Formästhetiken und Formen der Literatur: Materialität - Ornament - Codierung 9783839454084

Was, wenn man das ästhetische Konzept der »Form« nicht nur als ideelle oder strukturelle, sondern auch als materielle Ka

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German Pages 360 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Ästhetiken der Form
Form und Oberfläche als Metapher
Das Verfahren der Form bei Baumgarten
Entzeitlichung
Die Dynamisierung der musikalischen Form
Literarische Form und Intervention
Ästhetik der pulchritudo adhaerens
Die Form des Buches
2. Literarische Formen
Philologisch-philosophische Arabesken
Anorganische Form
Ornamentaler Realismus
»die reine farben- formen- und linienfreude«
Die Gestalt der Literatur
»Formale Ekstase!!! (Great!)«
Das Prosagedicht
Die skulpturale Form der Literatur
Beiträgerinnen und Beiträger
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Formästhetiken und Formen der Literatur: Materialität - Ornament - Codierung
 9783839454084

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Torsten Hahn, Nicolas Pethes (Hg.) Formästhetiken und Formen der Literatur

Literatur – Medien – Ästhetik  | Band 2

Die Reihe wird herausgegeben von Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

Torsten Hahn (Dr. phil.), geb. 1969, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln mit einem Schwerpunkt auf Medientheorie und Kulturwissenschaften. Er arbeitet u.a. zur Codierung von Literatur, zur Oberflächenästhetik und zum Politischen der Literatur. Nicolas Pethes (Dr. phil.), geb. 1970, ist Professor für Neuere deutsche Literatur und allgemeine Literaturgeschichte an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Mediengeschichte der Literatur, Wissenschaftsgeschichte, kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien und Populärkultur.

Torsten Hahn, Nicolas Pethes (Hg.)

Formästhetiken und Formen der Literatur Materialität – Ornament – Codierung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5408-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5408-4 https://doi.org/10.14361/9783839454084 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung Torsten Hahn, Nicolas Pethes ........................................................ 9

1. Ästhetiken der Form Form und Oberfläche als Metapher Probleme und Herausforderungen des literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Form-Begriffs Thomas Hecken .................................................................... 23

Das Verfahren der Form bei Baumgarten Patrick Hohlweck ................................................................... 41

Entzeitlichung Zur Temporalität der reinen ästhetischen Form Peter Neumann ..................................................................... 61

Die Dynamisierung der musikalischen Form Bettina Schlüter.................................................................... 79

Literarische Form und Intervention Zur Formdiskussion im Kontext der proletarisch-revolutionären Literaturtheorie um 1930 Jürgen Brokoff ..................................................................... 101

Ästhetik der pulchritudo adhaerens Zur Form der Warenwelt Heinz Drügh........................................................................ 115

Die Form des Buches Oder warum das absolute Buch bei Novalis Seiten hat Matthias Bickenbach .............................................................. 139

2. Literarische Formen Philologisch-philosophische Arabesken Schlegel liest Goethe und Fichte Anja Lemke ....................................................................... 167

Anorganische Form Zu Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre Wolfgang Hottner.................................................................. 185

Ornamentaler Realismus Zur Poetik der reinen Prosa bei Adalbert Stifter Nicolas Pethes .................................................................... 209

»die reine farben- formen- und linienfreude« Zur Vision einer ›reinen Formkunst‹ in den ornamentalen Konstellationen der Blätter für die Kunst Daniela Gretz ..................................................................... 229

Die Gestalt der Literatur Zum Verhältnis von Form, Format und Formation in Robert Musils Journalprosa Marcus Krause .................................................................... 257

»Formale Ekstase!!! (Great!)« Zum Animismus der Linie in Ästhetik, Literatur und Animationsfilm Charlotte Jaekel .................................................................. 289

Das Prosagedicht Ilse Aichingers Arbeit an der literarischen Form Armin Schäfer .................................................................... 315

Die skulpturale Form der Literatur Das Buch als ästhetisches Artefakt mit paradoxer Tiefe (Übersetzungsketten) Torsten Hahn...................................................................... 337

Beiträgerinnen und Beiträger .............................................. 357

Einleitung Torsten Hahn, Nicolas Pethes

Literarische Form ist derzeit wieder ein intensiv diskutiertes Thema. Diese Diskussion betrifft sowohl den Wandel des Formbegriffs von eidetischen Konzeptionen der Antike über prozessuale Ansätze um 1800 bis hin zu konstruktivistischen Modellen der Moderne1 als auch die Genealogie formästhetischer Ansätze von Kant, Schiller und Schlegel2 über den Herbatianismus zum Strukturalismus und Formalismus3 bzw. vom Ästhetizismus4 über Adorno5 hin zu systemtheoretischen Beschreibungen6 und aktuellen Impulsen des New Formalism.7 Das Anliegen des vorliegenden Bandes ist es nicht nur, die Relevanz dieser Ansätze gegenüber der in der Kunstphilosophie seit Hegel ansonsten dominierenden Gehaltsästhetik hervorzuheben, sondern auch zu zeigen, auf welche Weise literarische Texte vom 18. Jahrhundert bis zur Ge-

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Vgl. Wellbery, David: »Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800«, in: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ›anschauliches‹ Denken in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin/Boston 2014, S. 17-42. Vgl. Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart/Weimar 2001. Vgl. Stöckmann, Ingo: »›Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland‹. Zur theoriegeschichtlichen Bedeutung der formalen Ästhetik im 19. Jahrhundert«, in: Scientia Poetica 19 (2015), S. 88-135; ders.: »Form, Theorie, Methode. Die formale Ästhetik des 19. Jahrhunderts«, in: DVjs 90 (2016), S. 57-108; ders. (Hg.): Texte der formalistischen Ästhetik. Eine Quellenedition zu Johann Friedrich Herbart und zur herbartianischen Theorietradition, Berlin/Boston 2019. Vgl. Simonis, Annette: Literarischer Ästhetizismus: Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000; Schäfer, Armin: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, München 2005. Vgl. zuletzt Geulen, Eva: »Agonale Theorie. Adorno und die Rückkehr der Form«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13 (2019), S. 5-19. Vgl. Baecker, Dirk (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt a.M. 1993. Vgl. Levine, Caroline: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton 2017.

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Torsten Hahn, Nicolas Pethes

genwart diese Relevanz durch die ihnen nicht nur implizite, sondern ausdrückliche und grundlegende Reflexion ihrer Form von sich her ausstellen. Dabei geht es um den Nachweis, daß das Verständnis von ›Form‹ keineswegs auf strukturelle – also z.B. rhetorische oder gattungsästhetische – Ordnungsprinzipien von Zeichenrelationen beschränkt gewesen ist bzw. werden sollte. Die hier versammelten Beiträge zeigen vielmehr, auf welch unmittelbare Weise zentrale Leitunterscheidungen des ästhetischen Diskurses – wie das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und logischer Kategorisierung, Relationen zwischen Teil und Ganzem, Spannungen zwischen einem geschlossenen und einem offenen bzw. einem fixierten und einem dynamischen Werkverständnis, Verhandlungen zwischen Autonomie- und Heteronomieästhetik, Wechselspiele zwischen Texten und ihren medialen Formaten oder Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen zwischen Hoch- und Popkultur – auf Fragen der Form bezogen sind, und das keineswegs lediglich hinsichtlich deren Bezug zu Kategorien wie ›Stoff‹, ›Inhalt‹ oder ›Idee‹. Gemeinsamer Nenner dieser Dimensionen und Kontexte der kunsttheoretischen und literaturhistorischen Formreflexion ist vielmehr der Befund, daß sie sich im Modus der Selbstreferenz des Kunstwerks artikuliert – also immer dann, wenn es sich nicht auf anderes, z.B. Nachgeahmtes oder Dargestelltes, bezieht: »Form ist unausgesprochene Selbstreferenz.«8 In diesem Sinne hat bereits Walter Benjamin die reflexionstheoretische Grundlegung der Kunst in der Frühromantik resümiert: »Die romantische Theorie des Kunstwerks ist die Theorie seiner Form.«9 Als konkrete Form, so Benjamin weiter, ist der Bezugspunkt dieser Selbstreferenz aber nicht nur die Reflexion einer Idee, sondern auch die Materialität des Werks: »Die Form ist also der gegenständliche Ausdruck der dem Werk eigenen Reflexion«.10 In den Blick rückt damit der Bezug eines Werks auf seine – kontingente, in der jeweiligen Formgebung aber spezifisch selegierte – »Gemachtheit« oder »Faktur«.11 8

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Niklas Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 139-188, hier S. 150. Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« , in: ders.: Ge mmelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 7-122, hier S. 71. Ebd. (unsere Hervorhebung) Von der »Ostentation der Faktur« spricht Benjamin mit Blick auf das allegorische Verfahren des barocken Trauerspiels, das bis hinein in das Druckbild der Dramen reicht.

Einleitung

Das besondere Augenmerk, das der Band auf Figuren formästhetischer Selbstbezüglichkeit lenken möchte, gilt mithin auch der materiellen Dimension der Anordnung medialer Elemente zur Konstitution (oder eben: Formbildung12 ) von Texten bzw. Kunstwerken. Im Fall der Literatur ist damit neben der sprachlichen Form etwa die visuelle und haptische Dimension von Büchern angesprochen, wie sie sich in Typographie, Layout, Illustrationen, Einbandgestaltung und ähnlichen Paratexten niederschlägt.13 Der Vorschlag, Formästhetiken auf solche materiellen Erscheinungsweisen zu beziehen,14 erlaubt es, die Literaturgeschichte in ihrer Gebundenheit an bzw. als expliziten Verweis auf das Medium Buch neu zu perspektivieren15 und dabei insbesondere auch das aktuelle Phänomen in den Blick zu nehmen, daß literarische Texte im Lichte des gegenwärtigen digitalen Wandels noch einmal programmatisch Oberflächen und Äußerlichkeiten desjenigen Mediums markieren, das mit der Digitalisierung obsolet zu werden scheint, de facto aber weiter Bezugspunkt literarischer Kommunikation bleibt – wie nicht zuletzt die zuneh-

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Vgl. hierzu Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 203-430, hier S. 355. Das »Gemachte« ist eine zentrale Kategorie der Adornoschen Ästhetik (vgl. Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 198), insbesondere in Abgrenzung vom Naturschönen: »Form widerlegt die Ansicht vom Kunstwerk als einem Unmittelbaren.« (ebd., S. 216) In diesem Sinne gilt auch: »Der Formbegriff markiert die schroffe Antithese der Kunst zum empirischen Leben.« (ebd., S. 213). Vgl. Stanitzek, Georg: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Band 1: Theorie und Forschung, Berlin/New York 2010, S. 157-200. Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 1987, S. 22-40; Reuß, Roland: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014. Vgl. in diesem Sinne auch die Sektion II. »Form – Medium – Material« im Sammelband des Graduiertenkollegs Literarische Form (Hg.): Dynamik der Form. Literarische Modellierungen zwischen Formgebung und Formverlust, Heidelberg 2019. Vgl. Hahn, Torsten: »Drucksache. Medium und Funktion der Literatur«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49 (2019), S. 435-449; Pethes, Nicolas: »Leseszenen. Zur Praxeologie intransitiver Lektüren in der Literatur der Epoche des Buchs«, in: Jadwiga Kita-Huber/Irina Hron/Sanna Schulte (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, Heidelberg 2020, S. 99-130.

