186 f. (Widmung an Hartmut und Werinbert, V. 5–7). Ebd., S. 46 f. (1. Buch, Kap. 2, V. 23 f.). Vgl. z. B. Ps. 44, 22 und 139, 23. Vgl. dazu Vollmann-Profe 1987, S. 268–272. Otfrid 1987, S. 44 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 114 und 122). Ebd., Widmung an König Ludwig und 1. Buch, Kap. 1, passim. Vgl. die auf Latium bezogene Argumentation bei Horaz (1984, S. 22 f., V. 289 f.); s. o., S. 54. Ebd., S. 14 f. (Widmung an König Ludwig, V. 87–90) und S. 44 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 105 f.). Ebd., S. 44 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 120).
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exklusiven Ziel, den Franken ihre eigene Identität zu vermitteln. So verweist Otfrid auf den fränkischen Ursprungsmythos, der die Abstammung der Franken von den Trojanern und spezifisch auch von dem Makedonen Alexander dem Großen herleitet,32 und verstärkt die Wirkung der Identitätsstiftung, indem er sich selber als Franke projiziert. Seine Lobeshymne auf die Franken kulminiert jedoch in der Partizipation der Franken an der Vermittlung der Heilsbotschaft, wenn er all jene, die den Franken wohlwollend gesinnt sind, auffordert sich zu freuen, Thaz wir Kríste sungun in únsera zungun, joh wír ouh thaz gilébetun, in frénkisgon nan lóbotun! (daß wir Christus in unserer Sprache preisen konnten | und es uns vergönnt war, sein Lob auf fränkisch vorzutragen.)33
Die am Anfang der Widmung an König Ludwig betonte politische Gemeinschaft der Franken des Ostreichs34 ist hier eins mit der Sprachgemeinschaft sowie der Gemeinschaft in der Christenheit, so wie auch Autor und Publikum durch das gleiche Ziel geeint sind. Ausgegrenzt werden durch den Topos vom missgünstigen Leser jene, die dieser Identität feindlich gegenüberstehen. In den Widmungen an geistliche Adressaten kommen andere Metaphern ins Spiel. So geht es in der Widmung an Liutbert aus der Perspektive des Lateinischen vor allem um die Schwierigkeit von Otfrids Unterfangen, in der »bäurischen«, »unkultivierten« (»agrestis«, »incultus«35) fränkischen Sprache eine dem geistlichen Inhalt angemessene Darstellung zu erzielen; hier wird das Projekt somit durch das Ziel legitimiert, die fränkische Sprache durch die Arbeit mit dem Lateinischen zu ›veredeln‹ und zu ›kultivieren‹. Eingangs thematisiert Otfrid zudem die Notwendigkeit, die moralisch verwerflichen weltlichen Lieder durch die Attraktivität der Evangelien in der Muttersprache zu verdrängen; hier zeigt sich – wenn auch in durchaus anderer Konstellation – eine Entsprechung zu dem Gegensatz zwischen ›Unterhaltungsliteratur‹ und ›ernster Literatur‹, der noch im 21. Jahrhundert diskutiert wird. Dieses Ziel motivierte Otfrid zufolge seine Mitbrüder und Judith, ihn zu seinem Projekt zu veranlassen.36 Weiterhin waren sie motiviert von dem Wunsch, der poetischen Darstellung heidnischer Taten durch die römischen Schriftsteller die Darstellung großer christlicher Vorbilder gegenüberzustellen. Die traditionsstiftende, aus der Bibelexegese übertragene ›Vorbild‹-Metaphorik bestimmt bereits Otfrids Darstellung 32 33 34 35 36
Ebd., S. 42 f. (V. 87–92). Ebd., S. 44 f. (V. 125 f.). Ebd., S. 8 f. (Widmung an König Ludwig, V. 1–4). Ebd., S. 24 f. (Widmung an Liutbert, Z. 112 f.). Zu den Motivationen der Mitbrüder und Judith vgl. ebd., S. 16 f. (Widmung an Liutbert, Z. 5–23).
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Ludwigs: Indem er ihn ausführlich mit David vergleicht,37 stilisiert er den Franken zum christlichen Helden. Christliche Vorbilder werden vor allem in der Widmung an die Mitbrüder Hartmut und Werinbert gefeiert: So erscheint neben den Patriarchen Abraham, Jakob und Joseph wiederum David als »Vorbild« (»bilidi«)38 sowie auch der für die Mönche in St. Gallen bedeutsame St. Gallus.39 Vor allem aber soll Jesus als Vorbild dienen: Die Menschen sollen sich lieben, »wie er es uns vorgelebt hatte« (»so er uns iz bilidot«).40 Die typologischen Bezüge mit ihrer Struktur der in die Zeit projizierten vergleichenden Verbindung machen die weltliche Geschichte für die Ewigkeit durchsichtig, und zugleich vermag Otfrid damit die Bedeutung der Handlung des Evangelienbuchs als sittliche Anweisung hervorzuheben. In anderer Form bestimmt die Vorbildstruktur auch den Bezug zur weltlichen Tradition, wobei durchgängig die antike Schriftkultur maßgebend ist. Denn wenn auch in der Widmung an Liutbert kurz die problematische Popularität heidnischer Schriften thematisiert wird, so sind es doch die Schriften der »Griechen und Römer« (»Kriachi joh Romani«41), deren Kunstfertigkeit Otfrid in der Rechtfertigung seiner Verwendung der Volkssprache ausführlich als nachzuahmendes Modell preist.42 Otfrid hebt zunächst die ruhmesstiftende Funktion von Büchern hervor, in denen Völker ihre Taten verkünden, wobei ihm die Vollkommenheit der Werke als Zeichen von Weisheit und Kunstverstand gilt.43 In seinen Ausführungen zur Kunst der Griechen und Römer überträgt er Termini der lateinischen Rhetorik, um vor allem die Techniken des hohen Stils zu empfehlen, da diese die Entwicklung des Geistes fördern.44 Vermittelt wird die Vollkommenheit der Werke durch das Wort »Reinheit« (»reini«)45 und darüber hinaus durch Vergleiche – beispielsweise mit Elfenbeinarbeiten46 – und Metaphern, durch die Otfrid seine eigene Kunstfertigkeit unter Beweis stellt und den Wert von Dichtung vermittelt: Thie dáti man giscríbe: theist mannes lúst zi líbe; nim góuma thera díhta: thaz húrsgit thina dráhta. 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Ebd., S. 10–15 (Widmung an König Ludwig, V. 37–74). Der Vergleich eines Herrschers mit David ist topisch (vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 17). Otfrid 1987, S. 194 f. (Widmung an Hartmut und Werinbert, V. 93). Ebd., S. 194–197 (Widmung an Hartmut und Werinbert, V. 111–114). S.a. S. 198–201 (V. 153–168). Ebd., S. 198 (V. 148) Ebd., S. 34 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 13). Ebd., S. 34–37 (V. 13–30). De facto bezieht sich Otfrid auf die Schriften der Römer; vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 102, die auf die Formelhaftigkeit dieser auch in der Widmung an Liutbert (Z. 120) auftretenden Verbindung verweist (Otfrid 1987, S. 24 f.). Otfrid 1987, S. 34 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 1–6). Vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 95–100; s. a. Haug 1992, S. 34 f. Otfrid 1987, S. 34 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 6). Ebd. (V. 16).
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Ist iz prósun slihti: thaz drénkit thih in ríhti; odo métres kléini: theist góuma filu réini. (Die Aufzeichnung der Taten, die gibt dem Menschen Lebensfreude; | beschäftige dich angelegentlich mit Literatur: das schärft den Verstand. | Handelt es sich um das Ebenmaß der Prosa: das ist wahrlich ein Trank für dich; | oder aber um die Feinheit des Metrums: das ist eine sehr reine Speise.)47
Die Freude an der Kunst und ihr Nutzen für die Vervollkommnung des Menschen sind hier in Einklang, so wie auch Inhalt und Form gleichermaßen ›Lust‹ vermitteln.48 Der Bezug zum »Leben«, die Speise- und Trankmetaphern und die physische Ausprägung des Attributs der ›Reinheit‹ machen die Dichtung zur vollkommenen Art der Lebenserhaltung und liefern damit eine Geist und Körper miteinbeziehende Legitimation des Werkes.49 Otfrids detaillierte Ausführungen auch zu den Feinheiten des Versbaus bereiten vor auf deren Übertragung in die fränkische Dichtung.50 Die in der lateinischen Widmung an Liutbert ausführlich beklagte Widerspenstigkeit der fränkischen Sprache gegenüber der Regelhaftigkeit des Lateinischen51 wird in diesem volkssprachlichen Kontext nur kurz erwähnt: In der fränkischen Sprache ist noch nicht so gedichtet worden, und die fränkische Sprache fügt sich noch nicht der Regel (»regula«).52 Diesen gerade im benediktinischen Kontext mit spiritueller Bedeutung erfüllten Begriff verwandelt Otfrid in eine poetologische Metapher, um besonders seine geistlichen Rezipienten von der Möglichkeit einer ebenbürtigen Dichtung in fränkischer Sprache zu überzeugen. Mittels Allegorisierung gibt er den poetologischen Termini – Vers, Versfuß, Metrum, Quantität, ornatus – einen geistlichen Sinn. Die Erfüllung der Regeln der Verskunst wird zur Befolgung der ›Regel‹ des christlichen Lebenswandels: »Unter dem Bilde vom rechten Dichten erscheint die Vorstellung vom rechten Leben.«53 Maßgebend ist Gottes Gesetz (»gotes wizod«54): Thaz láz thir wesan súazi: so mézent iz thie fúazi, zít joh thiu régula; so ist gotes selbes brédiga. Wil thú thes wola dráhton, thu métar wolles áhton, in thína zungun wirken dúam joh sconu vérs wolles Il io gótes willen állo ziti irfúllen, so scribent gótes thegana in frénkisgon thie regula; 47 48 49 50 51 52 53
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Ebd. (V. 17–20). S.a. ebd., S. 34 f. (V. 14). Vgl. Haug 1992, S. 36. Zum Versbau vgl. Haubrichs 1988, S. 363–365. Otfrid 1987, S. 20 f. (Widmung an Liutbert, Z. 63 f.). Ebd., S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 35). Vollmann-Profe 1976, S. 121. Zu den Kontroversen um diese höchst komplexe Stelle vgl. ebd., S. 120–140. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Interpretation ergeben sich aus den Ebenen der Allegorie. Meine Ausführungen folgen prinzipiell Vollmann-Profe, ebd., und Haug 1992, S. 37 f. Otfrid 1987, S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 38).
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In gótes gibotes súazi laz gángan thine fúazi, ni laz thir zít thes ingán: theist sconi férs sar gidán; Díhto io thaz zi nóti theso séhs ziti, thaz thú thih so girústes, in theru síbuntun giréstes. (Gottes Gesetz laß dir süß sein, dann wird auch das Fränkische durch Versfüße, | Quantität und metrische Regel bestimmt; ja dann spricht Gott selbst durch dich. | Wenn du dich mit dem Gedanken trägst, metrische Gedichte zu machen, | in deiner Sprache ein rühmliches Werk zu vollbringen und schöne Verse zu dichten, | so bemühe dich, Gottes Willen allzeit zu erfüllen; | dann schreiben die Diener Gottes auf fränkisch regelgemäß. | In der Süße von Gottes Gebot laß deine Füße wandeln, | versäume keine Zeit dabei: dann ist sogleich ein schöner Vers entstanden. | Dies dichte stets, die ganzen sechs Zeitabschnitte hindurch, | damit du so gerüstet bist, daß du in der siebenten ruhen kannst.)55
Die pedes werden zu den Füßen des vom Gebot Gottes geleiteten Christen auf dem Weg durch die Welt; das Metrum wird zur göttlichen Maßgabe; der Vers wird zu einem Lebenswandel, der die Zeit unter dem Aspekt der göttlichen Ewigkeit gut nutzt; die zeitliche Quantität wird zu den sechs Altersstufen des Menschen in der realen Zeit mit dem Leben nach dem Tod als Zeit der ›Ruhe‹.56 In der Metapher vom ›Rüsten‹ (»girusten«) für die Ewigkeit greift Otfrid das Wort auf, das er zuvor unter Bezug auf die Dichtung der Griechen und Römer als Entsprechung zu ornatus verwandt hatte.57 Auf diese Weise integriert er im Laufe seiner Arbeit mit den lateinischen Evangelien sein volkssprachliches Werk mittels exegetischer Methoden in den christlichen Glaubenszusammenhang und die christliche Lebenspraxis. Otfrid geht mehrfach auch auf die in der christlichen Tradition durchgängig diskutierte Frage ein, wie sich die künstlerisch gestaltete Rede zur Wahrheit Gottes verhält.58 Er benutzt dabei zwei tendenziell entgegengesetzte Argumente aus der Tradition biblischer Exegese. In der Widmung an Liutbert legitimiert er seine Verwendung des Fränkischen durch die Erklärung, es sei vorrangige Aufgabe des Menschen, Gott zu loben; der Grad der Kultiviertheit der Sprache sei dabei nebensächlich, denn es gehe Gott nicht um »leeren Lippendienst« (»labrorum inane servitium«).59 Entsprechend bittet er in seiner invocatio Dei, er möge sich nicht von der Wahrheit entfernen und sich nicht um der schönen Form willen in der Wahl seiner Worte vergreifen.60 Getragen ist seine Poetik jedoch von der Zuversicht 55 56 57 58 59 60
Ebd., S. 38 f. (V. 41–50). Vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 136–140, bes. S. 136. Auf die Menschheit ausgeweitet lässt sich dieses Bild auch beziehen auf die sechs Weltepochen (ebd.). Vgl. »girústit«, Otfrid 1987, S. 34 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 14). Vgl. dazu Vollmann-Profe 1976, S. 103 und Haug 1992, S. 35 u. 38. S.o., Kap. I, 5. Otfrid 1987, S. 24–27 (Widmung an Liutbert, Z. 133). Ebd., S. 46 (Der Verfasser ruft Gott an, V. 15–18).
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in die Vereinbarkeit der kunstvollen Rede, der schönen Form und der göttlichen Wahrheit. Seine Metapher von der ›Süße‹ (»suazi«) bezeichnet die Verskunst der Griechen und Römer,61 die Evangelien (»dulcedo«62) und die richtige Einstellung gegenüber Gottes Gesetz.63 Aufgegriffen wird sie nochmals, um die von Christus und den Jüngern verkündete Botschaft zu charakterisieren, der Otfrid den absoluten Vorrang gibt: Wánta sie iz gisúngun hárto in édilzungun, mit góte iz allaz ríatun, in wérkon ouh gizíartun. Theist súazi joh ouh núzzi inti lérit unsih wízzi, hímilis gimácha, bi thiu ist thaz ánder racha. (denn sie haben ihre Botschaft in einer Sprache von besonderem Adel vorgetragen: | bei allem, was sie sagten, war Gott ihr Ratgeber, mit seiner Hilfe haben sie alles schön ins Werk gesetzt. | Ihre Botschaft ist freudespendend und hilfreich zugleich, | und sie lehrt uns Einsicht, | sie ist ein Werk des Himmels; deswegen ist sie ganz unvergleichlich.)64
›Süße‹ ist hier mit Nutzen (»nuzzi«) und Weisheit (»wizzi«) verbunden – delectare und prodesse sind im Evangelium in ihrer höchsten Form verwirklicht65 und mit der Einsicht in die göttliche Wahrheit verknüpft. Im Evangelium wird die Wahrheit Christi in der schönstmöglichen Sprache vermittelt; gerechtfertigt ist damit eine kunstvolle Sprache auch für Otfrids Buch. Mit dem Werk des Himmels ist ein Maßstab gesetzt, der dem weltlichen Maßstab der griechischen und römischen Dichtung absolut überlegen ist. Es folgt eine Lobeshymne auf die Fähigkeiten und Qualitäten der Franken, die sie befähigen, unter ihrem starken König und mit der Hilfe Gottes jedes Volk zu besiegen – und auch in der Dichtung den Wettkampf aufzunehmen.66 Otfrids Evangelienbuch ist ein ambitionierter Versuch der Sprach- und Kulturstiftung; er wirkte jedoch nicht traditionsbildend. Eine Rezeption ist nur bis Anfang des 10. Jahrhunderts nachweisbar,67 und erst im 11. Jahrhundert entstand ein deutschsprachiges Schrifttum, das »unter wesentlich veränderten Bedingungen zu einer nicht mehr abbrechenden Tradition führte«.68 Auch die Person des Autors verschwand zunächst aus der Überlieferung. Noch nicht einmal sein Tod wurde dokumentiert, da die Blütezeit 61 62 63 64 65 66 67 68
Ebd., S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 21). Zu dem Topos vgl. Ohly 1978. Otfrid 1987, S. 16 f. (Widmung an Liutbert, Z. 13). Vgl. das obige Zitat, ebd., S. 38 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 41). Ebd. (V. 53–56). Vgl. Haug 1992, S. 38. Otfrid 1987, S. 38–45 (1. Buch, Kap. 1, V. 57–112, bes. V. 57–60). Die maßgebende Rolle, die Otfrid gemeinhin bei der Einführung des Endreims in die deutsche Dichtung zugesprochen wird, ist insofern zu relativieren. Die Fokussierung auf diese Leistung in der Literaturgeschichtsschreibung ist Ausdruck der habituellen Orientierung am ›Neuen‹. Haug 1992, S. 42. Wenn man die für Mittelalter und frühe Neuzeit charakteristische Interaktion zwischen volkssprachlichem und lateinischem Schrifttum berücksichtigt, ergibt sich allerdings eine Tradition ohne ›Bruch‹.
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der Bibliothek des Klosters offenbar mit seinem Tod schlagartig ein Ende fand: »Das Verstummen, das auf seinen Tod folgte, schloß ihn ein.«69 Wiederentdeckt wurde sein Werk erst Ende des 15. Jahrhunderts;70 die moderne wissenschaftliche Auseinandersetzung begann mit Karl Lachmann, der jedoch mit seinem Urteil, das Werk sei von »Redseligkeit und dürrer Kälte« geprägt, die Rezeption bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts behinderte.71 Eine bedeutende Rolle in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung spielt Otfrids Werk daher vornehmlich aus sprachgeschichtlicher Sicht und in Bezug auf den innovativen Endreim. Dabei bietet Otfrids Evangelienbuch einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die »argumentative Verknüpfung von Bibel und Poesie«72, die in anderer Form auch in volkssprachlichen mittelalterlichen Epen und in der humanistisch geprägten Dichtung bis hin zu Klopstocks Messias und darüber hinaus fortgeführt wird. Die ›Diskontinuität‹ der frühen volkssprachlichen Schrifttradition verdeutlicht die Funktion des lateinischen Schrifttums als kontinuierlicher Bezugspunkt für die Dichter bis ins 18. Jahrhundert: Die Privilegierung des Lateinischen unter den schriftkundigen Gruppen brachte es zwangsläufig mit sich, dass das lateinische Schrifttum verlässlicher überliefert wurde. Der im frühen Mittelalter festgestellte – ohnehin relative – ›Bruch‹ in ›der Tradition‹ ergibt sich nur, wenn man die kontinuierlich überlieferte lateinische Literatur aus der nationalen Literaturgeschichte ausgrenzt. Bedeutend ist Otfrids Werk auch in Hinblick auf die germanisierende Kulturstiftung im 18. Jahrhundert. Bezüge ergeben sich besonders zu Klopstock, der vermutlich aus Otfrids Evangelienbuch Althochdeutsch lernte73 und teilweise gleiche Quellen benutzt haben dürfte, so für seine Deutsche Gelehrtenrepublik die Lex Salica.74 Verknüpft sind auch in seinem Werk Bibel, Antike und germanisierender Kulturpatriotismus; so lässt sich Otfrids Werk wie auch Klopstocks Messias als Stiftung einer Nationalkultur mittels eines Epos über Christus verstehen.75 In seinen Dramen nutzt Klopstock ähnlich wie Otfrid die christliche Typologie für ein kulturpatriotisches Ziel, 69 70 71 72 73 74 75
Kleiber 1971, S. 155. Vgl. die Schrift von Trithemius (1978). Vgl. dazu Butzmann 1971. Lachmann 1978, S. 25. Vgl. den Titel von Dyck 1977. Vgl. Klopstock 1974 ff., Abt. Briefe, Bd. 5/2, S. 349 f. Klopstock hat nachweislich die 1728 veröffentlichte Ausgabe von Johann Schilter benutzt (s. ebd., S. 349). Vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 140 f.; Klopstock 1974 ff., Abt. Werke, Bd. 7/2, S. 278–281. Vollmann-Profe versteht Otfrids Projekt als ein an der Antike orientiertes Dichten eines »›großen Epos‹« (Vollmann-Profe 1987, S. 271). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang möglicherweise auch Otfrids Schifffahrtssmetaphorik, mit der er die ›Ankunft‹ seines dichterischen Projekts darstellt (5. Buch, Kap. 25, V. 1–6); vgl. das Ende von Vergils Epos »Georgica«, wo der Dichter ebenfalls »die Segel refft« (Vergil 1994, S. 114 f.; IV, V. 117), vgl. Ernst 1975, S. 25–27; s. a. Curtius 1993, S. 138 f.
1. Otfrid von Weißenburg: Widmungen und Prolog (Evangelienbuch, 863–871)
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wenn er mit der paarweisen Anordnung seiner drei biblischen Dramen (über Adam, Salomon und David) und drei Hermann-Dramen eine »Vergleichung« alttestamentlicher und germanischer Geschichte anzuregen sucht.76 Dass Otfrids Poetik an einer Diskussion teilnimmt, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt, zeigt sich im Topos von der Konkurrenz mit der weltlichen Unterhaltungsliteratur: Dieser ist in geistlichen Poetiken bis ins 18. Jahrhundert prägend und lebt weltlich uminterpretiert auch danach noch fort – am Anfang des dritten Jahrtausends in Form von Auseinandersetzungen um die ›E-Kultur‹ und ›U-Kultur‹.77 Ebenso interessant jedoch ist die relativ geringe Bedeutung, die Otfrid diesem Topos einräumt, in Gegensatz beispielsweise zur virulenten Polemik des geistlichen Lyrikers Johann Jacob Rambach.78 Otfrids Ausführungen zu seinem Projekt wurden in der Frühzeit deutschsprachiger Poetik verfasst und reflektieren über ein Unterfangen, mit dem er einen Anfang zu bilden beabsichtigt:79 Die fränkische Sprache wurde ›noch nicht so gesungen, mit Regeln bezwungen‹ (»Nist si so gisungan, mit regulu bithuungan«).80 Gerade diese Metaphorik vom Anfang zeigt die Bedeutung des etablierten Diskurses um die Dichtung: Die großen Vorbilder des Evangeliums und des römischen Schrifttums bilden den vieldiskutierten Maßstab, anhand dessen sich in einem anderen Kontext der ›Anfang‹ erst in seiner ganzen Größe profilieren kann. Auch das Detail der Argumentation ist geprägt vom Zusammenspiel des Tradierten und des Neuen, des Konventionellen und des Individuellen: So ist Otfrids Poetik Walter Haug zufolge »ein Musterbeispiel dafür, wie mit topisch-traditionellen Elementen eine höchst individuelle Aussage erzielt werden kann.«81 Ein ›Anfang‹ ist Otfrids Projekt auch in fränkischer Sprache nicht in absolutem Sinne: Freie Bearbeitungen biblischer Texte in altfänkischen und anderen Dialekten gab es vorher, und als Werk der Dichtung bildet es nur dann den ›Anfang‹, wenn man zeitgenössische Formen der Dichtung ausblendet, die aus der Perspektive der lateinisch Gebildeten als undiszipliniert und barbarisch bewertet wurden – und denen somit eine schriftliche Überlieferung mittels der klösterlichen Skriptorien verwehrt war. Zumindest bei der Nachwelt jedoch konnte der Mönch Otfrid durch seine sorgfältige Pflege nicht nur der kunstvollen Schriftsprache, sondern auch ihrer materiellen Form den Sieg über die mündliche Konkurrenz davontragen. 76 77 78 79 80
81
Klopstock 1823–1830, Bd. 8, S. 4 (Vorrede [Dramen]). S. u., S. 644–650. S. o., S. 364–366. Vgl. Ernst 1975, S. 22–27. Otfrid 1987, S. 36 f. (1. Buch, Kap. 1, V. 35). Vgl. Vollmann-Profe 1976, S. 123. Sie paraphrasiert: »In fränkischer Sprache wurde (bisher) nicht auf die erwähnte kunstvolle Weise gedichtet; (wie ein junges Pferd) kennt die fränkische Sprache noch nicht den Zügel poetischer Gesetze« (ebd.). Haug 1992, S. 39.
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VI. Poetologische Momente
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210) Der am Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene höfische Roman Tristan von Gottfried von Straßburg ist ein weltliches Werk, das vornehmlich der Unterhaltung der Rezipienten dient.82 Während Otfrid bestrebt ist, sein Werk als Anfang einer einheimischen Tradition zu projizieren, stellt Gottfried sein Werk explizit in eine bereits etablierte, ruhmreiche deutschsprachige Tradition. Diese Situierung erfolgt nicht im Prolog, der vorrangig der ethisch-inhaltlichen Legitimation gilt,83 sondern in einem ausführlichen, in die Tristan-Handlung eingebetteten Literaturexkurs, mit dem Gottfried seiner Kunst ein klares Profil in ihrem literarischen Kontext verleiht. Es ist eine paradox anmutende Tatsache, dass der in den ›dunklen Anfängen‹ der deutschsprachigen Literatur schreibende Otfrid als Autor heute ein sehr viel klareres Profil hat als der in der Blütezeit mittelalterlicher Dichtkunst schreibende Gottfried. Paradox ist dies nicht zuletzt deshalb, weil Gottfried eine illustre Reihe von Autoren seiner Zeit mit Namen nennt und ausführlich kommentiert. Der Name »Gottfried von Straßburg« wird in seinem Werk nicht genannt; es steht zu vermuten, dass die Dichternennung im Epilog erfolgt wäre, das Werk ist jedoch – möglicherweise aufgrund seines Todes – unvollendet. Einen Hinweis auf den Namen bietet ein unvollständiges Akrostichon, und zwei später verfasste Fortsetzungen des Werkes nennen den Namen »Meister Gotfrît« beziehungsweise »meister Gotfrit von Strâzburc«, wobei nichts gegen den Ort Straßburg als Ursprungsort des Werkes spricht.84 Gottfried projiziert sich in seinem Werk als starke Dichterpersönlichkeit, über sein Leben und seinen Status ist jedoch nichts bekannt, und auch der Auftraggeber, die Zusammensetzung des Publikums sowie der Rezeptionskontext liegen weitgehend im Dunkeln. Das Werk selber erweist ihn als ›clericus par excellence‹ und als litteratus; möglicherweise war er ein Hofkaplan, Schreiber oder Lehrer.85 Er zeigt eine gründliche Kenntnis des zeitgenössischen Schulwissens und bewegt sich sicher in den Gebieten der antiken Rhetorik, der antiken Dichtung und der antiken Mythologie. Ins Zentrum seines Literaturexkurses stellt er jedoch nicht die antike Dichtkunst, sondern die volkssprachliche Tradition. Dabei 82
83 84 85
Gottfried 1984. Die Ausgabe von Rüdiger Krohn folgt im Wesentlichen der Ausgabe von Friedrich Ranke (4. Aufl. 1959) und ist mit einer neuhochdeutschen Übersetzung versehen. Haug verwendet die Gattungsbezeichnung »Roman« programmatisch, um das Werk auf den Fiktionsbegriff zu verpflichten, vgl. Haug 1992, S. 91 f. (s. o., S. 209, Anm. 74). Wenn hier dieser Gattungsbegriff verwendet wird, so ist damit keine solche Festlegung intendiert. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 10–25 (V. 1–244). Vgl. zum Prolog Haug 1992, S. 200–219. Zu den Quellen vgl. Johnson, L.P., 1999, S. 305 f. Vgl. Chinca 1993, S. 7 f., und Johnson, L.P. 1999, S. 308 f.
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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zeigt er den für den höfischen Roman dieser Zeit typischen »hohen Grad von literarischem Bewußtsein und Selbstbewußtsein«, der sich unter anderem in einer explizit dargelegten Kenntnis der Werke zeitgenössischer Dichter manifestiert.86 Ungewöhnlich ist jedoch selbst für diese Epoche intertextuell anspruchsvoller Dichtung die starke Profilierung der Literaturkritik im Tristan-Roman. Der Exkurs bietet als weit ausholende Realisierung des Unfähigkeitstopos eine Dichterschau, in der jüngst verstorbene und noch lebende Dichter zu einer kontinuierlichen Tradition verknüpft und kritisch miteinander verglichen werden.87 Dabei setzt Gottfried alle Mittel seiner Kunst ein, um das Publikum für seine Dichtungsauffassung einzunehmen und einen namentlich nicht genannten Gegner – vermutlich Wolfram von Eschenbach – in einem verbalen Wettstreit zu diskreditieren. Der Kontext des Literaturexkurses ist Tristans Schwertleite, auf die Gottfried in den vorhergehenden 4546 Versen hingeführt hat: Mit dieser Zeremonie am Übergang von Jugend zu Mannesalter wird der Held unter Verleihung des Kampfrechts in die Gemeinschaft der Ritter aufgenommen. Die Ankündigung der Zeremonie weckt beim Publikum die Erwartung, es werde nun die Ausstattung des Helden und seiner Gefährten, die Verleihung der Ritterwürde und das anschließende Turnier in angemessenem stilistischem Prunk dargestellt. Gottfried bietet stattdessen eine Diskussion der literarischen Darstellung des Prunks und vollzieht eine dichterische Zeremonie: Lange vor der Dichterkrönung Petrarcas auf dem Kapitol im Jahre 1341 erkennt er seinem Vorgänger Hartmann von Aue den Lorbeerkranz zu – nicht ohne die Möglichkeit offenzulassen, dass dieser eigentlich Gottfried selbst gebühre – keinesfalls aber dem Gegner Wolfram.88 Der Literaturexkurs hat den Zweck, das Publikum für Gottfrieds dichterisches Ideal empfänglich zu machen und auf dem Wege des dichterischen Wettstreits von der Überlegenheit seiner Kunst zu überzeugen. Fortgeführt 86 87
88
Vgl. Johnson, L.P. 1999, S. 310. Von Tristans Schwertleite berichten die Verse 4547–5068 (Gottfried 1984, Bd. 1, S. 280–309). Im Rahmen einer kunstvollen Elaborierung des Unfähigkeitstopos bieten die Verse 4621–4820 eine ausführliche Dichterschau mit namentlicher Nennung von Dichtern. Der Literaturexkurs mit seiner Kulmination in einer vieldeutigen invocatio ist in der Forschung vielfach und kontrovers diskutiert worden. Die Intensität der Diskussion und das Spektrum der Meinungen zeigen vier 1967 erschienene Aufsätze zu diesem Passus: Fromm 1967; Hahn 1973; Kolb 1973; Schulze 1973. S.a. Müller-Kleimann 1990; Haug 1992, S. 197–227, bes. S. 219–227; Mazzadi 2000, S. 137–171. Zu Gottfrieds Rezeption der rhetorischen Tradition vgl. grundlegend Sawicki 1967 sowie – unter Bezug auf weitere Literatur zu dem Thema – Chinca 1993, S. 1–14 u.ö. Chinca verteidigt das Werk gegen die mit Sawicki und vor allem Curtius identifizierte »Abhängigkeitstheorie« (»dependency theory«; Chinca 1993, S. 1–14), ohne allerdings die Bedeutung der rhetorischen Tradition zu leugnen; ihm geht es darum, Gottfrieds Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der volkssprachlichen literarischen Kultur um 1200 herauszuarbeiten. Vgl. Schulze 1973, passim.
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VI. Poetologische Momente
wird damit die Argumentation des Prologs. Gottfried sucht dort mittels einer Kopplung gesellschaftlicher Vertikalitätsmetaphorik und Behältermetaphorik eine Gemeinschaft »edeler herzen« zu stiften:89 Ich hân mir eine unmüezekeit der werlt ze liebe vür geleit und edelen herzen z’einer hage, den herzen, den ich herze trage, der werlde, in die mîn herze siht. (Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen – | zum Nutzen der Welt | und zur Freude edler Herzen, | jener Herzen, für die mein Herz schlägt, | und jener Welt, in die mein Herz blickt.)90
Die Verpflichtung auf das ›Herz‹ verbindet den Autor mit den Rezipienten: Die Gemeinschaft ist eine des Herzens und inneren Adels, die für Liebesleid empfänglich ist. Ausgegrenzt wird eine »Welt«, die nur genusssüchtig in »Freuden« (»vröuden«)91 leben will, und zurückgewiesen wird die Ansicht, dass Liebesgeschichten den Zustand eines liebeskranken Herzens nur verschlimmern.92 Gottfried sucht somit ein Publikum heranzubilden, das den Wert eines Romans, wie er ihn vorlegt, erkennen kann – das Werk vermag die Traurigen zu beschäftigen und sie vor Müßiggang zu bewahren.93 Gerechtfertigt wird durch die Metaphorik des Prologs somit eine Literatur, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die edlen Emotionen des Publikums anspricht und darüber hinaus das Leid von Liebenden zu lindern vermag: der hân ich mîne unmüezekeit ze kurzewîle vür geleit daz sî mit mînem maere ir nâhe gênde swaere ze halber senfte bringe, ir nôt dâ mite geringe. (All ihnen habe ich mein Werk | zur Unterhaltung vorgelegt, | damit sie mit meiner Erzählung | ihren Kummer, der ihnen nahegeht, | wenigstens halbwegs lindern | und so ihre Qual mindern mögen.)94
Wenn auch in durchaus anderer Konstellation und einem anderen geistesgeschichtlichen Kontext, deuten sich doch Bezüge zu den Debatten um die Romanliteratur im späteren 18. Jahrhundert an, und es ist wohl weder einer direkten Rezeption noch auch purem Zufall zuzuschreiben, wenn diese Passage an die Vorrede des ›Herausgebers‹ in Goethes Die Leiden des jungen 89 90 91 92 93 94
Die Anhaltspunkte zu Gottfrieds gesellschaftlichem Status diskutiert Krohn 1984, S. 211–226. S.a. Spiewok 1973; Haug 1992, S. 210 f. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 12 f. (V. 45–49). Ebd. (V. 53). Ebd., S. 16 f. (V. 101–122). Ebd., S. 14 f. (V. 71–92). Ebd. (V. 71–76).
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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Werthers erinnert,95 dem Roman, der eine Generation in mitfühlendem Liebesleid zerfließen ließ. Während jedoch Goethes von protestantischer Erbauungsliteratur und rousseauschem Naturkult geprägter Roman die zur Schau gestellte Kunst negativ bewertet, hat sie in Gottfrieds Poetik einen hohen Stellenwert. Allerdings verpflichtet auch Gottfried sein Publikum auf Werte des Gefühls und eine von materiell bestimmten Hierarchien unabhängige Gemeinschaft. Die ideale Gemeinschaft der »edelen herzen« orientiert sich nicht an öffentlich zur Schau gestelltem Reichtum und Prunk – den Werten des Adels, die traditionell im höfischen Roman bestätigt werden – sondern an ethischen Werten. Entsprechend wird Tristan anlässlich der Schwertleite nach Abschluss des Exkurses nicht aufgrund seiner materiellen Ausstattung den Gefährten übergeordnet – darin ist er »seinen Kameraden gleich, | so geschmückt und so prächtig wie sie« (»sînen gesellen ebengelîch, | ebenziere und ebenrîch«)96. Was ihn vor jenen auszeichnet, ist »das angeborene Kleid, | das aus der Kammer des Herzens kommt« (»diu an geborne wât, | diu von des herzen kamere gât«):97 Dieses ›innerliche‹ Kleid ist die »Vornehmheit« (»edeler muot«).98 Die im Prolog entfalteten Werte des Herzens und ›inneren Adels‹ werden somit aufgegriffen, um den Helden am Tag der Schwertleite zu charakterisieren. Der Exkurs selbst führt allerdings aus der Handlung hinaus und dient der direkten Kommunikation mit dem Rezipienten. Die Unfähigkeitsbeteuerung fungiert zunächst als captatio benevolentiae. Gottfried erfüllt anfangs die Erwartungen seiner Rezipienten, indem er die Ausstattung der Gefährten beschreibt, um sich dann, in Vorbereitung auf die descriptio des Helden, ans Publikum zu wenden: wie gevâhe ich nû mîn sprechen an, daz ich den werden houbetman Tristanden sô bereite ze sîner swertleite, daz man ez gerne verneme und an dem maere wol gezeme? ine weiz, waz ich dâ von gesage, daz iu gelîche und iu behage und schône an disem maere stê. (wie soll ich mich ausdrücken | und ihren herrlichen Anführer, | Tristan, so vorbereiten | zu seiner Schwertleite, | daß man es mit Vergnügen hört | und der Bericht dadurch gewinnt? | Ich weiß nicht, was ich darüber erzählen soll, | damit es Euch gefällt und Freude macht | und außerdem die Erzählung ziert.)99
95 96 97 98 99
Goethe 1985 ff., Bd. 8, S. 10. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 304 (V. 4989 f.). Ebd. (V. 4993 f.). Ebd. (V. 4995). Ebd., S. 282 f. (V. 4591–4599).
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VI. Poetologische Momente
Mit einem Topos, der üblicherweise der Exordialtopik zugerechnet wird und dadurch auf den Prolog zurückweist, fokussiert Gottfried hier den Zusammenhang zwischen Produktion und Rezeption, indem er zunächst einen persönlichen Bezug zu seinem Helden herstellt, den er zur Zeremonie ›vorbereiten‹ will, und sich dann direkt ans Publikum wendet, um dessen Ansprüche obenan zu stellen. Fortgeführt wird die captatio unter Bezug auf andere Dichter, die bereits »von weltlichem Prunk, von kostbarem Schmuck« (»von werltlîcher zierheit, von rîchem geraete«)100 gedichtet haben, und die Unfähigkeitsbeteuerung wird dann wieder aufgegriffen, um zu erklären, der Dichter könne die Darstellung nicht so gestalten, daß »man sie nicht schon besser geschildert hätte« (»mane haete baz dâ von geseit«);101 auch sei der höfische Prunk durch die häufige Beschreibung »zerredet worden« (»mit rede […] zetriben«).102 Die für die Zeit bemerkenswerte Feststellung des Sprachverschleißes erfolgt spezifisch unter dem Aspekt der Publikumswirkung und des mit dem Werk angestrebten Ziels: Eine solche Beschreibung würde keinem »Herz« »Freude« bringen (»da von kein herze vröude habe«).103 Vorausgesetzt wird damit ein qualitätsbewusstes Publikum, das an die Kunst des Dichters hohe Ansprüche stellt. Bedeutsam ist ferner die Orientierung an den ›besseren‹ Vorgängern: Dies fügt sich zum Prolog, in dem Gottfried einen Rezipienten wünscht, »der Gut und Schlecht abzuwägen versteht« (»der guot und übel betrahten kan«) und der ihn und jeden anderen »nach seinem Wert richtig beurteilen kann« (»nâch sînem werde erkennen kan«).104 Klar fokussiert ist damit der vom Publikum zu bestimmende künstlerische Wert als Maßstab des Dichters. Im Zentrum des Exkurses steht die Qualität der Schilderung: Kriterium für die Bewertung durch das Publikum ist weder die Wahrheit der ›tatsächlichen‹ Ausstattung, noch auch das Wahrscheinliche, sondern die Güte der sprachlichen Darstellung. In diesem weltlichen Werk herrscht nicht wie bei Otfrid der absolute Maßstab der Heiligen Schrift mit ihrer alleinigen, von Gott verbürgten Wahrheit, sondern der Maßstab der menschlichen Kunst. Die Bedeutung des dichterischen Wettstreits, die sich im Symbol des (metaphorischen) Lorbeerkranzes konzentriert, ergibt sich aus diesem Kontext. Denn der künstlerische Wert ist hier keine stabile Qualität, die sich dem Behälterschema gemäß ›äußerlich‹ unter Bezug auf einen metaphysischen Kontext oder ›innerlich‹ unter Bezug auf die innewohnende Natur ergibt, sondern dem Gleichgewichtsschema gemäß eine prozessual sich etablierende, relative Qualität, die vom Messen der Kräfte und vergleichenden Urteil abhängt. Ohne den absoluten (philosophischen) Maßstab der göttlichen 100 101 102 103 104
Ebd. (V. 4602 f.). Ebd., S. 284 f. (V. 4615). Ebd. (V. 4618). Ebd. (V. 4620). Zu dieser Stelle vgl. Fromm 1967, S. 337 f. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 10 f. (V. 17–20, Zitate V. 18 und 20).
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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oder natürlichen Wahrheit, an dem sich die Darstellung des Inhalts sowie die Form und die Sprache messen lässt, bildet der Wettstreit eine Möglichkeit, menschliche Relationen zur Entscheidung zu führen. Das Werk muss im öffentlichen Kontext in Konkurrenz zu anderen Werken bestehen. Anders als im Wettlauf oder ritterlichen Kampf ist die Überlegenheit im Dichten jedoch nicht objektiv messbar. Die Beurteilung des Werks obliegt dem menschlichen Publikum – dies gilt es für die eigene Kunst empfänglich zu machen, da es erst dann dem eigenen Werk den Sieg zusprechen wird. Der Sieg im dichterischen Wettstreit beruht somit letztlich auf der Überredungskunst.105 Gottfried nutzt das erwartete Szenarium der Ritterschau, um seinem Publikum stattdessen in einem Akt metaphorischer Übertragung eine Dichterschau zu bieten – und den Kanon volkssprachlicher höfischer Dichtung zu etablieren. Er beginnt mit jenem Dichter, dem er den Lorbeerkranz zuerkennt: Hartmann von Aue. In der Begründung legt Gottfried zugleich sein eigenes Dichtungsideal dar, das in der Übereinstimmung von »wort« und »sin« und der angemessenen Rezeption durch den verständigen Rezipienten gründet.106 Zitiert sei der ganze Passus, da er in komprimiertester Form eine kohärente Sprachtheorie darlegt: Hartman der Ouwaere, âhî, wie der diu maere beide ûzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der âventiure meine! wie lûter und wie reine sîniu cristallînen wortelîn beidiu sint und iemer müezen sîn! si koment den man mit siten an, si tuont sich nâhen zuo dem man und liebent rehtem muote. swer guote rede ze guote und ouch ze rehte kan verstân, der muoz dem Ouwaere lân sîn schapel und sîn lôrzwî. 105 Vgl. Gottfrieds Darstellung der Notwendigkeit, die überlegene Beredsamkeit der anderen Dichter zu erreichen (ebd., S. 296 f.; V. 4840–4852). 106 Die Verortung des Begriffspaars ist kontrovers. Entgegen rhetorisch orientierten Interpretationen versteht Haug die »Einheit von wort und sin als dichtungsautonomes Prinzip« (1992, S. 222). Er reduziert jedoch »den rhetorischen Ansatz« auf eine »bloß stilistische Interpretation« (ebd., S. 221). Dies ist nicht schlüssig: Die »Korrelation«, die er geltend macht (ebd.), lässt sich über das aptum-Prinzip herstellen, das ohnehin nicht auf die elocutio beschränkt ist (vgl. Quintilian 1995, Bd. 1, S. 60 f.; I, 5, 1). Zum Thema »Wort-Ding-Entsprechungen« bei Gottfried vgl. auch Huber 1979.
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VI. Poetologische Momente
(Hartmann von Aue, | ja, wie der seine Geschichten | sowohl formal wie inhaltlich | mit Worten und Gedanken | völlig ausschmückt und verziert! | Wie er mit seiner Sprache | den Sinn der Erzählung ausformt! | Wie klar und durchsichtig rein | seine kristallenen Worte | sind und immer sein werden! | Mit edlem Anstand | nahen sie dem Leser | und gefallen allen, die rechten Geistes sind. | Wer gute Sprache gut | und auch richtig zu verstehen vermag, | der muß Hartmann | seinen Siegeskranz und Lorbeer lassen.)107
Die Verwendung der Behältermetapher (»ûzen unde innen«) ist ungewöhnlich, insofern als Gottfried »außen« und »innen« gleichwertig zur Geltung kommen lässt und die ›Grenze‹ mit dem wiederholten Präfix der Verben durchlässig macht: Die von Hartmann erzählten »maere« verkörpern die vollkommene Einheit von Dingen und Worten, Gedankenfiguren und Wortfiguren. Die Verben dynamisieren diese Beziehung und zeigen die Alternative zum bloß äußerlichen Prunk: Denn die Schmuckmetaphorik wird für die innere und äußere Verflechtung von »worten« und »sinnen« verwendet. Die Worte für sich werden dann mit Durchsichtigkeitsmetaphern assoziiert, die das perspicuitas-Ideal vermitteln. Solchermaßen mit dem Sinn verbunden stellen die Worte anschließend in personifizierter Form die Beziehung zum Publikum her: Das aptum-Prinzip verwirklicht sich erst in der angemessenen Rezeption. Gottfried entzieht die Beurteilung der Dichtung auf diese Weise der Publikumswillkür, denn die richtige Beurteilung – und damit der rechtmäßige Sieg – stellt sich zwangsläufig ein, wenn der Dichter erfolgreich das hier präsentierte Ideal verwirklicht. Auf die Darstellung der Dichtung Hartmanns folgt eine weit längere Darstellung der Dichtung eines Kollegen, dem noch nicht einmal die Ehre der Namensnennung erwiesen wird: Die Forschung ist sich annähernd einig, dass es sich dabei um Wolfram von Eschenbach handelt.108 Das Wettstreitmotiv wird hier weiterentwickelt, indem der anonyme Dichter in der Rolle des potenziellen Herausforderers erscheint. Gottfried betont jedoch, er wolle bei dem »Preisgericht« (»kür«) mitwirken, und stellt zugleich fest, es sei noch niemand gekommen, der größeren Anspruch auf den Kranz habe als Hartmann.109 Ausgeführt wird nun Gottfrieds Dichtungsideal aus negativer Sicht: wir ensuln ez nieman lâzen tragen, sîniu wort ensîn vil wol getwagen, sîn rede ensî ebene unde sleht, ob ieman schône und ûfreht mit ebenen sinnen dar getrabe, daz er dar über iht besnabe.
107 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 284 f. (V. 4621–4637). 108 Zu dieser Debatte vgl. Haug 1992, S. 220. Zur Beziehung zwischen Gottfried und Wolfram s. a. Johnson, L.P. 1999, S. 307–308. 109 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 284–287 (V. 4638–4658, Zitat V. 4645).
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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(Niemandem wollen wir ihn verleihen, | dessen Worte nicht völlig geläutert sind, | dessen Sprache nicht gerade ist und geglättet, | so daß niemand, der mit Anstand und arglos nichtsahnend dieses Weges kommt, darüber stolpere.)110
Maßgebend ist auch hier die perspicuitas, die Gottfried vor allem durch die Wegmetapher vermittelt, und es folgt eine lange Reihe weiterer Bestimmungen, in denen er die Dichtung des Ungenannten diskreditiert. Bedeutsam sind sie vor allem deswegen, weil sie später im Rahmen einer invocatio111 wiederkehren: nun im Kontext einer als Wunsch projizierten Lobeshymne auf Gottfrieds eigene Dichtkunst.112 Eingebettet ist dieses Lob in eine der invocatio angemessene Bescheidenheitstopik, die dann in die Wiederholung der Unfähigkeitsbeteuerung einmündet. Aber die Bezüge zu dem Passus über den ungenannten Dichter lassen erkennen, dass Gottfried der wirkliche Herausforderer ist, dem der Sieg gebührt. So erklärt er, er wolle sich mit einem Gebet an den Helikon wenden, und entfaltet unter Bezug auf Apollon (Herr der Musen mit dem Symbol des Lorbeerbaums) die Läuterungsmetapher. Während er von dem ungenannten Dichter behauptet hatte, dieser erzeuge nur falsches Gold,113 wünscht er, Apollon möge Gottfrieds eigene Worte zu »arabischem Gold« (»golt von Arâbe«)114 umschmelzen: Es galt dies als das wertvollste, reinste Gold; später dient es der Darstellung von Isoldes Schönheit.115 Die bereits in Bezug auf Wolfram eingeführte Wegmetapher wird in diesem Kontext aufgegriffen. Statt der hinderlichen Steine findet das Publikum nun – eingebettet in einen hypothetischen ›dass‹-Satz – Blumen: gê mîner rede als ebene mite, daz ich ir an iegelîchem trite rûme unde reine ir strâze noch an ir strâze enlâze dekeiner slahte stoubelîn, ezn müeze dan gescheiden sîn, und daz si niuwan ûfe clê unde ûf liehten bluomen gê; (daß meine Dichtung so gepflegt wäre, | daß ich ihr bei jedem Schritt | den Weg ebnete und reinigte | und auf diesem Wege nicht duldete | das geringste Stäubchen, | das nicht entfernt würde, | und daß sie nur auf Klee | und leuchtenden Blumen einherschritte –)116
110 Ebd., S. 286 f. (V. 4659–4664). 111 Es handelt sich hier tatsächlich um eine abgewandelte Form der invocatio, da Gottfried dem Leser die Absicht des Gebets erklärt, ohne es in einer direkten Anrede an göttliche Mächte auszuführen. 112 Ebd., S. 298–301 (V. 4860–4927). 113 Ebd., S. 286 f. (V. 4669 f.). 114 Ebd., S. 298 f. (V. 4895). 115 Ebd., S. 496 f. (V. 8262). Vgl. Schulze 1973, S. 516. 116 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 300 f. (V. 4915–4922).
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VI. Poetologische Momente
Metaphorisch veredelt wird damit die rhetorische Charakterisierung des ›ebenen‹, ›durchsichtigen‹ Stils,117 diskrediert wird der ›gewundene‹, ›dunkle‹, ›holprige‹ Stil Wolframs. Mit der Metapher von den »Blumen« führt Gottfried das Spiel mit rhetorischen Figuren – flores – fort, die er in den Versen zu Wolfram hypothetisch in den Lorbeerkranz des Siegers einflechten wollte.118 Das Wegschema erscheint hier in einer besonderen Ausprägung, indem nicht der Dichter voranschreitet, sondern seine Dichtung. Die Pflege der Sprache und Dichtung gelangt zu einer Apotheose, indem der Dichter in die Rolle des Dieners schlüpft, der seiner weiblich personifizierten Dichtung wie einer Königin den Weg bereitet. Das Werk ist hier kein gebildetes Werkstück und auch kein Ausdruck des Dichters, sondern eine lebendige, edle Schönheit. Anders als Wolfram, dessen Sprache nicht so beschaffen ist, »daß edle Menschen sich daran ergötzen könnten« (»daz edele herze iht lache dar«),119 vermag sie das Herz zu erfreuen. Gottfrieds Dichterschau vermittelt mit einer immensen Vielfalt von Metaphern eine hochdifferenzierte Poetik, deren Tiefe sich hier nur andeuten lässt. Jeder der kommentierten Dichter trägt durch die Perspektive Gottfrieds hindurch das Seinige dazu bei. Eine Sonderstellung erhält Heinrich von Veldeke und sein Werk über den Äneas-Stoff, Eneit (um 1174 bis 1186): Ihm gebührt die Ehre, die deutsche Dichtung begründet zu haben. Gottfried entwirft hier eine traditionsstiftende Literaturgeschichte, die vor seine eigene Zeit zurückreicht – er hat Heinrich selber nicht mehr erlebt – und vermittelt die Meinung der von der Gemeinschaft der Dichter anerkannten »meister«:120 er inpfete daz erste rîs in tiutischer zungen. dâ von sît este ersprungen, von den die bluomen kâmen, dâ sî die spaehe ûz nâmen der meisterlîchen vünde. und ist diu selbe künde sô wîten gebreitet, […] daz alle, die nu sprechent, daz die den wunsch dâ brechent von bluomen und von rîsen an worten unde an wîsen. (er pfropfte das erste Reis | in deutscher Sprache. | Hier sprossen seither die Äste | mit jenen Blumen, | von denen sie die Kunst | der vollendeten Dichtung nahmen. | Und dieses Können | ist nun so weit verbreitet, | […] daß alle, die heute dichten, 117 118 119 120
Vgl. Sawicki 1967, S. 61 f. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 284–287 (V. 4646–4655). Vgl. Sawicki 1967, S. 60 f. Gottfried 1984, Bd. 1, S. 286 f. (V. 4682). Ebd., S. 290 f. (V. 4736).
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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sich dort versorgen | mit den herrlichsten Blumen und Reisern | der schönsten Worte und Melodien.)121
Gottfried ehrt den Vorgänger, dessen Kunst und Meisterschaft er weiterentwickeln darf. Bezeichnend ist, dass er die deutschsprachige Dichtung mit einem Dichter anfangen lässt, der mit seinem epischen Werk die Tradition Homers und Vergils fortführte. Heinrich von Veldeke pfropfte sein Reis auf den Stamm der antiken Dichtung122 – wie schon Otfrid sein Evangelienbuch und später Klopstock seinen Messias. Die Pflanzenbaumetapher vermittelt wirkungsvoll die Komplexität der Beziehung zwischen Alt und Neu. Die alte, fest etablierte antike Dichtung bildet die Unterlage für die neue, volkssprachliche Tradition; sie bietet ihr die Wurzeln und führt ihr Nahrung zu, die volkssprachliche Dichtung jedoch vermag auf dieser Basis neue, eigene Blüten hervorzubringen. Die Metapher verleiht der volkssprachlichen Tradition einen hohen Wert, der in der Ausgestaltung der Edelpflanze mit Blumen und neuen Reisern eine angemessene dichterische Form erhält. Gottfried artikuliert in seinem Literaturexkurs ein ausgeprägtes Bewusstsein für eine literarische Tradition, die er mit einem allgemein anerkannten Anfang und einer eigenständigen organischen Entwicklung vom ersten Wachstum bis hin zur üppigen Blüte sowie mit eigenen Vorbildern und eigenen Meistern ausstattet. Er setzt eine etablierte Identität der dargestellten Tradition voraus und festigt sie durch die kritische Sichtung der vorhandenen Literatur; es ist ein Prozess gezielter Kanonbildung durch einen Dichter, der als ›Meister‹ der Sprachkunst überzeugt. Als Autorität projiziert sich Gottfried gegenüber seinen Zeitgenossen besonders in der Metaphorik von der Verleihung des Lorbeerkranzes. Es bleibt festzuhalten, dass diese literarische Tradition ihre Identität primär aus der gemeinsamen Sprache bezieht: Die Leistung Heinrichs von Veldeke besteht darin, dass er »daz erste rîs in tiutischer zungen« pfropfte und seine Nachfolger zur Entfaltung der Kunst des ornatus inspirierte; die »bluomen« bezeichnen die Kunst der schön geschmückten Sprache. Es deutet hier nichts darauf hin, dass diese Tradition ihre Identität in einem »dichtungsautonomen Prinzip« sucht oder ihre Kulmination in einem »Spiel« erreicht, in dem sich ein »neues poetisches Bewußtsein reflek-
121 Ebd. (V. 4738–4745 und 4747–4750). 122 Vgl. Sawicki 1967, S. 65. Schulze hält Sawickis Identifikation des ›Stamms‹ mit der lateinischen Dichtung für unzulässig, da das Bild nur »angespielt« sei (Schulze 1973, S. 508). Einzubeziehen ist jedoch der vergilische Stoff, der bei Gottfrieds Bild im Hintergrund steht. Eine ausführliche Diskussion der Baummetapher findet sich bei Winkelman, der davon ausgeht, dass mit dem alten Stamm die vorhergehende deutsche Dichtung gemeint ist und dass sich Gottfried auf die »neue Kunstbetrachtung« Heinrichs von Veldeke bezieht (Winkelman 1975, S. 112).
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tiert«.123 Vielmehr gilt in der von Gottfried gefeierten Dichtungstradition offenbar eine hochentwickelte, literaturfähige gemeinsame Sprache als ausreichendes, diachronisch und synchronisch wirksames Identitätsmerkmal. Eine idealistisch geschulte Literaturwissenschaft neigt dazu, den Wert des Dichters primär in seiner Originalität und den Wert des Werkes primär in der Neuigkeit des Stoffs zu suchen; entsprechend sucht sie in der Poetik den Wert im Streben nach einer Autonomie der Dichtung. Dass die Bedeutung der Sprachkunst für literarische Identität unter solchen Vorgaben tendenziell verkannt wird, geht aus Heinz Schlaffers abwertendem Urteil zur deutschen Literatur des Mittelalters hervor: »Nicht leicht wäre anzugeben, was man außer der Sprache an diesen importierten Stoffen und Stilen ›deutsch‹ nennen könnte.«124 Für Gottfried und die von ihm bewunderten Dichter war es die Kraft des kunstvollen Wortes, die den deutschen Kanon definieren sollte, denn sie verlieh dem Stoff seine Schönheit, Anschaulichkeit und emotionale Wirkung. Gottfrieds Dichterschau ist ein veritables sprachliches Feuerwerk. Er feiert die größten Sprachkünstler seiner Zeit, indem er ihre sprachliche Kunst mit den kraftvollsten, schönsten und anschaulichsten Metaphern evoziert, deren er fähig ist. Dadurch aber erweist er sich selbst als Sprachkünstler, dem das ganze Repertoire sprachkünstlerischer Möglichkeiten zur Verfügung steht. Dies mag ein ausführliches Zitat aus seiner Lobeshymne auf die Kunst des (Wort-)»Malers« (»verwaere«) Bligger von Steinach verdeutlichen:125 er hât den wunsch von worten. sînen sin den reinen ich waene daz in feinen ze wundere haben gespunnen und haben in in ir brunnen geliutert unde gereinet. er ist binamen gefeinet. sîn zunge, diu die harpfen treit, diu hât zwô volle saelekeit: daz sint diu wort, daz ist der sin. diu zwei diu harpfent under in ir maere in vremedem prîse. der selbe wortwîse, nemt war, wie der hier under 123 Haug 1992, S. 222 und 227. 124 Schlaffer identifiziert ›deutsche Kultur‹ mit ›germanischer Kultur‹, wie aus seiner fortführenden Bemerkung hervorgeht: »Lediglich das Nibelungenlied gehört einer nicht-romanischen Tradition an, der germanischen Heldenepik« (Schlaffer 2002, S. 23). Vorausgesetzt ist offenbar in Bezug auf die aus dem Französischen übernommenen Stoffe eine fremde ›Kontamination‹ des urdeutschen Geistes – ein Kulturbegriff mit einer so langen wie problematischen Tradition. 125 Gottfried 1984, Bd. 1, S. 288 f. (V. 4691).
2. Gottfried von Straßburg: Literaturexkurs (Tristan, um 1210)
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an dem umbehange wunder mit spaeher rede entwirfet; wie er diu mezzer wirfet mit behendeclîchen rîmen! wie kan er rîme lîmen, als ob si dâ gewahsen sîn! ez ist noch der geloube mîn, daz er buoch unde buochstabe vür vedern an gebunden habe; wan wellet ir sîn nemen war, sîniu wort diu sweiment alse der ar. (Seine Sprache ist von höchster Vollkommenheit. | Seine lautere Dichtungsgabe | haben, so glaube ich, Zauberfeen | wunderbar gesponnen | und an ihren Quellen | geläutert und gereinigt. | Sie ist wahrlich zauberkräftig. | Seine Dichtung, die im Zeichen der Harfe steht, | ist beglückend in zweierlei Hinsicht: | sowohl im Ausdruck als auch im gedanklichen Gehalt. | Beide miteinander gestalten | ihren Erzählgegenstand mit fremdartiger Pracht. | Dieser Magier des Wortes, | seht nur, wie er dabei | auf dem Gobelin seiner Dichtung wahre Wunder | allein mit seiner kunstreichen Sprache ausführt; | wie sicher er die Messer wirft | mit genau treffenden Reimen! | Wie kann er Verspaare zusammenfügen, | als seien sie so gewachsen! | Ich bin davon überzeugt, | daß er Bücher und Buchstaben | wie Flügel umgebunden hat, | denn, wenn ihr einmal darauf achtet, | seine Sprache schwingt sich auf wie der Adler.)126
Während die Thematisierung von Bliggers Harfe die klangliche Schönheit seiner musikalisch vorgetragenen Dichtung evoziert, stimulieren die Metaphern vor allem den Gesichtssinn. Thema ist die »Vollkommenheit« von Bliggers musikalischer Sprachkunst, die durch eine Fülle von Metaphern vorstellbar wird: Sie evozieren Lauterkeit, Kostbarkeit, Pracht, Zauberkraft, Schärfe, Treffsicherheit, textile Farbigkeit, organische Einheit, erhebende Kraft. Die Metaphern dienen dazu, die Wirkungen seiner Kunst vorstellbar zu machen, indem sie sie performativ mittels der Sprache erzeugen. Sie sprechen für sich und sollen hier nicht näher analysiert werden. Hervorzuheben ist jedoch, dass Gottfried eine Sprache lobt, die sich nicht in sinnleerer Schönheit verausgabt: Das »wort« interagiert mit dem »sin«, um den Stoff zur Wirkung zu bringen und »saelekeit« zu erzeugen. Gottfried gestaltet hier wie auch andernorts das grundlegende rhetorische Prinzip des aptum, demzufolge erst die Zusammenwirkung von verba und res die emotionale Wirkung hervorbringt. Die Größe seiner im Literaturexkurs dargestellten Sprachkunst besteht in der anschaulich lebhaften Vermittlung der Wirksamkeit kunstvoller deutscher Sprache. Für die späteren Dichter wurde wiederum Gottfried zu einem der ›Meister‹. So erscheint er zusammen mit Heinrich von Veldeke, Hartmann, Wolfram und anderen in einem Dichterkatalog im Alexander des Rudolf 126 Ebd., S. 288–291 (V. 4698–4722).
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von Ems. Auch die Baummetaphorik wird hier aufgegriffen: Heinrich ist der »Stamm« (»stam«), und Rudolfs eigenes vorhergehendes Werk vom Guoten Gerhard ist ein »Zweig« (»zwî«).127 Die organische Baummetapher vermittelt die Kohärenz des deutschen Kanons und die lebendige Kontinuität der deutschen Tradition. Hier nun dient sie jedoch zum Ausdruck der Hoffnung, dass Rudolfs Zweig von den Meistern nicht ›abgeworfen‹ werden möge128 – und kommuniziert als Ausprägung des Bescheidenheitstopos die Furcht, er möge aus dem lebenden System eliminiert werden. Eine spätere Blüte aus diesem Stamm findet sich im Athenaeum, wenn die Gebrüder Schlegel in Zusammenhang mit der griechischen Elegie das Bilden, Blühen und Verblühen älterer Gattungen kommentieren und feststellen, dass es manchen beschieden sei, fortzudauern: »Oft entsproßte dem Stamm, der schon verdorrt schien, ein neues Gewächs, dem alten ähnlich, ja gleich, und doch verwandelt.«129 Es ist durchaus charakteristisch für das romantische Kunstverständnis, wenn nun der Topos unter gänzlicher Ausblendung eines ›Gärtners‹ einen vom Menschen unabhängigen Prozess evoziert. Es ist dies ein Beispiel für das Wandlungspotenzial poetologischer Topoi: Sie bergen unendliche Möglichkeiten der Belebung und kreativen Veränderung.
3. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624) In Gegensatz zu Gottfried, der seine Zeit als Blüte der volkssprachlichen Literatur darstellt und das eigene Werk in einen fortlaufenden Wettstreit mit anderen Dichtern der eigenen Kultur einordnet, projiziert sich Martin Opitz als ›Anfang‹ einer volkssprachlichen Tradition im Zeichen der Antike. Man mag darin einen wirklichen ›Anfang‹ nach einer langen Zeit mangelnder Kultivierung der Volkssprache sehen oder aber die Perspektive des humanistischen Gelehrten, der einzig die schriftliche Literatur der an Rom sich orientierenden Kulturen als wertvoll wahrnimmt und sich selbst als deutscher Petrarca beziehungsweise Ronsard projiziert – Perspektiven, die einander nicht ausschließen. Der anhaltende Erfolg seiner Selbstprojektion ist jedenfalls unbestreitbar. Seine Zeitgenossen krönten ihn zum Dichterfürsten; man feierte ihn als ›Vater‹ der deutschen Dichtkunst;130 gegen 127 Rudolf 1970, Bd. 1, S. 114 (V. 3116) und S. 120 (V. 3277). Vgl. Coxon 2001, S. 75–77. 128 Rudolf 1970, S. 120 (V. 3277). 129 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 107 (A.W. und F. Schlegel: Elegien aus dem Griechischen). 130 Philipp von Zesen nennt Opitz in seinem »Hoch-Deutschen Helicon« (1656) als »ehrsten Vater« der deutschen »Dicht- und reim-kunst« (Zesen 1970 ff., Bd. X/1, S. 32); an der ent-
3. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
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Ende des 17. Jahrhunderts war er fest etabliert als der »erste«, der »den deutschen Poeten die bahn gebrochen« hatte – eine Metapher, mit der Benjamin Neukirch nicht zufällig die von Opitz selbst verwendete Wegmetaphorik aufgriff;131 und für Gottsched ist das von Opitz in Angriff genommene Projekt, die Dichtkunst der anderen modernen Kulturnationen zu übertreffen, vollendet: Diesem Vorgänger sind nun nach der Zeit alle deutsche Poeten gefolget: und also übertrifft nunmehr unsre deutsche Poesie an Kunst und Lieblichkeit des Wohlklanges, die Poesien aller Italiener, Franzosen und Spanier; weil wir nämlich den Reim unsrer Vorfahren, mit dem majestätischen Sylbenmaaße der Griechen und Römer, vereinbaret haben.132
Opitz ist somit der Dichter, der die deutsche ›Verspätung‹ aufholte – zumindest bis Goethe dazu erkoren wurde, diese Leistung aufs neue und noch besser zu vollbringen. Noch heute wird Opitz als ›Vater‹ der deutschen Dichtkunst gefeiert.133 Sein Buch von der Deutschen Poeterey gilt als »Gründungsurkunde der neueren deutschen Literatur«134 beziehungsweise als »Gründungsurkunde der modernen deutschen Literatur«135 – in den unterschiedlichen Nuancen manifestieren sich verschiedene Möglichkeiten der literaturgeschichtlichen Traditionsgestaltung. Aus dem genealogischen wie auch dem institutionellen Topos geht die ›grundlegende‹ Bedeutung von Autor und Werk für die deutsche Literatur hervor: Mit der poetologischen Schrift und mit literarischen Mustertexten in den einschlägigen Gattungen etablierte sich Opitz als ›Anfang‹ deutschsprachiger Poetik und erfüllt noch für die heutige Literaturgeschichte die Funktion des ›Anfangs‹ einer kontinuierlich bis in die Gegenwart fortlaufenden Tradition deutscher Literatur.136 Die Schrift entsteht im Kontext einer höchst komplexen, auch im konfessionellen Zusammenhang kontroversen frühneuzeitlichen Diskussion der ars rhetorica137 und ist weniger als systematische Poetik konzipiert denn als knappe Programmschrift und normstiftende Anleitung. Sie setzt die umfassenden Poetiken von Scaliger und Vossius voraus und verweist als »Summe humanistischer ars poetica«138 auf bekannte Grundsätze – so die
131 132 133 134 135 136 137 138
sprechenden Stelle in »Deutscher Helicon« (1641) erscheint dieser Topos noch nicht (ebd., Bd. IX, S. 20). S. a. Morhof 1682, S. 16. Neukirch 1961, S. 9. Gottsched 1962, S. 81. Zur bedeutenden Rolle Gottscheds für die literaturwissenschaftliche Opitz-Rezeption vgl. Garber 1976, S. 44–54, und Ketelsen 1990a. Niefanger 2000, S. 82. Ebd., S. 83. Opitz 2002 (rückwärtiger Buchdeckel). Zitiert wird das Werk nach der auf der Basis der Edition von Wilhelm Braune erstellten Ausgabe von Richard Alewyn, Opitz 1966. S.o., S. 195–201. Vgl. zu Opitz grundlegend Szyrocki 1974, bes. S. 11–36 und 57–73. Zum rhetorischen Kontext seiner Poetik vgl. Barner 1970. Vgl. Barner 1970, passim. Ueding, Kallendorf u. a. 1994, Sp. 721.
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aristotelische Theorie vom »nachäffen der Natur«139 und die horazische Kopplung von »vnterricht auch ergetzung«.140 Ziel der Schrift ist die Übertragung des in den maßgeblichen europäischen Sprachen schon im 16. Jahrhundert Geleisteten in die deutsche Sprache, und es geht insofern um die Festlegung der Regeln, mittels derer die deutschen Dichter den Anschluss an die Konkurrenz finden können. Motivierende Kraft des Werkes ist die aemulatio: Wie Petrarca in Italien, Ronsard in Frankreich, Sidney in England, Heinsius in Holland141 will Opitz als Begründer der vulgärsprachlichen Dichtkunst seines Landes unsterblichen Ruhm erlangen und die deutsche Literatur durch die Nachahmung antiker Muster den anderen europäischen Sprachen ebenbürtig machen. Mit seiner Aristarchus-Rede, der Vorrede zu den Teutschen Poemata sowie seiner poetologischen Programmschrift schreibt er sich als kulturpolitischer Stratege in die deutsche Literaturgeschichte ein.142 Der seit dem 17. Jahrhundert fortdauernde hohe Status des Buchs von der Deutschen Poeterey lässt sich nicht zuletzt daraus erklären, dass mit ihm genau jene Ebenbürtigkeit als erreicht gelten konnte, die Opitz als Ziel proklamierte. So zeigt das Frontispiz von Constantin Christian Dedekinds Sammlung Ælbianische Musenlust (1657) einen zweigipfligen Parnass: Auf dem einen Gipfel befindet sich Opitz, auf dem anderen Apollon – die deutschen Dichter singen mit den griechischen Musen um die Wette.143 Deutlich wird aus dem Frontispiz nicht nur der topische Charakter der Position, die Opitz fortan in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung besetzt, sondern auch die Orientierung an der Antike und die regionale Transferierbarkeit des Typus ›deutscher‹ Dichter. Je nach Bedarf legitimiert der Typus unterschiedliche kulturelle Identitäten: In diesem »Spitzenstück der barocken Hofkultur Dresdens«144 sitzen der schlesische Dichter und sein griechisches Gegenüber auf Hügeln an der Elbe. Die Komposition des Bildes erlaubt zudem die bedeutungsträchtige – und variable – Besetzung auch untergeordneter Rollen: Als Orgelspieler (unten rechts) wird der Steuereinnehmer, Musiker und gekrönte Dichter Dedekind zum Gegenüber von Clio, der Muse der Poesie; Dedekind beansprucht damit einen bleibenden Platz in der Geschichte deutscher Lyrik. 139 Opitz 1966, S. 11 (Kap. 3). 140 Ebd., S. 12 (Kap. 3). 141 Vgl. die Liste in der Vorrede zu »Teutsche Poëmata« (1624) in Opitz 1968 ff., Bd. 2/1, S. 172 f. (An den Leser). 142 »Nie wieder hat ein deutscher Schriftsteller so geschickt seine eigene Stellung im Gang der Literaturgeschichte dargestellt« – so Trunz (1979, S. 133); die noch erfolgreichere Strategie Goethes sieht er offenbar als naturgegebenen Erfolg an. 143 Dedekind 1657, Frontispiz. Vgl. den Kommentar von Bircher (1995) sowie Borgstedt/ Schmitz 2002b, S. 1. 144 Bircher 1995.
3. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
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Frontispiz in: Constantin Christian Dedekind: Ælbianische Musenlust. Dresden: Seyffart [1657]
Das Buch von der Deutschen Poeterey beschränkt sich in seinen Ausführungen zur Poetik auf das für die spezifischen Belange der deutschsprachigen Dichtung Notwendigste. Im Vergleich zu den systematischen lateinischen Poetiken sind die Ausführungen kursorisch, und das Werk weist auch nicht die hochkomplexe Verarbeitung der Quellen auf, die beispielsweise Sidney’s programmatische Schrift An Apology for Poetry auszeichnet.145 Insgesamt ist das Werk knapper als es der Untertitel vermuten lässt: In welchem alle jhre eigenschafft vnd zuegehör gründtlich erzehlet / vnd mit exempeln außgeführet wird;146 allerdings rechtfertigt Opitz die Kürze im Kontext einer captatio benevolentiae mit der Bemerkung, er habe das Buch innerhalb von fünf Tagen verfasst.147 Es besteht aus Motto, Widmung, einem Widmungsgedicht von einem anderen Verfasser (dessen Einfügung nicht autorisiert war), acht kurzen Kapiteln, von denen das erste die »Vorrede« und das letzte den »Beschluß« darstellt,148 und einem »An den Leser« gerichteten Epi145 146 147 148
Sidney 2002. Opitz 1966, S. 1 (Titelblatt). Ebd., S. 53 (Kap. 8). Ebd., S. 7 (Kap. 1) und S. 53 (Kap. 8).
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log149 mit einem Druckfehlerverzeichnis und einem kurzen Kommentar zur Frage der Verdeutschung fremder und mythologischer Namen. Opitz beginnt seine Ausführungen mit dem im zweiten Kapitel abgehandelten ›Ursprung‹ der Dichtkunst: Er leitet sie aus der Theologie her und verknüpft sie mit der Philosophie, um ihren Zweck in der »unterrichtung« und »ergetzung« festzusetzen. Das dritte Kapitel bietet dann eine umfassende Rechtfertigung der Dichter. Auf die Legitimation und Geschichte der »Deutschen Poeterey« geht das vierte Kapitel ein, um zu den »lehren« überzuleiten,150 die mit Mustertexten erläutert werden. Getreu der humanistischen Tradition folgt deren Darlegung den Vorgaben rhetorischer Lehrbücher, mit »invention oder erfindung / und Disposition oder abtheilung der dinge von denen wir schreiben wollen« als Thema des fünften Kapitels,151 »zuebereitung und ziehr der worte« als Thema des sechsten Kapitels,152 und »den reimen / jhren wörtern vnd arten der getichte« als Thema des siebten Kapitels.153 Das achte Kapitel beschließt die Schrift mit Empfehlungen zur Bildung des Dichters durch Übersetzung aus den antiken Schriftstellern und Vorzeigen des geschaffenen Werkes, damit der Dichter vom Urteil »berühmbter männer« profitieren kann. Die im Werk dargelegten praecepta und exempla sollen auf diese Weise zur imitatio anregen und eine kollektive Verbesserung der deutschen ars erreichen.154 Durchgängig bedient sich Opitz etablierter Topoi – womit allerdings wenig über die Qualität der Schrift gesagt ist. Denn kennzeichnend für das knappe Werk ist die rhetorisch versierte, auf den jeweiligen Kontext fokussierte Abwandlung der Topoi und ihr strategisch meisterhafter Einsatz. Die Widmung an die Patrizier der Stadt Bunzlau bietet mittels einer Fülle poetologischer Metaphern ein spannungsvolles Bild vom Status des Dichters und der Dichtung.155 Anempfohlen wird das Werk den »Ehrenvesten / Wolweisen / Wolbenambten vnd Wolgelehrten Herren Bürgermeistern vnd Rathsverwandten der Stadt Buntzlaw / seinen günstigen Herren vnd beförderern«, und der Autor erscheint als heldenhafter Verteidiger der Dichtkunst gegen jene Missgünstigen, die das öffentliche Bewusstsein von dieser Kunst »vertilget vnd außgerottet« wissen wollen.156 Mit der Publikation des Werkes erfüllt Opitz den Wunsch »von einem vnnd dem andern / 149 150 151 152 153 154
Ebd., S. 57 (An den Leser). Ebd., S. 17 (Kap. 4). Ebd. (Kap. 5). Ebd., S. 24 (Kap. 6) Ebd., S. 33 (Kap. 7). Zur Bedeutung dieses Komplexes für Opitz und sein vulgärsprachliches Projekt vgl. Carrdus 1996, S. 21–86. 155 Inwieweit Opitz mit dem Werk und insbesondere der Widmung in einer Zeit prekärer finanzieller Umstände konkrete persönliche Ziele in seiner Heimatstadt verfolgte, ist nicht gesichert. Vgl. die Spekulationen in Roloff 2002, bes. S. 22. 156 Opitz 1966, S. 3 (Widmung).
3. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
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auch vornemen Leuten« – eine Variante des auch von Otfrid eingesetzten ›Auftrags‹-Topos.157 Sein Anliegen ist es, die »Deutsche Poeterey« als »vorneme wissenschaft« zu rechtfertigen,158 eine Metapher, welche die zu fördernde Dichtkunst mit dem hohen gesellschaftlichen Status der potenziellen Mäzene assoziiert. Zugleich gilt es, der Dichtkunst gegenüber »offentlichen« und »Privatämptern« einen angemessenen Status zuzuweisen: Rechtfertigen lässt sie sich gegenüber den Patriziern nur, indem sie »größeren und wichtigen sachen« untergeordnet wird.159 Opitz positioniert seine Poetik hiermit in der vorgegebenen Hierarchie, um ihr die Wirkung in der Öffentlichkeit zu sichern. Als Gegenleistung für die Unterstützung des eigenen Werkes verspricht er den Adressaten die Förderung des guten Rufs ihrer Stadt: Das Buch soll ermöglichen, dass »nicht alleine ich durch das Vaterland / sondern auch das Vaterland durch mich bekandter werde«.160 Vorausgesetzt ist die Komplementarität von individuellem und kollektivem Ruhm. Die Rechtfertigung der Dichtkunst als »vorneme wissenschaft« vollzieht Opitz mittels einer weiteren Differenzierung zwischen Gruppen, die nun in Hinblick auf die Kunst selber unterschieden werden. Ziel der Schrift über die »Deutsche Poeterey« ist es, die / so sie als ein leichte ding vor handen zue nemen vnbedacht sich vnterstehen / ab zue halten / die gelehrten aber vnd von natur hierzue geartete gemüter auff zue wecken / mir […] die hand zue bitten / vnd den weg so ich allbereit vmb etwas eröffnet vollendts zu bähnen.161
Einerseits werden all jene ausgegrenzt, die das Dichten zu »leicht« nehmen, womit der exklusive Charakter der schwer zu erlernenden Kunst in den Vordergrund rückt. Andererseits soll die Schrift gruppenstiftend und traditionsbildend wirken, indem sie die Gelehrten und Begabten für das Projekt gewinnt. Opitz projiziert sich hier als ›Pionier‹ und ›Erwecker‹. Ausgeblendet ist damit sowohl die vorhergehende deutschsprachige Dichtung als auch der vielstimmige poetologische Diskurs um die deutsche Kunstpoesie und die angemessene Übertragung verstechnischer Grundsätze aus den anderen europäischen Sprachen, zu dem die Schrift beiträgt.162 Mit dem Werk will Opitz die Aufgabe erfüllen, die von »vornemen Leuten« und anderen an ihn herangetragen worden war: Er solle »von vnserer Deutschen Poeterey / der157 158 159 160
S.o., S. 524 f. Opitz 1966, S. 3 (Widmung). Ebd.; s. o., S. 359 f. Ebd., S. 4. »Vaterland« bezieht sich in der Widmung offenbar auf »mein Buntzlaw« (ebd.), das hier im gleichen Satz genannt wird. Vgl. dagegen andernorts die Gegenüberstellung von »Vaterland« mit Frankreich und Italien (ebd., S. 14; Kap. 3). 161 Ebd., S. 3 (Widmung). 162 Vgl. Meid 1986, S. 74–78. Zum Kontext der opitzschen Poetik s. a. Leonard Forsters Beiträge zu den »Vorläufern von Martin Opitz« (Forster 1977, S. 55–160) und zu Weckherlin (ebd., S. 161–231).
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selben art vnd zuegehör / etwas richtiges auffsetzen«.163 Vermittelt wird damit Opitz’ von ›oben‹ legitimierte Autorität sowie die Notwendigkeit eines einzigen gültigen Maßstabs für deutschsprachige Dichtung. Bestimmt wird der Maßstab des ›Richtigen‹ bereits mit dem prominent gedruckten Motto des Werkes: Es verpflichtet die deutschen Dichter auf die Tradierung der antiken Dichtkunst und das Ideal des poeta doctus. Bezeichnenderweise wählt Opitz Verse aus der Ars poetica des Horaz, die Ronsard in der Vorrede zu seiner Franciade zitiert hatte, womit auch die Verbindung zur Tradition neuzeitlicher Kulturstiftung gegeben ist:164 Descriptas servare vices, operumq´ue colores, Cur ego, si nequeo, ignoroq´ue, Poëta salutor? Cur nescire, pudens pravè, quam discere malo?165 (Wenn ich die festgelegten Unterschiede und den Stil einer Gattung nicht zu beachten vermag und nicht kenne, was laß ich als Dichter mich grüßen? Warum will ich, auf schlechte Art mich bescheidend, lieber unwissend sein als was lernen?)166
Die horazische Metapher des ›Grüßens‹ kommuniziert die Bedeutung öffentlicher Anerkennung für den Status des Dichters, wobei dessen Status von seiner erlernten Kompetenz abhängig ist. Mit der Wahl dieses Passus als Motto macht Opitz unter Berufung auf Horaz die Gelehrsamkeit zur Grundvoraussetzung des Dichtertums. Legitimiert wird damit zugleich seine Schrift als autoritative Richtlinie für die deutschsprachige Kunstpoesie. In der Vorrede kommt demgegenüber der platonische Dichtertypus zur Geltung, wenn Opitz betont, er sei keineswegs der Meinung, »man könne iemanden durch gewisse regeln vnd gesetze zu einem Poeten machen«,167 zumal die von »Poeten« verfasste »Poeterey« gegenüber der von »Gelehrten« systematisierten Poetik historische Priorität habe: Es ist auch die Poeterey eher getrieben worden / als man je von derselben art / ampte vnd zuegehör / geschrieben: vnd haben die Gelehrten / was sie in den Poeten (welcher schrifften auß einem Göttlichen antriebe vnd von natur herkommen / wie Plato hin vnd wieder hiervon redet) auffgemercket / nachmals durch richtige verfassungen zuesammen geschlossen / vnd aus vieler tugenden eine kunst gemacht.168
Die antiken Topoi von der göttlichen Inspiration, der natürlichen Veranlagung und der gelernten Kunst finden somit allesamt Berücksichtigung und werden auch später wieder aufgegriffen, so im abschließenden achten Kapitel. Hier heißt es von den wahren Dichtern, sie könnten sich wie Ovid auf
163 164 165 166 167 168
Opitz 1966, S. 3 (Widmung). Ronsard 1914–1975, Bd. 16, S. 354 (Preface sur La Franciade). Opitz 1966, S. 2 (Motto). Horaz 1984, S. 8 (V. 85–87). Horaz 1984, S. 9 (V. 85–87). Opitz 1966, S. 7 (Vorrede). Ebd.
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den »Deus in nobis« oder »Geist in vns« berufen;169 identifiziert wird diese »natürliche regung« mit dem platonischen »Göttlichen furor«.170 Die Natur- und Inspirationstopik wird jedoch bereits in der Vorrede mit einer voraristotelischen Zeit identifiziert, auf deren Basis dann eine kontinuierliche Tradition »richtiger« Kodifizierung der »kunst« entstand. Diese Tradition reicht von Aristoteles bei den Griechen über Horaz bei den Römern bis hin zu Vida und Scaliger bei den Neueren. Opitz stellt sich implizit in die Reihe dieser Gelehrten und erinnert an deren umfassende Darstellungen, um jedoch selber nur dasjenige, »was vnsere deutsche Sprache vornemlich angehet«, ausführlicher zu behandeln.171 Dass nicht nur für die Theorie, sondern auch für die dichterische Praxis die Gelehrsamkeit als Grundvoraussetzung zu gelten hat, führt Opitz im vierten Kapitel aus, das »Von der Deutschen Poeterey« handelt.172 Hier entwirft er unter Bezug auf die von Tacitus beschriebene Dichtung der »Deutschen«173 und dann unter Verweis auf Dichter des Mittelalters bis hin zu Walther von der Vogelweide – mit längerem Zitat nach einer Kompilation von Melchior Goldast aus dem Jahre 1611174 – das Bild von früheren Zeiten großer deutscher Literatur, die erweisen, dass »unser Land« ebensolche »zue der Poesie tüchtige ingenia könne tragen / als jergendt ein anderer ort vnter der Sonnen«.175 Opitz setzt sich hier mit dem geographischen ›NordSüd‹-Topos auseinander – der in der Legitimation deutscher Dichtung noch bis hin zur ›Ossian‹-Rezeption prägend sein sollte –, um entgegen den Klimatheorien der Zeit den Ort zu konstruieren, an dem die deutsche Renaissance würde stattfinden können. Die geographische Metaphorik legitimiert die Übertragung antiker Ideale auf die deutsche Dichtung und erweist zugleich die Möglichkeit ihrer Verwirklichung. Indem Opitz dann betont, dass »nun von langer zeit her dergleichen zue vben in vergessen gestellt ist worden«,176 entwirft er jedoch eine gegenwärtig unbesetzte poetische Landschaft, die einen gänzlich neuen Ansatz erfordert. Hatte er die Zeit der germanischen »Bardi, Vates vnnd Druiden« positiv darstellt, da man diese »Leute […] in sonderlichen ehren hielt«,177 stilisiert er somit die 169 170 171 172 173 174
Ebd., S. 53 (Kap. 8) unter Bezug auf Ovid (Fasti VI, V. 5). S. o., S. 262. Ebd., S. 54. Ebd., S. 7 (Vorrede). Ebd., S. 14 (Kap. 4). Ebd., S. 15. Vgl. dazu Opitz 2002, S. 140. Goldast 1611, S. 281 f. Die Liste mittelalterlicher Dichter bei Opitz ist aus den von Goldast genannten und zitierten Dichtern zusammengestellt (Opitz 1966, S. 15 f. (Kap. 4); vgl. Goldast 1611, S. 281–290 und den Kommentar des Herausgebers in Opitz 2002, S. 141. Goldast dient auch Klaj als Gewährsmann für die ehrwürdige Tradition deutscher Dichtung (Klaj 1645, S. [412]; Anhang). 175 Opitz 1966, S. 14–16, Zitat S. 14 (Kap. 4). 176 Ebd., S. 16. 177 Ebd., S. 15.
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Zeit seit dem Mittelalter zur deutschen Variante der europäischen »langwierigen barbarey«, die der lateinischen Dichtung der Humanisten vorausging.178 Während Opitz hinsichtlich der grundsätzlichen geographischen Legitimation deutschsprachiger Dichtung auf das natürliche ingenium Bezug nimmt, tendiert seine Poetik insgesamt zur Aufwertung der Kunst und Gelehrsamkeit. So erklärt er die Schulung an den antiken Vorbildern zur unerlässlichen Voraussetzung für die erfolgreiche Kultivierung deutscher Dichtung: Vnd muß ich […] dieses errinnern / das ich es für eine verlorene arbeit halte / im fall sich jemand an vnsere deutsche Poeterey machen wolte / der / nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß / in den griechischen und Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist / vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat; das auch alle die lehren / welche sonsten zue der Poesie erfodert werden / vnd ich jetzund kürtzlich berühren wil / bey ihm nichts verfangen können.179
Das hier dargestellte Modell ist eine modifizierte Version der binären Gegenüberstellung von natura und ars, wie sie sich in Quintilians Einleitung seines rhetorischen Lehrwerks findet: »Alle Vorschriften und Leitfäden haben keinen Wert, wenn die Natur nicht mithilft. Deshalb bedeutet die folgende Schrift für jemanden, dem die Begabung fehlt, nicht mehr als eine Schrift über den Ackerbau für unfruchtbare Ländereien.«180 Opitz verschiebt das Gewicht des Arguments in Richtung auf die Kunst, indem er zu den Grundvoraussetzungen des Dichtertums nicht nur die natürliche Begabung, sondern auch die gründliche Kenntnis des antiken Kanons rechnet; die Funktion, die Quintilian zufolge die Natur erfüllt, ist somit bei Opitz auf Natur und Kunst verteilt. Erst auf dieser doppelten Basis kann als Drittes die vorgelegte Lehre fruchtbar werden. Entsprechend empfiehlt Opitz zur Schulung der eigenen Kunst das Übersetzen aus den antiken Schriften und leitet aus dieser Arbeit auch das ›Erfinden‹ ab, wobei er betont, dass selbst Vergil sich »nicht geschämet« habe, »gantze plätze auß andern zue entlehnen«.181 Opitz bezieht hier Stellung zu einer traditionsreichen Debatte um den relativen Wert von natura und ars und legitimiert ein Dichtertum, das ganz von den Prämissen des Gelehrtenstandes getragen ist. Den gesellschaftlichen Status der Gelehrten thematisiert Opitz vor allem in Zusammenhang mit seinen Erörterungen zum »lohn« und »reichthumb«, die den Dichter erwarten.182 Beide sind metaphorisch zu verstehen, denn sie sind geistiger, nicht materieller Art. Dem Dichter winkt statt einer materiellen Entschädigung der »rhum« bei den Zeitgenossen und in 178 179 180 181 182
Ebd., S. 14 (Kap. 3). Ebd., S. 16 f. (Kap. 4) Quintilian 1995, Bd. 1, S. 12 f. (I, Pr., 26). S. o., S. 251 und 254–256. Opitz 1966, S. 54 (Kap. 8). Ebd., S. 55.
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der Nachwelt;183 dieser wirkt diachronisch in die unendliche Zukunft und manifestiert sich synchronisch im Kontext der gesellschaftlichen Hierarchie als »hoheit des gueten namens«.184 Denjenigen, die aufgrund ihres größeren Reichtums »jhren stand weit vber den vnserigen erheben«,185 macht er ihre vermeintliche Überlegenheit durch die Freuden und den Nutzen des Studiums streitig: die vnvergleichliche ergetzung / welche wir bey vns selbst empfinden / wenn wir der Poeterey halben so viel bücher und schrifften durchsuchen: wenn wir die meinungen der weisen erkündigen / vnser gemüte wieder die zuefälle dieses lebens außhärten / vnd alle künste vnnd wissenschafften durchwandern.186
Opitz zeigt hier den Dichter als Gelehrten, der sich in der Rezeption und Produktion von schriftlichen Werken verwirklicht. Der vorgestellte ›Weg‹ führt den humanistischen Dichter nicht in die belebte zeitgenössische Öffentlichkeit galanter oder anakreontischer Dichtung und auch nicht in die für die Romantik typische, vom Menschen unberührte Landschaft der Natur, sondern in die Welt des menschlichen Geistes. Seine Tätigkeit eröffnet ihm den Umgang mit den großen Schriftstellern vergangener Zeiten, der »gemeinschafft der grossen hohen Seelen / die von so viel hundert ja tausend Jharen her mit vns reden«.187 Der öffentlich performative Aspekt der Dichtung bleibt ausgeblendet zugunsten einer stoisch ausgerichteten Fokussierung auf die geistige Tätigkeit. Die metonymische Fokussierung der »Seelen« evoziert eine der linearen Zeitabfolge und Vergänglichkeit enthobene Welt eines zeitlich und räumlich unbegrenzten Diskurses, der die Antike mit der modernen Welt vereinigt. Auf diese Weise lässt sich die Dichtung moralisch legitimieren: Der Dichter verbringt seine Zeit besser als jene, die »Fressereyen / Bretspiel / vnnütze geschwätze« suchen.188 Der in der Öffentlichkeit sich verwirklichende »gemeine nutze«189 muss jedoch anders erwiesen werden. Die Rechtfertigung des Dichters, die bereits in der Widmung im Zentrum steht, vollzieht Opitz im dritten Kapitel vor allem durch die Verknüpfung der Dichtkunst mit den Wissenschaften und Künsten. Die Argumentationsführung ist autonomieästhetischen Prämissen sowie der romantischen Innerlichkeits- und Tiefenmetaphorik diametral entgegengesetzt, denn es gilt, den Poeten gegen den Vorwurf zu verteidigen, er sei
183 184 185 186
Ebd. Ebd. Ebd., S. 55 f. Ebd., S. 55. Vgl. das Lob der kontemplativen Tätigkeit bei Quintilian 1995, Bd. 1, S. 264 f. (II, 18, 4). 187 Opitz 1966, S. 56 (Kap. 8). 188 Ebd. 189 Ebd., S. 10 (Kap. 3)
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in offentlichen ämptern wenig oder nichts zue gebrauchen; weil er sich in dieser angenemen thorheit vnd ruhigen wollust so verteuffe / das er die andern künste vnd wissenschafften / von welchen man rechten nutz und ehren schöpffen kan / gemeiniglich hindan setze.190
Legitimiert wird die Dichtung in diesem Kontext als öffentliche Kunst, wobei Opitz die ciceronische Verknüpfung der Rhetorik mit allen anderen Wissenschaften191 auf die Dichtung überträgt. Als »närrisch« abgelehnt wird mit einer Fülle von Metaphern die Meinung, »die Poeterey bestehe bloß in jhr selber«.192 Mittels einer alternativen Behältermetapher beansprucht Opitz, dass sie »alle andere künste und wissenschafften in sich helt«.193 Genealogisch belegt er diese umfassende Anbindung mit Homer: »Apuleius nennet den Homerus einen viel wissenden vnnd aller dinge erfahrenen Menschen; Tertullianus von der Seele: einen Vater der freyen künste.«194 Und Verbindungsmetaphorik wirkt mit genealogischer Metaphorik zusammen, um aus der traditionellen Abbildung des Reigens der Musen »mitt zuesammen gehenckten händen« sowie (pseudo-)etymologischen Argumenten »das gemeine bandt vnd verwandtschafft aller künste« herzuleiten.195 Dieser Verknüpfung der Dichtung mit den Künsten und Wissenschaften steht die Abgrenzung von der Gelegenheitsdichtung gegenüber, die »den würden der Poesie« nicht angemessen sei, wobei Opitz nicht die Dichter, sondern die Auftraggeber kritisiert, indem er eine lange Liste trivialer Gelegenheiten, die mit Gedichten bedacht werden, aufzählt. Hier nun bedient er sich vertikaler Metaphorik, wenn er fordert, der Dichter müsse »hohe sachen bey sich erdencken könnnen«, um seine Dichtung »von der erden empor steigen« zu lassen;196 diese vertikale Elaborierung des aptumPrinzips sollte Klopstock am neuerlichen ›Anfang‹ der ›modernen‹ deutschen Literatur in seinem Messias umsetzen – mit dem auch dann noch hochaktuellen Ziel, der deutschen Dichtung den Sieg über die internationale Konkurrenz zu verschaffen. Von den Förderern der Dichtung verlangt Opitz, sie möchten dem Dichter die notwendige Zeit geben, dass er auf die »rechte […] gelegenheit« warten kann sowie auf die »regung des Geistes«, die Ovid zufolge »vom Himmel her« komme.197 Der Inspirationstopos dient hier zugleich der Bestimmung des würdigen Dichters und einer Einforderung der notwendigen Unterstützung durch die Mäzene. Der Kontrast zwischen einem poetischen Ausdruck des eigenen Gefühls und der Auftrags190 191 192 193 194 195 196 197
Ebd., S. 9. Vgl. Cicero 1976, S. 458–461 (III, 6, 22 f.). Opitz 1966, S. 10 (Kap. 3). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd.
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dichtung, mittels derer im 18. Jahrhundert die ›moderne‹ gegenüber der obsoleten Dichtung abgegrenzt wird, ist bereits topisch: »Ronsardt […] hat pflegen zue sagen / er empfinde nicht so grosse lust wann er seine eigene Liebe beschriebe / als er grossen verdruß empfinde / wann er anderer jhre liebe beschreiben muste.«198 Deutlich wird schon hier die Bedeutung dieses Topos für die Etablierung der ›hohen‹ deutschen Literatur. Denn Opitz beschließt seine Rechtfertigung der Dichtung mit einem Sonett Ronsards über die Liebe199 – im französischen Original mit einer eigenen deutschen Übersetzung – und der Zuversicht, dass auch die deutsche Poesie von »stattlichen gemütern« so ausgeübt werden wird, »das vnser Vaterland Franckreich vnd Italien wenig wird bevor dörffen geben«.200 Die Poetik von Opitz hat in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung einen zwiespältigen Status. Einerseits feiert man sie als ›Anfang‹ der kontinuierlichen Tradition deutscher Literatur, andererseits steht als vorrangiges Charakteristikum ihre mangelnde Originalität im Vordergrund: »Außer den auf die deutsche Sprache und Verskunst bezogenen Vorschriften enthält Opitz’ knappe Schrift nichts, was nicht schon in den vorausgehenden Poetiken der Renaissance zu finden wäre.«201 Die Fokussierung des vom kommunikativen Zusammenhang isolierten ›Inhalts‹ und die statische Unterscheidung zwischen ›neuen‹ und ›alten‹ Elementen verdeckt jedoch die Dynamik des Übertragungsvorgangs. Diese lässt sich gerade aus Opitz’ taktisch geschickter Abwandlung kanonischer Originalitätsmetaphorik erschließen, wobei deren Wirkung erst aus dem Kontext des Dreißigjährigen Kriegs heraus verständlich wird.202 Denn die Metapher vom ›eröffneten weg‹, die Opitz in seiner Widmung einsetzt, um sich gegenüber den Stadtvätern als Pionier darzustellen, kehrt im Herzstück der Poetik wieder, um den Zeitgenossen die Bedeutung der Dichtung für den Ruhm des Vaterlandes sowie auch die Bedeutung von Opitz als Neuerer zu vermitteln. Nachdem Opitz im vierten Kapitel ein poetisches Brachland auf deutschem Boden evoziert hat, wendet er sich im fünften Kapitel der Realisie198 Ebd. Zur Quelle vgl. Opitz 2002, S. 136. 199 »Ah belle liberté […]«, in: Ronsard 1914–1975, Bd. 17, S. 282 f. (Sonets pour Helene, Buch 2, Nr. 46). 200 Opitz 1966, S. 13 f. (Kap. 3). 201 Meid in Beutin, Ehlert u. a. 2001, S. 111. 202 Vgl. die wichtige Studie von Nicola Kaminski, die in einer faszinierenden Literaturschau die »Geburt der ›Deutschen Poeterey‹ nicht aus dem Geist, sondern aus der politischen und militärischen Wirklichkeit des Dreißigjährigen Krieges« nachzeichnet (Kaminski 2004, S. 9). Sie widerlegt damit in textnahen Analysen das in der modernen Barockforschung dominierende Bild von den »sanften Musen auf der Flucht vor der martialischen Wirklichkeit«. Als »›Vater der deutschen Barockforschung‹« entpuppt sich Gottsched (ebd., S. 550) – und nicht zuletzt der Geist der Romantik beziehungsweise des Idealismus. Der topische Charakter der opitzschen Wettstreit- und Originalitätsmetaphorik lässt allerdings darauf schließen, dass die Wirkung seiner Poetik aus dem synergetischen Zusammenspiel von antik fundiertem agonistischem Geist und politisch-militärischer Wirklichkeit erwuchs.
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rung deutscher Dichtung zu, um zunächst die res zu behandeln. Im Vordergrund steht anfangs die im humanistischen Kontext am höchsten bewertete Gattung des Epos, wobei Opitz als erstes Beispiel Vergils Georgica mit dem Thema des kultivierenden »Ackerbaws« wählt.203 Das kurz zuvor mit dem impliziten Bezug auf Quintilian eingeführte poetologische Kultivierungsmotiv kehrt hier im maßgeblichen antiken exemplum wieder. Als zweites Beispiel dient das von Opitz selbst verfasste und bis dahin noch unpublizierte »Trostgeticht in Wiederwertigkeit des Krieges«, womit er sowohl die erfolgreiche Übertragung des klassischen Epos auf deutschen Boden beansprucht als auch die Besetzung eines »newen« poetischen »feldts«, wie aus der Anrufung an Gott hervorgeht: Gieb meiner Zungen doch mit deiner glut zue brennen / Regiere meine faust / vnd laß mich glücklich rennen Durch diese wüste bahn / durch dieses newe feldt / Darauff noch keiner hat für mir den fuß gestelt.204
Die Metapher von der »wüsten bahn« gibt dem Topos von der Kultivierung eines poetischen Feldes eine neue Aktualität, da sie die Vorstellung von einem poetischen Brachland mit der lebhaft präsenten Vorstellung von einem kriegsverheerten Gebiet verschmilzt,205 um die innovative Leistung des mit »Zunge«, »faust« und »fuß« sich projizierenden Dichters umso deutlicher hervortreten zu lassen. Elaboriert wird diese Leistung – nun unter insistierender Nennung von »dieser meiner handt« – in einem weiteren Ausschnitt aus dem Trostgedicht, der die Wegmetapher fortführt und nun einen Ausblick auf ein in Friedenszeiten auch von anderen Dichtern kultivierbares Land eröffnet: ich wil die neun Göttinnen / Die nie auff vnser deutsch noch haben reden können / Sampt jhrem Helicon mit dieser meiner handt Versetzen allhieher in vnser Vaterlandt. Vieleichte werden noch die bahn so ich gebrochen / Geschicktere dann ich nach mir zue bessern suchen / Wann dieser harte krieg wird werden hingelegt / Vnd die gewündschte rhue zue Land vnd Meer gehegt.206
Die Metapher von der ›bahnbrechenden‹ Leistung wird hier durch eine noch machtvollere Metapher ergänzt: dem Bild von der eigenhändig durch Opitz vollzogenen ›Versetzung‹ des Musenbergs in das »Vaterlandt«, einem Akt, der ›erstmals‹ die Musen »auff deutsch reden« lässt. Konkret visualisierbar wird damit die Rolle von Opitz als alleinigem Begründer der deutschsprachigen Dichtung und Beherrscher des deutschen Parnass. Die inspirie203 204 205 206
Opitz 1966, S. 17 (Kap. 5). Ebd., S. 18. Vgl. Kaminski 2004, S. 32–35 Opitz 1966, S. 19 (Kap. 5).
3. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
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rende Wirkung dieser Metapher auf die Dichterkollegen geht aus dem Frontispiz von Dedekinds Ælbianischer Musenlust hervor. Die Bedeutung der 1624 von Opitz vorgelegten Schrift gründet in der produktiven Zusammenwirkung mehrerer Faktoren. Bedeutsam war die Verpflichtung deutscher Dichter auf das Vorbild der Antike und die damit zugleich vollzogene Legitimation des Gelehrtenstandes als alleiniger Autorität über die deutsche Dichtung. Kommunikativ wirksam war die klare Struktur der Schrift und ihre Konzentration auf die für eine deutschsprachige Dichtung wichtigsten Grundsätze. Wichtig war ferner die Voraussetzung einer einheitlichen Sprache – »Hochdeutsch […] vnd nicht derer örter sprache / wo falsch geredet wird«207 – sowie die apodiktische Festlegung deutscher Metrik auf den Wortakzent und die Reduktion der Versfüße auf den »iambicus oder trochaicus«, wodurch die ›Einübung‹ dieser Regel erleichtert wurde.208 Spätere Verfasser von Poetiken konnten auf dieser Basis Aspekte ausführen, die Opitz kaum oder gar nicht behandelt hatte: so die Lehre von den »tropis vnnd schematibus«, die er mit der Bemerkung übergeht, sie sei für die deutsche Dichtkunst nicht anders als für die lateinische und der Leser könne sie daher bei Scaliger finden.209 Nicht zuletzt jedoch gründet die Bedeutung der Schrift in ihrem wirkungsvoll auf den zeitgenössischen Kontext ausgerichteten Einsatz agonistischer und agrarischer Metaphern. In einer Zeit, in der die Zeitgenossen das deutschsprachige Gebiet als politisch fragmentiert, konfessionell zerstritten und vom Krieg verheert erfuhren, entwirft Opitz das Bild von einer Dichtkunst, die ein geeintes Vaterland erfolgreich in den Wettstreit mit den nachrömischen Kulturnationen führen kann. Als Fähnrich, der zur »Deutschen [Poesie]« »allbereit die fahne auffgesteckt«,210 besetzt er das verwüstete deutschsprachige Gebiet mit einer kulturfähigen Sprache, deutschsprachigen Musen, einheimischen Dichtertalenten und einem reichen Repertoire von antik gegründeten, auf Deutsch realisierbaren Gattungen. In diesem strategisch eroberten Land vermochte seine Kultivierungsmetaphorik reiche Früchte zu tragen.
207 Ebd., S. 24 (Kap. 6). 208 Ebd., S. 37 (Kap. 7). Kaminski stellt die Erhebung des alternierenden Metrums zum Grundprinzip deutscher Dichtung in den Kontext der oranischen Heeresreform (vgl. Kaminski 2004, bes. S. 39–43). 209 Vgl. zur Bedeutung Harsdörffers in diesem Zusammenhang Windfuhr 1966, bes. S. 30–32. 210 Opitz 1966, S. 14 (Kap. 3).
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VI. Poetologische Momente
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771)211 Die Zeit um 1770 gilt in der Literaturgeschichte gemeinhin als Zeit des ›Umbruchs‹ oder ›Paradigmenwechsels‹, als ›Epochenschwelle‹ oder ›Anfang‹ der literarischen ›Jetztzeit‹. Poetologisch markiert wird dieser ›Anfang‹ nicht durch ein schrifliches Regelwerk wie jenes von Opitz, denn in Abgrenzung von der Gelehrtenpoetik ist gerade die Abkehr von Schrift und Regeln für diese ›neue‹ deutsche Dichtung konstitutiv. Entsprechend wurde für die Folgezeit nicht ein Schriftwerk maßgebend, sondern ein charismatischer, sein inneres Gefühl auslebender ›Held‹, der den etablierten Institutionen neue, individuumsbezogene Werte entgegenzusetzen vermochte: Goethe. Wenn hier nicht ein goethescher Text, sondern eine eher unscheinbare Vorrede in einem nicht-kanonischen Werk im Vordergrund steht, so deshalb, weil sich in dieser Schrift – gewissermaßen in den Fasern des poetologischen Unterfutters – die Verschiebungen in den literarischen Kategorien und Werten zeigen, die retrospektiv zur ›Zäsur‹ konfiguriert wurden. Christoph Martin Wielands Vorrede zu Sophie La Roches anonym publiziertem Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) ist ein Text, in dem ein öffentlich anerkannter Autor ein neuartiges Werk zur etablierten Kunst in Beziehung bringt.212 Neuartig ist La Roches Werk vor allem insofern, als es der Feder einer Autorin entstammt und somit nicht aus einem anerkannten Produzentenkreis kommt. Dabei hatten Frauen durchaus schon in vorangegangenen Zeiten am deutschsprachigen literarischen Geschehen teilgenommen, allerdings vor allem in religiösen Kontexten – so Mechthild von Magdeburg oder auch Catharina von Greiffenberg, für deren Sammlung Geistliche Sonnette / Lieder und Gedichte Sigmund von Birken eine Vorrede lieferte, in der er ausführlich auf die Vielzahl erfolgreicher Autorinnen seit biblischen Zeiten einging.213 Wieland setzt 211 Das Material für diesen Abschnitt entstammt großteils einem Beitrag zu der von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel im Gleimhaus Halberstadt veranstalteten Tagung mit dem Thema »Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung« (vgl. Kohl 2004a). Den Organisatoren und anderen Teilnehmern sei an dieser Stelle für ertragreiche Diskussionen gedankt. 212 Wieland 1771. Wielands Vorrede sowie insgesamt die Beziehung zwischen La Roche und Wieland ist schon vielfach vor allem in Hinblick auf die Problematik weiblicher Autorschaft im 18. Jahrhundert diskutiert worden. Vgl. bes. Becker-Cantarino 1983; Nenon 1988, S. 35–75; Loster-Schneider 1998. S.a. Becker-Cantarinos Zusammenstellung von Dokumenten zur Rezeptionsgeschichte in La Roche 1983a, S. 363–376. Zum geistesgeschichtlichen Kontext vgl. Vollhardt 2001, S. 298–326, der La Roches Roman in Zusammenhang mit Wielands gleichzeitig entstandenem Roman »Dialoge des Diogenes von Sinope« (1770) diskutiert. 213 Birken 1983.
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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sich in seiner Vorrede auf komplexe Weise mit dem Geschlecht der Autorin auseinander – nicht zuletzt deshalb, weil die Partizipation von Autorinnen am literarischen Geschehen den Status einer ausschließlich von Gelehrten autorisierten, in der Antike gründenden Dichtkunst in Frage stellte. Wielands Vorrede geht von grundlegenden Unterschieden in der Rolle von Frauen und Männern bezüglich literarischer Produktion aus. Seine Äußerung steht in einem Kontext, in dem Frauen eine enorme Bedeutung als Zielpublikum erlangten und zunehmend auch produktiv sich betätigten, denn in der häuslichen Sphäre des Bürgertums pflegte man »die Bildung der einzelnen Persönlichkeit, Verinnerlichung, Gefühl und die Versenkung ins Buch oder das Schreiben«.214 Die Lese- und Schreibfähigkeit von Frauen war jedoch typischerweise von klassischer Bildung abgekoppelt und orientierte sich eher an der französischen und englischen Literatur. Auch war ihre Beschäftigung mit Literatur von gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die Frauen im Übergang vom ›ganzen Haus‹ zur Kleinfamilie auf eine ›private‹ Sphäre festlegten, die zunehmend zur ›Öffentlichkeit‹ in Gegensatz stand.215 Sophie La Roches 1771 veröffentlichter Briefroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen216 ist in diesem Zusammenhang aus vielerlei Hinsicht von besonderem Interesse. Aus heutiger Sicht markiert er im deutschsprachigen Raum »den Beginn der Geschichte der Berufsschriftstellerin«,217 zugleich jedoch zeigt er die Restriktionen, die eine Schriftstellerin konfrontierten. Denn die unbekannte Verfasserin bleibt nicht nur anonym – was für die Zeit nicht ungewöhnlich war218 – sondern sie wird dem Leser durch den ›Herausgeber‹ Christoph Martin Wieland vermittelt, der als Verfasser der Vorrede und mehrerer Anmerkungen in den Vordergrund tritt. Die Vorrede trägt den Titel An D.F.G.R.V.******* – An Die Frau Geheime Rätin Von La Roche – und nennt somit in verschlüsselter Form die Autorin.219 Adressiert ist die Vorrede hinsichtlich ihrer Argumentation jedoch vor allem an die männlichen ›Kunstrichter‹ und somit Wie214 Sauder 1974, S. 53. 215 Vgl. die knappe, aber informative »Geschichte des Lesens« in Schön 1987, S. 31–61, bes. 41–51. Einen Überblick über Literaturproduktion und -rezeption geben Kiesel/Münch 1977, bes. S. 154–179. Bezeichnenderweise mehren sich im 18. Jahrhundert die Zusammensetzungen mit dem Wort »privat« »ins Unerschöpfliche« (Grimm 1984, Bd. 13, Sp. 2138). 216 La Roche 1771. 217 Tebben 1998b, S. 8. 218 Zur Frage der »Anonymität und weiblichen Autorschaft« im Zeitraum 1700–1900 vgl. Kord 1996; zum Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Anonymität bes. S. 125–134; zu Wielands Vorrede bes. S. 84 f. 219 Wieland 1771, S. iii. Aufschlüsselung nach der Anmerkung der Herausgeberin in La Roche 1983a, S. 357.
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VI. Poetologische Momente
lands Kollegen. Als anerkannter Autor legitimiert Wieland in der Vorrede den Roman und dessen Publikation, grenzt jedoch zugleich die Verfasserin und ihr Werk aus dem Bereich der ›Kunst‹ aus, in dem sein eigenes Romanwerk fest etabliert ist. Im Spielraum zwischen dem männlichen, klassisch gebildeten, öffentlich bekannten und auf dem Titelblatt namentlich genannten Autor Wieland als wohlwollendem Herausgeber und der weiblichen, belesenen aber nicht gelehrten, bis dahin auf die Privatsphäre beschränkten anonymen Verfasserin werden die Kategorien und Werte deutlich, die in einer sich wandelnden literarischen Landschaft den Status und die Vorgehensweise des Autors bestimmten und dem Leser zur Orientierung dienen sollten. Wieland bedient sich gängiger, durch eine bipolare Struktur gekennzeichneter Metaphernkomplexe, die besonders in dieser Zeit die poetologischen Debatten prägen, denn sie ermöglichen die Positionierung im literarischen Umfeld und die Verständigung mit einem zunehmend komplexen Publikum. Vor allem profilieren sich in seiner Vorrede die Gegensatzpaare ›männlich/weiblich‹, ›öffentlich/privat‹, ›Kopf/Herz‹ und ›Kunst/Natur‹, die jeweils auch zueinander in festen Beziehungen stehen: Assoziiert wird männlich, öffentlich, Kopf, Kunst gegenüber weiblich, privat, Herz, Natur. Es werden damit Metaphernkomplexe aktualisiert, die seit Platon zur Legitimierung der Philosophie dienen und im 18. Jahrhundert in der Debatte um rationalistische und irrationalistische Dichtungsvorstellungen Bedeutung erlangen.220 Aufschlussreich ist die – zumindest vorgebliche – Ambivalenz des Herausgebers Wieland gegenüber dem Risiko einer Veröffentlichung von La Roches Roman. Einerseits hatte Wieland die Freundin und ehemalige Verlobte bei der Entstehung des Romans ermuntert und tatkräftig die Veröffentlichung bei seinem Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich unterstützt,221 andererseits unterminiert er in der Vorrede eine öffentliche Anerkennung der Leistung der Autorin, indem er La Roche auf ihre Weiblichkeit sowie auf die Privatsphäre verpflichtet und die Vorzüge des Werkes nur als Leistung der ›Natur‹ zur Geltung gelangen lässt. Die in der Vorrede dargelegte Beurteilung des Werkes sowie auch die eingestreuten Anmerkungen des Herausgebers zum Roman selbst sind bestimmt von der Strategie, vorhersehbare Kritik im Voraus zu entkräften;222 diese Strategie geht jedoch mit einer konsequenten Verurteilung des Romans als Kunst220 Es handelt sich also um jene Metaphernkomplexe – »mind/body, reason/imagination […], cognition/emotion« (Johnson, M. 1987, S. 140) –, deren binäre Struktur Johnson mit seiner Metapherntheorie zu widerlegen sucht; vgl. auch seine Auseinandersetzung mit Kant unter Bezug auf Gadamer (ebd., bes. S. 166 f.). S.o., Kap. II/5. 221 Vgl. den Briefwechsel zwischen La Roche und Wieland (La Roche 1983b). 222 Dies war durchaus in La Roches Sinne: »Ich mache mich auf verletzende Kritiken gefaßt, denn trotz Ihrer freundschaftlichen und väterlichen Sorge werden Sie mich nicht davor in
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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werk einher. Auch wenn Wieland durchaus die im Roman sich manifestierenden zeitgenössischen Werte der Naturhaftigkeit und Originalität anerkennt, so bewertet er ihn doch primär aus der Perspektive des erfahrenen, rational urteilenden ›Kunstrichters‹. Die binär strukturierten Vorstellungen, welche die Vorrede bestimmen, geben sich systematisch in der sprachlichen Metaphorik zu erkennen, und zwar in fließendem Übergang zu realen Gegebenheiten. Von grundlegender Bedeutung ist das Gegensatzpaar ›männlich/weiblich‹, insofern als biologisch gegebene und gesellschaftlich festgeschriebene Geschlechterdifferenzen in den Vordergrund gerückt und metaphorisch fortentwickelt werden. Der Herausgeber redet die Verfasserin in der Vorrede als »Freundin« an und kennzeichnet sie als »Dame«; bei der Bestimmung der Leserschaft ordnet er sie dem weiblichen Geschlecht zu, sich selbst dagegen dem männlichen.223 Die Vorrede entwirft die Fiktion von der »Verrätherey« des »eigenmächtigen Herausgebers«, der das Werk ohne Wissen der Verfasserin veröffentlicht habe und damit beabsichtige, sie »in eine Schriftstellerin zu verwandeln«.224 Diese Metapher projiziert den Herausgeber als aktiv, die Verfasserin dagegen als passiv und blendet in der Fokussierung seines Handelns ihr Schreiben aus. Einen ähnlichen Effekt erzielt ein ausführliches, als captatio benevolentiae dienendes Zitat aus dem (wirklichen oder fiktionalen) Brief, der das Manuskript begleitete. Das »kleine Werk« »entstund unvermerkt«, so berichtet dem Herausgeber zufolge die Verfasserin, als »Gemüths-Erhohlung« in »Nebenstunden, die mir von der Erfüllung wesentlicher Pflichten übrig blieben«.225 Der traditionelle Topos vom Dichten in ›Nebenstunden‹,226 der im Kontext eines hauptberuflichen Schriftstellertums redundant geworden ist, wird für die spezifisch weibliche Rolle aktualisiert. Im Hintergrund steht eine Wertungsmetaphorik, die Emotionalität mit Minderwertigkeit koppelt: Das Werk ist klein, der Entstehungsprozess passiv, irrational und planlos, der zeitliche und moralische Stellenwert untergeordnet. Eine Absicht zeigt die Verfasserin ihrem zitierten Brief zufolge lediglich in dem Bereich, der ihren weiblichen Pflichten als moralische Erzieherin im privaten Kreis entspricht: Bestimmt sei das Werk für Wieland und sie selbst sowie für die Kinder beider, mit dem Ziel, deren »tugendhafte Gesinnungen« sowie »thätige Güte und Rechtschaffenheit« zu stärken.227 Insgesamt wird La Roches Geschlecht gerade dann besonders hervorgehoben, wenn es um die moralische Zweckbestimmung des Werks und
223 224 225 226 227
Schutz nehmen können, daß man Wörter und Sätze zerpflückt« (La Roche 1983b, S. 107; La Roche an Wieland, 6.7.1770). Wieland 1771, S. iii, xix und vi. Ebd., S. iii, xv und vii. Ebd., S. ivf. Vgl. beispielsweise den Titel von Hunold 1713. Wieland 1771, S. v.
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VI. Poetologische Momente
um die künstlerischen Mängel geht. Wieland als männlicher »Kenner« stellt ausführlich ästhetische Unzulänglichkeiten des Romans in den Vordergrund, um dann bei den männlichen Kollegen »das Privilegium der Damen, welche keine Schriftstellerinnen von Profession sind,« für die Verfasserin zu beanspruchen.228 Dabei bestätigt die Metapher vom »Privilegium« die institutionalisierte Macht der Autoren über Autorinnen. Geschlechtsspezifisch wird auch die Leserschaft eingeteilt, wenn Wieland das Werk für »alle tugendhaften Mütter, alle liebenswürdigen jungen Töchter unsrer Nation« bestimmt und es als geeignet ansieht, »Weisheit und Tugend« unter La Roches »Geschlechte, und selbst unter dem meinigen, zu befördern«.229 Diese Unterscheidung in der Vorrede entspricht einer brieflichen Äußerung aus der Entstehungszeit, in der Wieland zur Veröffentlichung rät, weil La Roche dadurch ihrem Geschlecht »einen wirklichen Dienst« erweisen würde: »[Ihre Sternheim] soll und muß gedruckt werden, und ich werde ihr Pflegevater sein.«230 Auch in der Vorrede begegnet abschließend eine Variante der Metapher vom »Pflegevater«, nun als Höhepunkt der Ausführungen zu den moralischen Vorzügen der Romanheldin: »Gutes will sie thun; und Gutes wird sie thun, und dadurch den Schritt rechtfertigen, den ich gewaget habe, sie, ohne Vorwissen und Erlaubniß ihrer liebenswürdigen Urheberin in die Welt einzuführen.«231 Dies lässt sich als eine auf die Autorin projizierte Bescheidenheitsformel verstehen; zugleich jedoch wird damit impliziert, der Wunsch, an die Öffentlichkeit zu treten, sei für eine Frau unziemlich.232 Als Metapher für die Publikation des Werkes durch den professionellen Schriftsteller steht hier die Einführung der Debütantin durch eine weltgewandte Vater- oder Mentorfigur; die Heldin – die wie die Verfasserin als »liebenswürdig« charakterisiert wird233 – steht metonymisch für das Werk der Autorin. Indem die Heldin allein mit dem Herausgeber in die Öffentlichkeit tritt, während die Autorin in der Privatsphäre bleibt, bestätigt die Vorrede bei aller Förderung La Roches das etablierte, männlich bestimmte Kunstverständnis. In dieser abschließenden Metapher zeigt sich die Verknüpfung der Geschlechtsmetaphorik mit der Gesellschaftsmetaphorik. Der sozialen und wirtschaftlichen Trennung von öffentlicher Gesellschaft und familiärer Privatsphäre entspricht in Bezug auf die Literatur die Unterscheidung zwischen der »Welt« der (männlichen) professionellen »Schriftsteller«, »Kunstrichter«
228 229 230 231 232 233
Ebd., S. xv und xix. Ebd., S. vi. La Roche 1983b, S. 104 (Wieland an La Roche, Ende April 1770). Wieland 1771, S. xxii. La Roche hatte selbst die Drucklegung initiiert; vgl. Becker-Cantarino 1983, S. 396. Wieland 1771, S. xiii.
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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und »Weltleute« einerseits234 und der für Frauen bestimmten Privatsphäre andererseits: Sie, meine Freundin, dachten nie daran, für die Welt zu schreiben, oder ein Werk der Kunst hervorzubringen. Bey aller Ihrer Belesenheit in den besten Schriftstellern verschiedener Sprachen, welche man lesen kann ohne gelehrt zu seyn, war es immer Ihre Gewohnheit, weniger auf die Schönheit der Form als auf den Werth des Inhalts aufmerksam zu seyn; und schon dieses einzige Bewustseyn würde Sie den Gedanken für die Welt zu schreiben allezeit haben verbannen heissen.235
Wenn Wieland die Herausgabe des Werkes mit einer ›Verwandlung‹ der Verfasserin in eine Schriftstellerin gleichsetzt, so heißt dies, dass weder ihre eigene Tätigkeit noch auch das von ihr hervorgebrachte Werk zureichen, um ihr Zugang zur öffentlichen Welt literarischer Kunst zu verschaffen. Tatsächlich bleibt die Autorin in der Vorrede systematisch aus der Welt der Kunst ausgegrenzt: Motiviert wird dies durch ihre auf die Privatsphäre beschränkte Intention, durch ihre Konzentration auf Inhalt statt Form und durch ihre mangelnde Gelehrtheit aufgrund ihrer Unkenntnis klassischer Sprachen. Aus diesen Gründen, so folgert Wieland, kann eine etwaige Kritik der Kunstrichter an »Form« oder »Schreibart« nicht die weiterhin in der Privatsphäre verbleibende Verfasserin treffen, sondern nur ihn selbst, den »eigenmächtigen Herausgeber [des] Manuscripts«.236 Die metaphorische Aufteilung des literarischen Kontextes in zwei permanent und absolut getrennte Bereiche hat somit dieselbe apologetische Funktion wie die Metapher vom weiblichen »Privilegium«. Sie überträgt gesellschaftliche Gegebenheiten auf die Produktion und Rezeption von Literatur und setzt sie absolut, um Dichtkunst weiterhin als Männergeschäft zu bestimmen. Wie bereits deutlich geworden ist, eröffnet Wielands Vorrede mehrere Perspektiven auf das Schreiben und Lesen, die dazu dienen, die unterschiedlichen Segmente des Publikums abzudecken. Sie bewegen sich in dem für die Aufklärung kennzeichnenden Komplex der binären Gegenüberstellung von ›Kopf‹ und ›Herz‹, die wiederum mit der Gegenüberstellung von ›Kälte‹ und ›Wärme‹ assoziiert wird. Das »nach den Regeln der Kunst« rational geplante und ausgearbeitete Werk entspricht dem rational beurteilenden Lesen des ›Kunstrichters‹, das einen »kalten« Kopf erfordert.237 Das von »Einbildungskraft« und »Herz« hervorgebrachte Werk dagegen erfordert ein mitfühlendes, ›herzerwärmendes‹ Lesen.238 Der zitierte Bericht der Autorin von der Entstehungsweise des Romans betont dessen emotionale Motivation und das Fehlen eines rationalen Plans: »Ich hatte Stunden, wo diese Beschäfftigung eine Art von Bedürfniß für meine Seele war. So entstund 234 235 236 237 238
Ebd. Ebd., S. xivf. Ebd. Ebd., S. xvi und xii. Ebd., S. iii.
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VI. Poetologische Momente
unvermerkt dieses kleine Werk, welches ich anfieng und fortsetzte, ohne zu wissen, ob ich es würde zum Ende bringen können.«239 Die Fokussierung der Seele und Bestimmung des Schreibens als »Bedürfniß« macht die Autorschaft zu einer Art emotionaler Selbst-Therapie – wobei La Roche sie ihrer eigenen Aussage zufolge selber so auffasste.240 Eine entsprechend emotionale Rezeptionshaltung lebt der Herausgeber dem Leser vor: »Ich las fort, und alle meine kaltblütige Philosophie […] konnte nicht gegen die Wahrheit und Schönheit Ihrer moralischen Schilderungen aushalten; mein Herz erwärmte sich; ich liebte Ihren Sternheim, seine Gemahlin, seine Tochter.«241 Indem er sich für die von der Heldin verkörperten moralischen Werte – »die naive Schönheit ihres Geistes, die Reinigkeit, die unbegrenzte Güte ihres Herzens«242 – empfänglich zeigt und ein emotional sensibilisiertes Lesen vorlebt, zeigt er dem Rezipienten das angemessene, der moralischen Bildung dienende Leseverhalten. Seine Vorbildfunktion dient jedoch nicht nur der Besserung des Lesers selbst, sondern soll darüber hinaus den Drang erzeugen, moralische Werte weiterzuvermitteln: »Möchten doch […] meine Töchter so denken, so handeln lernen, wie Sophie Sternheim!«243 Die Vorrede verdeutlicht auf diese Weise den Zweck des Romans: Er soll der moralischen Unterweisung junger Damen dienen. Während der Herausgeber sich einerseits in der Rolle des emotional einfühlsamen Freundes projiziert, um den moralischen Nutzen des Romans vorzuführen, stellt er sich andererseits als distanziert urteilender ›Kunstrichter‹ dar, dessen rationales Lesen den mangelnden Kunstcharakter des Werkes enthüllt: Bey aller Wärme meines Herzens blieb doch mein Kopf kalt genug, um alles in Betrachtung zu ziehen […]. Niemals […] hat mich das Vorurtheil für diejenige, die ich liebe, gegen ihre Mängel blind gemacht. […] Ihre Sternheim, so liebenswürdig sie ist, hat als ein Werk des Geistes, als eine dichterische Composition, ja nur überhaupt als eine deutsche Schrift betrachtet, Mängel […]244
Auch wenn die Erläuterung der Mängel als apologetische Strategie zu sehen ist, so erscheint doch das rationalistische »Urtheil« der »Kunstrichter« als dominante Perspektive.245 Diese juristischen Metaphern werden mit dem »Kopf« beziehungsweise »Geist« und mit dem aktiven Gesichtssinn (»niemals […] blind«) in Verbindung gebracht, um philosophisch orientierten Maßgaben die Autorität über die Qualität des literarischen Werkes zuzu239 Ebd., S. ivf. 240 Vgl. ihren 1791 verfassten Bericht über die Entstehung des Romans, in La Roche 1983a, S. 363. Bei ihren diesbezüglichen Ausführungen dürfte allerdings auch das Bedürfnis einer Legitimation ihres Schreibens mitspielen (vgl. Becker-Cantarino 1983, S. 394). 241 Wieland 1771, S. viii. 242 Ebd., S. xxi. 243 Ebd., S. ix. 244 Ebd., S. xiif. 245 Ebd., S. xiv.
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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sprechen; vorausgesetzt ist ein Rezeptionsverständnis, für das es ein »Laster« ist, »sich durch Gefühle rühren zu lassen«.246 Wieland nutzt die zu jener Zeit vieldiskutierte Opposition zwischen ›Kopf‹ und ›Herz‹, um die Wirkung von La Roches herzrührendem Roman auf den Bereich moralischer Erziehung einzuschränken und aus dem Bereich der auf den urteilenden »Kopf« verpflichteten Kunst auszuschließen. Wielands Ausführungen zu den Maßgaben der Kunst bewegen sich im traditionellen Spannungsfeld zwischen ›Kunst‹ und ›Natur‹, wobei »moralische Dichtung« systematisch zur Kunst in Gegensatz gebracht wird und mit jenen Werten der Innerlichkeit, Individualität und Unabhängigkeit von Regeln verbunden wird, die man in jener Zeit mit der ›Natur‹ in Zusammenhang brachte: Kenner werden vermuthlich, eben so wie ich, der Meynung seyn, daß eine moralische Dichtung, bey welcher es mehr um die Ausführung eines gewissen lehrreichen und interessanten Hauptcharakters, als um Verwicklungen und Entwicklungen zu thun ist, und wobey überhaupt die moralische Nützlichkeit der erste Zweck, die Ergötzung des Lesers hingegen nur eine Nebenabsicht ist, einer künstlichen Form um so eher entbehren könne, wenn sie innerliche und eigenthümliche Schönheiten für den Geist und das Herz hat, welche uns wegen des Mangels eines nach den Regeln der Kunst angelegten Plans und überhaupt alles dessen, was unter der Benennung Autors-Künste begriffen werden kann, schadlos halten.247
In Gegensatz zum Kunstwerk, das objektiven Regeln zu folgen hat und ästhetisch als planvolles Ganzes befriedigen muss, liegt bei der »moralischen Dichtung« das Augenmerk auf dem Nutzen, der aus der individuell erfahrenen Wirkung auf die Emotionen erwächst. Indem Wieland diese Form der Dichtung aus dem Bereich der ›Kunst‹ ausgrenzt, sucht er die besonders seit Klopstocks Messias aufgeweichte Grenze zwischen Erbauungsliteratur und Dichtkunst zu wahren. Die Unterteilung der Gesellschaft in den öffentlichen Bereich der »Welt« und den privaten Bereich der Familie findet hier eine Entsprechung in der Metaphorik von der (äußerlichen) »Schönheit der Form« und dem (innerlichen) »Werth des Inhalts«.248 Diese Unterscheidung setzt sich in den Bereich des Stils fort, wo Kunst unter Bezug auf die Befolgung von Normen und eine an der Skulptur orientierte Formmetaphorik definiert wird, während La Roches Stil in Gegensatz dazu den persönlichen Qualitäten der Heldin entspricht und durch »Originalität« gekennzeichnet ist: Eben diese Kenner werden in der Schreibart des Fräuleins von Sternheim eine gewisse Originalität der Bilder und des Ausdrucks und eine so glückliche Richtigkeit und Energie des letztern, oft gerade in Stellen, mit denen der Sprachlehrer vielleicht am wenigsten zufrieden ist, bemerken, welche die Nachläßigkeit des Stils, 246 So Quintilian in Bezug auf die »Philosophen« (Quintilian 1995, Bd. 1, S. 676 f.; VI, 1, 7). 247 Wieland 1771, S. xvf. 248 Ebd., S. xiv.
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VI. Poetologische Momente
das Ungewöhnliche einiger Redensarten und Wendungen, und überhaupt den Mangel einer vollkommnern Abglättung und Rundung […] reichlich zu vergüten scheinen.249
Der in dieser Zeit zu einem maßgeblichen Kriterium ›wahrer Kunst‹ avancierende Begriff der »Originalität« steht hier in Gegensatz zur Kunst und ist mit einem »Mangel« an ›Vollkommenheit‹ assoziiert. Es zeichnen sich in dieser Vorrede somit die Prozesse der zeitgenössischen Umwertung ab, ohne dass Wieland selbst diese Umwertung vollzieht. Die »völlige Individualisierung des Characters unsrer Heldin« gilt Wieland bezeichnenderweise nicht als Leistung der gestaltenden Autorin, sondern als Vorzug, »welchen die Kunst am wenigsten, und gewiß nie so glücklich erreichen würde, als es hier, wo die Natur gearbeitet hat, geschehen ist«.250 In seiner Gegenüberstellung lässt sich verfolgen, wie der normative Kunstbegriff den Naturbegriff als Gegensatz heraustreibt. In dem Maße, wie sich das Werk von klassischen Kunstnormen entfernt, wird es als naturhaft gesehen, wobei dies eine positive oder negative Wertung zulässt. Wieland ergänzt die Personifikation der ›arbeitenden‹ Natur durch die pflanzliche Metapher vom Werk als »freywillig hervorgekommene Frucht der bloßen Natur« in Gegensatz zu »einer durch die Kunst erzogenen, mühsam gepflegeten Frucht (wiewohl, was den Geschmack anbetrifft, diese nicht selten jener den Vorzug lassen muß)«.251 Wenn auch die Natur hier die Kunst übertrumpft, so tut sie dies nur unter Voraussetzung ihrer nutzbringenden Wirkung für den Menschen: Ihr Vorzug zeigt sich erst im Essen der Frucht. Wenn Wieland gegen Ende der Vorrede beklagt, in seinem Lande habe »die Kunst die Natur gänzlich verdrungen«,252 so sucht er allenfalls ein für die Ideale der Aufklärung charakteristisches Gleichgewicht, nicht aber die Natur als Eigenwert. Die gesamte Argumentation in Wielands Vorrede erfolgt anhand von etablierten binären Kategorien. Er vertraut auf deren Bekanntheit und nutzt die aufeinander bezogenen Begriffspaare, um sich einerseits gegenüber den gelehrten Kollegen zu legitimieren und andererseits einem neu sich herausbildenden Publikum die »innerlichen und eigenthümlichen Schönheiten für den Geist und das Herz« nahezubringen. Bestimmend für Wielands Verwendung poetologischer Metaphorik ist jedoch das Ziel, sein rational gegründetes Dichtungsverständnis als weiterhin allein gültigen Maßstab zu vermitteln. Indem er weibliche Autorschaft, Privatsphäre, Irrationalität und Natur koppelt, schottet er die traditionell von Männern verfasste, öffentliche, rationale Kunst gegen den grassierenden Naturkult ab, der ihre Kon249 250 251 252
Ebd., S. xvif. Ebd., S. xviiif. Ebd., S. xv. Ebd., S. xxi.
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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ventionen außer Kraft zu setzen droht. Denn dass die formalen Merkmale von La Roches Stil durchaus nicht auf fiktive oder reale Frauen beschränkt waren, hatte bereits Rousseau gezeigt. In seinem 1762 publizierten und sogleich auch in Übersetzung auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreichen Roman Émile, ou De L’Éducation (dt.: Aemil, oder Von der Erziehung)253 hatte er aus männlicher Perspektive ein veröffentlichtes Werk dargeboten, das sich schon dem Vorwort zufolge durch mangelnde Systematik und eine natürliche Ordnung auszeichnete. Das, was herkömmlicherweise ein systematischer Teil wäre, folgt hier der Natur: »A l’égard de ce qu’on appellera la partie sistématique, qui n’est autre chose ici que la marche de la nature.«254 Und in Gegensatz zu dem von einer Vaterfigur geförderten Roman La Roches hat Rousseau sein Werk einer Mutter zuliebe verfasst, die »zu denken weiß«: »Ce Receuil de réflexions & d’observations, sans ordre, & presque sans suite, fut commencé pour complaire à une bonne mere qui sait penser.«255 Wielands Vorrede reflektiert somit durchaus nicht fest etablierte, als naturgegeben verstandene Kategorien, sondern nutzt vielmehr die in jener Zeit verstärkt sich manifestierende Polarisierung der Geschlechter, um seinen rational bestimmten Kunstbegriff zu verteidigen. Dass die Gelehrtenwelt bemüht war, Romane dieser Art aus dem Bereich der Öffentlichkeit fernzuhalten, geht auch aus einer Rezension in den Frankfurter gelehrten Anzeigen hervor, in welcher der Roman ganz aus der »großen Welt« ausgeschlossen und als reine Privatangelegenheit kategorisiert wird: Die Scene bey der Toilette zeigt deutlich, daß das Werk keine Composition für das Publikum ist, und Wieland hat es so sehr gefühlt, daß er es in seinen Anmerkungen der großen Welt vorempfunden hat. Das ganze ist gewiß ein Selbstgespräch, eine Familienunterredung, ein Aufsatz für den engeren Cirkel der Freundschaft.256
Während hier vorausgesetzt ist, dass das für die Beurteilung von Dichtung maßgebliche »Publikum« mit der öffentlichen »großen Welt« identisch ist, gab es durchaus Teile des Publikums, die sich ihr Urteil in der Privatsphäre bildeten. Für Johann Gottfried Herder und Karoline Flachsland beispielsweise ist der Roman ein Katalysator für die Erfahrung einer besonders intensiven Liebesgemeinschaft: »So haben Sie die Sternheim so gefühlt, u. eben wie ich gefühlt! o gemeinschaftlicher Schuzgeist unsres Lebens, wenn wir sie einst zusammen lesen werden!«257 Die Rezeption des Romans wird hier zu einem rein gefühlsmäßigen Erlebnis, das in der vorgestellten Vereinigung der Leser seine Apotheose erfährt. Dichtkunst verschmilzt mit 253 254 255 256
Rousseau 1762a (frz.) und Rousseau 1762b (dt.). Rousseau 1762a, S. iv. Ebd., S. i. Anon. 1772, S. 101. Als Verfasser der Rezension nennt Becker-Cantarino »[Johann Heinrich] Merck (mit Einschub von Goethe?)« (La Roche 1983a, S. 367). 257 Herder 1977 ff. Bd. 2, S. 38 (Herder an Karoline Flachsland, 22.6.1771).
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VI. Poetologische Momente
dem »Leben«, und die religiöse Metapher von der Romanheldin als »Schuzgeist« macht das Lesen zu einer Form der bewegten Andacht in der häuslichen Kapelle. Indem die Dichtkunst in der von Freunden und Geliebten bewohnten Privatsphäre angesiedelt wird, ermöglicht sie das Experiment mit neuen Lebensformen jenseits gesellschaftlich etablierter Grenzen. Eine radikale Destabilisierung der Autorität des ›Kunstrichters‹ unternimmt J.M.R. Lenz 1775 in seiner Satire Pandaemonium Germanicum. Er lässt Wielands Herausgeberrolle als eigennützige Pose erscheinen und weist der »Sternheim« selbst die ›höchste‹ Position zu: Eine Prüde (weht sich mit dem Fächer). O das wäre sie nimmer im Stande gewesen allein zu machen. Eine Kokette. Wenn man ein so grosses Genie zum Beystand hat, wird es nicht schwer einen Roman zu schreiben. Goethe. Erröthest du nicht, Wieland? verstummst du nicht? Kannst du ein Lob ruhig anhören, das soviel Schande über dich zusammenhäuft? Wieland. Ich must’ ihr meinen Namen leyhen, sonst hätte sie keine Gnade bey den Kunstrichtern gefunden. Goethe. Du warst der Kunstrichter. Du glaubtest, sie würde deinen Danaen Schaden thun. Wie, daß Du nicht Deine Leyer in den Winkel warfst, demüthig vor ihr hinknietest und gestandst, du seyst ein Pfuscher? Das allein hätte Dir Gnade bey dem Publikum erworben. (Stellt das Bild auf eine Höhe, alle Männer fallen auf ihr Antlitz.) Seht Platons Tugend in menschlicher Gestalt. Sternheim! wenn Du einen Werther hättest, tausend Leben müßten ihm nicht zu kostbar seyn.258
Statt das Publikum mit den Kunstrichtern zu identifizieren, setzt Lenz es zu ihnen in Gegensatz und attackiert mit seinem Angriff auf Wielands Herausgeberstrategie dessen gesamte Kunstauffassung sowie mit dem Wort »Pfuscher« sein zunftmäßiges Können. Die moralisch-religiöse Komponente, die Wieland zur Welt der Kunstverständigen in Gegensatz bringt, ist bei Lenz in den ästhetischen Kunstbegriff hineingenommen. Das Geschlecht der Autorin wird zu einem positiven Wert in einer alternativen Tradition, deren Kunstverständnis sich gleichermaßen an der Heldin Sternheim und dem Helden Werther orientiert. Der Text präsentiert sich als Diskurs zwischen Schriftstellern, dient jedoch nicht zur Selbstbestätigung der geschlossenen Zunft, sondern zu ihrer Sprengung. Die von Sophie La Roches Roman verkörperten literarischen Werte setzten sich durch, und das Werk machte seine Autorin »zur berühmtesten 258 Lenz 1896. S. 27 (2. Akt, 4. Szene). Zitiert ist das Werk nach der heute verlorenen, überarbeiteten Fassung H2, in der dieser Passus weiter ausgeführt ist (vgl. den Kommentar der Herausgeberin in Lenz 1987, Bd. 1, S. 739 f. und 746). Lenz, dem die enge Beziehung zwischen Wieland und La Roche offenbar unbekannt war, verspricht ihr in einem anonym gesandten Brief: »[Wieland] hätte mit mehrerer Ehrfurcht dem Publikum ein Werk darstellen sollen, dessen Verfasserin zu groß war selber auf dem Schauplatz zu erscheinen und dies soll geahndet werden« (Lenz 1987, Bd. 3, S. 314, mit Kommentar der Herausgeberin, ebd., S. 834; Lenz an La Roche, 1.5.1775). Goethe verhinderte die Publikation der Satire.
4. Christoph Martin Wieland: Vorrede zu La Roches Sternheim (1771)
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Schriftstellerin Deutschlands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«.259 Allerdings wurde ihr Roman – anders als Goethes Werther – aus der Literaturgeschichte ausgeblendet, und Autorinnen konnten von dem umfassenden Prozess poetologischer Umwertung trotz der Akzeptanz ›weiblicher‹ Werte nicht profitieren. Dass männliche Autoren die kanonische Kunst weiterhin als ihr eigenstes Gebiet beanspruchten, geht aus einem Brief Friedrich Schillers aus dem Jahre 1797 hervor. Er berichtet darin dem Freund Goethe von Sophie Mereaus Einsendung eines Beitrags für Die Horen – es ist der Anfang ihres Romans Briefe von Amanda und Eduard – und kommentiert dies wie folgt: »Ich muß mich doch wirklich drüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wißen, die der Kunst nahe kommt.«260 Während er einerseits das zunehmende Können zeitgenössischer Schriftstellerinnen konstatiert, grenzt er sie andererseits dezidiert aus dem Bereich der »Kunst« aus.261 Mittels der Wegmetapher trennt er ihre Produktion von jener der kunstverständigen Männer: Der minderwertige »Weg« des Dilettantismus führt lediglich zur »Geschicklichkeit«, ohne in den Weg der Kunst zu münden.262 Nicht zu betreten vermögen die Frauen den in die Bereiche des Erhabenen strebenden Weg der von »edler stolzer Männlichkeit« getragenen Kunst, wie er in Schillers Hymne Die Künstler vorgezeichnet ist.263 Die von Wieland in seiner Vorrede eingesetzten Metaphern zeigen die literarischen Spannungen einer Zeit, die von weitreichenden Umwertungen geprägt war. Indem er seine eigene Funktion als Herausgeber zu jener der Autorin in Gegensatz bringt und daraus gegensätzliche Poetiken konstruiert, verdeutlicht er die Kategorien, welche die Debatten der Zeit prägen. Die Kategorien selber sind keineswegs neu, und die Umwertungen markieren weniger einen linearen ›Fortschritt‹ als eine von vielen Verschiebungen in einer ständig sich wandelnden, von gegenläufigen Tendenzen gekennzeichneten Konstellation. Die in dieser Zeit besonders ausgeprägten binären Metaphern dienen als klare Strukturen, anhand derer die Teilnehmer am literarischen Diskurs ihre Position bestimmen und ihre Werte vermitteln können. Dabei ist die Wirkung der jeweils eingesetzten Metaphern von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren abhängig, die sich zwischen Körper, 259 Becker-Cantarino 1983, S. 381. 260 Schiller 1988–2004, Bd. 12, S. 289 (Schiller an Goethe, 30.6.1797). 261 Vgl. Bürger 1988, S. 368. Christa Bürger verweist in ihrem Beitrag zu Sophie Mereau auf Schillers briefliche Äußerung sowie auf Wielands Vorrede (ebd., S. 367) und kommentiert auch Schillers »Hang zur Klassifizierung und zur Eingrenzung« (S. 368). 262 Vgl. zu Schillers und Goethes Dilettantismusbegriff Schiller 1988–2004, Bd. 8, S. 1091–1123, und den Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 1580–1584. 263 Ebd., Bd. 1, S. 207 (Die Künstler, V. 3).
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VI. Poetologische Momente
Geist und Sprache, Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur bewegen. Verfolgen lässt sich dies besonders an der Geschlechtsmetaphorik. Als Konstante des biologisch-kulturellen Lebens liefert der Gegensatz zwischen den Geschlechtern eine ›naturgegebene‹ binäre Struktur, die sich durch die Assoziation mit anderen Begriffspaaren geradezu unbegrenzt metaphorisch anreichern lässt. Entsprechend nutzt Wieland das empirische Geschlecht von Herausgeber und Autorin als Struktur, mittels derer er einen in die grundlegendsten Fragen der Dichtkunst reichenden binären Metaphernkomplex konstruiert, um den Rezeptionsprozess zu steuern. Die überlieferten Reaktionen lassen sich nicht auf das von ihm vorgegebene Rezeptionsschema festlegen: Das Publikum erwies sich als komplex. Die Literaturgeschichtsschreibung jedoch bestätigte Wielands Ausgrenzung des Romans aus dem Bereich der ernstzunehmenden Dichtkunst, und prägend blieb die geschlechtlich orientierte Kategorisierung: Um die Jahrtausendwende ordnet die Literaturwissenschaft das Werk in die Kategorie der historischen ›Frauenliteratur‹ ein, die zusammen mit ›Unterhaltungsliteratur‹ und ›Kinder- und Jugendliteratur‹ außerhalb der ›ernsten‹ Literatur ihr Dasein fristet.264
5. August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Athenaeum, Band 1 (1798) In Gegensatz zu Wieland, der in seiner Sternheim-Vorrede durchgängig darauf bedacht ist, etablierte Grenzen zu festigen, die Autorität des ›Kunstrichters‹ zu verteidigen und die Literatur vor dem Naturkult zu retten, geht es den Gebrüdern Schlegel in ihrem Athenaeum-Projekt265 um einen Prozess der Entgrenzung, Gemeinschaftsstiftung und organischen Verbindung. Entstand Wielands Text gegen Anfang jener ›Sattelzeit‹, in der die ›moderne‹ deutsche Dichtung und Literaturwissenschaft ihren ›Ursprung‹ sucht, so markiert das Athenaeum das Ende dieser Zeit und wenn nicht den ›Anfang‹
264 Vgl. Beutin, Ehlert u. a. 2001, wo das Werk zweimal erwähnt wird: einerseits als tendenziell obsoleter »moralischer Tendenzroman« – eine Negativfolie für das Erscheinen von Goethes Werther, der »Geburtsstunde des modernen Romans in Deutschland« (ebd., S. 173); und andererseits als »erster deutscher Frauenroman« im Kapitel zum »Vormärz«, dort im Abschnitt »Unterhaltungsliteratur, Kinder- und Jugendliteratur, Frauenliteratur« (ebd., S. 279–284, bes. S. 282). 265 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960. Zitiert wird aus dem von Ernst Behler herausgegebenen reprographischen Nachdruck. Die Brüder Schlegel werden in den Angaben zu den Beiträgen AWS bzw. FS abgekürzt. Die Numerierung der »Fragmente« sowie auch der »Ideen«-Fragmente erfolgt anhand der kritischen Ausgabe, Schlegel F. 1958 ff., Bd. 2, S. 165–255 (Fragmente) und ebd., S. 256–272 (Ideen).
5. August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Athenaeum, Band 1 (1798)
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der modernen deutschen Literatur, so doch ein grundlegendes poetologisches Programm, das auch der Literaturkritik neue Wege zu weisen suchte. Man mag Wielands Vorrede als ›rückwärtsgewandt‹ sehen und das Athenaeum als ›vorwärtsblickend‹, um damit eine diachronische ›Zäsur‹ zu bestimmen und den poetologischen ›Fortschritt‹ in den Griff zu bekommen. Auch wenn eine solche linear strukturierte Geschichte einen plausiblen Ablauf ergibt, so ist dies doch nur eine mögliche Perspektive. Denn ähnlich wie Wielands Text in einen spezifischen kommunikativen Zusammenhang eingebettet ist, der die Argumentationsführung und den Einsatz der zentralen poetologischen Metaphern bestimmt, so ist auch im Athenaeum eine ganz spezifische, von den beteiligten Personen und kommunikativen Zwecken gestaltete Konstellation gegeben, die das Programm prägt und zum Älteren und Neueren in einem komplexen Bezug steht. Hatte Wieland das Geschlecht von Herausgeber und Autorin sowie auch deren empirische persönliche Beziehung poetologisch wirksam gemacht, so ist im Athenaeum die wirkliche genealogische Beziehung zwischen den Gebrüdern Schlegel ein bedeutsamer poetologischer Faktor. Auch ist die ›Modernität‹ des Athenaeum-Projekts nicht eindeutig vom ›Alten‹ bei Wieland trennbar. So erscheint vom heutigen Standpunkt her Wielands Ausgrenzung der erbaulichen Tendenz aus der Kunst eher ›modern‹ als das kirchenliedartige Ende der Hymnen an die Nacht. Und kennzeichnend für das Athenaeum ist keineswegs eine Abkehr von der Antike, sondern vielmehr eine produktive Rezeption – auf der Basis einer klassisch fundierten Gelehrsamkeit. Privilegiert wird darauf aufbauend wie bei Wieland eine ›ernste‹ Literatur, die sich von der ›Unterhaltungsliteratur‹ abzuheben sucht. Auch der komplexe Bezug zu Goethe zeigt die Problematik einer linearen Geschichtskonstruktion. Denn das ›Neue‹ stellt sich hier nicht wie bei Goethe als Ausdruck des autonomen Individuums dar, sondern als betont gemeinschaftliche Erkundung des Potenzials der Sprache und Literatur. Der Signalwert, der von der Zeitschrift Athenaeum ausging und ihre markante Position in der Literaturgeschichte bestimmt, reflektiert das von den beiden Herausgebern und maßgeblichen Verfassern artikulierte Programm. Programmatisch ist schon der metaphorisch wirksame Titel: Evoziert wird allgemein die griechische Antike; die Schirmherrschaft der Athene, Beschützerin der Kunst und der Wissenschaften; der ihr geweihte Tempel; und eine Tradition illustrer Bildungsanstalten. Die Zeitschrift beansprucht damit den Status einer geistigen Institution und Vermittlungsstätte antik fundierter Kultur. Friedrich Schlegel lieferte im zweiten Stück eine (zumindest auf ersten Blick) handliche Definition der »romantischen Poesie«,266 die in Diskussionen dieser notorisch schwer zu bestimmenden Bewegung als Orientierungspunkt dienen konnte. Zugleich verkörperte die 266 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 204 f. (FS: Fragmente, 116).