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Torsten Hahn, Nicolas Pethes

menden Berührungspunkte zwischen literarischer Ästhetik und Buchkunst in den letzten Jahren nahelegen.16 Ein solcher materialbewußter Formbegriff läßt sich aus Niklas Luhmanns Adaption der Ansätze von Fritz Heider einerseits, George Spencer Brown andererseits herleiten: Die Unterscheidung der lose gekoppelten Elemente eines Mediums von ihrer festen Kopplung durch die Selektion einer Form, die als solche die Unterscheidung von Medium und Form auf Seiten der Form wieder eintreten läßt, erlaubt es, Kunstwerke als eine solche kontingente Formselektion zu beobachten, d.h. als spezifisches »Arrangement« medialer Elemente, das Luhmann als »innere[s] Ornament« des Werks bezeichnet.17 Auf diese Weise ist Luhmanns konstruktivistische Formästhetik zugleich eine Ästhetik des Materiellen: Insofern Kunstwerke durch die selektive Kopplung medialer Elemente entstehen, bestehen sie zunächst einmal aus nichts anderem als der Organisation von Material in zeitlicher und räumlicher Hinsicht, wobei diese Organisation stets der Unterscheidung von Redundanz und Varietät folgt, d.h. einem Rhythmus von Wiederholung – die als solche Grundlage und Einheit des Werks erkennbar macht – und Abwechslung – die das Kunstwerk innovativ, überraschend und interessant werden läßt. Diese Organisation von Redundanz und Varietät verdeutlicht, daß Kunst immer zunächst ornamental verfaßt ist, d.h. als Arrangement von Material unabhängig von dessen repräsentierender Funktion, also z.B. von dem semantischen Gehalt von Worten oder Schriftzeichen. Das Ornamentale ist derart nicht Verzierung, sondern Grundlage von Kunst: Das Ornamentale dient direkt der Organisation von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät. Ornamente setzen einen durch sie selbst definierten und gleichsam von innen geschlossenen Raum voraus; und Entsprechendes gilt für die Ornamentalisierung von Zeit (etwa im Tanz oder im Aufbau oder Abbau von Spannung in einer Erzählung). Vom Herstellungsprozeß her muß eine solche Eingrenzung erst einmal erzeugt werden in der Form eines eigens präparierten Teilraums (etwa der Fassade eines Gebäudes oder der Oberfläche eines Gefäßes) oder einer Teilzeit mit 16 17

Vgl. Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium, Berlin/Boston 2019. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 188 und S. 198. Vgl. Binczek, Natalie: »Zur Funktion des Ornaments in Luhmanns Kunst-Buch«, in: Gregor Schwering/Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München 2002, S. 103-122.

Einleitung

selbstbestimmtem Anfang und Ende. Dagegen setzt die repräsentierende Kunst zunächst einmal die Erzeugung eines imaginären Raums oder einer imaginären Zeit voraus, um damit größere Freiheiten zu haben, dies selbstgeschaffene Medium sowohl repräsentierend als auch ornamental zu nutzen.18 Luhmann hält damit jedem Ansatz, der Kunst als mimetische Abbildung der Welt oder eines Gehalts versteht, die formale und zugleich materielle Dimension des Kunstwerks entgegen. Vor diesem Hintergrund fragt der vorliegende Band nach dem Potential, das einem solchen Verständnis von Form wie von Kunst – bzw. von Kunst als Form – für die Diskussion ästhetischer Theorien sowie die Analyse literarischer Texte innewohnt. Eine solche Analyse hätte semantische Deutungen in den Rahmen ornamentaler Arrangements sprachlicher bzw. schriftlicher Elemente in Raum und Zeit, d.h. der Materialität des Mediums, zu plazieren. Dieser Vorschlag einer Öffnung der Formdiskussion auf Fragen der Materialität von Texten kann aber nur in Auseinandersetzung mit den traditionellen Positionen der Formästhetik gewonnen werden – nicht zuletzt, weil diese das fragliche Material keineswegs nur als zu formenden Stoff betrachten, sondern den Kern der Ästhetik gerade in der Außenseite der Gestaltung des Werks sehen – denkt man etwa an Kants Begriff der »freien Schönheiten«, die als solche »keinen Begriff von dem voraus[setzen], was der Gegenstand sein soll«, und also weder etwas darstellen noch etwas bedeuten.19 Hier ist die Grundlegung autonomer Kunst in der referenzlosen Selbstbezüglichkeit des Ornaments bereits angelegt. Formästhetik ist mithin Oberflächenästhetik, dies aber gerade nicht im Sinne eines Verzichts auf ›Tiefe‹, sondern ganz im Gegenteil in dem Sinne, daß erst die Befreiung der Kunst von solchen semantischen oder geistigen Ebenen – dasjenige, was Walter Benjamin das »Abfallen des Sachgehalts« nennen wird, das den »Wahrheitsgehalt« des Kunstwerks offenlegt20 – den eigentlichen Gehalt der Kunst als Kunst offenlegt. Diesem freien Spiel der Formen auf der Ebene der visuellen Gestaltung

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 17), S. 185. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe, Bd. X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, S. 146. Kritisch zur reduktionistischen Verabsolutierung der Form gegenüber dem Geformten vgl. z.B. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 11), S. 22f. Benjamin, Walter: »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1974, S. 123-201, hier S. 127f.

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entspricht im Fall der Literatur das »freie[] Spiel der Einbildungskraft« als bloßes »Spiel mit Ideen«21 – auch wenn die Dichtung den Verstand dann doch so beschäftigt, daß ein Mehrwert entsteht, der aber nicht Zweck der Darstellung sein darf. Das insbesondere in der erzählenden Literatur deutlich wahrnehmbare Paradox, daß Texte etwas darstellen, ihren Kunstwert aber aus dem Absehen von diesen Inhalten und also letztlich in deren Kontingentwerden zugunsten der Steuerung des Werkzusammenhangs durch die Form gewinnen, wie es sich etwa in Schillers formästhetischen Hinweisen an Goethe anläßlich der Debatte von Wilhelm Meisters Lehrjahren findet, kulminiert wie angedeutet in den Konzepten »Reflexion« und »Kritik« der Frühromantiker. Hier wird die Theorie der Poesie vollends zur Theorie der Form – ein Kunstverständnis, in dem dasjenige verallgemeinert und affirmiert wird, was Nietzsche als Eigenheit des »Barockstil[s]« und dessen Auswirkungen auf spezifische Phasen der Kunst beschrieben hat, in denen durch einen »überreichen, drängenden Formentrieb[]« das Kunsthafte der Kunst hervortritt.22 Nietzsche hat dabei die Décadence im Blick, seine Beschreibung trifft aber auf alle Formen der Kunst nach ihrem von Hegel verkündeten Ende zu, die die Autonomie der Form sichtbar und auffällig werden lassen: Manierismen, Spiele der Ironie, temporale Paradoxierungen, offen epigonales Schreiben, ästhetizistische Selbstbezüglichkeiten und Spielarten von Pop als Kunst. Ein solches, gewissermaßen seinerseits formales, Verständnis von Form als selbstreferentielles materielles Arrangement vermeidet auch die Probleme, die entstehen, wenn man Form auf Vorstellungen von Stimmigkeit oder Synthesis bzw. deren in der Moderne notwendiges Scheitern bezieht, wie dies noch bei Adorno der Fall ist.23 Dementsprechend geht es den hier versammelten Beiträgen gerade nicht um eine Rekonstruktion literarischer Formästhetik als Höhenkammgeschichte einer littérature pure. Vielmehr sollen die grundsätzliche Formgebundenheit der Literatur und deren – nicht nur, aber auch – materialbezogene Reflexion als Ausgangspunkt für Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Dimensionen und Kategorien der Debatte über Tendenzen und Kontexte literarischer Ästhetik dienen. Das erlaubt es, formästhetische Theorien wie lite-

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Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 19), S. 258. Nietzsche, Friedrich: »Menschliches, Allzumenschliches, I und II«, in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, München 1999, S. 437. Adorno: Ästhetische Theorie (Anm. 11), S. 211-221.

Einleitung

rarische Reflexionen der Form über das Feld des literarischen Kanons (und auch über den hier betonten Materialbezug) hinaus auf die Nachbarkünste bis hin zur Populärkultur der Gegenwart zu beziehen. So soll deutlich werden, daß die Diskussion einer Ästhetik der Form in der gegenwärtigen Literatur-, Kultur und Medienwissenschaft gerade keine eskapistische Rückwendung auf idealistische Positionen einer vergangenen Debatte sind, sondern Fragen der Form in Kontexten wie dem material turn oder der Oberflächenästhetik des 21. Jahrhunderts von grundsätzlicher Relevanz bleiben. Diesem Nachweis widmet sich der Band in seinen zwei Sektionen zur theoretischen Modellierung von Fragen der Formästhetik bzw. zur exemplarischen Analyse literarischer Reflexionen von Form: In Sektion 1 nimmt der Beitrag von Thomas Hecken seinen Ausgang von der Beobachtung, daß der Formbegriff seit dem 18. Jahrhundert als Argument für den ästhetischen Wert von Kunstwerken herangezogen wird und trotz seiner definitorischen Unterbestimmtheit in Abgrenzung von Gegenbegriffen wie ›Stoff‹ oder ›Inhalt‹ zentrales strategisches Element von Kanonisierungsrhetoriken gewesen ist. Waren ornamentale Strukturen zuvor noch Gegenstand der Kritik gewesen, etabliert sich mit Schiller eine Traditionslinie, die avantgardistische Kunst über die Autonomie des Ornamentalen bestimmt. Patrick Hohlweck wirft im Anschluß einen Blick auf die Gründungsurkunde der Ästhetik bei Alexander Baumgarten, in der die Kategorie der Form ein notwendiges kompensatorisches Element der Theoriebildung ist: Insofern sinnliche Wahrnehmungen, wie sie Gegenstand der Ästhetik sind, im Vergleich mit logischen Verstandesoperationen ungeordnet erscheinen, müssen sie zu individualisierten Singularitäten gebündelt – und das heißt: geformt – werden, wobei diese Individualisierung sowohl die Form des wahrgenommenen Objekts als auch die Formierung des wahrnehmenden Subjekts meint. Baumgartens Suche gilt dabei dem Ausgleich zwischen logischer und ästhetischer Wahrheit, den er im Begriff der »schönen Form«, verstanden als Zusammenfallen von Erkenntnis und Darstellung, realisiert findet. Wenige Jahrzehnte darauf hat sich die Zielrichtung der Theoriebildung bereits diametral verkehrt, wie Peter Neumann zeigt: Bei Kant, Schiller und Schelling ist die Vereinheitlichungstendenz von Form ein Problem, weil sie der mehrdimensionalen Temporalität von Wahrnehmung nicht gerecht wird. Da idealistische Formästhetiken nicht auf das Individuelle, sondern auf das Allgemeine zielen, drohen sie diejenige Geschichtlichkeit und Dynamik des künstlerischen Darstellungsprozesses zu entzeitlichen, die sie beschreiben.

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Torsten Hahn, Nicolas Pethes

Auch auf dem Feld der Musik stellt sich, so Bettina Schlüter, dieses Problem der Zeit immer dann, wenn die architektonische Beschreibung musikalischer Formen in ein Spannungsverhältnis zur prozessualen Ästhetik der Werke tritt: Diese prekäre Relation liefert am Ende des 19. Jahrhunderts Impulse zu einer neuen musiktheoretischen Durchdringung des musikalischen Formbegriffs. Als Spannungsbegriff im Übergang von Formung zu Form, in der sich dieser Transformationsvorgang als Bewegungsqualität erhält, ist er Ergebnis einer Neubestimmung, die nicht nur einem dynamisierten Formverständnis Rechnung trägt, sondern zugleich auch philosophisch-ästhetische Traditionslinien sowie akustisches, physiologisches und psychologisches Wissen zusammenführt. Daß Formdebatten dabei aufgrund ihres Abstraktionsgrads nicht nur hinsichtlich ihrer immanenten Paradoxien in eine Krise geraten, sondern auch mit Blick auf die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst, ist Gegenstand von Jürgen Brokoffs Revision materialistischer Formtheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sahen sich die russischen Formalisten noch dem heteronomieästhetisch begründeten Vorwurf des Nihilismus ausgesetzt, wird Form bei Benjamin und Adorno, aber am anderen Ende des ideologischen Spektrums auch bei Ernst Jünger, als Materialisierung gesellschaftlicher Widersprüche konzipiert, die in ihrer Brüchigkeit auch die vermeintlich stabile Grenze zwischen dem geschlossenen Kunstwerk und der politischen Intervention durch Kunst unterläuft. Die Relation zwischen einem formalistischen und einem kontextualisierten Formbegriff prägt auch Analysen der gegenwärtigen Populärkultur und Warenästhetik, die Heinz Drügh zum einen mit Blick auf die traditionelle Unterscheidung von ›reiner‹ und bloß ›anhängender‹ Form bei Baumgarten und Kant und zum anderen am Beispiel von Ottessa Moshfeghs Roman My Year of Rest and Relaxation (2018) in den Blick nimmt: Formästhetiken sind aus dieser Perspektive auch ein Versuch, die Kunst aus der Sphäre von Kommerz und Funktionalität herauszuhalten – ein Versuch, der spätestens mit dem Aufkommen von Designlehren obsolet wird, so daß es heute möglich ist, auch das vermeintlich Außerästhetische einer funktionalen pulchritudo adhaerens als Spielart ästhetischer Formbildung zu betrachten. Solche Fragen der materiellen Gestaltung berühren auch mediale Formate – im Zeitalter der Digitalisierung insbesondere das Verhältnis von Buch und Bildschirm. Anhand des Vergleichs ihrer jeweiligen Nutzungspraktiken hebt der Beitrag von Matthias Bickenbach als ›Form‹ der Literatur diejenigen para-

Einleitung

textuellen Rahmungen von Texten hervor, die das Lesen nicht zuletzt durch die visuelle und haptische Gestalt des Buchs formiert. Damit ist der Übergang zu Sektion 2 bereits angedeutet, die der Ästhetik, Reflexion und Materialität von Form in der Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart gewidmet ist. Den Einsatz bilden dabei Friedrich Schlegels Konzeption der Arabeske im Rahmen seiner Rezeption von Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Anja Lemke vergleichend analysiert: Die Arabeske spiegelt in ihrer Selbstbezüglichkeit nicht nur die reflexionsphilosophischen Grundlagen des Deutschen Idealismus, sondern auch die Spiegelung von Goethes Roman im Schriftenarchiv der Turmgesellschaft. Dadurch wird die Formbildung des Textes wie des Subjekts, von dem er erzählt, vor dem Hintergrund des offenen Möglichkeitsraums kenntlich, den dieser Reflexionsprozeß eröffnet – und damit in der Weise ornamental potenziert, in der Schlegel in seinen Notizbüchern auch mit den Mitteln der graphischen Gestaltung und mathematischen Formalisierung versucht, die Linearität von Fichtes philosophischem Duktus zu überwinden. Wolfgang Hottner widmet sich im Anschluß Goethes Folgeprojekt Wilhelm Meisters Wanderjahre, anhand dessen sich der Übergang von einem Interesse an statisch-anorganischer Formlosigkeit zur Beobachtung der Dynamik organischer Formwerdung weiter verfolgen läßt: Wilhelms organische Fortentwicklung spiegelt sich auch in der erzählerischen Form des Textes, wenn der nun Montan genannt Jarno nicht mehr, wie noch in den Lehrjahren, fördernd, sondern retardierend, regressiv und also dämonisch wirkt. Dem steht Wilhelms neuer Berufswunsch Wundarzt zu werden, als biopolitisches Programm der Wiederbelebung entgegen, dem im Roman aber nicht nur das Formprinzip der Wiederholung korrespondiert, sondern das von Montan verkörperte anorganische Prinzip als dialektischer Gegenpol und notwendige Voraussetzung für die Erzählbarkeit des Lebens entgegensteht. Das Element der Wiederholung ist gerade aufgrund seiner Lebensnähe ein Problem für die literarische Ästhetik, weil es im Kontext realistischer Prosa als redundantes Element deren formlose Breite und ästhetisch unbefriedigende Beschreibungsexzesse mitzuverantworten scheint. Wie Nicolas Pethes jedoch am diesbezüglich notorischen Beispiel Adalbert Stifters zeigt, sind es eben solche Wiederholungen, durch die es der Prosa des Realismus gelingt, ihre Festlegung auf mimetische Repräsentation zu unterlaufen und die Formbildung von Texten als Einheit der Unterscheidung von Redundanz und Varietät und also als reines Ornament beobachtbar zu machen – und das nicht

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nur auf der Ebene der Semiotik, sondern auch auf derjenigen der visuellen Erscheinungsform von Worten auf der gedruckten Buchseite. Die Konsequenzen dieser Einzelbeobachtung laßen sich an Programm, Gestaltung und Inhalt von Stefan Georges Blättern für die Kunst nachvollziehen, die als äußeres mediales Format das innere Ornament von Dichtung als reiner Formkunst rahmen: Wie Daniela Gretz vorführt, erzeugen die selbstreferentiellen Rückverweise der einzelnen Nummern der Zeitschrift sowiedie Anordnung der Texte eine Aufmerksamkeit für Typographie und Layout, aufgrund derer die Lektüre stockt und die Wortkonstellationen der Gedichte zugleich klanglich und visuell wahrnehmbar werden, so daß ›reine Poesie‹ zwischen Ton- und Bildkunst zu stehen kommt. Georges Zeitschrift wendet sich auf diese Weise aber auch gegen die massenmedialen Erscheinungsformen dieses Mediums – eine Abgrenzung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter virulent bleibt und zur Frage nach dem Einfluß des medialen Formats auf den ästhetischen Gehalt literarischer Texte führt: Am Beispiel von Robert Musil weist Marcus Krause auf den Wechselbezug zwischen der metaphorischen Dichte und narrativen Poetik von Erzähltexten und der physikalischen Dichte und dem Seitenlayout des medialen Formats, in denen sie publiziert werden, hin und leitet daraus den terminologischen Vorschlag ab, nicht nur von der ›Form‹, sondern von der ›Gestalt‹ von Literatur als Ineinander von semiotischer Form, ästhetischem Format und medialer Formation zu sprechen. Visualität und Haptik wird so eine gleichberechtigte Handlungsmacht bei der Rezeption der Texte zugestanden. Die visuelle Dimension der Form läßt sich auch an der Vorstellung der ›Linie‹ verfolgen, die bereits im 18. Jahrhundert als zentrale Metonymie für Schönheit gedient hatte und im 20. Jahrhundert zentrales Gestaltungsmittel des Animationsfilms wird. Wie Charlotte Jaekel zeigt, steht die Schönheitslinie dabei stets im Spannungsfeld zwischen geometrisch-rationalen und lebendig-archaischen Lesarten (Immermann). Insofern Letztere seit dem späten 19. Jahrhundert als ›lebensnäher‹ gelten, stehen sie in ästhetischen Programmen der Zeit im Kontext animistischer Vorstellungen der Beseelung der Dinge (Vischer) und in der frühen Filmtheorie im Zusammenhang mit der Vorstellung bewegter Bilder, die die Fixierung von Linien dynamisch überwinden (Eisenstein), dabei aber die Unmöglichkeit, in der Moderne tatsächlich ein animistisches Weltbild zu restituieren, stets mitreflektieren. Das Spannungsverhältnis zwischen aktiver und passiver Gestaltfindung ist Gegenstand von Armin Schäfers Analyse der poetologischen Reflexion in Prosagedichten von Francis Ponge und Ilse Aichinger, die den Prozeß der

Einleitung

Formbildung in Bildern von Wasser und Schnee oder auch Regen fassen, welche als Kollektivbegriffe für individuelle Ereignisse zugleich das Problem der Wortfindung für formlose, fluide und vielfältige Phänomene verdeutlichen. Hierzu tragen auch visuelle und auditive Effekte der Texte sowie nicht zuletzt der Sprechakt der Negation bei Aichinger bei, der die Texte ebenfalls auf ihr Ungesagtes hin öffnet und durch diese Öffnung der Prosaform auch deren autobiographische Subjektivität auflöst. Den Band beschließt der Beitrag von Torsten Hahn mit einem Blick auf die »Übersetzungsketten« (Bruno Latour), die zwischen immaterieller Bedeutung und Materialität vermitteln: Es geht um den ebenso wunderbaren Umschlag von Büchern in Skulpturen, von dem Texte der jüngeren Gegenwartsliteratur erzählen (Dietmar Dath) oder den sie gleich ausführen (Rafael Horzon). Dies wird vor dem Hintergrund von ästhetischen Verfahren der Pop-Art (Jasper Johns) diskutiert, wobei sich zugleich die Frage nach einer Ästhetik der autonomen Kunst stellt. Mit einer pointierten Bemerkung Niklas Luhmanns zur modernen Kunst (im Sinne ihrer Ausdifferenzierung als autonomes Kommunikationssystem) geht es mithin darum, folgendes zu beantworten: »Was soll das?, das ist die Frage.«24 Mit seiner Betonung der materiellen und medialen Dimension literarischer Formästhetiken ist der vorliegende Band auch als Teil der Eröffnung und theoretischen Grundlegung einer neuen Buchreihe im transcript-Verlag angelegt, die unter dem Titel »Literatur – Medien – Ästhetik« in den nächsten Jahren Arbeiten präsentieren wird, die die Herausforderung einer solchen integralen Perspektive annehmen – der Beobachtung nämlich, daß literarische Texte nicht unabhängig von ihrer buchförmigen Materialisierung existieren und die Wahrnehmung dieser Materialität den Gehalt literarischer Kommunikation begleitet und auf diese Weise das Arrangement asemantischer Elemente als Bedingung textueller Kommunikation kenntlich macht.