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VI. Poetologische Momente
Zeitschrift mit ihrer Beteiligung auch anderer bedeutender Schriftsteller die Produktivität der Gruppenbildung und mit ihrer Offenheit gegenüber verschiedenen Gattungen und der Pflege besonders des Fragments die vielfältigen poetologischen Tendenzen der Romantik. Die ersten beiden Stücke, die hier im Zentrum stehen sollen, erschienen kurz hintereinander im Mai und Juni des Jahres 1798.267 Das nächste Stück folgte erst im März 1799 nach einem Verlagswechsel, und es kamen dann noch drei Stücke hinzu (August 1799, April 1800, August 1800), bis die Zeitschrift eingestellt wurde. Obwohl das Echo nicht zuletzt aufgrund ihres kontroversen Charakters lebhaft war, verkaufte sich die Zeitschrift von Anfang an nicht so gut wie erhofft: Der Verleger der ersten beiden Stücke druckte 1250 Exemplare, Friedrich Schlegel berichtet jedoch, 1000 hätten genügt; auch musste das Autorenhonorar gesenkt werden.268 Die Wirkung auf die Nachwelt war somit weit stärker als die Resonanz bei den Zeitgenossen. Dass die letztlich doch recht zögerliche Aufnahme nicht zuletzt auf die Ungewöhnlichkeit des Konzepts zurückzuführen war, legen die Diskussionen um mögliche Änderungen um die Zeit des Verlagswechsels nahe: Es wird erwogen, Kritik und Rezensionen in den Vordergrund zu stellen,269 womit die Zeitschrift sich existierenden Organen wie der Allgemeinen Literatur-Zeitung angenähert hätte. Die Gebrüder Schlegel projizieren sich auf dem Titelblatt – »Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel« und in der »Vorerinnerung« des ersten Stücks als individuell gekennzeichnete »Verfasser« der Zeitschrift: Wir sind nicht bloß Herausgeber, sondern Verfasser derselben, und unternehmen sie ohne alle Mitarbeiter. Fremde Beyträge werden wir nur dann aufnehmen, wenn wir sie, wie unsre eignen, vertreten zu können glauben, und Sorge tragen, sie besonders zu unterscheiden. Die Arbeiten eines jeden von uns sind mit dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens, die gemeinschaftlichen mit beyden bezeichnet.270
Betont wird damit einerseits die brüderliche Gemeinschaftlichkeit des Projekts, andererseits die Exklusivität:271 Das ›Fremde‹ soll nur insoweit aufgenommen werden, als es assimiliert werden kann. Auch wird ein gewisser Markenwert des Namens Schlegel vorausgesetzt: Die Schlegels waren seit der vorhergehenden Generation als prominentes Schriftstellergeschlecht etabliert,272 und beide Brüder hatten sich bereits in der literarischen Welt 267 Vgl. Eichner 1967, S. XLIII. 268 Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 24, S. 192 f. (F. Schlegel an A.W. Schlegel, 2.11.1798). Vgl. dazu Behler 1983, S. 24–26. 269 Vgl. Behler 1983, S. 25 f. 270 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. [ii] (Vorerinnerung). 271 Zur Beziehung zwischen den Brüdern, den Prozessen der Gruppenbildung und der Zeitschrift insgesamt vgl. Schlagdenhauffen 1934. 272 Johann Elias Schlegel war ein bedeutender Theoretiker und Dramatiker, zunächst im Umkreis Gottscheds; sein Bruder Johann Adolf, Vater von August Wilhelm und Friedrich, war Mitbegründer der Bremer Beiträger.
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einen Namen gemacht. Dem Verhältnis zwischen den Brüdern wird für das Programm der Zeitschrift über die familiäre und praktische Verbindung hinaus erhebliche Bedeutung zugemessen: Die (nun metaphorische) »Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten« soll die angestrebte »Allgemeinheit in dem, was unmittelbar auf Bildung abzielt«, sicherstellen.273 Deutlich wird damit die Fortführung einer gelehrten Tradition des Schriftstellertums, die auch in Zusammenhang mit dem Anspruch auf »Unabhängigkeit des Geistes« Erwähnung findet: Eine solche Unabhängigkeit gilt den Autoren als Grundvoraussetzung für das »Geschäft des denkenden Schriftstellers«.274 Wie schon der Titel ankündigt, steht ein ›ernster‹ Bildungsanspruch im Vordergrund: Für die »Unterhaltung« der Leser wird nur so viel »anziehendes und belebendes« geboten, wie »ernstere Zwecke erlauben«.275 Wenn auch ›horizontale‹ Grenzen in Frage gestellt werden, so werden doch ›vertikale‹ Wertvorstellungen betont.276 Der Zusammenhang zwischen Verbrüderung und interdisziplinären Verbindungen wird auch im Briefwechsel ausgeführt und gilt besonders für Friedrich als Inbegriff der »Symphilosophie«. Entprechend sucht er eine geradezu mystische Vereinigung mit dem Bruder: Was mich besonders dabey interessiren würde, wäre die Symphilosophie, to sunkritizein. Erstlich an sich ist es jetzt eine Lieblingsidee von mir; dann mit Dir; […] Einheit des Geistes würde ein Journal zu einem Phönix s.[einer] Art machen. Sie ist aber gewiß sehr möglich, wo die Herausgeber auch die Verfasser sind, und wo die Herausgeber leiblich und geistlich Brüder sind. […] Es ist meine schönste Hoffnung bey diesem Unternehmen, unsern Geist dadurch in recht innige Verbindung zu setzen.277
Vorgesehen ist gewissermaßen ein fließender Übergang von der ›leiblichen‹ in die ›geistige‹ Verwandtschaft. Über die spezifische Bedeutung der Metaphorik hinaus zeigt sich hier die grundsätzliche Tendenz in Friedrich Schlegels Poetik, das Physische mittels metaphorischer Prozesse für den Geist fruchtbar zu machen. Interessant ist diese Briefstelle nicht zuletzt deswegen, weil Schlegel aus diesem Gedankengang das 125. Athenäumsfragment entwickelt, in dem der philosophische Ansatz in poetische Dimensionen ausgeweitet ist. Zugleich erweitert er das Verhältnis zum Bruder, um eine potenzielle Gruppe zu entwerfen:
273 274 275 276
Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. [i] (Vorerinnerung). Ebd., S. [ii]. Ebd. Vgl. F. Schlegels Ausführungen zur »höhern und niedern Kunst« in »Über das Studium der Griechischen Poesie« (Schlegel, F. 1958 ff., Bd. 1, S. 227 f.), wobei der Kontext darauf hindeutet, dass die Perspektive des Gelehrten prägend ist. 277 Ebd., Bd. 24, S. 56 (F. Schlegel an A.W. Schlegel, 5.12.1797).
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Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.278
Als ein solch »gemeinschaftliches« Werk sind Friedrich Schlegels Fragmente im zweiten Stück konzipiert. Denn wenn sie auch vorwiegend von ihm stammen und unter seinem Namenskürzel erschienen, so hatte er doch die Freunde zur Mitwirkung angeregt, und es sind mehrere Fragmente von August Wilhelm, Novalis und Schleiermacher dabei, die Schlegel unter Ausblendung von deren Autornamen und – teilweise bearbeitet – unter die eigenen mischte.279 Gerade darin gibt sich allerdings eher ein Widerspruch zwischen der von Friedrich durchaus beanspruchten individuellen Autorschaft und dem gemeinschaftlichen Gestus zu erkennen; entsprechend kritisch äußerten sich die anderen Autoren zur Auslöschung ihrer Identität.280 Indem Friedrich Schlegel seinen philosophischen Ansatz in der Form des Prosa-Fragments verwirklichte, wandte er sich gegen das »todte Fachwerk eines Lehrgebäudes«.281 Die in der zeitgenössischen Wissenschaft beliebte konventionelle Gebäudemetapher wird hier mit dem Zusatz des »todten Fachwerks« elaboriert, um die entgegengesetzte Vorstellung des organisch Lebendigen, naturhaft im Werden Begriffenen hervorzurufen, das eine künstlich-systematische Geschlossenheit meidet und Grenzen zwischen ›Fächern‹ transzendiert. Entsprechend vermittelt Novalis mit seinem Titel Blüthenstaub282 die Vorstellung des Natürlichen, wobei hier die Assoziationen der Schönheit, Leichtigkeit und Fruchtbarkeit mitschwingen. Die Form des Fragments wurde mit Novalis’ Blüthenstaub-Fragmenten und Friedrich Schlegels Fragmenten und Ideen283 zur wesenhaften Gattung romantischer Poetik. Hier konstituiert sich zudem die Gemeinschaft zwischen Friedrich Schlegel und Novalis, wie ersterer in dem abschließenden Fragment der Ideen erklärt, das als einziges einen Titel trägt – An Novalis:
278 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 209 (FS: Fragmente, 125). 279 Vgl. Behler 1983, S. 32 f. S.a. die Angaben zu den Autoren der jeweiligen Fragmente in der kritischen Ausgabe, Schlegel 1958 ff., Bd. 2, S. 165–255. 280 Vgl. Behler 1983, S. 35–37. 281 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 332 (FS: Über Goethe’s Meister). Vgl. zu Friedrich Schlegels Theorie vom Fragment unter Bezug auch auf seinen Systembegriff Eichner 1967, S. XXXVI–XLI. Insgesamt zu den Athenäumsfragmenten und deren Bedeutung vgl. ebd., S. XLIII–LXXI, und Behler 1983, S. 32–38. 282 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 70–106 (Novalis: Blüthenstaub). Die Numerierung der »Blüthenstaub«-Fragmente erfolgt anhand der kritischen Ausgabe, Novalis 1975 ff., Bd. 2, S. 413–463. 283 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 179–322 (Fragmente) und Bd. 3, S. 4–33 (Ideen).
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Nicht auf der Grenze schwebst du, sondern in deinem Geiste haben sich Poesie und Philosophie innig durchdrungen. Dein Geist stand mir am nächsten bey diesen Bildern der unbegriffenen Wahrheit. Was du gedacht hast, denke ich, was ich gedacht, wirst du denken, oder hast es schon gedacht.284
Der von Platon geltend gemachte Gegensatz zwischen Philosophie und Dichtung ist hier überwunden. Die disziplinäre »Grenze« wird durch Behälter- und Verbindungsmetaphorik außer Kraft gesetzt, und gefeiert wird eine mit dem »Orient« assoziierte Geistesgemeinschaft.285 Das mehrdeutige Attribut »unbegriffen« entzieht die »Wahrheit« dem Zuständigkeitsbereich der rationalistischen Philosophie, denn es ist eine Wahrheit, die (noch) nicht begriffen wurde und sich begrifflich nicht fassen lässt286 und die sich in sprachlichen »Bildern« manifestiert. In der Identifikation von »Ideen« mit »Bildern« vereinigt sich die Philosophie mit der Poesie. Geradezu unbegrenzt ausgeweitet werden die disziplinären und gattungsmäßigen Verbindungen im 116. Fragment, in dem Friedrich Schlegel eine als Definition sich gebende Erklärung liefert, die der begrifflichen Abgrenzung zeitlich und räumlich zuwiderläuft. Die ›Bestimmung‹ im Sinne einer Definition wird prozessual umgedeutet, um die ›Vereinigung‹ zu Ursprung, Zweck und Ziel zu machen: »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen.«287 Aufgehoben sind damit die traditionsträchtigen Antagonismen zwischen Poesie, Philosophie und Rhetorik. Die weiteren Verbindungen werden mit Metaphern des ›Mischens‹, der ›Verschmelzung‹ und der ›Geselligkeit‹ evoziert, um eine Vorstellung von Poesie zu entwerfen, die unendliche Verknüpfungen stiftet und eine absolute ›Freiheit‹ beansprucht.288 Der platonische Spiegeltopos, der die Dichtung aus dem Bereich des Denkens ausgrenzte, begegnet in diesem Kontext bezeichnenderweise in einem mathematischen Bild: Nur sie [die romantische Poesie] kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frey von allem realen
284 285 286 287
Ebd., Bd. 3, S. 33 (FS: Ideen, 156). Ebd. Ebd., S. 32 (FS: Ideen, 150). Ebd., Bd. 1, S. 204 (FS: Fragmente, 116); s. o., S. 81. Zum Begriff »romantisch« und zum Athenäumsfragment Nr. 116 vgl. Eichner 1967, S. LII-LXIV. Bezeichnend für die langjährige Ausblendung der Rhetorik in der Romantik-Rezeption ist Eichners Kommentar: »Die Vereinigung von Poesie und Rhetorik ist verhältnismäßig unwesentlich, um so bedeutender hingegen die Synthese von Poesie und Philosophie« (ebd., S. LIX). Eine differenzierte Studie über Schlegels Verhältnis zur Rhetorik bietet Krause 2001. Vgl. auch Schanze 1974 und Schnyder 1999. 288 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 204–206 (FS: Fragmente, 116).
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und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.289
Schlegel greift den antiken Topos sowohl in einer Metapher als auch in einem Vergleich auf und widerlegt die negativen platonischen Assoziationen. So vermag die romantische Poesie die Welt ›widerzuspiegeln‹, ohne doch auf die Funktion des physischen Zeichenträgers festgelegt zu sein: Ihr, nicht der Philosophie, gebührt der Vorrang, weil sie unbegrenzt »zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden« vermittelt. Die von Platon vorausgesetzte Überordnung der Wahrheit und vertikale Trennung des Idealen vom Realen wird zugunsten einer horizontalen Bewegung aufgehoben, wobei die prozessuale Vereinigung der Spiegelmetaphorik mit der mathematischen Metaphorik Poesie und Philosophie integriert. Der Spiegeltopos dient hier dazu, die Poesie jeglicher Polarität zu entziehen – der Opposition von Wahrheit und Schein, Idee und Wirklichkeit, Geist und Sprache –, um sie »frey […] in der Mitte schweben« zu lassen. Es ist dies eine durchaus andere Vorstellung von ›Freiheit‹ als bei Kant und Hegel, denn sie ›befreit‹ die Poesie vom »realen und idealen Interesse«. Friedrich Schlegel gibt der Form des Fragments eine diachronische Dimension, die das Antike mit dem Neuen verbindet: »Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bey der Entstehung.«290 Ermöglicht werden damit offene Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, die einer einsinnigen Teleologie zuwiderlaufen und Progressivität und Regressivität dynamisch zueinander in Bezug setzen.291 Die Prozessualität des Fragments wird auch in der organischen Metaphorik reflektiert, die besonders Novalis mit seinen programmatisch betitelten Blüthenstaub-Fragmenten nutzt, um das Neue und die Ausrichtung auf die Zukunft zu betonen. Der »ganz neuen Epoche der Wissenschaften und Künste«, die Friedrich Schlegel aus dem Geiste der Gemeinschaft erstehen lässt, entspricht die ›Ernte‹, die Novalis sich aus seinen Fragmenten erhofft. Der Titel vermittelt ein Wachsen, das auch bei ihm als Gemeinschaftsprojekt konzipiert ist, wie aus dem Motto hervorgeht: »Freunde, der Boden ist arm, wir müßen reichlichen Samen | Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Erndten gedeihn.«292 Die Saatmetapher wird im abschließenden Fragment aufgegriffen und mit dem Topos von der ›Erfindung‹ verbunden, um das Fragment zu der Gattung zu erklären, die den ›Ursprung‹ der Literatur in sich trägt:
289 290 291 292
Ebd., S. 205. Ebd., S. 185 (FS: Fragmente, 24). Ebd., S. 184 (FS: Fragmente, 22). Ebd., S. 70 (Novalis: Blüthenstaub, Motto).
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Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht!293
Novalis verlegt hier nicht wie sonst üblich den Ursprungstopos in die Vergangenheit, sondern in die unmittelbare Zukunft: Die Erfindung wird zur Wirkung des vorliegenden Textes. Verstärkt wird der Effekt durch den biblischen Gestus des Mottos,294 denn in den Vordergrund rückt damit die Macht des sprachlichen Mediums: »Der Seeman seet das Wort«; dessen Wirkung gleicht der Ernte.295 Das zweite Blüthenstaub-Fragment entwickelt aus diesem Ansatz in komprimiertester Form eine umfassende Sprachtheorie. Hier sind die Vorstellungen, die schriftlich und mündlich artikulierte Sprache sowie die praktische Wirkung der Sprache zueinander in Bezug gesetzt: Die Bezeichnung durch Töne und Striche ist eine bewundernswürdige Abstrakzion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt! Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freyheit Nazionen.296
Novalis projiziert sich hier nicht als analytischer Sprachforscher, sondern vermittelt die eigene ›Bewunderung‹ und stimuliert die Phantasie des Lesers durch die eindrucksvolle, auf das fühlende Ich bezogene Ausgestaltung der Beziehung zwischen ›Bezeichnetem‹ und ›Bezeichnendem‹: Als Beispiele wählt er die extremsten Vorstellungen von der geistigen und physischen Welt – »Gott« und »Universum«. Statt wie die zeitgenössische Autorität in Fragen der Sprache, Johann Christoph Adelung, die »deutsche Sprachlehre« als System von Formen darzustellen und zu einem »Umständlichen Lehrgebäude« auszugestalten,297 fokussiert Novalis die prozessuale Interaktion von Sprache und Denken und vermittelt sie in einer mitreißenden Metapher: »Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs.« Kulminieren lässt er seine Sprachtheorie in einer rhetorisch sich steigernden Darstellung der Macht des Wortes in der politischen Welt. Die performativ vermittelte emotionale Bewegung durch das Wort wird hier in physische Bewegung überführt. Denken, Sprache und Handlung sind untrennbar verquickt. Die in dem obigen Zitat geknüpfte Verbindung zwischen Sprache, Religion und Politik ist für die Blüthenstaub-Fragmente typisch, wobei sie in immer wieder anderen Bezügen und Relationen erscheinen; die Poesie tritt als Thema eher in den Hintergrund, wird jedoch gerade dadurch extrem 293 294 295 296 297
Ebd., S. 106 (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 114). Vgl. Mark. 4, 3–8 und 14–20. Mark 4, 14. Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 70 (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 2). Adelung 1782, Titel.
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anschlussfähig und penetriert in die grundlegendsten Bereiche des menschlichen Lebens und Denkens. So ist in Novalis’ Danksagung an Schlegel für dessen Ideen-Fragment An Novalis die Französische Revolution zur »heiligen Revolution« und zum »Messias im Pluralis« stilisiert, und Schlegel erscheint in der Rolle des »Apostels« und des »Paulus der neuen Religion […] – einer der Erstlinge des neuen Zeitalters – des Religiösen«.298 Die im Motto durch die Metaphorik des Samensäens angedeutete zeitliche Aussage ist hier vertieft, denn verkündet wird nun der Anfang einer »neuen Weltgeschichte«.299 Die Blüthenstaub-Fragmente finden in Schlegels Fragmenten eine Antwort, und dessen Huldigung an Novalis inspiriert diesen zur Feier einer Gemeinschaft, die der größten Gemeinschaft der westlichen Welt entspricht – oder sie gar überbietet. Das Athenaeum wird damit zu einem Werk, das den Ursprungstopos geradezu verkörpert: Es dokumentiert nicht einen Ursprung, sondern ist der Ursprung des Neuen. Die Zeitschrift bietet auf diese Weise eine gemeinschaftliche Entsprechung zum individuellen Ursprung des Neuen, den Goethe projiziert. Grundlegende Metaphern werden dieser anderen Ausrichtung gemäß ausgestaltet. So erscheint das Wegschema nicht in Form des fortschreitenden individuellen Genies, sondern eher im Gestus des Wegweisens. Novalis wendet sich mit einer rhetorischen Frage an den Leser, um ihm den rechten Weg zur »künftigen Welt« zu zeigen: Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.300
Wenn auch hier das nur individuell vorstellbare ›Innere‹ des Menschen thematisiert wird, so vermittelt doch das kollektive ›wir‹ ein gemeinsames Ziel. Eine wichtige Funktion erfüllt hier auch das Behälterschema, denn es rekurriert auf die menschliche Grunderfahrung vom Körper als ›Behälter‹ innerhalb viel größerer Behälter, um diese zu invertieren und damit eine reiche Innenwelt vorstellbar zu machen. Das Bild von einem gigantischen Innenraum wird jedoch durch das Adjektiv »geheimnißvoll« modifiziert: Der Weg wird zum spirituellen Weg, und das Innere zum Mysterium. Auch Schlegel bezieht sich auf »den Weg«, und auch er sieht ein »Centrum« vor, aber der Raum ist jener der Welt und die Perspektive nicht die des Priesters, sondern jene der menschlichen »Standpunkte«:
298 Novalis 1975 ff., Bd. 3, S. 493 (Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels »Ideen«, 1799, An Julius). Vgl. Eichner 1967, S. CXX. 299 Novalis 1975 ff., Bd. 3, S. 493. 300 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 74 (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 16).
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Ich habe einige Ideen ausgesprochen, die aufs Centrum deuten, ich habe die Morgenröthe begrüßt nach meiner Ansicht, aus meinem Standpunkt. Wer den Weg kennt, thue desgleichen nach seiner Ansicht, aus seinem Standpunkt.301
Sein Projekt des Anfangs ist anders konfiguriert als jenes von Novalis. »Die Morgenröthe« und »der Weg« sind hier als objektiv wahrnehmbare Phänomene dargestellt, und die Betonung der verschiedenen »Standpunkte« lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterschiedlichkeit der individuellen Perspektiven, die zum gemeinschaftlichen Projekt beitragen. ›Geheimnisvoll‹ ist der Weg nicht insofern, als er in einen spirituellen Innenraum führt, sondern insofern, als nur jene ihn kennen, die das neue Zeitalter heraufkommen sehen. Das Athenaeum ist gekennzeichnet durch ein ausgeprägtes Interesse an bestehenden Texten, das sich in Übersetzungen und Kommentaren sowie in literaturkritischen Arbeiten manifestiert und zu bedeutenden literaturtheoretischen Aussagen Anlass gibt, so in August Wilhelm Schlegels Nachschrift an Ludwig Tieck im Rahmen seiner Übersetzung aus Ariosts Rasendem Roland.302 In Übersetzungen wird Literatur in besonderem Sinne zu einem gemeinschaftlichen Unterfangen, denn sie vermitteln das Werk eines anderen Autors über sprachliche, kulturelle und zeitliche Grenzen hinweg an den gegenwärtigen Leser. Die Literaturkritik dagegen erlaubt die Entfaltung eigener poetologischer Positionen in Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Text, wobei gerade das ausgehende 18. Jahrhundert eine große Bandbreite an kritischen Haltungen zur Verfügung stellte, von der distanzierten Analyse eines Lessing bis hin zum enthusiastischen Mitfühlen eines Schubart. Zentrale Bedeutung für die Poetik der Gebrüder Schlegel erlangte die kritische Beschäftigung mit Goethe: Als der »wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden«303 ist er Vorbild, Bezugspunkt und Autorität; entsprechend positiv war seine Reaktion auf ihr Projekt. Während sie Schillers Name in der Zeitschrift aufgrund von Antagonismen systematisch ausblendeten,304 galt ihnen Goethes Urteil durchgängig als maßgebend,305 und in der Zeitschrift ist er wiederholt Gegenstand der Huldigung, so in August Wilhelms Elegie Die Kunst der Griechen. Elegie an Goethe und vor allem in Friedrichs ausführlichem Beitrag Über Goethe’s Meister. Friedrich Schlegel entwickelt in dem Aufsatz seine Theorie vom Roman – Inbegriff der »romantischen Poesie«. Einfühlsam führt er Goethes Metaphorik fort, indem er den Autor zum »Meister« und sein Werk zum
301 Ebd., Bd. 3, S. 33 (FS: Ideen, 155). 302 Ebd., Bd. 2, S. 247–284 (AWS: Eilfter Gesang des rasenden Roland; nebst einer Nachschrift des Uebersetzers an L. Tieck). 303 Ebd., Bd. 1, S. 103 (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 106). 304 Vgl. Eichner 1967, S. X–XVII. 305 Vgl. Behler 1983, S. 33 f. und 37.
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»Meisterwerk« macht306 und dem Text durch auffallend poetische Metaphern ein eigenes, zugleich organisches, menschliches und göttliches Leben verleiht: Es ist ein »göttliches Gewächs« mit einer eigenen »Persönlichkeit und lebendigen Individualität« sowie einem »Genius«.307 Vertikalitätsmetaphern vermitteln die Erhebung des Autors zum Gott und die Apotheose des romantischen Romans, der von den Niederungen der Unterhaltungsliteratur himmelweit entfernt ist. »Zugleich ein göttlicher Dichter und ein vollendeter Künstler«, scheint der Autor »auf sein Meisterwerk selbst von der Höhe seines Geistes herabzulächeln«;308 im Werk findet man die neuplatonisch anmutende »lebendige Stufenleiter jeder Naturgeschichte und Bildungslehre«;309 und es verlangt einen »Leser, der Sinn für das Höchste hat, der anbeten kann, und ohne Kunst und Wissenschaft gleich weiß, was er anbeten soll«.310 Die Erfüllung bringt der vierte Teil des Werkes: Es ist als sey alles Vorhergehende nur ein geistreiches interessantes Spiel gewesen, und als würde es nun Ernst. Der vierte Band ist eigentlich das Werk selbst; die vorigen Theile sind nur Vorbereitung. Hier öffnet sich der Vorhang des Allerheiligsten, und wir befinden uns plötzlich auf einer Höhe, wo alles göttlich und gelassen und rein ist.311
Es ist die Höhe, die für die vorhergehende Generation Klopstocks religiöses Epos Der Messias besetzt hatte. Hier nun übersteigt der Roman Goethes als Verwirklichung der romantischen Poesie und als moderne Entsprechung zum antiken Epos die Gattung des herkömmlichen »Romans, wo Personen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind«.312 Maßstab sind vielmehr die »höchsten Begriffe«,313 die das Werkzeug des Kritikers weit unter sich lassen, denn ein solches Werk ist über jede Beurteilung anhand von Konventionen erhaben. Eine besondere Rolle erfüllen in diesem Kontext Innovations- und Autonomiemetaphern, denn sie dienen dazu, das Werk vollends dem Zuständigkeitsbereich des urteilenden Kritikers zu entrücken: dieses schlechthin neue und einzige Buch, welches man nur aus sich selbst verstehen lernen kann, nach einem aus Gewohnheit und Glauben, aus zufälligen Erfahrungen und willkührlichen Foderungen zusammengesetzten und entstandnen Gattungsbegriff beurtheilen; das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will.314
306 307 308 309 310 311 312 313 314
Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, z. B. Bd. 1, S. 334 und 338 (FS: Über Goethe’s Meister). Ebd., S. 335 f. Ebd., S. 333 f. Ebd., S. 332. Ebd., S. 335. Ebd., S. 354. Ebd., S. 334. Ebd. Ebd.
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Als Fortführung der Verknüpfung von ›Athen und Jerusalem‹ macht Schlegel religiöse Vorstellungen zu literaturkritischen Kriterien. Die Metaphern entheben den Roman dem Netzwerk herkömmlicher Beurteilungskriterien und lösen ihn aus seinem kommunikativen Kontext, um ihm mittels spiritueller Begriffe einen besonderen, einzigartigen Wert zu verleihen. Ähnlich der Bibel für das Christentum vermag der Roman auf diese Weise als maßgeblicher Text zu fungieren, denn als Vorbild und Orientierung für die neue Bewegung taugt kein Werk, das sich in eine bestehende Gattung fügt und durch etablierte Kriterien bestimmt werden kann. Während Friedrich seine Poetik unter Bezug auf ein fiktionales Werk darlegt, entfaltet August Wilhelm seine eher philologisch ausgerichtete Poetik in Auseinandersetzung mit einem sprach- und verstheoretischen Werk. Sein Beitrag trägt den Titel Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche315 und steht an programmatischer Stelle, am Anfang des ersten Bandes der Zeitschrift. In den 1794 erschienenen, von den Zeitgenossen und der Nachwelt kaum beachteten Grammatischen Gesprächen316 konzentriert sich – in ungewöhnlicher »poetischer Einkleidung«317 – Klopstocks humanistisch fundierte Theorie der deutschen Sprache und Verskunst. Schlegels Beitrag geht weit über eine Rezension hinaus. Im Zentrum steht Klopstocks kulturnationale Perspektive, der Schlegel programmatisch eine universalistische Perspektive gegenüberstellt, ohne Klopstocks Ansatz allerdings gänzlich zu diskreditieren. Abgelöst wird zugleich die Tradition des humanistisch geprägten Streitgesprächs durch den philosophisch geprägten Dialog, der die Erkenntnis der allgemein gültigen Wahrheit obenan setzt. Mehr als in den sokratischen Dialogen Platons wird jedoch den individuellen Standpunkten Spielraum gegeben, und durchwirkt ist das ganze Gespräch von humorvoller Ironie. Schlegels Gespräch stellt sich als Fortsetzung von Klopstocks Werk dar. Dieser hatte dichterische ›Gespräche‹ zwischen skurrilen Personifikationen sprachlicher und verstechnischer Elemente und Fähigkeiten inszeniert – zum Beispiel »Die Grammatik«, »Die Einbildungskraft«, »Der Spondeus«318 –, um Fragen der Grammatik, Wortkunde und Verstechnik zu erörtern und insbesondere die Konkurrenzfähigkeit des Deutschen im Vergleich zu den antiken und modernen Sprachen zu erweisen. Schlegel stellt ins Zentrum eines ähnlichen Gesprächs die Anklage, Klopstock habe einseitig die deutsche Sprache bevorzugt und die alten und anderen neuen Sprachen herab315 Ebd., S. 1–69 (AWS: Die Sprachen). 316 Klopstock 1794. 317 Voß 1804, Sp. 186; vgl. auch Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 4 (AWS: Die Sprachen). Voß machte die poetische Form für die geringe Resonanz verantwortlich; Klopstocks Freunde hatten ein systematisches Werk erhofft, dass mit Adelungs Grammatik würde konkurrieren können. 318 Klopstock 1794, S. 2, 313 u.ö.
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VI. Poetologische Momente
gewürdigt; diskutiert wird die Frage von Repräsentanten der individuellen Sprachen, und auch hier tritt die »Grammatik« auf, zu ihr gesellt sich jedoch als oberste Instanz die »Poesie«.319 Schlegel nutzt virtuos die Mittel der Personifikation, um die Positionen differenziert voneinander abzugrenzen und aufeinander zu beziehen, und er entwickelt im Fortgang des lebendigen ›Gesprächs‹ eine umfassende Stellungnahme zum Status der deutschen Sprache und Dichtung und vor allem zu ihrer Beziehung zur Antike. Ohne Einwand seitens der »Poesie« macht der »Deutsche« geltend, Klopstock habe seinem Volk als erster Nation einen »Sinn für das Antike« vermittelt und die »Popularität« der antiken Versmaße sei nun so weit vorangeschritten, dass es »nie wieder rückwärts gehen kann«: Ein für allemal etabliert sei nun das Bedürfnis der Deutschen, »die Alten in ihrer ächten Gestalt zu lesen« und sich »in eignen Werken an ihre große Formen anzuschließen«.320 Bestätigt und zugleich universalistisch weitergeführt wird dies von der »Poesie«, indem sie die Orientierung des Deutschen an der Antike als Vorbild wertet, dem in Zukunft auch andere Sprachen folgen würden; die deutsche Sprache werde auf diese Weise ihr »Monopol« verlieren.321 Klopstocks kulturnationalistische Perspektive widerlegt sie allerdings nicht zuletzt durch den Bezug auf seine dichterische Leistung: Das, was Klopstock der Besonderheit der deutschen Sprache zuweise, gründe in Wirklichkeit in dessen eigenem poetischen Verdienst. Um in anderen Sprachen zum Erfolg zu gelangen, müsste »in einer gleich günstigen Epoche der Bildung jener Sprachen ein eben so hoher Dichtergeist seinen Ruhm an die Einführung der alten Sylbenmaße gewagt haben.«322 Schlegels Aufsatz bietet somit eine Würdigung der Leistung Klopstocks und zugleich eine weiterführende Interpretation seiner Wirkung. August Wilhelms Auseinandersetzung mit Klopstocks Grammatischen Gesprächen hat Bekenntnischarakter: Am Anfang des Athenaeum steht ein Bekenntnis zur deutschen Sprache und Literatur im Zeichen der Antike; als Pendant aus der Praxis fungieren die ebenfalls im ersten Stück veröffentlichten, von August Wilhelm übersetzten und von Friedrich kommentierten Elegien aus dem Griechischen.323 Akzeptiert wird die vom Humanismus vorausgesetzte Bedeutung des wettstreitorientierten Ruhmesstrebens für die Entwicklung der Dichtung. August Wilhelm situiert die produktive Rezeption der Antike in einer besonders »günstigen Epoche« der deutschen Literatur, die er am Anfang seiner Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur – dem vierten und letzten Text des ersten Stücks – wie folgt bestimmt: »Deutschland ist unstreitig jetzt die erste unter den schreibenden Mächten 319 320 321 322 323
Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, Bd. 1, S. 3–5 (AWS: Die Sprachen). Ebd., S. 49. Ebd. Ebd. S. 48. Ebd., S. 107–140 (AWS und FS: Elegien aus dem Griechischen).
5. August Wilhelm und Friedrich Schlegel: Athenaeum, Band 1 (1798)
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Europa’s.«324 Kulturnationale Bestrebungen werden insofern als Grundlage für ein literarisches Selbstbewusstsein der Deutschen anerkannt; dies feiert auch Novalis, wenn er das ›Aufholen‹ des Deutschen feststellt, der im Begriff sei, vom »Hänschen« zum »Hans aller Hänse« zu avancieren: »Er wird leben und klug seyn, wenn seine frühklugen Geschwister längst vermodert sind, und er nun allein Herr im Hause ist.«325 Im Hintergrund des Athenaeum steht der humanistisch gegründete Wettstreit der Nationen: Die Zeitschrift markiert den endgültigen ›Sieg‹ der Deutschen. Zugleich überbietet August Wilhelms Gespräch Klopstocks eristische Poetik. Denn er baut gewissermaßen auf dem ›Sieg‹ der Deutschen auf, um eine irenische, universalistische Poetik zu entwickeln. Seine Gesprächsführerin »Poesie« blickt über die Grenzen Europas weit hinaus und proklamiert in Gegensatz zu Klopstocks wettkampforientierten Gesprächspartnern eine weibliche Ästhetik der fürsorglichen Inklusivität: Poesie. Was ist das heutige Europa gegen den Umfang des Menschengeschlechtes in den verschiedensten Himmelsstrichen und Zeitaltern? Europäischer Geschmack ist nur ein erweiterter Nazionalgeschmack. […] Ich habe ja die Welt umwandert und umflogen: habe an den schönen Ufern des Ganges und des Ohio geweilt, die Wüsten Afrika’s und die Steppen Sibiriens besucht, und mich unter den Nebeln des Schottischen Hochlandes, wie unter dem ewig unbewölkten Himmel der SüdseeHesperiden gelagert. Franzose. Au qu’elle devient poetique! Poesie. Keinem Volke, wie roh und beschränkt es seyn mochte, verschmähte ich durch meine Töne die Mühen des Lebens zu lindern.326
Die Personifikation der »Poesie« und die betont poetische Reisemetaphorik vermittelt eine lebhafte Vorstellung von ihrer kulturellen Vielfalt. Ihr universalistischer Ansatz setzt sich als der umfassendere durch, der tiefer in die Wissenschaft einzudringen vermag und für die Stimmen aller Völker empfänglich ist. Verabschiedet wird die humanistische Priorisierung der antiken Sprachen, die Ausschließlichkeit des Interesses an den europäischen Sprachen sowie auch die national orientierte Perspektive. Genausowenig wie bei Klopstock wird allerdings der Ansatz des systematischen Sprachwissenschaftlers gesucht. Im Zentrum des Geschehens steht die »Poesie«, die ihre Sensibilität für die Feinheiten der Sprache aus ihrer poetischen Begabung bezieht. Diese Begabung verleiht ihr in den grundlegenden Fragen der Sprachwissenschaft die höchste Autorität. August Wilhelm Schlegels Gespräch vermittelt nicht nur eine Neuorientierung in der Poetik, sondern präsentiert sich auch als neue Form der Literaturkritik. In der Praxis stellt er hier dar, was er dann am Ende des ersten Stücks in den Beyträgen zur Kritik der neuesten Litteratur theoretisch erör324 Ebd., S. 141–177, hier S. 141 (AWS: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur). 325 Ebd., S. 87 (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 61); s. o., S. 497. 326 Ebd., S. 17 f. (AWS: Die Sprachen).
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tert. Bezeichnend ist die Wahl der Gesprächsform, die zugleich einfühlsame und kritische Begegnung mit dem rezensierten Werk und nicht zuletzt der humorvolle Ton. Indem sich der Rezensent in eine Vielzahl von Stimmen projiziert, lehnt er jene Rolle ab, die das 18. Jahrhundert hindurch die Literaturkritik geprägt hatte – den ›Kunstrichter‹: Ein Kunstrichter zu seyn, nämlich der über Kunstwerke zu Gericht sitzt und nach Recht und Gesetz Urtheil spricht, ist etwas eben so unstatthaftes als unersprießliches und unerfreuliches. Mit Einem Worte, da die Wahrnehmung hier immer von subjektiven Bedingungen abhängig bleibt, so lasse man ihren Ausdruck so individuell, daß heißt so frey und lebendig seyn wie möglich.327
Die Literatur wird hier dem Zugriff ›öffentlich‹ festgelegter »Gesetze« entzogen, und damit verliert auch der ›Kunstrichter‹ seine angestammte Autorität; diese geht gewissermaßen auf das Werk selbst über, das unabhängig von einer externen Autorität mit dem individuellen Rezipienten kommuniziert. Vorausgesetzt ist die Trennung der Kunst von den »wissenschaftlichen Wahrheiten« sowie ein Rezeptionsprozess, der sich »in der Seele des Betrachtenden durch ein wunderbares Spiel der innern Kräfte« verwirklicht.328 Indem Schlegel die Wahrnehmung »von subjektiven Bedingungen abhängig« macht, legitimiert er eine »individuelle« Kritik, die in ihrem Umgang mit dem Werk »frey« ist; es zeigt sich hier die Komplementarität der Begriffe sowie der hohe Status, den der Begriff ›Freiheit‹ in der Nachfolge der Französischen Revolution erlangt hat. Anders als Wieland situiert Schlegel die Literaturkritik nicht in der ›öffentlichen Welt‹, sondern im ›Privatleben‹: Schlegel will keine offiziellen »Rezensionen« bieten, sondern lediglich »Privatansichten eines in und mit der Litteratur lebenden«.329 Die Literatur selber ist hier zur ›Welt‹ geworden und zugleich zur Gefährtin des Rezensenten. Dennoch ist eine Hierarchie im Literaturleben vorausgesetzt, die sich in der Kategorisierung von Schriftstellern und Publikum manifestiert. Im Vordergrund steht dabei der Begriff der »Bildung«: So unterscheidet Schlegel das Werk des »Meisters«, der »dem regsten und vielseitigsten Streben nach Bildung« begegnet, vom Werk des »Handwerkers«, der »unaufhörlich für die Sättigung schlaffer Leerheit arbeitet«.330 Typisch für das Bildungsprogramm des Athenaeum ist die Voraussetzung einer zeitlichen Progression hin zu einem Verständnis für »ächte Kunst«, wie Schlegel unter Bezug auf drei Entwicklungsstufen des Publikums darlegt: »Der mittlere Durchschnitt der Lesewelt« hat »starke Bedürfnisse der Sentimentalität«; er ist »für das grobe Abentheuerliche schon zu gesittet, für die heitern ruhigen Ansichten 327 328 329 330
Ebd., S. 147 (AWS: Beyträge zur Kritik). Ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 149 f.
6. Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853)
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ächter Kunst noch nicht empfänglich«.331 Ziel des Athenaeum ist die Heranbildung eines Publikums, das für die in der Zeitschrift gebotene »ächte Kunst« empfänglich ist. Das Scheitern des Projekts legt nahe, dass dieser Kreis zu klein war und der Bildungsvorgang nicht schnell genug vonstatten ging. Die Metapher von der »ächten Kunst« steht in Spannung zu einer Poetik, die sich erklärtermaßen auf einen individuellen, subjektiven, von externen Autoritäten unabhängigen Zugang zum literarischen Werk verpflichtet, denn sie impliziert einen stabilen Maßstab, anhand dessen das Wahre vom Unwahren, das Genuine vom Gefälschten, das Richtige vom Falschen geschieden werden kann. Deutlich wird hier, dass mit dem Athenaeum nicht die Norm als solche ad acta gelegt wird, sondern lediglich die Norm der öffentlich vereinbarten Konvention. Statt dessen tritt nun potenziell eine andere Norm in Kraft: die Norm des ›inneren‹ philosophischen Ideals. Damit aber stellt sich die Frage, wem die Autorität über die Dichtkunst gebührt: den Dichtern oder den Philosophen – die zuweilen den ›Kunstrichtern‹ zum Verwechseln ähnlich sehen.
6. Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) Fontanes 1853 – lange vor seinem Romanwerk – entstandener Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848332 verbindet ein einleitendes Manifest, in dem er »unsere moderne Richtung« in ihrem historischen Kontext verortet und davon abgrenzt,333 mit einer anschließenden Serie von kurzen Kritiken zu zeitgenössischen Autoren; auf letztere wird hier nicht näher eingegangen. Der Aufsatz trägt zu einer breit geführten Debatte um den ›Realismus‹ bei,334 dessen deutsche Variante tendenziell durch eine Orien331 Ebd., S. 151. 332 Fontane 1969. Zitiert wird nach der von Jürgen Kolbe besorgten Ausgabe im Rahmen der »Sämtlichen Werke«. Fontanes Aufsatz erschien anonym in der von Karl Biedermann herausgegebenen Zeitschrift »Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit« (Leipzig 1953); es wurde kein weiterer Band der Zeitschrift publiziert. Kolbe bezeichnet den Aufsatz als Fontanes »erste literaturhistorische Arbeit« und konstatiert, dass die Realismus-Definition auch für Fontanes späteres Werk als »mehr oder weniger verbindlich genommen werden kann« (Fontane 1969, S. 805). Vgl. zu Fontanes Aufsatz Lindemann 1976 und Jung, W. 1985, S. 46–60. 333 Einleitender Teil des Aufsatzes: Fontane 1969, S. 236–243; Zitat S. 238. 334 Vgl. die ausführlichen Erörterungen sowie die reichhaltige Dokumentation in Bucher, Hahl u. a. 1981. Die Dokumentation zu Realismus und Gründerzeit (Bd. 2) berücksichtigt ausschließlich männliche Autoren, was auch angesichts der Problematik weiblicher Autorschaft in dieser Zeit bei 214 Beiträgen kein repräsentatives Bild ergibt. Vgl. dagegen die Darstellun-
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tierung an Klassik und Idealismus gekennzeichnet ist.335 Mit dem Titel fokussiert Fontane den Aufsatz auf die Jahre 1848–1853 und verleiht dem Revolutionsjahr 1848 die Signifikanz einer entscheidenden literaturgeschichtlichen Wende – eine Verbindung von Literatur und Politik, die er im Aufsatz zugleich bestätigt und negiert. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist der Aufsatz nicht zuletzt deswegen interessant, weil Fontane im einleitenden Teil in auffälliger Dichte mit poetologischen Topoi argumentiert, in den Kritiken dagegen viel sparsamer damit umgeht. Deutlich wird aus diesem Kontrast die besondere Bedeutung solcher Topoi für die Textsorte Manifest: Allgemein gesehen dienen sie dazu, das entworfene Programm in der Tradition zu verorten und ihm ein klar abgegrenztes Profil zu verleihen, das es vom soeben Vergangenen sowie vom zeitgenössischen Umfeld unterscheidet. Diese Funktion wird in Fontanes Aufsatz besonders deutlich, weil er gegen eine Geschichte anschreibt, derzufolge die deutsche Literatur bereits vollendet und das markanteste Profil für alle Zeiten besetzt ist. Fontane kündet von einer »neuen Blüte unserer Literatur«336 – aber sie entfaltet sich im Schatten einer Blüte, die alles gegenwärtige Wachstum im Keime zu ersticken droht: Es gibt neunmalweise Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goetheschen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären. Forscht man näher nach bei ihnen, so teilen sie einem vertraulich mit, daß sie eine neue Blüte derselben überhaupt für unwahrscheinlich halten, am wenigsten aber auch nur die kleinsten Keime dazu in der Hervorbringung der letzten zwanzig Jahre gewahren können. Wir kennen dies Lied. Die goldenen Zeiten sind immer vergangene gewesen.337
Der Anfang von Fontanes Aufsatz entwirft einen Kontext der Rezeption, der sich grundlegend von den Kontexten früherer deutscher Poetiken unterscheidet: Der Status der deutschen Literatur steht außer Zweifel, da sie ihre ›Verspätung‹ aufgeholt hat; die ›goldene Zeit‹ ist erreicht und vollendet; und sie hat sich definitiv und unbestritten in einem großen Dichter verwirklicht, der für die große Masse des Publikums »unsere« Literatur repräsentiert und mit ihr identisch ist. Der erste Teil des fontaneschen Aufsatzes ist entsprechend geprägt von der spannungsvollen Beziehung zu dem großen Vorbild und von der Notwendigkeit, einen diachronischen Spielraum für die Konstruktion einer eigenständigen Identität zu schaffen. Die Zeit steht bereits im Titel des Aufsatzes im Vordergrund und wird auch am Anfang des Aufsatzes thematisiert, wenn Fontane auf den Tod Goethes im Jahre 1832 Bezug nimmt und von der Warte der ›Gegenwart‹ aus die »letzten zwanzig Jahre« in den Blick nimmt. Diese an sich schon gen der Partizipation von Frauen an poetologischen Debatten jener Zeit in Brinker-Gabler 1988, Bd. 2, S. 11–165. 335 Vgl. Jung, W. 1985, S. 47. 336 Fontane 1969, S. 236. 337 Ebd.
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kleine Zeitspanne reduziert sich angesichts der Größe des Vorbilds noch weiter, wodurch dem Dichter die Möglichkeit genommen wird, das Eigene aus einem unkultivierten Brachland als ganz ›Neues‹ entstehen zu lassen, wie Otfrid, Opitz oder Goethe dies so erfolgreich unternommen hatten. Dass der verfügbare zeitliche Spielraum zwischen dem ›klassischen‹ Zeitalter deutscher Literatur und der jeweiligen Jetztzeit im mittleren 19. Jahrhundert auch von anderen Dichtern als kritisch wahrgenommen wurde, geht aus einer Bemerkung von Otto Ludwig hervor, der 1874 – also zwei Jahrzehnte nach Fontanes Aufsatz – erklärt: »Ein Glück für uns, daß unsere Zeit schon weit genug von jener goldenen liegt.«338 Konsequenterweise nutzt Fontane die Möglichkeiten der topischen Kultivierungsmetaphorik, um in der unmittelbaren Gegenwart ein kleines Brachland zu entwerfen: Die »Zeitgenossen« sehen sich einem »Gebiet« gegenüber, »wo das wuchernde Unkraut dem flüchtigen Beschauer die echte Blüte verbirgt«.339 Die Metapher von der »echten Blüte« blendet die zeitliche Entfaltung der Pflanze zugunsten ihrer zeitunabhängigen, eigentümlichen Qualität aus. Auf diese Weise kann auch der gegenwärtige Dichter hoffen, ein Werk zu schaffen, das Anerkennung findet. Im Kontext einer zeitlichen Verortung in der deutschen Tradition kommt der Wegmetaphorik eine besondere Bedeutung zu, denn sie bestimmt von Otfrid bis hin zu den Frühromantikern die Vorstellung von der diachronischen Rolle der deutschen Literatur im internationalen Zusammenhang. Hatten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die ambitioniertesten Dichter ihren Ruhm im Aufholen der deutschen ›Verspätung‹ gesucht, so sieht sich Fontane in einer Situation, in der die Nationalliteratur etabliert ist und nun die gegenwärtigen Dichter die Verspäteten sind. Anders als beispielsweise Karl Immermann in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts identifiziert sich Fontane jedoch nicht mit der ›Epigonalität‹, sondern wendet sich von der Vergangenheit ab, um durch die etablierte Metaphorik eine neue Vision in die Zukunft zu projizieren: [Wir] bekennen […] unsere feste Überzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten und daß wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.340
Mit dem emphatischen »wir« und der Insistenz auf »unsere Zeit« grenzt Fontane die zeitgenössischen Schriftsteller von den früheren ab. Indem er die Wegmetapher auf einen künftigen Dichter projiziert, negiert er die end-
338 Ludwig 1874, S. 350 (Die Ideale der Gegenwart). 339 Fontane 1969, S. 236. 340 Ebd.
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gültige ›Ankunft‹ der deutschen Literatur mit und in Goethe: Es gilt, auf einen noch größeren Dichter hinzuarbeiten, ein Prozess, der den großen Dichter der Vergangenheit vergessen macht. Eröffnet wird mit der vektoriellen Metapher von der »Richtung« eine Perspektive, die in die Zukunft führt und dort eine »neue reiche Ernte«341 erwarten lässt. Und mit der vertikalen Metapher von der erst zukünftig »höchsten Blüte« lässt Fontane die vergangene Leistung auf ein überbietbares Maß zusammenschrumpfen. Im zitierten Passus lenkt Fontane die Aufmerksamkeit auf den künftigen Weg; andernorts benutzt er die Wegmetapher, um eine Tradition zu entwerfen, die Goethe gewissermaßen umgeht. Eine zentrale Funktion erfüllt dabei der Begriff des ›Realismus‹, der je nach Kontext als gegenwartsbezogene Tendenz, als Tradition und als zeitlose Bestimmung konfiguriert wird. Die Konzentration auf den Realismusbegriff ermöglicht Fontane eine Darstellung der zeitgenössischen Literatur, die von Goethes Projekt klar unterschieden ist, zumal der Realismus sich als allgemeine, über die Literatur hinausweisende Charakteristik fassen lässt: »Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus.«342 Fontane gründet stichpunktartig den Begriff in Medizin, Politik, Militär sowie im allgemeinen Interesse an »materiellen Fragen« und dem »sozialen Rätsel«, um die Literatur dann mit den visuellen Künsten zu verknüpfen, die einen von der literarischen Tradition abweichenden Rahmen schaffen. Maßstab ist ihm vor allem die Bildhauerkunst des Berliner Klassizismus und insbesondere das Reiterstandbild Friedrichs des Großen von Christian Daniel Rauch, das am 31. Mai 1851 unter großem Beifall auf dem Prachtboulevard Unter den Linden enthüllt worden war: Seit fünfzig Jahren sind wir auf dem betretenen Wege fortgeschritten in Malerei, Skulptur und Dichtkunst, und es war ein Triumphtag für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrichs des Großen fiel und der »König mit dem Krückstocke« auf ein jubelndes Volk herniederblickte. Dieser »Alte Fritz« des genialen Rauch ist übrigens nicht das Höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwicklungsstadium an, durch das wir notwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt.343
Der hier entworfene ›Weg‹ ›beginnt‹ am Anfang des 19. Jahrhunderts und ist somit von der goetheschen Laufbahn unabhängig. Die Kontroversen um das Denkmal für Friedrich II. reichten bis 1780 zurück, und zum Zeitpunkt der Enthüllung hatte Rauchs Reitermonument eine ästhetische Signalfunktion angenommen: »Klassizistisches Ideal oder realistische bildnerische Ver-
341 Ebd., S. 239. 342 Ebd., S. 236. 343 Ebd., S. 237.
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Christian Daniel Rauchs Denkmal für Friedrich den Großen in Berlin (1851)
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gegenwärtigung, das war die Frage, die Rauch […] zugunsten des Realismus entschied.«344 Insbesondere der Krückstock, der statt des Säbels an der Seite hängt, stellte die menschliche Seite des Monarchen in den Vordergrund.345 Fontane steht mit seiner Orientierung an der zeitgenössischen Skulptur nicht allein. So verkörpert auch für den Zeitgenossen Anton Gubitz der »mächtige Genius Rauch’s« die neue, »gesunde realistische Richtung«. Rauch ist ihm »der eigentliche Begründer des realistisch gesunden Stils«; insbesondere das Berliner Friedrichsdenkmal faßt »eine ganze glorreiche Epoche der preußischen Geschichte in ein metallenes Heldengedicht zusammen«.346 Dem Denkmal wird hier die kulturstiftende Funktion zugeschrieben, die in anderen Kontexten das Epos erfüllte. Fontane thematisiert insbesondere den Moment der Enthüllung und hebt auf diese Weise die Aktualität des (klassizistischen) Realismus hervor, um ihn als typisch für die maßgebende zeitgenössische Kunst in Deutschland zu legitimieren. Geschaffen wird damit ein Vorbild für die Dichter, das eine Alternative zum Vorbild Goethe darstellt: »Was uns zunächst nottut, ist ein Meister Rauch unter den Poeten.«347 Zugleich bietet Fontanes Urteil, es handle sich hier nur um eine Vorform des entwickelten Realismus, die Basis für die Entfaltung seiner Theorie von der Notwendigkeit einer »poetischen Verklärung« des Realismus, die Aufgabe der Zeitgenossen ist und die erst in der Zukunft die »höchste Blüte moderner Kunst« hervorbringen wird. Während Fontane in Bezug auf die Skulptur des Berliner Klassizismus von einem kontinuierlichen »Weg« des Realismus seit der Zeit um 1800 ausgeht, fasst er ihn in Bezug auf die Literatur einerseits als zeitlose Bestimmung und andererseits als diachronische Entwicklung, die durch Diskontinuitäten gekennzeichnet ist, aber schließlich auf den ›Weg‹ des ›modernen‹ Realismus hinführt. Geschaffen wird damit genau jener Entfaltungsspielraum, den die an Goethe orientierte Literaturgeschichte den neueren Dichtern verbaute. Indem er die »Genesis«348 des Realismus darstellt, vermag Fontane selektiv zu verfahren und Goethe in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, der seinen überragenden Status relativiert. Fontane beginnt mit dem ›Ursprung‹ des Realismus, den er mit dem Ursprung der Kunst ineinssetzt, um dann den Realismus mit der Kunst zu identifizieren und zu deren Bestimmung zu machen, wobei »Richtung« und »Weg« nun
344 Schmitz 1981, S. 29. 345 Vgl. ebd., S. 32. Bei der Enthüllung allerdings blickte Friedrich nicht auf ein jubelndes Volk, sondern auf den preußischen Hochadel herab; Schmitz zufolge fand die Enthüllung »unter Ausschluß des von der 48er Revolution enttäuschten Volkes« statt (ebd., S. 31). 346 Gubitz 1981, S. 39 f. Sein Urteil entstammt einem Aufsatz von 1851/52. 347 Fontane 1969, S. 237. 348 Ebd., S. 238.
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nicht mehr vektoriell konzipiert werden, sondern zur einzigen Seinsform werden, die mit dem ›Leben‹ der Kunst kompatibel ist:349 Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war.350
Wie die Metapher von der ›echten Blüte‹ machen die Personifikation der Kunst, die auch von Gubitz verwendete Gesundheitsmetaphorik sowie die Metapher vom »einzig richtigen Weg« interne, zeitunabhängige Werte zum gültigen Maßstab. In der deutschen Literaturgeschichte, die Fontane von der Mitte des 18. Jahrhunderts an berücksichtigt, manifestiert sich der »einzig richtige Weg« als »ewiges Gesetz«, das dialektisch auf eine Zeit der »Unnatur« den Realismus als »Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes« folgen lässt;351 hier tritt der Maßstab der Wahrheit zu den anderen Werten hinzu. Auch ›Schönheit‹ und ›Natürlichkeit‹ sind mit von der Partie, wenn der »schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings« zum Vorbild erklärt wird, der die »unnatürliche Geschraubtheit Gottscheds« ablöste.352 Entsprechend folgt der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts »als notwendige Reaktion« auf die »verlogene Sentimentalität« und den »gedankenlosen Bilderwust« der »dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts«.353 Fontane schafft auf diese Weise eine »nahe Verwandtschaft« zwischen der zeitgenössischen Literatur und jener, die ihr annähernd hundert Jahre vorausging.354 Getragen ist die Konstruktion von der Zuversicht, dass die neueren Dichter »den Göttinger Dichterbund und selbst die Heroen der Sturm- und Drangperiode um soweit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntnis dessen, worauf es ankommt, voraus sind«, denn: »Dem Guten folgt eben das Bessere.«355 Die neueren Dichter sind nun »berufen […], das angefangene und wieder unterbrochene Werk der hervorragenden Geister des vorigen Jahrhunderts fortzusetzen«.356 Die neue Ästhetik wird somit durch einen Bruch in der Zeit legitimiert und selektiv durch Teile des Kanons bestätigt, die den alles überragenden Helden im Hintergrund verschwinden lassen. In einem zweiten Schritt werden dann »die beiden Träger unserer sogenannten klassischen Periode« relativierend in die Geschichte eingeordnet. 349 S.o., S. 269, wo dieser Komplex unter dem Aspekt der Beziehung zwischen ›Natur‹ und ›Kunst‹ diskutiert wird. 350 Fontane 1969, S. 238. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Ebd. 354 Ebd. 355 Ebd., S. 238 f. 356 Ebd., S. 238.
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Den jungen Goethe und den jungen Schiller mit seinen Dramen wertet Fontane als »entschiedene Vertreter des Realismus«, sie blieben diesem jedoch »nicht treu fürs Leben«, wenn auch Goethe ihm weiterhin näherstand als Schiller.357 Gewährsmann und »Autorität« für die »ausschließliche Berechtigung des Realismus innerhalb der Kunst« ist Lessing, der diesen Fontane zufolge noch im Nathan verwirklichte.358 Dennoch steht Goethe als Fontanes maßgebende Autorität im gesamten ersten Teil des Aufsatzes im Zentrum: in Fontanes Gesundheitsmetaphorik, die an Goethes Unterscheidung der Klassik von der Romantik erinnert;359 wenn Fontane konstatiert, die Zeit sei »des Spekulierens müde« und verlange nach »jener ›frischen grünen Weide‹«, die Goethe im Faust evoziert hatte;360 oder wenn Fontane Goethes »Greif nur hinein ins volle Menschenleben« zum »Kernspruch« des »Realismus« erklärt.361 An Goethe führt in dieser Zeit kein poetologischer Weg vorbei. Fontanes Definition dessen »was wir überhaupt unter Realismus verstehen«,362 steht im Zeichen der Ausgrenzung sowie jener »poetischen Verklärung«, die er bei Rauch vermisst. Denn wenn auch das »volle Menschenleben« ins Zentrum gestellt wird, so ist doch bezeichnend, dass Fontane dieses Prinzip durch den Filter der kanonischen Literatur präsentiert. Tatsächlich folgt auf den »Kernspruch« die Eliminierung ganzer Bereiche des Menschenlebens. Von der vorhergehenden »Literaturepoche« trennt Fontane den Realismus, indem er »die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene« auschließt.363 Ausgegrenzt wird aber auch das räumlich und zeitlich Entfernte: So ist dem Realismus »ein deutscher Kernspruch […] lieber als alle Weisheit des Hariri«, und »ob König Thor den Hammer schwingt oder nicht, ist ihm ziemlich gleichgültig«.364 Ausgeschaltet wird ferner das »nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens«, das Schildern »seines Elends« und vor allem die Darstellung der »Misere«.365 Damit setzt sich Fontane dezidiert von der politisch orientierten Kunst des Vormärz ab: Die Darstellung »eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umste357 Ebd., S. 239. 358 Ebd., S. 240. 359 Goethe 1985 ff., Bd. 13, S. 239 (Sprüche in Prosa, Nr. 2.101.1). Vgl. jedoch die lange Tradition poetologischer Gesundheitsmetaphorik, z. B. bei Platon und Horaz; s. o., S. 40 f. und 55. 360 Fontane 1969, S. 236; Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 80 (Faust I, Studierzimmer [II], V. 1830–1833). 361 Fontane 1969, S. 241; Goethe 1985 ff., Bd. 7/1, S. 19 (Faust, Vorspiel auf dem Theater, V. 167–169). 362 Fontane 1969, S. 240. 363 Ebd., S. 242. 364 Ebd. Friedrich Rückert hatte 1826–1837 Übersetzungen aus dem Werk des arabischen Dichters Hariri (Abu Mohammed al-Kasim, 1054–1121) vorgelegt; vgl. Fontane 1969, S. 813 und 822 f. (Apparat). 365 Ebd., S. 240 f.
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hen« sowie auch »Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.)« sind mit einem »echten Realismus« unvereinbar; letztere verweisen auf Werke des sozialistischen Malers Carl Hübner, die im Kontext des Vormärz weithin Beachtung gefunden hatten.366 Mit dieser Ausgrenzung der »Schattenseiten« des Lebens geht eine Tendenz zur Idealisierung einher, die Fontane unter Bezug auf den mit dem »Leben« und dem »Wirklichen« identifizierten »Stoff« erläutert. Zur positiven Definition des Realismus dient ihm der traditionsreiche, besonders im 19. Jahrhundert poetologisch wirksam aktualisierte Spiegeltopos:367 Der Realismus ist ihm »die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens«.368 Die Definition ist allerdings weniger eindeutig, als es auf ersten Blick scheint, zumal der Topos viele Möglichkeiten birgt: Vordergründig vermittelt er Wirklichkeitstreue, seit Platon ist ihm jedoch gerade die Abweichung von der Wirklichkeit eingeschrieben. Diese Abweichung wiederum lässt sich negativ werten, wenn grundsätzlich die bloße Abbildhaftigkeit der Literatur hervorgehoben werden soll oder wenn die Literatur als ›Zerrspiegel‹ verstanden wird; positiv einsetzbar ist sie, wenn ein die Wirklichkeit verschönernder Spiegel vorausgesetzt wird, der die Makel verschwinden lässt. Fontane wählt die letzte, idealisierende Variante des Topos, wie aus seiner Fortführung der Definition hervorgeht (der erste Teil sei hier wiederholt): »[Der Realismus] ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst.«369 Beide Teile des Topos, der Spiegel und das Abgebildete, werden hier in die Abstraktion überführt. Als Spiegel fungiert nicht die immerhin als konkretes Objekt vorstellbare ›Kunst‹, sondern das vergleichsweise vage »Element der Kunst«. Das Abgebildete ist nicht die von Platon bezeichnete physische Welt der »Sonne«, der »Tiere«, »Geräte« und »Gewächse«,370 sondern ein »wirkliches Leben«, das die »wahren Kräfte und Interessen« und damit die ganze Spannbreite geistiger Prozesse miteinschließt. Entsprechend führt Fontane aus, dass der Stoff des Realismus von »Kolumbus« bis hin zum »Wassertierchen«, vom »höchsten Gedanken« bis hin zur »tiefsten Empfindung« und von den »Grübeleien eines Goethe« bis hin zu »Lust und Leid eines Gretchen« alles umfasst; auch hier ist die Abstrahierungstendenz zu verfolgen, die dann in Fontanes zusammenfassender Erklärung explizit wird: »Der Realismus will nicht die 366 Ebd.; »Meyers Konversations-Lexikon« zufolge machte sich Carl Wilhelm Hübner (1814–1879) »durch seine in die Ideen des Zeitgeistes einschlagenden sozialistischen Tendenzbilder einen gefeierten Namen« (Meyer 1885–1890, Bd. 16, S. 753; Hübner, Karl); zu seinen berühmtesten Gemälden zählten »Die schlesischen Weber« (1844) und »Das Jagdrecht« (1846). 367 S.o., S. 42. Zur Bedeutung des Spiegelmotivs im Realismus vgl. Peez 1990, S. 383–396. 368 Fontane 1969, S. 242. 369 Ebd. 370 Platon 1982, S. 433 (10. Buch; 596e).
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bloße Sinnenwelt und […] am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.«371 Erkennbar sind die Voraussetzungen der idealistischen Literaturästhetik. Dies entspricht den Realismustheorien anderer deutscher Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So bestimmt Friedrich Spielhagen den Roman als »idealisiertes Abbild« von der »wirklichen Welt«;372 und Otto Ludwig versteht »die Kunstwelt des künstlerischen Realisten« als »ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes«.373 Die sublimierende Interpretation des Spiegeltopos unter den deutschen Theoristen dient der Abgrenzung gegenüber dem französischen Realismus, und vor allem bei Fontane der Abgrenzung gegenüber dem deutschen Vormärz. Eine Tendenz zur Idealisierung ist nicht nur für die Wahl des Stoffs kennzeichnend, sondern auch für dessen Gestaltung. In diesem Kontext erhält die Skulpturmetaphorik ihre Bedeutung, denn sie verdeutlicht die Rolle des Künstlers. Dieser ist nicht als genauer Beobachter der physischen Welt konzipiert, sondern als auserwählter poeta vates: »Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken.«374 Jegliche Verpflichtung des Autors gegenüber dem ›Leben‹ ist damit ausgeschaltet. Dies steht in scharfem Kontrast beispielsweise zur Definition des erzählerischen Vorhabens in dem 1759 veröffentlichten Roman Adam Bede von George Eliot: »My strongest effort is […] to give a faithful account of men and things as they have mirrored themselves in my mind. The mirror is doubtless defective […].«375 Fontane betont demgegenüber die vollendete Schaffenskraft des Künstlers, der seine Mittel unter Kontrolle hat. Mit der Skulpturmetapher greift er einen etablierten Topos aus der Diskussion um die Beziehung zwischen Natur und Kunst auf, um die auswählende und gestaltende Tätigkeit des Dichters hervorzuheben. Wie Martin Kempe setzt er voraus, dass »der Marmor […] geringen Preiß« hat, »wenn er nicht durch der Steinmetzen Werckzeuge / behauen und geschliffen wird / bis er seine rechte Gestalt gewinnet«;376 bei ihm ist das Endprodukt nicht das »kostbare
371 Fontane 1969, S. 242. Angesichts seiner Definition ist es irreführend, wenn Jung konstatiert, der »entscheidende Ausgangspunkt für Fontanes Bestimmung des ›Realismus‹« liege in der »Orientierung am konkreten, wirklichen, erfahrenen Leben« (Jung, W. 1985, S. 48). 372 Spielhagen 1883, S. 117. 373 Ludwig 1874, S. 266 (Der poetische Realismus). 374 Fontane 1969, S. 241. 375 Eliot, G. 1992, S. 197 (17. Kap., In which the Story pauses a little). Vgl. die autorisierte deutsche Übersetzung: Die Erzählerin berichtet, dass sie »nach nichts höherem strebe, als von Menschen und Dingen, wie sie sich in meinem Geiste spiegeln, treuen Bericht zu erstatten. Der Spiegel ist zweifellos mangelhaft […]« (Eliot, G. 1887, S. 216). 376 Kempe 1971, S. 5 (Kap. 2, § V).
6. Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853)
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Gebäude«,377 sondern das bildnerische Kunstwerk, dessen hoher Wert durch die spiritualisierende Metaphorik vom »Geweihten«, ›Seher‹ und ›Erwecker‹ vermittelt wird. Es ist dies der Dichtertypus, der von himmlischen Dingen kündet, nicht von der weltlichen Wirklichkeit. Indem Fontane das Leben ›versteinert‹ und zugleich mit dem Anklang an den Pygmalion-Topos den Stein belebt, vermittelt er eine Art der Vereinigung von Stoff und Form, die der deutschen Klassik nähersteht als dem europäischen Realismus.378 In seiner Überleitung zur Besprechung individueller zeitgenössischer Autoren kommentiert Fontane den Titel seines Aufsatzes unter Hervorhebung des »begrenzenden Zusatzes […] ›seit 1848‹«.379 Hier nun greift Fontane erneut die Pflanzenmetaphorik auf, um zur Beziehung zwischen Politik und Literatur Stellung zu nehmen. Er begründet das Datum »rein äußerlich« mit dem Wunsch der Beschränkung auf Autoren und Werke neueren Datums und betont, er sei keineswegs der Meinung, »daß die Vorgänge des Jahres 1848 richtunggebend auf unsere schönwissenschaftliche Literatur eingewirkt haben«.380 Bekräftigt wird die schon zuvor dargelegte Theorie, »daß der Realismus kam, weil er kommen mußte, und daß die Extravaganzen innerhalb der Kunst selbst den Keim und die Notwendigkeit einer gesunden Reaktion mit sich führten«.381 Die Kunst erscheint somit als eigenständiger, aus sich heraus entwicklungsfähiger Organismus. Dass gerade dieses Bild jedoch eine autonome, von ›externen‹ Einflüssen unabhängige Entwicklung nicht zulässt, konzediert Fontane, wenn er einräumt, dass die Vorgänge von 1848 »der Gewitterregen waren, der die Entfaltung dieser oder jener Knospe zeitigte«.382 Entsprechend beginnt er mit der Diskussion von Autoren – allen voran dem positiv besprochenen Ferdinand Freiligrath – deren Gemeinsamkeit darin bestehe, »daß es dem Jahre 1848 und seinen Vorgängen vorbehalten war, ihren ganz besondern Ruhm zu begründen«.383 Hier nun ändert sich das Bild: »Sie fanden günstigen Wind vor und segelten damit.«384 Wie die Pflanzenmetaphorik vermittelt die topische Schiffahrtsmetapher die Interaktion von Literatur und gesellschaftlichem Kontext nicht nur in der Entstehung des Werkes, sondern auch im Prozess der Rezeption. Die Klitterung widersprüchlicher Topoi, mit denen Fontane die Unabhängigkeit literarischer Entwicklungen von dem zentralen politischen Ereignis dieser Zeit geltend macht, mag nicht zuletzt darin begründet sein, 377 378 379 380 381 382 383 384
Ebd. Zur Skulpturmetaphorik besonders bei Goethe und Schiller vgl. Jung, W. 1985, S. 46–60. Fontane 1969, S. 243. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 244. Ebd.
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VI. Poetologische Momente
dass er nach dem Scheitern der Revolution in Bereiche zu »flüchten« suchte,385 die mehr Stetigkeit, Frieden und Freude boten als die Politik: »Der Realismus ist eingezogen wie der Frühling, frisch, lachend und voller Kraft, ein Sieger ohne Kampf.«386 Es ist dies ein Realismus, der dem Winter, der Trauer, der Schwäche und der Zerstörung den Rücken kehrt. Eine ähnliche Tendenz ist auch in Fontanes späterer narrativer Praxis erkennbar, dort jedoch manifestiert sie sich mit einer Subtilität, welche die ausgegrenzten Bereiche zumindest am Horizont in Erscheinung treten lässt. Fontane projiziert mit einer Fülle von etablierten poetologischen Metaphern eine Literatur, die der vorangegangenen Literatur des klassischen Zeitalters vergleichbar genug ist, um mit ihr in Konkurrenz treten und sie übertreffen zu können, die sich aber andererseits auch so weit unterscheidet, dass ihr eine eigenständige Entfaltung möglich wird. Der Vergleich mit der Skulptur erlaubt die Orientierung an einem zeitgenössischen Werk in einem benachbarten ›Gebiet‹ und schafft damit einen von literarischen Vorgängern unbesetzten Freiraum. Nicht thematisiert wird in diesem Zusammenhang die Verherrlichung des »preußischen Ruhmes«, die Gubitz als zentralen Aspekt von Rauchs Denkmal auffasste: Für Fontane ist das Zeitalter des Nationalepos vorbei. Dass dennoch der nationale Wettkampf in seinem Literaturverständnis eine Rolle spielt, zeigt seine 1855 veröffentlichte Besprechung von Gustav Freytags Roman Soll und Haben, in dem Fontane endlich »die erste Blüte des modernen Realismus« erblickt.387 Im Rahmen seiner Rezension geht er auf das Verhältnis zwischen Skulptur, Malerei und Dichtkunst ein, wobei er Deutschland in der Skulptur, Frankreich in der Malerei und England in der Dichtkunst die traditionellen Führungsrollen zuspricht: »So wurde die Regatta der drei Künste zugleich ein Wettkampf dreier Nationalitäten.«388 Nun jedoch sieht er es als gerechtfertigt, »auf allen Gebieten den Sieg für uns vorweg in Anspruch [zu] nehmen«.389 Grund ist die geistige Besonderheit der Deutschen: »Wessen der Realismus unserer Zeit bedarf, das ist die ideelle Durchdringung. Die Deutschen aber sind unbestritten das Volk der Idee.«390 Der Wettkampftopos bleibt auch zu einer Zeit, in der die deutsche Literatur den Anschluss an die anderen Nationalkulturen gefunden hatte, 385 Vgl. Fontane 1962–1997, Abt. 4, Bd. 1, S. 143 (Fontane an Bernhard von Lepel, 7.1.1851). Zu einem solchen möglichen biographischen Zusammenhang vgl. den Kommentar des Herausgebers, Fontane 1969, S. 805. 386 Fontane 1969, S. 241. 387 Fontane 1962–1997, [Abt. 3,] Bd. 1, S. 293 ([Rez.:] Gustav Freytag: Soll und Haben). Vgl. auch die Rezensionen dieses Romans von Karl Gutzkow, Robert Giseke und Hermann Marggraff, wiedergegeben in Bucher, Hahl u. a. 1981, Bd. 2, S. 324–328, 336–340 und 340–342. 388 Fontane 1962–1997, [Abt. 3,] Bd. 1, S. 293 ([Rez.:] Gustav Freytag). 389 Ebd. 390 Ebd.
7. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902)
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eine treibende Kraft. Etabliert ist die deutsche Literatur nun im Zeichen des Idealismus als Ausdruck eines Volkes der ›Dichter und Denker‹391.
7. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902) Hugo von Hofmannsthals Ein Brief 392 ist als poetologischer Text von gänzlich anderer Art als Fontanes Aufruf zum ›Realismus‹. Während Fontane sein Manifest in der Gegenwart verortet und sich direkt an die zeitgenössische Öffentlichkeit wendet, um ein gemeinsames Programm zu verkünden, situiert Hofmannsthal seinen als privaten Brief dargestellten Text in einer historischen Zeit, wählt ein von der eigenen Person durch Name, Ort und Zeit getrenntes ›Ich‹ und richtet das Schreiben an einen individuellen Adressaten, um höchst persönliche Gefühle und Erfahrungen mitzuteilen. Vermittelt wird in hochpoetischer Form eine anti-realistische Poetik, die nicht auf den Wirklichkeitsbezug der Worte vertraut, sondern eine Krise dieses Bezugs evoziert. In den Vordergrund rücken damit Fragen zur Beziehung zwischen Denken, Sprache und Dingen, die schon die Philosophen und Rhetoriker der Antike beschäftigten. Im Zentrum steht ein Ich, dass sich mittels Innerlichkeitsmetaphorik profiliert und im Zeitalter der ›Moderne‹ an die Poetik der Romantik anknüpft. Ein Brief entstand 1902 als Teil einer Reihe von »Erfundenen Gesprächen und Briefen«, in denen Hofmannsthal die Tradition des platonischen Dialogs fortführt und mit der Gattung des fiktiven Briefs verknüpft.393 Der Bezug zur Tradition ist dabei so wichtig wie das Neue: »Es hat immer imaginäre Briefe gegeben, aber wohl kaum etwas mit dem Brief des Lord Chandos Vergleichbares.«394 Die Wirkung auf die Nachwelt wurde enorm verstärkt durch die Rezeption des Werkes als autobiographisches Bekenntnis:395 Der Dichter Hugo von Hofmannsthal, der schon in jungen Jahren als virtuoser Sprachkünstler an die Öffentlichkeit getreten war, vermittelte am 391 Dass dieser Topos in jener Zeit mit dem Realismus in Zusammenhang gebracht wurde, zeigt Berthold Auerbachs Rezension zu »Die Leute von Seldwyla«, in der er den »Dichter und Denker Gottfried Keller« und seine gelungene Verwirklichung des »gesunden Realismus« feiert (Auerbach, B. 1981, S. 104 f.). 392 Hofmannsthal 1991. Zitiert wird nach der von Ellen Ritter besorgten Ausgabe im Rahmen der »Sämtlichen Werke«. 393 Das Werk wurde vermutlich im August 1902 verfasst. Es erschien am 18. und 19. Oktober in der Berliner Tageszeitung »Der Tag«. Zu den »Erfundenen Gesprächen und Briefen« vgl. Ritter 1991. Die Bezeichnung verwendete Hofmannsthal zuerst 1902 in einer Titelliste (Hofmannsthal 1995 ff., Bd. 31, S. 233). 394 Hofmannsthal 1983, S. 35. 395 Vgl. die zeitgenössischen Zeugnisse in Hofmannsthal 1991, S. 284–297.