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 17), S. 44.

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1. Ästhetiken der Form

Form und Oberfläche als Metapher Probleme und Herausforderungen des literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Form-Begriffs Thomas Hecken

›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ sind in ihrer Gegenüberstellung für geschriebene wie gesprochene Wörter und Sätze traditionell offenkundig Metaphern. Unter den Phonemen liegt nichts, man kann unter ihnen nicht physisch mit Händen graben, mit Maschinen etwas ausheben usf.; und unter den auf der Seite geschriebenen oder gedruckten Graphemen befindet sich bloß Papier (immerhin sind jetzt unter Displays Mikroprozessoren angebracht, das gibt der alten Metapher ganz neuen Halt). Kanonisch ist die ›Tiefe‹ der ›Oberfläche‹ oft vorgezogen worden, Auszeichnungen im Namen des ›Tiefen‹ sind wichtiger Bestandteil von Wertbegründungen und mitunter erfolgreichen Kanonstiftungen gewesen und wirken bis heute. Unter ›Kanonstiftung‹ sollen hier erstens jene Aktivitäten fallen, die bewirken, dass etwas nicht nur allgemein zur Kunst gezählt wird, sondern die auch die Voraussetzungen dafür schaffen oder direkt dazu beitragen, dass etwas in bestimmten, meist staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Organisationen und Einrichtungen (in Schulen, Universitäten, Museen, Akademien, Radio- und TV-Sendern etc.) über einen längeren Zeitraum Unterrichtsgegenstand, Interpretationsanlass, Ausstellungssujet, Featurethema, Aufführungsgrundlage, Objekt von Preisverleihungen etc. ist – und die zweitens manchmal auch bewirken, dass Werke einem (inter)national (oder in kleineren Gemeinschaften) anerkannten Kanon angehören, unabhängig davon, ob diese Werke tatsächlich von vielen Angehörigen der jeweiligen Kultur rezi-

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piert worden sind.1 Zur erfolgreichen Kanonisierung trägt die wertsetzende Unterscheidung von ›oberflächlichem‹ und ›tiefem‹ Werk in den unterschiedlichsten Fällen bei, weil sie auch von nicht akademischen Akteuren genutzt wird. Im Programm zur Tagung »Form. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Theorie«, auf welcher der vorliegende Band beruht, heißt es entsprechend, beim Gegensatz von positiv konnotierter Tiefe und negativ konnotierter Oberfläche handle es sich um eine »Leitdifferenz innerhalb der Ästhetik«. Besonderes Augenmerk legen die Veranstalter darauf, dass die angesprochene Leitdifferenz »sich auch in eine Gegenüberstellung von ›Form‹ und ›Gehalt‹ übersetzen lässt.« Mit solcher Entgegensetzung gehe gewöhnlich eine Wertung bzw. Zuordnung der jeweiligen Artefakte zur Sphäre entweder der freien oder der angewandten Kunst einher, »auf Kosten derjenigen Variante des ästhetischen Diskurses, die um das Konzept der reinen Form zentriert war«, sowie auf Kosten der »Möglichkeit, Ephemeres wie Kunst zu behandeln – Arabesken, Schmuck und Ornamente«.2 Auffällig ist hier, dass bei der angestrebten Hochwertung des ›Oberflächlichen‹ konkrete Beispiele aus der bildenden Kunst bzw. der Handwerkskunst präsentiert werden: »Arabesken, Schmuck und Ornamente«. Mit Blick auf die Literatur haben wir es also mit weiteren Metaphern zu tun, es sei denn, die Buchstaben und ihre Kombinationen werden beim Buchdruck und/oder seiner Rezeption nicht (nur) als Bedeutungsträger oder Zeichen für auszusprechende Laute aufgefasst, sondern als Grapheme wahrgenommen, die auf der Seite bestimmte geometrische oder andere Konfigurationen bilden. Auf diesen nicht metaphorischen Gebrauch des literarischen ›Ornaments‹ und ›Schmucks‹ lässt sich eine bestimmte, häufig vorkommende literaturkritische und -wissenschaftliche Verwendung der Oberflächen-Metapher zumindest mittelbar gut beziehen. ›Oberfläche‹ wird in diesem Fall von einer ›Tiefe‹ abgesetzt, die, wenn eine richtige Interpretation sie erfasst, erst die Bedeutung, den Sinn, die Seele, den Gehalt etc. des Textes entbirgt; mit einer

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Zu den verschiedenen Kanon-Begriffen s. Heydebrand, Renate von: »Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung«, in: dies. (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart/Weimar 1998, S. 612-625. Flyer zur Veranstaltung »Form. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Theorie«, Tagung vom 28.-29. März 2019 an der Universität zu Köln, Veranstalter: Torsten Hahn und Nicolas Pethes.

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Betrachtung von Texten als Arabesken kann das Bemühen um ›tiefe‹ Deutung des verborgenen Gehalts der literarischen Semantik natürlich nichts anfangen. Gegen dieses oft als ›hermeneutisch‹ bezeichnete Vorgehen gibt es bekanntlich seit vielen Jahrzehnten starke Einwände. Teile des New Critiscm, Richtungen wie der Strukturalismus, die Intertextualitätsforschung, der New Historicism, die Dekonstruktion haben sich vom ›Tiefen‹-Anspruch verabschiedet und konzentrieren sich stattdessen auf Analysen, Kontextualisierungen oder Disseminationen der Zeichenfolgen, also nach alter Metaphorik: der Text-›Oberfläche‹. In der Absage an den ›Tiefen-Gehalt‹ kommen diese Richtungen – wenn auch zumeist unter anderer Zielsetzung – mit der ›Oberflächlichkeit‹ der Ornament-Anhänger überein.3 In eine plakative Aussage gebracht, lautet eine entsprechende Anweisung für die Lektürepraxis bei Susan Sontag: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.« Wesentlich schulischer als dieser vielzitierte Aufruf am Ende von »Against Interpretation« klingt eine Forderung auf der Seite zuvor: »Was zunächst vonnöten ist, ist ein verstärktes Interesse für die Form der Kunst.« Weniger akademisch hingegen die direkt folgende Begründung: »Während eine übertriebene Betonung des Inhalts die Arroganz der Interpretation provoziert, ist eine intensivere und umfassendere Beschreibung der Form dazu angetan, diese Arroganz zum Schweigen zu bringen.«4 Mit »Beschreibung der Form« ist bei Sontag aber nicht eine Beschreibung der ornamentalen Anordnung von Buchstaben auf einer begrenzten Fläche gemeint. Es ist offenbar nicht einfach, den nicht metaphorischen Gebrauch von ›Ornament‹, ›Schmuck‹, ›Arabeske‹ mit der gängigen ›Form‹-Diskussion zu verknüpfen. Versuchen wir es darum erst einmal mit ihrer metaphorischen Verwendung.

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Vgl. Spree, Axel: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn u.a. 1995. Sontag, Susan: »Gegen Interpretation« [»Against Interpretation« (1964)], in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M. 1982, S. 11-22, hier S. 22 u. 21.

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Eine Kritik literarischer Oberfläche: gegen den ›glitzernden Schmuck‹ Ein sehr guter Beleg für die These von Torsten Hahn und Nicolas Pethes führt sogar weit vor die ›Gehaltsästhetik‹ Hegels oder Goethes zurück, von der sie im Ankündigungstext als Hauptreferenz der Ornament- und Oberflächengegnerschaft sprechen. Gemeint ist die Kritik an der sophistischen, später der asianischen, noch später der barocken bzw. manieristischen Rede und Dichtung. Diese Kritik operiert nicht zuletzt mit Einschätzungen zum richtigen Einsatz von ›Schmuck‹ und ›Ornamenten‹. Ein wichtiger Ausgangspunkt solcher Kritik ist die Bestimmung von ›Geist‹ bzw. ›Witz‹. Aristoteles gesteht einem Menschen ›Witz‹, ›Geist‹ zu, wenn jener ohne Anstrengung verborgene Ähnlichkeiten ausfindig machen kann; dieser Witz komme nicht zuletzt bei der Findung gelungener Metaphern zur Geltung. Beim führenden Literaturkritiker der deutschen Frühaufklärung, Gottsched, heißt es noch um 1740 kategorisch: Witz »nennen wir« das »Vermögen, die Aehnlichkeiten der Dinge leicht wahrzunehmen«.5 Als Bedingung trefflichen Witzes wird von Aristoteles angeführt – und dann in den folgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden getreulich wiederholt –, dass die Metaphern nicht »zu weit hergeholt« seien. An die Stelle der »Klarheit« soll zwar bei der Metapher momentan das »Ungewöhnliche«, der »Schmuck« treten, immer aber unter der Bedingung, dass sich bei den anderen nie der Eindruck aufdrängt, als forme man den Ausdruck, sondern als rede man natürlich.6 Bei Alexander Pope klingen diese Anforderungen in seinem berühmten »Essay on Criticism« Anfang des 18. Jahrhunderts so: »True Wit is Nature to Advantage drest,/What oft was Thought, but neʼer so well Exprest«.7 Diese »Natur« ist so geordnet, dass sie erkennbar ist – diese »Natur« ist »nackt«, wie Pope sagt, um eben anzufügen, dass der »Witz« sie bekleiden darf, um ihr einen guten, »wahren Ausdruck« zu verschaffen (»But true Expression, like thʼ unchanging Sun,/Clears, and improves whateʼer it shines upon,/It gilds

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Gottsched, Johann Christoph: »Erste Gründe der Gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil)« [1733ff.], in: ders.: Ausgewählte Werke, Fünfter Band, Erster Teil, Berlin u.a. 1983, § 914. Aristoteles: Rhetorik, Paderborn 1959, III. ii. 2-6. Pope, Alexander: An Essay on Criticism [1712], London 1713, Vers 300-301.

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all Objects, but it alters none.«8 ). Verboten ist folglich der falsche, übertriebene Witz, der alles mit zu viel Schmuck und unordentlichen »Ornamenten« überziehe. Mit anderen Worten: ein Witz, der eine ›weibliche‹ Einstellung verrät (»Others for Language all their Care express,/And value Books, as Women Men, for Dress«9 ). Wegen des ausschließlichen Interesses für die »Sprache« (nicht für den »Ausdruck« der »Natur«) komme eine schlechte, »glänzende«, undurchdringliche Oberfläche zustande: And glittʼring Thoughts struck out at evʼry Line;/Pleasʼd with a Work where nothingʼs just or fit;/One glaring Chaos and wild Heap of Wit./Poets, like Painters, thus, unskillʼd to trace/The naked Nature and the living Grace,/With Gold and Jewels cover evʼry Part,/And hide with Ornaments their Want of Art.10 Der Mangel an »Kunst« und »Natur« zugleich wird von Pope noch genauer beschrieben: Das Falsche sorgt nicht nur für »Chaos«, weil es das Wahre verfehlt, es zeichnet sich auch negativ dadurch aus, dass es kaum oder gar kein Ende findet und – unbegrenzt durch die natürliche Ordnung – sich in immer weiteren Ausschmückungen ergeht: Words are like Leaves; and where they most abound,/Much Fruit of Sense beneath is rarely found./False Eloquence, like the Prismatic Glass,/Its gaudy Colours spreads on evʼry place;/The Face of Nature we no more survey,/All glares alike, without Distinction gay.11 Das ›Zu-weit-Hergeholte‹, die derart fehlgeleitete Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu entdecken, macht sich nach Ansicht Popes dadurch bemerkbar, immer weitere Ähnlichkeiten in Form sprachlichen Schmucks (»Gold and Jewels«), »glänzender Concetti« (»glittʼring Thoughts«), dichterischer »Ornamente« auszubreiten. Die Oberfläche wird deshalb immer größer, findet potenziell keinen Rahmen mehr. Der Gehalt, der Sinn liegt so in einer Tiefe, die durch die Oberfläche falscher, bloß schmückender Sprachornamente großflächig verdeckt wird (»Gold and Jewels cover evʼry Part«); das Augenmerk auf die Form, auf den »Stil« dominiere bei diesem übertriebenen Witz vollständig: »Their praise is still – The Style is excellent:/The Sense, they humbly take upon Content.«12 8 9 10 11 12

Ebd., Vers 318-320. Ebd., Vers 308-309. Ebd., Vers 293-299. Ebd., Vers 312-317. Ebd., Vers 310f.

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Das Ornamentale wird dadurch in einer Hinsicht seiner im literarischen, poetologischen Zusammenhang üblichen Metaphorik entkleidet. Zwar fungiert bei Popes Gebrauch »Ornament« weiterhin als Metapher, die beim (schlechten) Gedicht jenen ›Schmuck‹, der die ›wahre Natur‹ verdeckt, anzeigt; »Ornament« verliert aber dennoch ein wenig von seinem metaphorischen Charakter, weil es die Potenz des (schlechten) Witzes, immer weitere, auch und gerade abgelegene Ähnlichkeiten zu entdecken und Analogien zu stiften, in seiner großflächigen Weise nachweist. Diese Bedeckung einer großen Fläche ist ja der Sprache gegeben, wenn sie mit ihren Graphemen – hier hauptsächlich mit Wörtern, die im Zusammenhang des Textes als Metaphern, als Concetti kenntlich werden – die Buchseite übersät (wie Popes Gedicht selbstwidersprüchlich mit seiner eigenen Metaphernfülle belegt). An diese Bedeckung kann wiederum die Metaphorik von ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ anschließen; zwar bedecken die ›blätterartig wuchernden‹ Grapheme nichts außer Teile einer Manuskript- oder Buchseite, metaphorisch gesprochen handelt es sich jedoch um eine ›opake Oberfläche‹, die wegen ihrer Konzentration auf den sprachlich-witzigen Stil das »Gesicht der Natur« bzw. die »nackte Natur« verschwinden lässt. Obwohl »nackt«, bildet die »Natur« darum den ›tiefen‹ Gegensatz zur ›ornamentalen Oberfläche‹. Solche Kritik an sprachlicher Form mithilfe der Metaphorik von ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ kann selbstverständlich auch vorgetragen werden, wenn das, was in der ›Tiefe‹ liegt, nicht an die übersichtliche Ordnung der Natur gebunden wird, sondern an weitere Essenzen, an unhintergehbare Werte oder an Vermögen der Urteilskraft. Kant etwa sieht das »Verähnlichungsvermögen« Witz als »erfinderisch in Moden« an. Das ist kein Kompliment; es steht in Beziehung zu der alten Abwertung des Witzes: »Der Witz geht mehr nach der Brühe, die Urteilskraft nach der Nahrung.«13 Seinerseits witzig, findet Kant auf diese Art und Weise kulinarische Metaphern für die (hochgewertete) ›Tiefe‹ und die (abgewertete) ›Oberfläche‹.

Form: für Idealisierkunst Das Urteil wider den ›ornamentalen‹, ›wuchernden‹, ›bloß schmückenden‹ Stil muss nicht gleichbedeutend mit einer Abwertung der Konzentration auf die Form schlechthin sein. Um dies zu zeigen, kann weiter Kants Konzeption 13

Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], Hamburg 1980, S. 140f.

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angeführt werden. Kant lässt z.B. äußerliche Zutaten, »Zieraten«, bei »Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude« positiv gelten, sie alle verbucht er auf der Seite der »Form«. Die »Zieraten« vergrößerten das »Wohlgefallen des Geschmacks« durch ihre »Form«, nicht durch ihren »Reiz«. Dinge wie den goldenen Rahmen schlägt Kant aber nicht zu den »Zieraten« und nennt sie darum mit negativer Bedeutung »Schmuck«: »Schmuck […] tut der echten Schönheit Abbruch« (ebd.). Der goldene Rahmen sei bloß auf den »Reiz« hin ausgerichtet.14 Kant sieht bekanntlich die ästhetische Freiheit nicht ganz ohne Einschränkung gegeben. Ästhetisch kann seiner Anschauung nach nur derjenige urteilen, der nicht zu stark Reizen und Rührungen ausgesetzt ist. Äußerst Reizvolles kann folglich nicht als schön beurteilt werden, deshalb gehören bestimmte Sujets und Präsentationsweisen aus dem Reich des Ästhetischen kategorisch ausgeschlossen. Schon bei Wiesen und Gärten, die »von Natur gar zu viel Reiz haben«, hat Kant Bedenken (mit der heute einleuchtenderen Klimax »Wiesen, Gärten, Wollust selbst«). Wenn man aber über solche Gegenstände »noch mehr Reiz« verbreiten will, bleibt für Kant endgültig ein unästhetischer Eindruck zurück.15 Dies hat weitreichende Folgen. So bestimmt Kant etwa, dass in der Malerei die Zeichnung die Grundlage für die ästhetische Wertung sein müsse, nicht die Farben; die Farben gehören für ihn »zum Reiz«, deshalb dürfen sie nicht den »eigentlichen Gegenstand« des »interesselosen« Geschmacksurteils bilden.16 Verlässt man Kants zumindest teilweise harmlos klingende Beispiele wirksamer Reize – die Wiesen und Gärten –, wird mit einer langen idealistischen Tradition daraus das Verbot oder zumindest die Abneigung, tagesaktuelle, politische, schockierende, eklige, aufreizende, sexuelle, kitschige, ›süße‹ oder vulgäre Gegenstände und Meinungen darzustellen. All das ist für Kant und seine Nachfolger keineswegs ästhetisch wahrnehmbar – schon gar nicht, wenn es deutlich oder verwirrend eindringlich gezeigt wird. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, selbst prekäre Sujets zu verwenden. Kant spricht davon, Reizendes mit »noch mehr Reiz« zu versehen, im Umkehrschluss darf man wahrscheinlich eine gegenteilige Methode, eigentlich

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Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790], Frankfurt a.M. 1974, S. 142. Kant, Immanuel: »Aus einer Logikvorlesung«, in: Jens Kulenkampff (Hg.): Materialien zu Kants »Kritik der Urteilskraft«, Frankfurt a.M. 1974, S. 101-112, hier S. 112. Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 14), S. 141.

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Reizendes reizloser zu gestalten, annehmen. Aus der Annahme wird Gewissheit, wenn man sich dem Kantianer Friedrich Schiller zuwendet. In Schillers Worten besteht diese Operation darin, den »Stoff« durch die »Form« zu vertilgen.17 Schiller merkt gemäß diesem Prinzip in einer Rezension zu Gottfried August Bürgers Gedichten an, dass Bürger Leser mit »verfeinertem Kunstsinn« verfehle, er treffe ausschließlich jene, die »nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern.« Schiller vermisst bei Bürger die »Idealisierkunst«, er wirft seinen Gedichten vor, einen »zu sinnlichen, oft gemein-sinnlichen Charakter« zu tragen; sie böten nie »die Schönheit der Form«, sondern nur »Materie«. Die Schönheit der Form sieht Schiller auch insofern verletzt, als die Gedichte kein einigendes Band aufwiesen: Bürger verwechsle Idealisierung mit einem »Mosaik«, einem »Zusammenwurf von Bildern«, den er aus vielen einzelnen »Reiz[en]« zusammenstelle.18 Hier kann man – ohne dass der Begriff bei Kant und Schiller fiele – wieder das Konzept des ›Oberflächlichen‹ ins Spiel bringen. Solch eine Oberfläche bestünde bei Kant aus reizvollen, recht amorph aufgetragenen Farben, bei Schiller aus einem bunten Mosaik an Einzelreizen, die in ihrer effektvollen, partikularen, unverbundenen Beschaffenheit beim gemeinen Betrachter große sinnliche Wirkungen erzeugten. Für Abhilfe sorgen müsse darum eine Formgebung, eine »Idealisierkunst«, die solche reizvoll-bunten MosaikOberflächen nachhaltig ihrer Materialität entkleide. Dieses allgemeine Idealisierungsgebot findet sich bei Schiller nicht allein in der Rezension zu Bürgers Liedern, sondern auch an zentraler Stelle von »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Dort heißt es höchst entschieden: [J]e imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto

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Schiller, Friedrich: »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« [1795], in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe, Band 20, Weimar 1962, S. 309-412, hier S. 382. Schiller, Friedrich: »Über Bürgers Gedichte« [1791], in: ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe Band 22, Weimar 1958, S. 245-264, hier S. 253f.