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VI. Poetologische Momente
Anfang des neuen Jahrhunderts eine persönliche Krise der Sprache, die es ihm unmöglich machte, sich in seinem Medium zu artikulieren. Interpretieren ließ sich der Text als Krise des Subjekts, als Ende des Ästhetizismus, als Ende der herkömmlichen Dichtung – und als Anfang des Neuen, der Literatur der Moderne: Durs Grünbein zufolge hat Hofmannsthal »im Brief des Lord Chandos ein für allemal den Moment festgehalten, da die Worte wie Pilze im Mund zerfallen. Das war um die letzte Jahrhundertwende. Seither gehen die Dichter auf unsicherem Boden.«396 Ermöglicht wurde diese Rezeption durch die Rolle des Ich, einer Figur, die sich zeitlich und räumlich zwischen dem Ich des fiktiven Philipp Lord Chandos aus dem 16. Jahrhundert und dem Ich seines Verfassers im 20. Jahrhundert bewegt und sich zugleich als repräsentativ für den Dichter schlechthin lesen lässt. Die Metapher, die bei Nietzsche die »Wahrheit« in »menschliche Relationen« aufgelöst hatte,397 wird hier zum Mittel, die Beziehung zwischen Denken und Sprache aus der Perspektive des unmittelbar betroffenen Dichters zu erkunden. Die ›destabilisierende‹ Wirkung des Textes beruhte nicht zuletzt auf den eindringlichen Bildern, mit denen Hofmannsthal den Worten am Anfang eines neuen Jahrhunderts ›für immer‹ ihre Selbstverständlichkeit nahm. Im Zentrum des Werkes steht das feinnervige Ich eines Schriftstellers, der sich »wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung« entschuldigt.398 Der ›wiedergegebene‹ Brief ist das Antwortschreiben auf einen Brief von Francis Bacon, in dem jener das Ausbleiben von Büchern des Freundes beklagt und ihn auf nicht erfüllte literarische Pläne aufmerksam gemacht hatte.399 In den Vordergrund rückt damit die Rolle des Dichters in der Beziehung zu seiner Tätigkeit. Philipp Lord Chandos stellt sich in seiner Antwort dar als früh entwickelter Dichter, der schon mit neunzehn Jahren Schäferspiele verfasste und dem nun, als Sechsundzwanzigjährigem, »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen« ist, »über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«.400 Das Verfassen des Briefes an den Freund Bacon wird am Anfang und Ende eng mit der literarischen Tätigkeit verknüpft: Eingangs bringt Chandos das zweijährige briefliche »Stillschweigen«401 mit dem Versiegen der dichterischen Kraft in Zusammenhang, und 396 Grünbein 2001, S. 48. Die These, dass Hofmannsthal »einem Epochengefühl zum Ausdruck [verhalf ], das noch immer andauert«, motivierte im Jubiläumsjahr 2002 eine Sammlung von Autorenreaktionen unter dem Titel »›Lieber Lord Chandos‹. Antworten auf einen Brief« (Spahr, Spiegel u. a. 2002, S. 247) – wobei die Antworten allerdings weniger Identifikation mit den Ausführungen von Lord Chandos zur Sprache bringen als verschiedenartigste Formen der Distanz. 397 Nietzsche 1967 ff., Abt. 3, Bd. 2, S. 374 (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne). 398 Hofmannsthal 1991, S. 45. 399 Ebd., S. 46 und 54. 400 Ebd., S. 45–48, Zitat S. 48. 401 Ebd., S. 45.
7. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902)
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am Ende thematisiert er rückblickend die Wirkung von Bacons Brief auf ihn: »Ich fühlte in diesem Augenblick […], daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde«;402 sein Brief ist der »voraussichtlich letzte Brief«, den er an Bacon senden wird. Chandos endet seinen Brief mit dem Unfähigkeitstopos: Er wollte, es wäre ihm gegeben, die Dankbarkeit gegenüber Bacon auszudrücken, die er in seinem Herzen hegen wird, »bis der Tod es bersten macht«.403 Der Brief erhält damit die Bedeutung eines Testaments. Dieser Effekt im Rahmen der Fiktion verstärkt die Wirkung des Werks als literarisches »Manifest« des Autors Hofmannsthal: So bezeichnete es schon Gustav Landauer im Jahre 1903.404 Zugleich verdeutlicht die komplexe Verbindung zwischen Brief und Dichtung den Charakter des Textes in Bezug zur literarischen Tradition: Im Chandos-Brief entwickelt Hofmannsthal den rhetorischen Unfähigkeitstopos zum eigenständigen poetologischen Werk, das sich subtil zwischen authentischem Bekenntnis des Autors und Fiktion, zwischen ästhetischer Theorie und dichterischer Praxis bewegt. Die Rollenhaftigkeit des dichterischen Subjekts erhält im Text eine höchst komplexe Ausgestaltung, die in der literaturwissenschaftlichen Debatte um die Identität von Chandos ihre Entsprechung findet.405 Eingeführt wird das Ich in der dritten Person von einem anonymen Erzähler oder Herausgeber als »Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath«; Titel, Ort und der historische Adressat Francis Bacon situieren ihn fest in einer entfernten Zeit. Fluide und zur Gegenwart hin offen wird Chandos’ Identität durch die Tatsache, dass eine solche Person historisch nicht belegt ist. Auch in Bezug auf das Ich ergibt sich eine produktive Unbestimmtheit, wenn Chandos in seiner Antwort an Bacon die eigene, geistig fruchtbare Identität in verschiedene zeitliche Phasen der Produktion auflöst und hypothetisch von dem gegenwärtig schreibenden Ich ablöst: Kaum weiß ich, ob ich noch derselbe bin, an den Ihr kostbarer Brief sich wendet; bin denn ich’s, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen »neuen Paris«, jenen »Traum der Daphne«, jenes »Epithalamium« hinschrieb, diese unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnden Schäferspiele […]? Und bin ich’s wiederum, der mit dreiundzwanzig […] in sich jenes Gefüge lateinischer Perioden fand […]? Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen
402 403 404 405
Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Landauer 1903, S. 152. Zur literaturwissenschaftlichen Diskussion vgl. Schultz 1961, bes. S. 12 f., sowie Bomers 1991, S. 97–116, der selber die Möglichkeiten der Identität des fiktiven Philipp Lord Chandos um Shakespeare erweitert.
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VI. Poetologische Momente
Innern verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt […]?406
Als Möglichkeit dargestellt ist hier die Disintegration des Subjekts, das um die Jahrhundertwende zur Disposition steht. Das Ich sieht sich als Adressat, der wiederum in viele Ichs zerfällt. Zugleich jedoch deutet Chandos mittels der Behältermetapher eine kontinuierliche Entfaltung seiner Psyche an: Vom äußerlichen »Prunk« der Worte leitet er über zu den Perioden, die das Subjekt »in sich« entdeckt, und zu einer geistigen, als ›Gebärmutter‹ vorgestellten Produktivkraft, um die Entwicklung im gegenwärtigen »unbegreiflichen Innern« kulminieren zu lassen. Entsprechend negiert Chandos eine Disintegration seines Ich, indem er seine Fragen als rein rhetorische verwirft und darangeht, dem Freund im Detail sein »Inneres […] dar[zu]legen«.407 Das reich ausgestaltete Innenleben des romantischen Dichters wird auf diese Weise in die Moderne gerettet: Die Krise ist letztlich nicht eine Krise des Subjekts, sondern eine Krise der Begriffe, die Denken, Sprache und Dinge verbinden. Das im »unbegreiflichen Innern« konzentrierte Subjekt selbst wird so reich ausgestaltet, dass es zur intensiven Identifikation anregt – wobei nicht zuletzt darauf die enorme Wirkung des Textes zurückzuführen sein dürfte. Denn in Bezug auf das Ich bewegt sich der Leser hier durchaus auf bekanntem Boden: Indem Hofmannsthal implizit das »Innere« zum begrifflichen Denken in Gegensatz bringt, wird es als Bereich der schon bei Platon vom Denken getrennten Emotionen vorstellbar. Die Macht, die diese ›Innenwelt‹ auf den sensiblen Leser auszuüben vermag, zeigte sich bereits mit Goethes Werther. Die Tendenz schon der zeitgenössischen Rezipienten und dann auch der späteren Forschung, die »autobiographische Relevanz« und den »persönlichen Bekenntnischarakter« des Werkes vorauszusetzen,408 findet in Hofmannsthals eigenen Aussagen zugleich die Bestätigung und die Widerlegung. Dies lässt sich anhand seines Briefwechsels mit einem der ersten Rezipienten, Leopold von Andrian, verfolgen. Hofmannsthal schickte dem Freund die Schrift am 9. September 1902 mit den Worten, es sei die einzige, die er bis zu dem Zeitpunkt unter weiteren angekündigten habe fertigstellen können, sowie mit der folgenden Begründung: ich schicke Dir diese Arbeit […] weil gerade dieser Arbeit, die keine dichterische ist, das Persönliche stark anhaftet und Du sie zum Teil wirst lesen können, wie einen von mir geschriebenen Brief, den Du auf dem Schreibtisch einer dritten Person gefunden hättest. Mir ist nun einmal keine andere Art, mich auszusprechen gegeben, als die, deren Medium die Phantasie ist, und darum sehne ich mich ja ganz besonders nach dieser Production: um auch gegen die Menschen, mit denen ich mich innerlich so sehr, 406 Hofmannsthal 1991, S. 45 f. 407 Ebd., S. 46. 408 So resümierend Tarot 1970, S. 361.
7. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902)
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manchmal in abmüdender Weise, in endlosen inneren Gesprächen, beschäftige, nicht ganz stumm zu erscheinen.409
Hofmannsthal nutzt bezüglich seines fiktionalen Briefes die für die Gattung Brief spezifische Authentizität des ›Ich‹ und setzt diese in Spannung zum »Medium der Phantasie«, wobei es Andrian überlassen bleibt, das Ich des fiktionalen Briefs in Bezug auf Hofmannsthal zu situieren. Vielfältig sind die Signale, mit denen Hofmannsthal seinen Adressaten zur Identifikation von Chandos und sich selbst herausfordert: seine eigene Schreibkrise, die Negierung des ›Dichterischen‹ und somit offenbar des rein Fiktionalen, der Hinweis auf »das Persönliche«, die Möglichkeit, den Brief als einen von Hofmannsthal selbst geschriebenen zu lesen, die hypothetische Verankerung in der Realität Andrians (»den Du […] gefunden hättest«), die Darstellung von Hofmannsthals »innerlicher« Produktivität und äußerlicher, sprachlicher ›Stummheit‹. Andrian reagierte nur auf diese Signale und fasste das Werk als ausschließlich autobiographisch auf. Entsprechend kritisiert er die »dichterische Einkleidung, das Versetzen in die Englische Vergangenheit«: da Dir doch die Absicht, Dein Substrat auf eigentlich dichterische Art zu verwandeln, fern lag, wäre, so scheint es mir, ein schlichter Bericht das passendste und auch wirkungsvollste gewesen – und gerade da sichs um ein Selbstbekenntnis handelt, war mir der historische Flitter eher peinlich.410
Die Metaphern von der »Einkleidung« und der ›Verwandlung‹ des persönlichen »Substrats« verweisen auf einen künstlerischen Prozess, der das dichterische Werk grundsätzlich vom »Bericht« unterscheidet. Andrian liest das Werk als Erfahrungsbericht, der lediglich einen ›uneigentlichen‹, äußerlichen Prozess der »Einkleidung« und »Versetzung« durchgemacht hat, womit wiederum ein Bericht nicht angemessen dargestellt wäre. Ausgereizt waren damit die Möglichkeiten der Identifikation zwischen Chandos und Hofmannsthal, was diesen gegenüber Andrian wiederum zur Betonung der Trennung anregte. Hier nun bringt er die Genese des Textes ins Spiel: Du sagst, ich hätte mich zu diesen Geständnissen oder Reflexionen nicht einer historischen Maske bedienen, sondern sie direct vorbringen sollen. Ich ging aber wirklich vom entgegengesetzten Punkt aus. Ich blätterte im August öfter in den Essays von Bacon, fand die Intimität dieser Epoche reizvoll, träumte mich in die Art und Weise hinein wie diese Leute des XVIten Jahrhunderts die Antike empfanden, bekam Lust etwas in diesem Sprechton zu machen und der Gehalt, den ich um nicht kalt zu wirken, einem eigenen inneren Erlebnis, einer lebendigen Erfahrung entleihen mußte, kam dazu.411
409 Hofmannsthal 1991, S. 284 f. (Hofmannsthal an Leopold von Andrian, 9.9.1902). 410 Ebd., S. 288 f. (Von Andrian an Hofmannsthal, 18.11.1902). 411 Ebd., S. 290 (Hofmannsthal an von Andrian, 16.1.1903).
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VI. Poetologische Momente
Ein Tagebucheintrag bestätigt, dass Hofmannsthal im Sommer 1902 »die Essays von Bacon« las, »woraus dann der ›Brief des Lord Chandos’ entstand«.412 Die Genese des Textes lässt somit darauf schließen, dass die Beschäftigung mit der entfernten Zeit die briefliche Form und die Rolle des historischen ›Ich‹ nahelegte, dass Hofmannsthal jedoch zur Ausgestaltung des gefühlten Erlebnisses die eigene Erfahrung benutzte – mit dem spezifischen Zweck, das Dargestellte lebhaft ›warm‹ zu vermitteln und dadurch die emotionale Wirkung auf den Leser zu verstärken. Von der Produktion her rückt somit die rhetorische Technik der lebendigen Darstellung in den Vordergrund, und das Werk erscheint dann geradezu als Paradebeispiel für die Sinnfigur der subiectio sub oculos, des ›Unmittelbar-vor-Augen-Stellens‹, und ihre stilistische Entsprechung, die evidentia. Diese Figuren bieten »eine in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen, daß man […] glaubt, sie zu sehen«,413 und auf sie »folgen die Gefühlswirkungen so, als wären wir bei den Vorgängen selbst zugegen«.414 Empfohlen wird die evidentia besonders, um »Mitleid« zu erregen, wobei die Wirkung am stärksten ist, wenn der Dichter sich in die »Rolle« des Leidenden versetzt;415 dies macht den Übergang zum eigenen, innerlich gefühlten Erlebnis fließend, wie schon die Rhetoriker wussten.416 Der Einsatz des autobiographischen ›Leidens‹-Erlebnisses lässt sich somit als Ausdruck einer existenziellen Krise verstehen, der strategisch zur Erzeugung einer starken emotionalen Wirkung im Leser eingesetzt wird. Seine rhetorische Bildung zeigt Chandos insbesondere in der emotional eindrucksvollsten Szene des Textes: der Darstellung seiner Vision vom Todeskampf der Ratten, die er mit dem »brennenden Karthago« und mit der »Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius« in Zusammenhang bringt.417 Er bedient sich bei der Darstellung genau jener Elaborierung von anschaulichen Einzelheiten, die Quintilian in Bezug auf die evidentia empfiehlt, um das Berichtete »tief […] in unser Gefühl [eindringen]« zu lassen.418 Als Beispiel schildert Quin412 Rückblickender Tagebucheintrag vom 7.8.1903, ebd., S. 291. Es handelt sich bei dem gelesenen Werk um eine 1902 erschienene Ausgabe mit einer Auswahl von Bacons Werken, die noch in Hofmannsthals Bibliothek erhalten ist; vgl. ebd., S. 279, und Bacon 1902. Zu Hofmannsthals Bacon-Rezeption vgl. Schultz 1961. Vgl. auch die auf Schultz basierenden Verweise auf Bacon in den Anmerkungen der Herausgeberin (Hofmannsthal 1991, S. 297–300). 413 Quintilian 1995, Bd. II, S. 286 f. (IX, 2, 40). 414 Ebd., Bd. I, S. 710 f. (VI, 2, 32). 415 Ebd., S. 710–713 (VI, 2, 34–36). Vgl. auch das horazische »si vis me flere […]« (Horaz 1984, S. 10 f.; V. 102 f.). 416 Quintilian 1995, Bd. 1, S. 712 f. (VI, 2, 36). Vgl. dazu Carrdus 1993, unter Bezug auf Goethes Lyrik. 417 Hofmannsthal 1991, S. 51 und Anm., S. 299; er bezieht sich auf Livius I, 29. 418 Quintilian 1995, Bd. 2, S. 178 f. (VIII, 3, 67).
7. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (1902)
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tilian den »Jammer bei der Einnahme von Städten«; seine mitleiderregende Schilderung einer verzweifelten Mutter mag Chandos zur Vergegenwärtigung der Rattenmutter angeregt haben, »die ihre sterbenden Jungen um sich zucken hatte«.419 Wenn Chandos erklärt, es gehe ihm nicht um die Darstellung seines »Mitleids«, sondern um »viel mehr und viel weniger als Mitleid«,420 so sucht er eine intensivierte, mystisch angereicherte Form des »ungeheuren Anteilnehmens« zu vermitteln, das durch die Metapher des »Hinüberfließens in jene Geschöpfe« dem gewohnten, rational fassbaren Begriff des Mitleids – einer »begreiflichen menschlichen Gedankenverknüpfung« – enthoben wird und eine neue, unmittelbar gefühlte Aufmerksamkeit beansprucht.421 Thematisiert wird hier die Abgenutztheit eines etablierten Begriffs, der auf konventionelle mentale Verbindungen rekurriert, ohne einen Kontakt zum lebendigen, inneren Gefühl herzustellen; performativ dargestellt wird dagegen durch die Mittel der Sprache die Herstellung einer neuen Verbindung. Die Darstellung des lebendigen Gefühls wird zugleich zum wirksamsten Mittel, ein entsprechendes Gefühl im Leser hervorzurufen. Mit ähnlicher Anschaulichkeit vermittelt Hofmannsthal die Sprachkrise des Lord Chandos. Der Schilderung der Gefühle angesichts der Vision vom physischen Todeskampf der Ratten entspricht hier die Schilderung der Gefühle angesichts der Vision vom Zerfall der »abstrakten Worte«. Um diese Vision ›unmittelbar vor Augen zu stellen‹, bedarf es lebhaft wirkender Metaphern, die das Abstrakte unter Bezug auf physische Bilder vorstellbar und emotional wirksam machen.422 Wenn die Sprachkrise des Lord Chandos zum Inbegriff der Sprachkrise einer fortlaufend ›gegenwärtigen‹ Moderne wurde, so ist dies der vergegenwärtigenden Sprachkunst Hofmannsthals zu verdanken: die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. […] Es gelang mir nicht mehr, sie [die Menschen und ihre Handlungen] mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.423
419 420 421 422
Ebd. (VIII, 3, 67–69); Hofmannsthal 1991, S. 51. Hofmannsthal 1991, S. 51. Ebd. Zu dieser psychologischen Funktion von Metaphern und ihrer Nähe zur evidentia s. o., S. 149–151. 423 Hofmannsthal 1991, S. 48 f. Diese Stelle beeindruckte schon die Zeitgenossen; vgl. das ausführliche Zitat in Landauer 1903, S. 151.
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VI. Poetologische Momente
Das Ich wahrt eine kohärente Identität (»ich«, »mir«, »um mich«), die dem dargestellten Thema eine strukturierende Perspektive verleiht, lenkt jedoch durch seine emotionale Involvierung besondere Aufmerksamkeit auf das Thema; verschärft wird die Spannung durch die evozierte Gefährdung des Ich (»Wirbel, durch die hindurch man ins Leere kommt«). Das Thema der Sprache wird nicht »mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit« abgehandelt, sondern durch die Mittel der evidentia veranschaulicht: Dargestellt wird in ausführlichem Detail der gesamte rezeptive und produktive Kreislauf zwischen Außenwelt und Innenwelt: die Außenwelt (»die Menschen und ihre Handlungen«), deren gedankliche Verarbeitung (»die Menschen und ihre Handlungen erfassen«), die gedanklich-sprachliche Strukturgebung in Begriffen (»mit einem Begriff umspannen«), die artikulierbaren »Worte«, das Sprachorgan der »Zunge«, der »Mund« als körperlicher Übergangsbereich, der Bereich außerhalb des Mundes (»an den Tag geben«). Die rhetorische Technik der evidentia wird hier jedoch dermaßen wirkungsvoll angewandt, dass die Sprache ›vor den Augen‹ des Lord Chandos in ihre Bestandteile auseinanderfällt. Die Sprache, die zwischen Subjekt und Objekt vermitteln soll, gerät in den Sog des »Hinüberfließens« vom Subjekt ins Objekt, das Chandos in Bezug auf die Ratten erfährt. Chandos wird somit gewissermaßen zum Opfer seiner eigenen sprachlichen Virtuosität. Hofmannsthal stellt hier die Sprachkrise des Lord Chandos mittels einer ganzen Serie von Metaphern für die Sprache dar, durch welche die gewohnten Vorstellungen vom sprachlichen Prozess verfremdet und verlebendigt werden. Die traditionelle rhetorische Trennung des sprachlichen Vorgangs in res und verba wird graduell aufgelöst – wobei sich diese Auflösung durch die Perspektive des Sprechers besonders anschaulich verfolgen lässt. Die »Worte«, die der Sprecher gewöhnlich kontrolliert einsetzen kann, um ein »Urteil« abzugeben, erhalten durch die Kraft der Tropen ein Eigenleben, das dem Sprecher die Kontrolle über sie entzieht: Sie sind nicht mehr benutzbare ›Instrumente‹, sondern gleichen organischen »Pilzen«; sie fügen sich nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen und fungieren nicht mehr als »umspannende« ›Behälter‹, sondern »zerfallen« wie physische Objekte »in Teile«. Statt aus dem Sprecher ›herauszukommen‹, »schwimmen« sie »um« ihn; statt Wahrnehmungen zu vermitteln, werden die Worte in surrealistisch personifizierter Form selbst zu »Augen«, die den Sprecher »anstarren«; und schließlich werden sie zu »Wirbeln«, die das »ich« in ein »man« aufzulösen und in eine sinn- und substanzlose »Leere« zu ziehen drohen. Im Übergang von der Vergangenheit zur lebendigen Gegenwart, in der Steigerung vom Vergleich (»wie modrige Pilze«) zur Metapher (»Wirbel sind sie«) und in der zunehmenden Dynamik der Bilder verlieren res und verba ihre traditionellen Strukturen und verfließen zu Gebilden, die nur metaphorisch evoziert, nicht aber begrifflich definiert werden können. Die Sprache vermag nun weder die in der Rhetorik abgehandelte juristische Aufgabe der Urteils-
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sprechung zu erfüllen, noch auch die von der Philosophie erforderte Aufgabe der begrifflichen Vermittlung von Wahrheit und Erkenntnis zu übernehmen. Leopold von Andrians retrospektiver Ratschlag, ein »schlichter Bericht« wäre das »wirkungsvollste« gewesen, verkannte nicht nur die Absichten Hofmannsthals, sondern auch die Wirkungsmittel der Sprache. Denn gerade die Techniken der Veranschaulichung sind es, die dem Werk seine immense Wirkung verschafften. Wenn Hofmannsthal sich seiner eigenen Aussage zufolge in dem Text damit befasst, wie seine Protagonisten aus dem 16. Jahrhundert »die Antike empfanden«, so wird deutlich, dass er sich auf komplexeste Weise mit jenen Fragen zur Beziehung zwischen Dingen, Vorstellungen und Sprache auseinandersetzte, die in den Debatten um rhetorische und philosophische Sprachauffassungen im Zentrum standen und die besonders Nietzsche wieder in den Vordergrund gerückt hatte. Hofmannsthals Text situiert das zentrale Ich im Übergangsbereich zwischen Dichtung, Poetik, Sprachphilosophie und Rhetorik, wodurch es in einem für die Macht der Sprache empfänglichen Umfeld eine besondere Bedeutung und Anschlussfähigkeit entfalten konnte. Die virtuose Demonstration rhetorischer Technik in dem Werk ist insofern bedeutsam, als gerade die ambivalente Bedeutung der Rhetorik die Perspektiven von Chandos und Hofmannsthal auseinandertreten lässt. In Chandos spielt Hofmannsthal die Konsequenzen durch, die sich für den Dichter aus der Absage an die Rhetorik ergeben; er selber dagegen schreibt mit der Rhetorik weiter – man denke an die Öffentlichkeitswirksamkeit von Jedermann. Es ist somit ein bekanntes Muster, das Hofmannsthal hier abwandelt, wenn er seinen Protagonisten ins Verderben schickt, während er selber erfolgreich fortlebt: Goethe und Werther, Thomas Mann und Aschenbach – die Liste ließe sich verlängern. Chandos artikuliert gleich zu Anfang seine Entfremdung vom »Prunk« der »Worte« in seinem Frühwerk424 und geht von den rhetorischen Fragen zur Vielfalt seiner Ichs in eine allgemeine Kritik an der Rhetorik über. Die Rhetorik besetzt dabei den Gegenpol zu seiner Absicht, Bacon sein »Inneres […] dar[zu]legen«: Allein ich bin es ja doch und es ist Rhetorik in diesen Fragen, Rhetorik, die gut ist für Frauen oder für das Haus der Gemeinen, deren von unserer Zeit so überschätzte Machtmittel aber nicht hinreichen, ins Innere der Dinge zu dringen. Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.425
424 Hofmannsthal 1991, S. 45. 425 Ebd., S. 46.
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Chandos bezieht sich hier auf Platons Gorgias-Dialog, in dem Sokrates die Redekunst mit der Kochkunst und mit der Kosmetik und Bekleidungskunst vergleicht, um sie von genuinen Künsten als minderwertige »Übung und Fertigkeit« zu unterscheiden.426 In Gegensatz zu Rhetorikern, welche die Tugenden ihrer Kunst mit Männlichkeit427 und mit den größten Staatsmännern assoziieren, diskreditiert Chandos die Rhetorik durch die Assoziation mit dem schwachen Geschlecht und mit dem House of Commons. Indem er das Unvermögen der nur öffentlich wirksamen Rhetorik betont, »ins Innere der Dinge zu dringen«, lässt Chandos den antiken Gegensatz zur Philosophie sowie auch die Spannung zur naturwissenschaftlichen Erforschung der Dinge aufbrechen. Sein neuer Geisteszustand ist dadurch gekennzeichnet, dass er ganz in Einklang mit platonischen Prämissen nun das »Scheinhafte« der Welt erkennt.428 Er strebt jedoch nicht nach einer rational erfassbaren Wahrheit – die Welt der »Begriffe« hat sich ihm ›entzogen‹429 –, sondern sucht »ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein«, das erst zugänglich würde, »wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken«.430 Der antike Gegensatz zwischen Rhetorik und Philosophie ist hier – utopisch – transzendiert. Indem Chandos das Innere der Dinge in das eigene »Innere« überführt, verwandelt sich die Antike-Rezeption des 16. Jahrhunderts in romantische Poetik; die Assoziation des romantischen Typus mit dem geistig Kranken erinnert an die Diskreditierung dieses Typus bei Horaz und Goethe. Ein Übergang zur romantischen Poetik findet sich bereits eingangs, wenn Chandos auf Bacons Rat antwortet, er bedürfe der Medizin, »um meinen Sinn für den Zustand meines Innern zu schärfen«.431 Abgewandelt ist hier ein Zitat von Bacon, bei dem es lediglich heißt, Medizin sei notwendig, »to awake the sense«.432 Die Veränderung, die in Chandos vorgegangen ist, bezeichnen Natur- und Behältermetaphern, die auf den Kontrast zwischen goethescher Klassik und der Romantik im Zeichen von Novalis hinweisen: Seine vorherige Existenz bezeichnet Chandos mit den Worten, »in aller Natur fühlte ich mich selber«, wobei er die »geistige und körperliche Welt« 426 Platon 1994, S. 364 (Gorgias; 463b). Schultz (1961, S. 11) verweist auf ein Zitat dieses Vergleichs bei Bacon (s. a. Hofmannsthal 1991, S. 297); allerdings handelt es sich dabei um ein Werk, das nicht in der nachweislich von Hofmannsthal benutzten Ausgabe enthalten ist (Schultz bezieht sich auf eine 1860 ff. publizierte Ausgabe von Bacons Werken). Der Vergleich ist ohnehin topisch, so dass hier ein Bezug zu Bacon nicht schlüssig ist, wenn auch die Thematisierung der Rhetorik in dieser Form durchaus auf die Zeit Bacons verweisen könnte. 427 Vgl. beispielsweise die Geschlechtsmetaphorik in Quintilian 1995, Bd. 2, S. 152 f. (VIII, 3, 6). 428 Hofmannsthal 1991, S. 48. 429 Ebd. 430 Ebd., S. 52. 431 Ebd., S. 45. 432 Zu Quelle und Nachweis vgl. ebd., S. 297; Bacon 1902, S. 391.
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als »große Einheit« empfand;433 sein jetziger Zustand führt dagegen »irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens«.434 Bezeichnet ist damit ein mystisch-romantischer Ort, der an »des Vaters Schooß« erinnert, in dem das Ich der Hymnen an die Nacht seine Erfüllung findet.435 Der Chandos-Brief bietet jedoch eine wiederum andere Perspektive, denn im Vordergrund steht die Unmöglichkeit des Schreibens aus dem ›Innenraum‹ heraus. Chandos erfährt die Beziehung zwischen Sprache und Denken als nicht zu überwindende Grenze: Nur in diesem einen Brief will er sich dem Freund »ganz aufschließen«; und am Ende konstatiert er, er habe den Zustand geschildert, »der gewöhnlich in mir verschlossen bleibt«.436 Diese Grenze ist es, die zum »brückenlosen Abgrund« geworden ist, der ihn von seiner vorherigen und künftigen literarischen Betätigung »trennt«. Chandos fügt sich in die lange Tradition derer, die das Ungenügen an den natürlichen Sprachen dazu treibt, eine davon grundsätzlich unterschiedene, vollkommene Sprache zu suchen:437 die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, [ist] weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische […], sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.438
Die unscheinbare Präposition »in« ist bedeutsam: Es wäre dies eine Sprache, in welcher der Dichter zu Hause wäre, in der er (vielleicht) schreiben, denken und sich moralisch verantworten könnte. Diese Sprache jedoch ist nicht von dieser Welt. Dies macht sie gegen eine zeitliche Festlegung resistent; und für den modernen Dichter so utopisch wie für seine Vorgänger. Er bleibt angewiesen auf die Möglichkeiten und Grenzen der natürlichen Sprache. In Gegensatz zu seinem Protagonisten Philipp Lord Chandos fährt Hofmannsthal fort, in seiner eigenen natürlichen Sprache literarische Werke zu verfassen. Ein Brief verarbeitet literarisch wirksam offenbar eigenste Erfahrungen mit dem Schreiben. Charakteristisch ist für Hofmannsthal jedoch nicht die radikale Lösung, sondern die sprachlich komplexe Auslotung von Möglichkeiten – insbesondere Möglichkeiten der Sprache. Darin weist er voraus auf die differenzierte, philosophische und rhetorische Ansätze aufgreifende Auseinandersetzung mit Sprache, die gerade österreichische Poetiken des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Hofmannsthal bietet 433 Hofmannsthal 1991, S. 47. 434 Ebd., S. 54. 435 Novalis 1975 ff., Bd. 1, S. 157 (Hymnen an die Nacht, Athenaeumsdruck, 6. Hymne, V. 60). 436 Hofmannsthal 1991, S. 45 und 54. 437 Vgl. Eco 2002. 438 Hofmannsthal 1991, S. 54.
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in höchster Konzentration eine Auseinandersetzung mit den Grenzen und Übergängen zwischen Dingen, Vorstellungen und Sprache, die schon Platon und Aristoteles beschäftigten und die seitdem aus den verschiedensten Perspektiven erkundet worden sind. Insofern hat das Werk Teil an einer Diskussion, die so alt ist wie die Poetik selbst. Neu – wenn auch erinnernd an Goethes Tasso, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen oder Büchners Lenz – war die emotionale Eindringlichkeit, mit der diese Beziehung als existenzielles Problem des Dichters dargestellt wurde: Seit dem ChandosBrief verstehen Dichter »das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding« als »schwer erschüttert«.439 Um die Produktivität dieser Erschütterung zu erfassen, ist es jedoch notwendig, die enorme Spannweite der Möglichkeiten zu berücksichtigen, die das Werk zwischen der Perspektive des literarisch verstummten Lord Chandos und der Perspektive des weiterhin sprachmächtigen Hofmannsthal eröffnet. Dass Ein Brief nicht als Manifest konzipiert war, legt ein Brief an Fritz Mauthner nahe, in dem sich Hofmannsthal zu seiner eigenen Entdeckung äußert, dass sein Werk Gemeinsamkeiten mit »Gedankengängen« bei Novalis sowie mit Mauthners Sprachkritik aufweise.440 Er bezieht sich hier auf den »merkwürdigen ›Monolog‹ von Novalis« und erklärt, »daß ich mir gar nicht bewußt war, in dem ›Brief‹ in diese alten Gedankengänge hineingekommen zu sein – er ist von einem andern Standpunkt aus geschrieben«.441 Den Text charakterisiert jedoch offenbar selbst hinsichtlich der »bewußten« Produktion gerade die Vermittlung zwischen den »Standpunkten« im 16. und 20. Jahrhundert. Dass diese Variabilität auch für Hofmannsthals Beziehung zur Sprache kennzeichnend ist, zeigt eine Bemerkung, mit der er auf Mauthners Metapherntheorie eingeht. Deutlich wird hier, dass dem Sprachkrisen-Bewusstsein Hofmannsthals eine ebenso starke ›Sprachbegeisterung‹442 gegenübersteht: »Meine Gedanken sind früh ähnliche Wege gegangen, vom Metaphorischen der Sprache manchmal mehr entzückt, manchmal mehr beängstigt.«443 Ein Brief zeugt von der Ambivalenz der »Wege« des Dichters durch die Bezüge zwischen Sprache und Denken.
439 Bachmann 1978, S. 188 (Frankfurter Vorlesungen I: Fragen und Scheinfragen). Bachmann leitet hier ein langes Zitat aus dem Chandos-Brief ein. 440 In dem Brief bezieht sich Hofmannsthal auf Mauthners Band »Zur Sprache und Psychologie« (Mauthner 1901). 441 Hofmannsthal 1991, S. 286 (Hofmannsthal an Mauthner, 3.11.1902). Vgl. Novalis 1975 ff., Bd. 2, S. 672 f. Zum Novalis-Bezug vgl. Wilke 2002, der auch die ältere Forschung zu dem Thema anführt (vgl. ebd., S. 249, Anm. 249). 442 Vgl. Novalis 1975 ff., Bd. 2, S. 673 (Monolog). 443 Hofmannsthal 1991, S. 286 (Hofmannsthal an Mauthner, 3.11.1902).
8. Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (1951)
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8. Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Kulturkritik und Gesellschaft, 1951) 1951, sechs Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, veröffentlichte Theodor W. Adorno im Kontext seines 1949 geschriebenen Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft einen Satz, der die seit Platon diskutierte Frage der Legitimität der Poesie aufgriff und unter konkretem Bezug auf die unmittelbar zurückliegende deutsche Geschichte verneinte: Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.444
Adorno setzt in seinem Diktum drei Metaphernkomplexe ein, die zum fundamentalen Bestand der deutschen Poetik gehören: das (hier vertikal ausgeprägte) Wegschema (»Stufe«), den binären Topos ›Feder‹ und ›Schwert‹ (»Gedicht«, »Auschwitz«) und den ebenfalls binären Topos »Kultur« und »Barbarei«. Die provokative Wirkung der Metaphern in diesem Kontext beruht auf ihrem konkreten Bezug zur Wirklichkeit »Auschwitz«. Der Ortsname verweist metonymisch auf den an diesem und anderen Orten vollzogenen »fabrikmäßigen Massenmord der Nazis an Juden und anderen ausgegrenzten und wehrlosen Opfern«.445 Bezeichnet war mit Adornos Nennung dieses Namens ein ›Erinnerungsraum‹, der auf eine so überwältigende Weise Leiden und Schuld vermittelte, dass er mit seiner moralischen Bedeutung jegliche ästhetische Legitimation des Dichtens außer Kraft setzte. Adornos Satz brachte insbesondere die Lyriker, darüber hinaus aber auch Schriftsteller in anderen Gattungen sowie Kunstschaffende allgemein in einen Legitimationszwang, der – konzentriert in der nunmehr zum Topos gewordenen Formel ›Auschwitz‹ – noch die poetologischen Debatten zum Zeitpunkt der neuerlichen politischen und zugleich kulturgeschichtlichen ›Wende‹ um 1989/1990 bestimmte. Vorausgesetzt ist in Adornos Satz die traditionsträchtige, von Platon bis Marx ausgestaltete Vorstellung von einem graduell nach oben führenden ›Weg‹, auf dem die als personifiziertes Kollektiv verstandene Menschheit in der Zeit ›fortschreitend‹ zu einem Ziel hin ›aufsteigt‹. In der deutschen Poe444 Adorno 1977, S. 30. Der Aufsatz wird zitiert nach der von Rolf Tiedemann besorgten Ausgabe im Rahmen der »Gesammelten Schriften«. Dieser Aufsatz sowie weitere Schriften, in denen Adorno auf die Thematik Bezug nimmt, sind mit einer breit angelegten Dokumentation von Reaktionen auf Adornos Satz zusammengestellt in Kiedaisch 1995a. S. a. die kritische Stellungnahme von Lamping (1996). 445 Assmann, A. 1999, S. 329. Zur Bedeutung von Auschwitz als Ort und als »Metapher für ein ›Jahrhundert der Barbarei‹ (J. Améry)« vgl. Reichel 2002 (Zitat S. 621).
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tik und Literaturgeschichtsschreibung ist der ›Weg‹ die zentrale Metapher für die diachronische Strukturierung der Literatur und erscheint als ›Fortschritt‹, als ›Verspätung‹, als ›Sonderweg‹ oder auch in Form von Diskontinuitäten. Insofern ist Adornos Einsatz der Wegmetapher durchaus nicht ungewöhnlich, zumal gerade im Kontext der Nachkriegszeit der ›Bruch‹ in der Zeit ein gängiger, in vielen Variationen ausgestalteter Topos ist.446 So erklärt Alfred Andersch 1959 in einer Rede, Deutschland habe im Jahre 1933 beschlossen, »die Literatur zu beenden«; es habe »seine gesamte Literatur […] in die Emigration geschickt« und während der Nazizeit »unter der Bedingung der totalen Abwesenheit von Literatur [gelebt]«.447 Ihm zufolge bezeichnet Adornos Satz daher die »Absurdität«, »eine Literatur nach dem Ende der Literatur zu schaffen«.448 Anderschs eigene Metaphern haben jedoch letztlich das Ziel, durch den solchermaßen kreierten ›Bruch‹ eine legitime Basis für die Nachkriegsliteratur zu schaffen, indem sie eine absolute Trennung zwischen Nationalsozialismus und ›(echter) deutscher Literatur‹ signalisieren. Die metonymische Gleichsetzung der Emigranten mit der »gesamten (deutschen) Literatur« sowie auch die Metapher von der »Abwesenheit« der Literatur grenzen das während der Nazizeit in Deutschland Geschriebene aus der ›deutschen Literatur‹ aus und bewahren diese vor der politisch-moralischen Kontaminierung. Entsprechend eröffnet die Metapher von der ›Beendung‹ der Literatur in Deutschland die Möglichkeit eines vom ›Alten‹ völlig unabhängigen Neuanfangs. Unsichtbar werden auf diese Weise sowohl die literarischen Kontinuitäten innerhalb Deutschlands über die politischen Zäsuren hinweg als auch die literarischen und poetologischen Verbindungen zwischen Schriftstellern in Deutschland und im Exil.449 Ermöglicht wird dadurch eine ganz neue Literatur, so wenn Wolfgang Weyrauch in einer räumlichen Variante die »gegenwärtige deutsche Prosa« zunächst »in einem verschlungenen und finsteren Dickicht« verortet, um sie dann mit der Metapher vom »Kahlschlag« »in Sprache, Substanz und Konzeption von vorn an[fangen]« zu lassen.450 Andersch und Weyrauch schreiben als Dichter, denen es darum geht, den ›Weg‹ der deutschen Literatur fortzusetzen. Adorno schreibt als Philosoph und setzt dem Weg ein absolutes Ende. Der von Adorno konstatierte Bruch in der literarischen Zeit ist nicht nur deshalb von einer ungewöhnlichen Radikalität, als er ihn absolut setzt, sondern auch insofern, als er ihn mit einem wirklichen Ereignis identifiziert: Erzeugt wird der Bruch nicht durch ein literarisches, sondern durch 446 Vgl. die Zusammenstellung von Texten zur »Stunde Null in der deutschen Literatur« von Schröder, Bonath u. a. 1995. 447 Andersch 1995, S. 77. 448 Ebd. 449 Vgl. zu diesem Komplex Schäfer 1981; Ketelsen 1990b; Elliott 2003. 450 Weyrauch 1949, S. 210 und 214.
8. Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (1951)
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ein politisches Ereignis – mit »Auschwitz« tritt die politische Geschichte in die literarische Geschichte ein und eliminiert sie. Adorno widerlegt damit die aristotelische Legitimation der Dichtung, die auf der Trennung von geschichtlicher Wirklichkeit und literarischer Wahrscheinlichkeit beruhte. Vor allem attackiert er die idealistische Tradition der Autonomieästhetik, welche die Kunst von ihren gesellschaftlich-moralischen Bindungen zu befreien sucht: kein authentisches Kunstwerk und keine wahre Philosophie hat ihrem Sinn nach je sich in sich selbst, ihrem Ansichsein erschöpft. Stets standen sie in Relation zu dem realen Lebensprozeß der Gesellschaft, von dem sie sich schieden.451
Fortgeführt wird hier eine Debatte um die authentische Tradition der Philosophie, die bis ins 18. Jahrhundert auch an der deutschen Poetik teilhatte.452 Indem Adorno jedoch das insubstantielle »Gedicht« zu der Greueltat »Auschwitz« in Relation setzt, kommt er zu einem Resultat, das dem platonischen Ausschluss der Dichtung entspricht, nur dass sie hier nicht aus einem abstrakten Philosophenstaat ausgegrenzt wird, sondern aus dem wirklichen »Lebensprozeß der Gesellschaft«. Auch mit dem ›Feder-und-Schwert‹-Topos greift Adorno einen in der deutschen Poetik fest verankerten Metaphernkomplex auf, um ihn radikal gegen die Dichtung zu wenden. Denn traditionell dient der Topos zur Legitimation der Dichtung, wenn »des Helden Degen« und »des Dichters Feder« sich gleichwertig gegenüberstehen, wenn sie in Wettstreit treten oder sich gemeinsam in eine ruhmreiche Zukunft einschreiben.453 Adorno zerstört das Gleichgewicht sowie auch die produktive Verbindung, indem er die Literatur auf ihre kleinste Form reduziert und die Heldentat zu einem ungeheuerlichen Kriegsverbrechen macht, das nicht die dichterische Rühmung inspiriert, sondern einzig die moralische Verurteilung fordert. Adorno verknüpft diesen binären Topos auf komplexe Weise mit dem topischen Gegensatz zwischen ›Kultur‹ und ›Barbarei‹.454 Das »Gedicht« verkörpert (Schreib-)»Kultur«, und »Auschwitz« verkörpert die »Barbarei«; diese evidente Verbindung wird allerdings durch die Identifikation des ›Gedichteschreibens‹ mit dem ›Barbarischen‹ gebrochen. Zudem wird die traditionell vorausgesetzte diachronische Abfolge von Barbarei zu Kultur in einen komplexeren Prozess der »Dialektik« überführt und dann verkehrt: Das vor Auschwitz mögliche Gedicht wird »nach Auschwitz […] unmöglich«. Der Effekt des Topos beruht zudem auf Grenzziehungen und Verknüpfungen, die sowohl den Begriff ›Kultur‹ als auch den Begriff ›Barbarei‹ unter Bezug 451 Adorno 1977, S. 16. 452 Vgl. Hilliard 1987, bes. S. 68 f. S. o., S. 75 f. 453 Klopstock 1974 ff., Werke 2: Epigramme, S. 36 (Die Orakelsprüche). Zu dem Topos s. o., S. 22, 349 und 508 f. 454 S.o., Kap. V/7.
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auf biblische Topoi ethisch aufladen. Durch eine diachronische Eingrenzung der Kultur gewinnt Adorno die notwendige Distanz, um dem »Kulturkritiker« überlegen zu sein, der »doch notwendig vom gleichen Wesen [ist] wie das, worüber er erhaben sich dünkt«.455 Deutlich wird dies in seiner Bestimmung des ›Ursprungs‹ der Kultur: Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich der Kultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomie des Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kultur selber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht.456
Der Vergleich mit der »Erbsünde« macht eine ›paradiesische‹ Zeit vorstellbar, in der diese Trennung noch nicht bestand; impliziert ist – am Ende des dialektischen Prozesses – eine Wiederherstellung der ›vorkulturellen‹ Einheit. In der Ausführung dieses Ziels schränkt Adorno den Kulturbegriff zudem durch die Assoziation mit ›Unfreiheit‹ ein und diskreditiert ihn, indem er den synonymen Begriff der ›Zivilisation‹ mit dem Gegensatzbegriff der ›Barbarei‹ koppelt und der Kultur damit ihre ›Fortschrittlichkeit‹ nimmt: Wäre die Menschheit der Fülle der Güter mächtig, so schüttelte sie die Fesseln jener zivilisierten Barbarei ab, welche die Kulturkritiker dem fortgeschrittenen Stand des Geistes anstatt dem zurückgebliebenen der Verhältnisse aufs Konto schreiben. Die ewigen Werte, auf welche die Kulturkritik deutet, spiegeln das perennierende Unheil. Der Kulturkritiker nährt sich von der mythischen Verstocktheit der Kultur.457
Der dialektische Kritiker ist deshalb dem Kulturkritiker überlegen, weil er aufgrund seiner Möglichkeit der Distanz zur Kultur an der Wahrheit teilhat. Adorno überträgt hier ein christliches Muster auf die Kulturkritik, indem er diese samt der Kultur in der beschränkten, sündhaften, vom Materialismus beherrschten menschlichen Welt situiert. Er selber projiziert sich als Prophet, der die ›Verstocktheit‹ der Menschen anprangert,458 um sie zur Einsicht in die wirklichen ewigen Werte zu bewegen – das utopische ›Heil‹. Das ›Gedicht‹ vermag zur Erfüllung der Vision von einer »Menschheit«, die »der Fülle der Güter mächtig« ist, nichts beizutragen und wird daher dem Sog der »Dialektik von Kultur und Barbarei« überantwortet. In seinem virulenten Angriff auf die bürgerliche Kultur kombiniert Adorno etablierte Topoi, die traditionell zur Legitimation der Dichtung benutzt werden, um der Dichtung ihr Recht auf Sprache zu nehmen. Als sprachlicher Akt bleibt allein das ›Sprechen‹ der personifizierten »Erkenntnis«, das sich darin erschöpft, dem »Gedicht« seine Legitimation abzusprechen. Adornos Aussage über das Gedicht erscheint unvermittelt am Ende seines Aufsatzes. Es steht für die Kultur in ihrer extremsten Form der 455 456 457 458
Adorno 1977, S. 11. Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Vgl. z. B. 1Sam. 6, 6; Jer. 5, 6; Hes. 2, 4.
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»selbstgenügsamen Kontemplation«459 – vorausgesetzt wird also letztlich eine Literaturvorstellung, die von genau jener Autonomieästhetik bestimmt ist, die Adorno anprangert. Nichts bereitet auf die Erwähnung des Gedichts an dieser Stelle vor, und dies dürfte entscheidend zur Wirkung des Satzes beigetragen haben: Durch die mangelnde Verbindung mit dem Kontext wurde er isolierbar, und der strategische Einsatz des Wortes »Auschwitz« verschaffte ihm eine Durchschlagskraft, die ihn zum Brennpunkt der Nachkriegspoetik machte. Indem Adorno die Unmöglichkeit des Schreibens thematisiert, bezieht er sich auf einen Topos, der in Hofmannsthals Chandos-Brief im Zentrum steht. Sowohl der Wert dieser Unmöglichkeit als auch der Bruch, der damit markiert wird, ist jedoch von grundlegend anderer Art als im Falle Hofmannsthals, wobei der Kontrast die unterschiedlichen poetologischen Konstellationen der zwei Hälften des 20. Jahrhunderts verdeutlicht. Während um die Jahrhundertwende das komplexe dichtende Subjekt in seiner Beziehung zu Welt und Sprache in den Vordergrund rückt, spricht nach 1945 die moralische Instanz von philosophisch-kulturkritischer Warte aus ihr ›Urteil‹ über die Dichtung als Teilnehmerin am »realen Lebensprozeß der Gesellschaft«. Der ›Kunstrichter‹, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Grabe getragen worden war, ersteht bei Adorno neu, nun in Form eines moralischen Richters, der die Literatur von ›außen‹ be- und verurteilt. Während Hofmannsthals Dichter sich der eigenen Erkenntnis von der Ohnmacht der Sprache ausgesetzt sieht und dies als ›innere‹ »Anfechtung« begreift, die sich in seiner Psyche »wie ein um sich fressender Rost« ausbreitet,460 personifiziert Adorno die eigene »Erkenntnis«, um ihr eine unabhängige, objektive Autorität zu verleihen: Sie »spricht« etwas »aus«, ohne dass dahinter das Ich des Autors sichtbar wäre. Indem er die Unmöglichkeit des Schreibens von Gedichten als Tatsache voraussetzt und der »Erkenntnis« die Konstatierung dieser Unmöglichkeit in den Mund legt, blendet er die subjektive Perspektive aus, um die eigene Autorität absolut zu setzen. »Angefressen« wird auch die von Adorno projizierte Erkenntnis, aber die ›fressende‹ Kraft ist dargestellt als Teil eines objektiven, außerhalb des Subjekts sich vollziehenden Prozesses. Für Adornos Aufsatz ist wie bei Hofmannsthal ein unbestimmter ›Standpunkt‹ kennzeichnend, nun jedoch nicht als poetologische Strategie, sondern als kulturphilosophisches Programm: »Der dialektische Kritiker an der Kultur muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt er der Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren.«461 Von diesem Grundsatz her lässt sich sein Diktum als »These« deuten, die »ganz im Sinne dialektischen Denkens wirklich nur als ›Satz‹ gemeint war, als provozierende 459 Adorno 1977, S. 30. 460 Hofmannsthal 1991, S. 49. 461 Adorno 1977, S. 29.
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Denkanregung und nicht als Verbot«.462 Adorno selber entzog sich in diesem Aufsatz wie auch in späteren Äußerungen einer eindeutigen persönlichen Stellungnahme, wie Petra Kiedaisch zusammenfassend konstatiert: Durch die Jahrzehnte hindurch bleiben die Thesen Adornos, seine Korrekturen eingeschlossen, im unaufgelösten Widerspruch. Sie sind Ausdruck einer negativdialektischen Denkbewegung zwischen der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Kunst nach Auschwitz.463
Adornos Strategie wäre dann vereinbar mit dem Bestreben auch anderer Schriftsteller nach 1945, eine kontinuierliche Arbeit an der Vergangenheit herauszufordern und die Möglichkeit einer endgültigen ›Vergangenheitsbewältigung‹ auszuschließen. Zudem vermeidet Adorno auf diese Weise jegliche Identifikation mit dem »Kulturkritiker«464 des bürgerlichen Typus, um dessen Diskreditierung es ihm in Kulturkritik und Gesellschaft vorrangig geht. Die These, es handle sich bei Adornos Satz »nur« um eine »provozierende Denkanregung«, ist jedoch insofern unbefriedigend, als der Aufsatz selbst dem Gedicht keinen Ausweg bietet. »Auschwitz« steht für die Ermordung eines Volkes, eine barbarische Tat von unermesslicher Brutalität; ihr hat Adorno zufolge das Schreiben eines Gedichts als Manifestation der Kultur nichts entgegenzusetzen. Eine Zeit, in der für das Gedicht die Periode »nach Auschwitz« beendet wäre, ist dementsprechend nicht vorgesehen. Das vorausgesetzte Faktum, es sei »unmöglich, heute Gedichte zu schreiben«, läßt sich nicht als physische Tatsache begreifen, da ja das Schreiben von Gedichten 1945 nicht abbrach; auch eine psychologische Interpretation als subjektives Unvermögen ist damit ausgeschlossen, zumal das Subjekt ohnehin ausgeblendet ist. Im Kontext von »Auschwitz« lässt sich der Satz daher nur moralisch auffassen: »Unmöglich« ist dann mit »moralisch nicht legitim« gleichzusetzen. Dies deutet darauf hin, dass Adorno eine Tradition der moralischen Kunstkritik fortführt, die auf Platon zurückweist und im deutschen Kontext vor allem von christlicher Warte aus propagiert wurde. Sein Diktum ist dann keineswegs nur eine mögliche These, die zum Widerspruch herausfordert, sondern scheint eher in seiner Überzeugung vom »Moment der Objektivität von Wahrheit« zu gründen, »ohne das Dialektik nicht vorgestellt werden kann«.465 Die Forderung nach »Gerechtigkeit« gegenüber »der Sache und sich selber« ist somit als moralischer Anspruch zu verstehen, der eine für diese absolute Gerechtigkeit einstehende Instanz voraussetzt. Entsprechend geißelt er ein »topologisches Denken, das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist«, und vergleicht es »dem paranoischen Wahnsystem, dem die Erfahrung des 462 463 464 465
Kiedaisch 1995b, S. 15. Ebd., S. 16. Adorno 1977, S. 11–13 und passim. Ebd., S. 23.
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Objekts abgeschnitten ward«.466 Widerlegt ist damit der von Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne geltend gemachte Relativismus. Adorno überbietet dessen topologische Argumentationsführung durch den überzeugenden Gestus des moralischen Richters. In keiner späteren Aussage zu seinem kontroversen Diktum nahm Adorno dem Wort »Auschwitz« die Macht, das Gedicht mit seiner erschlagenden Wirklichkeitskraft mundtot zu machen. Die Bedeutung von Adornos Satz für die deutsche Poetik erwuchs weniger aus differenzierten Bezugnahmen auf Adornos dialektische Argumentationsführung als aus der Wirkung, die der Satz in isolierter und häufig vereinfachter Form zeitigte; beispielsweise ›sagte‹ Adorno Heinrich Böll zufolge: »Man kann nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben.«467 Die breite Rezeption von Adornos Satz setzte erst mit einiger Verspätung 1959 ein, als Hans Magnus Enzensberger es sich in seinem Aufsatz Steine der Freiheit zur Aufgabe machte, das Diktum zu »widerlegen«.468 Dieser Aufsatz bereitete den Grund für die weitere Auseinandersetzung mit dem Diktum, denn Enzensberger überführte es nun in den Kontext der Literatur. Einerseits akzeptierte er den moralischen Maßstab als allein gültigen, andererseits nahm er dem Satz die Absolutheit der Aussage, indem er ihn als »Urteil« interpretierte, das die Möglichkeit der Sühne bietet – und zwar die Sühne durch das Gedicht selbst: Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. Wenn wir weiterleben wollen, muß dieser Satz widerlegt werden. Wenige vermögen es. Zu ihnen gehört Nelly Sachs. Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache. Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. Den Henkern und allem, was uns zu ihren Mitwissern und Helfershelfern macht, wird nicht verziehen und nicht gedroht. Ihnen gilt kein Fluch und keine Rache. Es gibt keine Sprache für sie. Die Gedichte sprechen von dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern. Das macht ihre rätselhafte Reinheit aus. Das macht sie unangreifbar. Wer aber hätte das Recht und die Kraft zu einem solchen Schweigen, der nicht selbst ein Opfer wäre?469
Zu verfolgen ist hier die Aufwertung des Kunstrichtertopos und seine Ausgestaltung zu einem metaphorischen Szenarium. Dem Anspruch Adornos gemäß wird sein »Urteil« nicht nur als das Urteil eines kunstverständigen Literaten über ein spezifisches Werk aufgefasst, sondern als maßgebliches Urteil eines Philosophen. Noch weiter wird das Gewicht der Metapher erhöht, indem Enzensberger den Topos in seinen gesellschaftlichen Her466 467 468 469
Ebd., S. 28. Böll 1979, S. 44. Enzensberger 1962, S. 249. Der Aufsatz wurde 1959 im Merkur veröffentlicht. Ebd.
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VI. Poetologische Momente
kunftsbereich überführt und zum gravierendsten Rechtsfall der bisherigen internationalen Geschichte in Bezug setzt: dem Fall der Naziverbrechen. Entworfen ist damit der folgende Rahmen: Die deutschen Dichter besetzen die Rolle der Angeklagten, und ihr Medium sowie ihre Werke sind unausweichlich schuldhaft impliziert. Adorno erfüllt die Rolle eines Richters, der den außerdeutschen Richtern über die Naziverbrecher entspricht und mit seinem »Urteil« die deutschen Schriftsteller zum literarischen Tod verurteilt hat. Enzensberger, als Vertreter ihrer Gruppe (»wir«) erhebt mit dieser Schrift Einspruch und ruft als Hauptzeugin Nelly Sachs, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Volk der »Opfer« absolute moralische Rechtschaffenheit beanspruchen kann, aber als deutschsprachige Schriftstellerin bereit ist, für eine Milderung des Urteils über die Angeklagten einzutreten. Durchwirkt ist jedoch die Justizmetaphorik mit anderen Elementen, die diese Interpretation nicht zulassen. So verschiebt Enzensberger in Bezug auf Adornos »Urteil« die Bezüge: Die Rolle des Verurteilten besetzt er nicht spezifisch mit den Schriftstellern, sondern mit »unserer Zeit«. Und das Todesurteil, das ein ›Weiterleben‹ unmöglich macht, betrifft nicht nur spezifisch die Schriftsteller, sondern ein allgemeines ›Wir‹, das die Menschen ›unserer Zeit‹ umfasst. Schon hier deutet sich die religiöse Dimension an, die für die Rolle von Nelly Sachs in Enzensbergers Aufsatz bestimmend ist: Er begegnet dem moralischen Urteil Adornos mit moralisch gegründeten Argumenten, die in der jüdisch-christlichen Tradition verankert sind. Die Rolle des »Opfers« erhält in diesem Kontext erst ihre moralische Bedeutung, und das »Urteil« ist eines, das durch Gnade und Vergebung aufgehoben werden kann. Enzensberger stellt die religiöse Dimension der Gedichte von Nelly Sachs in den Vordergrund und verweist auf »Zitate aus dem Buch Jesaia, aus dem Buch Hiob, aus dem Buch Sohar, aus der Thora, aus den Schriften des Rabbi Nachman«.470 Etabliert ist mit dieser Liste der jüdische Kontext ihrer Lyrik, und die Frage zu dem Gedicht Schmetterlinge, »Welch eine Kraft hat dieses unantastbare Gedicht erschaffen?«, beantwortet Enzensberger mit der »verborgenen Kraft«, auf die Sachs mit ihren Zitaten verweist;471 die Assoziation mit dem neutestamentlichen Topos noli me tangere vertieft die religiösen Assoziationen.472 Der Topos von der göttlichen Herkunft der Dichtung ist damit aktualisiert und ohne jegliche relativierende Distanz als wirklicher ›Ursprung‹ dargestellt: Dies ist der Ur- und Quellgrund dessen, was die Dichterin Nelly Sachs vermag: Ihr Judentum hat sie nicht nur zum Opfer gemacht, es hat ihr auch die Kraft zugetragen, uns und unserer Sprache dieses Werk zuzuwenden.473
470 471 472 473
Ebd., S. 250. Ebd. Joh. 20, 17. Enzensberger 1962, S. 251.
8. Theodor W. Adorno: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (1951)
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Indem Enzensberger der jüdischen Religion und dem jüdischen Gott diese Kraft zuspricht und Sachs’ Lyrik als deren Manifestation begreift, sühnt er gewissermaßen das Verbrechen der Nicht-Juden, wobei Sachs im Bereich der Literatur eine Rolle erhält, die jener des Messias im christlichen Kontext vergleichbar ist. Die »rätselhafte Reinheit« und ›Unangreifbarkeit‹ ihrer Lyrik wird einem Ursprung zugeschrieben, welcher der ›Kontamination‹ durch menschliche Schuld enthoben ist. Eine generelle Aufwertung der Religion ist jedoch nicht Enzensbergers Ziel. Vielmehr wird Sachs’ Werk dezidiert von der zeitgenössischen christlichen Dichtung abgegrenzt: »Die Frömmigkeit, die es [das Werk] durchdringt, ist fern von der unerträglichen Erbaulichkeit, die heute fast alles kennzeichnet, was sich für religiöse Dichtung hält.«474 Hier nun dient der ›Ursprung‹ der deutschen Sprache zum Erweis, dass die wahre Identität der deutschen Dichtung in der jüdischen Dichtung gründet: Wir aber mögen uns daran erinnern, daß die deutsche Sprache zu sich selbst gekommen ist in der Begegnung mit der jüdischen Dichtung: deren Übersetzung durch Martin Luther hat das Deutsche zu dem gemacht, was es ist.475
Enzensberger greift auf ein Vorbild zurück, das schon früheren Dichtern die Erneuerung der deutschen Dichtung versprach – so Otto Ludwig, der mittels der Sprache des »urdeutschen Luther« eine neue, »echtdeutsche« Literatur zu schaffen hoffte.476 Der Ursprungstopos erscheint jetzt in abgewandelter Form: Enzensberger nutzt ihn, um die deutsche Sprache von der Kontamination durch die neuere deutsche Geschichte zu ›reinigen‹: Sie soll wieder zukunftsfähig werden. Zu diesem Zweck stellt Enzensberger Sachs in eine bis zu den Psalmisten und Propheten zurückreichende »dreitausendjährige Ahnenreihe«477 und überführt den genealogischen Topos in ein komplexes Modell von der Zeit, in dem der Gegensatz von ›alt‹ und ›jung‹ aufgehoben ist: Aber nicht nur in die Vergangenheit, auch weit in die Zukunft reicht diese Sprache. Schwebend im Uralten erhält sie sich jung. Daß sie nach beiden Seiten weit in die Zeit, die vergangene und die zukünftige reicht, das macht sie wahrhaft gegenwärtig.478
Die Gegenwartssprache, auf die der Dichter angewiesen ist, wird hier mit einigem Pathos ihrer zeitlich spezifischen Geschichtlichkeit enthoben. Erreicht ist damit die »Erlösung der Sprache aus ihrer Verzauberung«479 – eine romantisierende Variante ihrer Krise; überwunden ist ihre Partizipation 474 475 476 477 478 479
Ebd. Ebd. Ludwig 1874, S. 348 (Die Sprache Luther’s). Enzensberger 1962, S. 251. Ebd. Ebd., S. 249.
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VI. Poetologische Momente
an den »Zeiten der Barbarei«.480 Etablierte Topoi leisten Enzensberger den wichtigen Dienst, sein Medium für die Zukunft zu ›retten‹. Enzensbergers Aufsatz zeigt die Bedeutung von Adornos Diktum für die poetologische Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld, an der unausweichlich die deutsche Sprache beteiligt ist. Indem Adorno dem Schreiben von Lyrik die moralische Berechtigung entzog, forderte er zu einer gleichfalls moralischen Rechtfertigung heraus, die schreibend erfolgte. So berichtet auch Günter Grass aus dieser Zeit: »Soviel war uns gewiß, daß das Adorno-Gebot – wenn überhaupt – nur schreibend zu widerlegen war.«481 Adornos Diktum trieb somit die Dichter ins moralische »Engagement«.482 Es gab allerdings durchaus auch Reaktionen, welche die Gültigkeit des Diktums ablehnten. Zu den bedeutendsten zählt die frühe Stellungnahme von H.G. Adler in seinem 1958 verfassten und bislang unpublizierten Aufsatz Zur Bestimmung der Lyrik.483 Adler geht auf die verschiedenen Aspekte von Adornos Satz ein, nimmt ihm jedoch die Spitze, indem er ihn in allgemeinere Diskussionen um die Möglichkeit der Lyrik einordnet. Dabei konstatiert er zwar Adornos Aberkennung der »Berechtigung« des Gedichts »nach Auschwitz«,484 stellt jedoch – unter Verweis auf die tatsächlich fortlaufende lyrische Produktion – die »Möglichkeit« des Gedichts einer »Wirklichkeit« anheim, die von der Autorität des Theoretikers unabhängig ist: »Die Möglichkeit einer Kunst läßt sich theoretisch nicht dekretieren. Solche Fragen […] werden […] weder von Überzeugungen noch von Wünschen entschieden. Antwort erteilt die Wirklichkeit.«485 Anders als Enzensberger lässt Adler die Person und Biographie von Dichtern unberücksichtigt. Als Teil der »Wirklichkeit« hätte er nicht nur sein eigenes Schreiben während und nach der Zeit in Konzentrationslagern (einschließlich Auschwitz) anführen können,486 sondern auch die rege Schreibtätigkeit unter den Lagerinsassen in Theresienstadt, die er selbst dokumentiert hatte.487 Adler geht jedoch den entgegengesetzten Weg, denn die Berechtigung der Lyrik steht für ihn genauso wenig in Frage wie ihre Möglichkeit. Statt in der Möglich480 Ebd., S. 250. 481 Grass 1990, S. 18. 482 So der Titel eines Aufsatzes von 1962, in dem Adorno gerade diesen Begriff unter Aufrechterhaltung seines ›Auschwitz‹-Satzes problematisiert (Adorno 1974, bes. S. 422–424). 483 H.G. Adler 1958. Für die freundliche Erlaubnis zur Wiedergabe von Passagen aus dem Manuskript danke ich Jeremy Adler und dem Deutschen Literaturarchiv, Marbach am Neckar. Die Seitenzahlen beziehen sich auf das Typoskript. Datiert ist diese Fassung des Aufsatzes 16.–19.9.1958. 484 Ebd., S. 25. 485 Ebd. 486 Er war in Theresienstadt, Auschwitz, Niederorschel (Nebenlager von Buchenwald) und Langenstein inhaftiert. Vgl. Adler, J. 1998, S. 242. 487 Vgl. Adler, H.G. 2005, S. 584–623, bes. S. 616–621. S.a. Václavek 1989.
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keit der Produktion sieht er ihre Bedrohung in der Möglichkeit der Rezeption: Das alte Sprichwort, daß die Kunst vor dem Krieg und anderen Greueln verstumme, trifft kaum zu, aber sicher wird sie von der Reklame, von den heutigen Mitteln der Publizität überschrieen, verzerrt, verfälscht, verdrängt und selbst erwürgt. Nicht die Möglichkeit, das Schaffen von Lyrik ist in Frage gestellt, aber ihr Ansehen in der Welt, ihre Wirkung, denn alles und jedes kann Kunst sein, darum ist auch nichts mehr Kunst, sie ist sozial entwertet: so ist die Kunst in die letzte Einsamkeit verurteilt.488
Indem Adler die Kunst in der Öffentlichkeit verortet und als ›Person‹ auftreten lässt, vermittelt er eindringlich die Problematik der Wirkung. Die Metaphern von ihrer ›Erwürgung‹ und ihrer »Einsamkeit« evozieren zwei zusammenhängende Prozesse, welche die Kunst ihrer Wirkung berauben: einerseits die Behinderung und Eliminierung ihrer kommunikativen Kraft durch ein Übermaß an externer Kommunikation und andererseits der Mangel eines sozialen Gefüges, in dem diese Kraft ihre Wirkung entfalten könnte. Der Topos von Ruhm und Ruf erscheint hier unter neuem Aspekt: Nicht um das Ansehen und Fortwirken des individuellen Dichters geht es hier, sondern um den Kontext, in dem sich überhaupt erst das »Ansehen« der Kunst »in der Welt« etablieren kann. Nicht eine moralische Instanz ist es, von der die Kunst hier »verurteilt« wird, sondern die Öffentlichkeit, denn sie entzieht ihr den notwendigen Wirkungsraum für die effektive Kommunikation. Adlers Auseinandersetzung mit Adorno erfolgt im Zusammenhang einer poetologischen Entwicklung, die sich im Laufe von mehreren, zwischen 1937 und 1958 verfassten Versionen seines Aufsatzes zunehmend an Hegel und der Autonomieästhetik orientiert, zugleich jedoch die Bedeutung der Wirkung aus der eher rhetorisch orientierten frühen Version des Aufsatzes beibehält.489 Als »größtes Übel der Zeit« und »Verhängnis der Kunst« begreift er den »Mangel an Verbindlichkeit«, der sowohl für die kunstinternen Strukturen als auch für den Wirkungskontext kennzeichnend ist und der die ›soziale Entwertung‹ der Kunst bedingt.490 Die Herausforderung an den Dichter bestehe darin, das jeweils zeitgemäße »Maß« zu finden, um dieser Unverbindlichkeit wirksam zu begegnen.491 Moralische Werte stehen auch bei Adler im Zentrum, aber zugleich sieht er die Notwendigkeit der Form, ohne welche diese Werte sich nicht kommunizieren lassen: »Selbst Auschwitz und Nagasaki, alle ungemessenen Greuel unserer Tage zerstören nicht die Werte, die über uns und um uns walten; nicht Werte sind zerstörbar, nur die Formen, in die sie eingegangen sind.«492 Die Behältermetapher 488 489 490 491 492
Adler 1958, S. 26. Vgl. Kohl 2004b. Adler 1958, S. 29. Ebd., S. 29 u.ö. Ebd., S. 30.
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VI. Poetologische Momente
vermittelt hier die Bedeutung sowie auch die Fragilität der Form, durch die erst das Gedicht in der Welt bestehen kann. Die Spannung zwischen Engagement und Autonomieästhetik, aus der sich Adornos Diktum konstituierte, wurde somit bereits in den späten fünfziger Jahren auch in der Rezeption diskutiert. 1990 rückte diese Spannung ins Zentrum der poetologischen Debatte, als einige Kritiker die neuerliche politische Zäsur zu einer literarischen Zäsur erklärten: Mit dem geteilten Deutschland wollten sie auch die moralische »Gesinnungsästhetik« verabschieden.493 Günter Grass hatte dagegen am Anfang des Jahres seine Frankfurter Poetik-Vorlesung unter den Titel Schreiben nach Auschwitz gestellt. Mit den drei Wörtern des Titels aktualisiert er drei Elemente aus Adornos Satz, gewissermaßen als Destillat, die nun jedoch eine veränderte Bedeutung angenommen haben: Die Legitimität der dichterischen Produktion ist hier vorausgesetzt, und es geht darum, das Schreiben in der Geschichte und im moralischen Raum zu verorten. »Auschwitz« markiert nun nicht das Ende des Schreibens, sondern einen »Maßstab«, eine »Gesetzestafel«, ein »Gebot«494 für einen von der Greueltat ausgehenden, weiterlaufenden Prozess. Grass erinnert in seiner Rede an den Freund Paul Celan, der ihm die »Erkenntnis« vermittelte, dass »Auschwitz kein Ende hat«.495 Indem er den Namen Auschwitz mit der Person eines in seinen Gedichten fortlebenden Dichters verknüpft, sucht Grass diesen ›Erinnerungsraum‹ mit literarischem Leben zu erfüllen, um ihn auch für künftige Dichter verbindlich zu machen. Wenn in Bezug auf die persönliche Geschichte von Grass noch ein halbes Jahrhundert nach der NS-Zeit deutlich wurde, dass »Auschwitz kein Ende hat«, so ist dies Teil des komplexen ›literarischen Lebens‹ im deutschsprachigen Raum. Dabei zeigt sich gerade in der verschiedenartigen Selbstprojektion von Grass und Celan die schon in der Antike vieldiskutierte moralische Spannung zwischen Sprache und Wahrheit. Die öffentlich sich auslebende, fabulierlustige Eloquenz von Grass ließ noch im Moment des medienwirksamen Schuldgeständnisses die Wahrheit über seine Beteiligung an ›Auschwitz‹ im Unklaren.496 Celan dagegen mied zunehmend das »Metapherngestöber« der Öffentlichkeit, um in lapidarem Stil die Aufmerksamkeit des Lesers auf das »unumstößliche Zeugnis« von der geschichtlichen »Wahrheit« zu lenken.497
493 494 495 496 497
Vgl. Greiner 1995b im Kontext der von Anz (1995) dokumentierten Debatte. Grass 1990, S. 14 und 17 f. Ebd., S. 30. S.o., S. 371 f. Celan 1983, Bd. 2, S. 89 (Ein Dröhnen […], V. 2 und 6) und S. 31 (Weggebeizt […], V. 21 f.); beide Gedichte sind Teil der Sammlung »Atemwende« (1967).
9. neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik (2004)
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9. neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik (2004) Die digitale ›Revolution‹ ist seit der Erfindung des Drucks die wohl bedeutendste mediale Entwicklung für die Poetik, da sie Prozesse der Produktion, Kommunikation und Tradierung tangiert und neue poetologische Konstellationen ermöglicht. In einer rasanten Entwicklung hat sich das Kommunikationsfeld zu einem globalen Netz erweitert; die Universalsprache Englisch infiltriert die nationalen Sprachen und bestimmt die zunehmend internationale, von physischen Grenzen unabhängige Kommunikation. Das Thema Deutschland, das zum Zeitpunkt der Wende noch einmal im Zentrum der Debatten auch um die deutsche Literatur stand, erschien am Anfang des 21. Jahrhunderts eher nebensächlich angesichts der Komplexität globaler Themen. Für die deutschsprachige Poetik ergeben sich aus diesem veränderten Kontext neue Fragen und neue Antworten. Das vornehmlich 2004 erstellte Projekt neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik erkundet und nutzt die Möglichkeiten des Internets, um eine neue Art Poetik zu schaffen:498 Ein Jahr lang schreiben zwölf Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum über das, was sie am Dichten und Denken interessiert – als ein »Wir«, das keine bestimmte Gruppe oder Position repräsentiert, sondern zwölf einzelne Stimmen im Gespräch miteinander verbindet.499
Das Mitgeteilte bewegt sich zwischen »Dichten« und »Denken« und präsentiert sich somit in jenem großen Spielraum, der seit Romantik und Idealismus für die Poetik zur Verfügung steht. Die Kommunikationsform zwischen ›Schreiben‹ und vielstimmigem »Gespräch« weckt im Kontext des Internets die Assoziation mit der Kultur des virtuellen ›Chatrooms‹ und macht die schriftliche Kommunikation durch und über Poesie als freundschaftliche, mündlich-schriftliche Interaktion vorstellbar. Evoziert wird mit neuedichte.de eine Poetik, deren prozessuale Entstehung nach Ablauf des Jahres in eine von der Produktion her gesehen feste Form überführt wurde; die Prozessualität der Poetik ist seitdem auf die Rezeption beschränkt. Auf der Homepage präsentiert die Website ein Raster von meist grünen Quadraten und die Einladung »Reisen Sie mit gedrückter Maustaste über die Textlandschaft …«500 Das optische Design der Website ist geradlinig und klar, ohne auffällige visuelle Effekte. Diese formale Stabilität bildet ein Gegengewicht zur Prozessualität des Mediums. Die Technik ist funktionsfähig und beansprucht somit nur positive Aufmerksamkeit, als technische 498 Für den Hinweis auf dieses Projekt danke ich Ulrike Draesner. 499 Draesner, Egger u. a. 2004a. Die Bestimmung »ein Jahr« ist approximativ; sie bezieht sich auf den Zeitraum Februar 2004 bis Januar 2005; vier weitere Texte wurden im Zeitraum Februar bis April 2005 eingestellt. 500 Ebd., Homepage.
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VI. Poetologische Momente
neuedichte.de (2004). Homepage
Formgebung.501 Das visuelle Design mit weißem Hintergrund ist in Anlehnung an Buchseiten konzipiert, wobei der obere Teil der Seite konstant die Vernetzung in geometrisch vereinfachter Rasterform darstellt, der untere dagegen aus Text besteht. Jedes dunkelgrüne Kästchen eröffnet den Zugang zu einem Text, der durch Anklicken aufgerufen wird, wobei ein Anklicken das Kästchen grasgrün werden lässt; der Leser weiß somit, welche Texte er bereits gelesen hat. Vereinzelte graue Kästchen signalisieren Texte, die »vom Autor gesperrt« worden sind, und weiße Kästchen sind Leerstellen im Raster, die im Laufe des Jahres nicht ›gefüllt‹ wurden. Die Anordnung der durch Kästchen markierten Texte im Raster ist veränderbar, und der Leser kann den Rezeptionsprozess mittels der Buttons in der über dem Raster situierten Leiste selbst gestalten: nach den in der »Dichte« der Kästchen vorgegebenen Beziehungen als eine Art Mosaik;502 nach »Autor« oder »Datum« der Einstellung in die Website, wobei Autoren beziehungsweise Monate dann auf vertikalen Streifen zwischen den Textkästchen erscheinen; nach historischem »Leseverlauf« oder einer vom Leser erstellten »Merkliste«; oder gänzlich aleatorisch. Der Klick auf ein Kästchen aktiviert visuell reizvolle Verbindungslinien zu anderen Texten: Der Ausgangstext erscheint mit einem roten Punkt im Kästchen, die Link-Texte – meist zwei bis vier, aber zuweilen mehr als zehn oder auch gar keine – jeweils mit weißen Punkten. Auf diese Weise bilden die Texte ein optisches Ganzes, dessen variable Struktur die veränderbare semantische ›Vernetzung‹ deutlich macht. Der Rezipient nimmt passiv am »Gespräch« zwischen den Autoren teil, stellt 501 Vgl. dagegen die Schwierigkeiten, die den Benutzer so manch anderer Website aufgrund mangelnder Standardisierung der technischen Voraussetzungen und unzureichender Website-Pflege konfrontieren; Beispiel ist ein kurzlebiges Projekt von intendenzen.de (gesehen 26.7.2004; 22.9.2004 nicht mehr im Netz). 502 Ursula Krechel benutzt für die Texte die Metapher »Mosaiksteinchen« (Krechel 2004).
9. neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik (2004)
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jedoch zugleich ein immer wieder neues intertextuelles ›Gespräch‹ her, das sich sowohl in der Beziehung zwischen den Texten als auch im rezeptiven Leser selbst verwirklicht. Die Website ist ein kollektives Projekt der Autoren Ulrike Draesner, Oswald Egger, Elke Erb, Birgit Kempker, Ursula Krechel, Brigitte Oleschinski, Ilma Rakusa, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz, Kathrin Schmidt, Ulf Stolterfoht, Peter Waterhouse. Sie verstehen sich »als ein ›Wir‹« und zugleich als »zwölf einzelne Stimmen«, und sie projizieren sich gemeinschaftlich, ohne sich doch auf die Identität einer geschlossenen »Gruppe« oder eine gemeinsame »Position« festlegen zu lassen. Konstitutiv für das Projekt ist somit ihr gemeinsamer ›Beruf‹ »Autor« sowie der berufsbezogene Prozess der Kommunikation über und durch Poesie. Es sind Autoren der ›mittleren‹ Generation, die in den deutschsprachigen Metropolen leben: Berlin, Wien, Zürich und Basel. Die Autorinnen sind in der Überzahl und partizipieren auch intensiver an der Textproduktion. Dies ist insofern interessant, als der kooperative Modus an poetologische Konzepte anknüpft, die besonders in den siebziger und achtziger Jahren in Bezug auf ›weibliches Schreiben‹ diskutiert wurden. Der Autorenkreis der Website ist eingegrenzt, der Textbestand dagegen war während der Laufzeit des Projekts offen: Er konnte ein Jahr lang von den Autoren erweitert beziehungsweise verändert werden – nicht jedoch von den Rezipienten. Der Autorbegriff bleibt somit hinsichtlich der Textsubstanz absolut und wird vor allem dann auffällig, wenn Texte ›vom Autor gesperrt‹ sind und nicht auf dem Bildschirm erscheinen. Als Persönlichkeiten erkennbar werden die individuellen Autoren ferner durch Bio-Bibliographien, die zumeist mit einem Foto versehen sind. Ein gemeinsames poetologisches Programm auf der Homepage eröffnet den Zugang zu einem ›Netzwerk‹ von Texten der individuellen Autoren, die zum Teil als Aussagen ohne Adressaten, zum Teil mit Anrede an das Kollektiv oder an einen oder zwei andere Autoren versehen sind und zuweilen zu fortlaufenden Dialogen verknüpft sind. Die Autoren präsentieren sich auf diese Weise als kohärente Gruppe, deren Zusammenhalt ohne Leitfigur auskommt und eine reiche Innenstruktur aufweist. Wollte man neuedichte.de gattungsmäßig bestimmen, könnte man die Website als kollektive, prozessuale Autorpoetik bezeichnen. Der Rezipient hat die Rolle eines Zeugen und Lesers. Es steht ihm zwar frei, die Reihenfolge der Texte zu bestimmen, nicht jedoch, die Texte selber zu verändern, und die Prozesse des Lesens sind nicht grundlegend anders als bei einem Gedichtband. Der Leseverlauf ist frei, generiert jedoch eine chronologische Sequenz, die sich dann später abfragen lässt, indem man auf »Leseverlauf« klickt. Man kann sich auch eine eigene Auswahl zusammenstellen, indem man individuelle Texte ausdruckt oder auf »Beitrag merken« klickt und den Text in der »Merkliste« speichert. Geboten wird zudem die Option, den Autoren eine E-Mail zu schicken – allerdings mit der Bitte um
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VI. Poetologische Momente
»Verständnis dafür, daß die Autorinnen und Autoren nicht auf alle Briefe antworten können.«503 Vermittelt wird dadurch eine prinzipielle Bereitschaft, den poetologischen Diskurs auf Außenstehende auszudehnen; dies bleibt jedoch optional, der Kontrolle der Autoren unterstellt und für die Poetik eher peripher. Im Zentrum steht die Kommunikation zwischen den Autoren selbst und die in traditioneller Richtung verlaufende Vermittlung der Poesie und Poetik von den Dichtern an die Welt außerhalb der Gruppe. Mit dem Topos des ›Neuen‹ stellt sich die Website neuedichte.de in eine alte Tradition – wobei sie das Neue am Anfang eines neuen Jahrtausends und in dem noch nie dagewesenen Medium des Internets sowohl zeitlich als auch räumlich besonders wirksam geltend zu machen vermag. In dem einleitenden poetologischen Text Poetisches Denken – Denken in Netzen wird unter Bezug auf die zeitliche ›Zäsur‹ und den neuen ›Raum‹ eine Poetik entworfen, die sich unter Ausblendung der Originalitätsproblematik mit einer »neuen Welt« auseinandersetzt.504 Auf diese Weise wird auch der Topos vom dichterischen »(Er-)Finden« neu aktualisierbar: Für eine »zukunftsweisende« Reflexion über die »neuen, sich erst vorwärtstastenden Fragen des dritten Jahrtausends« bedarf es »neuer Sprachen und Modelle«. Verquickt ist hier das rhetorische aptum-Prinzip mit dem Originalitätstopos vom unbetretenen ›Weg‹,505 wodurch die sowohl gegebene als auch notwendige ›Neuigkeit‹ des Gedichts zu einer unausweichlichen Selbstverständlichkeit wird. Vorausgesetzt ist ein linearer ›Fortschritt‹, der zugleich mittels der Metapher des ›Vorwärtstastens‹ ein experimentelles, offenes Vorgehen in unbekanntes Gebiet vermittelt. Angelegt werden soll »eine neue Form der Textlandschaft«, die eine Reflexion über »(neue) Gedichte« ermöglicht – der Topos der ›neuen Gedichte‹, der bei Heine und Rilke der Profilierung in Bezug auf die Tradition dient, erhält hier, in neue[ge]dichte.de, eine räumliche Dimension: Denn es geht um Gedichte, die sich erstmals »in jene noch fast unvermessene globale Welt« vorwagen, »die vor uns liegt«.506 Das ›Voruns-Liegen‹ lässt sich nun zugleich zeitlich und räumlich verstehen, und das ›Alte‹ verschwindet aus dem Bild, wenn Gedichte »zu Beginn des dritten Jahrtausends« als »Sonden« in die Zukunft projiziert werden. Dabei wird der »deutschsprachige« Raum, in dem die Autoren ihren Ursprung haben, zurückgelassen und auch die zeitliche Zäsur relativiert, denn sie beschränkt sich auf eine »Zeitrechnung, die längst nicht für alle Gedichtsprachen gilt«. Das Internet eröffnet als einzigartiges, gänzlich neues »Weltmedium« einen Raum, der die Linearität und Bodenständigkeit der nationalen Traditionen hinter sich lässt. 503 504 505 506
Draesner, Egger u. a. 2004a (Kontakt). Draesner, Egger u. a. 2004b. Auch die folgenden Zitate entstammen diesem Text. Zur Wegmetapher als Originalitätstopos s. o., S. 54, 277 und 410. Draesner, Egger u. a. 2004b. Zum Topos ›neue Gedichte‹ s. o., S. 411 f.
9. neuedichte.de – Textlandschaft aus Poesie und Poetik (2004)
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Die im Namen ›Internet‹ konventionalisierte Metapher des ›Netzes‹ wird in dieser Website zu einer poetologischen Metapher ausgestaltet, die visuell, strukturell und konzeptionell strukturbildend ist.507 Das Raster schafft visuell eine netzartige Struktur aus weißen Linien, und die durch das Anklicken der Kästchen aktivierten Punkte ergeben ›Knoten‹, die jeweils durch lineare Verbindungen mit anderen ›Knotenpunkten‹ verknüpft sind. Das poetologische Potenzial der Metapher wird im einleitenden Text ausgestaltet, wie schon der Titel Poetisches Denken – Denken in Netzen signalisiert. Der Chiasmus identifiziert ›poetisch‹ mit ›vernetzt‹ und aktiviert damit die ganze Spannweite der positiven Assoziationen, die um die Jahrtausendwende mit der konventionalisierten Metapher ›vernetztes Denken‹ aufgerufen werden. Poesie und Poetik werden so zu Kommunikationsformen, die ein besonders kreatives Denken ermöglichen und dadurch geeignet sind, die vor uns liegende Zukunft kognitiv-sprachlich zu gestalten. Der ›Ursprung‹ des Projekts wird im Projekt selbst reflektiert, wenn Brigitte Oleschinski sich im Text blaue Hanglage erinnert, dass neudichte.de »wie der Keim zu einem Gedicht« entstand:508 Der auf das Gedicht bezogene Ursprungstopos dient hier als Vergleich, um das organische Werden des poetologischen Projekts zu vermitteln. In Bezug auf das Projekt selber rückt dann jedoch die menschliche Kommunikation in den Vordergrund. Es entstand aus dem Wunsch heraus, »mich mit anderen, die Gedichte schreiben, über das Gedichteschreiben zu verständigen«: mir schwebte etwas vor, das über bloße Werkstattgespräche hinausginge, obwohl es schwer zu fassen war – eine Plattform vielleicht, etwas Geschriebenes, das unseren Verschiedenheiten entspräche, kein Manifest also, keine lineare Diskussion, keine zentral festgelegten Themen […], und doch dachte ich an etwas Gemeinsames, eine aufeinander bezogene Schwingung oder Spannung, weil ich glaube, daß die Gedichte der einzelnen nicht isoliert voneinander entstehen, sondern daß sie im Untergrund miteinander korrespondieren.
Im Zentrum der Konzeption steht das ›Gespräch‹, das in »etwas Geschriebenes« überführt wird. Dies zeigt einen grundlegenden Unterschied zu monologischen Autorpoetiken, die in Hofmannsthals Ein Brief einen herausragenden Exponenten zeitigten. Neuedichte.de soll jedoch nicht wie eine Anweisungspoetik der Lehre dienen, und sekundär ist auch die Mitteilung literarischer Erfahrung, wie sie monologisch in Goethes Dichtung und Wahrheit und dialogisch in manchen Dichterbriefwechseln erfolgt. Eine Nähe besteht eher zum Athenaeum-Projekt, das ebenfalls individuelle Stimmen ohne eine übergreifende Systematik zusammenführt. Dort jedoch bietet die Gattung der ›Zeitschrift‹ einen vorgegebenen Rahmen für das Hete507 Auch in Berkenheger 2004 ist die Struktur des ›Netzes‹ thematisiert (s. o., S. 273), ohne jedoch wie in »neuedichte.de« eine strukturbildende Funktion zu haben. 508 Oleschinski 2004. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Text.
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rogene. Hier wird ein solcher Rahmen aus dem Konzept des »Werkstattgesprächs« entwickelt, womit der Prozess des Schreibens ins Zentrum tritt – auch wenn darüber hinaus kein »zentral festgelegtes Thema« vorgesehen ist. Dabei evozieren die Metaphern von der »aufeinander bezogenen Schwingung oder Spannung« eine Beziehung, die zugleich physisch und nicht fassbar ist. Entworfen wird mit diesen Metaphern ein Spektrum von möglichen Interaktionen zwischen Dichtern und Texten, das weit über einen ›Einfluss‹ sowie auch eine spezifische intertextuelle Beziehung hinausreicht. Indem Oleschinski eine grundlegende ›Korrespondenz‹ voraussetzt, schafft sie eine Poetik der offenen Bezüge, die in der realisierten Website ihre adäquate Form erhält. Die Abgrenzung vom gemeinschaftlichen »Manifest« wahrt die Stimmen der Einzelnen, die Abgrenzung von der »linearen Diskussion« die Multidimensionalität, die Abgrenzung von »zentral festgelegten Themen« eine flexible Entwicklungsfähigkeit. Die Anfang 2004 als ›werdende‹ Poetik ins Internet gestellte Website ist Oleschinski zufolge erst das »Instrumentenstimmen«:509 Wenn das Projekt auch seinen Ursprung hinter sich hat, so steht es doch noch am Anfang. Der Ursprungstopos markiert hier nicht den Bezug zu einer linearen Literaturgeschichte, sondern vermittelt die Prozessualität und unbestimmte Zielrichtung des Projekts. Die musikalische Metapher reflektiert zeitgenössische Tendenzen der Verbindung von Lyrik und Musik, sucht jedoch keine reale Verbindung, sondern charakterisiert die Zusammenwirkung der Autoren und der Texte: Es ist das Zusammenspiel nicht eines Orchesters, sondern einer »improvisierten Band, denn es gibt keine Partitur, keinen Dirigenten, niemand kennt das Stück –«.510 Die Website hat mit dem kohärent und programmatisch ausformulierten kollektiven Text auf der Homepage einen festen Bezugspunkt, ist sonst jedoch offen strukturiert, insofern als sich die Texte der einzelnen Autoren manchmal darauf und auf die gemeinsame Arbeit beziehen, oft aber in andere Richtungen führen und Einblicke in individuelle Poetiken geben. Manche Texte stehen für sich, typisch ist jedoch ein Mitteilungscharakter, der sich immer wieder anders manifestiert. Kommuniziert werden textuelle Fundstücke (z. B. Ulrike Draesners fundstück 1511), Fragmente, aus denen »nichts weiter […] geworden« ist (so Monika Rincks Nimm den Hund raus),512 Leseerfahrungen und Reaktionen auf andere Texte der Website. Die Poetik wird auf diese Weise zu einem poetologischen ›Netzwerk‹, in dem nicht nur die Texte als ›Knotenpunkte‹, sondern auch die Verbindungen zwischen ihnen zum Ganzen beitragen. Vom gemeinsamen Gespräch 509 510 511 512
Oleschinski 2004. Oleschinski 2004. Draesner 2004. Rinck 2004a.
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unterscheidet sich diese Poetik insofern, als die Beiträge in Ruhe vom individuellen Autor ausgearbeitet und schriftlich präsentiert wurden. Sie lässt sich prozessual in der Zeit rezipieren, konstitutiert sich jedoch auch im ›Raum‹ und ist übertragbar auf Papier. Typisch für das Medium ist der prozessuale – und tendenziell ephemere – Charakter dieser Poetik: Konzipiert ist sie als Projekt, das »ein Jahr lang« läuft. Inwieweit es darüber hinaus bestehen bleibt, wird nicht thematisiert.513 Vermittelt wird eine Poetik, die sich nicht zuletzt durch den hohen Stellenwert des Lesens von der Tendenz einer Poetik des individuellen, originalen Ausdrucks unterscheidet. Beispiel ist Ursula Krechels längerer Text Enigma. Fernweh, Nahweh.514 Er beginnt arbeitstagebuchartig mit der Bemerkung, »Am Morgen in Claude Vigées Gedichten gelesen«, schließt Reflexionen über das gemeinsame Projekt an, und geht dann wiederum über in Reflexionen zum assoziativen und mitteilenden Vorgang, den der Text selbst verkörpert: Ich habe mich, lesend und erklärend weit von meinem ursprünglichen Schreibziel entfernt, wollte eigentlich nur ein am frühen Morgen gelesenes Gedicht in den Raum stellen, schenken, weiterschenken, was ist es sonst, das ständige Angebot, lies, was du magst, ich stelle Essen auf den Tisch, Nüsse, Mandeln, Serotonin-besetztes Mundfutter, lies, werde satt, nimm, was du brauchst. (Über das Mütterliche dieser Bereitstellung wäre ein anderes Mal nachzudenken.)515
Das Lesen ist hier mit Nahrungsaufnahme gleichgesetzt und damit als Voraussetzung für das literarische Schaffen gekennzeichnet; darüber hinaus ist auch die Kommunikation über das Gelesene wesentlicher Teil von Poesie und Poetik. Die technische Vernetzung wird zu einem Prozess menschlicher Verbindungen, der auf grundlegende anthropologische Praktiken des Zusammenlebens und der Arterhaltung verweist.516 Lesen, Erklären und Schreiben sind als Aktivitäten konzipiert, die auf den Mitmenschen aus513 Draesner, Egger u. a. 2004a, Homepage. Für die Literaturwissenschaft ergibt sich hieraus ein Problem: Während Otfrid seinen Text aus dem 9. Jahrhundert in schriftlicher Form über die Strukturen des Bibliothekswesens an die Nachwelt weiterzugeben vermochte, sind die Strukturen für eine Archivierung digitaler Projekte erst im Entstehen; vgl. die »virtuelle Fachbibliothek« »Germanistik im Netz«. Manche Projekte schaffen sich die archivalischen Strukturen selbst, so das Projekt cyberfiction.ch, das dem Benutzer Listen und verschiedenste Links zur Verfügung stellt und mit der »edition cyberfiction« eine Dauerhaftigkeit auf CD schafft. Für den Hinweis auf diese Projekte und Auskünfte zum Stand der archivalischen Strukturen danke ich Frau Jutta Bendt, Leiterin der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs, Marbach am Neckar. 514 Krechel 2004. 515 Ebd. 516 Krechels Interpretation des Mediums vollzieht in extremer Form das nach, was als Entwicklung in der Perzeption und dem Einsatz der Computertechnologie feststellbar ist. Philipp Löser weist darauf hin, dass der Computer lange Zeit nur als Arbeitshilfe betrachtet wurde, dass mit Hypermedia und Computerspielen jedoch »erstmals die Interaktion mit einem menschlichen Benutzer« in den Vordergrund trat (Löser 1999, S. 218).
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gerichtet sind; angedeutet ist zugleich eine ›weibliche‹ Poetik, die sich daraus entwickeln ließe. Dem entsprechen auch Variationen der Wegmetapher in Krechels Text: Sie hat ein »Schreibziel«, von dem sie sich jedoch »entfernt«, wobei das Gedicht dann einen Objektcharakter annimmt, wenn sie es »in den Raum stellen« will. Zuvor erklärt sie: »Ich lege schreibend eine Spur aus, […] eine Verführung ins Dickicht, in die andere Regelhaftigkeit von Dichtung.«517 Hier ist der Weg nicht ein kühnes Vorangehen, das die Unabhängigkeit von anderen Dichtern erweist, sondern ein auf die Rezipienten ausgerichtetes Vorangehen, das ihnen ein unbekanntes Gebiet zeigen will. Die Betonung des Irrationalen, die in der Romantik und in den magischen Projektionen weiblichen Schreibens in den siebziger und achtziger Jahren zum Tragen kam (beispielsweise bei Irmtraud Morgner), wird hier unter Bezug auf die ›Dichte‹ dieser Internetpoetik fortgeführt. Um die Jahrtausendwende wird dieses Irrationale allerdings neurologisch reflektiert – in Krechels Text auf eine Weise, die sich gewissermaßen als ›weibliches‹ Pendant zu Durs Grünbeins neurologischen Reflexionen darstellt.518 Denn auf die Nahrungsmetaphorik folgen assoziativ aneinandergereihte Gedanken zur kognitiven Besonderheit des Dichtens, die in die Selbstreflexion über den dichterischen Prozess münden: Wie Gedichte die Schaltknoten, die Relaisstationen des Denkens anders polen, beweglicher machen, einigermaßen bekannt ist die Hirnleistungen [sic] von Musikern, sie benutzen Teile der rechten Hirnhälfte und Relaisstationen, die höchst ungewöhnlich sind, Ausflugsstationen des Denkens, bei denen das landläufige Schalten und Verwalten ausgeschlossen ist. Und siehe: Bevor ich diesen Text begann, war mir der Reim Schalten und Verwalten nicht geläufig, er ist ja nun keineswegs rätselhaft verborgen, doch vermutlich wurde er erst hier gebraucht oder das dem Dichten abgewandte Schattenlesen machte ihn offenbar.519
Die wissenschaftliche Metaphorik von ›Schaltstellen‹ wird hier kreativ abgewandelt und weitergesponnen, um die beim Dichten sich vollziehenden kognitiven Prozesse zu evozieren – bis hin zur Reflexion über den soeben erfolgten Prozess der dichterischen Verknüpfung von Wort und Klang. Verdeutlicht wird damit das kognitive Potenzial des Gedichts sowohl für den Dichter als auch für den Rezipienten, indem der Prozess der Assoziation den Leser zu neuen »Ausflugsstationen« mitnimmt und ihn am Ende der Assoziationskette in die Vorstellung von einem »Schattenlesen« entlässt, welches das Gedicht in die helle Sonne stellt, ohne es doch dem Licht der reinen Vernunft preiszugeben. Wie Krechel, die sich vom neuen Medium anregen lässt, ein »Gedicht in den Raum [zu] stellen«, sehen auch die anderen Autoren das Internet als Erweiterung der poetologischen Möglichkeiten. Es steht jedoch mit den 517 Krechel 2004. 518 Vgl. Grünbein 1996 (s. o., S. 311 f.). 519 Krechel 2004.
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herkömmlichen Medien in Verbindung und kann neue Perspektiven auf sie eröffnen. Dies geht aus dem Text wie ein korken hervor, in dem Monika Rinck auf die Sperrung eines Textes von Ulf Stolterfoht reagiert: wie ein korken sitzt ulfs gesperrter text nun an erster stelle – seit tagen – ein kleines zeitfenster lang nur war ein zugriff möglich, eigentlich eine geste, die mir gefiel. dann der ausbau der vorstellung: auch in büchern – zum falschen zeitpunkt aufgeschlagen – könnten die seiten einfach nur weiß sein. der erfahrung, dass man manches nur zu manchen zeiten lesen kann, käme ein unpersönlich-dynamischer faktor hinzu. noli me legere – ich bin nicht da. wrong moment and kairos. begnadete zufälle, im rechten moment, genau auf den richtigen text zu stoßen. wenn sich mit einem mal um den jeweiligen fokus herum verknüpfungen, netze bilden […]520
Metaphern, die für das Medium typisch sind – »fenster«, »zugriff«, »netz« – werden in der Reflexion über das Lesen poetologisch ›ausgebaut‹: Der »zugriff« des Rezipienten zu einer »geste«, mit der die Intention des Autor einbezogen, aber zum »unpersönlich-dynamischen Faktor« verallgemeinert wird; das Fenster zum »zeitfenster« und »kairos« mit der Verbindung zum »fokus« der »verknüpfungen« und »netze«. Durch die Mittel der Personifikation und die Anspielung auf Jesus’ Worte »noli me tangere«521 erhält das Medium des Buches ein neues Charisma; der Inspirationstopos evoziert die schöpferische Kraft des Lesens, ohne es doch religiös zu bestimmen. Wenn auch Oleschinski das Projekt nicht als »Manifest« konzipierte, so vermittelt doch der einführende Text Poetisches Denken – Denken in Netzen ein kollektives Programm.522 Die Landschaftsmetaphorik erfüllt in dessen Vermittlung eine wichtige Funktion, denn sie erlaubt die Abgrenzung gegenüber dem diskursiven ›Umfeld‹. Charakterisiert wird die Poetik als »Textlandschaft aus den spröden, wundersamen Stoffen von Poesie und Poetik, die sich in keinen akademischen Diskurs fügen, keine mediale Quote erfüllen, keinen Marktwert erobern«. Eine Trennung zwischen (philosophischer) Poetik und praktischer Poesie wird negiert, Abgrenzungsstrategien kommen dagegen ins Spiel, wenn das Projekt vom »Prosarauschen des Betriebs«, von den »Erwartungen von Verlagen, Veranstaltern, Publikum«, den »unvermeidlichen Eitelkeiten des Auftrittswesens« und den »von außen vorgegebenen ›Lyrik‹-Definitionen« getrennt wird. Die verwandten Begriffe ›Poesie‹ und ›Poetik‹ werden damit zu miteinander verbundenen Leitbegriffen; der ›Lyrik‹-Begriff hat seinen einstmals hohen Wert eingebüßt und die ›Prosa‹ ist zum prosaischen Lärm abgesunken. In einem rhetorisch geprägten Umfeld, wo Körper und Performanz im rauschenden Fest zelebriert werden, knüpft das Projekt an idealistische Gedankengänge an, insbesondere die hegelsche Feld- und Autonomiemeta520 Rinck 2004b. 521 Joh. 20, 17. 522 Draesner, Egger u. a. 2004b. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Text.
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phorik. Diese eröffnet nun einen poetischen Raum, in dem die Autoren über Gedichte und poetische Prozesse »konzentrierter und präziser nachdenken« können, als es der Literaturbetrieb erlaubt: Gegenwärtig gilt in der Lyrik dem sprechbaren Gedicht die größte Aufmerksamkeit, während das poetische Denken als eigenständiger Formprozeß kaum (noch) wahrgenommen wird. Tatsächlich bilden aber die über Jahre hin angelegten Denkfelder in der poetischen Arbeit besondere Muster von Aufmerksamkeit und Interesse aus, die weit über das einzelne Gedicht hinausreichen. Diese Denkfelder betrachten wir als Ausgangspunkt für ein poetisch-poetologisches Projekt, das im Internet eine neue Form der Textlandschaft anlegen will.
Der platonische Kampf zwischen Philosophie und Dichtung weicht in dieser Textlandschaft der Symbiose, denn es wird »in Gedichten gedacht«, und sie verkörpern ein »besonderes Sprach- und Denkvermögen«: »Für uns und für andere soll sichtbar werden, wie Poesie und Erkenntnis aneinander arbeiten.« Anders als Hegels Landschaft der ›Felder‹ ist diese Textlandschaft nicht durch Zäune unterteilt, und die Autoren verstehen sich nicht nur als kontemplativ: Sie erstreben die »aktive Gestaltung poetischer Prozesse weltweit« und betonen ihre Teilnahme an internationalen Veranstaltungen. Abgelehnt wird somit nicht grundsätzlich die ›Öffentlichkeit‹ zugunsten eines kontemplativen oder privaten Bereichs, sondern – wie bei H.G. Adler – eine von den »Mitteln der Publizität überschrieene« Welt,523 die dem »poetischen Denken« keinen Entfaltungsraum lässt und damit seinen Beitrag zu unserem gemeinsamen Weg in die Zukunft unterminiert. Indem sie die »Gedichte denken« lassen, wählen die Autoren eine personifizierende Metapher, die dem Gedicht eine neue Art der Autonomie verschafft: Sie verwirklicht sich im Zusammenspiel von Sprache und Denken und ermöglicht eine ganz besondere Art der »Aufmerksamkeit«, die es zugleich im Gedicht zu erkunden gilt.524 Wenngleich diese Poetik das »poetische Denken« pflegt, so steht im Vordergrund doch die Kommunikation: Sie ist es, die das »Denken in Netzen« ermöglicht. Neuedichte.de will über das »einzige Weltmedium […], das von fast allen Winkeln der Erde aus einsehbar ist« die größtmögliche Wirkung erreichen, um Gedichte als »individuelle Stimmen« in die Welt einzubringen und diese Welt nicht »ökonomischen Prozessen, Marktstrategien und weltweiten Unterhaltungsmedien« auszuliefern.525 Diese Poetik erwächst aus der textuellen Selbst-Reflexivität der Postmoderne, aber sie tradiert einen Topos, der schon in Otfrids Projekt eine motivierende Rolle spielte: die Überbietung der populären ›Unterhaltung‹. Die neuen Richtungen, die dieses Netzwerk von Poetiken sucht, knüpfen an die verschiedenen Konzeptionen der ›Erfindung‹ und des ›Wegs‹ in der Geschichte der deut523 Adler 1958, S. 26. 524 Zur Bedeutung der ›Aufmerksamkeit‹ s. o., S. 373 f. 525 Draesner, Egger u. a. 2004b.
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schen Poetik an. Indem die Autoren am »Beginn des dritten Jahrtausends« Gedichte zu »Spezialisten für das (Er-)Finden neuer Sprachen und Modelle« erklären und sie als »Sonden in jene noch fast unvermessene globale Welt, die vor uns liegt«,526 schicken, bedienen sie sich einer uralten Strategie: Sie befreien sich mittels einer Metapher vom Ballast der Tradition, um dem neuen Gedicht einen unendlichen Spielraum zu eröffnen. Mit ihrem Einsatz der Wegmetapher wählen sie einen Pfad, den schon viele andere vor ihnen gegangen sind. Indem sie jedoch den Pfad in den Weltraum verlegen und ihn nicht selbst betreten, sondern das Gedicht in eine neue, globale, dreidimensional vernetzte Welt entsenden, erfinden sie ein Modell, das zugleich Tradition und Zukunft hat. Das ›Neue‹, der ›Weg‹ und das ›Netz‹ sind für die Poetik neuedichte.de zentral und vermitteln auf komplexe Weise das Besondere des Projekts. Alle drei Lexeme gehören zum Grundbestand der deutschen Sprache, und sowohl das ›Neue‹ als auch der ›Weg‹ bieten den Dichtern bereits seit der Antike Möglichkeiten, ihr jeweiliges Projekt zur Tradition in Bezug zu setzen und ihm im zeitgenössischen Umfeld eine Kontur zu verleihen. Der topische Charakter dieser Metaphern gründet in ihrer ruhmreichen poetologischen Tradition, vor allem aber in der Tatsache, dass sie Teil jener für unser Denken und unsere Kommunikation unerlässlichen Metaphorik sind, die uns auch im Alltagsleben die Strukturierung der Zeit und die Situierung in der Zeit ermöglicht. Ihr wirksamer Einsatz in der Darstellung des Projekts neuedichte.de zeigt, dass selbst die konventionellsten Topoi erneuerungsfähig sind. Neu in der Poetik ist dagegen die Metapher vom ›Netz‹ – wenn auch vermutlich nicht in absolutem Sinne, zumal sie als Variante der grundlegenden poetologischen Metapher vom ›Gewebe‹ verstanden werden kann. Das ›Netz‹ avanciert in diesem Projekt ins Zentrum der poetologischen Reflexion – eine Neuerung, die auf Veränderungen im kommunikativen Umfeld zurückzuführen ist. Es lässt sich hier verfolgen, wie die Alltagsmetaphorik die poetologische Metaphorik zu bereichern vermag – und wie diese Beziehung umgekehrt die Dichtung zu ihrem Umfeld in Bezug setzt. Vor allem aber zeigt sich darin die produktive Interaktion zwischen poetologischen Metaphern und der Theorie und Praxis der Dichtung. Denn indem sich die Autoren der Website neuedichte.de auf die technologischen Neuerungen der Jahrtausendwende sowie deren kognitiv-sprachliche Verarbeitung einlassen, gewinnen sie neue Möglichkeiten des physischen, kognitiven und sprachlichen Umgangs mit Dichtung. Zugleich eröffnet das poetologische Experiment mit der praktischen Ausgestaltung der poetologischen Metapher neue Möglichkeiten der Interaktion zwischen Autor, Werk, Rezipient und Umwelt. 526 Draesner, Egger u. a. 2004b.
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Die Reise, die in diesem Kapitel unternommen wurde, bestand aus Sprüngen von ›Gipfel‹ zu ›Gipfel‹: Die Texte sind bei allen Variationen Teil einer Poetik der ›Höhenkammliteratur‹, die sich – und ihr Publikum –über andere Formen der Literatur zu ›erheben‹ sucht. Die Projekte von Otfrid von Weißenburg, Gottfried von Straßburg, Opitz, Wieland und – mit Einschränkungen – der Gebrüder Schlegel sind getragen von dem Selbstbewusstsein, dass sie in deutscher Sprache die wertvollste literarische Tradition überhaupt weiterführen: die Tradition der griechischen und römischen Antike; und auch Hofmannsthal setzt sich in seinem »Brief« mit antikem Gedankengut auseinander. Bei Otfrid gilt es allerdings, die Ansprüche einer religiösen Tradition zu akkommodieren, die der künstlerischen Schlichtheit zuneigt; Gottfried sucht die rhetorisch fundierte Kunst mit der volkssprachlichen Erzähltradition, dem Unterhaltungsanspruch des Publikums und moralischen Ansprüchen zu vereinbaren; und Wieland geht es darum, mit moralischen Argumenten ein Projekt zu legitimieren und in seiner Wirksamkeit einzugrenzen, das sich den Ansprüchen des antiken Kanons gerade nicht fügt. Bei den Autoren des Athenaeum und bei Fontane steht die Wahrheit einer religiös sublimierten, ›ernsten‹ Kunst im Vordergrund, die der Unterhaltung sowie auch der Kunst von Nicht-›Geweihten‹ übergeordnet ist. Hofmannsthals ›Brief‹ stellt eine philosophisch-religiöse Wahrheit in den Vordergrund, welche die Möglichkeiten der Sprache so weit übersteigt, dass die Legitimität der Literatur in Frage gestellt ist. Adorno entzieht potenziell der Literatur insgesamt, auf jeden Fall aber jeglicher genussbringenden Literatur die moralische Legitimität. Das Internetprojekt neuedichte.de sucht der Unterhaltungsindustrie ein ›poetisches Denken‹ entgegenzusetzen. Die um die Jahrtausendwende zum literaturwissenschaftlichen Topos avancierte Metapher von der ›Höhenkammliteratur‹527 markiert eine Sensibilisierung auch für die Literatur der ›Ebenen‹. Wie sich Poetiken der ›Ebenen‹ in den verschiedenen Zeiten zu den hier diskutierten Projekten verhalten, welche Metaphern solche Poetiken strukturieren und wie diese eingesetzt werden, wäre notwendiger Teil einer breiter angelegten, deskriptiven Untersuchung. Die im Rahmen dieses Kapitels erörterten Metaphern könnten dazu dienen, den Begriff der ›Unterhaltung‹ differenzierter zu fassen, als es der Begriff von der ›Trivialliteratur‹ erlaubt.528 Denn die Voraussetzung, dass Unterhaltung im Kontext der ›wahren‹ Literatur nur in dem 527 Vgl. die Belege in Google.de. 528 Das Argument, der Begriff der ›Trivialliteratur‹ zeichne sich angesichts der Etymologie des Adjektivs ›trivial‹ und im Vergleich mit noch abwertenderen Begriffen wie ›Schmutzliteratur‹ durch »weitgehende Wertneutralität« aus (Nusser 1991, S. 2), ist typisch für einen – allerdings zunehmend in Frage gestellten – Ansatz, der die Selbstlegitimation der ›ernsten‹ Kultur als stabile Wahrheit voraussetzt. Andere Begriffe werfen ähnliche Probleme auf, und einen standpunktlosen Ansatz gibt es nicht; zumindest aber gilt es, die metaphorischen Implikatio-
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Maße legitim ist, wie »ernstere Zwecke erlauben«,529 ist ein Axiom, das in einer für die romantische und idealistische Poetik typischen Verknüpfung antiker und christlicher Ansprüche gründet. Die poetologischen Konstellationen haben sich jedoch mittlerweile verändert. Eine komplexere Sicht auf die Funktionen und Legitimierungen von ›Unterhaltungs‹-Literatur in früheren Zeiten könnte auch für die Gegenwart unerwartete Perspektiven eröffnen.
nen, die im Sprachgebrauch etablierten Wertassoziationen der jeweils gewählten Begriffe sowie auch die kulturellen Interessen der Literaturwissenschaft zu berücksichtigen. 529 Schlegel, A.W./Schlegel, F. 1960, S. [ii] (Vorerinnerung).
Perspektiven »eine oft atemberaubende Bandbreite …« Kein Gebäude, will ich sagen! Kein in sich schlüssiges System!1 Oskar Pastior
Mit der Wende veränderte sich die deutschsprachige literarische Landschaft. Die Vereinigung Deutschlands setzte politisch der Nachkriegszeit ein Ende und damit dem Druck der ›deutschen Frage‹; globale Fragestellungen und Beziehungen zu anderen Kulturen traten zunehmend in den Vordergrund. Das 1990 unter dem Schlagwort ›Gesinnungsästhetik‹ diskutierte politischmoralische Engagement wurde weniger zentral, wiewohl der Skandal um Günter Grass’ Mitgliedschaft in der SS und die Kontroverse um die Verleihung des Heine-Preises an Peter Handke im Jahre 2006 die anhaltende Bedeutung moralischer Kategorien unter Beweis stellten und politische »Empörung« weiterhin von Autoren als bedeutender »Schreibimpuls« genannt wird.2 Die geeinte und zum politischen wie kulturellen Zentrum avancierte Hauptstadt Berlin hat die anderen Kulturstädte in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht aus dem Literaturbetrieb verdrängt, sie zieht jedoch als »offene, multikulturelle Weltmetropole im steten Auf- und Umbruch«3 viele Autoren aus anderen Teilen des deutschsprachigen Raums an sich. Mit ihren offiziellen und inoffiziellen literarischen Institutionen aus dem ehemaligen Westen und Osten fungiert sie mittlerweile – wie ehemals in einem fragmentierten Deutschland die sporadisch zusammentretende Gruppe 47 – als »Zentralpunkt, Kaffeehaus, Metropole und Diskussionsbühne«.4 Ihre spannungsvolle Geschichte und kulturelle Komplexität, die unterschiedlichen Stadtviertel und die Vielfalt künstlerischer Treffpunkte ergeben eine Literaturszene, die von lebhafter Bewegung bestimmt ist. Die Eröffnung von ›Literaturhäusern‹ auch in anderen Städten zeigt die Bedeu1 2 3
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Pastior 1996, S. 73. Streeruwitz 2002a, S. 26. Vgl. auch Zaimoglu 2002, S. 15. Heinz-Norbert Jocks über die Attraktivität Berlins für Marlene Streeruwitz, »fern von Wien, wo es ihr politisch unheimlich geworden ist« (Vorwort von Jocks in Streeruwitz 2001, S. 5). Einer Befragung zufolge ist für 71 % der deutschen Bevölkerung Berlin die »führende Kulturmetropole« Deutschlands (Opaschowski 2003). Hans Werner Richter zu den Funktionen der Gruppe 47 in der Nachkriegszeit (Richter 1962, S. 12).
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tung literarischer Veranstaltungen, die Gleichgesinnte zusammenführen und Literatur direkt im persönlichen Kontakt vermitteln. Erkennbar wurde nach der Wende auch eine verstärkte Orientierung am amerikanischen Literaturbetrieb und eine intensive Rezeption angloamerikanischer Belletristik. Das neue Medium Internet brachte veränderte Formen und Vorstellungen von Kommunikation sowie die Aktivierung des Rezipienten. Die auditive Dimension der Dichtung sowie auch ihr performativer Aspekt haben an Bedeutung gewonnen und das Potenzial des Wortes ins Zentrum einer Kultur gerückt, die ihre Gefühle und ihre Kreativität ausleben will, wie Ralf Schmerberg in einem Kommentar zu seinem Film Poem erklärt:5 »Ich habe mit POEM für mich das Wort entdeckt. Mein Film soll den Zuschauer das Wort ERLEBEN lassen. POEM soll das Gefühl der Menschen treffen und sie zu Mut und Offenheit inspirieren, ihr eigenes Leben kreativ zu gestalten.«6 Wie schon im ›Sturm und Drang‹ werden im lebendigen Erlebnis die Gattungsgrenzen fließend. Das Experiment mit Verbindungen zu anderen Künsten sowie mit Beziehungen zur PopKultur7 fördert kooperative Projekte und die Inszenierung von Literatur: Als groß angelegtes ›live‹ Event soll sie unmittelbar auf das Publikum wirken. Die Dichtung hat Teil an einer generellen Tendenz zur Internationalisierung und Dynamisierung, welche um die Jahrtausendwende die gesamte deutsche Gesellschaft prägt. Aber auch der literarischen Tradition wurde im Zuge der Postmoderne eine neue Aktualität bescheinigt, die weder in der Verehrung des Alten besteht, noch auch in der differenzlosen Assimilierung an das Moderne, so wenn der Suhrkamp-Verlag in der anspruchsvoll präsentierten Reihe Bibliothek der Lebenskunst Senecas Schrift Die Kürze des Lebens durch die Perspektive des modernen Dichters belebt: Den Klassiker umrahmen Texte von Durs Grünbein. Im Widmungsgedicht An Seneca. Postskriptum8 projiziert sich Grünbein mittels des ironisch abgewandelten Barbarentopos als »Nachfahr jener Rüpel, die euch manche Scherereien | Bereitet haben an den Grenzen eures Reiches«;9 der postmoderne Dichter begibt sich jedoch ins Gespräch mit dem hochzivilisierten römischen Dichter, ohne einer spezifisch nationalen Identität zu bedürfen. Er situiert sich »im Überübermorgen«10 und stellt der textuellen Fortwirkung des Älteren – »du lebst immer« – die eigene Vergänglichkeit gegenüber: »Ich leb nur kurz, ein Weilchen nur.«11 Die Verbindung von Senecas Thematisierung der »Kürze des 5 6 7 8 9 10 11
Schmerberg 2004. Schmerberg 2003. Vgl. den Sammelband Jung, T. 2002a. Grünbein/Seneca 2004. Ebd., S. 9 (Grünbein: An Seneca. Postskriptum, V. 2 f.). Ebd., S. 15 (V. 91). Ebd. (V. 97).
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Lebens« mit dem Fortleben seines »Monuments aus Sätzen«12 impliziert jedoch auch in Bezug auf den jüngeren Dichter die Hoffnung auf den schriftlich tradierten Ruhm über den Zerfall des Leibes hinaus. Die alten Topoi bleiben unendlich erneuerbar. Diese Entwicklungen eignen sich, um in einer Art synchronischem Schnappschuss die Bedeutung poetologischer Metaphern in Zeiten ausgeprägter literarischer Veränderung zu untersuchen, und zwar nicht aus der zeitlichen Distanz, sondern aus dem Fluss der Zeit heraus. Interessant sind die Entwicklungen für die vorliegende Studie deshalb, weil sich Verschiebungen der poetologischen Konstellationen ausmachen lassen, die in mancher Hinsicht so bedeutsam sind wie die Wandlungen, die den ›Anfang‹ der neuzeitlichen deutschen Literatur mit Opitz und den ›Anfang‹ der modernen deutschen Literatur mit Goethe markierten. Um die Jahrtausendwende lassen sich vor allem folgende Veränderungen feststellen:
• • • • • •
verstärkte Internationalisierung Erweiterung des Medienspektrums, durch das Literatur verbreitet und rezipiert wird verstärkter Kontakt und verstärkte Spannung zwischen ›ernster Kultur‹ und ›Unterhaltungskultur‹ (E- und U-Kultur) sowie fließende Übergänge, mit Erweiterung der Partizipation von Produzenten und Rezipienten Infragestellung von Gattungsgrenzen und -hierarchien intensivierte Verbindung zu anderen Künsten verstärkte Rezeption von Literatur als Ereignis.
Dabei handelt es sich um Tendenzen, die nicht gänzlich neu sind, sondern jeweils an ältere Traditionen anknüpfen können. Die Spannungen zwischen nationaler und internationaler Verbreitung und Rezeption, die sich am Anfang des 21. Jahrhunderts primär in Bezug auf die englische Sprache manifestieren, entsprechen in veränderter Form den Spannungen in der humanistischen Tradition bezüglich des Lateinischen als einer internationalen Sprache. Das verfügbare Medienspektrum erweiterte sich schon im Laufe des 20. Jahrhunderts mit Schallplatte und Film. Die Erweiterung der Partizipation an Literatur prägt mit der Bildungsgeschichte schubweise auch die Literaturgeschichte, wobei allerdings die Erfassung solcher Veränderungen immer auch davon abhängt, welche Formen als ›Literatur‹ beziehungsweise ›Dichtung‹ berücksichtigt werden. Die Gattungen wurden mit jedem ›Neuanfang‹ neu definiert und in ihrem Verhältnis zueinander verändert, wobei geistlich orientierte Poetiken häufig von Bestrebungen bestimmt waren, die antiken Hierarchien außer Kraft zu 12
Ebd., S. 9 (V. 18).
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setzen. Verbindungen zur Literatur und Musik beziehungsweise zu den visuellen Künsten durchziehen in vielen Variationen die deutsche Literatur. Die Realisierung von Dichtung als Ereignis findet sich zu allen Zeiten: so in der höfischen Unterhaltung im Mittelalter, im Wettstreit des Meistersangs, bei Geburtstagen, Hochzeiten, Begräbnissen und anderen Feierlichkeiten besonders in der frühen Neuzeit, in Ritualen von literarischen Vereinigungen und in literarischen Wettbewerben sowie in den verschiedenen Formen des Theaters. Dies heißt nicht, dass die Entwicklungen um die Jahrtausendwende zwangsläufig eine Literatur hervorbringen, die ›schon dagewesen‹, ›alt‹ oder ›epigonal‹ ist. Es bedeutet jedoch, dass es Vorbilder und Orientierungspunkte gibt sowie auch Denkmuster und sprachliche Formen, mit denen und in denen sich diese Veränderungen konzipieren und besprechen lassen. Die alten Debatten helfen, das Neue differenzierter zu erörtern, als dies mit den Topoi von der ›Nachahmung‹ und ›Epigonalität‹, der ›Innovation‹ oder dem ›Verfall‹, der ›hohen‹ und ›niedrigen‹ beziehungsweise ›trivialen‹ Literatur möglich ist – wenn auch diese stark wertenden Topoi für das jeweilige Selbstverständnis der beteiligten Gruppen sowie deren Rezeption erhellend sind. Im Folgenden sollen diese Entwicklungen anhand von einigen Beispielen verfolgt werden. Die Internationalisierung der deutschen Literatur manifestiert sich besonders nach zwei Richtungen hin: einerseits in der Orientierung an der anglo-amerikanischen Literatur und Literaturszene und andererseits in der Öffnung hin zu Kulturen, die zunehmend in der deutschen Wirklichkeit heimisch geworden sind. Seit der Wende konnten sich zunehmend nach anglo-amerikanischem Muster die Strukturen des freien Marktes durchsetzen, so in der Hinwendung zu Sponsoren bei der Finanzierung literarischer Veranstaltungen sowie in der Einschaltung von Agenten, die zwischen Autoren und Verlagen auf explizit kommerzieller Basis vermitteln. Die Dominanz der Belletristik aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum auf dem deutschen Markt fordert in diesem Kontext zum Vergleich mit der deutschsprachigen Belletristik heraus13 und reizt zu Annäherungen diverser Art, so beispielsweise schon in den Titeln der Romane Partygirl (2002) und Norma Desmond. A Gothic SF-Novel (2002) von Marlene Streeruwitz.14 13
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So ging es in einer vom Literarischen Colloquium Berlin veranstalteten Dikussionsrunde unter dem Titel »Wieviel Welthaltigkeit braucht die deutschsprachige Literatur?« um die Schlüsselfrage, »Fehlt es der aktuellen deutschsprachigen Literatur an Welthaltigkeit?« (LCB Programm Juni 2003, Veranstaltung 20.6.2003). Maßstab waren die amerikanischen Autoren Jonathan Franzen und Philip Roth. Dieser Ansatz mit seiner Behältermetapher stellt sich dar als ›räumliche‹ Entsprechung zum zeitlichen Topos von der deutschen ›Verspätung‹. Amerika hat in der Debatte um den Status der deutschen Dichtung das antike und moderne Europa als Bezugspunkt verdrängt. Streeruwitz 2002c und Streeruwitz 2002b.
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Auch der Erfolg der Kinderbuchserie Harry Potter sogar bei Erwachsenen trug zu einer breit angelegten Diskussion über den Stellenwert und die Literaturfähigkeit von Unterhaltung bei.15 Wenn die ›Grenze‹ zwischen ›hoher Literatur‹ und ›Unterhaltungsliteratur‹ zunehmend durchlässig wird, so dürfte dies zu einem großen Teil auf anglo-amerikanische Einflüsse zurückzuführen sein; auch populäre Formen der Lyrik, die unten näher betrachtet werden sollen, sind zumeist aus Amerika importiert. Man mag dies als negative Entwicklung sehen, oder aber die Erneuerungsfähigkeit der deutschen Literatur begrüßen, zumal die Aufnahme ausländischer Anregungen häufig mit der Entdeckung auch heimischer Formen in Zusammenhang steht und ohnehin Tradition hat – man denke an Brechts Dreigroschenroman und triviale ›Opern‹. So spielt Streeruwitz mit dem Topos »Gothic« auf eine populäre Tradition englischer Literatur an und mit der Aufmachung dieses Romans auf amerikanischen Kitsch der sechziger Jahre. In dem dreiteiligen Fortsetzungsroman Lisa’s Liebe (1997) dagegen hatte sie den deutschsprachigen Trivialroman aufgegriffen und zwischen Österreich und New York spielen lassen – schon der Apostroph signalisiert den kulturellen Transfer beziehungsweise die kulturelle Kontamination.16 Sie schuf damit ein Werk, das bereits 2006 im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zu kanonischem Status avancieren konnte. Die Spannungen der unweigerlich zunehmenden Globalisierung und die Herausforderungen einer notwendig multikulturellen Gesellschaft machen sich seit 1990 im deutschsprachigen Raum durch die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa und die zunehmende Integration – oder auch mangelnde Integration – besonders türkischer Mitbürger bemerkbar.17 Dass insbesondere der letztere Prozess mit anhaltenden kulturellen und sprachlichen Spannungen verbunden ist, verdeutlicht die Theaterszene. Hier sind finanzielle Mittel und eine Infrastruktur notwendig, über die eine finanzschwache Minderheitenkultur typischerweise nicht verfügt; und die Unterschiede zwischen türkischer und deutscher Theaterkultur scheinen 15
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Der erste Band erschien 1997 auf englisch und 1998 in deutscher Übersetzung (Rowling 1997). Die vielbeklagte ›Überschwemmung‹ des deutschen Markts mit englischsprachiger Literatur müsste auch die Frage anregen, warum der deutschsprachige Raum mit einer mangelnden Produktion von erfolgreichen Büchern zu kämpfen hat. Besonders in der Entwicklungsphase von potenziellen Autoren dürften sich sowohl das Bild von der ›ernsten‹ Kultur – und das heißt Kultur der Erwachsenen – als auch das Gespenst des ›romantischen Originalgenies‹ hemmend auswirken, nicht zuletzt in der Vermittlung durch Lehrer. In Amerika schreiben Studenten der Literatur tendenziell auch selbst, und die ›Creative-Writing‹-Kurse sind unzählbar. Auch in Großbritannien verfassen schon die Sechs-bis-Elfjährigen Geschichten, Gedichte und selbst ›Romane‹. Das Dichten gilt als erlernbar und unterhaltsam, mit fließendem Übergang zum Ernst. Streeruwitz 1997. S.o., S. 504.
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nicht geeignet, eine Symbiose zu fördern. Dem Berliner Regisseur Yalcin Baykul zufolge leidet das Theater in der Türkei traditionell an »inneren Problemen«: Es ist ein »gesprochenes« statt ein »geschriebenes« Theater, es ist »irrational« und »ohne Individuum«, »unterhaltend« und ohne »künstlerische Ansprüche«.18 Die Tendenzen zum Gesprochenen, Emotionalen, Kollektiven und Unterhaltenden, die sonst für die deutsche Literaturlandschaft um die Jahrtausendwende kennzeichnend sind, werden in Bezug auf das türkische Theater aus deutsch-türkischer Perspektive als »historische Verspätungen« gesehen. Ein für die Mainstream-Kultur typischer geschichtlicher Topos wird damit auf die marginale Kultur übertragen, um deren »Pflegebedürftigkeit« zu kommunizieren; und die Mainstream-Kultur soll mit finanzieller Unterstützung dafür sorgen, dass die alten »Krankheiten« in etwas »Gesundes« verwandelt werden.19 Die topischen Metaphern werden hier strategisch eingesetzt, um die finanziellen Bedürfnisse der deutschtürkischen Theaterkultur durchzusetzen. Baykuls Strategie läuft allerdings Gefahr, Türken auf eine »Opferrolle« festzulegen.20 In der Lyrik ist vielleicht eher eine offene Zusammenwirkung des ›Einheimischen‹ und des ›Fremden‹ möglich, wie sie sich in Kundeyt S¸urdums Gedichtband Kein Tag geht spurlos vorbei (2002) manifestiert.21 Kulturelle ›Fremdheit‹ ist hier nur ein Aspekt einer komplexen menschlichen Identität. Die Fremdheit birgt die Möglichkeit einer Überwindung in der Abenteuerlust und der produktiven Identifikation mit einer anderen Sprache, die auch Gemeinsamkeit vermitteln kann: Genugtuung in der Fremde aufregend ist es das reiten auf unbekannten ebenen stolpern auf den fremden steinen sich freuen nach einem gelungenen sprung über einen bach in meiner deutschen sprache22
Die Metapher von der Sprache als Behälter entwickelt hier enorme politische Kraft: Sie vermittelt die Möglichkeit eines Gelingens der Integration und ist zugleich eine Herausforderung an die zur Ausgrenzung fremder Kulturen neigende Umwelt. Die Spannungen der Ausgrenzung thematisiert dagegen besonders wirkungsvoll Feridun Zaimoglu, vor allem in seinem programmatisch betitelten Buch Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995), das im
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Baykul 2002, S. 17. Ebd. Zaimoglu 1995, S. 12 (Vorwort). S¸urdum 2002. Ebd., S. 51.
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Jahre 2000 auch als CD-Hörspiel erschien.23 Zaimoglus Projekt steht in der Tradition von Günter Wallraffs dokumentarischem Buch Ganz unten (1985)24 – auch er projiziert sich mit sozialer Vertikal- und Abgrenzungsmetaphorik als Helfer der Unterprivilegierten, wenn er »in den ›LumpenHades‹ [abtaucht]«.25 Er stellt jedoch zehn Jahre nach Wallraff die Welt der Türken in Deutschland aus der Perspektive eines türkisch-deutschen Schriftstellers dar und behandelt die »›Gastarbeiterkinder‹« der zweiten und dritten Generation, die zwischen den Kulturen groß geworden sind und in Deutschland ihr Zuhause haben.26 Eine spannungsvolle Identität vermittelt das Etikett »Kanake« – ehemals ausgrenzendes Schimpfwort und nun gruppenstiftende Bezeichnung der eigenen Identität. Entsprechend ist die »Kanak Sprak« ein bewusst gepflegtes Idiom zwischen dem Türkischen und dem »Alemannischen«, ein »sich laufend weiterentwickelnder symbolischer Jargon«, dessen »Wortgewalt« Zaimoglu dadurch zu vermitteln sucht, dass er »Kanaken in ihrer eigenen Zunge zu Wort« kommen lässt.27 Die Metapher von der Sprache als Behälter wird mit einer körperlichen Metonymie verbunden, um eine eigenständige, gruppenspezifische Identität zu kennzeichnen. Zaimoglu geht es hier und in seinen Theaterstücken darum, dem harmonisierenden »Märchen von der Multikulturalität« entgegenzusteuern, indem er schonungslos realistische Porträts von »Kanak Kids« bietet, die sich in ein orientalistisches Folklore-Bild und einen exotischen »Multikulti-Zoo« nicht einfügen.28 Er bekennt sich zu einem »Neuen Realismus« – unter Bezug auf die traditionelle Topik. Anders als Fontane, der das »rohe« Material nur in geläuterter Form für literarisch wertvoll hält und die Darstellung des »alltäglichen Lebens« und der »Misere« sowie auch die »Tendenz« ablehnt,29 versteht der »Kulturkämpfer« Zaimoglu sein Werk als politisch:30 Es ist ein Beitrag zur Entstehung der »ersten rohen Entwürfe für eine ethnizistische Struktur in Deutschland«.31 Er strebt jedoch keine dokumentarisch-tendenziöse Wiedergabe oder ›Beschreibung‹ der »Realität« an, sondern eine ›Konstruktion‹ der »Kanak Sprak« »vom Schreibtisch aus«.32 Es ist eine »Nachdichtung« in der aristotelischen Tradition: Angestrebt wird »ein 23 24 25
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Zaimoglu 1995 und Zaimoglu 2000. Wallraff 1988. Zaimoglu 1995, S. 15 (Vorwort). Vgl. Wallraff: »Viel war nicht nötig, um mich ins Abseits zu begeben, um zu einer ausgestoßenen Minderheit zu gehören, um ganz unten zu sein« (Wallraff 1988, S. 11). Wie Wallraff (ebd.) vermittelt auch Zaimoglu den heldenhaften Aspekt seines gefahrvollen Unterfangens (Zaimoglu 1995, S. 17). Zaimoglu 1995, S. 9 (Vorwort). Ebd., S. 9, 13 f. und 18. Ebd., S. 11. Fontane 1969, S. 240 f. Zaimoglu 2002, S. 15. Zaimoglu 1995, S. 17. Ebd.
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in sich geschlossenes, sichtbares, mithin ›authentisches‹ Sprachbild«,33 nicht das wirklich Gesprochene. Die aristotelische Tradition und ihre Ausprägung im europäischen Realismus liefern somit noch immer Topoi, die der ästhetischen Bestimmung neuer Projekte dienen. Wenn Zaimoglu zugleich seinen »Rebellenfuror« geltend macht,34 so hat auch dieser Tradition. Die verstärkte Internationalisierung der deutschen Literaturszene hängt – besonders was den Bezug zum amerikanischen Literaturbetrieb betrifft – auch mit der Einführung des Mediums Internet zusammen, das nicht territorial gebunden ist und die englische Sprache zur Universalsprache gemacht hat. Wie bereits deutlich wurde, erlaubt es neue Arten der interaktiven Literatur und eröffnet in bislang nicht vorstellbarem Maße jedem Einzelnen einen direkten Weg zu einem potenziell unbegrenzten Publikum. Aber auch in anderen Hinsichten hat sich die mediale Landschaft verändert. Zum Medium der Schrift, das seit Opitz maßgebend die prestigeträchtige Dichtung bestimmt und das in der Romantik kunstvoll ausgeblendet wurde, um die Illusion des spontanen, privaten Ausdrucks zu erzeugen, gesellen sich nun andere Formen der Verbreitung, welche die auditive und performative Dimension der Literatur wirksam vermitteln können. Dass das Hören von Literatur auch jenseits der literarischen Popkultur an Bedeutung zunimmt, zeigt die Verbreitung von Hörbüchern, vormals eher eine Sonderform der Veröffentlichung. Zusammenwirkend mit der Tradition des Hörspiels, lange eher im literarischen Abseits, ist das Hörbuch zu einer alternativen Form literarischer Rezeption avanciert und beansprucht dementsprechend einen Platz in den Feuilletons. Erfolgreiche Romane, so von Martin Walser oder Bodo Kirchhoff, werden häufig zeitnah auch als vorgelesenes Werk oder Hörspiel auf CD veröffentlicht,35 die Lyrikbände von Thomas Kling erschienen gleich mit beiliegender CD, auf denen er seine Gedichte liest,36 und die Klassiker entdeckt man über CDs wieder neu: Klopstocks 200. Todestag wurde mit einem lyrischen Stimmenkonzert auf CD begangen, in dem von zeitgenössischen Autoren Unser Klopstock vorgetragen wurde.37 Die großen Romane von Fontane lassen sich auf 38 CDs über das Ohr rezipieren;38 und Rilke wurde in dem von Richard Schönherz und Angelica Fleer komponierten Rilke-Projekt gesprochen und 33 34 35
36 37 38
Ebd., S. 17 f. Zaimoglu 2002, S. 15. Martin Walsers »Der Lebenslauf der Liebe« wurde 2001 als Roman veröffentlicht sowie 2002 auf 10 CDs, gelesen vom Autor (Walser 2001 und Walser 2002a). Bodo Kirchhoffs »Schundroman« erschien 2002 als Buch und 2003 als Hörspiel (Kirchhoff 2002 und Kirchhoff 2003). Kling 1999 und Kling 2002. Klopstock 2003. Fontane 2004.
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gesungen, begleitet von dem Reader Rilke Reloaded und einer DeutschlandTournee, die als »poetische Reise in Rilkes Weltinnenraum« konzipiert war.39 Rilkes eigenste poetologische Metapher, die einen von jeglicher Öffentlichkeit abgeschiedenen und die Zeitlichkeit transzendierenden symbolischen ›Raum‹ des Gedichts evozierte, wird hier zu einem attraktiven Ziel für Poesie-Touristen. In den Buchhandlungen haben Autorenlesungen Hochkonjunktur, ohne dass sich dies unbedingt im anschließenden Kauf des vorgelesenen Buches niederschlagen würde: Die Hörer suchen oft mehr das auditive Ereignis und den direkten Kontakt zum Autor als den Besitz des dauerhaften Kulturguts. Auch im Freundes- und Bekanntenkreis pflegt man gesellige Lesezirkel. Am Anfang des 21. Jahrhunderts befindet sich »das Volk der Dichter und Denker« einer Befragung zufolge inmitten einer »Kulturrevolution«: »Die Hochkultur traditioneller Prägung hat ihr Monopol bzw. ihren Elitecharakter verloren.«40 Horst Opaschowski, Leiter der im Jahre 2003 vom BAT Freizeit-Forschungsinstitut durchgeführten Studie, kommentiert das Ergebnis mittels einer Denkmalmetapher: »Die Hochkultur wird vom Sockel geholt, aber nicht gestürzt; sie lebt weiter als Kultur für alle.«41 Es spielen hier zwei im Kulturbegriff angelegte Tendenzen mit, denn ›Kultur‹ lässt sich einerseits mittels Vertikalitätsmetaphorik ausdifferenzieren in ›hohe‹ und ›niedrige‹ Kultur und andererseits mit hoher Kultur beziehungsweise Kultiviertheit identifizieren.42 Die zweite Bedeutung liegt der Metapher des von einer Bildungselite beherrschten »Monopols« zugrunde und wird in die Vergangenheit verwiesen: Fortan gibt es keine Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die als alleiniger Kulturträger fungiert. Ebenfalls in die Vergangenheit gebannt wird die Vertikalität der ersten Bedeutung zugunsten einer zeitgemäßen Kultur, an der »alle« Teil haben. Indem Opaschowski die »Hochkultur« über die Metapher vom Denkmal mit einer starren, überholten Vergangenheit assoziiert, kann er mit der abgewandelten Metapher vom Sturz – auch als Ikonoklasmus interpretierbar – eine revolutionäre Bewegung der sich emanzipierenden Massen evozieren, die sich als friedliche ›Revolution‹ manifestiert. Mittels des Pygmalion-Topos geht aus diesem Prozess ein neuer, menschlicher, egalitärer Kulturbegriff hervor, in dem »Reflexion und Emotion, Bildung und Unterhaltung zusammengehören«.43 Das Fazit, welches das Freizeit-Forschungsinstitut den Kulturpolitikern ans
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Rilke, Schönherz u. a. 2001–2004. Dies ist das Ergebnis einer Befragung von 1000 Deutschen über 14 durch das BAT FreizeitForschungsinstituts unter Leitung von Horst W. Opaschowski (Opaschowski 2003). Ebd. Vgl. Duden 1999, Bd. 5, S. 2304 (Kultur, Bedeutungen 1a und 2). Opaschowski 2003.
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Herz legt, ist: »E + U = I. Eine neue Integrationskultur ersetzt den Gegensatz von E- und U-Kultur.«44 Deutlich werden aus dieser Studie nicht nur die Wandlungen im Verständnis des Kulturbegriffs, sondern auch die je nach Gruppeninteresse variablen Interpretationsmöglichkeiten. Anders als um 1800, als die durch ihre Bildung und ihren ästhetischen Geschmack ausgewiesenen Kulturträger den Zugang breiterer Bevölkerungsschichten zur hohen Kultur für Bildungszwecke nutzen wollten, indem sie das ›ganze‹ Publikum zu sich zu ›erheben‹ suchten, soll nun im Namen der Demokratie dem Desiderat der Unterhaltung zu seinem Recht verholfen werden: »Das Votum der Bevölkerung ist eindeutig. Kultur heute schließt auch populäre Unterhaltungsangebote mit ein, die Zerstreuung und Erlebnisse bieten und einfach Freude machen.«45 Wenn festgestellt wird, es geselle sich heute »zum Bildungsanspruch […] der Unterhaltungswert«, so wird deutlich, dass die bereits von Horaz in Bezug auf die Dichtung diskutierte Wahl zwischen docere und delectare und seine Empfehlung ihrer Verbindung nichts an Aktualität eingebüßt hat. Anders als in der frühen Neuzeit, als man in Übereinstimmung mit dem integumentum-Topos die Bildung durch Unterhaltung schmackhaft zu machen suchte, gilt die Unterhaltung als ›Wert‹ für sich. Und in Gegensatz zum politischen Programm eines Bertolt Brecht wird hier die Unterhaltung nicht mit den kulinarischen Bedürfnissen des Bürgertums assoziiert, sondern mit der Emanzipation der Massen. Im Hintergrund stehen jedoch die Interessen des Markts, für dessen Streben nach einem möglichst umfassenden Einfluss das von British American Tobacco finanzierte FreizeitForschungsinstitut besonders hellhörig ist: »Elite und Masse sind in der Kulturlandschaft von heute keine Gegensätze mehr, weil beide inzwischen Markt- und Massencharakter bekommen haben.«46 Legitimiert wird mit der Metapher von einem allen Menschen offenstehenden Territorium das Ziel, ein kulturelles ›Angebot‹ mit möglichst großem Käuferkreis zu schaffen. Die Veränderungen, die sich im kulturellen Umfeld abzeichnen, manifestieren sich auch in der Literatur und in der Ästhetik, wobei die traditionelle Vertikalmetaphorik weiterhin der Orientierung dient. Die Grenzen zwischen der ›hohen Literatur‹ und der ›Trivialliteratur‹ werden durchlässiger, damit aber auch brisanter, da die Bewertungskriterien destabilisiert wor44 45 46
Ebd. Dass die Kulturpolitik (zumindest in kleinem Rahmen) von der Studie Notiz nahm, geht daraus hervor, dass die Hamburger Kultursenatorin Dana Horáková zusammen mit dem Leiter die Studie der Öffentlichkeit präsentierte. Ebd. Ebd. Vgl. zur Bedeutung der Pop-Literatur in diesem Umfeld Jung, T. 2002a. Den »heute inflationären Gebrauch von Pop« erklärt Thomas Jung mit dem »medial perpetuierten Interesse der Konsumgesellschaft« an der Vergrößerung des Publikums durch die Vermittlung von »kollektiven Phantasien und Scheinidentitäten […], die sich entlang der Ideologeme ewiger Jugendlichkeit, Erfolgsorientierung und Sexappeal entwickeln« (Jung 2002b, S. 11). Der Reihe solch strategisch eingesetzter Ideologeme lässt sich auch die Inklusivität zuordnen.
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den sind. Diese Entwicklung nutzt Bodo Kirchhoff in seinem Schundroman, der mit Titel, Handlung und visueller Aufmachung zur Diskussion vertikaler Gattungsgrenzen herausfordert. Explizit adaptiert Kirchhoff in der Handlung ein erfolgreiches amerikanisches Muster: Er verweist auf Charles Willefords Miami Blues, dem er »die Lust auf eine Gangsterstory mit der Variante des zufälligen Anfangsopfers auf einem Flughafen« verdanke.47 Der Roman ist jedoch auf den spezifisch deutschen, postmodern sich verstehenden Leser zugeschnitten, denn der Ort ist die Frankfurter Buchmesse, und »das Sizilianische unseres Literaturbetriebs lieferte die Notwehrlage für diesen Roman aus der Hüfte, einschließlich der Idee, daß jenes Anfangsopfer nur der Pate selbst sein kann.«48 Der in Anknüpfung an Brechts Dreigroschenroman49 und Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction50 gewählte Gattungstitel appelliert an die kulturbeflissenen Zeitgenossen, die sich soeben mit der Legitimität lustvoller Unterhaltung auseinandersetzen. Kirchhoffs Buch ist gespickt mit Anspielungen auf das eigene Werk und dessen erwünschte Rezeption – so trägt die Theologiestudentin Nola ein »T-Shirt mit dem Aufdruck Parlando«51 – sowie Anspielungen auf Autoren und Praktiken des zeitgenössischen Literaturbetriebs. Rein zufällig ermordet wird der »Pate« alias Marcel Reich-Ranicki, der Kirchhoffs vorhergehenden Roman Parlando als »missraten« verrissen hatte.52 Aufgrund dieser fiktionalen Tat profitierte Kirchhoffs Schlüsselroman vom Skandal um Martin Walsers Tod eines Kritikers, den sein Roman sogar explizit erwähnt;53 der Verlag zog die für September 2002 marktgerecht zur Buchmesse geplante Veröffentlichung von Kirchhoffs Roman vor, so dass beide Romane gleichzeitig im Juni erscheinen konnten. »Aufmerksamkeitsschindender als Kirchhoff kann ein Autor die Realität der skandalträchtigen Medienwirklichkeit schwerlich verpacken«, kommentiert ein Rezensent dieses »Fressen für Kritikerbestien«.54 Die Wahl der Buchmesse als Ort der Handlung ist bezeichnend: Vorbei ist die Zeit des weltfremden Romantikers und der ›autonomen‹ Kunst – »Du siehst mir aus, mein Buch, als schieltest du nach Markt und Börse.«55 Neben den Details seines persönlichen Racheaktes und dem Bezug zu Walsers Roman fokussieren die Rezensenten entsprechend den Vorgaben von Kirchhoffs Titel die problematisch gewordene Beziehung zwischen Tri47 48 49 50 51 52 53 54 55
Kirchhoff 2002, S. 5 (Vorwort). Charles Willefords »Miami Blues« erschien 1984. Ebd. Brecht 1988–2000, Bd. 16 (Dreigroschenroman). Vgl. Quentin Tarantino (Regie): »Pulp Fiction«. Mit John Travolta u. a. (1994). Die Beziehung kommentiert Mensing 2002. Kirchhoff 2002, S. 236 (Kap. 48). Vgl. Kirchhoff 2001. Vgl. dazu die Rezensionen, z. B. Dubbe 2002. Walser 2002b; vgl. Kirchhoff 2002, S. 218 (Kap. 45). Hatzius 2002. Horaz 1993, S. 498 f. (Epistulae I, 20: An mein Buch); s. o., S. 362.
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vialität und Kunst: Der Roman ist »Trash als Kunstform«56 und eine »Mischung aus Hochliteratur und Trivialem« von einem »seriösen und angesehenen Autor«.57 Die Rezensentin Ijoma Mangold spekuliert, dass möglicherweise Schundromane notwendig sind, »um dem Pathos wieder zu seinem Recht zu verhelfen«,58 und begrüßt den von Kirchhoff gelieferten »Kitsch, den wir schon immer erträumten, aber nie danach [sic] zu verlangen wagten«.59 Der Gegensatz zwischen Kunst und Kitsch wird hier aus einer vertikalen Bewertungsmetaphorik in die Polaritäten von Rationalismus und Irrationalismus überführt, wobei der Kitsch zu den Werten der Romantik (Traum) und des Expressionismus (Pathos) in Verbindung tritt. Eine Unsicherheit der Kritiker gegenüber dem literarischen Kulturbegriff wird besonders dann deutlich, wenn es um die ›Kluft‹ zwischen ›ernster Kultur‹ und ›Unterhaltungskultur‹ geht, die Kirchhoff mit seinem Roman erfahrbar macht. Denn einerseits gilt sie als längst überwunden, andererseits kommt man ohne sie nicht aus, wie aus der Rezension von Helmut Böttiger hervorgeht: Seit Jahrzehnten werden furchtbar fortschrittliche teutonische Schlaumeier nicht müde zu fordern, dass der Graben zwischen E- und U-Kultur endlich überwunden werden müsse. Obwohl es diesen Graben schon längst nicht mehr gibt und jeder Abiturient viel eher diverse Nummer 1-Hits aus allen Charts parat hat als einschlägige Stellen aus »Faust 2«, ist das immer noch eine höchst wohlfeile Attitüde. Kirchhoff setzt listig auf diese intellektuelle Doppelmoral. Er vertraut darauf, dass der aufgeklärte Leser sich mittlerweile zwar selbstverständlich zum Schund bekennt, aber irgendwie auch einen Indikator dafür braucht, im Zweifelsfall drüberzustehen.60
›Fortschrittlichkeit‹ erweist man, indem man E- und U-Kultur verbunden wissen will, und ›Aufklärung‹ zeigt sich im ›Bekenntnis‹ des gebildeten Lesers auch zum Schund. Die Metaphern deuten darauf hin, dass man sich in der Auseinandersetzung mit neuen Herausforderungen an bekannten, aus dem 18. Jahrhundert tradierten Mustern zu orientieren sucht und dass die ›Hochkultur‹ von manchen Rezensenten weiterhin an dem Platz verortet wird, den vormals die Religion besetzte. Das Verhältnis zwischen den Kulturen wird zugleich horizontal (»Graben«) und vertikal (»drüberstehen«) konzipiert: Die Bewertungsmaßstäbe sind unklar geworden. Dass Böttiger selber mit einer Integration der Kulturen Schwierigkeiten hat, geht daraus hervor, dass er den Graben einfach verlegt und zwischen den Generationen situiert: Für den älteren, nur oberflächlich »aufgeklärten Leser« bleibt die ›E-Kultur‹ maßgebend, die jüngere Generation dagegen interessiert sich 56 57 58 59 60
Bucheli 2002. Dubbe 2002. Mangold 2002. Ebd. Böttiger 2002.
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vorwiegend für die ›U-Kultur‹. Entsprechend bedient Böttiger die »Doppelmoral« seiner Leser, wenn er konstatiert, im Schundroman hielten sich Trash und Kunst »schön die Waage«.61 Die Bedeutung von Kirchhoffs Roman liegt weder in der Handlung und Form, noch auch in dem »ironisch-postmodernen Spiel mit den Regeln des Genres«,62 sondern in dem zugleich persönlichen und künstlerischen Dialog mit dem Literaturbetrieb, mit den Kritikern und nicht zuletzt mit den Lesern. Die Kritiker »quälen sich mit der zermürbenden Frage, ob der Kirchhoff ’sche Schund nun wirklich Schund ist, weil er doch von Kirchhoff ist.«63 Kirchhoff fordert die Leser unter Einbringung seiner eigenen Gefühle, Verletzlichkeit, Eitelkeiten und Rachegelüste heraus, kulturell Farbe zu bekennen: Seinen über lange Zeit hin nach allen Regeln der Kunst gearbeiteten Roman Parlando hatten sie zu wenig beachtet, nun liefert er ihnen Schund »aus der Hüfte« – und er wird gekauft.64 Für die zeitgenössischen Rezipienten gesellt sich zu der Spannung um den Ausgang der Gangsterund Love-Story die Spannung um den Ausgang des Wettstreits zwischen E-Kultur und U-Kultur: »Schund und Kunst handeln sich gegenseitig immer weiter hoch, und bis zum Schluss ist man nicht bereit zu glauben, dass dieser Kampf unentschieden ausgehen soll.«65 Mit dem Wettkampftopos versucht Böttiger, die Kulturen dem Zeitgeist gemäß zueinander in Bezug zu bringen, ohne sie in ihrer jeweiligen Identität anzutasten. Gerade diese Hemmungen nutzt Kirchhoff virtuos. Denn nicht im Roman wird der Kampf zwischen Schund und Kunst ausgetragen, sondern im Kopf des Rezipienten. Der Roman inszeniert ein literarisches Event, an dem alle Beteiligten mitwirken: das Buch selbst mit Ort, Helden, Handlung, Titel, Aufmachung und Publikationsgeschichte; der Autor mit seiner literarischen Vergangenheit und seinen Konkurrenten; der Literaturbetrieb, von dem er handelt und auf den er abzielt; und die Leser mit ihren Erwartungen, ästhetischen Unsicherheiten und ihrer Sensationslust. Nicht um dauerhaften Ruhm geht es, sondern um die stärkste unmittelbare Wirkung in der eigenen Zeit. Die Auseinandersetzung um die Grenzen zwischen ›ernster Literatur‹ und ›Unterhaltungsliteratur‹ manifestiert sich besonders spannungsreich in Bezug auf die Lyrik, weil sie einerseits exklusiver als andere Gattungen der schriftlichen Hochkultur zugerechnet wird, andererseits jedoch durch ihr performatives Potenzial auch einfache Verbindungen zu den ›lyrics‹ der PopKultur ermöglicht. Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel widmeten 1999 das 600. Heft der Zeitschrift Merkur programmatisch dem Thema Lyrik und 61 62 63 64 65
Ebd. Jürgensen 2002. Asb 2002. Vgl. Mangold 2002. Böttiger 2002.