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triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.19 Denkt man das weiter, wäre es keineswegs ausgeschlossen, genau jenen manieristisch gehäuften Witz, den Pope kritisiert, als Teil solcher »Herrschaft«, die den kruden Stoff bezwingt, anzusehen. Avantgardistischer gefasst, werden in den modernistisch-formalistischen Kant-Variationen dann auch tatsächlich Texte, welche die referentielle Funktion der Sprache und konventionelle Verständigung durchkreuzen, zum entscheidenden Merkmal künstlerischer Verfahren erklärt. In der oft zitierten Passage aus Viktor Šklovskijs »Kunst als Verfahren« wird das »Verfahren der Kunst« als »Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form« bestimmt, als ein Verfahren, »das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.«20 Beim Idealisierungs- und Verfremdungsgebot fällt die Kanon-Bilanz einfach: Als Maxime, die von bestimmungsmächtigen Personen und Organisationen angeführt wird, weshalb etwas in den Kanon gehöre, ist sowohl die Schiller’sche als auch die modern-avantgardistische Version sehr häufig zum Einsatz gekommen. Sie eignen sich beide sowohl zur Auszeichnung bestimmter Werke als auch zur grundsätzlichen Angabe, ob etwas überhaupt zur Kunst zählt oder über ›Literarizität‹ verfügt. Zu ihrem Erfolg trägt nicht zuletzt bei, dass ihre Parameter auch von Personen und Organisationen verwandt werden können, die andere Werke kanonisieren möchten, als dies z.B. Schiller selbst oder die Formalisten wahrscheinlich getan hätten. Ihren allgemeinen Ausdruck finden sie in der Aufforderung, man solle doch (stärker) vom ›Inhalt‹ des literarischen Werks absehen und (vor allem) auf die ›Form‹ achten. Um nur ein Beispiel von vielen tausenden Bestrebungen, den positiven Wertungsakzent auf eine spezifische ›Form‹ zu legen, zu zitieren: Albrecht Schöne etwa schätzt Brechts politische Lyrik, weil die auf »politische Wirkung zielenden Energien« bei Brecht ein »Kunstgebilde« hervorgebracht hätten, »in dessen den Hervorbringungszweck überdauernder Form sie aufgeho-

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Schiller: »Ueber die ästhetische Erziehung« (Anm. 17), S. 382 . Šklovskij, Viktor: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, München 1969, S. 4-35, hier S. 15.

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ben sind«.21 Es bleibt natürlich immer die Frage, welche »Form« gemeint sei. Schöne spricht von »überdauernder Form«, das hilft direkt noch nicht weiter, sondern ist wohl nur eine unwillkürliche Bestätigung bzw. Überhöhung der Annahme, die »Form« sei bedeutend, nicht der ›Inhalt‹.

»Form«? Was bedeutet aber »Form«? Bei Schiller heißt manchmal der Widerpart »Stoff« (im Sinne von ›Material‹), vielleicht sorgt das für Klarheit. Was ist dann aber bei sprachlichen Äußerungen Stoff? Einzelne Wörter? Oder viele Wörter ohne erkennbaren Bezug? Form dann deren Bearbeitung davon? Offenkundig kann Schiller das nicht gemeint haben, denn dann wären ja auch die Gedichte Bürgers, die er so scharf angreift, hochgradig geformt. Das Problem besteht bei Schiller darin, dass literarische »Form« bei ihm eine Metapher darstellt, die auf nicht recht greifbare Weise andeutet, dass bestimmte literarische Passagen um ihre aufreizende Wirkung gebracht werden (sollen). Das Reizvolle wird dabei als »Stoff«, als »Materie« bestimmt, als sei das sprachlich (unkünstlerisch) Reizende noch ›rohe Natur‹. Wie steht es um den metaphorischen Anteil oder Gehalt weiterer ›Form‹Konzeptionen? Blickt man auf andere Kunstgattungen, handelt es sich bei der Skulptur aus Tonmasse offenkundig nicht um eine Metapher, wenn man davon spricht, dass der Künstler den Ton formt. Zwar wird auch hier keineswegs der »Stoff« durch die »Form« »vertilgt«, aber es liegt doch ein Ausgangs- bzw. Arbeitsmaterial vor, dem der ›Künstler‹ (sei es nun ein anerkannter Galeriekünstler oder ein Schulkind) eine feste Form beibringt. Gleiches gilt für die Skulptur aus Stein, selbst falls die Skulptur ›bereits im Material steckte‹ und bloß entborgen werden musste, wie es mitunter forciert kunstmythologisch oder aristotelisch-hylemorphistisch heißt. Die Präsentation eines außerhalb einer Galerie- oder Museumsausstellung gefundenen Steins in einer Kunstinstitution erfüllt den Anspruch solcher Form, solcher Materialbearbeitung freilich nicht. Wie ist es nun um den metaphorischen Anteil oder Gehalt literaturtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Konzeptionen bestellt? Was wäre das Material der Literatur, das durch die künstlerische Bearbeitung eine Form 21

Schöne, Albrecht: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert [1965], 3. Aufl., Göttingen 1972, S. 53.

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bekäme? Sind es die Wörter? Viele von ihnen erfahren durch Konjugation oder Deklination eine Veränderung; diese grammatikalische Pflichtübung wird aber wohl niemand als künstlerische Formgebung bezeichnen wollen. Sind es die Wörter im Sinne aller Einträge aus den Wörter-, Fachsprachenund Slangbüchern? Sie stellen kein Material dar, weil sie sich im (literarischen) Text nicht verändern (wenn man von der bereits diskutierten Flexion und von Änderungen beim Layout oder der Diktion absieht), sie stehen dort ›nur‹ in einem jeweils anderen textuellen Zusammenhang. Dadurch ändert sich mitunter ihre Bedeutung stark, nie aber ihre einzelne, sinnliche wahrnehmbare Form. Ein Topos, eine Sage, eine Zeitungsmeldung oder ein anderer bereits vorliegender Text sollten auch nicht als eine Art literarische ›Tonmasse‹ aufgefasst werden, weil sie bereits stark geformt vorliegen und lediglich in eine andere Form gebracht werden können. Ein Stichwort bzw. literarisches Motiv (z.B. ›feindliche Brüder‹) hingegen kann nicht als literarisches Material dienen, weil es – anders als die Tonmasse oder der Steinblock – über zu wenig Stoff verfügt, um aus ihm ein Kunstobjekt zu formen. Zum Hexameter, Hirtengedicht, lyrischen Ich, naturalistischen Drama, zur literarischen Reportage, Satire, Heterodiegese, Rahmenhandlung usf. tragen die Formgebungen der Wörter (im Sinne ihrer jeweiligen Anordnung zu einem Text) auch nicht entscheidend bei, weil darüber Akzentsetzungen und/oder Wirklichkeitsverständnis, Paratexte, Klassifikationsvorgaben verfügen. Bezeichnet man z.B. den Roman als ›Form‹ und definiert den Roman u.a. wie üblich als einen fiktionalen Text, müsste Fiktionalität (stets) an der Romanform erkennbar sein; dies ist aber nicht der Fall. Akzeptiert man diese Einschätzungen, bestünde ›Formgebung‹ darin, Sätze oder Ellipsen zu bilden. ›Form‹ wäre für die Literatur eine Metapher, die das Ergebnis eines Selektionsprozesses bezeichnete, der in der Auswahl von Wörtern aus dem Wörterbuch oder aus den aus ihm zu bildenden Paradigmata bestünde, um dann diese aus dem ›Materialfundus‹ genommenen Wörter an einer bestimmten Stelle im Syntagma zu platzieren. Es ist nicht klar, was für analytische Erträge dieser ›Form‹-Begriff erbringen könnte, außer der grundsätzlichen Erkenntnis, dass Literatur aus Wörtern besteht, nicht aus Gefühlen, Stimmungen und dreidimensionalen Objekten. Vielleicht helfen Kants Bestimmungen weiter. Was wäre bei ihm »Form« mit Blick auf die Literatur? Sein Beispiel mit dem Gemälderahmen sorgt nicht für Abhilfe, eine Analogie zur Literatur drängt sich nicht auf. In einem ebenfalls bereits angeführten anderen Absatz postuliert Kant, dass in der Malerei

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die »Zeichnung« Grundlage für die ästhetische Wertung sein müsse, nicht die »Farben«; die Farben gehören für ihn »zum Reiz«, deshalb dürfen sie nicht den »eigentlichen Gegenstand« des »interesselosen« Geschmacksurteils bilden; die Zeichnung hingegen sei das »Wesentliche« – das, »was durch seine Form gefällt«. Auch hier kann kein überzeugender Übertrag von Zeichnung, Figur, Kontur, Gestalt zu literarischer Form gebildet werden. Vielleicht sind aber Kants entsprechende Überlegungen zur Musik nützlich, um Aufschluss über die »Form« in literarischen Werken zu erlangen. In der Musik bleibt nach Kant der Unterschied von »Komposition« (»Form«) und »angenehme[n] Töne[n]« (»Reiz«) zu konstatieren.22 Hier ist der Übertrag auf die Literatur leichter zu vollziehen: demnach wäre ein gesprochener literarischer Text nicht nach dem Wohlklang einzelner Laute zu beurteilen. Wonach aber dann, nach welcher der »Komposition« verwandter »Form«, bliebe vollkommen offen, darum bringt diese Analogie einen ebenfalls nicht weiter. Man ahnt es vielleicht schon deshalb, weil Formalisten bestimmte Klangkonstellationen in Gedichten, Werbesprüchen etc. gerade zur »poetischen Funktion« zählen. Unabhängig davon drängt sich im Ausgang der Musik bei Kant kein Weg zur Literatur auf: Eine literarische Analogie zur »Komposition« ist nicht ersichtlich (Wörter sind nicht wie Töne festgelegte Elemente eines Notationssystems, ein literarisches Werk keine Notation), die literarische »Form« kommt darum auch bei Kant nicht einmal indirekt in den Blick. Anders in der Tradition des Form-Begriffs, hier wird mitunter durch die Hervorhebung des Lautlichen zumindest ein Bezug zur Musik möglich; eine zweite Facette des Gebrauchs von ›Form‹ (neben der Unterscheidung von Form und Material bzw. Stoff) ist seit den Sophisten die Absetzung von ›Bedeutung‹, von ›Inhalt‹; ›Form‹ steht hier für das den Sinnen unmittelbar Gegebene, in der Literatur also für den Laut und den Rhythmus.23 Diese Variante hat aber auch Schiller nicht im Blick. Weniger stark gilt das für die dritte traditionelle, seit den Pythagoreern geläufige Variante: die den Teilen entgegengesetzte, harmonische, ganze ›Form‹.24 Diese Variante schwingt immerhin bei der Kritik Schillers an dem »Zusammenwurf von Bildern«, am »Mosaik«

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Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 14), S. 141. Vgl. Tatarkiewicz, Wladyslaw: Geschichte der sechs Begriffe: Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, ästhetisches Erlebnis [polnisches Original 1976], Frankfurt a.M. 2003, S. 330ff. Ebd., S. 320ff.

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aus einzelnen »Reiz[en]« deutlich mit, kaum oder gar nicht aber bei der von ihm angestrebten ›Vertilgung‹ des »Stoffs« durch die »Form«. Bliebe also ›Form‹ im Sinne der »Idealisierkunst« bzw. des ›ReizloserMachens‹. Dies wäre eine spezifische Maßnahme, über bestimmte Sujets, Themen, Gehalte so zu schreiben, dass sie den Leser (den Durchschnittsleser, den leicht verführbaren oder den professionellen Leser?) nicht erregten. Dies hieße aber wie gesagt im Umkehrschluss, dass Schriften, die wegen bestimmter Sujets erregten, über keine »Form« verfügten. Auch dies klingt nicht nach einer sinnvollen Aussage (mit »Form« ist bei Schiller ja nicht gemeint, anstößige durch weniger vulgäre Wörter zu ersetzen oder bestimmte intime oder schockierende Wirklichkeitsbereiche einfach auszusparen). Hier wäre es darum angemessen, von einer Bevorzugung der einen ›Form‹ gegenüber der anderen zu sprechen, handele es sich nun z.B. um die ›glitzernde Oberfläche‹ der Metaphernfolgen oder eine angeblich tiefere Schlichtheit des Ausdrucks, handle es sich um eine erregende oder beruhigende ›Form‹. Wie sieht es aber mit einer einfacheren, weniger voraussetzungsreichen Rede von der ›Form‹ aus, die in allen bisher genannten Ansätzen implizit enthalten ist bzw. Bezugspunkte zu ihnen aufweist? Dies ist die Rede von der ›Form‹, wie sie oft von Germanistik-Dozenten oder Deutschlehrern zu hören ist. Bei ihr geht es nicht immer nur darum, eine bestimmte ›Form‹ als kunst- oder kanonfähig auszuzeichnen, sondern auch (und manchmal sogar allein) darum, bestimmte Aussagen über Texte einzufordern: ›Sagen Sie doch einmal etwas zur Form, nicht nur zum Inhalt.‹ Verboten oder eingeschränkt werden soll damit, bloß detailarme, abstrakte Zusammenfassungen von einzelnen literarischen Handlungen, Handlungszusammenhängen, Dialogen, Monologen und agierenden oder reflektierenden Protagonisten etc. zu liefern.25 Dies ist insofern paradox, als ein traditioneller vierter Begriffsgebrauch ›Form‹ auszeichnet, um sie vom Akzidentellen zu trennen.26 Die detailarme, abstrakte Zusammenfassung eines Gedichts, Romans, Dramas liefert genau

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In einem aktuellen Sammelband bilanzieren die Herausgeber, »Form« stünde »philologisch hoch im Kurs«, »Inhalt« hingegen sei dort beinahe ein »Unwort« mit den »Konnotationen des Vorwissenschaftlichen, Unterkomplexen, Sekundären oder auch Anti-Ästhetischen«. Alder, Daniel/Christen, Markus/Hauser, Jeannine/Steier, Christoph: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Inhalt. Perspektiven einer categoria non grata im philologischen Diskurs, Würzburg 2015, S. 7-8, hier S. 7. Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe (Anm. 23), S. 341ff.

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das. Nicht widersprüchlich ist es aber, wenn man die zwei anderen, gängigeren Bedeutungen von ›Form‹ zugrunde legt: Es sollen demnach mehr oder ausschließlich jene ›Formen‹ in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden, die das Ganze oder das sinnlich Gegebene betreffen, also Anordnungen der Teile, Lautfolgen oder ähnliche Formentscheidungen. Für die Kanonstiftung erweist sich dieser Imperativ prinzipiell als leitend: Als kanonwürdig gilt bislang oftmals nicht, was sich (nur) durch ein als wichtig erkanntes Sujet auszeichnet: Es reiche nicht für eine Prämierung aus, wenn sich ein Text grundsätzlich als literarisch ausweist, indem er sich etwa vom journalistischen und wissenschaftlichen Text in anderer Hinsicht als dem des Sujets unterscheidet. Unter solchen literarischen Texten, die also alle über eine spezifische nicht journalistische und nicht wissenschaftliche ›Form‹ verfügen, gebühre nicht denen die Auszeichnung, die (nur) über ein bemerkenswertes Sujet verfügten. Eine besondere ›Form‹ stifte erst jene Differenz, die kaum erwähnenswerte von kanonisierungswerten literarischen Texten trenne. Dies kann die Reimkunst betreffen, aber auch das Lautgedicht, den Roman, das Drama, die Kurzgeschichte, aber auch (oder gerade) originelle Mischformen und Abwandlungen. Das klingt sehr plausibel, vor allem mit Blick auf die Unterrichtspraxis. Dennoch ist diese Aussage nicht vollkommen stimmig. Um dies zu belegen, soll erneut das Gegensatzpaar ›Form/Stoff‹ herangezogen werden. Wie bereits ausgeführt, gibt es ein großes Problem, dieses Gegensatzpaar ›Form/Stoff (Material)‹ für die Literatur fruchtbar zu machen, so sinnvoll es z.B. für die Bildhauerei auch sein mag. Es kann nun aber wenigstens dazu dienen, die Probleme der Unterscheidung ›Form/Inhalt‹ deutlich zu machen. Setzte man nämlich ›Inhalt‹ mit ›Stoff‹ gleich, bliebe das Problem natürlich erhalten. Bestünde ›Inhalt‹ also in einer bloßen Angabe der Art ›feindliche Brüder‹, gäbe es schlicht nichts oder kaum etwas, was es zu formen gälte, es fehlte schlicht an Material. Wäre mit ›Inhalt‹ aber ein längerer Text gemeint, besäße dieser bereits eine ›Form‹, es müsste also eine ›Umformung‹ stattfinden (und von ›Material‹ im Sinne eines Gegensatzes zur ›Form‹ könnte man nicht mehr reden). Folgerichtig kann auch nicht behauptet werden, dass bei zwei oder mehr Texten der ›Inhalt‹ identisch sei, die ›Form‹ aber verschieden. Dies träfe nur zu, falls ›Inhalt‹ gleichbedeutend mit ›Stoff‹ wäre. So ändert sich aber bereits mit jeder Paraphrase in der Literatur (und nicht nur in ihr) beides, ›Form‹ und ›Inhalt‹, zumindest auf minimale Weise. In der Literaturkritik und in den Philologien hat man denn auch oft darauf hingewiesen, dass man (im

Form und Oberfläche als Metapher

Gegensatz zu ›Form‹ und ›Material‹) ›Form‹ und ›Inhalt‹ nur heuristisch zu analytischen Zwecken, nicht aber im jeweiligen Text separieren könne. »Inhalt ist die identische Kehrseite der Form und wird anders als der Stoff von der Gestaltung nicht ›vertilgt‹«, wie zuletzt der Literaturwissenschaftler Lothar Pikulik unter Anspielung auf Schiller festgehalten hat.27 Ist dies aber die Voraussetzung, muss auch jede Äußerung über einen Text, die zumindest minimale Paraphrase-Elemente oder gar Zitate enthält, zugleich ›Inhalt‹ und ›Form‹ betreffen. Mit der Aufforderung, etwas zur ›Form‹ zu sagen, wird also recht besehen lediglich bzw. genau das Verlangen ausgedrückt, jemand solle bestimmte, hoch abstrakte Termini verwenden: Sonett, homodiegetisches Erzählen, bürgerliches Trauerspiel, offenes Ende, stream of consciousness etc. Mit vielen solcher Begriffen wird aber nicht nur die ›Form‹ angezeigt, sondern zugleich etwas vom Inhalt: Dass das Gedicht (Sonett) aufgrund seiner begrenzten Verszahl wenig Gedanken, Personen, Gefühle, Handlungen etc. aufweisen wird, dass in der Erzählung mindestens eine menschliche Figur auftaucht (homodiegetisch), die Tragödie eine bestimmte Schicht ereilt (bürgerliches Trauerspiel), eine Handlung oder andere Entwicklung keinen Abschluss erfährt (offenes Ende), in der Erzählung mindestens eine Figur eher ungeordnete Gedanken hat (stream of consciousness). Jemanden zu bezichtigen, er sei ›oberflächlich‹, weil er beim Gespräch über Literatur nur darüber rede, dass Protagonist Martin dieses und jenes tue, Protagonistin Susanne eigentümliche Ansichten vorbringe, Elisabeth viel nachdenke, Vers 10 unverständlich sei, Akt 5 kürzer als Akt 4 ausfalle, wäre demnach falsch und irreführend, weil es gar keine ›Tiefe‹ der ›Form‹ gäbe, sondern nur diese oder jene Äußerung zu einem Text, abstraktere und weniger abstrakte, zitierende oder freie, umgangssprachlich oder fachsprachlich formulierte; sehr viele von ihnen würden zudem ›Inhalt‹ und ›Form‹ zugleich betreffen. Darum ist es auch hier der Bezug zum Kanon bzw. der Wille zur Kanonstiftung, welcher der An- und Aufforderung, doch nicht nur über ›Inhalte‹, 27

Pikulik, Lothar: Stoff und Form als Begriffe der Ästhetik. Am Beispiel von Drama und Theater, Paderborn 2010, S. 9. – Wie sofort zu sehen, hält es Pikulik im Gegensatz zum hier vertretenen Ansatz nach wie vor für sinnvoll, in der Literatur an der Unterscheidung ›Form/Stoff‹ festzuhalten. Unter literarischem Stoff versteht er die »Sprache«, auch »Thema« und »Sujet«, ferner die »geschichtlichen und mythischen Stoffe«; zudem gilt für ihn, »dass fertige Form bereits wieder zum Stoff werden kann, wenn sie Vorlage für eine originäre Neubearbeitung wird.« (Ebd., S. 29f.)