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projizieren sie als »das Esoterischste, das es gibt«66 – eine radikale Abgrenzungsmetapher, die ein bedrohtes Kulturgut schützen soll. Jörg Drews feiert in dem Band die »neue Unersetzlichkeit der Lyrik«, die sich aus der Bedrohung durch die »Übermacht des Politisch-Gesellschaftlichen« sowie aus dem Duktus der »Alltagslyrik« und »WG-Poesie« der nach-68er Jahre gelöst habe.67 Maßstab ist eine »Poesie der Sprache«,68 die Gedichte als »ästhetische Objekte« versteht.69 Wenn auch die zeitgenössische Vielfalt der Gattung Lyrik hervorgehoben wird,70 so steht doch das schriftliche Gedicht im Vordergrund, das sich in einem Umfeld vergänglicher Ereignisse als physischer Gegenstand konzipieren lässt. Auch das von Christoph Buchwald unter Mitwirkung von jährlich wechselnden Lyrikern herausgegebene Jahrbuch der Lyrik privilegiert dezidiert die schriftliche Form – wiewohl es sich zum Ziel setzt, alljährlich zu zeigen, »wie sich Sprache, lyrische Formen und Ausdrucksmöglichkeiten verändern (müssen)«.71 Wenn es sich als »›Institution‹« darstellt, die seit 1979 »alle wichtigen Entwicklungen in der Lyrik sichtbar« macht,72 so ist bereits die visuelle Vermittlung vorausgesetzt und ein normatives Ziel angedeutet. Erkennbar ist dies beispielsweise im Jahrbuch der Lyrik 2004, an dem der Schriftsteller, Herausgeber und Verleger Michael Krüger mitwirkte – selber eine ›Institution‹ in der literarischen Landschaft. Wichtig ist die schriftliche Form Buchwald zufolge besonders im Kontext des neuen medialen Umfelds, denn sie soll nun das Gedicht vor der Macht des »feindlichen Lagers« schützen – es ist ein Feind, der »alle Arten von ›Messitsch‹« an die Öffentlichkeit bringt und der nicht zuletzt auf dem Wege der Sprachkontamination das Gedicht »ruiniert«.73 Die Bestimmung der Lyrik in Krügers Nachwort ist eingeschränkt auf das, was »geschrieben« wurde, sowie auf den Dichter romantischen Zuschnitts: Die Autoren sind »seltsame Leute«, die »gegen jede herrschende Vernunft dieses einsame Handwerk« ausüben.74 Die auch von Buchwald hervorgehobene neue Bedeutung des »Handwerks« verweist allerdings zugleich auf ein frühneuzeitliches Dichtungsverständnis, denn im Kontext spontaner »›Messitsches‹« kann sich der wirkliche Dichter erst durch überlegenes Können und die Beherrschung von »Sprache und Form« von jenen Dilettanten abgrenzen, die nichts weiter als romantisierende »Klischees à la Wut & Trauer« hervorbringen.75 Gefragt 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Bohrer/Scheel 1999. Drews 1999, S. 309. Bohrer/Scheel 1999. Drews 1999, S. 310. Ebd. Verlagstext vor der Titelseite in Buchwald/Krüger 2003, S. [2]. Ebd. Buchwald 2003, S. 150. Krüger 2003, S. 149. Buchwald 2003, S. 150.
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ist nun nicht mehr der spontane Gefühlsausdruck, sondern das sorgfältig gearbeitete Gedicht. Buchwald kommentiert die Nutzung des Internets »auf allen Niveaus der Kritischen Kunst« durch »diverse (jüngere) Lyrikszenen«, sieht diese Entwicklung jedoch lediglich als Ersatz für »mangelnde Publikationsmöglichkeiten und ›öffentlichen Raum‹«: Und doch scheint zugleich auch da immer noch zu gelten, daß erst das von einem seriösen Verlag auf holzfreiem Papier gedruckte Gedicht wirklich publiziert ist. Als wüchse der Poesie erst auf dem Papier die Ewigkeit zu, die ihr angemessen zu sein scheint.76
Die Möglichkeit, dass das Internet einen anders konstituierten ›Raum‹ zur Verfügung stellen könnte und dass physische Räume eine anders geartete, über die Performanz vermittelte Wirkung erzielen, ist damit ausgeblendet. Der Ruhmestopos legitimiert die Schriftform und spezifisch auch die unveränderte Fortführung einer sich als maßgebend verstehenden Publikation: Berücksichtigt werden ausschließlich Gedichte, die in geschriebener Form auf Papier eingesandt werden; im Jahre 2003 waren es Buchwald zufolge »66,2 Kilo Gedichte«.77 Dies ist nicht nur eine witzige Anekdote: Sie hat eine poetologische Funktion, denn der Topos von der durch das Buch zu erreichenden zeitlichen Unendlichkeit gewinnt durch die Materialität des Papiers ›Gewicht‹. Das aus dem massiven Fundus von anderen Gedichten durch den Kenner ausgewählte schriftliche Gedicht erhält gegenüber dem ephemeren Internet-Produkt den höheren Wert, den ›wirklicheren‹ Raum und dadurch eine – wenn auch hypothetisch-metaphorische – »Ewigkeit«. Anerkannt wird dies von der Öffentlichkeit, für die das Jahrbuch der Lyrik zu einem »Pantheon deutschsprachiger Dichter« geworden ist;78 in diesem ›zeitlosen Raum‹ wird die zeitgenössische Lyrik der Vergänglichkeit enthoben. Es zeigt sich hier – in Entsprechung zur Funktion der Bibliotheken für Opitz79 – die Bedeutung der literarischen Institution für die Erhaltung traditioneller Werte. Der »seriöse Verlag« C.H. Beck und das hochwertige Papier sollen sicherstellen, dass das Gedicht weiterhin das »angemessene« kulturelle Umfeld hat: jenes der ›ernsten Kultur‹. In einer Zeit rasanter medialer Veränderungen projiziert sich das Jahrbuch der Lyrik nicht mehr als Fanal für das Neue, sondern als Medium der Konservierung, wie auch der Titel von Krügers Nachwort verdeutlicht: Verlangsamung.80 Gedichte sind Krüger zufolge als »ernsthaft betriebene Wortspielereien« eine »abseitige 76 77 78 79 80
Ebd., S. 151. Ebd., S. 150. Joachim Güntner in der »Neuen Zürcher Zeitung«, zitiert in der Ankündigung des »Jahrbuchs der Lyrik 2006« (Fischer 2005). Vgl. Opitz 1966, S. 55 (Kap. 8); s. o., S. 509 f. Krüger 2003.
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Form«, deren Aufgabe es ist, »dem Geschwindigkeitsrausch zu trotzen« und »eine jener Schwingungen festzuhalten, die offenbar nur in dieser alten, uralten Form zum Ausdruck kommen können«.81 Der Ursprungstopos erfährt hier unter dem Ansturm des neuen Mediums eine kuriose Umwandlung: Es scheint, als sei nun das schriftliche Gedicht zur ›Urform‹ geworden. Auch hier zeigt sich wieder die immense Wandlungsfähigkeit der alten Topoi. Wie eh und je ist ihr argumentativer Einsatz nicht an die Plausibilität gebunden, denn ihre Wirkung entsteht aus der Interaktion mit dem zeitspezifischen Kontext. Anders als das Buch ermöglicht das Medium des Internets eine flexible Vermittlung von Literatur: Möglich ist die Schriftform, die Verbindung von Schrift und statischem Bild, die Integration mit Film und animierter Grafik sowie auch die akustische Darbietung. Nach einer langen Periode, in der eine weitreichende Wirkung kaum anders als auf dem Wege der Schrift zu erlangen war, bietet das neue Medium vielfältige Wege zum Ruhm, und entsprechend verschieben sich auch die Werte. Die Aufwertung der akustischen Dimension des Gedichts lässt sich am Projekt lyrikline verfolgen, einer Initiative der Literaturwerkstatt Berlin. Hier kann der Benutzer Lyrik sowohl hören als auch lesen, und zwar vom Dichter selbst und nicht nur in deutscher Sprache: Gedichte sollte man laut sprechen, und Gedichte wollen gehört werden. Laut vorgetragen offenbaren sie ihre Musikalität. Wo auch immer auf der Welt und in welcher Sprache auch immer gesprochen, ist das Gedicht als Gedicht erkennbar, als geformte Sprache, als Wortkonzert. lyrikline.org schafft das scheinbar Unmögliche: die älteste literarische Kunstform, die Poesie, und das jüngste Kommunikationsmedium, das Internet, gehen zusammen. Auf Tastendruck erklingen Gedichte – vom Autor oder der Autorin in Originalsprache selbst gelesen. All das, was ein Gedicht ausmacht, Klang, Melodie, Rhythmus verdichtet sich durch die menschliche Stimme zu Musik.82
Im Vordergrund steht die Sprache als solche und die Beziehung der Dichtung zur Musik. Denn indem das Gedicht unter Ausblendung der Semantik auf »Klang, Melodie, Rhythmus« eingeschränkt wird, eröffnet sich die Möglichkeit der direkten internationalen Rezeption: Suggeriert wird, dass das Gedicht auch ohne ein Verständnis der Bedeutung seine volle Wirkung zu entfalten vermag. Der Bedeutung des Gedichts kommt dann allerdings über das Lesen ihr Recht zu: »Natürlich sind Gedichte welthaltig, sie bedeuten etwas. Sie können das Gedicht wie in einer mehrsprachigen Ausgabe in Übersetzung mitlesen.«83 Die für die Metasprache so wichtige Behälterme-
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Krüger 2003, S. 149. Lyrikline 2004. Ebd.
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tapher84 dient hier dazu, den semantischen ›Inhalt‹ des Gedichts mit der ›Welt‹ zu identifizieren, die im Gedicht ›enthalten‹ ist. Die Möglichkeit einer konzeptuellen Verschmelzung von Form und Inhalt ist ausgeblendet, weil der Hörer den Inhalt des Gedichts nur indirekt rezipieren kann. Ebenfalls ausgeblendet ist die Tatsache, dass dieses Projekt nur neuere Dichter zugänglich macht: Die Poesie mag die »älteste literarische Kunstform« sein – auch dies die Abwandlung eines etablierten Topos85 –, aber die Stimmen der ältesten Dichter sind für uns verloren, denn deren Poesie wurde uns nur – wenn überhaupt – durch das schriftliche Medium bewahrt. Die ›Grenzüberschreitung‹ ist besonders bei jüngeren Lyrikern ein wichtiger Topos. Angestrebt wird eine Entgrenzung der Medien, der deutschen Sprache besonders in Bezug auf die englische, der literarischen Gattungen untereinander sowie der Literatur in Bezug auf andere Künste. Die Beschäftigung mit der Eliminierung politischer Grenzen weicht im Fokus der Jahrtausendwende einer Poetik der »grenzüberschreitenden Dialogizität«,86 so in dem 1999 vom Lyriker Ulrich Johannes Beil publizierten Aufsatz Die Gegenwärtigkeit des Gedichts. Notizen vor der Jahrtausendwende.87 Die Metaphern des »Dialogs« und der »Grenzüberschreitung« personifizieren die Lyrik mittels der grundlegenden menschlichen Aktivitäten der Sprache und des Gehens, um ihr möglichst wirkkräftige kommunikative und räumliche Verbindungen zu anderen Formen zu ermöglichen: Das Entscheidende des »Dialogs« […] scheint mir, daß das gegenwärtige Gedicht notorisch und von Anfang an seine Gattungsgrenzen überschreitet – daß es über sich hinausspricht, hinausspringt, Liaisons mit anderen Gattungen, Medien, Kunstformen eingeht, sich fortwährend auf Exkursionen begibt, Seitensprünge riskiert und sich so mehr denn je als Ort der Überraschungen, als kultureller Knotenund Kreuzungspunkt zu behaupten sucht. »Poesie als Grenzüberschreitung«.
Die metaphorischen Verbindungen werden mit »Liaisons« und »Seitensprüngen« bis in körperliche Liebesbeziehungen vorangetrieben. Bedeutsam ist die Metapher vom »Knoten- und Kreuzungspunkt«, denn damit wird der von Krüger vorausgesetzte ›abseitige‹ Standpunkt verlassen: Die Lyrik soll von der Peripherie ins Zentrum der Kultur rücken. Der romantische Dichtertypus, der sich vorzugsweise am »abgeschiedenen Ort« aufhält,88 verliert damit seine Vorrangstellung. Ebenfalls bedeutsam ist Beils Metaphorik der ›Offenheit‹: »Die Gedichte öffnen sich (und damit auch das sprechende Subjekt) in verschiedene Richtungen, sie erscheinen als Fläche für überraschende Spuren, uner84 85 86 87 88
Vgl. die Ausführungen zur Rohrpostmetapher, s. o., S. 139 f. S.o., S. 405. Beil 1999. Ebd. Die folgenden Zitate (bis auf Anm. 87 f.) entstammen diesem Aufsatz (elektronische Quelle ohne Seiten). Vgl. Horaz 1984, S. 22 f. (V. 298).
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wartete Bilder, als Spielraum für auf den ersten Blick Unzusammenhängendes.« Konstruiert wird auf diese Weise ein poetologischer Erlebnisraum, der den Sinn nicht vorgibt, sondern in einem ›multidimensionalen‹ Prozess zu dessen Konstituierung anregt. Poetologisch ausgelebt wird die »nie dagewesene Offenheit in der Kombination von Bildern, Bildbereichen«, die Beil zugleich als Kennzeichen der Lyrik hervorhebt. Er konstatiert eine »Umorientierung«, welche die Lyrik zur zukunftsträchtigsten Gattung macht: [Es geht] Um die These, daß heute das Gedicht als die offenste literarische Gattung erscheint, als ein Modell des Dialogischen, des Polyphonen und Hybriden – demgegenüber der einst so revolutionäre Roman beinahe schon ins Konventionelle, nur noch Unterhaltsame, Drehbuchartige zurückfällt. Wenn die Literatur heute noch eine Chance hat, Experimente zu machen, dann nirgendwo anders als im Gedicht.
Beils Metaphern sind ein Indikator für die Werte, die in der Diskussion um die Gegenwartslyrik an oberster Stelle stehen: Offenheit, Dialogizität, Bezüge zu anderen Künsten (besonders Musik), Gattungsmischung. Gewahrt wird allerdings die Grenze gegenüber dem »nur noch Unterhaltsamen« und einer filmischen Handlung: Relevant ist dabei der Kontext, denn es geht ihm um die Aufwertung der Lyrik gegenüber dem Roman, den Bachtin zur maßgebenden dialogischen Gattung gemacht hatte. Beil setzt einen linearen Fortschritt voraus, bei dem die Lyrik führend ist: Proklamiert wird wieder einmal eine Avantgarde, Maßstab ist die Innovativität des Experiments. Beils Apologie sucht über die Entgrenzung auch die identitätsstiftende Abgrenzung seiner eigenen Gruppe: Denn die Tendenz zu Dialogizität, Grenzüberschreitung und Offenheit gilt dem 1957 Geborenen als Kennzeichen ausschließlich der Lyrik seiner ›jüngeren‹ Generation. Zu diesem Zweck konstruiert er eine ausführliche Genealogie sowie ein spezifisches Territorium. Ausgegrenzt wird aufgrund ihrer autoritären »monologischen Sprecher-Instanz« die »Väter-Mütter-Generation der Nachkriegslyrik« mit Benn, Brecht, Krolow, Huchel, Bachmann, Celan, Eich und (ohne Nennung individueller Dichter) der Konkreten Poesie. Als Vorbilder anerkannt werden dagegen die »Außenseiterfiguren« Heißenbüttel, Mon, Brinkmann, Mayröcker, Wühr, Jürgen Becker: Sie »bereiteten das Feld vor, auf dem sich nun die neue Lyrikergeneration artikuliert«. Auch ein Feindbild festigt die eigene Identität: Die etablierten Wissenschaftler und »Herren« des Feuilletons – »Vertreter einer Generation, die zwischen Alltagslyrik und politisch korrekter WG-Poesie aufwuchs« – haben der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart den »Kampf« angesagt, indem sie sie der Epigonalität und Unübersichtlichkeit bezichtigen. Kontra gibt Beil diesen Vätern, indem er deren »Zeit dieses ganzen biederen Freizeit-Selbstverwirklichungs-VerseMiefs« für »unwiderruflich vorbei« erklärt. Absolutgesetzt wird die zeitliche Abgrenzung mit dem expressionistischen Topos des »Aufbruchs«, der die
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Möglichkeit jeder Nachahmung ausschließt: Beil will den Leser überzeugen, »daß wir es hier mit einem Aufbruch zu tun haben – daß die Lyrik nicht das Gewesene epigonal fortsetzt, sondern im Gegenteil anfängt, noch einmal, ganz von vorne«. Beils Aufsatz bietet ein Arsenal an grundlegenden Metaphern auf, die schon frühere Gruppen für die Profilierung ihres jeweiligen Projekts einsetzten, wobei manche Metaphern sich durchaus widersprechen – so das Fortschreiten und der Neuanfang, die Artikulation innerhalb eines Feldes und der Aufbruch. Hervorgehoben wird zudem eine der Originalitätstopik scheinbar zuwiderlaufende, bis in die Antike zurückreichende Tradition: Unter Berufung auf das horazische »ut pictura poesis«89 und die aristotelische Metapherntheorie erinnert Beil den Leser daran, »daß wir uns auf einem seit der Antike vorbereiteten Terrain bewegen«. Man kann diese Zusammenstellung als epigonenhafte Klitterung, als Anregung zur Dekonstruktion, als postmodern ironischen Reflex und/oder als provokantes Spiel mit etablierten Topoi deuten. Die programmatische Richtung des Aufsatzes lässt jedoch vermuten, dass die Fülle der Originalitätsmetaphern eine dezidiert rhetorische Funktion hat. Wie schon seinen Vorgängern, sichert sie schaffenspsychologisch dem Autor – und seiner Gruppe – in einem reich kultivierten Areal einen Freiraum, aus dem jene Stimmen, die ihn durch Regeln, Konventionen oder den Vorwurf der Epigonalität an das Etablierte binden, ausgeschaltet sind. Wirkungsstrategisch soll sie den Leser veranlassen, das Werk als ›ganz neu‹ zu lesen, statt es anhand von vorgefassten Kriterien zu be- und verurteilen: »Was also liest man, wenn man diese neuesten Gedichte nicht lediglich rezensiert, sondern liest?« Der Leser soll es besser machen als die »historischen Wissenschaften«, die dazu neigen »das Gegenwärtige am Vergangenen zu messen, es in einer Art geschichtlich gewordenem Platonismus als unvollkommene, vergebliche Nachahmung des Gelungenen und Gewesenen aufzufassen.« Die »Gegenwärtigkeit des Gedichts«, die Beil in seinem Titel proklamiert, ist somit weniger die Behauptung einer geschichtlichen Wahrheit, als eine Herausforderung an den Leser des neuen Jahrtausends, das Werk ›gegenwärtig‹ wirken zu lassen. ›Gegenwärtigkeit‹ beanspruchte ebenfalls schon im Titel die 2003 veröffentlichte Anthologie Lyrik von JETZT mit 74 Stimmen,90 die eine »Bestandsaufnahme« der Lyrik der »jüngeren und jüngsten deutschsprachigen Poesie« versprach.91 Gerhard Falkner, der Verfasser des Vorworts, verweist auf eine illustre Genealogie, so Benns Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts und Enzensbergers Museum der modernen Poesie.92 Im Vordergrund steht 89 90 91 92
Horaz 1984, S. 26 f. (V. 361). Kuhligk/Wagner 2003. Ebd., S. 361 (Nachbemerkung der Herausgeber). Falkner 2003, S. 7. Vgl. Benn/Niedermayer 1955; Enzensberger 1960.
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die Identität der jungen Lyriker als ›Generation‹ – wobei es die vorrangige Funktion der Anthologie ist, die Generation als solche zu etablieren.93 Im Abschnitt »Eine Generation wird gegründet« stellt Falkner die Herausgeber Jan Wagner und Björn Kuhligk als Selegierende aus dem Inneren des Lyriker-»Pools« dar, sich selbst dagegen als wohlwollenden älteren Förderer.94 Wie schon bei der Gruppe 47 ist das Ziel nicht nur der innere Zusammenhalt, sondern vor allem die Wirkung nach außen: »Eine neue Generation organisiert sich ihre Öffentlichkeit.«95 Dass diese organisierte Öffentlichkeit möglicherweise einen inneren Zusammenhalt ersetzen soll, klingt an, wenn Falkner feststellt, es habe sich als »schwierig« erwiesen, »Selbstdeutungsbereitschaften« oder »Generationsbestimmungen« zu entdecken; die Lyriker bewegten sich in einem »Dickicht des Jederzeit-Möglichen, ohne der Wahrheit oder dem Guten einen prinzipiellen Vorrang einzuräumen«, die »Verbindung zur Welt ist die der Gleichzeitigkeit«.96 Der Kampf zwischen Philosophie und Rhetorik scheint hier zugunsten der letzteren entschieden – aber eher vage, ohne die Energie, den Standpunkt und die Persönlichkeit des profilierten Redners: Falkner spekuliert, dies sei vielleicht »die erste schlagwortlose, die erste ›No-Name-Generation‹ überhaupt«.97 Ziel der Anthologie Lyrik von JETZT ist der Erweis ›jetziger‹ lyrischer Vielfalt,98 vermittelt wird jedoch Identitätslosigkeit. Falkner zufolge machten die Herausgeber die Entgrenzung hin zu anderen Künsten unter Einbezug synästhetischer Effekte zum organisatorischen Prinzip: Sie haben die ausgewählten Texte »quasi nach Geruch, Farbe und Geräusch und in freier Aleatorik komponiert, und das Konzertstück, das daraus entstand, heißt: ›Lyrik von Jetzt‹«.99 Es erweist sich hier einmal mehr die Bedeutung solcher Entgrenzung für die Poetiken der Gegenwart – aber sie zeigt sich hier vornehmlich in der Metaphorik des Vorworts. Deutlich werden in dieser Anthologie die Grenzen des schriftlichen Mediums: Eine wirklich umfassende Bestandsaufnahme ›der deutschsprachigen Lyrik‹ am Anfang des 21. Jahrtausends ließ sich nicht damit bewerkstelligen, dass man nur die schriftlich festgehaltenen Gedichte berücksichtigte. Die Tendenz, Lyrik – wie Literatur insgesamt – auch im Rahmen von Festivals, Wettbewerben und anderen Veranstaltungen unmittelbar und kollektiv wirken zu lassen, eröffnet die Möglichkeit anderer Formen sowie auch eine andere Dynamik und ein anderes Rezeptionserlebnis. Wenn Kuhligk und Wagner in Lyrik von JETZT feststellen, dass einige der aufgenom93 94 95 96 97 98 99
Zum Topos der ›Generation‹ s. o., S. 407–409. Falkner 2003, S. 9. Kuhligk/Wagner 2003, rückwärtiger Buchdeckel. Falkner 2003, S. 12. Ebd. Kuhligk/Wagner 2003, S. 361 (Nachbemerkung der Herausgeber). Falkner 2003, S. 12.
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menen Gedichte vorher »ausschließlich durch mündlichen Vortrag übermittelt« wurden,100 so deutet sich eine lyrische Praxis an, die zwar schriftlich tradiert werden kann, auf diesem Wege jedoch möglicherweise die vorgesehene Wirkung verliert. Falkners Etablierung der ›neuen Generation‹ wirkt nicht zuletzt deswegen so fragwürdig, weil er schriftlich etwas festzulegen sucht, was keine schriftliche Identität erstrebt: Die gruppenbildenden Tendenzen entfalten sich vornehmlich performativ und eher locker im Kontext der ›Szene‹ – wobei es mehr als eine Szene gibt. Dass sich manche der in Lyrik von JETZT aufgenommenen Dichter eher über die Performanz etablierten, zeigen schon die Kurzbiographien: allen voran Bastian Böttcher, der vornehmlich mit Rap und Poetry Slam in den Vordergrund trat. Wenn Falkner bemerkt, dass »rap oder ähnliche Moden« im »Schwinden« sind und in die »Beatfabriken«, nicht aber in die »Literaturhäuser« gehören, so führt dies nicht nur an der Vielfalt der Integrationsbewegungen von Lyrik und Popkultur vorbei, sondern auch an der Vielfalt der Orte, die eine spontane Identitätsbildung ermöglichen. Unter den performativen Formen der Lyrik ist Poetry Slam von besonderem Interesse, weil sich hiermit in den späten neunziger Jahren eine internationale Bewegung in Deutschland etablierte, die ›alte‹ Praktiken der Performanz zu neuem Leben erweckte. Slam verwirklicht den schon seit der griechischen Antike praktizierten dichterischen Wettkampf und kann an eine gänzlich totgeglaubte deutsche Tradition anknüpfen: den Meistersang.101 Poesie wird hier von nicht-professionellen Dichtern »live« als »kollektives literarisches Experiment« veranstaltet, »mit flexiblen Strukturen und immer neuen Impulsen.«102 Ein schriftlicher Text wird zumeist gar nicht erstellt, und wenn ja, dann als sekundäre oder gar – nach der CD oder DVD – als tertiäre Verbreitungsform, denn »Poetry Slam lebt nicht nur von der Qualität der Texte, sondern auch von der Performance der Poeten, ihrer Mimik und Gestik und von der Stimmung des Publikums«.103 Es verwirklicht sich somit in dieser Form das rhetorische Potenzial der Dichtung – mit erheblicher Publikumswirksamkeit: So zog beispielsweise die 2005 veranstaltete 9. Poetry Slam Meisterschaft des deutschsprachigen Raumes in Leipzig mit 89 Einzelteilnehmern und 15 Teams aus 50 Städten etwa 2.500 100 Kuhligk/Wagner 2003, S. 361 (Nachbemerkung der Herausgeber). 101 Es lassen sich auch andere Verbindungen zur Tradition hervorheben, so zur Performancekultur des Dada. Vgl. zum Bezug zwischen Poetry Slam und avantgardistischen Bewegungen Preckwitz 2002, bes. S. 145–151. Preckwitz bietet bezeichnenderweise einen ausführlichen Anhang zur internationalen Geschichte, dichterischen Thematisierung und Funktion literarischer Wettkämpfe unter Bezug auf Antike und Meistersang (ebd., S. 163–173). Die neue Form des Poetry Slam hat dafür sensibilisiert, dass der dichterische Wettstreit eine poetologische Konstante ist. 102 Lass, Nurtjipta u. a. 2002, Beiheft, S. 4. 103 Greinus, Wolter u. a. 2005, S. 10.
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Besucher an.104 Erhellend ist aus poetologischer Sicht jedoch auch die schriftliche Identitätsstiftung, die beispielsweise an dem von Hartmut Pospiech und Tina Uebel herausgegebenen »ersten Poetry-Slam-Jahrbuch« verfolgt werden kann.105 Bereits die Selbstdarstellung der Herausgeber und Mitwirkenden bricht mit der Konvention einer Betonung professioneller Erfahrung und feiert statt dessen disziplinäre Vielseitigkeit, die vom Drehbuchautor, Journalisten, Jazzmusiker oder Studenten der Theologie bis zu Mutter und Hausmann reicht, von der Arbeit »mit Musik, Theater, Installationen, Text, Gesang und Sprache, gerne kombiniert« bis hin zur Mitgliedschaft im »ersten Wiener Gemüseorchester«.106 Auch geographisch wird Grenzüberschreitung zur Qualifikation: Eine Performerin widmet sich dem »Slam-Tourismus«, ein Performer gewann »bei einem Gesangswettbewerb auf der Krim ein Schwein«.107 Schon allein der Gebrauch vielfältiger und somit auffälliger Metaphern kommuniziert im performativen Kontext Kreativität, Flexibilität und Verjüngungskraft. Kampf- und Wettkampfmetaphorik evozieren Dynamik, Männlichkeit und interaktiven Körpereinsatz; entsprechend wird Poetry Slam als »schnell und geschmeidig, hart und laut« charakterisiert und mit einer Rallye verglichen – es ist »das Paris – Dakar unter den Literaturveranstaltungen«.108 Realiter ist es vorrangig männlich besetzt, wenn dies auch als Mangel thematisiert wird: So bedauert der Herausgeber, »dass immer noch (zu) wenig Frauen am Slam teilnehmen«.109 Ein konkreter Bezug zum Sport ist im Bewertungsmodus gegeben, der zugleich metaphorisch der Aufwertung dient: Es ist »eine eigene Kunstform – ein ›literarisches Eistanzen‹, denn eine Publikumsjury bewertet die Vorträge nach künstlerischer Qualität«.110 Während das »Eistanzen« zugleich die Verbindung zum institutionellen Kontext herstellt – es sind (auch) »›Texte zum Tanzen‹ in nächtlicher Clubatmosphäre« –, wird die Körperlichkeit durch bacchantische Sexualmetaphorik hervorgehoben: Die höchste Bewertung erhält ein Text und Vortrag, wenn er »einen simultanen Kollektivorgasmus auslöst«.111 Sowohl temporal (»simultan«) als auch zwischenmenschlich (»kollektiv«) vereinigt die Sexualmetapher Dichter, Publikum und Jury im gemeinsam erlebten Wort. Hier verwirklicht sich Dichtung in der zeitlichen und räumlichen Koinzidenz von Produktion und Rezeption: »Gerade die 104 105 106 107 108 109 110 111
Vgl. ebd., S. 13. Pospiech 2002, S. 165. Pospiech/Uebel 2002, S. 169–179 (Die Autoren). Ebd., S. 170 und 176. Ebd., S. 7 (What about it). Pospiech 2002, S. 167. Pospiech/Uebel 2002, S. 7 (What about it). Ebd. Im Nachwort wird die Metapher variiert: Mit 10 bewertet die Jury »Text und Vortrag, die für multiple Orgasmen bei Jury und Publikum sorgen« (Pospiech 2002, S. 166).
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Nähe zwischen Dichter und Publikum macht das Besondere des Slams aus, das Erlebnis eines einmaligen, nicht wiederholbaren Abends.«112 Entsprechend wird auch die Kommunikation räumlich als kurzer ›Weg‹ konzipiert: »Es gibt kein anderes Format, das einem Autor einen so schnellen Weg zu seinem Publikum ermöglicht.«113 Der Kontakt geht bis zur Vertauschung der Rollen: »Ebenso schnell kann ein eben noch passiver Zuschauer zum aktiven Dichter werden.«114 Der Slam strebt nach »Direktheit«115 und verkörpert geradezu die Vielfalt und Unmittelbarkeit solcher Übertragungsvorgänge, denn »beim Slam ist schließlich alles möglich«; diese Literaturform »lebt von der Offenheit ihrer Strukturen«.116 Poetry Slam profiliert sich in Gegensatz zur Konventionsgebundenheit, Traditionalität, Erschöpfung und Kommerzialität herkömmlicher Literaturproduktion und -rezeption, wobei die mündliche Form der Kommunikation bis hin zur »Mundpropaganda« die Verbreitung bestimmt.117 Als »Gegenentwurf zu ermüdeten konventionellen Lesungsformen« ist er geprägt durch spontane, individuelle Authentizität: Auch nach fünf Jahren Slam beeindruckt mich, mit welcher Begeisterung junge und weniger junge Nachwuchsdichter die Slambühnen frech stürmen oder vorsichtig erklimmen, ohne einen Verlag im Rücken, ohne eine Absegnung durch das Feuilleton. Und die Erfahrung zeigt, dass längst nicht immer der am professionellsten Vortragende den Sieg davonträgt, dass zitternde Knie und gelegentliche Versprecher den Auftritt gerade erst »echt« machen, in einer Zeit, in der kalkulierte Massenunterhaltung dominiert.118
Die binären Oppositionen von jung und alt, ungelernter Spontaneität und professionellem Kalkül, frischem Enthusiasmus und etablierter Routine, mächtiger Institution und unabhängiger Individualität rekurrieren auf Argumentationsmuster, die bereits den Dichtern des Sturm und Drang zur Identitätsbildung dienten. Verschoben haben sich jedoch vor allem die Begriffskomplexe um Kunst und Natur, Kopf und Herz. Während im 18. Jahrhundert Kalkül mit Kunst, Künstlichkeit, Konvention und Regelhaftigkeit in Verbindung gebracht wurde, wird Kalkül nun vorwiegend mit kommerziellen Interessen besetzt und die Einhaltung von Regeln zum Programm erklärt. Die Natur spielt für die Identität keine Rolle, denn Poetry Slam versteht sich als »neue, urbane Literaturform« und als »fester Bestandteil der Metropolen-Kultur«.119 112 113 114 115 116 117 118 119
Ebd., S. 165. Ebd. Ebd. Ebd. Pospiech/Uebel 2002, S. 7 (What about it). Pospiech 2002, S. 163. Pospiech/Uebel 2002, S. 7 (What about it); Pospiech 2002, S. 165. Pospiech/Uebel 2002, S. 7 (What about it).
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Wenn Poetry Slam sich durch seine ›Jugend‹ auszeichnet, so sucht er seine Identität doch auch in einem Ursprungsmythos: 1986 »erfunden« von einem »ehemaligen Bauarbeiter« in Chicago, der damit »zunächst nur eine Programmlücke […] füllen wollte«, verbreitete er sich rasch in Amerika und dann Europa, bis 2001 dann die erste »German International Poetry Slam« Veranstaltung stattfand.120 Die Geschichte bestätigt die Literaturform als spontan, volksnah, populär und grenzübergreifend. Identitätsstiftend wirkt vor allem aber der Wettbewerbscharakter, denn damit wird einerseits die performative Tradierung gewährleistet, andererseits eine gruppenstiftende Tendenz wirksam. Fokus der Gruppen sind Lokale, aber auch Städte, und die Performer schließen sich zu Teams zusammen, die gegeneinander antreteten. Wiewohl die Informalität, die eher jugendliche Partizipation und die relativ einfachen Formen dem Meistersang grundlegend zuwiderlaufen, so gibt es doch prinzipielle Ähnlichkeiten: die Fokussierung auf den mündlichen Vortrag, die Wettstreitkultur, die Gruppenbildung, der urbane Kontext und die städtische Identität. So wählt man »Stadtmeister« und weiß sich jeweils einem etablierten Regelwerk verpflichtet, das gruppenspezifisch variieren kann: Das Düsseldorfer »Maulgetrommel« folgt dem amerikanischen Vorbild mit drei Minuten Vortragszeit, in Hamburg sind es fünf, in Stuttgart sieben, in München zehn Minuten. An die Blumenmotivik der Sprachgesellschaften, die Tradition der Preiskrönung und vielleicht auch die populäre Karnevalskultur gemahnt der Bonner »Rosenkrieg«, bei dem die Zuschauer ihrem Lieblingsdichter eine Rose auf die Bühne werfen.121 Dass solche Verbindungen zur Tradition bei aller Betonung der Innovation durchaus auch Teil des Selbstverständnisses sind, verdeutlicht der Performer Sebastian Krämer, für den Slam »eine Hoffnung darstellt im Kampf gegen den allgemeinen Sprachabbau«, sowie das unter Thomas Glatz angeführte »Archiv für Gebrauchs- und Benutztexte, Neue Teutsche Poemata sowie geistreiche Sinn- und Schlussreime«.122 Wenn Poetry Slam einerseits Verbindungen zu anderen Sprachkulturen herstellt, so verweist er andererseits auch auf die lange Tradition deutscher performativer Dichtkunst. Interessant ist Poetry Slam nicht zuletzt deswegen, weil sich nach der anfänglichen Zelebrierung eines als neu empfundenen performativen Moments der Literatur schnell die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bemerkbar machte. Diese Spannung manifestiert sich produktiv im selbstreflexiven Text, der das Potenzial des Wortes zwischen Theorie und Praxis, Schriftlichkeit und Mündlichkeit zur Sprache bringt, 120 Pospiech 2002, S. 163 f. Noch anlässlich der neunten deutschsprachigen Meisterschaft wird eigens die »History« wiedergegeben (Greinus, Wolter u. a. 2005, S. 12). 121 Pospiech 2002, S. 166. 122 Pospiech/Uebel 2002, S. 173 und 171 (Die Autoren).
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so in dem Beitrag Betreff: Fettgedruckt von Nora Gomringer und ihrem Team »Tha Boyz with tha Girlz in tha Back«, der 2005 die deutsche Team Slam Meisterschaft gewann.123 Performativ werden hier die »Fußnote«, der »Absatz« und der »Zeilensprung« unter Einsatz von Fuß, Schuh und Springen dargestellt; das Schriftbild und die schriftliche »Inkunabel« kommen mündlich zu Wort; und intertextuelle Bezüge reichen vom biblischen »Am Anfang war das Wort« bis hin zu Robert Gernhardts Gedichtsammlung Wörtersee.124 Die Hervorhebung der Unmittelbarkeit des Bezugs zwischen Dichter und Publikum als Besonderheit dieser Literaturform entzieht einer Legitimierung schriftlicher Veröffentlichung von vornherein den Boden; entsprechend dürftig fällt die Rechtfertigung des »Poetry-Slam-Jahrbuchs« durch die Herausgeber aus: »Live-Literatur zwischen Buchdeckeln, Performance auf Papier – geht das? Aber ja! Auch das geht, sehr gut sogar, denn beim Slam ist schließlich alles möglich.«125 Die Widersprüchlichkeit der schriftlichen Veröffentlichung wird mit einem betont oralen Stil verdeckt. Ähnlich verrät sich stilistisch – diesmal im Klischee – die Problematik der Statuszuweisung in einem kulturellen Kontext, der Literatur als schriftlich fixierte Form versteht: »Das vorliegende erste Poetry-Slam-Jahrbuch […] weist auf einen bisher vernachlässigten Aspekt hin: das literarische Potential, das im Umfeld des Poetry Slam schlummert.«126 Pospiech scheitert hier am deutschen Kulturbegriff, der hochwertige Literatur zur Trivialund Unterhaltungsliteratur in Gegensatz bringt: Trotz (oder wegen) des Erfolgs beim Publikum neigt die Kritik dazu, Poetry Slam als Phänomen der Spaßkultur zu diffamieren. Literarischer Wert wird den Texten üblicherweise abgesprochen, der Vortrag allenfalls als Performance akzeptiert. […] dieser Vorwurf [ist] nicht ganz unbegründet […], denn vom hoch ziselierten Text bis zum holprig gereimten Gelegenheitsgedicht findet sich eine oft atemberaubende Bandbreite. Doch Perfektion hat auch gar keine Priorität bei einem Slam. Vielmehr geht es um Direktheit.127
Pospiech bezeichnet zwar die Zuordnung zur Spaßkultur als ›Diffamierung‹, akzeptiert jedoch unkommentiert die in der Wertung vorausgesetzte Spaltung zwischen Text und Vortrag sowie auch – mit der Metapher vom gut gearbeiteten Werkstück – den Vorrang des dauerhaften, materiell tradierten Textes. Entsprechend führt der von ihm vorausgesetzte negative Wert des »Gelegenheitsgedichts« die seit dem 18. Jahrhundert etablierte Diskreditierung des für den Moment verfassten Gedichts fort. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass er gerade für das Spektrum der im mündlich vorgetragenen Slam repräsentierten Dichtung die Metapher »atemberaubend« 123 124 125 126 127
Gomringer u. a. 2005. Ebd.; vgl. Joh. 1, 1 und Gernhardt 2002b. Pospiech/Uebel 2002, S. 7 (What about it). Pospiech 2002, S. 166. Ebd.
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benutzt. Erkennbar ist in dieser eher widersprüchlichen Poetik die Destabilisierung eines Kulturbegriffs, der wahre Kultur und literarisch wertvolle Dichtung auf geistige Höhe, Bildung, Schriftlichkeit und Seriosität einschränkt. Poetologisch interessant ist der Slam nicht zuletzt deswegen, weil diese Destabilisierung hier in der Praxis vollzogen wird. Auch wenn die Form sich als kurze Episode in der Literaturgeschichte erweisen sollte, so zeigt sie dennoch die Bedeutung der performativen Praxis als beständiges Potenzial nicht nur der dramatischen Literatur. Die Vielfalt gilt in der Lyrik gegen Anfang des 21. Jahrhunderts als positiver Wert. Eindrücklich präsent wird sie alljährlich besonders im »Poesiefestival Berlin«: »Rund um den Potsdamer Platz verschmilzt […] die Wortkunst mit Musik, Performance und Film, die Poesie wird zum Großereignis.«128 Das Zusammenwirken der Künste wird mit der Metapher der ›Verschmelzung‹ als synästhetisches Ereignis vermittelt, und der Rezipient ist aufgefordert, ohne konzeptuelle Gattungsgrenzen in kleineren und größeren Veranstaltungen und Projekten die Möglichkeiten der Lyrik in auditiven und digitalen Medien, auf der Bühne und im Film zu erkunden. Die internationale Ausrichtung zeigt sich in der Einladung von Dichtern aus mehreren Ländern und der jeweiligen Fokussierung auf ein spezifisches Land, dessen Lyrik in Diskussionen, Workshops und vor allem im Übersetzungsprojekt »VERSschmuggel« zur deutschen Lyrik in Verbindung gebracht wird – ein metaphorischer Name, der die Abenteuerlichkeit internationaler Grenzüberschreitung evoziert. So bot beispielsweise das Poesiefestival von 2004 mit 60 Veranstaltungen, 140 Dichtern, Künstlern und Filmemachern aus 40 Ländern und 12.500 Besuchern der Lyrik eine Plattform, die noch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts undenkbar war. Die Veranstaltung »Mundstücke« präsentierte »Performances an den Rändern von Sprache und Musik« und machte die »Live-Präsenz von Körper und Stimme durch den Einsatz audio-visueller Technik zum Gesamtkunstwerk«. »Beat’n’Word« erprobte die Verbindung von Rap und Lyrik mit anschließender Party. »JAJA DADA« verband Gespräch und Performance, um mit Eugen Gomringer und anderen Dichtern die Tradition der experimentellen Poesie in Deutschland und Russland zu erforschen. Die Premiere »innen stadt. ein berlin-gedicht« inszenierte ein von sechs Nachwuchsdichtern verfasstes multimediales Langgedicht – »geloopt, remixed, gesamplet, mehrfach hin und her geschrieben«. Und in jenem Jahr wurde sogar eine neue ›Gattung‹ inauguriert: Ralf Schmerbergs Film Poem zeigte sich als preisgekrönter Exponent des neuen »Filmgenre des Poetryfilm« und überschritt damit die Grenze zwischen Lyrik und Film.
128 Literaturwerkstatt 2004a. Vgl. zum Folgenden Literaturwerkstatt 2004c. Das Festival von 2004 wird hier als gattungsmäßig besonders vielfältiges Beispiel herausgegriffen.
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Die Integration der Künste, der kulturellen ›Schichten‹ und der Sprachen wird auf diese Weise zu einem dynamischen Prozess, der dem Rezipienten bereits über Veranstaltungstitel und -beschreibungen vermittelt wird, sich aber erst im lebendigen Ereignis erfüllt; die Veranstaltung führt dabei weit über das hinaus, was schriftlich machbar oder vermittelbar wäre. Die Verbindungen schließen das Diachronische keineswegs aus, sind jedoch vorwiegend synchronischer Art. Gruppenstiftung erfolgt im Verlauf der jeweiligen Veranstaltung, ohne dass eine externe Abgrenzung notwendig wäre, denn es geht nicht um die Stabilisierung von Gemeinschaften, sondern um das momentane gemeinschaftliche Erlebnis am gemeinsamen Ort. Angestrebt wird nicht der dauerhafte Ruhm und die verifizierbare Qualität, sondern die unmittelbare Wirkung. Höhepunkt des Festivals ist »WELTKLANG«, den Veranstaltern zufolge die größte Open-Air Veranstaltung für Lyrik in Europa. Für einen Abend des Jahres rückt hier die Lyrik ins Zentrum des deutschsprachigen Raums, wenn Dichter aus Deutschland und anderen Ländern Gedichte jeweils in ihrer Originalsprache vortragen. Es ist ein Ereignis, das zur poetologischen Reflexion anregt, die entsprechend auch vom Festivalleiter und Leiter der LiteraturWERKstatt Berlin, Thomas Wohlfahrt, in den Vorworten zu den Begleitbänden der jährlichen Veranstaltung genutzt wird. Für ihn verkörpert die Veranstaltung geradezu die Lyrik der Gegenwart: Zeitgenössische Dichtung entsteht weder in abgeschiedenen Winkeln, noch hat es [sic] diese zum Zielpunkt. Heutige Dichtung wurzelt in urbanen Zusammenhängen, auch dann, wenn sie sich sensitiven oder naturbezogenen Themen widmet. »… die Spur Straßendreck unter den Nägeln…«, wie der deutsche Dichter Thomas Kling das nannte, ist stets zugegen und Ausdruck von Lebendigkeit, Diesseitigkeit und Kraft. WELTKLANG hat mit dem Potsdamer Platz einen jungen, pulsierenden urbanen Ort zur Verfügung, an dem alle Bereiche menschlichen und städtischen Lebens zu Hause sind.129
Der zeitgenössische Dichter stellt sich als Verbindung der horazischen Typen dar: Das körperlich Ungepflegte des romantischen Typus ist uminterpretiert in ein Zeichen jener urbanen Versiertheit, die Horaz für seinen eigenen, entgegengesetzten Typus beanspruchte. Die Werte sind jene des Sturm und Drang eher als jene der Romantik; aber man akkommodiert sich mit dem Raum und den Gebäuden der städtischen Mitmenschen, ohne sie sprengen zu wollen. Die Autonomietopik, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts dazu diente, die Literatur aus den ›Fesseln‹ der Rhetorik zu lösen und als eigenständige ›Kunst‹ zu etablieren, kehrt nun wieder, um die Lyrik aus dem ›Bereich‹ der Literatur herauszulösen:
129 Wohlfahrt 2003, S. 11.
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WELTKLANG gab uns in der literaturWERKstatt berlin den entscheidenden Impuls, der dem Gedicht innewohnenden Kraft noch stärker zu vertrauen. Mit dem Poesiefestival Berlin ist eine Plattform heutiger Poesie in all ihren Erscheinungsformen entstanden, die einmal mehr deutlich macht, dass das Gedicht aufgrund seiner Wesensmerkmale eine eigene und selbständige Kunstform neben der Literatur ist.130
Das Gedicht wird mit einer eigenen, ihm »innewohnenden Kraft« ausgestattet, womit es als unabhängiger ›Behälter‹ ein eigenständiges Leben ›neben der Literatur‹ führen kann. Die Veranstalter des Poesiefestivals werden zu Hütern eines Wesens, das erst im inszenierten Ereignis seine belebende Kraft offenbart. Ob der Autonomietopos im Zusammenspiel mit der neuen poetologischen Konstellation eine ähnliche Wirkkraft entfaltet wie im 18. Jahrhundert, bleibt abzuwarten. Die literarische Praxis ist in Bewegung, und sie zelebriert die Bewegung: die Bewegung der Sprache, des Körpers, der Emotionen, des Publikums. Wie sich diese Bewegung fortsetzt, wie sie die poetologischen Konstellationen verändert und wie sie sich im geschichtlichen Kontext darstellen wird, ist nicht vorherzusehen. Der Blick auf die Literaturgeschichte lässt vermuten, dass die um die Jahrtausendwende erkennbare Tendenz zur Rhetorisierung der Kultur früher oder später wieder in eher philosophisch orientierte Tendenzen übergehen wird. Vor allem aber lässt sich verfolgen, wie das extreme Experiment mit der Lyrik in performativen Medien zugleich gegensätzliche Projekte heraustreibt, in denen Dichter in einer selbst konstruierten, aus schriftlichen Texten bestehenden »Textlandschaft« ohne die »Eitelkeiten des Auftrittswesens« über Gedichte »nachdenken«, um die Verbindungen zwischen »Poesie und Erkenntnis« zu erforschen.131 Dass ein solches Projekt nicht als ›konservativ‹ oder ›epigonal‹ zu werten ist, legt sein innovativer Umgang mit dem Medium Internet nahe. Erkennbar ist hier die Simultaneität konkurrierender Poetiken. Für Autoren ist die zunehmende »Eventisierung«132 von Literatur je nach Selbstverständnis eine Herausforderung, ein Problem oder auch eine willkommene Gelegenheit für die Verbreitung ihres Werkes. Für den 2004 mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Wilhelm Genazino erzeugt die Spannung zwischen dem öffentlichen »Rummel« und dem eigenen »Winkel« einen »Konflikt […] zwischen Individualität und Repräsentation« und zugleich die Entfremdung vom authentischen ›Ich‹, da man, »wenn man in einem Medium auftaucht, sich selbst sofort verfälscht«.133 Während er einerseits konstatiert, »dass die Verschiebung des Interesses vom Text auf den Event-Darsteller Autor möglicherweise eine Ressource ist, die dem Text 130 131 132 133
Wohlfahrt 2003, S. 11 f. Draesner, Egger u. a. 2004a, Homepage. Genazino 2006, S. 59. Ebd., S. 58.
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doch wieder Interessenten zuführt«, wertet er für sein eigenes Schreiben die »Randständigkeit« als wesentliche Voraussetzung, da sie die notwendige »Innerlichkeit« und »Authentizität« ermöglicht.134 Für das Schreiben ist eine eigene ›Welt‹ notwendig: »Ich lebe ganz in meinem selbsterfundenen Schreibrahmen.«135 Für sein poetologisches Selbstverständnis und die ihm eigene Kreativität ist die Vorstellung von separaten, durch Grenzen voneinander geschiedenen ›Welten‹ somit unerlässlich: Die im 18. Jahrhundert etablierten Werte der ›Innerlichkeit‹ und der ›Authentizität‹ des Individuums sind in diesem Umfeld Vorstellungen, mit denen der Autor die eigene ›Welt‹ vor der Vereinnahmung durch die öffentlichen Medien schützt – eine Welt, in welcher der empirische Autor mit seiner fiktionalen Welt eins ist. Zugleich jedoch lebt der Autor von der Spannung zwischen den Welten: Denn er ist abhängig vom wechselnden »Zeitgeist«, der über »Erfolg« und »Vergessenwerden« bestimmt – dieses Problem »beschäftigt jeden Autor mindestens einmal am Tag«.136 Nicht weniger als bei Horaz und den Dichtern der frühen Neuzeit bleibt somit der Ruhm eine treibende Kraft. Für Dichter beziehungsweise Schriftsteller ist es notwendig, ihr eigenes Projekt durch Abgrenzungs- und Aufwertungsmetaphern durchzusetzen. Aufgabe der Literaturwissenschaft ist es jedoch, nicht nur die lautesten Stimmen zu privilegieren, sondern auch die leiseren gelten zu lassen, und nicht nur die Messlatte des Etablierten anzulegen, sondern auch Alternativen im Blick zu behalten und ausfindig zu machen. Die in jeder Zeit erfahrbare Spannweite der Literatur sensibilisiert für die Vielfalt der Tradition, und die Literaturgeschichte selbst der deutschen Sprachtradition vermag das Spektrum erheblich zu erweitern; noch viel weiter wird das Spektrum, wenn man andere Sprachkulturen berücksichtigt. Generell ist es ratsam, die produktiven Spannungen in der Poetik nicht auf eine chronologische Linie zu reduzieren. Die über Jahrtausende hin von Philosophen, Rhetoren, Literaturwissenschaftlern und vor allem von Dichtern erprobten poetologischen Metaphern bilden einen unermesslichen Reichtum an artikulierten Vorstellungen, mit denen Dichtung entwickelt, gewandelt, erneuert, als eigenständige Disziplin stabilisiert und mit anderen Gattungen, Traditionen, Kulturen, Sprachen und Künsten verbunden wurde. Diesen Reichtum gilt es zu erkunden, in seiner ganzen Vielfalt zu wahren und für neue Ideen empfänglich zu halten – denn er birgt auch künftige Möglichkeiten der Dichtung.
134 Ebd., S. 59. 135 Ebd., S. 60. 136 Ebd., S. 59.
Abbildungs- und Literaturverzeichnis Es liegt in der Natur dieser Untersuchung, dass die Grenzen zwischen ›Quellen‹ und ›Forschung‹ beziehungsweise ›Primärliteratur‹ und ›Sekundärliteratur‹ nicht klar zu ziehen sind. Von einer nicht zuletzt für den Benutzer problematischen Untergliederung der schriftlichen Werke wurde daher abgesehen. Bei Werken, die in separat aufgeführten Bänden enthalten sind, wird auf den jeweiligen Band verwiesen. Bei Internetadressen kann nicht von einer Gültigkeit über das angegebene Datum des Zugangs hinaus vorausgegangen werden. Im Falle von literarischen Texten und Rezeptionsdokumenten, die in der jeweiligen Website ohne Datumsangabe erscheinen, ist das Datum des ersten Zugangs angegeben, bei anderen Texten ohne Datumsangabe dagegen der aktuellste Zugang.
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Poetologische Metaphern und Topoi Aufgeführt sind in diesem Register vor allem Begriffe, die in ›übertragenem‹ Sinne bzw. als poetologische Topoi verwendet werden (z. B. Dichtung als ›Droge‹, ›Bescheidenheits‹-Topos). Da es jedoch um den Prozess poetologischer Kommunikation geht, sind die für den Kommunikationsprozess zentralen Begriffe (z. B. Autor/Dichter, Publikum, Verlag) in diesem Register erfasst, ohne dass sie damit als durchgängig ›metaphorisch‹ gekennzeichnet werden sollen. Es geht somit vornehmlich um ›Herkunftsbereiche‹, aber auch um ›Zielbereiche‹ der poetologischen Metapher. Für viele poetologischen Metaphern und Topoi sind zudem fließende Übergänge zwischen realen Praktiken und metaphorischen Vorstellungen kennzeichnend (z. B. Wettstreit); scharfe Grenzziehungen sind daher weder möglich noch sinnvoll. Sprach- und metapherntheoretische Begriffe sind prinzipiell im Personen- und Sachregister aufgeführt; die allgemeinen, poetologisch wichtigen metasprachlichen Begriffe ›Wort‹ und ›Ausdruck‹ stehen dagegen in diesem Register. Namen von wirklichen (oder angenommenen wirklichen) Personen finden sich im Personen- und Sachregister, auch wenn sie z. T. topisch verwendet werden (vgl. Alexander, Augustus, Homer, Shakespeare, Vergil). Generell ist so weit wie möglich eine Überschneidung der Lemmata in den Registern gemieden. Vollständigkeit ist nicht angestrebt, und die Wahl der Lemmata ist pragmatisch ausgerichtet. Verwandte, schwer voneinander abgrenzbare oder in Zusammenhang miteinander verwendete Begriffe stehen zumeist unter einem Überbegriff (z. B. ›Gebiet‹: Acker, Bereich, Boden, Feld, Landschaft, Reich, Weide, Wiese). Es werden jedoch nicht systematisch abstraktere Begriffe gefunden oder ›Sachgruppen‹ gebildet. Antonyme sind zumeist getrennt angegeben (z. B. ›hoch‹ und ›niedrig‹), besonders wenn sie tendenziell unabhängig voneinander verwendet werden; sie sind unter dem ›positiven‹ Überbegriff erfasst, wenn sie eher in Zusammenhang miteinander erscheinen (z. B. ›Gesundheit‹). Im letzteren Fall wird auf den Zentralbegriff verwiesen (z. B. ›krank, s. Gesundheit‹). Abbild/abbilden, 38, 42, 115, 234, 271, 325, 512, 595 f.; s. a. Spiegel, wirklich ABC, s. Schrift Abend, s. Tag Abenteuer, 641, 661 Aberglaube, 260, 423
abgeschiedener Ort, 55, 340, 384, 467, 644, 652, 662 f.; s. a. einsam abgrenzen, s. Grenze Abgrund, 68, 607, 609 Abhängigkeit, 108, 252 f., 362, 381, 404, 406, 430–433, 507 f., 526
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Poetologische Metaphern und Topoi
Abraham, s. biblische Figuren Absicht, 9, 80, 221, 397, 400 f., 415, 452 Abstammung, s. Genealogie Abstieg, s. Abwärtsbewegung abstrakt, 272, 285, 605 Abwärtsbewegung, 9, 308, 424, 435, 465, 515; abtauchen, 642 Acker, s. Gebiet Ackerbau, 251, 254, 489 f., 501, 554, 558 f.; Pflug, 501; s. a. kultivieren Adam, s. biblische Figuren Adel, s. gesellschaftliche Gruppen Adern, s. Blut Adler, s. Vogel Affe, s. Tier Affekt, s. Emotionen Afrikaner, s. Rasse Agent (literarisch), 639 Aggression/Angriff, 3, 44, 166, 293, 364, 390, 451 Agilität, s. Körper Agon, s. Kampf, Krieg, Wettstreit Agrarwirtschaft, s. Ackerbau Ägypter, 498 Ahnen, s. Genealogie Akademie, 33, 91, 202 akademisch, s. gelehrt Akrobatik, s. Artist Alltäglichkeit, 9 f., 116 f., 270, 294, 346 f., 455, 594, 642, 649, 653 Alphabet, s. Schrift alt, 13, 19, 66, 307, 402 f., 405, 408–415, 472, 498, 543, 593, 612, 652, 658; (Mensch), 82, 283, 300, 403, 406–408, 412 f., 442, 471, 498; Altersstufen des Menschen, 530; s. a. Generation Altar, 280 Amboss, s. Handwerk Amerika, 639 Amt, 359; s. a. Muße Andacht, s. Religion Anfang, 165, 195 f., 200 f., 214, 223, 401 f., 404, 410, 413–415, 455, 502, 521, 533, 546 f., 557, 560, 638; s. a. gründen, Ursprung, Weg angesehen, s. Ruf Angriff, s. Aggression Angst, 277 f. Anker, s. Schiff Anklage, s. Recht Ankunft, s. Weg Anonymität, 486, 520, 560 f. Anrufung, 26, 29, 213, 306, 315–317, 393, 519, 558
anschaulich, s. Auge Anstalt, s. Institution Anthologie, s. Blume Antike, 86 f., 108, 384, 413 f., 429, 484, 509, 543, 584; s. a. Griechen, Rom, Vergangenheit Antwort, s. Gespräch Anwalt, s. Recht Anweisung, s. lehren Apollon, 4, 85, 541, 548 Apologie, s. Legitimation Apostel, 580; s. a. Jünger Apostrophe, s. Anrufung Arabien, 541 Arbeit/arbeiten, 56, 78, 128, 253 f., 298, 300, 311, 342, 346, 354–356, 358, 381–383, 450, 455, 568, 614, 659; s. a. gesellschaftliche Gruppen (Arbeiter, Proletariat), Freizeit Architektur, s. Gebäude Archiv, 659; s. a. aufbewahren aristokratisch, s. gesellschaftliche Gruppen (Adel) Arkadien, 291, 364, 418 f.; s. a. Schäfer arm, s. Geld Armee, s. Krieg Artist, 352–354, 363 f. Artus, 506 f. Arznei, 291, 476, 608 Arzt, 268, 291, 298, 300, 356, 358, 363 astral, s. Stern Atem, 280, 323 f., 477, 660 f. Athen, 33, 45, 392, 418, 583; s. a. Griechen Athenaeum, s. Institution Athene, 573 aufbewahren, 56, 104, 510; s. a. Archiv, Bibliothek, Museum, Speicher aufbrechen, s. Weg aufführen, s. Performanz Aufklärung, s. Licht auflösen, 347, 605 f. Aufmerksamkeit, 273 f., 632 Aufstieg, s. Aufwärtsbewegung Auftrag, s. Dienst Auftritt, s. Performanz Aufwärtsbewegung, 68 f., 165, 201, 248, 264 f., 275 f., 292, 477, 497, 556; Stufen, 48, 73, 284, 477, 514, 582, 611; s. a. Berg aufweichen, 313 f., 320 Auge, 85, 204, 212, 270, 279, 308, 326, 478, 596, 605 f.; vor Augen stellen, 60, 134, 149–151, 243, 280, 354, 378, 604–606; s. a. sehen
Poetologische Metaphern und Topoi
Augenblick, s. Zeit augusteisch, s. klassisch Auschwitz, 393, 521, 611, 613–616, 620–622 Ausdruck, 8 f., 40 f., 50–52, 58, 72, 77, 88 f., 97, 103 f., 107–109, 114 f., 141 f., 173–177, 251, 281 f., 311 f., 348, 405, 446, 513, 544f, 567, 586, 600, 616, 649, 651, 662; s. a. Sprache, Wort auserwählt, s. erwählt Ausgang, 375, 404, 452, 498, 648 ausgrenzen, s. Grenze Auslöschung, 339, 448 ausrotten, 500, 550 außen/äußerlich, 37, 41, 72, 100, 192, 242, 263, 278, 304, 324 f., 346, 436, 540, 615; s. a. Grenze, Rand Außenseiter, 130, 338, 346, 368, 383–389, 394, 440 authentisch/Authentizität, 264, 305 f., 348, 390 f., 586 f., 612 f., 643, 658, 663 f.; s. a. wahr, wirklich Autonomie, 6, 10–12, 209, 213, 224, 226 f., 249 f., 257, 263, 282, 347, 359, 372, 375, 427–433, 437, 582 f., 631 f., 662 f.; s. a. frei Autor/Dichter/Schriftsteller, 14 f., 208, 212 f., 279 f., 289–303, 332 f., 382, 390–392, 413, 450, 500, 523 f., 531, 564, 567 f., 575, 648, 658, 663 f. und passim; romantischer Dichtertypus, 55 f., 90, 262 f., 351, 362, 384, 444, 512 f., 515, 652; textinterner/textexterner Autor, 230–232; s. a. Anonymität, frei, Ich, Inspiration, melancholisch, naiv, tot (Tod des Autors), Wahnsinn Avantgarde, 403, 653; s. a. Fortschritt Axt, s. Werkzeug Bacchus, s. Dionysos Bahn/bahnbrechend, s. Weg Band, s. Musik, Verbindung Barbar/barbarisch, 55, 76, 283, 423, 441, 463, 485, 493–496, 498, 521, 554, 611, 613 f., 620, 637 bauen, s. Gebäude Bauer, s. bäurisch, gesellschaftliche Gruppen Baum, 252, 476, 543, 545 f.; Ast, 542 f., 546; Eiche, 499; Mandelbaum, 307; Palme, 350, 473–477; Pfropfreis, 354, 542 f.; Stamm, 433, 543, 546; s. a. Hain, Pflanze, Wald, Wurzel bäurisch, 64, 490, 527; s. a. einfach, unkultiviert Beat, s. Musik Befleckung, 366; s. a. Schmutz
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Befreiung, s. frei Begeisterung, s. Inspiration Beginn, s. Anfang Behälter, 188, 277–279, 308, 325 f., 335, 392, 398, 416 f., 421, 427, 434, 436, 526, 536, 556, 567, 577, 580, 602, 605 f., 608 f., 621 f., 639, 641 f.; Inhalt, 9, 63, 139, 308–310, 540, 565, 651 f.; Schatzkästlein, 335; Zypressenschrein, 56; s. a. innen, Kanon, Rand, Welt Bereich, s. Gebiet Berg/Gebirge, 55, 69, 326, 548; s. a. Abwärtsbewegung, Aufwärtsbewegung Bergbau, 282 Beruf/Berufung, 21, 199, 261, 298, 331 f., 354–364, 384 f., 396, 431 f., 516, 561, 625; Brotberuf, 298, 358, 362, 434; Nebenberuf/Nebentätigkeit, 342, 356–359, 360–362, 432 f., 563; s. a. frei, Muße Bescheidenheit, 210, 230, 357, 487, 514, 541, 546, 564 beschissen, s. Scheiß besetzen, s. Krieg besitzen, 335 f. Bestie, s. Tier bewegen (movere), s. Emotionen Bewegung/beweglich, 1, 83 f., 314, 245 f., 327, 477 f., 630, 654, 663; Denkbewegung, 616; s. a. Abwärtsbewegung, Aufwärtsbewegung, Emotionen, laufen, Weg Bibel, 33, 61–74, 82, 243, 282 f., 286, 341, 391, 484; s. a. biblische Figuren Bibliothek, 76, 417, 509 f. biblische Figuren, 386; Abraham, 528; Adam, 71, 259; David, 61, 394, 470 f., 528; Debora, 322; Eva, 474; Jesus, 282, 286, 307, 470 f., 476–478, 528, 631; Johannes der Täufer, 433, Joseph, 388; Judith, 322; Miriam, 322; Salomon, 61 f. biegen, 381 f. Bild, s. Abbild, Malerei Bildung, 331, 343 f., 550, 561, 586; ungebildet, 341, 386, 418, 494; s. a. gelehrt binden, 310, 354; s. a. Verbindung Blaustrumpf, 331 blühen, s. Blume Blume/blühen, 203, 254, 265, 289, 291, 393, 444, 507, 541–543, 659; Blüte, 546, 588–590, 593, 598; Blütenlese (Anthologie), 416; Blütenstaub, 576, 578; flores, 542; Knospe, 597; pflücken, 562 f.; Rose, 291, 332 f., 659; s. a. Ernte, Pflanze, Wurzel
720
Poetologische Metaphern und Topoi
Blut, 86, 222, 266; Adern, 88 f., 280, 423 f.; Blut und Boden, 501 f. Blüte, s. Blume Blutegel, 55 Blütenstaub, s. Blume Boden, s. Gebiet Bogen, s. Papier, Waffe Bombe, s. Waffe Börse, s. Geld Botschaft, 649 Braut/Bräutigam, 66, 284, 334 Brot, s. Beruf, Speise Bruch, 198, 200, 208, 220, 485, 531 f., 560, 612, 637; s. a. Tradition Bruder/verbrüdern, 206, 520, 574 f. Buch, 212, 216 f., 224, 236 f., 245, 319 f., 336 f., 340, 362, 390–392, 396, 416 f., 473–475, 492, 509, 512, 561, 582 f., 650 f., 660; s. a. Papier Buchhandel, 380 f., 433, 644; s. a. Verlag Buchstabe, s. Schrift Büffel, s. Tier Bund, 66, 275, 317, 337, 400; Bündnis, 166, 206; s. a. Gruppe Bürger, s. gesellschaftliche Gruppen Chiffre/dechiffrieren, 304; s. a. Zeichen Chronik/Chronist, 300, 321 Computer, 245, 273; klicken, 273; Maustaste, 623 Credo, s. Religion Dachstübchen, 243, 467 Danksagung, 451 f. David, s. biblische Figuren Debora, s. biblische Figuren dechiffrieren, s. Chiffre, Zeichen Degen, s. Waffe Deklamation, s. mündliche Rede Dekoration, s. Schmuck delectare, s. erfreuen Demagoge, 86, 454 denken/Gedanke, 1–6, 9, 36–53, 77–79, 83 f., 96, 98–102, 191 f., 210, 275, 296–298, 300, 323, 368, 448, 569, 575, 608, 623, 627, 632, 634, 663 und passim; s. a. Volk (Dichter und Denker) Denkmal, 499 f., 644 deuten, 484; s. a. Zeichen deutsch, s. Nation Dialekt, 325, 491 f., 494; s. a. Sprache Dialog, s. Gespräch dicht/verdichten, 624, 651 Dichter, s. Autor, Gruppe, Krone Dichterzug, 297 Dickicht, 46, 612, 630, 655; s. a. Gebiet, Weg
Dieb, 331 Dienst, 20, 58, 431 f., 483 f., 506, 514, 524 f., 542, 564; Auftrag, 20, 27, 360, 374, 390 f., 431 f., 439, 524 f., 534, 551, 556 f.; Dienst an Gott, 390–392, 524 f.; Lippendienst, 530 Diffamierung, s. Ruf Dilettant/Dilettantismus, 57, 77, 263, 571; Laie, 440, 489 Dionysos, 384 Dirigent, s. Musik Diskontinuität, s. Bruch, Tradition Distanz, s. fern Disziplin, 263, 313, 481 f. docere, s. lehren Dokument/dokumentieren, 197, 248, 305 f., 409, 473 f., 486, 499, 547, 561, 580, 620, 642 f.; dokumentarisches Theater, 465; s. a. Papier, Schrift Donner, s. Wetter Dornenbahn, s. Weg Dreck, s. Schmutz dreifaltig, s. Religion Dreigroschenliteratur, s. trivial Droge, 37, 373; Mohn, 307, 438 Druide, s. Priester dunkel (finster), 45, 59, 150, 259, 333, 392, 423, 612; (unverständlich), 240, 267, 311, 542 durchdringen, 46, 479, 577, 598, 619 durchsichtig, 539 f., 542 Echo, 59, 344, 513 echt, s. authentisch edel, 253 f., 270, 279 f., 490, 509, 527, 531, 536 f., 542 f.; s. a. vornehm Ehre, 277, 292, 360, 365, 372, 510, 556 Ehrfurcht, 280, 283, 444, 570 Ehrgeiz, 44, 329, 510 ehrlich, 593; s. a. wahr Eiche, s. Baum, Hain Einbildungskraft, s. Phantasie einbrechen, s. Dieb einfach/schlicht, 64, 68, 72 f., 258 f., 510, 603, 605–607, 634; s. a. bäurisch Einfalt/einfältig, 259, 262, 419 einfließen, s. Inspiration Einfluss, 88, 464 f.; Einflussangst, 276, 416 Einfühlung, 235, 337, 556 eingesperrt, s. gefangen Eingießung, s. Inspiration Einheit, 35, 278–280, 609, 614 einsam/Einsamkeit, 331, 388, 419, 467, 513, 621, 649; s. a. abgeschiedener Ort Eis, 190; s. a. Kristall
Poetologische Metaphern und Topoi
Eistanz, 657 Eitelkeit, 233, 631, 663 Ekel/ekelhaft, 419, 466, 494 Ekstase, s. Inspiration E-Kultur, s. ernst elektrischer Stuhl, 481 Elektrizität, 327, 441, 454 Elfenbein, 510, 528 Elite, s. gesellschaftliche Gruppen, Vertikalität Elster, s. Vogel Emigration, 612; innere Emigration, 369 Emotionen, 12, 21, 37–41, 45 f., 50, 59, 79, 85 f., 191–193, 235, 242 f., 263, 273, 302, 311, 319, 340, 358, 392, 415, 453, 455, 482, 504, 519, 536, 544 f., 562 f., 565–567, 579, 602, 604–606, 610, 641, 644, 649, 663; (emotional) bewegen, 45, 52, 59 f., 64, 69, 79, 192, 266, 353, 508, 579, 604 f.; erregen, 37, 39, 41, 61, 454 f.; irrational, 641; s. a. fühlen, lachen, Liebe, Mitleid, Neid, Pathos, weinen Empfindung, s. Emotionen Empörung, 636 Ende, 14, 318, 374, 455, 477, 486, 566, 611 f., 622; beenden, 612; s. a. Weg (Ankunft) Engagement/engagiert, 293, 364, 367, 376, 466, 620 Engel, 267, 312 entdecken, s. erfinden, Weg (Pionier) entfernt, s. fern entfremdet, s. fremd entgrenzen, s. Grenze enthalten, s. Behälter Enthusiasmus, 44, 280, 394; s. a. Inspiration entmannen, s. Sexualität Entwicklung, 227, 260, 269, 370, 414, 649 Entwurf/entwerfen, 303, 352, 642, 658 Epigone/epigonal, 293, 403, 406, 414, 438, 441, 589, 654; s. a. nachgeboren Epoche, 202, 412, 414, 438, 576, 578, 584, 592, 594, 603; Epochenschwelle, 13 f., 72, 412, 560; Sattelzeit, 412, 414, 427, 560, 572 Erbauung, s. Religion Erbe/Erbschaft, 407, 420 Erbsünde, s. Sünde Erde, 318, 387–389, 393, 483 Ereignis, 400, 454, 473; évènement, 280; Event, 372, 461, 637, 663; Eventisierung, 663 f.; Feier, 209, 394; Fest, 86, 426, 455; Festival, 661, 663; Happening, 466 f.; s. a. lebendig, mündliche Rede, Performanz
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erfahren/Erfahrung, 88 f., 219 f., 230, 261, 320, 489; erleben, 257, 330, 478, 637 erfinden/Erfindung, 218, 223 f., 227, 310, 516, 550, 578 f., 626, 633 Erfolg, 355, 664 erfreuen, 54, 58, 289, 340, 342, 345, 369, 425, 435, 528 f., 531, 536–538, 542, 548, 550, 555, 567, 645; s. a. lehren, nützen, Unterhaltung erhaben/Erhabene (das), 58–61, 225, 343, 614 erheben, s. erhaben, hoch Erinnerung, s. Gedächtnis erkennen/Erkenntnis, 311, 538, 611, 614 f., 622 erleben, s. erfahren erlösen/Erlösung, 59, 397, 400, 619 erneuern, s. neu erniedrigen, s. niedrig ernst/Ernst, 42, 47 f., 73, 91, 355, 441, 457 f., 466, 527, 575, 635, 650; E-Kultur, 645, 647; s. a. hoch Ernte/ernten, 578 f., 590; s. a. Pflanze erobern, s. Krieg eröffnen, s. offen Erotik, s. Liebe Erregung, s. Emotionen Erste (der/die), 322, 354, 388, 433, 455, 542 f., 547, 584, 598, 655, 660 erwählt, 266, 417, 476, 596; s. a. Priester erwecken, s. wecken erwürgen, 621 Erz, 270, 592 erzählen/Erzähler, 234 f., 267, 300, 536 f.; s. a. Chronik erziehen/Erzieher, 29, 78, 378 f.; s. a. lehren esoterisch, 649 essen, s. Speise Eule, s. Vogel Europäer, s. Rasse Eva, s. biblische Figuren Evangelium, s. Bibel Event, s. Ereignis ewig/Ewigkeit, 269, 401, 436, 477, 509 f., 512, 580, 593, 614, 650; s. a. aufbewahren, Ruhm Exil, 387–389 Exklusivität, 78, 349 f., 478, 574 Experiment, 656; s. a. Labor Experte, s. Kenner exterminieren, s. zerstören extern, s. außen, Behälter Fabrik, 656; s. a. fertigen Fahne, s. Krieg
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Poetologische Metaphern und Topoi
Fahrende, s. Vagant Fahrzeug, 290; lenken, 246; Rallye, 657 fallen, 21, 338 f. falsch, 11, 379, 472, 559 Fama, s. Ruhm Familie, s. Genealogie Farbe, 145, 318, 545, 655 Faulheit, s. Muße fechten, s. Waffe Feder, 89 f., 190, 256, 310, 315, 330, 350, 365 f., 508 f.; Feder/Schwert, 22, 349, 484, 492, 500, 505, 508 f., 526, 611, 613; s. a. schreiben Fehde, s. Kampf Fehler, s. falsch Fehlgeburt, s. Geburt Feier, s. Ereignis Feile, s. Werkzeug Feindschaft, 61, 269, 329, 649; Feindbild, 468, 653 Feld, s. Gebiet Feldmusik, s. Krieg Fenster, 273, 342, 631 fern, 454, 506, 603, 619, 629 f. fertigen/(Kunst-)Fertigkeit, 47, 56, 77, 80, 87, 90, 226, 229, 238 f., 249, 258, 271 f., 290, 302, 311, 343, 528 f., 575, 608; techne, 47, 109, 170, 246, 271 f., 314, 334; s. a. Fabrik, Handwerk, Kunst Fessel, 204, 277, 429, 662; s. a. gefangen, Rahmen fest, 1, 9, 83, 484–6, 499 f., 628, 658; festhalten, 651; sich festigen, 88; fixieren, 313; s. a. Gebiet, Kanon Fest/festlich, 86, 423, 455, 460–463; s. a. Ereignis Festival, s. Ereignis Feuer, 61, 76, 86, 254, 292, 338, 443, 453 f., 459; con fuoco, 340; Funke, 280, 433, 441, 453 f.; glühen/Glut, 76, 255, 264, 280, 291 f., 387 f., 407, 454, 467 Fiktion, 6, 11, 48, 196, 206–209, 213 f., 227, 229 f., 232, 235, 239, 243 f., 302 f., 309, 319–322, 340, 371, 375–377, 418, 420–422, 441, 448, 500, 534, 601, 603, 646, 664; s. a. Nachahmung Film, 661 finanziell, s. Geld finden, 336, 371, 509; Fundstück, 628 Finger, s. Körper finster, s. dunkel (finster) fixieren, s. fest flechten, 245, 328; s. a. Gewebe Fleck, s. Befleckung, Schmutz
Fleisch, 69, 112, 207, 365 Fleiß, 254, 261, 264, 361, 407 fliegen/Flug, 22, 275 f., 328, 353, 545; s. a. Flügel fliehen/Flucht, 31, 210, 212, 273, 312, 419 fließen/flüssig, 83, 89, 242, 252, 260, 263, 292, 310, 327, 390 f., 423 f., 454, 465, 497, 605 f.; s. a. Wasser flores, s. Blume florieren, s. blühen Flöte, s. Musik fluchen, 290, 617 Flucht, s. fliehen Flug, s. fliegen Flügel, 210, 275 f., 545, 578 Fluss, s. Wasser flüssig, s. fließen, Wasser Form, 252, 304, 416 f., 565, 567, 649–651; rund, 80, 568; s. a. Behälter, Körper, Skulptur forschen/Forscher, 297, 300, 302, 304, 353; Friedensforscher, 396; s. a. Labor Fortpflanzung, s. Genealogie, Sexualität Fortschritt, 205, 271, 378, 477 f., 611 f., 614, 647; s. a. Avantgarde, Weg Fortuna, s. Glück Fragment, 225, 246, 267, 319, 433, 499, 574, 576–580, 628 fränkisch, s. Sprache Frau/weiblich, 298, 300, 322, 328–331, 335 f., 349, 355, 377, 421, 431, 449, 509, 512, 562 f.; Jungfrau, 329, 334; Literatur für Frauen, 378, 445, 509; Literatur von Frauen/weibliches Schreiben, 330–334, 449, 571 f., 625, 630, 657; s. a. Geschlecht frei, 75, 78, 259, 264, 277 f., 280, 344, 418, 428, 430–432, 577 f., 586; Freiheit, 69, 204, 218, 249, 256 f., 264, 277, 281, 347, 359, 385, 414, 428, 430 f., 556, 568; befreien/Befreier, 74, 89, 201, 204, 217 f., 277, 281–283, 414, 428–430, 443; freiberuflicher/freier Schriftsteller, 355, 360, 362, 426, 432, 513, 520; freie Kunst/Künste, 78, 249, 344, 359, 361; s. a. Autonomie Freimaurer, 433 f. Freizeit, s. Muße fremd, 225, 276, 330, 410, 429, 574, 641; Entfremdung, 235; Fremdherrschaft, 283, 413, 429; Überfremdung, 225; Verfremdung, 225, 235 fressen, s. Speise Freude, s. erfreuen, Genuss
Poetologische Metaphern und Topoi
Freundschaft/Freund(in), 244, 250, 294, 336 f., 353, 411, 443, 446, 478, 480, 512, 561, 563, 565, 569, 578, 600 Frieden, 367 f., 396, 558, 609 Frömmigkeit, s. Religion frostig, s. Kälte Frucht/fruchtbar, 254, 263, 329, 344, 474–476, 568; fruchtbringend, 473–477, 479; Kern, 303 f., 329, 355, 398 f., 434, 594; reifen, 361 Fruchtbarkeit, s. Frucht, Sexualität Frühjahr, s. Jahreszeit fühlen, 270, 277 f., 306 f., 327, 330, 332, 337, 367, 423, 444, 454, 511–513, 537, 565–567, 569, 601; s. a. Emotionen führen/Führer, 404, 454, 537 Fundament, s. Gebäude Fundstück, s. finden Funke, s. Feuer Furcht, s. Angst furor poeticus, s. Inspiration Fürst, s. Herrscher Fürstenlob, s. preisen Fuß, s. Körper, Weg Galanterie, 341; galante Welt, 342, 421 f. Garten, 4, 474, 476; Paradies, 73, 291, 486 Gärtner, 354, 393; s. a. Baum, Blume, Garten, Pflanze Gastarbeiter, s. gesellschaftliche Gruppen Gattung, 47, 81, 106 f., 224, 416, 455, 652 Gebäude, 68, 218, 290, 576, 579, 597, 636; bauen, 239, 291, 327, 401; Fundament, 68, 472 Gebiet, 312, 363, 474, 589, 645; Acker, 254; Bereich, 120, 289, 374 f., 428, 480 f., 662; Boden, 8 f., 206, 289, 353, 373, 600; Feld, 9, 17, 120, 254, 289, 292, 327, 558, 631 f., 653; Landschaft, 522, 623, 631 f., 663; Reich, 264, 284, 306, 369, 479; Weide, 594; Wiese, 289, 363; s. a. Dickicht, Geographie, Grenze, Horizontalität, Kartographie, Weg gebildet, s. Bildung, gelehrt Gebot, 502, 530, 620, 622 gebunden, s. binden Geburt, 450, 510, 601 f.; Fehlgeburt, 450; Missgeburt, 418, 572 Gebüsch, s. Pflanze Gedächtnis, 85, 451 f., 509; Gedenken, 388 Gedanke, s. denken Gefahr, 353, 365, 440, 444, 605 f. gefangen/Gefängnis, 277 f., 325 f.; s. a. Fessel Gefäß, s. Behälter Gefühle, s. Emotionen
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Gegenwart/gegenwärtig, 7, 227, 322 f., 400–403, 413, 415, 460, 588 f., 590–592, 619 f., 652–656, 662; s. a. Auge (vor Augen stellen), Spontaneität, Zeit geheim/Geheimnis, 263, 266 f., 304, 307, 332, 342, 422, 446, 453 f., 478, 580 f. Gehirn, 254, 266, 309–312, 322, 330 f., 341, 350, 450 f., 630; s. a. Kopf, Vernunft Geilheit, s. Sexualität Geist, 80, 82, 90, 104, 114 f., 263 f., 313, 330–332, 349, 367, 377, 478 f., 494, 566–568, 575–577, 580 f., 596, 607, 614; s. a. Kopf, Vernunft, Witz Geist (guter/böser), 314 f.; Exorzismus, 373 f.; Schutzgeist, 569 f. Geisterreich, 579 geistreich, 659; s. a. Witz Geld, 256, 329, 361, 426; arm, 578; Börse, 362, 480, 646; Geldgier, 329, 360; Gewinn, 234, 360, 434; Kaufmann, 300, 343, 350; kommerzielles Interesse 360 f.; Lebensunterhalt, 359, 432; Lohn, 358, 361, 426, 509, 554; verkaufen, 463, 479, 509, 517; s. a. Beruf, Kaufhaus, Kredit, Markt, Messe gelehrt/Gelehrter, 203, 219, 225, 255 f., 282, 300, 341, 356 f., 359, 422 f., 487, 491, 552–555, 565; Gelehrsamkeit, 75, 261 f., 283, 357 f., 391, 552 f.; poeta doctus, 54, 89, 202, 225, 250, 281, 293, 357, 443, 520, 552; s. a. Bildung, Welt Gelehrtenrepublik, 75, 422, 433, 479, 499 f.; s. a. Recht Gemälde, s. Malerei Gemeinschaft, s. Gesellschaft, Gruppe Genealogie, 334 f., 406, 498, 519, 653; Ahnenreihe, 619; Familie, 362, 446; Fortpflanzung, 406, 474, 476 f., 493; Großvater, 504; Sohn, 298, 300, 406, 498; Stammvater, 197, 207, 406; Tochter, 212, 300, 334 f., 378, 564, 566; s. a. Mutter, Vater Generation, 300, 403, 407–409, 467, 655; junge Generation, 658; alte Generation, 658, 653; s. a. alt, jung Genie, 77 f., 201, 203 f., 262 f., 277, 279–281, 283, 287, 324 f., 329, 385, 428, 432 f., 441, 495, 570, 582; Geniebonus, 373; s. a. ingenium, Talent Genuss, 344, 514; s. a. erfreuen Geographie, 398, 428, 488 f., 553 f., 657; Nord/Süd, 553; s. a. Gebiet, Klima, Orient
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Poetologische Metaphern und Topoi
Gerechtigkeit, s. Recht Gericht, s. Jüngstes Gericht, Kunstrichter, Recht Geruch/Geruchssinn, 150, 289, 503, 655 Gesamtkunstwerk, 463, 661 Gesang, s. singen Geschenk, s. schenken Geschichte, s. Chronik, erzählen, Literaturgeschichte Geschlecht, 328–340; s. a. Frau, Genealogie, Mann, Sexualität Geschmack, 39, 328, 425, 503, 568, 585 geschmeidig, 657 Geschwindigkeit, s. langsam, schnell Gesellschaft, 374–383, 613–615; s. a. Engagement, gesellschaftliche Gruppen, Gruppe, öffentlich gesellschaftliche Gruppen, 341; Adel, 200, 470, 490, 531; Arbeiter, 86, 455, 465, 659; Bauern, 64, 418, 490, 527; Bürger, 441, 447, 498; Elite, 424, 480, 644 f.; Gastarbeiter, 641–643; Gesinde, 39, 437, 524; Herrenschicht, 432; Masse, 39, 453–455, 480, 645, 658; Pöbel, 234, 256, 280, 341; Patrizier, 195; Prinzessinnen und adlige Frauen, 322; Proletariat, 380; s. a. bäurisch, Sklave, Volk Gesetz, s. Recht, Regel Gesicht, s. Körper Gesinde, s. gesellschaftliche Gruppen Gesinnung, s. Moral gespalten, s. Grenze Gespräch, 79, 351, 443, 450–452, 519 f., 583–586, 599, 623–629, 637, 652 f., 661; Dialog, 46, 449 f., 509, 599, 652 f.; Monolog, 318, 426, 569, 603, 610, 653; Streitgespräch, 450 f. Gestalt, s. Form, Körper Geständnis, s. Konfession, Recht Gesundheit, 37, 40 f., 55, 202–204, 217, 221, 239, 263, 269, 328 f., 363, 366, 386, 407, 444, 536, 592–594, 597, 599, 607 f., 641; lahm, 204, 262, 269, 363; s. a. Seuche Getränk, s. trinken, Wein Gewebe/weben, 14, 24, 118, 245 f., 276, 633; s. a. flechten geweiht, s. Priester Gewicht, 514, 650; leicht, 344 f.; schwer, 249, 401, 505, 570, 610 Gewinn, s. Geld gewinnen, s. Krieg, Wettstreit Gewissen, 369 f.; s. a. Konfession Gewitter, s. Wetter
Gift/vergiften, 289, 291, 365, 373 f. Gipfel, s. Berg Gitter, 245 Glanz, s. Licht Glaube, s. Religion Gleichgewicht/Gegengewicht, 188, 324, 648 gleichzeitig, s. Zeit Glieder, s. Körper Glück/glücklich, 190 f., 252–254, 290, 307, 318, 418, 457, 567, 589; Fortuna, 253 Gold, 242, 244, 307, 376, 509, 541, 588 f.; goldenes Zeitalter, 419, 496, 588 f. gothic, 640 Gott/göttlich, 251–254, 256, 258, 260, 263, 266–268, 385 f., 390, 417, 444, 513, 582, 618 Götzenbild, 510 Graben, 647 Grenze/Abgrenzung, 6–8, 13, 17, 48, 50, 79 f., 91, 199, 225, 235, 262–265, 312, 347, 349 f., 374, 377, 398 f., 416 f., 421, 465, 609, 631; ausgrenzen, 40, 43, 108, 225, 519, 521, 572, 594–596, 641 f.; Entgrenzung/Grenzüberschreitung, 81, 86, 117 f., 234, 244 f., 290, 313, 377, 416, 575–578, 638, 644 f., 647, 652; Körpergrenze, 176; Palisade, 234, 264; Scheidewand, 344, 419 f.; Schranke, 234, 444; s. a. außen, Behälter, Bruch, innen, trennen, Verbindung, Vertikalität Griechen, 54, 498, 510, 528, 531, 547; s. a. Antike, Athen groß/Größe, 59, 90, 196, 203, 220, 256, 263 f., 266, 271, 277, 285, 330, 349, 355, 359, 363, 394, 401, 442, 447, 454, 478, 493, 505, 508, 511, 514, 532, 584, 661; Größenwahnsinn, 447 gründen/Gründer, 88, 433, 442, 597, 655; Gründungsurkunde, 197, 409, 547;; s. a. Anfang grünen, s. Pflanze Gruppe, 300, 359, 408 f., 467–483, 635, 655; Dichterbund, 593; Konventikel, 514; Kreis, 331, 398, 422, 454, 478, 480; Orden, 433 f.; Rotte, 407 f.; s. a. Bund, Gesellschaft, gesellschaftliche Gruppen, Schule Gruß, grüßen, 341, 552 Guckkasten, 292 Hades, s. Unterwelt Hain, 275, 337, 499 Haltung, s. Disziplin, Körper Hand, s. Körper
Poetologische Metaphern und Topoi
Handwerk/Handwerker, 32, 41–43, 47, 56, 215 f., 282, 291, 300, 302, 311, 358, 454, 467, 586, 649 f.; Elfenbeinarbeit, 528; schmieden, 56, 226, 354; Steinmetz, 56, 290, 596 f.; Töpfer, 310; Zimmermann, 354; ziselieren, 660; s. a. fertigen, Meister, Montage, stricken, Werkstatt, Werkzeug, Zunft Happening, s. Ereignis Harfe, s. Musik Harmonie, s. Musik hart, 373, 555, 657 Hase, s. Tier hässlich, 212, 366 Haus, 378 f., 459, 497, 585, 662; Meierhof, 242; s. a. Wigwam Heer, s. Krieg heilig, 76, 86, 89, 203, 205, 242, 244, 259–261, 277, 306 f., 361, 384 f., 391, 441, 454, 500, 582; s. a. Bibel, Priester, Tempel Heimat, 116 f., 387 f., 395 f., 502 f.; Vaterland, 233, 378, 493, 551, 557 f. heiß, s. warm Held, 22, 60, 196, 201 f., 220 f., 278–280, 283–285, 321 f., 328 f., 385, 402 f., 414, 429 f., 443 f., 476, 508–513, 560, 570, 592 f., 613; s. a. Rolle Helikon, 55, 216, 541, 546 f., 558; s. a. Inspiration, Muse hell, s. Licht Herausgeber, 286, 319, 336, 345, 500, 561–565, 570 Herrscher/herrschen, 479, 481, 495; Fürst, 74, 293 f., 322, 447, 546; König, 372, 542; unterwerfen, 263; Tyrann, 280, 329, s. a. Krone, Macht Herz, 222, 256, 259 f., 264, 266 f., 279, 317, 330 f., 335, 384, 390 f., 393, 476, 497, 509 f., 536–538, 542, 562, 565–567, 608; s. a. Emotionen, fühlen Hexe, s. Magie Hierarchie, 63 f., 70, 88, 103, 256, 267, 343, 380, 399, 416–419, 422, 424–426, 431, 437, 481, 519, 523 f., 551, 555, 586, 638 f.; Gattungshierarchie, 49; s. a. gesellschaftliche Gruppen, Rang, Vertikalität Hieroglyphen, 267; s. a. Schrift Himmel, 255, 265 f., 292, 397, 400, 459, 526, 531, 582, 585; s. a. Religion Hindernis s. Weg (durch Dickicht) Hippokrene, 252, 292, 334; s. a. Inspiration, Muse Hirte, s. Schäfer
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Hitze, s. warm hoch/erhöhen, 80, 256, 344, 353, 373, 417, 423, 426, 470, 556, 596; hohe Literatur, 519, 557, 639 f., 644 f.; hohe Kultur, 644; hoher Stil, 58 f., 618; Höhenkamm, 425, 634; Übermensch, 380; s. a. ernst, erhaben Hochstapelei, 313 Hof/Hofdichter, 287, 358, 517 Höhenkamm, s. hoch holprig, 660 Holzschnitt, s. Malerei Homeriden, 443 hören, 39, 236 f., 396, 443, 643 f., 651; Hörer, 37, 52, 57, 86, 97, 148, 454; Ohr, 323, 443; verstockt, 614; s. a. mündliche Rede, Musik Horizontalität, 8–10, 276, 399, 417 f., 514 f., 577 f., 647 f.; s. a. Gebiet Hörsaal, 466; s. a. Universität Huldigung, s. preisen Hülle, s. integumentum Hund, s. Tier Hygiene, 55, 662; s. a. Kosmetik Ich, 237, 277, 303–308, 325, 330–333, 335, 606; lyrisches Ich, 229; s. a. Individuum Idee, 79, 271, 478, 598 Idylle, s. Arkadien, Schäfer Imagination, s. Phantasie imitatio, s. Nachahmung immergrün, s. Pflanze impotent, s. Sexualität Individuum/Individualität, 89 f., 95 f., 191, 219 f., 263, 281 f., 325, 353 f., 423, 429, 471 f., 582, 641, 663 f.; s. a. Ich, ingenium, original, privat ingenium, 202–204, 249–251, 254–256, 259, 262, 274 f., 433, 510, 553; s. a. Genie, Talent Inhalt, s. Behälter innen/innerlich, 80, 304, 308, 258–260, 266 f., 306, 308, 312, 369, 416, 428, 444, 446, 537, 555, 567 f., 599, 602 f., 608 f., 664; s. a. Behälter, Weg (nach innen), Welt innere Emigration, s. Emigration Innovation, s. neu Inspiration, 59, 203–205, 224, 248–250, 254 f., 260 f., 263, 270, 292, 334, 390, 417, 552, 556, 631, 637; einfließen, 292; Eingießung, 249; Ekstase, 262, 313; furor poeticus, 45, 202, 260 f., 292, 385, 394, 553; s. a. Enthusiasmus, Helikon, Quelle, Wahnsinn
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Poetologische Metaphern und Topoi
Institution, 463–465, 649 Instrument, s. Musik, Werkzeug integumentum, 291 Interesse, s. Engagement, Geld intern, s. Behälter, innen Internet, 273 f., 627, 651; s. a. Netz Intuition, 224, 313; s. a. Inspiration invocatio, s. Anrufung irrational, s. Emotionen Jagd, 270, 595 Jahreszeit: Frühjahr, 4 f., 394, 598; Herbst, 73; Winter, 108, 411 Jenseits, 325, 421 Jerusalem, 33, 45, 69, 392, 583 Jesus, s. biblische Figuren Jetztzeit, s. Zeit Johannes der Täufer, s. biblische Figuren Joseph, s. biblische Figuren Judentum, s. Religion Judith, s. biblische Figuren jung/Jugend, 56, 74, 89, 222, 279, 281, 378 f., 409, 412–415, 444, 469, 500, 654 f., 658, 662; s. a. Generation Jünger, 66, 307, 476–478; s. a. biblische Figuren (Jesus) Jungfrau, s. Frau Jüngstes Gericht, 74 Kaffeehaus, 76 Kahlschlag, 502, 612 Kalkül, 313, 658 Kälte/Frostigkeit, 192, 318, 532, 565 f., 602 f. Kampf/kämpfen, 22, 31, 60, 74, 82, 191–193, 271, 277, 279 f., 285, 330–332, 349 f., 374, 414, 454, 653, 657, 659; s. a. Krieg, Waffe, Wettstreit Kampfplatz, s. Wettstreit Kanon, 417, 427, 448, 461, 485, 496, 509, 543, 546, 640 Kartenspiel, s. Spiel Kartographie, 14; s. a. Gebiet Katholizismus, s. Religion Katze, s. Tier Kaufhaus, 434, 466; s. a. Geld Kaufmann, s. Geld Kehle, s. Mund Keim, s. Pflanze keltisch, 498; s. a. Ossian Kenner, 54, 419, 564, 567 Kerker, s. gefangen Kern, s. Frucht Kette, 69; Kette der Wesen, 418, 491, 520 Kind/kindlich, 39, 81, 259, 262, 270, 325, 378, 386, 486, 491, 497, 572, 582, 594 f.; s. a. naiv
Kirche, s. Religion Klage/klagen, 242, 317, 386 f., 393 Klang, 245, 313, 547, 651, 662 f.; s. a. Musik klassisch/Klassiker, 279, 414, 460–462, 492, 495 f., 593; augusteisch, 54 Klavier, s. Musik Klee, s. Pflanze Kleidung/kleiden, 9, 46, 62, 269 f., 537, 583, 590, 594, 603; Verkleidung, 294 klein, 280, 424, 477, 512, 563, 631; Miniatur, 8 klicken, s. Computer Klima, 196, 385; s. a. Geographie Knecht, 39, 282; s. a. Dienst, gesellschaftliche Gruppen Knochen, s. Körper Knospe, s. Blume Knoten, 386 f., 627 f., 630, 652; s. a. Netz kochen/Kochkunst, 330, 443, 608; s. a. Speise kommerzielles Interesse, s. Geld komponieren, s. Musik Konfekt, s. Speise Konfession, 220, 286, 306, 603; s. a. Gewissen, Religion König, s. Herrscher konkret, 12, 501 Konkurrenz, s. Wettstreit Kontemplation, 615 Kontinuität, s. Tradition Konventikel, s. Gruppe Konzentrat, 450 Konzert, s. Musik Kopf, 74, 222, 260, 280, 331, 343, 426, 433, 562, 565–567; s. a. Gehirn, Vernunft Körper, 222, 269, 278, 298 f., 323–326, 338, 351, 353 f., 388, 417, 509; Bodybuilding, 325; Finger, 316 f., 460, 479; Fuß, 30, 277, 280, 291, 530, 558, 660; Gesicht, 486; Glieder, 303, 333; Hand, 270, 314, 316, 380, 390 f., 551, 582, 596; Knochen, 207; Haltung, 373, 482; Mark, 280; Schweiß, 511; urinieren, 426; verkörpern, 80, 322; s. a. Atem, Blut, Gehirn, geschmeidig, Gesundheit, Herz, Kopf, lebendig, Mund, verstümmeln Kosmetik, 608; s. a. Hygiene Kost, s. Speise kostbar, 290, 538, 596 f., 601; s. a. Elfenbein, Gold Kraft, 72, 190, 254, 264, 266, 317, 334, 393, 419, 618 f.; Kraftkerl, 325, 329 krank, s. Gesundheit Kranz, s. Krone, Lorbeer
Poetologische Metaphern und Topoi
Kraut, s. Pflanze kreativ, s. Schöpfer Kredit, 433 Kreis, s. Gruppe Kreislauf, 222 Kreuz, s. Religion Kreuzung, 246, 652 Krieg, 58, 328, 349, 385, 441, 508, 558, 621, 659; besetzen, 500; erobern, 284, 349, 387, 631; Fahne aufstecken, 493, 559; Feldmusik, 22; Feldzug, 442; Heer, 203, 268 f., 283–285, 322, 407, 481 f.; Sieg, 262, 264, 424, 508, 511, 539 f., 598; Soldat, 367 f., 482; s. a. Frieden, Kampf, Waffe, Wettstreit Kristall, 211, 539 f. Kritik, 56 f., 89, 217, 240, 343, 615; s. a. Kunstrichter Krone, 297 f., 332, 420 f., 471; Krönung, 297, 358, 425 f., 509, 511 f., 535, 548, 659; s. a. Lorbeer; Preis Krücke, s. Gesundheit (lahm) kühn, 54, 61, 190, 280, 284, 328, 443 Kult, s. Ritual kultivieren/zivilisieren, 203, 254, 384, 483–485, 490, 501, 527, 558 f., 589, 614; s. a. Ackerbau Kultur, 408, 496, 500, 611, 613; Kulturkritik, 521, 611, 614, 616; s. a. ernst, Nation, Unterhaltung Kunst, 8–12, 39 f., 42, 45–49, 55, 73–81, 85, 207, 215 f., 221, 226, 238, 240, 246–274, 282, 290, 300, 347, 352–354, 361–363, 384–386, 394, 401, 407, 423, 428–430, 437, 441 f., 457, 470–472, 544 f., 547, 552, 556, 565–568, 571, 575, 579, 581, 586 f., 590, 592–597, 613, 616, 620 f., 646–648, 650, 663; Künste, 10 f., 31, 41, 46, 48 f., 74 f., 77, 80, 244, 249, 436, 444, 498, 576, 578, 598, 661 f.; Künstler, 49, 79, 81, 89, 226, 248, 264 f., 271, 281, 367 f., 372, 494, 515 f., 571, 582; Kunstraum, 465 f.; Kunstschönheit, 114 f., 344; l’art pour l’art, 397; s. a. Artist, fertigen, frei, Handwerk, Malerei, Nachahmung, schön, Tanz künstlich, 273, 471, 567 Kunstrichter, 211 f., 218, 221, 343, 457, 460, 482, 521, 561, 563–566, 572, 586, 615, 617 f. Kunstsystem, s. System kurz/Kürze, 317 f., 512, 637 Kuss, s. Liebe
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l’art pour l’art, s. Kunst Labor, 297 f., 302, 356 Labyrinth, 68 lachen/lächeln, 290, 420, 598 lahm, s. Gesundheit Laie, s. Dilettant Landschaft, s. Gebiet Landwirtschaft, s. Ackerbau Langeweile, 467; s. a. Muße, Zeitvertreib langsam, 477; Verlangsamung, 650 f. Lanze, s. Waffe Last, 277, 283, 286, 633 Laster, s. Moral Laufbahn, s. Wettstreit laufen, 60, 238, 277, 414; s. a. Wanderer, Weg, Wettstreit laut, 514, 657 Laut, s. Klang läutern, s. rein lebendig/beleben, 57, 76, 80 f., 86, 107, 130, 134, 150 f., 227, 232 f., 237, 284, 320, 322, 390 f., 428, 447–450, 487 f., 518, 575 f., 582, 586, 595, 597, 603–606, 662 f.; (Sprache), 57, 86, 104, 227, 315, 454 f., 491 f.; s. a. Ereignis, mündliche Rede Lebensalter, s. alt, Generation, jung Lebensunterhalt, s. Beruf, Geld leer, 326, 466, 605 f. Legitimation, 39, 46–48, 55, 61 f., 77–80, 82 f., 88 f., 210, 220, 246, 282, 285 f., 292, 346, 354, 360, 366, 375, 386, 427 f., 434 f., 437, 442, 505, 512, 516, 521, 548, 559, 564, 611–622 und passim; s. a. Recht, verteidigen lehren, 192, 221, 240, 261, 334, 405, 421, 429, 498, 548, 550, 645; Lehrmeister, 277, 313; Lehrstück, 430, 463–465; s. a. erziehen, Gebäude Leib, s. Körper leicht (einfach), 407, 425, 551, 579; lite, 345; s. a. Gewicht Leid, 279, 337, 430, 513, 536 f., 604; Leid lindern, 536, 585 Leidenschaft, s. Emotionen Leier, s. Musik Leistung/Verdienst, 277, 355, 525, 558, 584 Leitbild, s. Vorbild lenken, s. Fahrzeug lernen, 206, 254, 308, 465, 472, 552, 554, 582 lesen/Leser, 10 f., 190, 193, 232, 236, 242 f., 245 f., 279, 303, 319, 344, 357, 368 f., 527, 549, 569 f., 625 f., 629–631, 654 f.;
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Poetologische Metaphern und Topoi
Dichterlesung, 322, 455; unlesbar, 11, 193; vorlesen/vortragen, 131, 651 Licht, 81, 366, 390, 423 f., 465; Glanz, 61, 240 Liebe, 334–340, 422, 504; Eros, 333; Kuss, 81; Liaison, 652; Seitensprung, 652; s. a. Sexualität, Verbindung Lied, s. singen lindern, s. Leid Lippen, s. Mund Literaturbetrieb, 479, 646; s. a. Geld, Markt, Messe Literaturgeschichte (als Topos in Poetiken), 218–222 live, s. Ereignis, Spontaneität loben, s. preisen Loge, s. Freimaurer Logik, s. Vernunft Lohn, s. Geld loop, s. Schleife Lorbeer, 211, 297 f., 332, 471, 500, 508 f., 535, 538 f., 541, 543; s. a. Krone Löwe, s. Tier Luft, 277 f., 287, 323 Lüge, 269 f., 354, 364, 435, 593 f. Lust, s. Genuss, Sexualität lyrisches Ich, s. Ich machen, s. fertigen Macht, 370, 492 f., 495, 508 f.; s. a. Herrscher, Kampf, Krieg, Vertikalität, Wettstreit Magd, s. gesellschaftliche Gruppen (Gesinde) Magie/magisch, 8, 284, 389 f., 395 f., 454, 545, 619; Wunder, 307, 450, 545; Zauberer, 37; Zauberspruch, 206 Magnet, 45, 55, 509 Mahlzeit, s. Speise Makel, s. Befleckung Makulaturblatt, 319 Malerei/malen/Maler, 38, 41 f., 48 f., 56, 232 f., 270, 330, 352 f., 393, 434, 460 f., 544 f., 590, 594 f., 598 Manifest, 601, 627 f., 631 Mann/männlich, 248, 300, 328–330, 337, 386, 562 f., 571, 608; s. a. Sexualität Markt, 361 f., 434, 479, 515–517, 631 f., 639 f., 645 f.; s. a. Geld Marmor, 86, 270, 290, 494, 512, 596; s. a. Skulptur Märtyrer, 373 Maschine, 226, 298, 380 f., 459; s. a. Uhr Maske, 294, 440, 603 f.; s. a. Rolle Material, 12, 346; s. a. Erz, Gewebe, Gold, Stein Maus, s. Computer
Mäzen, 358 Mechanismus, s. Maschine, Uhr Meer, s. Wasser Meierhof, s. Haus Meister, 264, 281, 283, 384 f., 439 f., 469–472, 534, 543, 592, 659; Meisterstück, 82, 352, 510; Meisterwerk, 581 f., 586; s. a. Handwerk melancholisch/Melancholiker, 55 f., 60, 90, 331, 513 memoria, s. Gedächtnis Mensch, 236, 269, 273, 302, 324, 329, 430, 444, 450, 475, 585, 632 und passim; Menschheit, 73, 263, 409, 417, 614; s. a. Atem, Blut, Emotionen, Herz, Kopf, Körper, lebendig, Mund, Seele, Sexualität Messe, 211 f., 480, 646; s. a. Geld, Markt Messer, s. Waffe Metall, s. Erz, Gold Metropole, s. Stadt mimesis, s. Nachahmung, wahrscheinlich Miniatur, s. klein Miriam, s. biblische Figuren mischen, 51, 210, 452 Misere, 594, 642 Missgeburt, s. Geburt Mitleid, 242, 337, 434, 604 f. Möbel, 42, 68, 346, 470, 481, 629 modern, 10–14, 56, 86 f., 89, 200, 224 f., 269, 349, 403, 407, 412–415, 427, 442, 572 f., 587; Moderne, 413 f., 427, 599 f., 605; s. a. Querelle Mohn, s. Droge Moment, s. Zeit Mönch, 520 Monolog, s. Gespräch Montage, 464 Moral, 76, 367 f., 379 f., 423, 463, 567; Gesinnung, 374, 389, 404, 482, 563, 622, 636; Laster, 366; moralisch bessern, 463; schamlos, 386; Schande, 570; Schandsäule, 74; Tugend, 232, 255, 313, 366, 376, 474, 476, 498, 552, 563 f., 655; Unzucht, 365 f.; s. a. Befleckung, Schuld, Sünde Mord, s. tot Morgue, 406; s. a. tot Mosaik, 624 movere, s. Emotionen multikulturell, 636 Mund, 60, 176, 267 f., 312, 323 f., 476, 486, 491 f., 600, 605 f., 659, 661; Kehle, 273, 386 f.; Lippen, 316, 323; Mundpro-
Poetologische Metaphern und Topoi
paganda, 658; Zunge, 315–317, 323, 354, 476, 490, 504, 542–545, 558, 605 f., 642; s. a. mündliche Rede Mündigkeit, 224, 375, 404, 428, 430, 433, 498 mündliche Rede 19, 91, 200, 209, 223, 228, 230, 236–240, 315–317, 323, 453, 486 f., 490–492, 519 f., 533, 579, 623, 641, 651, 655 f., 658–660; Deklamation 72, 80, 86, 104, 294 f., 323, 454 f.; s. a. Gespräch, lebendig (Sprache), Performanz Muse, 29, 39, 45, 60, 244, 261, 316, 330 f., 404, 443, 497, 541, 548 f., 556–558; Musenberg, 55, 558; Musenquelle, 252, 334; s. a. Helikon, Hippokrene, Inspiration, Parnass Museum, 654; s. a. aufbewahren Musik, 48, 86, 268, 340, 352, 417, 454, 651, 657, 661; Band, 628; Beat, 406, 656, 661; Dirigent, 628; Feldmusik, 22; Flöte, 296, 298; Harfe, 394, 544 f.; Harmonie, 242, 244; Klavier, 353 f.; komponieren/ Komposition, 352, 566, 569; Konzert, 643, 651; Leier, 85; Orchester, 657; Partitur, 628; Popmusik, 228 f.; Rap, 245, 656, 661; stimmen, 628; Symphonie, 409, 417; s. a. Klang, singen Muße, 361; Freizeit, 653; Müßiggang, 536; Nebenstunden, 364, 563; s. a. Beruf Muster, 320, 382 Mutter, 212, 298, 330, 362, 386, 483, 491, 498, 504, 564, 569, 629, 653; s. a. Genealogie, Vater Nachahmung, 48 f., 191, 203 f., 250, 255, 260, 348, 429, 436, 449, 548; imitatio, 242, 550; mimesis, 47; nachahmende Künste, 41, 46, 48, 89; s. a. Fiktion nachfolgen/Nachfolger, s. Epigone, Vorgänger nachgeboren, 403, 407; s. a. Epigone Nacht, s. Tag Nachtigall, s. Vogel Nachwuchs, 658 nah/nahen, 441, 452, 539 f., 571, 593, 657 f. Nahrung, s. Speise naiv, 74, 259, 262 f., 423; s. a. Kind Narr, 4, 418, 498, 556 nass, s. Wasser Nation, 300, 369, 422, 493, 564, 626; deutsch, 73, 82, 85, 238, 260, 280, 442, 473 f., 488 f., 491–495, 498, 501–504, 544, 558, 579, 612, 619; Deutschland, 331, 408, 411, 469, 489, 493, 503, 588, 642; der Deutsche, 497 f., 584 f.; deut-
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scher Geist, 373; Nationaldichter, 205, 281, 479; Nationalgeschmack, 585; Nationaltheater, 463; s. a. Sprache, Verspätung, Volk Natur/natürlich/organisch, 80, 201–203, 205, 207, 218–220, 240, 242, 244, 254–256, 258–262, 264, 266 f., 269–272, 276–278, 280, 282, 285, 290, 305, 313, 328 f., 391, 419, 428 f., 434, 474, 507, 511, 546, 548, 551–554, 568, 578, 605 f., 608 f.; Unnatur, 268 f., 593; s. a. lebendig, Kunst, Nachahmung neben, s. Horizontalität, nah Nebenstunden, s. Muße Neid, 423 Netz/vernetzen, 246, 273, 626 f., 631–633; Netzgestalt, 273; s. a. Internet, Knoten neu, 198, 403, 409–411, 442, 472, 502, 558, 633; erneuern/innovativ, 198, 413, 449, 456, 460, 481, 582, 639; neue Gedichte, 411 f., 626; neugierig, 341 f., Neuigkeit, 412, 626; s. a. original Neuland, s. Weg (bahnbrechend, Pionier) niedrig/erniedrigen, 70, 74, 343, 426, 644; s. a. trivial, Vertikalität Norden, s. Geographie Norm, s. Regel nützen/Nutzen/nützlich, 54, 58, 289, 340, 369, 531, 555; s. a. lehren, Moral nutzlos, 42 f. Nymphe, 291 oben, s. Aufwärtsbewegung, erhaben, hoch, Vertikalität oberflächlich, 344 offen, 201, 292, 302, 307, 323, 356, 636, 652 f., 658; sich öffnen, 652 öffentlich/Öffentlichkeit, 29, 42 f., 56–58, 64, 72, 104, 173, 178, 183 f., 237 f., 329–332, 340–342, 354 f., 368–383, 385, 422, 426, 446–448, 450 f., 461 f., 465, 473, 478, 480, 482, 505–517, 520 f., 537–539, 550–552, 555 f., 560–569, 586 f., 621 f., 632, 646, 649 f., 655, 663 f.; s. a. außen, Engagement, Publikum, Welt öffnen, s. offen Ohr, s. hören olfaktorisch, s. Geruch Opfer, 617–619 Orchester, s. Musik Orden, s. Gruppe organisch, s. Natur, wachsen Orgasmus, s. Sexualität Orient, 577
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Poetologische Metaphern und Topoi
original/Originalität, 201, 209, 224, 275 f., 411 f., 415, 437–439, 449, 557, 567 f., 626, 654; s. a. Weg (bahnbrechend, Pionier, Weg durch Dickicht) Ornament, s. Schmuck Orpheus, 323 f., 339, 505 Ort, 459, 463, 503, 652; Patmos, 484; Potsdamer Platz, 662; Prenzlauer Berg, 468; Wartburg, 351, 439–441; s. a. abgeschiedener Ort, Auschwitz, Gebiet, Stadt Ossian, 385, 498, 553 Ozean, s. Wasser Palisade, s. Grenze Pantheon, 400, 509, 650 Papier, 259, 291, 310, 319 f., 339 f., 365 f., 393, 433 f., 588, 650, 660; Bogen, 212, 320; s. a. Buch, Dokument, Schrift Paradies, s. Garten Paradiesvogel, s. Vogel Parnass, 331, 509, 548, 558; s. a. Muse Partitur, s. Musik Pathos, 59, 85 f., 332, 453–455, 647; s. a. Emotionen Patrizier, s. gesellschaftliche Gruppen Pegasus, 252 perfekt, s. vollkommen Performanz, 49, 228–230, 233–235, 321–323, 346, 348 f., 358 f., 393, 457 f., 460–462, 469–473, 656–661, 663; s. a. Ereignis, lebendig, mündliche Rede Peripherie, s. außen, Grenze, Rand Person, s. Mensch Pfad, s. Weg Pfeil, s. Waffe Pferd, s. Tier Pflanze, 291, 334, 385, 393, 398, 474, 476, 479, 509, 543, 546, 568, 582, 597; entsprießen, 546; Gebüsch, 291; grünen, 474, 509; immergrün, 509 f.; Keim, 80, 248, 277, 415, 479–481, 597, 627; Klee, 541; Kraut, 289, 438, 589; pflanzen, 393, 474; Saat, 578–580; säen, 501, 579 f.; Stamen, 433; unverwelklich, 474; s. a. Baum, Blume, Ernte, Frucht, Garten, Gärtner, Lorbeer, wachsen, Wurzel pflegen, 254, 378 f., 385, 483–485, 493, 499; Pflegebedürftigkeit, 641; s. a. kultivieren pflücken, s. Blume Pflug, s. Ackerbau Pfropfreis, s. Baum Pfütze, s. Wasser Phantasie, 8 f., 46 f., 58, 108, 114, 119 f., 160 f., 189, 242 f., 263, 285, 289, 354, 446, 475, 562, 602 f.
Philister, 332 Physik, 219, 271 f., 514 Pilz, 605 f. Pionier, s. Weg Plagiat, 438 Plattform, 627, 663; s. a. Schauplatz Pöbel, s. gesellschaftliche Gruppen poeta doctus, s. gelehrt poeta vates, s. Priester, Prophet Politik/Politiker, 85, 294, 300, 429, 437, 464, 479, 597, 649; politische Korrektheit, 373; s. a. Engagement Präsenz, s. Gegenwart Prediger, s. Priester Preis/Preisverleihung, 44, 372, 383 f., 425 f., 471, 482, 540, 659 preisen, 290, 368, 388, 418, 431, 440, 527 Preiskrönung, s. Krone Priester, 301, 361, 378, 384, 441 f., 484; Druide, 553; poeta vates, 222, 386, 394, 553, 596; Weihe, 222 f., 270, 293, 301, 597; s. a. auserwählt, heilig, Tempel privat, 331 f., 342, 349, 369, 373 f., 376–379, 443 f., 514, 551, 561–570, 586, 663; s. a. abgeschiedener Ort, innen Privileg, 372, 564 f. prodesse, s. nützen Proletariat, s. gesellschaftliche Gruppen Prophet, 45, 294, 299, 316, 388, 395 prosaisch, 9, 62, 269, 590, 631 Prunk, s. Schmuck Publikum, 45, 210 f., 222, 233, 236–238, 332 f., 341–344, 347, 352, 379, 418, 422–425, 453–455, 459–466, 507 f., 513 f., 535–541, 565, 568–570, 586 f., 631, 643, 645, 656–660; s. a. öffentlich purgieren, s. rein Purismus, s. rein Pygmalion, 352, 597, 644 Quelle, 88 f., 252, 260, 292, 313, 334, 391, 497, 618 f.; entspringen, 260; s. a. Hippokrene Querelle des anciens et des modernes, 23, 204, 258, 287 f., 412 f., 438 Rahmen, 10, 232–235, 664 Rallye, s. Fahrzeug Rand/Peripherie, 641 f., 664 Rang, 22, 75, 77, 226, 480; erstrangig, 224; gesellschaftlicher Rang, 341; Vorrang, 227, 655; zweitrangig, 427; s. a. gesellschaftliche Gruppen, Hierarchie, Vertikalität Rasse, 366 Rätsel, 388, 440, 590, 617, 619
Poetologische Metaphern und Topoi
Raum, 15, 283, 312, 326 f., 379, 419, 450, 465 f., 626, 629 f., 650; s. a. Behälter, Labor, Morgue, Pantheon, Schauplatz, Welt (Weltinnenraum), Weltraum Raumfahrt, s. Sonde, Weltraum Realität, s. wirklich Rebellion, 277, 643 Recht, 212, 566, 618; Angeklagter, 618; Anwalt, 294, 372; Gerechtigkeit, 259, 615 f.; Gericht, 74, 220, 482, 586, 617; Gesetz, 191, 264, 428, 499 f., 529 f., 532, 593, 622; Geständnis, 372, 603; Richter, 300, 379, 618; Strafe, 470 f., 570; Verbrechen, 372, 522, 613, 617–619; s. a. Jüngstes Gericht, Kunstrichter, Legitimation, Schuld, unschuldig, Urteil, verteidigen, Zeuge rechtfertigen, s. Legitimation Redner, 30, 58, 80, 192 f., 294 f., 454; s. a. Demagoge, lebendig, mündliche Rede Regel, 88, 217, 219, 262, 277, 280, 347, 428, 529, 533, 565, 648; mönchische Regel, 529 Regierung, s. Gelehrtenrepublik Reich, s. Gebiet reich, s. Geld reifen, s. Frucht reimen, 353, 545, 630; Reimregister, 238 rein/Reinheit, 79, 238, 254, 286, 292, 304, 498, 528 f., 617–619; purgieren, 55; Puristen, 347; reinigen, 347, 450, 544 f.; unverdorben, 419 Reis (Pfropfreis), s. Baum Reise, 116, 130, 137 f., 224, 290, 503, 580, 585, 623, 643 f.; Tourismus, 657; s. a. Weg Religion, 9, 67, 199 f., 224, 227, 244, 260, 265–267, 360, 365, 367, 370, 394 f., 398 f., 402 f., 437, 458, 483 f., 496, 579 f., 618 f., 647; dreifaltig, 390; Glaube/Glaubensbekenntnis, 367, 394 f., 421, 449 f., 478, 480; Kirche, 429, 466, 471; Kreuz, 241 f.; offenbaren/Offenbarung, 60, 72, 81, 85, 242, 261 f., 390; s. a. Bibel, Gebot, Jüngstes Gericht, Konfession Rennen, s. Fahrzeug, Wettstreit retten/Retter, 396, 617 Revolution, 413, 644 Rezipient, 24, 26, 79, 94 f., 148, 177–180, 193 f., 208, 210–213, 229–237, 242 f., 245 f., 253, 259, 273 f., 279 f., 290–292, 298, 302, 306, 315 f., 323, 340 f., 344, 377 f., 379, 398–400, 415–425, 432 f.,
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439, 454 f., 464, 475, 510, 529, 536–539, 565 f., 624 f., 629 f., 637 f., 648, 661 und passim; s. a. hören, lesen, Publikum, Zuschauer Rhythmus, 86, 651 Richter, s. Recht, Kunstrichter richtig, 269, 373, 465, 472, 516, 552, 593, 631 riechen, s. Geruch Ringkampf, s. Wettstreit Ritter/ritterlich, 349, 357, 474; s. a. Rüstung, Waffe Ritual, 452, 549–463, 481, 483, 487 f. Rohrpost, 139 f., 652 Rolle, 292–303, 481, 548 f., 580, 601–604, 658; Rollengedicht, 332 f.; s. a. Autor, Held, Kleidung Rom/Römer, 204, 257, 283, 418, 508; s. a. Antike Rose, s. Blume Rotte, s. Gruppe Rückkehr, s. Weg Rückschritt, s. Weg Ruf, 406, 514, 551; angesehen, 647; Rufmord, 291; s. a. Ruhm Ruhm, 505–517, 551, 621, 638, 650, 664; s. a. Ruf Rühmung, 27, 43, 400, 505–509, 512 f. rund, s. Form rusticitas, s. bäurisch Rüstung, 262, 365, 444 Saat, s. Pflanze säen, s. Pflanze sakral, s. Religion säkular, s. weltlich Salomon, s. biblische Figuren Salz, s. Speise Sänger, s. singen Sattelzeit, s. Epoche Schach, s. Spiel Schäfer, 294, 331, 364, 601; s. a. Arkadien Schaffenskraft, s. Genie, Inspiration, Schöpfer schamlos, s. Moral Schande, s. Moral Schatten, 270, 595, 630; s. a. Unterwelt Schatz, 335; s. a. Behälter Schauplatz, 232 f., 312, 327, 329, 422; s. a. Plattform Scheidewand, s. Grenze Schein, 42, 52, 73, 233, 235 f., 420, 465 f., 608, 645 Scheiß/beschissen, 239; Scheißkerl, 280 schenken/Geschenk, 256, 311, 457 Scherz, 91
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Poetologische Metaphern und Topoi
Schicksal, 408 schießen, s. Waffe Schiff/Schiffer/segeln, 20 f., 274 f., 290, 532, 597; Anker, 274; Regatta, 598 Schlacht, s. Krieg schlafen, 206, 660 Schlange, s. Tier Schleife/loop, 245, 452, 661 schlicht, s. einfach Schlüssel, 307, 335; Schlüsselroman, 342, 418; s. a. Chiffre Schmalz, s. Speise Schmarotzer, 432 schmecken, s. Geschmack, Speise Schmetterling, s. Tier schmieden, s. Handwerk Schmuck/schmücken, 9, 30, 57, 454, 507, 538, 540; Prunk, 601 f.; s. a. Blume, Gold schmuggeln, 661 Schmutz, 62, 365, 634, 662; s. a. Befleckung schnell, 210 f., 238–240, 295, 514, 657 f.; s. a. Wettstreit (Wettlauf ) schön/Schönheit, 42, 57, 62, 80, 114 f., 203, 221, 265, 366, 443, 509, 511 f., 530 f., 542 f., 565–567, 579, 593, 648; schöne Kunst/Künste, 42, 74–80, 344, 428, 436; schöne Literatur, 17, 23, 344; schöne Wissenschaften, 74 f., 436, 597 Schöpfer/kreativ, 85, 204, 249, 264 f., 308, 433, 627, 637; s. a. erfinden, Genie, Inspiration Schoß, 22, 307, 508, 609 Schranke, s. Grenze Schrei/schreien, 312, 388, 408, 454, 621, 632 schreiben, 7, 56, 242–244, 256 f., 280 f., 290, 294 f., 298 f., 302–306, 309–316, 319–321, 390–392, 565 f., 609 f., 615–617, 620–623, 627–630, 664; einschreiben, 325; Schreibtisch, 298, 356; s. a. Autor, Chronik, Feder, Frau, Stadtschreiber Schrein, s. Behälter Schreiner, s. Handwerk Schrift, 65, 199–201, 223 f., 228 f., 235–245, 267, 315, 321, 349, 364, 390–392, 400, 441, 448–455, 462, 472–474, 477, 483 f., 486 f., 491 f., 505 f., 508, 512, 519, 528, 532 f., 546, 555, 560, 579, 623, 629, 638, 643, 648–652, 655–657, 659–663; ABC, 175, 238, 502, 659 f.; Buchstabe, 450, 487, 491; Hieroglyphen, 267; s. a. Bibel Schriftsteller, s. Autor
Schuld, 372 f., 502, 611–622; s. a. Recht, Sühne, Sünde Schule, 200, 359, 442, 463 f., 470; s. a. Gruppe Schund, s. trivial schwach, 385, 508 Schwan, s. Vogel schweigen, 329, 338 f., 388, 482; verstummen, 208, 513, 570, 600, 621; stumm, 232, 603, 609 Schweiß, s. Körper Schwelle, s. Epoche schwer (schwierig), 401, 505, 570; s. a. dunkel, Gewicht schwerelos, s. Gewicht Schwert, s. Feder, Waffe Schwingung, 81, 627 f., 651 Seele, 207, 266, 351, 391, 444, 555, 565 f., 586 Segel, s. Schiff sehen/Blick, 243 f., 261, 277 f., 280, 323, 326, 328, 342, 353, 363, 378, 422, 446, 596; s. a. Auge, Farbe, sichtbar, unsichtbar Seher, s. Prophet sehnen (sich), 408, 481, 602 Sein, s. Schein Sekte, 76, 478 Selbstgespräch, s. Gespräch Selbstmord, s. tot Selbstverwirklichung, 653 Seligkeit, 242, 252–254, 259, 307, 476 Sendung, 477 Sentimentalität, 586, 593 seriös, s. ernst Seuche, 366; s. a. Gesundheit Sexualität, 248; entmannen, 329; Geilheit, 365 f., 479; Geschlechtsverkehr, 657; impotent, 445; Orgasmus, 657 f.; Seitensprung, 652; steril, 406; Wichserei, 240; Wollust, 279, 329, 365 f., 511; s. a. Frau, Liebe, Mann sichtbar, 270, 416, 596, 632, 643, 649 Sieg, s. Krieg, Wettstreit singen/Gesang, 206, 244, 260 f., 275 f., 312, 318, 334, 348, 405, 470–472, 484, 497, 505, 507, 657; Sänger, 43, 352, 356, 361, 388; s. a. Musik Sinne, 150, 305, 318, 595 f.; s. Auge, Geruch, hören, sehen Sittlichkeit, s. Moral Sklave, 204, 283, 329, 419 Skulptur, 56, 268, 270, 308, 352, 411, 567, 590–592, 596, 598; s. a. Pygmalion
Poetologische Metaphern und Topoi
Sohn, s. Genealogie Soldat, s. Krieg Sonde, 626, 633 Sonderweg, s. Weg Sonne, 386, 553 soufflieren, 325 Spannung, 82, 272, 298, 302, 327, 356, 419, 454, 627 f.; umspannen, 305 f. Spaß, 108, 432, 458; Spaßkultur, 660; s. a. Unterhaltung Speicher/speichern, 227; s. a. aufbewahren Speise, 313, 423, 529, 614, 629 f.; Brot, 362; essen, 568, 629; Fressen, 646; Konfekt, 291; Mahlzeit, 260, 291; Salz, 257; Schmalz, 257; s. a. kochen, verschlingen Spiegel/widerspiegeln, 20 f., 42, 271, 325–327, 514, 577 f., 595 f.; Zerrspiegel, 595; s. a. Abbild Spiel/spielen, 42, 78, 91, 117 f., 263, 273 f., 314, 340 f., 344–348, 353, 418–420, 481, 543 f., 582, 586, 650 f.; mitspielen, 346; Schach, 341; Spielarten, 117 f., 346; Spieler, 300, 341, 345; Spielregel, 346 f.; Sprachspiel, 117 f.; s. a. ernst Spielraum, 227, 466, 653 spinnen, s. Gewebe, Tier Spiritualisierung, 307, 393, 524, 580, 596 f.; s. a. Religion Spontaneität, 238–240, 258 f., 262, 305 f., 441, 454–457, 658 f.; s. a. Ereignis, Gegenwart Sport, s. Wettstreit Sprache, 1–4, 8 f., 12, 16 f., 23, 29, 36 f., 47 f., 50–54, 61 f., 65 f., 76, 80, 83 f., 85 f., 92–108, 116–118, 138–159, 170–189, 192 f., 199, 266–268, 280, 309–321, 346 f., 373 f., 388 f., 396, 483–495, 503 f., 583 f., 605–610, 638, 641, 651 f.; Deutsch, 73, 85, 195–199, 484 f., 489, 491–493, 501 f., 504, 558, 618–620, 527; Fränkisch, 489–491, 526 f., 529 f., 533; Kanak-Sprak, 642 f.; Latein, 86 f., 197–200, 209, 255, 489–493, 532, 554; Muttersprache, 199, 474, 498, 504; Österreichisch, 489; s. a. mündliche Rede, Schrift, Wort sprachlos, 266–268, 320; s. a. schweigen Sprachmaterial, s. Material Sprachspeicher, s. Speicher sprengen/Sprengstoff, 302, 356 Springbrunnen, s. Wasser springen/Sprung, 277 f., 287, 292, 454, 641, 652 Spur, s. Weg
733
Staat, s. Gelehrtenrepublik stabil, s. fest, Gebiet, Kanon Stadt/städtisch, 419, 447, 517, 550, 658 f., 662; Metropole, 483, 636, 658; s. a. Ort Stadtschreiber, 517 Stamm, s. Baum, Genealogie stark, 39, 46, 260, 262, 327, 390, 514 starr/erstarren, 86, 602, 605 f. Statthalter, 581 stehlen, 331; s. a. Plagiat steigen, s. Aufwärtsbewegung Stein, 541, 641; s. a. Kristall, Marmor Steinmetz, s. Handwerk sterben, s. tot steril, s. Sexualität Stern, 262 f., 303 f., 346, 353 f. Stil, s. einfach, hoch Stimme, 298, 372, 396, 451 f., 519, 625, 632, 651 Stoff, 36, 44, 78, 81, 192, 238 f., 252, 269 f., 280, 344, 375, 444, 496, 595 f., 631 Strafe, s. Recht Straße, 203, 257, 359, 388 f., 465, 517, 662; Heerstraße, 203; Straßentheater, 465 f. Streitgespräch, s. Gespräch, Wettstreit stricken, 382, 460 f. strömen, s. fließen Stufen, s. Aufwärtsbewegung stumm, s. schweigen Sturm, s. Wetter suchen, 304, 355, 409 Sucht, 328, 342; s. a. Droge Süden, s. Geographie Sühne, 617–620 Sünde, 385 f., 510; Erbsünde, 614; s. a. Moral surfen, 273 süß, 54, 150, 307, 333, 340, 450, 530 f.; überzuckern, 291, 645 Symphonie, s. Musik System/systematisch, 7, 10 f., 79–81, 636; Kunstsystem, 11; Literatursystem, 10 Szenarium, 19, 273 Szene/Szenerie, 327, 650; s. a. Plattform, Schauplatz Tag, 459 f., 605 f., 641, 664; Abend, 318; Nacht, 243, 306 f., 318, 361, 384, 423, 657 Talent, 78, 95, 254, 365, 432, 552; s. a. Genie, ingenium Tanz, 48, 93, 245, 300, 352, 444, 452, 500, 657; s. a. Eistanz tasten, 355; sich vorwärtstasten, 626 Tat, 209, 278 f., 329 f., 338, 349 f., 429, 505, 508 f., 511–513, 616, 646; s. a. Rühmung
734
Poetologische Metaphern und Topoi
Tatsache, 298 Tatwaffe, s. Waffe Taufe, 470 techne, s. fertigen teilen, s. trennen Tempel, 429, 509; s. a. heilig, Priester Teufel, 62, 73, 440, 459, 462 textil, s. Gewebe Theater, s. Schauplatz Thron, 260, 508 tief/Tiefe (nicht oberflächlich/seicht), 88 f., 203, 230, 242, 260, 308, 344, 367, 497, 510, 555, 580, 595; s. a. niedrig, Vertikalität Tier, 257, 298, 333; Affe, 291, 418; Bestie, 646; Büffel, 341; Hase, 210 f.; Hund, 447, 628; Katze, 108, 319; Löwe, 190; Pferd, 252, 334, 365; Schlange 71, 243; Schmetterling, 618; Spinne, 275 f.; Ungeziefer, 367; Wurm, 332, 387, 512; s. a. Vogel, Zoo Tochter, s. Genealogie Töpfer, s. Handwerk tot/Tod, 190 f., 406, 576; Mord, 291, 339 f.; Selbstmord, 190; Tod des Autors, 14 f., 292 f., 321; tote Schrift, 487, 491; s. a. Morgue total/Totalität, 13, 75 Tourismus, s. Reise Tradition, 1, 21–23, 95, 194–205, 218–222, 401–415, 437–452, 486, 654 und passim; s. a. Bruch, Epigone, gründen, Ursprung, Vorbild, Vorgänger, Weg, Wettstreit Tränen, s. weinen transportieren, 323 Trash, 647 f. Trauer, 242, 649 Traum/träumen, 206, 243, 298, 300, 304, 353 f., 438, 504, 603, 647 Treffen, s. Ereignis trennen/Trennung/teilen, 76, 207, 221, 323, 607, 609, 614; s. a. Grenze Trichter, 214, 216 trinken/Getränk, 244, 529; s. a. Wein trivial, 9, 86, 345 f., 634, 639 f., 645–648 Trost, 71, 286, 290, 336 f., 493, 558 Trunkenheit, 443 Tugend, s. Moral Tyrann, s. Herrscher überbieten, s. Wettstreit übernatürlich, s. esoterisch, Magie, Priester, Religion überschwemmen, s. Wasser
übertrumpfen, s. Wettstreit überwinden, s. Wettstreit überzuckern, s. süß Ufer, s. Wasser Uhr, 226, 451 U-Kultur, s. Unterhaltung Umbruch, s. Revolution umspannen, s. Spannung Unabhängigkeit, s. Autonomie, frei Unfähigkeit, 330, 535, 537 f., 541, 601 ungebildet, s. Bildung Ungeziefer, s. Tier Unglück, 89, 190 f., 418 universal/Universalität, 11, 81, 94, 334, 347, 436, 577 Universität, 76, 219, 466 Universum, s. Weltraum unkultiviert, 490, 527; s. a. bäurisch unlesbar, s. lesen Unmöglichkeit, 313, 609, 615 f. unmündig, s. Mündigkeit unrein, 254, 365; s. a. Schmutz unschuldig, 80, 329 unsichtbar, 324; s. a. Welt (Weltinnenraum) unteilbar, s. universal Unterhaltung/Vergnügen, 30, 54, 191, 341–345, 347, 366, 421, 424, 457, 463, 527, 533, 572–575, 632, 640, 645, 658; U-Kultur, 645, 647 f.; s. a. erfreuen, Spaß Unterwelt, 642 untrennbar, s. universal unverdorben, s. rein unvollkommen, 115, 567 f., 654 Unzucht, s. Moral urinieren, s. Körper Urkunde, s. Dokument Ursprung, 20, 61, 89 f., 200, 215, 254, 260 f., 269, 283, 334, 352, 405, 453, 550, 579 f., 618 f., 627 f., 651; Urschleim, 292; s. a. Anfang, Quelle Urteil, 61, 68, 78, 213, 217, 221, 507, 538, 566, 586, 617 f., 621; s. a. Recht Vagant/Fahrende, 43, 352, 383 Vater/Urvater, 197, 214, 260, 406, 442, 546 f., 556, 653; Pflegevater, 564; Ziehvater, 481; s. a. Genealogie, Mutter Vaterland, s. Heimat, Nation vates, s. Priester veranschaulichen, s. Auge (vor Augen stellen) Verbindung/verbinden, 188, 206 f., 245, 347, 380 f., 422, 427, 430, 436, 471 f., 507, 555 f., 576 f., 605, 631, 652 Verbrechen, s. Recht Verdienst, s. Geld, Leistung
Poetologische Metaphern und Topoi
veredeln, s. edel vereinigen, s. Bund, Liebe, Verbindung Verfall, 85 f., 614, 639 verfertigen, s. Handwerk verfremden, s. fremd verführen/verführerisch, 40, 62, 234, 630 Vergangenheit, 225, 493, 518, 580, 589, 619; s. a. Genealogie, Tradition, Vorbild, Zeit Vergangenheitsbewältigung, 321, 611–622 vergänglich, 233, 512, 637 f., 650; s. a. Verfall, vergessen vergegenwärtigen, s. Auge (vor Augen stellen) vergessen/Vergessenheit, 474, 486 f., 512, 517, 553, 590, 664 vergiften, s. Gift Vergnügen, s. Unterhaltung verkaufen, s. Geld Verkleidung, s. Kleidung verknüpfen, s. Verbindung verkörpern, s. Körper, Mensch Verlag, 213, 322, 340, 358, 362, 380 f., 383, 391 f., 433, 448, 478, 488, 515, 520, 631, 646, 650, 658; s. a. Buch, Buchhandel Verlangsamung, s. langsam Verlebendigung, s. lebendig, Mensch, Natur vernetzen, s. Netz Vernunft, 39 f., 160 f., 191, 202, 217 f., 311, 344, 428, 649; Verstand, 9, 73, 79, 263, 285, 304, 313, 457, 529; s. a. Gehirn, Kopf veröffentlichen, s. öffentlich, Verlag Verrat, 563 verschlingen, 279 verschmelzen, 81, 577, 661 versiegeln, 313 Verspätung, 514; verspätete Nation, 197, 199, 201, 225, 485, 495 f., 547, 588 f., 612, 639, 641; s. a. Weg, Wettstreit Verstand, s. Vernunft verstecken, s. geheim, innen verstockt, s. hören verstümmeln, 386 verstummen, s. schweigen verteidigen/Verteidigung, 4, 44, 191, 195, 329, 364, 373, 435, 437, 439, 492 f., 550, 555, 569, 572 f., 617–622; s. a. Legitimation, Recht, Kunstrichter Vertikalität, 80, 115, 188, 264, 266 f., 318, 321, 326, 341, 344, 373, 399, 423–427, 508 f., 515; geduckt/erhobenen Hauptes, 373; s. a. Abwärtsbewegung, Aufwärtsbewegung, erhaben, Hierarchie, hoch, niedrig, Rang, tief, trivial
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verwandeln/Verwandlung, 79, 233, 294, 546, 563, 603 verwandt, 406, 446, 556, 593; s. a. Genealogie, Mutter, Vater verwelken, s. Pflanze (unverwelklich) verwunden, s. Wettstreit verzieren, s. Schmuck Vogel, 260, 305, 318, 348, 459; Adler, 318; Elster, 210; Eule, 291; Nachtigall, 252, 291; Paradiesvogel, 257, 363; Schwan, 334; s. a. Flügel Volk, 1, 83, 88, 405, 423 f., 444, 463, 465, 477, 479, 484, 486–489, 585, 592; allgemeines/nicht-gelehrtes Volk, 82, 86, 425, 490–492; (deutsches) Volk der Dichter und Denker, 298, 373, 599, 623, 644; (deutsches) Volk der Idee, 598; fränkisches Volk, 489–491; jüdisches Volk, 388 f., 615, 618; Volkspoesie, 200; s. a. gesellschaftliche Gruppen, Nation, Sprache vollkommen, 115, 252–254, 290, 495, 505, 660 vor Augen stellen, s. Auge Vorbild, 54, 57, 66, 68, 201, 275–277, 282, 321 f., 328, 334, 348, 358, 373, 386, 394 f., 408, 437–450, 455, 470 f., 473, 501, 521 f., 527 f., 543, 554, 566, 581–583, 588 f., 592 f., 619, 639, 653, 659; s. a. biblische Figuren, Vorgänger Vorfahren, s. Genealogie Vorgänger/Vorläufer, 54 f., 203, 205, 277, 322, 351, 439, 446, 495, 547 vorlesen, s. lesen vornehm, 457, 472; s. a. edel, gesellschaftliche Gruppen Vorsprung, s. Verspätung, Wettstreit wachsen/gedeihen, 80, 203, 385, 476, 545 f., 578; ins Herz wachsen, 82; Wachstum, 82, 588; s. a. Baum, Natur, Pflanze Waffe, 22, 31, 54, 192, 262, 291, 314 f., 375, 444, 475, 482, 500, 613; Bogen, 66, 82, 85; Bombe, 285; Degen, 613; fechten, 348, 470, 615; Messer, 22; Pfeil, 66, 329; schießen, 82, 482; Schwert, 22, 66, 349, 509; Spieß, 314 f.; Tatwaffe, 22; s. a. Feder, Kampf, Krieg, Wettstreit Wahnsinn, 44 f., 60, 251, 354, 385; s. a. Inspiration wahr/Wahrheit, 1, 3, 30 f., 37–42, 46–50, 60, 63 f., 66 f., 70, 72, 74, 78–80, 83 f., 220 f., 252, 258 f., 265, 268–270, 282 f., 286, 313, 353 f., 371 f., 390, 444 f., 465 f., 486, 566, 577, 581, 586, 596,
736
Poetologische Metaphern und Topoi
613, 616, 622, 655; s. a. authentisch, wirklich, Wissenschaft wahrscheinlich/Wahrscheinlichkeit, 30, 48, 244, 274; s. a. Fiktion, Nachahmung, wahr Wald, 189, 192, 291; s. a. Kahlschlag Wandel, s. verwandeln Wanderer, 385, 387 f., 450, 555; s. a. laufen, Vagant, Weg warm/Hitze, 108, 192, 260 f., 386 f., 565 f. Wartburg, s. Ort Wasser, 44, 89, 192, 290, 292, 327, 390, 450, 459; Fluss, 245, 263; Meer, 21, 56, 150, 190, 192, 274 f., 340; Springbrunnen, 292; überschwemmen, 327, 365 f.; Ufer, 20, 263; s. a. Eis, fließen weben, s. Gewebe wecken/Erweckung, 191, 270, 551, 597 Weg, 31, 74, 188, 195–198, 200, 203, 246, 266 f., 269, 276 f., 284, 313, 401 f., 404, 410, 412, 414, 497, 503, 516, 589, 592, 610–612, 626, 633, 657; Ankunft, 20, 532; aufbrechen, 557, 653 f.; bahnbrechend, 413, 547, 558; Dornenbahn, 275; Fußstapfen, 203, 277; Lebensweg, 402, 404, 526; Pionier, 224, 551, 557, 595; Rückkehr, 86, 90, 222, 269, 584, 593; Rückschritt, 378; Sonderweg, 456, 612; Spur, 54, 276, 371 f., 410, 446, 601, 630; vorwärts, 285, 414, 589, 626; Weg durch Dickicht, 612, 630; Weg nach innen, 266, 306, 580; Ziel, 317, 408 f., 629 f.; s. a. Anfang, Avantgarde, Fortschritt, Gesundheit (lahm), laufen, nachfolgen, Reise, Straße, Verspätung, Vorgänger weiblich, s. Frau weich, s. aufweichen Weide, s. Gebiet weihen/Weihe, s. Priester Wein, 361, 384, 443; s. a. trinken weinen, 45, 72, 242, 260, 279, 290, 604 weissagen, s. Prophet Welt, 85, 234, 306, 341 f., 344, 361, 365, 367 f., 373 f., 421 f., 434, 437, 450, 463, 466, 474, 503, 506, 536, 565, 567, 569, 577, 596, 626; gelehrte Welt, 422; innere Welt, 306; Lesewelt, 586 f.; neue Welt, 626; schöne Welt, 343, 422; Welthaltigkeit, 651 f.; Weltinnenraum, 308, 312, 324, 644; Weltklang, 662 f.; Weltliteratur, 225; s. a. Galanterie, öffentlich weltlich, 46, 62, 69, 72, 200, 233, 249, 257, 282 f., 286 f., 329, 335 f., 364–366, 371,
393–395, 454, 459, 462, 479, 490 f., 505 f., 510, 519 f., 524, 526–528, 531, 533 f., 538 Weltraum, 324, 580, 626, 633; s. a. Sonde Wende, 84, 308, 404, 413, 442, 588, 611 Werk, 2, 17, 19 f., 24, 29, 32, 36, 42–44, 47, 50, 78–80, 91, 94 f., 104, 189–192, 206–208, 210, 213, 230–232, 236–240, 248, 281, 286, 289 f., 302 f., 322, 375, 434, 454, 466, 515–517, 581–583; s. a. Handwerk, Meister Werkstatt, 56, 31, 451, 483, 627 f., 663; s. a. Handwerk, Werkzeug Werkzeug, 262, 290, 596; Axt, 190–193; Feile, 56; Hammer, 22, 454, 594; s. a. Handwerk, Werkstatt Wert, 660; s. a. Vertikalität Wertpapierbörse, s. Geld Wertungsskala, s. Vertikalität Wesen, 16, 79, 116, 215, 256, 302, Wettbewerb, s. Preis, Wettstreit Wetter: Donner, 267, 388; Gewitter, 597; Nebel, 73, 76, 270, 423, 450, 585, 594; Schneegestöber, 622; Wind, 60, 73, 597; Wolke, 585; Sturm, 60, 150 f., 593, 658; s. a. Klima Wettstreit, 20, 36, 44, 189, 221, 260, 264, 275 f., 300, 341, 348–354, 358, 444, 446, 485, 497, 499–501, 511, 516, 520 f., 531, 533, 540, 546, 557, 559, 585, 598, 613, 632, 648, 656 f.; Kampfplatz, 349; Konkurrenz, 439, 443, 516; Sieg/Sieger, 31, 227, 262, 264, 311, 423, 501, 508 f., 511, 540–542, 598, 658; Singwettstreit, 351, 439 f., 471–473, 548; verwunden, 221; Vorsprung, 197; Wettlauf, 55, 351, 443, 516; s. a. Krieg, Querelle, Streitgespräch WG-Poesie, 649, 653 widerspiegeln, s. Spiegel Widerspruch, 202, 355 Wiederholung, 104, 213 f., 237, 403, 410, 461, 472, 483, 487 f., 658; s. a. Epigone, Plagiat, Zitat Wiese, s. Gebiet Wigwam, 452; s. a. Haus wild, 313, 331 Wind, s. Wetter Wirbel, 605 f. wirken/Wirkung, 7, 23, 29, 32, 36 f., 39–41; 45–47, 50, 52 f., 57–60, 63 f., 75, 79–81, 85–88, 190–193, 213 f., 219 f., 228, 233–235, 255, 267, 274, 279–281, 286 f., 291, 294 f., 320 f., 356, 376 f.,
Poetologische Metaphern und Topoi
393, 395, 398–403, 406, 412, 415, 417, 419, 423, 434, 451–455, 457 f., 460–467, 474–476, 488, 499, 505–519, 579, 599–607, 611, 617, 621, 632 f., 651, 654–656, 662 und passim; s. a. hören, lesen, Publikum, Rezipient, Zuschauer wirklich/Wirklichkeit, 38, 47 f., 58, 233 f., 268–272, 416, 466, 577, 595–597, 599, 611–617, 620, 642 und passim; s. a. wahr Wissen, 88, 219, 248 f., 271 f., 327, 360 Wissenschaft, 4, 6–9, 11, 32, 46, 70, 78, 202, 249, 264 f., 282, 290, 435, 498, 551, 578, 586, 630; s. a. schön Witz, 54, 81, 108, 659 wohnen/Wohnung, 307, 443, 502 f.; s. a. WGPoesie Wolke, s. Wetter Wollust, s. Sexualität Wort, 64, 72, 186, 192, 207, 240, 310, 312, 314 f., 316, 338 f., 400, 544 f., 579, 642, 660; s. a. Ausdruck, Sprache Wunder, s. Magie Wünschelrute, 395 Wurzel/wurzeln, 11, 197, 285, 384, 662; s. a. Baum, Pflanze Zauberei, s. Magie Zeichen, 14, 64, 267; bezeichnen, 390; s. a. Chiffre, deuten Zeit, 225, 243, 269, 278, 311, 322, 329, 338, 359 f., 384, 407, 454, 457, 512, 549, 589, 618, 621, 631; gleichzeitig, 655, 657; Jetztzeit, 654 f.; Moment, 453–457, 466, 631; Zeitgeist, 664; zeitgenössisch, 662; zeitlos, 11, 78, 217, 269, 298, 307,
737
644, 650; Zeitrechnung, 626; s. a. alt, ewig, Gegenwart, modern, neu, Vergangenheit, Verspätung, Zukunft Zeitvertreib, 74, 238, 344, 421; Zeitverschwendung, 257, 359; s. a. Langeweile, Muße Zensur, 39 f., 381–383, 448 Zentrum, 222, 407, 483, 503 zerfallen, 600, 605 f. Zerrspiegel, s. Spiegel zerstören/zertrümmern, 80, 302, 356, 386 f., 621 Zeuge/Zeugnis, 242, 337, 625; s. a. Recht Zeugung, s. Sexualität Ziel, s. Weg, Zweck Zimmer, s. Raum Zimmermann, s. Handwerk Zitat, 67, 367, 449, 452, 475 f., 553, 563, 610, 618 Zivilisation, s. Kultur Zoo, 642 Zuhörer, s. hören, Publikum, Rezipient Zukunft, 312, 413, 451, 580, 589, 619, 626 Zunft, 343, 358–360, 372, 469 Zunge, s. Mund, Sprache Zusammenkunft, s. Ereignis Zuschauer, 49, 232–235, 420 f., 457, 637, 658; s. a. Publikum, Rezipient Zwang, 78, 258, 428, 497 Zweck, 30, 38, 58, 204, 249 f., 344, 360, 365 f., 368 f., 429, 435, 437, 468, 550, 563 f., 566 f., 575, 577, 582, 635, 645; s. a. Emotionen (bewegen), erfreuen, lehren, Moral, nützen, Unterhaltung Zweig, s. Baum Zypressenschrein, 56; s. a. aufbewahren
Personen- und Sachregister Aufgeführt sind neben Personennamen Sachbegriffe (kursiv) zu den folgenden Kategorien: Werke, deren Autor nicht bekannt ist bzw. die vornehmlich unter dem Titel bekannt sind; Dichtergruppen; literarische Institutionen und Veranstaltungen; Zeitschriften; nichtschriftliche Medien; poetologische und literarische Gattungen; Epochen und Bewegungen; kulturelle, religiöse und nationale Gruppen; Städte und Länder; metapherntheoretische, rhetorische und sprachwissenschaftliche Begriffe; Wissenschaften. Begriffe, die für den poetologischen Kommunikationsprozess zentral sind (z. B. Autor/ Dichter, Publikum, Verlag) sind im Register Poetologische Metaphern und Topoi erfasst. Aaron, David, 144 Abhandlung, 1, 4, 6, 46, 52, 58 f., 95, 207, 217, 220 f., 256, 450 f., 518 f. Abrams, M.H., 2 f., 4, 21 f., 42, 292 absolute Metapher, 119 f. Accademia della Crusca, 473 Achleitner, Friedrich, 346 Achmatova, Anna, 452 Acta Eruditorum, 238 actio, 173, 315 Addison, Joseph, 76 Adelung, Johann Christoph, 218, 579, 583 Adenauer, Konrad, 370 Adler, H.G., 387, 393, 396, 502 f., 620 f., 632 Adler, Jeremy, 214 f., 242, 620 Adorno, Theodor W., 518–522, 611–622, 634 Ägypten, 505 Ähnlichkeit, 2, 109, 111, 118, 135 f., 141, 147, 152 f., 157 f., 170, 174, 177, 179; s. a. Familienähnlichkeiten Aichinger, Ilse, 482 Alexander der Große, 508, 527 Alexandrien, 57 Alkaios, 328 Alkidamas, 42 Allegorese, 64, 68–72 Allegorie, 4, 65 f., 69–71, 130, 147, 529 alltagssprachliche Metapher, 18, 122, 126–130; s. a. Konventionalisierungsgrad Alt, Peter-André, 294
Altes Testament, s. Bibel Amerika, s. USA Améry, Jean, 611 Anaki, David, 153–156 Anakreon, 365 Anakreontik, 345, 555 Analogie (Begriff ), 106 f., 110 f., 128, 157 Andersch, Alfred, 612 Andrian, Leopold von, 602 f., 607 Äneas-Stoff, 542 anglo-amerikanische Literatur, 345, 362, 637–640 Anthologie, 22, 37 f., 100, 207, 222 f., 225–227, 256, 405, 408 f., 412, 416 f., 451, 469, 508, 654 f. Anthropologie, 13, 19, 26, 49 f., 91 f., 94, 122, 125, 161, 247, 293, 298 f., 326, 345, 347 f., 350, 367, 387, 397, 439, 462, 473, 629 Antike, 1, 4, 14 f., 20, 22 f., 25, 29–64, 67, 69–72, 74 f., 83, 86 f., 93, 98 f., 103, 108–112, 125, 145–147, 149, 158–161, 169, 182, 189, 194, 196, 198 f., 202 f., 211, 215, 217 f., 225, 233, 240, 244, 246, 251, 253, 257, 266, 274 f., 278, 281, 283, 287 f., 297, 313 f., 316, 328, 351 f., 364, 366, 383–386, 394 f., 410, 412–414, 419, 429, 438, 442 f., 455 f., 461, 471, 484, 490, 493, 495, 498, 502, 506, 509, 512, 516, 521, 528, 532, 534, 543, 546, 548, 550, 552–555, 558 f., 561, 573, 578,
Personen- und Sachregister
582–585, 599, 603, 607 f., 622, 633–635, 638 f., 654, 656 Antisemitismus, s. Juden Anton Ulrich von Braunschweig, 213, 350 Anweisungspoetik, 6–8, 53, 88, 90, 192, 194 f., 204, 208, 213, 216 f., 219 f., 225, 256, 278, 627 Anz, Thomas, 321, 622 Anzeige, 22, 378 f. Anzengruber, Ludwig, 458 Aphorismus, 317 Apologie, 13, 23, 62, 65, 271, 314, 369, 373, 391, 409, 435, 437, 456, 490, 520, 549, 565 f., 653 aptum, 9, 32, 58, 63 f., 112, 188, 192, 376, 425, 491 f., 539 f., 545, 556, 626 Apuleius, 556 Aquin, Thomas von, s. Thomas Archilochos, 224 Ariosto, Ludovico, 581 Aristarchos von Samothrake, 56 f. Aristoteles, 2, 6, 9 f., 19, 25, 29–31, 34 f., 42, 44–54, 59, 70, 75 f., 80, 88–90, 93 f., 97–99, 101–107, 109–111, 123 f., 127, 133 f., 141 f., 144, 147, 149, 153, 157–161, 170–172, 178, 181, 183, 186, 204, 217 f., 229, 233–235, 246, 250 f., 255, 258, 260, 264, 271, 280, 287, 302, 304, 315, 321, 352, 379, 392, 420, 436, 455 f., 466, 500, 548, 553, 610, 613, 642 f., 654 Arminius, 283, 429, 533 Arnold, Heinz Ludwig, 480 artikulierte Metapher, s. Metapher Artmann, H.C., 346, 362 Ashcroft, Jeffrey, 249 Assmann, Aleida, 94, 161, 505, 611 Assmann, Jan, 452, 461 f., 472, 484 f., 500 Ästhetik, 6–11, 14, 17, 25, 42, 67, 76–82, 91, 187 f., 213, 221, 359, 361, 368, 375, 398, 404, 415, 427, 434, 645 Athenaeum, 10, 351, 433, 518, 546, 572–587, 627, 634 Auerbach, Berthold, 599 Auerbach, Erich, 271 Aufklärung, 7, 55, 84, 196, 211, 260, 267 f., 284 f., 287, 294, 331, 367, 376, 404 f., 428, 433, 484, 498, 560, 565, 568 Augustinus, Aurelius, 63 f., 117, 220, 286 Augustus, 22, 495, 497, 499, 508 f. Auschwitz, s. Konzentrationslager Autobiographie, 202, 207, 219 f., 285, 304 f., 319 f., 331, 333, 340, 371, 387 f., 404, 599, 602–604
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Autorenlesung, s. Dichterlesung Autorpoetik, 3, 6, 8, 195, 213, 322, 452, 518, 625, 627 aventiure, 539 f. Bachmann, Ingeborg, 303–305, 307, 338 f., 397, 400 f., 415, 448, 452, 482, 488 f., 504, 610, 653 Bachtin, Michail Michailowitsch, 653 Bacon, Francis, 600 f., 603 f., 607 f. Baggesen, Jens, 361 Baird, Abigail, 146 Baldauf, Christa, 118, 137, 139 f., 143, 164, 187, 392 Barner, Wilfried, 23, 202, 214, 282, 547 Barock, 64, 77, 173, 195–197, 208, 211, 213–216, 218, 233, 241, 245, 290–292, 313, 327, 334, 342 f., 349 f., 364, 417, 420, 455–458, 466, 548, 557 Barthes, Roland, 14 f. Basel, 625 Batteux, Charles, 10, 75, 218, 234, 264, 436 Baudissin, Wolf Graf von, 216 Bauer, Werner M., 456, 459 Baumgarten, Alexander Gottlieb, 10, 436 Bayer, Konrad, 346, 362 Bayern, 461 Baykul, Yalcin, 641 Bayreuth, 463 Beat, 656, 661 Becher, Johannes R., 271 Becker, Jürgen, 653 Becker-Cantarino, Barbara, 560, 564, 566, 569, 571 Beda, 63 Bedeutung, 65–74, 102–108, 114 f. Begräbnisgedicht, s. Funeralschrift Begriff (als metasprachlicher Begriff ), 6–8, 23 f., 87 f., 101, 141, 174–176 Béhar, Pierre, 453 Behler, Ernst, 572, 574, 576, 581 Beil, Ulrich Johannes, 652–654 Belletristik (Begriff ), 17, 23 Bender, Hans, 22 Benediktiner, 522, 529 Beniston, Judith, 461 Benjamin, Walter, 274, 453 Benn, Gottfried, 56, 85, 297 f., 302, 355 f., 363, 653 f. Bereich (semantischer), s. Bildfeld, Herkunftsbereich/Zielbereich, Wortfeld Berendsohn, Walter A., 446 Bergmann, Rolf, 455 Berkenheger, Susanne, 273, 627
740
Personen- und Sachregister
Berlin, 268, 360, 381, 451, 590–592, 599, 625, 636, 639, 641, 651, 661–663 Bernhard von Clairvaux, 69 Bernhard, Thomas, 291, 425 f., 447 Beutin, Wolfgang, 198, 200 f., 214, 284, 378, 456, 484, 557, 572 Bibel, 22, 25, 33 f., 45, 60–74, 82, 89, 104, 112, 204, 243, 257–259, 275–277, 281 f., 286, 306, 312, 316 f., 322, 336, 341, 386 f., 392–394, 396, 403, 409, 416, 420, 471, 474, 484, 489, 504, 527, 530, 532 f., 560, 579, 583, 614, 660; Altes Testament, 65 f., 69 f., 204, 402, 476, 533; Evangelien, 66, 72, 112, 283, 286, 306 f., 375, 387, 409, 441, 476, 522–533, 579, 618, 631, 660; Neues Testament, 33, 65 f., 70, 72, 89, 100, 186, 204, 282, 329, 391, 394, 402, 421, 441, 476–478, 484, 618; Psalmen, 22, 276, 316, 318, 387, 392, 394, 526, 619 Bibelexegese, 25, 34, 62-72, 74, 523, 527, 530; s. a. Allegorese, Typologie Bibelübersetzung, 61, 66 f., 71 f., 100, 112, 199 f., 336, 392 f., 476, 490–492, 510, 526–30, 619 Bichsel, Peter, 216, 322 f. Bildfeld, 121, 181 f., 186, 193 Bildschema, 137 f., 161–169 Bildspender/Bildempfänger, s. Bildfeld Biographie, 285, 319, 357, 380, 385, 387, 656 Bircher, Martin, 548 Birke, Joachim, 214 Birken, Sigmund von, 213, 249, 291 f., 321 f., 350, 354, 560 Black, Max, 121, 129, 156, 179, 181–183 Blätter für die Kunst, 478 Blending, 182 Bligger von Steinach, 544 f. Block, Friedrich W., 245 Blog, 22, 521 Bloom, Harold, 3, 33, 193, 276, 416, 442, 446 Blume, Horst Dieter, 8, 29, 88 Blumenberg, Hans, 101, 118–120, 137, 163 Bobrowski, Johannes, 485 Bodmer, Johann Jacob, 202, 493 Böhme, Hartmut, 14 Bohr, Niels, 96–98, 147–149 Bohrer, Karl Heinz, 375, 404, 426, 648 f. Boie, Heinrich Christian, 280 Boileau[-Despréaux], Nicolas, 60, 112, 275 Böll, Heinrich, 16, 369 f., 502, 617 Bomers, Jost, 601 Bonath, Brigitte, 612
Bönisch, Georg, 371 Bonn, 659 Boor, Helmut de, 351 f., 439 f. Borgstedt, Thomas, 548 Böttcher, Sebastian, 245 f., 656 Böttiger, Helmut, 647 f. Böttiger, Karl August, 76 Bowdle, Brian, 111, 157 Boyle, Nicholas, 204, 285 Brallo, 411 f. Bramkamp, Agatha C., 377 Braun, Volker, 381–383 Brauneck, Manfred, 456 BRD, s. Bundesrepublik Deutschland Brecht, Bertolt, 234 f., 335, 345, 373, 376, 401, 420, 430, 456, 463–466, 505, 516, 640, 645 f., 653 Brecht, Ulrich, 467 Breitinger, Johann Jakob, 202, 287 Bremer Beiträger, 468, 574 Brenner, Hans Georg, 480 Brenner, Peter J., 456 Brentano, Clemens, 376 Breuer, Dieter, 367 Brief, 17, 20 f., 53 f., 74, 76, 83, 88, 108, 190, 202, 207, 214, 217, 229 f., 243, 275, 280, 298, 330 f., 333, 336, 339, 341, 356, 376, 379–381, 384 f., 407, 433, 446, 448, 450, 491, 495, 499, 510, 518 f., 523, 562–564, 570 f., 575, 599–610, 626 f., 634 Brinker-Gabler, Gisela, 378, 588 Brockes, Barthold Hinrich, 449 Brown, Donald E., 92, 125, 247, 299–301, 342, 402 Brugger, Peter, 152 f., 157 f. Brunner, Horst, 352 Bubner, Rüdiger, 10 Bucheli, Roman, 647 Bucher, Max, 587, 598 Büchmann, Georg, 322 Buchner, August, 256, 290 f., 417 Büchner, Georg, 270, 376, 514, 610; s. a. Preise Buchwald, Christoph, 649 f. Bullivant, Keith, 369 Bumke, Joachim, 357 Bundesrepublik Deutschland, 369, 371, 374, 482 Bunyan, John, 69, 130 Bunzlau, 195, 550 Bürger, Christa, 571 Bürger, Gottfried August, 280, 451 Burke, Kenneth, 193
Personen- und Sachregister
Burke, Seán, 293 Busch, Wilhelm, 368 Butzmann, Hans, 532 Caramazza, Alfonso, 153 Carrdus, Anna, 221, 246, 550, 604 Carretié, Luis, 155 Castelvetro, Lodovico, 47 CD, 223, 240, 273, 629, 642 f., 656 Celan, Paul, 119, 393, 438 f., 485, 504, 622, 653 Cerquiglini, Bernard, 292 Chicago, 659 Chinca, Mark, 357, 534 f. Chlebnikow, Welimir, 313 Chomsky, Noam, 92, 94, 123–125, 139, 141 f., 162, 171, 173, 439 Christentum, 33, 66, 71, 82, 385, 583; s. a. Katholizismus, Protestantismus Cicero, Marcus Tullius, 4–6, 9, 30 f., 55, 58, 63, 73, 76, 99, 110, 112, 138, 145, 149–152, 159, 173, 195, 218, 287, 289, 309, 312, 435, 490, 508, 556 Coenen, Hans Georg, 111, 139, 146 Commedia dell’arte, 456 f. Costazza, Alessandro, 265 Courths-Mahler, Hedwig, 424 f. Coxon, Sebastian, 236 f., 292, 357, 546 Croft, William, 124, 138 f., 164, 174, 176, 182 Cruse, D. Alan, 124, 138 f., 164, 174, 176, 182 Culler, Jonathan, 324 Curschmann, Michael, 236 Curtius, Ernst Robert, 4, 16, 20–22, 42, 46, 62–64, 70 f., 197, 249, 251, 274, 329, 410, 418 f., 508, 524, 532, 535 Cyberfiction, 273, 629 Czucka, Eckehard, 196 Dacier, André, 260 Dada, 229, 656, 661 Dante Alighieri, 63, 70, 297 f. DDR, s. Deutsche Demokratische Republik decorum, s. aptum Dedekind, Constantin Christian, 548 f., 559 Demokrit, 55 Denis, Michael, 74 Derrida, Jacques, 38 Descartes, René, 118, 299 Detering, Heinrich, 293 Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart, 587 Deutsche Demokratische Republik, 271, 320 f., 371, 374 f., 380–383, 395, 448 Devrient, Philipp Eduard, 377
741
Dialekt, 86, 325, 491 f., 494, 523, 533 Dialog (Gattung), 40, 44, 46, 83, 390, 449 f., 509, 583, 599, 608, 625 Dichterlesung, 240, 322, 358, 453, 455, 480, 644, 658 Dichtkunst (Begriff ), 6, 23 f., 42 Dichtung (Begriff ), 23 f., 30 f.; (Beziehung zur Geschichte), 94, 321, 350, 499 f.; (Beziehung zur Philosophie, Rhetorik), 1–17, 29–95, 206 f. und passim; (Beziehung zur Poetik), 16 f., 34, 87–94, 206 f. und passim; (Beziehung zur Sprache), 93 f. und passim; (Beziehung zur Theologie), 61–74 Diethoff, Ernestine, 378 f. Dietmar von Aist, 338 Dilthey, Wilhelm, 204, 284–286 Dithyramben, 4, 86, 322, 395 Dittmar, Jens, 448 Dockhorn, Klaus, 81 Doering, Sabine, 445 Dorst, Tankred, 465 Draaisma, Douwe, 96 Draesner, Ulrike, 227, 451 f., 519, 623, 625 f., 628 f., 631–633, 663 Dräger, Jörn, 71 Drama, 41, 49, 79, 93, 207, 209, 214–216, 228, 232–235, 277, 279 f., 285, 294, 315, 325, 340, 354, 363, 376 f., 419–421, 423, 429 f., 447, 453, 455–467, 487 f., 639–642, 657, 661 Dreistillehre, 54, 63 f., 79, 88 f., 192, 429, 531, 645 Dresden, 243, 548 Drewer, Petra, 96, 99, 106, 111, 129, 137 Drews, Jörg, 649 Drittes Reich, s. Nationalsozialismus Droste-Hülshoff, Annette von, 331–333 Dryden, John, 47 Duale Kodierung, 151 f. Dubbe, Daniel, 646 f. Duden, 77, 87, 114, 131, 133, 174–176, 351, 367, 370, 644 Duncan, Andrew, 345 Dürer, Albrecht, 249 Düsseldorf, 372, 659 DVD, 656 Dyck, Joachim, 33, 45, 61–63, 70 f., 214, 532 Ebert, Johann Arnold, 229 Ebner-Eschenbach, Marie von, 355, 377 f. Eckermann, Johann Peter, 207, 281 Eco, Umberto, 84, 105, 114, 124, 609 Edschmid, Kasimir, 407 f. Egerding, Michael, 121
742
Personen- und Sachregister
Egger, Oswald, 519, 623, 625 f., 629, 631–633, 663 Ehlert, Klaus, 198, 200 f., 214, 284, 378, 456, 484, 557, 572 Eibl, Karl, 2, 13, 89, 91–93, 128, 205, 224, 285, 299 Eichendorff, Joseph von, 90, 206 f., 221 f., 270, 283 f., 329 f., 349, 361, 394 f., 398 f. Eichner, Hans, 81, 574, 576 f., 580 f. eigentlich/uneigentlich, 31, 106–108, 181 f. Eisler, Hanns, 430, 464 f. Elegie, 43, 207 f., 308, 312, 338, 351, 388, 406, 442–444, 497, 546, 581, 584 Eliot, George, 596 Eliot, T.S., 23, 95 Elliott, Mark, 369, 612 elocutio, 64, 84, 110, 173, 215, 227, 309 f., 539 Emblem, 22, 249, 474, 476, 508 Emmerich, Wolfgang, 381 Emotionen (als Faktor im metaphorischen Prozess), 99, 101 f., 110 f., 134 f., 150 f., 153 f., 159, 161, 169 f., 172–174, 184 Empedokles, 51 Empfindsamkeit, 259, 266, 336 Ende, Michael, 130 f. energetische Sprachtheorie, 103 f. England, s. Großbritannien Enzensberger, Hans Magnus, 225, 344 f., 355, 362 f., 434, 617–620, 654 Epigramm, 76, 495 f. Epilog, 209, 534 Epos, 20, 29 f., 33, 38 f., 49, 51, 59, 71, 199, 209, 232, 234, 236, 266, 336, 360, 394, 442 f., 460, 511, 532, 544, 558, 577, 582, 592, 598; s. a. Homer Erb, Elke, 625 Erbauungsliteratur, s. geistliche Dichtung Erfurt, 517 Ernst, Ulrich, 214 f., 242, 523, 532, 533 Erzählung, 38, 43, 92 f., 217, 242–244, 333, 342 f., 363, 371, 378, 390, 448 f., 479, 536 f., 539 f. Essay, 53, 140, 223, 257, 375, 387, 449, 504, 603 f. Etymologie, 114, 176, 248, 556, 634 Europa, 33, 82, 140, 197 f., 223 f., 246, 250, 284, 348, 366, 385, 456, 488, 492, 548, 551, 554, 585, 597, 639 f., 643, 659, 662 Evangelien, s. Bibel evidentia, 60, 149–151, 243, 316, 604–606 Exegese, s. Bibelexegese
Exkurs, 209, 211, 508, 518, 534–546 Exmetapher, 157 Exordialtopik, 210, 410, 538 Expressionismus, 63, 85, 196, 222, 225, 395, 408 f., 417, 453, 647, 653 f. Fabjan, Peter, 426 Falkner, Gerhard, 654–656 Familienähnlichkeiten, 118, 187 Fasbender, Christoph, 248 Faschismus, s. Nationalsozialismus Faust, Miriam, 153–157 Faust-Stoff, 72 f., 91, 286, 444–447, 456, 458–460, 594, 647 Fehse, Willi R., 222, 408 Ferlinghetti, Lawrence, 406 Fernsehen, 228, 506 Ferrari, G.R.F., 36 Ferres, Veronica, 462 Festivals, s. Literaturfestivals Feuilleton, 643, 653, 658 Fichte, Johann Gottlieb, 79, 423 Figuren (Rhetorik), 63, 83 f., 92, 227, 542; s. a. elocutio Film, 228, 245, 274, 453, 462, 637 f., 646, 651, 653, 661 Finger, Evelyn, 372 Flachsland, Karoline, 569 Fleer, Angelica, 643 Fleischli, Alfons, 388 Flessau, Kurt-Ingo, 343 Fliedl, Konstanze, 355, 378 Flugblatt, 200, 466 Fohrmann, Jürgen, 405 Folz, Hans, 358, 471 Fontane, Theodor, 255, 268–272, 379 f., 404, 518–521, 587–599, 634, 642 f. Forster, Leonard, 551 Franck, Michael Erich, 421 François, Etienne, 440 Franken, 20, 33, 199, 316, 489–491, 495, 506, 523–531, 533 Frankfurter Buchmesse, 646 Frankfurter gelehrte Anzeigen, 569 Frankfurter Poetik-Vorlesungen, 8, 16, 216, 303, 322 f., 325 f., 333, 397, 400, 415, 448 f., 502, 610, 622 Frankreich, 17, 24, 196, 252, 280, 287, 331 f., 341, 361, 403, 415, 429, 432 f., 456, 492–495, 498, 500, 544, 547 f., 551, 557, 561, 580, 585 f., 596, 598 Freie literarische Vereinigung »Durch!«, 413 f. Freiligrath, Ferdinand, 22, 332, 367, 597 Frenssen, Gustav, 449 Frenzel, Elisabeth, 440, 460
Personen- und Sachregister
Freud, Sigmund, 41, 169, 308, 442 Freund, Winfried, 71 Freytag, Gustav, 215 f., 598 Fricke, Harald, 6–8, 91, 216, 415 Friedrich II., König von Preußen, 494–498, 505, 509, 590–92 Friedrich, Hugo, 119 Frieling, Gudrun, 187 Fromm, Hans, 535, 538 Frontispiz, 4 f., 291, 475 f., 548 f., 559 Fruchtbringende Gesellschaft, 473–477, 479 frühe Neuzeit, 8, 14, 21 f., 25, 53, 195, 201, 203, 208, 222 f., 229, 233, 254, 352, 354, 356, 358 f., 362, 364, 371, 374, 385, 405, 423, 425, 435, 453, 455, 508, 521, 531, 547, 639, 645, 649, 664 Fuhrmann, Manfred, 4, 29 f., 34–36, 44, 46, 48, 51, 55 Funeralschrift, 241 f., 392 Fürstenlob, 440 Gadamer, Hans Georg, 84, 161, 346, 562 galante Dichtung, 238, 256 f., 341 f., 359, 363, 421, 555 Gannon, Mary, 68 Garber, Klaus, 197, 547 Gardt, Andreas, 103, 114 Gavins, Joanna, 122 f. Gazzaniga, Michael S., 146, 153 Gebet, 65, 316, 365, 386, 389 f., 393, 396, 483, 524, 541 Gedicht, s. Lyrik Geideck, Susan, 131 geistliche Dichtung, 65, 69, 230, 258 f., 266, 286, 329, 335 f., 364–366, 370, 376, 392–394, 396, 471, 479, 506, 533, 537, 560, 567; geistliches Lied, 65, 67, 199, 318, 365, 424, 515, 573; geistliches Schauspiel, 455 f., 458 f., 461–463 Gelegenheitsdichtung, 241 f., 283 f., 287, 337, 392, 411, 556, 639, 660 Gemeinplatz, 22, 129, 173, 254; s. a. Topos Genazino, Wilhelm, 663 f. generative Linguistik, 123 f., 138 f., 144, 171, 174, 177 Genette, Gérard, 212 Geniezeit, 12, 229, 275, 283, 330 Gentner, Dedre, 111 f., 157 Geometrie, 40, 52, 97, 103, 624 George, Stefan, 222 f., 297 f., 395, 401, 441 f., 477–479, 481 George-Kreis, 384, 401, 477–481 Gernhardt, Robert, 239 f., 294, 353, 515–517, 660 Gersch, Hubert, 211
743
Geschichtsschreibung/Geschichtswissenschaft, 47 f., 65, 75, 94, 196 f., 282, 350, 405, 499, 505 Gessner, Salomon, 419 Gestalttheorie, 141, 164, 168, 176, 180, 184 f. Giesing, Michaela, 377 Giseke, Robert, 598 Glosse, 31, 52, 61, 66, 71, 223, 476 Gnüg, Hiltrud, 378 Goethe, Johann Wolfgang von, 13, 22, 48, 63, 65, 72–74, 77, 88–91, 104, 108, 147, 194 f., 199, 201 f., 204 f., 207 f., 217, 219 f., 222, 224, 248 f., 260, 262, 264, 269 f., 276–287, 291, 299, 305 f., 325, 332, 336–338, 351, 360, 367, 385, 391, 395, 403 f., 406 f., 414 f., 423, 428, 430, 432 f., 441–447, 449, 456–460, 479, 494–497, 511–513, 516, 521, 536 f., 547 f., 560, 569–573, 576, 580–582, 588–590, 592, 594 f., 597, 602, 604, 607 f., 610, 627, 638 Goethezeit, 22, 197, 222 f., 496 Goeze, Johann Melchior, 376 Goldast, Melchior, 553 Goll, Claire, 438 f. Goll, Yvan, 438 f. Gomringer, Eugen, 661 Gomringer, Nora, 660 Gorgias von Leontinoi, 9, 32, 37 f., 83, 608 Görner, Rüdiger, 416 Gottfried von Straßburg, 211, 252, 353 f., 357, 507 f., 509, 518, 520 f., 534–546, 634 Göttinger Hain, 275, 337, 394, 468, 500, 593 Gottsched, Johann Christoph, 10, 34, 55, 75, 77, 90, 195, 197, 202, 215, 217–219, 260 f., 287, 328 f., 348, 405, 416, 429, 436, 456, 547, 557, 574, 593 Grabbe, Christian Dietrich, 190 Gräf, Dieter M., 452 Grass, Günter, 320 f., 369–374, 430 f., 620, 622, 636 Greber, Erika, 14, 24 Green, Dennis H., 236 Greenfield, Susan, 169 Greiffenberg, Catharina Regina von, 316 f., 560 Greiner, Ulrich, 372, 374 f., 622 Greinus, Leif, 656, 659 Grice, Herbert Paul, 177 Griffith, Mark, 348 Grimm, Jacob, 23, 77, 87 f., 114, 176, 248 f., 263, 276, 341, 351, 403, 431 f., 457, 486 f., 490, 561
744
Personen- und Sachregister
Grimm, Reinhold, 369 Grimm, Wilhelm, 23, 77, 87 f., 114, 176, 248 f., 263, 276, 341, 351, 403, 431 f., 457, 486 f., 490, 561 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von, 211, 291 Großbritannien, 2, 4, 54, 143, 277, 280, 285, 345, 360–362, 385, 388, 433, 456, 460, 487, 489, 500, 548, 561, 585, 598, 601, 603, 609, 623, 640, 643, 652; s. a. angloamerikanische Literatur Grotewohl, Otto, 271 Grubmüller, Klaus, 247 f., 252, 391 f. Grünbein, Durs, 86 f., 271, 292, 298 f., 311 f., 327, 451 f., 600, 630, 637 Gruppe 47, 479–483, 636, 655 Gryphius, Andreas, 71, 198, 233, 392, 420 f., 456 f. Gubitz, Anton, 592 f., 598 Gundolf, Friedrich, 477 f. Günther, E., 383 Gutzen, Dieter, 62 Gutzkow, Karl, 469, 598 Haas, Christoph, 515 Habitualisierung, s. Konventionalisierungsgrad Haferkorn, Hans Jürgen, 360, 362 Hagedorn, Friedrich von, 493 Hahl, Werner, 587, 598 Hahn, Ingrid, 535 Hahn-Hahn, Ida Gräfin, 445 Halliwell, Stephen, 35, 46 f., 50 f. Hamann, Johann Georg, 67 f., 112, 285 Hamburg, 231, 376, 645, 659 Handke, Peter, 372–374, 465 f., 636 Hardenberg, Friedrich von, s. Novalis Hariri (Abu Mohammed al-Kasim), 594 Harsdörffer, Georg Philipp, 90, 196, 199, 207, 214, 216–218, 232, 254, 309 f., 315, 329, 341, 417 f., 475 f., 559 Hartmann von Aue, 211, 252, 357, 363, 506 f., 535, 539 f., 545 Hartmann, Heiko, 522 Hatzius, Martin, 646 Haubrichs, Wolfgang, 523 f., 529 Haug, Walter, 6, 16, 21, 63–65, 197, 208–211, 215, 236 f., 252–254, 274, 316, 492, 510, 523, 528–531, 533–536, 539 f., 544 Haverkamp, Anselm, 96, 120 Hebekus, Uwe, 11, 207 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 2, 7–10, 12, 17, 50, 75, 79 f., 105, 107 f., 113–115, 120, 166, 206 f., 221, 289, 344, 374, 398, 429, 578, 621, 631 f.
Heibach, Christiane, 245 Heidegger, Martin, 84, 102, 373, 504 Heideloff, Victor Wilhelm Peter von, 294 f. Heimrich, Bernhard, 48 Heine, Heinrich, 222, 353, 406, 411 f., 415, 429, 437, 442, 444 f., 469, 626; s. a. Preise Heinrich von Veldeke, 252, 354, 542 f., 545 Heinsius, Daniel, 548 Heisenberg, Werner, 16, 96 f., 147 f. Hellmuth, Hans-Heinrich, 451 Hemisphärenforschung, 137, 152–156, 158, 172, 180 Henkel, Arthur, 22, 249 Henne, Helmut, 103 Herder, Johann Gottfried, 9, 14, 72, 76, 100, 104, 112, 143, 173, 175, 186, 225, 285, 328 f., 349, 395, 423, 441, 492, 569 Herkunftsbereich/Zielbereich, 15, 21, 107, 131 f., 134–136, 138, 143, 181, 186, 302 Hermand, Jost, 440, 467–469, 473 Hermann, s. Arminius Hermes, Johann Timotheus, 211 f. Herold, Wolffgang, 472 Hesiod, 29, 349 Hess, Peter, 20, 30, 77, 196, 214, 215 Hesse, Hermann, 196 Hieronymus, 62–64, 68, 70 Hildebrand, Astrid, 122 Hildebrand, Olaf, 293 Hille, Carl Gustav von, 473–477 Hilliard, Kevin, 76, 613 Hilzinger, Sonja, 448 Hinck, Walter, 457 Hirzel, Johann Caspar, 330 f. Höck, Theobald, 196 Hoffmann, E.T.A., 242, 244, 319, 351, 440, 467 Hoffmann, Heinrich, 368 Hoffmeister, Gerhart, 420 Hofmannsthal, Hugo von, 23, 95, 458, 460 f., 478, 486–489, 518 f., 521 f., 599–610, 615, 627, 634 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von, 22, 256, 337, 345, 508 f. Hohberg, Wolf Helmhardt von, 350 Hölderlin, Friedrich, 225, 317 f., 349, 361, 384–386, 388, 393 f., 423, 452, 483–485, 514 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph, 394 Holznagel, Franz-Josef, 417 Homberger, Dietrich, 114, 144, 157, 175 Homer, 3, 17, 29 f., 33, 39, 42–45, 57–62, 64, 74, 95, 258, 275, 286, 297 f., 349 f.,
Personen- und Sachregister
351, 383, 410, 412, 442–444, 467, 498, 508, 511, 515, 543, 556 Homiletik, 365 f., 374, 424 Homonymie, 114, 176 Horaz, 34 f., 45, 53–60, 62, 74, 80, 90, 93, 195, 202–204, 209, 224, 233, 246, 250 f., 255, 260, 275–277, 281, 287, 340, 352, 360, 362, 384, 410, 467, 513, 517, 526, 548, 552 f., 594, 604, 608, 645 f., 652, 654, 662, 664 Hörbuch, 223, 228, 643 Horen (Die), 343 f., 422 f., 571 Hörfunk, 449, 479 Hörspiel, 642 f. Horváth, Ödön von, 458 Hrabanus Maurus, 523 Huber, Christoph, 539 Hübner, Carl Wilhelm, 595 Hühn, Peter, 231 Huizinga, Johan, 93, 345 Humanismus, 12, 61, 65, 67, 71–76, 82, 85 f., 196, 198–201, 211, 216, 218–220, 223 f., 246, 249 f., 254 f., 260, 265 f., 286 f., 366, 441, 447, 451, 459, 463, 485, 492 f., 495–497, 499, 506, 509, 511, 513 f., 516, 532, 546 f., 550, 554 f., 558, 583–585, 638 Humboldt, Alexander von, 423 Humboldt, Wilhelm von, 91, 103 f., 423 Hunold, Christian Friedrich, 341 f., 344, 366, 422, 563 Hupka, Herbert, 483 Hymne, 38, 81, 221, 264, 306 f., 390, 394 f., 484, 527, 531, 541, 544, 571, 573, 609 Hypertext, 245 f., 273 Idealismus, 6 f., 10, 14, 34, 39, 41, 47, 74–82, 85, 213, 221, 224, 226 f., 292, 299, 347, 359–361, 364, 368 f., 371, 375, 397, 431, 448, 515, 521, 557, 588, 599, 623 Idealized Cognitive Model (ICM), 142 Idiom, 18, 111, 126, 129, 151, 155–157, 176, 314 Idylle, 364, 378, 418 f., 475 image schema, s. Bildschema Imagination/Phantasie (als Faktor im metaphorischen Prozess), 97 f., 100–102, 108, 110, 114, 116, 119 f., 147, 159–162, 169 f., 173, 180, 184, 188 f. immanente Poetik, 6 f., 36, 87 f., 90, 112, 192, 194, 196, 207, 221, 252 Immermann, Karl, 407, 589 Innere Reich (Das), 369 inneres/äußeres Wort, 64, 72, 99 f., 123 f., 139–143, 173–178, 185 f.
745
Interaktion (metaphorischer Prozess), 182; Interaktionstheorie, 121, 167, 182 Internet, 27, 175, 273, 411, 518 f., 521 f., 623–635, 637, 643, 650 f., 663 Intertextualität, 20 f., 44, 65 f., 215, 275–277, 332 f., 341, 381, 387 f., 392, 410 f., 437–452, 475 f., 535, 625, 628, 660 und passim Islam, 403 Italien, 35, 196, 239 f., 456, 493, 500, 547 f., 551, 557, 609 Ivry, Richard B., 153, Jackendoff, Ray, 124 f., 144–146, 171, 174 Jackson, Timothy, 251 Jacob, Joachim, 62 Jacobi, Lotte, 296 Jäkel, Olaf, 99, 118, 121, 137, 181 Jandl, Ernst, 12, 289, 323, 346 f., 437 Jannidis, Fotis, 293 Jean Paul, 108, 113, 222, 319 Jedermann-Stoff, 460–462, 486 f., 607 Jelinek, Elfriede, 377 Jens, Walter, 438 Jeßing, Benedikt, 282 Jeziorski, Michael, 112 Jiddisch, 389 John, Eugenie, s. Marlitt, E. Johnson, L. Peter, 534 f., 540 Johnson, Mark, 18 f., 98, 101, 114, 119, 121–130, 135–138, 140–142, 144–146, 151, 157 f., 160–169, 172, 176, 178–183, 187, 247, 257, 278, 299, 326, 398, 401, 562 Johnson, Samuel, 438 Joyce, James, 347, 503 Juden, 60, 64, 66, 69, 220, 387–389, 393, 396, 402, 410, 439, 496, 502, 611, 618 f. Jung, Thomas, 637, 645 Jung, Wolfgang, 587 f., 596 f. Junges Deutschland, 469 Jürgensen, Christoph, 648 Kafka, Franz, 108, 190–193, 314 f., 363 f. Kagan, Jerome, 146 Kallendorf, Craig, 547 Kaminski, Nicola, 4, 214, 557–559 Kant, Immanuel, 9 f., 12, 42, 53, 61, 76–78, 80, 116, 120, 137, 161–163, 216, 221, 226, 258, 262, 264, 282, 344, 361, 375, 385, 404, 427 f., 562, 578 Kärnten, 386 Karsch, Anna Louisa, 240, 261, 322, 512 Kasten, Ingrid, 352
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Personen- und Sachregister
Katachrese/notwendige Metapher, 110, 112, 118, 145, 156, 159; s. a. Konventionalisierungsgrad Kategorie, 9, 118, 158, 162, 164 s. a. Prototypentheorie Katholizismus, 67, 72, 199, 221, 329, 370 f., 376, 386, 461, 496 Kayser, Rudolf, 455 Keller, Gottfried, 599 Keller, Werner, 286 Kelten, 498 Kempe, Martin von, 289–291, 329, 596 Kempker, Birgit, 625 Kennedy, George A., 37, 57 Ketelsen, Uwe-K., 547, 612 Kiedaisch, Petra, 611, 616 Kiesel, Helmuth, 228, 561 Kinderliteratur, 38 f., 130 f., 346, 368 f., 486, 572, 640 Kirchenlied, s. geistliche Dichtung Kirchenväter, 33, 61–65, 67–70, 117 f., 220, 286, 556 Kirchhoff, Bodo, 8, 325–327, 345, 643, 646–648 Klaj, Johann, 498, 553 Klappentext, 212, 223 f., 345, 516 Klassik (Weimar), 61, 86, 196, 199, 263 f., 458, 496, 511, 588 f., 593 f., 597 f., 608, s. a. Goethezeit Kleiber, Wolfgang, 523, 532 Klein, Carl August, 401, 441, 477 f. Kleist, Heinrich von, 106, 186, 310 Kling, Thomas, 227, 452, 643, 662 Klischee, 20 f., 73, 314, 320, 382, 415, 649, 660 Klopstock, Friedrich Gottlieb, 14, 63, 68, 71 f., 74–76, 88, 199, 202, 205, 217–219, 225, 229, 236, 258, 260, 266, 275 f., 283, 312, 318, 349, 351, 353, 386, 388, 391, 393–395, 422, 424, 433, 442, 449, 451, 460, 484, 492, 499–501, 511, 515, 532 f., 543, 556, 567, 582–585, 613, 643 Knaus, Albrecht, 482 Koch, Klaus, 65 kognitive Linguistik, 18 f., 100, 121–127, 138 f. kognitive Metapher, s. Metapher kognitive Metapherntheorie, 111, 121 f., 124–146,172–174 kognitive Poetik, 122 f. Kohl, Katrin, 88, 170, 236, 388, 394, 460, 499, 560, 621 Kohlschmidt, Werner, 7 Kolb, Herbert, 535
Kolbe, Jürgen, 587 Kolk, Rainer, 477 kommunikativer Kreislauf, 180 f., 100 f., 230–232 Komödie, 63, 70, 355, 457 f., 460 Kontext, 2 f., 17–19, 22, 30, 41, 50, 63 f., 87, 89, 91 f., 94, 190, 193 f., 208–210, 215, 224, 230, 236, 242, 250, 274, 293 f., 298 f., 309, 321, 326, 397–401, 410–412, 428–432, 437 f., 445, 467, 485–488, 507, 650 f.; (als Faktor im metaphorischen Prozess), 98, 108, 113, 121, 123, 134, 136 f., 141, 156, 166 f., 172, 179 f., 182, 184–188 Konventionalisierungsgrad, 111, 155, 157, 187, 403; konventionalisierte/lexikalisierte Metapher, 19, 30, 117, 129, 131, 137, 143–145, 151, 155–157, 159, 182, 187 f.; innovative/kreative/kühne Metapher, 18, 112, 121, 145, 156, 159, 182, 187 f., 190; s. a. Katachrese Konzentrationslager, 489, 620–622 konzeptuelle Metapher, s. Metapher Konzett, Matthias, 426 Koopmann, Helmut, 446 Kopperschmidt, Josef, 93 Koran, 504 Kord, Susanne, 330, 561 Kosch, Wilhelm, 238, 343 Košenina, Alexander, 292 Kövecses, Zoltán, 122, 126 f., 131 f., 134–38, 154, 160, 164, 169, 247, 299, 401, 418 Kraus, Karl, 279, 406 Krause, Peter D., 81, 577 Krauß, Angela, 326 f. Kraut, Richard, 4 Krechel, Ursula, 624 f., 629 f. Kriegsgefangenenlager, 480 Kriminalliteratur, 22, 451, 646, 648 Kristeller, Paul Oskar, 75 Krohn, Rüdiger, 534, 536 Kronberger, Maximilian, 297 Krüger, Michael, 467, 649–652 Kuhligk, Björn, 412, 654–656 Kühlmann, Wilhelm, 196 Kühnel, Jürgen, 17 Kurbjuweit, Dirk, 371 Kurz, Gerhard, 167, 181–183 La Roche, Sophie, 295, 298, 330 f., 518, 520, 560–572 Lacan, Jacques, 99 Lachmann, Karl, 532 Lakoff, George, 18 f., 69, 98, 101, 118, 121–130, 135–146, 151, 157 f., 160,
Personen- und Sachregister
162, 164 f., 168 f., 171 f., 174, 178, 181–183, 187, 247, 338, 401, 418 Lamping, Dieter, 416, 611 Landauer, Gustav, 601, 605 Langen, August, 112, 258, 266, 306 Larcati, Arturo, 100 Large, Duncan, 438 Lasker-Schüler, Else, 296, 298 Lass, Antje, 240, 656 Lauer, Gerhard, 293, Laufhütte, Hartmut, 254 Lausberg, Heinrich, 19, 64, 84, 110, 113, 127, 135, 147, 255 Lavant, Christine, 386 f., 396 Lee, David, 124 Lee, Meredith, 54, 205, 277, 442 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 125, 226 Leipzig, 238, 562, 656 Leitch, Vincent B., 38 Lenin, Wladimir Iljitsch, 380 f. Lenz, Jakob Michael Reinhold, 34, 354, 570, 610 Lesefähigkeit, 228, 232, 236 f., 342 f., 357, 422, 561 Lessing, Gotthold Ephraim, 14, 34, 220, 232, 268, 277, 353, 370, 376, 429, 457, 463, 495, 498 f., 581, 593 f. lexikalisierte Metapher, s. Konventionalisierungsgrad Liebert, Wolf-Andreas, 131, 137, 181 Liebertz-Grün, Ursula, 432 Lied, 38 f., 44, 90, 206, 261, 318, 334, 340 f., 389, 405, 411, 431, 470–472, 498, 500, 512, 527; s. a. geistliche Dichtung Liede, Alfred, 345 Lindemann, Klaus, 587 linguistic turn, 84 Linguistik, 2, 18 f., 25, 92, 98, 100 f., 110 f., 118, 120–126, 129, 131, 134, 138 f., 144, 152, 154, 160, 164, 171, 174–177, 311, 489 Linke, Hansjürgen, 456 Linz, Erika, 139 Literarisches Colloquium Berlin, 639 Literaturfestivals, 228, 350, 453, 655, 661–663 Literaturgeschichtsschreibung, 10, 14 f., 25, 94, 196–201, 204 f., 288, 350, 371, 403, 414, 430, 455, 461, 496, 531 f., 548, 557, 572, 587, 612; s. a. Literaturwissenschaft Literaturhäuser, 450, 636, 656 Literaturkritik, 15, 53–57, 60, 67 f., 85, 89, 95, 279 f., 301, 370–372, 382, 460 f.,
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479, 482, 535, 562 f., 567–569, 573 f., 581–588, 622, 646–648, 660 Literaturstreit, 321, 345, 371, 373–375, 389, 482, 622, 636 Literaturtheorie, 6, 13, 18, 120, 208, 292 f., 523; s. a. Ästhetik, Poetik, Poetologie Literaturwerkstatt Berlin, 451, 651, 661–663 Literaturwissenschaft, 3, 6, 8, 10, 12, 15 f., 19, 21, 24 f., 46, 67, 77, 87, 90, 95, 102, 119, 122, 126, 146, 169, 192, 196 f., 213, 380, 396, 403 f., 411, 414 f., 427, 430, 449, 544, 547, 572, 601, 629, 634 f., 664; s. a. Literaturgeschichtsschreibung Logos, 72, 100, 104, 118–120, 175 Lohenstein, Daniel Casper von, 334 Lohmeier, Dieter, 76 London, 444 Longinus, 3, 34, 44, 52, 58–61, 64, 69, 72, 89, 93, 110, 202, 204, 220, 251, 287, 410, 511 Löser, Philipp, 245, 629 Loster-Schneider, Gudrun, 560 Lovejoy, Arthur O., 69, 83, 418 Lowth, Robert, 60–62 Lubac, Henri de, S.J., 65 f., 68 f. Lüchow, Annette, 468, 500 Ludwig der Deutsche, 523–528 Ludwig von Anhalt-Köthen, Fürst, 473, 477, 508 Ludwig, Otto, 501, 589, 596, 619 Luhmann, Niklas, 6, 10 f., 13, 16 Luther, Martin, 61, 66 f., 71 f., 82, 85, 112, 198–200, 322, 336, 360, 367, 392 f., 447, 475 f., 489, 491 f., 501, 510, 619 Lyrik, 4, 12, 21 f., 56, 86, 119, 130, 134, 156, 189, 193, 206, 221–227, 235, 237–242, 256, 259, 261 f., 270, 272, 283 f., 287, 291, 293 f., 302 f., 305–313, 317, 322–325, 331–342, 344–346, 352–354, 356, 358 f., 362 f., 365–367, 385–389, 392–396, 399, 405 f., 408 f., 411 f., 415, 417, 432, 434, 442 f., 451 f., 454 f., 483–485, 497 f., 504 f., 508–510, 512, 548 f., 556–560, 611, 617–622, 626–633, 637, 641, 643 f., 648–663 Lyrikline, 651 Macpherson, James, 498 maere, 536 f., 539 f. Man, Paul de, 84 Manessische Liederhandschrift, 417 Mangold, Ijoma, 647 f. Manifest, 17, 95, 222, 412, 492, 519, 547 f., 587 f., 599, 601, 610, 627 f., 631
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Personen- und Sachregister
Mann, Heinrich, 196 Mann, Klaus, 222, 408 f. Mann, Thomas, 85, 196, 296, 298, 367–369, 445–447, 516, 607 Mapping, 141–143, 181 Märchen, 38, 130, 243, 340, 486 f. Marggraff, Hermann, 598 Markwardt, Bruno, 6, 196 f., 207 f., 211 Marlitt, E., 20 f. Martínez, Matías, 229 Mashal, N., 157 Mathematik, 40, 52, 84, 97, 181, 185, 265, 268, 354, 577 f. Matuschek, Stefan, 345 Matussek, Matthias, 372 Mauthner, Fritz, 140, 610 May, Karl, 449 Mayer, Hans, 479 f. Mayröcker, Friederike, 8, 216, 274, 312 f., 362, 452, 653 Mazzadi, Patrizia, 535 Mechthild von Magdeburg, 390–392, 424, 560 Meid, Volker, 198–201, 214, 551, 557 Meistersinger, 189, 200, 351, 358, 440, 467, 469–473, 482, 639, 656, 659 Memoiren, 304 Mencke, Johann Burkhard, 237 f., 240 Mendelssohn, Moses, 436 Mensing, Kolja, 646 Mereau, Sophie, 571 Merkur, 375, 404, 617, 648 Merseburger Zaubersprüche, 227 Metapher (Begriff ), 186 f.; artikulierte Metapher, 126 f., 172–174; kognitive/konzeptuelle Metapher, 128 f., 142 f., 172 f., 247; s. a. Exmetapher, Katachrese, Konventionalisierungsgrad, tote Metapher Metonymie (Begriff ), 19, 110, 134–136 Metzger, Erika A., 322 Meyer, Herrmann J., 595 Meyern, Wilhelm Friedrich von, 449 Meyer-Sickendiek, Burkhard, 406 f. Michalzik, Peter, 460, 462 Michel, Christoph, 306 Miller, Johann Martin, 337 Miloševicˇ, Slobodan, 372 f. Milton, John, 202, 511 Minnesang, 225, 252, 335, 341, 431 f., 470, 507 Mittelalter, 6, 11, 14, 16, 21 f., 25, 63, 65, 69 f., 112, 121, 160, 195, 197–199, 208 f., 211, 215, 232, 236, 245, 247–249, 251–253, 274, 291–293,
335 f., 349, 351 f., 356, 361 f., 410, 415, 417 f., 431 f., 434, 455 f., 458–460, 462 f., 472 f., 492, 506 f., 524, 531 f., 534, 544, 553 f., 639 Möbus, Frank, 445 Moderne, 8, 11, 23–25, 83, 159, 195, 197, 203, 299, 357, 411–414, 427, 599 f., 602, 640 Mohr, Wolfgang, 7 Möhrmann, Renate, 378 Molière 457 Moníková, Libuše, 389, 503 Monk, Samuel Holt, 61 Monolog, 426, 610 Moog-Grünewald, Maria, 414 Morak, Franz, 488 Morgner, Irmtraud, 395 f., 630 Morhof, Daniel Georg, 221, 405, 547 Moritz, Karl Philipp, 436 Mosebach, Martin, 372, 383 f. Motto, 55, 202, 208, 333, 474, 549, 552, 578–80 Mülder-Bach, Inka, 14, 72, 352 Müller, Heiner, 381 Müller, Herta, 389, 503 f. Müller, Klaus-Detlef, 457 Müller, Ulrich, 341, 352 Müller-Kleimann, Sigrid, 535 Müller-Richter, Klaus, 100 Münch, Paul, 228, 561 München, 659 Musil, Robert, 489, 513–515 Musolff, Andreas, 111 Mystik, 67, 69, 83, 105, 112, 121, 188, 229, 242, 249, 266, 306 f., 330, 336, 390 f., 395, 423 f., 504, 575, 605, 609 Nachkriegsliteratur (1945-), 12, 22, 197, 320, 321, 350, 362, 369, 370, 371, 375, 387, 389, 502, 611 f., 615 f., 636, 653 Nachwort, 122, 137, 168, 183, 222, 227, 247, 370, 408, 502, 649 f., 657 Nagasaki, 621 Nagel, Bert, 470 f. Napoleon, 283 Narratologie, 231 Nationalsozialismus, 197, 320, 350, 364, 369, 371 f., 374 f., 380, 387, 393, 447, 463, 484 f., 502 f., 522, 611 f., 618, 622, 636 Nature, 96 Naturwissenschaften, 7, 13, 16, 75, 96 f., 106, 120, 147–149, 218, 225, 271 f., 302, 311 f., 327, 356, 368, 401, 412, 449, 514 f., 608 Nenon, Monika, 560
Personen- und Sachregister
Nestroy, Johann Nepomuk, 457 f. Neuber, Caroline, 456 f. Neubert, Werner, 381 neue Pathos (Das), 85 Neues Testament, s. Bibel Neukirch, Benjamin, 238, 256 f., 264, 341 f., 344, 359, 363, 508, 547 Neuplatonismus, 89, 251, 423, 582 Neurowissenschaften, 120, 146, 152–159, 169, 172, 181, 312, 451, 630 Nibelungenlied, 544 Nickel, Artur, 481 Niedermayer, Max, 654 Niefanger, Dirk, 197, 214, 221, 547 Nies, Fritz, 415 Nietzsche, Friedrich, 1, 3 f., 6, 17, 25, 34, 38, 82–87, 103, 119 f., 191, 197, 276, 281, 311, 322, 349 f., 367 f., 373, 395, 441, 447, 453 f., 477, 600, 607, 617 Niven, William, 463 Norton, Robert E., 477 Nöstlinger, Christine, 368 Notker Balbulus, 68 notwendige Metapher, s. Katachrese, Konventionalisierungsgrad Novalis, 2, 8, 265, 306 f., 351, 361, 395, 433 f., 440, 497, 576, 578–581, 585, 608–610 Nürnberg, 358, 471, 475 Nurtjipta, Benjamin, 240, 656 Nussbaum, Martha, 53, 85 Nusser, Peter, 634 Oberammergauer Passionsspiele, 461 f. Obermaier, Sabine, 252, 291 Ockenden, Ray, 442 Ode, 26, 63, 199, 213, 223, 276, 229 f., 275, 317 f., 328, 361, 501 Oelze, Friedrich Wilhelm, 356 Ogden, Charles K., 103, 105, 179, 183 Ohly, Friedrich, 531 Oleschinski, Brigitte, 625, 627 f., 631 Opaschowski, Horst W., 636, 644 Oper, 444, 640 Opitz, Martin, 4, 34, 54 f., 173, 194–202, 204, 208, 214, 224 f., 255, 260, 262, 328, 348, 359, 363 f., 406, 417, 435 f., 455, 492 f., 508 f., 515, 517 f., 520 f., 546–560, 589, 634, 638, 643, 650 Origenes, 65, 68 Ortony, Andrew, 139, 140, 143 Österreich, 225, 426, 440, 448, 458, 461, 488 f., 496, 609, 636, 640 Otfrid von Weißenburg, 20, 27, 33, 199, 226, 293, 316 f., 452, 471, 489–492, 495,
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504, 506, 510, 518–534, 538, 543, 551, 589, 629, 632, 634 Ottmers, Clemens, 48, 336 Oulipo, 469 Özdamar, Emine Sevgi, 389, 504 Paivio, Allan, 151 f. Pape, Samuel Christian, 449 Paratexte, 207, 212, 519; s. a. Klappentext, Verlagstext pardon, 515 Paris, 657 Passionsspiele, s. Oberammergauer Passionsspiele Pastior, Oskar, 189, 303, 313 f., 636 Patristik, s. Kirchenväter Paulus (Apostel), 69, 329 f., 580 Peacock, Thomas Love, 4 Pearsall, Judy, 143 Peez, Erik, 42, 595 PEN-Club, 467 peroratio, 30 Personifikation (Begriff ), 111, 127, 134 Peter, Emanuel, 468 Petrarca, Francesco, 70, 196, 265, 345, 509, 535, 546, 548 Peucker, Brigitte, 284, 435 Phantasie, s. Imagination Philosophie, 1–12, 16, 19, 29–31, 36, 38–54, 58, 64, 67–70, 73–85, 91, 98 f., 102–105, 107, 109–120, 122, 124, 158, 160–162, 166, 173, 187 f., 195, 202, 206, 215, 220 f., 226, 257, 309, 347, 398, 428 f., 435, 458, 550, 562, 566, 575–578, 607 f., 613, 632, 655 Physik, s. Naturwissenschaften Pietismus, 67, 230, 258, 262, 306, 484 Pindar, 29, 57, 62, 203, 262, 275, 318 Pinker, Steven, 92, 299, 301, 348 Pinthus, Kurt, 409, 417 Plate, Otto, 470, 472 Platon, 1, 3 f., 6, 20, 29–52, 54 f., 58–62, 68 f., 73, 75 f., 78–80, 82–85, 89, 93, 97, 99, 103, 108, 112, 115 f., 118, 161, 173, 187, 191, 204 f., 224, 233 f., 249–251, 254–257, 260–265, 270, 276, 286, 299, 315, 325, 327, 352, 354, 364, 383, 385, 419, 465–467, 499, 509, 552 f., 562, 570, 577 f., 583, 595, 599, 602, 608, 610 f., 613, 616, 632, 654; s. a. Neuplatonismus Plessner, Helmuth, 197 Plinius der Jüngere, 274 f. Plutarch, 232 Pochat, Götz, 251 Poesie, s. Dichtkunst, Dichtung, Lyrik
750
Personen- und Sachregister
Poetik (Begriff ), 6–8, 94 f. und passim; (Buch), 8, 54, 67, 81, 87 f., 196 f., 199–202, 205, 207, 213–17, 220–223, 233, 250, 254–256, 260 f., 289, 327, 334, 348, 359, 364, 368, 385, 398 f., 404 f., 412, 470, 472, 486, 494, 499, 518, 523, 533, 537, 547, 549, 551, 554, 557, 559, 588, 609, 628 f., 631–33 Poetologie (Begriff ), 7 f., 192 poetologische Metapher (Begriff ), 188 f. Poetry Slam, 228, 240, 322, 453, 656–661 Polemik, 451 Polheim, Karl Konrad, 378 Politycki, Matthias, 345 Pollak, Oskar, 190 Polysemie, 114, 176 Pongs, Hermann, 147 Pope, Alexander, 53 f., 257 f., 260, 277, 360 Pop-Kultur/-Literatur, 228, 453, 637, 643, 645, 648, 656 Pospiech, Hartmut, 657–660 Postmoderne, 14 f., 33, 65 f., 82, 215, 223, 247, 345, 403, 427, 438, 515, 632, 637, 646, 648, 654 Poststrukturalismus, 18, 24, 37 f., 84, 120, 173, 223, 345 Pott, Sandra, 8, 14, 299, 332 f. Pound, Ezra, 373 Prätorius, Otto, 256 Preckwitz, Boris, 656 Preise, 425 f.; Büchner-Preis, 425, 451, 663; Erfurter Stadtschreiber-Literaturpreis, 517; Preis der Gruppe 47, 482; Heine-Preis, 372–374, 383, 636; Nobelpreis, 369; Österreichischer Staatspreis, 426 Preisendanz, Wolfgang, 16, 204 Prenzlauer Berg (Gruppe), 468 Preußen, 482, 592, 598 Priessnitz, Reinhard, 452 Programmschrift, s. Manifest Projektion, 181 f. Prolog, 73, 195, 206, 208–211, 213, 215, 232, 236 f., 252, 442 f., 507, 518, 522–534, 536–538 Protestantismus, 67, 72, 199, 286, 321, 330, 360, 367, 370, 458, 496, 537 Prototypentheorie, 118, 161, 164; s. a. Kategorie Psalmen, s. Bibel Pseudo-Longinus, s. Longinus Psychologie, 41, 122, 146 f., 157, 164 Puschman, Adam, 470–472 Pynchon, Thomas, 503 Quintilianus, Marcus Fabius, 2, 22, 30–32, 53, 57 f., 62, 99, 107, 110, 113, 127,
134, 136, 144 f., 147, 149, 173, 192 f., 250 f., 254 f., 287, 315, 324, 348 f., 375, 410, 435, 490, 539, 554 f., 558, 567, 604, 608 Raimund, Ferdinand, 457 Rakusa, Ilma, 625 Rambach, Johann Jacob, 329, 365 f., 368, 479, 510, 533 Ramler, Karl Wilhelm, 275 f. Rap, 228, 245, 656, 661 Rapisarda, Cettina, 488 Rauch, Christian Daniel, 590–592, 594, 598 Realismus, 40, 42, 229, 255, 268–271, 325, 454, 519, 587, 590, 592–599, 642 f. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 6 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 6, 10, 90, 192 Rebmann, Andreas Georg Friedrich, 342 f. Reddy, Michael J., 139 f., 144, 177 f., 301 Regard, Marianne, 153–155, 172 Regelpoetik, s. Anweisungspoetik Rehbock, Helmut, 103, 175 Rehmann, Ruth, 480–482 Reichard, Georg, 377 Reichel, Peter, 611 Reich-Ranicki, Marcel, 646 Reinmar der Alte, 341 Reisebericht, 116, 216, 448 Relevanztheorie, 140, 168, 177–179 Renaissance, 11, 34 f., 160, 198, 214, 348, 553, 557 Rezension, 67 f., 89, 207, 211–213, 279 f., 343, 345, 351, 377, 382, 460, 569, 574, 583, 586, 598 f., 646 f., 654 Rezeptionspoetik, 3; s. a. Wirkungspoetik Rhetorica ad Herennium, 31, 147 Rhetorik, 1, 3 f., 6, 9, 12, 14, 16, 19, 22, 29–32, 36–38, 44 f., 47–53, 57–61, 63 f., 67, 72–90, 92 f., 97–99, 102, 104, 110–112, 118, 120, 126, 134–136, 139, 146, 151 f., 172 f., 184, 188, 192, 197, 203 f., 206 f., 209, 214 f., 217 f., 218, 220 f., 226 f., 229, 249–251, 253, 255–257, 260, 265–267, 287, 289 f., 300, 304, 309 f., 315 f., 318, 324 f., 336, 347, 350–352, 375 f., 393, 410, 425, 428 f., 434 f., 444, 450, 453 f., 456, 499, 519, 521, 528, 534 f., 539, 542, 545, 547, 550, 554, 556, 577, 579 f., 599, 601 f., 604, 606–609, 621, 626, 631, 634, 654–656, 662 f.; s. a. Sophisten Richards, Ivor A., 96, 103, 105, 109 f., 120 f., 179, 183 Richter, Hans Werner, 479–483, 636
Personen- und Sachregister
Richter, Jean Paul, s. Jean Paul Ricoeur, Paul, 19 f. Rilke, Rainer Maria, 8, 43, 193, 308, 312, 323 f., 388, 406, 411 f., 489, 505, 509, 626, 643 f. Rinck, Monika, 625, 628, 631 Ritter, Ellen, 599 Robertson, Ritchie, 445, 502 Rodin, Auguste, 308 Rohnert, Ernst Theo, 479 f. Rokoko, 196 Rolf, Eckard, 99, 101 f., 111, 121, 144 Roloff, Hans-Gert, 550 Roman, 20 f., 130, 211–214, 308, 319–321, 336 f., 339 f., 342 f., 345, 350, 366, 370, 372, 378–382, 395, 407, 418, 421 f., 425 f., 445–448, 502 f., 515, 518, 520, 536 f., 560–572, 581–583, 587, 596, 598, 639 f., 643, 646–648, 653 Roman (Mittelalter), 209–211, 236, 252, 274, 534–537 Romantik, 2–4, 6, 8, 10, 12, 22, 33, 42, 48, 55, 61, 63–65, 69, 71, 74, 79, 81, 90, 112 f., 130, 161, 188 f., 195 f., 205, 212–214, 222, 230, 242–244, 246–248, 250, 254, 259, 261, 264 f., 268–270, 272, 276, 285, 287, 299, 312, 322, 329, 340, 349, 351, 354, 361 f., 369, 376, 382, 384, 395, 398, 407, 411, 415, 434–436, 440, 442, 444, 463, 468 f., 496, 511, 513, 515, 546, 555, 557, 573 f., 576–578, 581 f., 589, 594, 599, 602, 608 f., 623, 630, 635, 640, 643, 646 f., 649, 652, 662 Rommel, Otto, 457 f. Ronsard, Pierre de, 196, 328, 546, 548, 552, 557 Rorty, Richard, 84 f. Rösler, Wolfgang, 11, 29, 67, 207 Rotermund, Erwin, 332 Rousseau, Jean Jacques, 204, 218, 220, 224, 257, 264, 270, 278, 285–287, 537, 569 Rowling, J.K., 640 Rudolf von Ems, 252–254, 545 f. Ruf (Der), 480 Rufinus (Tyrranius Rufinus), 65, 68 Rühm, Gerhard, 346, 362 Rühmkorf, Peter, 353, 480 Rumi (Jalal ad-Din ar-Rumi), 504 Russell, Donald, 44, 58 Russland, 24, 380, 389, 505, 661 Sacer, Gottfried Wilhelm, 418 Sachs, Hans, 198, 358, 460 Sachs, Nelly, 393, 485, 617–619
751
Sächsische Dichterschule, 468 Sadoski, Mark, 151 Saint-Simon, Henri de, 437 Salzburger Festspiele, 460 f., 488 Sangspruchdichtung, 252, 351 f., 439 f., 469 f. Sapir-Whorf-Hypothese, 106, 143, 489 Sappho, 322, 328, 333, 512 Satire, 55, 190, 250, 349, 382, 384, 418, 437, 500, 515 f., 570 Sauder, Gerhard, 288, 438, 561 Saussure, Ferdinand de, 100 f., 176 Sawicki, Stanislaw, 535, 542 f. Scaliger, Iulius Caesar, 53, 255, 348, 547, 553, 559 Schade, Richard E., 322 Schäfer, Hans Dieter, 612 Schaffenspoetik, s. Autorpoetik Schanze, Helmut, 81, 577 Schauspiel, s. Drama Scheck, Denis, 451 Scheerbart, Paul, 449 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, 78–80, 206, 252 Schema, s. Bildschema Schenda, Rudolf, 343 Schiller, Friedrich, 9, 74, 76 f., 81, 108, 206, 217, 220–222, 233 f., 258 f., 262–265, 267, 282, 294 f., 317, 343 f., 361 f., 422 f., 414, 446, 463–465, 497 f., 571, 581, 594, 597 Schirmer, David, 291 Schlaf, Johannes, 85 Schlaffer, Heinz, 14, 67, 197, 205, 350, 367, 417, 461, 496, 544 Schlagdenhauffen, Alfred, 574 Schlegel, August Wilhelm, 351, 423, 469, 518, 520 f., 546, 572–587, 634 f. Schlegel, Friedrich, 10, 29, 61, 79, 81, 351, 423, 430, 433, 436, 469, 518, 520 f., 546, 572–587, 634 f. Schlegel, Johann Adolf, 75 Schlenstedt, Dieter, 381 Schlesien, 4, 270, 548, 595 Schmatz, Ferdinand, 625 Schmerberg, Ralf, 637, 661 Schmidt, Arno, 294, 449 f., 503 Schmidt, Kathrin, 625 Schmidt-Möbus, Friederike, 445 Schmitz, Brigitte, 592 Schmitz, Walter, 548 Schmück, Hajo, 175 Schnabel, Johann Gottfried, 449 Schneider, Irmela, 479
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Personen- und Sachregister
Schneider, Stefan, 434 Schneider, Ulf-Michael, 262, 394 Schnyder, Peter, 81, 577 Schoch, Johann-Georg, 291 Scholastik, 67–71, 75 f., 218, 225 Schön, Erich, 561 Schönberger, Otto, 58 Schöne, Albrecht, 22, 249 Schönert, Jörg, 231 Schönherz, Richard, 643 f. Schöningh, Ferdinand, 221 Schöpfel, Johann W.A., 343 Schottel, Justus Georg, 103, 474, 498 Schreibweise, 7, 15, 90 Schröder, Jürgen, 612 Schrott, Raoul, 97, 223–227, 271 f., 405, 451, 489 Schubart, Christian Friedrich Daniel, 72, 279, 581 Schulpforta, 258 Schultz, H. Stefan, 601, 604, 608 Schulze, Ursula, 535, 541, 543 Schutte, Jürgen, 483 Schütterle, Annette, 315 Schwager, Johann Moritz, 343 Schweikert, Uwe, 426 Schweikle, Günther, 102, 147 Schweikle, Irmgard, 102, 147 Schweiz, 202, 329, 447, 488, 636 Schwietering, Julius, 252 Schwitters, Kurt, 347 Science Fiction, 639 See, Klaus von, 283, 498 Seibert, Peter, 330 Selbmann, Rolf, 293, 353, 355 semiotisches Dreieck, 103, 105, 179 Seneca, Lucius Annaeus, 64, 262, 455, 637 S¸enocak, Zafer, 504 Serbien, 372 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of, 277 f., 394 Shakespeare, William, 42, 108, 135, 201, 251, 258, 264, 269 f., 277, 279 f., 282, 285, 325, 414, 447, 501, 601 Shapiro, Kevin, 153 Shelley, Percy Bysshe, 4, 6 Sidney, Sir Philip, 4, 48, 232, 548 f. Signifikant/Signifikat, 114, 175; s. a. Zeichen Simon, Claude, 452 Simon, Ralf, 209 Simonides, 232 Slam s. Poetry Slam Sokrates, 32 f., 36, 42–44, 50, 54, 58 f., 75 f., 83, 173, 191, 286, 583, 608
Sonett, 43, 71, 237–240, 316, 323 f., 508 f., 557, 560 Sophisten, 3, 9, 35–38, 42, 46, 52 f., 84, 99, 103; s. a. Rhetorik Sorg, Bernhard, 229 Sotillo, María, 155 source/target, s. Herkunftsbereich/Zielbereich Sowjetunion, s. Russland Soziologie, 7, 16 Spahr, Roland, 600 Spanien, 315, 547, 609 Spectator (The), 76 Spee, Friedrich von, 335, 376 Sperber, Dan, 140, 177–180 Spiegel (Der), 371 Spiegel, Hubert, 600 Spielhagen, Friedrich, 596 Spiewok, Wolfgang, 536 Sprachgesellschaften, 359, 473, 498, 659 Sprechakt, 290, 335, Starnes, Thomas C., 343 Stasi, 321, 371 Steen, Gerard, 122 f. Steiner, Franz Baermann, 387–389, 393, 485 Steinmetz, Horst, 494 Stern, Josef, 119 f. Stingelin, Martin, 311 Stockwell, Peter, 111, 122 f., 161 Stolterfoht, Ulf, 625, 631 Stommer, Rainer, 463 Storm, Theodor, 404 Strauß, Botho, 372 f. Streeruwitz, Marlene, 636, 639 f. Strukturalismus, 122 Strutz, Johann, 396 Stückl, Christian, 462 Stukenbrock, Anja, 493, 501 Sturm und Drang, 89, 196, 204, 263, 285, 329, 407, 414, 593, 637, 658, 662, Stuttgart, 294 f., 659 Substitution, 99, 102, 109, 119, 121, 126, 145, 171, 181 f. Sucharowski, Wolfgang, 122 Sulzer, Johann Georg, 87 f., 90, 229, 240, 261, 263, 493 S¸urdum, Kundeyt, 641 Sweetser, Eve, 176 Symbol, 65, 80, 135, 147, 282, 324, 395, 425, 468 f., 499–501, 509, 538, 541; s. a. semiotisches Dreieck Symbolismus, 431 Synekdoche (Begriff ), 109, 135 Synonymie, 114 Systemtheorie, 10 f., 13, 91, 285
Personen- und Sachregister
Szyrocki, Marian, 14, 547 Tacitus, 196, 405, 463, 498, 553 Tagebuch/Arbeitstagebuch, 108, 190, 207, 217, 314, 333, 355, 377, 448, 604, 629 Tannhäuser, 336 Tarantino, Quentin, 646 Tarot, Rolf, 602 Tasso, Torquato, 207 f., 512 f., 610 Taylor, Brian, 470 Taylor, Kirsten I., 153–155, 172 Tebartz-van Elst, Anne, 83 Tebben, Karin, 561 Tersteegen, Gerhard, 230, 258 f., 393 Tertullian, 33, 556 Tetzel, Maria Helena, 241 Teutsche Merkur (Der), 343 textintern/textextern, s. werkinterne/werkexterne Kommunikation Theater (Institutionen), 57, 430, 444, 640 f.; s. a. Drama Theater heute, 465 Theokrit, 419 Theologie, 32 f., 46, 60, 62–64, 67, 70–73, 89, 218, 255, 360, 367, 370, 376, 394, 396, 398, 428 f., 431 f., 459, 491, 510, 523, 550, 646, 657 Theresienstadt, s. Konzentrationslager Thing-Spiel, 463 Thomas von Aquin, 69 f. Tieck, Ludwig, 265 f., 449, 581 Till, Dietmar, 11, 29, 67, 207 Titelblatt, 218, 295, 473 f., 478, 549, 562, 574 Titelkupfer, 4, 202, 474 f. Titz, Johann Peter, 289 f. Titzmann, Michael, 10 Topos (Begriff ), 19–23, 188 f. tote Metapher, 21, 130, 157 Tragödie, 29 f., 38 f., 46, 49–51, 82, 150, 233 f., 416, 421, 446, 455, 457, 459 Trakl, Georg, 385 f., 388 Traunsdorff, Johann Friedrich von, 257, 259 Travolta, John, 646 Trier, Jost, 120 Trithemius, Johannes, 532 Trivialliteratur, 345 Tropen (Begriff ), 19 Trunz, Erich, 305, 548 Tscherning, Andreas, 4 f. Tsur, Reuven, 122 f. Türken/türkisch, 504, 640–642 Turner, Mark, 69, 121 f., 127, 130, 141, 144, 162, 183, 338, 418 Typologie, 65, 71, 532 f.; s. a. Allegorese, Bibelexegese
753
Uebel, Tina, 657–660 Ueding, Gert, 547 Ungern-Sternberg, Wolfgang von, 360 Universalien, 50, 92, 94, 102 f., 122–125, 171, 247, 299–301 USA, 140, 277, 406, 489, 503, 639 f., 643, 646, 659; s. a. anglo-amerikanische Literatur Václavek, Ludvík, 620 Vergil, 20, 22, 65, 80, 249, 257 f., 495, 508 f., 512, 532, 543, 554, 558 Vergleich (Begriff ), 19, 111, 113, 127, 144, 147 Verlagstext, 8, 649 Versatzstück, 20 f. vierfacher Schriftsinn, s. Bibelexegese Viëtor, Karl, 61 Vietta, Silvio, 195, 427 vir bonus dicendi peritus, 57, 372 Voiture, Vincent, 238 f. Vollers-Sauer, Elisabeth, 144 Vollhardt, Friedrich, 560 Vollmann-Profe, Gisela, 491 f., 510, 522 f., 526, 528–30, 532 f. Voltaire, 494 Vorlesung, 8, 61, 78 f., 107, 148, 423; s. a. Frankfurter Poetik-Vorlesungen Vormärz, 572, 594–596 Vormweg, Heinrich, 481 Vorrede, 3, 16 f., 53, 62, 116, 147, 195, 207 f., 211–214, 222–226, 230, 233 f., 240, 256, 258 f., 261, 264, 319, 329, 342, 350, 365 f., 419–422, 458, 474, 478, 486–488, 518, 520, 536, 548 f., 552 f., 560–573, 636, 654 f., 662 Vorwort, s. Vorrede Voß, Johann Heinrich, 219, 275–277, 583 Vossius, Gerhard Johann, 88, 203, 547 Vostell, Wolf, 467 Vulgärsprache, 67, 72, 195–199, 316, 351, 413, 490, 548–550 Vulpius, Christiane, 449 Wachinger, Burghart, 439 f. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, 265–268 Wagenseil, Johann Christoph, 200, 440 Wagner, Jan, 412, 654–656 Wagner, Richard, 440, 463 Wallraff, Günter, 642 Walser, Martin, 643, 646 Walsh, Mary, 151 Walther von der Vogelweide, 196, 340 f., 353, 431 f., 440, 470, 507, 553 Wanderbühnen, 456 Wapnewski, Peter, 352 Wartburgkrieg (Der), 351, 439, 441
754
Personen- und Sachregister
Watanabe-O’Kelly, Helen, 453 Waterhouse, Peter, 625 Weber, Max, 477 Wegmann, Nikolaus, 336 Weimar, Klaus, 6, Weinrich, Harald, 112, 120 f., 137, 140 Weinzierl, Ulrich, 460 Weise, Christian, 277, 341, 359 f. Weiss, Peter, 465 Wende (1989/1990), 371, 389, 404, 503, 611, 622 f., 636 f., 639 f. Werder, Dietrich von, 350 werkinterne/werkexterne Kommunikation, 17, 24, 74, 91, 93 f., 113, 190, 207, 230–237, 302 f., 518 Weyrauch, Wolfgang, 22, 502, 612 White, Hayden, 196 Whitehead, Alfred North, 4 Wichner, Ernst, 381 Widmung, 57, 195, 199, 214, 216, 229, 308, 359, 471 f., 484, 490 f., 506, 508, 518, 522–533, 549–552, 555, 557, 637 Wiedemann, Barbara, 438 Wiedemann, Conrad, 4 Wieder, Regine, 342 Wiegand, Herbert Ernst, 103 Wiegmann, Hermann, 8, 29, 88 Wieland, Christoph Martin, 76, 279 f., 330, 343, 468, 518, 520 f., 560–573, 586, 634 Wien, 74, 457 f., 499 f., 625, 636, 657 Wiener Gruppe, 346, 362, 468 Wiener, Oswald, 346, 362 Wiesmüller, Wolfgang, 396 Wiesner, Herbert, 381 Wilke, Tobias, 610 Willeford, Charles, 646 Wilson, Deirdre, 140, 177–180 Wilson, W. Daniel, 284 Winckelmann, Johann Joachim, 225, 232 Windfuhr, Manfred, 559
Winkelman, Johan H., 543 Winkels, Hubert, 451 Winkler, Michael, 477 f. Winko, Simone, 21, 169 Wirkungspoetik, 6, 88; s. a. Rezeptionspoetik Wirnt von Gravenberc, 236 Wittgenstein, Ludwig, 84, 111, 116–118, 174, 346, 347, 504 Wochenschrift, 76 Wohlfahrt, Thomas, 662 f. Wolf, Christa, 216 f., 320 f., 333, 371, 374, 448 f. Wolf, Friedrich August 443 Wolff, Eugen, 414 Wolfram von Eschenbach, 210 f., 252, 338, 351–353, 357, 439–441, 451, 470, 535, 540–542, 545 Wolfskehl, Karl, 222 f., 297 Wolter, Christian, 656, 659 Wolters, Friedrich, 477–479 Woodmansee, Martha, 438 Wortfeld, 121 Wurm, Franz, 119 Xenophon, 58 f., 75 Young, Edward, 202–205, 262, 277, 281, 283, 287, 324, 410, 415, 438, 441 Zaimoglu, Feridun, 389, 636, 641–643 Zeichen (Begriff ), 100, 103; s. a. semiotisches Dreieck Zeitschrift, 382, 627; s. a. Athenaeum; Blätter für die Kunst; Frankfurter gelehrte Anzeigen; Horen (Die); Innere Reich (Das); Merkur; neue Pathos (Das); Ruf (Der); Spectator (The); Teutsche Merkur (Der); Theater heute Zelle, Carsten, 17, 91 Zesen, Philipp von, 55, 216, 291, 546 Zielbereich, s. Herkunftsbereich/Zielbereich Zumthor, Paul, 25 Zürich, 152, 417, 481, 625 Zweig, Stefan, 85 f., 222, 453–455, 464–467