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sondern über die ›Form‹ zu sprechen, Gehalt und Halt gibt. Stützend wirkt sich dabei die Überzeugung aus, dass es für viele schwieriger sei, abstrakte Fachtermini zu benutzen, als etwas ausschnittsweise nachzuerzählen. Diese wahrscheinlich richtige Einschätzung (empirische Untersuchungen dazu liegen nicht vor) verwandelt sich aber zum Zwecke der (bislang oft erfolgreichen) Kanonstiftung mitunter in die ganz anders geartete Wertsetzung, Texte, die sich nicht leicht lesen oder nacherzählen ließen, seien besser als andere. Das wiederum lässt sich auf durchaus vielfältige Weise mit der Metapher der ›Oberfläche‹ verbinden: Die einen nennen ›oberflächlich‹ jene Texte, die für sie ›seicht‹ erscheinen, weil sie für eine bestimmte, oft ›populär‹ genannte Leserschicht rasch zu lesen und von ihr leicht nacherzählbar sind. Dies prägt zweifelsohne die Mehrzahl der Einlassungen, die mit der ›Oberflächlichkeit‹Metapher operieren. Andere aber können die Metapher des ›Oberflächlichen‹ auch für Texte verwenden, die manieriert sind – eine ›Häufung von Blättern‹, welche die ›wahre Natur‹ verdeckt (um mit Pope zu sprechen) – und deshalb langsamer zu lesen und vielleicht auch schwerer nachzuerzählen sind.

Schluss Literaturwissenschaftler, die an der Kanonstiftung nicht offensiv mitwirken wollen, sollten von der Verwendung der Metaphern ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ Abstand nehmen oder diese Metaphern höchst vorsichtig einsetzen. Dasselbe gilt sogar für den Begriff der ›Form‹. Auch hier legt die bisherige Geschichte des Begriffsgebrauchs Vorsicht nahe, denn ›Form‹ wurde und wird oft gesagt, wenn tatsächlich bloß eine bestimmte ›Form‹ ausgezeichnet werden soll. Wenn man dies tun möchte, sollte man es auch sagen und folglich auf die unspezifische Angabe ›Form‹ verzichten. Mehr noch: Wenn die Behauptungen richtig sein sollten, dass das Gegensatzpaar ›Form/Material‹ bei der Rede über Texte verzichtbar und missverständlich ist und man in Satzfolgen ›Form‹ nicht rein vom ›Inhalt‹ (im Unterschied zu Lautfolge von Bedeutung) trennen könne, dann kann das ›Oberflächliche‹ auch eine neue, zumindest eine besondere, unmetaphorische Bedeutung gewinnen. Von ›Form‹ könnte dann bei Texten unproblematisch im Sinne der Kontur gesprochen werden, wenn die Gestaltung eines Textes auf der Manuskript- oder Buchseite oder einem Display gemeint wäre, die Leerzeilen, Zeilenlängen, Zeilenabstände, Schriftgrößen, Textsegmentierun-

Form und Oberfläche als Metapher

gen etc.,28 ihre ornamentale oder andere Form. Tiefe gäbe es dann nicht, sondern nur grafische Formen auf einer Fläche. Bestimmungen der ›Tiefe‹ im metaphorischen Sinn blieben aber wie in jedem anderen Fall stets möglich: Wer möchte, kann natürlich auch in solchen Formen den Ausdruck psychischer Dispositionen, ökonomischer Lagen, politischer Ideologien, religiöser Überzeugungen, göttlichen Wirkens, natürlicher Ordnung etc. vermuten oder vermeintlich sicher erkennen. ›Opake Oberflächen‹, ›reine Formen‹ könnte nur ein äußerst erfolgreicher Erziehungsstaat kommunikativ garantieren.

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Vgl. Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart/Weimar 2001, S. 27.

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Das Verfahren der Form bei Baumgarten Patrick Hohlweck

I. Am Anfang von Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes von 1735, an deren Ende der Vorschlag einer »ἐπιστήμη αἰσϑητιχῆ « bzw. »ÄSTHETIK«1 steht, wird der Einsatzbereich seiner Schrift geklärt: »VORSTELLUNGEN, die durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben sind, sollen SENSITIV heißen.«2 Dieser Komplex der sensitiven oder sinnlichen Erkenntnis ist es, der einmal Gegenstand der Ästhetik werden soll; einer philosophischen Disziplin, die über den Komplex reiner Sinneswahrnehmung hinaus mit der »Gesamtheit der Vorstellungen, die unter der Deutlichkeit verbleiben«,3 betraut ist. Die hiermit implizierte Rasterung der Erkenntnisstufen und -qualitäten ist bekanntermaßen Leibniz-Wolffscher Provenienz. Leibniz’ Intervention gegenüber Descartes sah zunächst eine kontinuierliche Gradation der Erkenntnisgrade vor, die zugleich einer je zweiwertigen Logik folgen: Eine Erkenntnis ist entweder dunkel oder klar und die klare Erkenntnis wiederum entweder verworren oder deutlich, die deutliche aber entweder inadaequat oder adaequat und gleichfalls entweder symbolisch oder intuitiv; wenn aber die Erkenntnis zugleich adaequat und intuitiv ist, so ist sie am vollkommensten.4 1

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Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Lat./dt., übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, § 116. Ebd., § 3. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik, 2 Bde., Lat./dt., übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, § 17. Leibniz, Gottfried Wilhelm: »Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis/Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen«, in: ders.: Philosophische Schrif-

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Die Verschiedenheit der Erkenntnisgrade ist jedoch aufgefangen durch die gemeinsame Einbindung aller möglichen Erkenntnismodi in die prästabilierte Harmonie, die die fortwährende Synchronisierung aller individualisierten Substanzen mit der Ordnung des Seins gewährleistet. Wenn auch die höchste Form der Erkenntnis, die cognitio intuitiva, die in der Lage ist, einen zusammengesetzten Gegenstand unmittelbar, in allen Merkmalen (notae) und als Ganzes wahrzunehmen, nur Gott zukommt, ist doch jede Vorstellung, so weit sie von der Schwelle der Deutlichkeit auch entfernt sein mag, Ausdruck der in Gott verbürgten wahren Ideen, wie jede Monade in ihren Perzeptionen jede andere Monade und das gesamte Universum spiegelt.5 Mit anderen Worten: Jede Falte dieses Universums ist Ausdruck derselben, unendlich großen Textur.6 Die hier angelegte »Metaphysik der aktual unendlichen Individualitäten schließt der Definition nach jede Wiederholbarkeit«, auch »von Geschichte«,7 aus, ist aber nicht in die Lage versetzt, diese Kontingenz bewältigen zu müssen, die doch – immer schon – harmonisch in den Schöpfungsplan eingelassen ist. »So bald wir uns eine Sache vorstellen können«, findet dann auch Christian Wolff, »so erkennen wir sie. Und wenn die Begriffe deutlich sind; so ist auch unsere Erkänntnis deutlich: sind aber jene undeutlich/so ist auch die Erkäntnis[!] undeutlich.«8 Diese Form der »Undeutlichkeit« ist Sache der »Sinne und Einbildungs=Krafft«, die ohne die Distinktionsfähigkeit des Verstandes auszukommen haben und die Wolff entsprechend von diesem »abgesondert«9 wissen will. Damit ist der ›niedere Teil des Erkenntnisvermögens‹ designiert, in dem man es mit dem Sinnlichen zu tun bekommt, und zwar verstanden als der gesamte Komplex der »dunckle[n] und undeutliche[n] Vorstel-

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ten, Bd. I: Opuscules métaphysiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Darmstadt 1985, S. 25-47, hier S. 33. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: »Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie«, in: Philosophische Schriften I, Bd. I: Opuscules métaphysiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Darmstadt 1985, S. 439-483, hier S. 465 [§ 56]. Vgl. dazu Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M. 1995. Blumenberg, Hans: »Eine imaginäre Universalbibliothek«, in: Akzente 28 (1981), S. 2740, hier S. 30. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1720, § 278. Ebd., § 282.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

lungen« sowie der »daraus entstehende[n] Appetite«.10 Diese Bestimmung ist wichtig: Das Sinnliche bezeichnet in Baumgartens Wolff-Übernahme keine reine Wahrnehmung oder Sinnesdaten. »›Sinnlich‹ heißen vielmehr Begehren und Affekt, weil in ihnen die Sinne der Kontrolle der Vernunft entglitten sind.«11 Auf die weitreichenden Schwierigkeiten, die mit dieser Annahme eines unbestimmten und ordnungsbedürftigen Feldes des Sinnlichen verbunden sind, reagiert im Kontext der philosophischen Ästhetik der Begriff der Form: Er bezeugt darin einen Prozess, in dem den traditionellen Theorien der Künste und des Schönen ein Register von Singularität, Individualität und Kontingenz abgerungen wird. Die folgende Darstellung des Ortes und der Funktion des Verfahrens der Form in Baumgartens Ästhetik12 läuft auf zwei, einander bedingende Thesen zu. Die erste lautet, dass die Disposition der Form als Instrument der Epistemologie und künstlerische Darstellung verklammernden Ästhetik eine zweifache »Logik der Individualisierung«13 in Szene setzt: In einem Sinn als individuierender Grenzwert, der eine Überfülle kunstfähiger Wirklichkeit organisiert; in einem anderen Sinn als das operative Modell einer ästhetischen Individualität. Beide Hinsichten sind maßgeblich für die zweite These, der gemäß Baumgartens Form die Kontingenz künstlerischer Produktion und Rezeption theoretisierbar macht.

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Wolff, Christian: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt=Weißheit heraus gegeben/auf Verlangen ans Licht gestellet, Frankfurt a.M. 1733, § 91. Campe, Rüdiger: »Effekt der Form. Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik«, in: ders./Anselm Haverkamp/Christoph Menke (Hg.): Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhetik, Berlin 2014, S. 117-144, hier S. 128. Für meinen Einsatz maßgeblich sind Simon, Ralf: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, München 2013 und Campe: »Effekt der Form« (Anm. 11). Zur Form bei Baumgarten vgl. außerdem Bartsch, Anna-Maria C.: Form und Formalismus. Stationen der Ästhetik bei Baumgarten, Kant und Zimmermann, Würzburg 2017. Simon: Die Idee der Prosa (Anm. 12), S. 48. Vgl. dazu bereits Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft [ND der Ausgabe Halle 1923], Darmstadt 1967, S. 206-231.

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II. Die Erforschung der unteren Erkenntnisvermögen, die gnoseologia inferior, von Wolffs Empirischer Psychologie immerhin vorbereitet14 und im Wolffianismus im Schwange,15 wird von Baumgarten nicht bloß aufgegriffen, sondern, als »Grund der Seele«16 (fundus animae), zum »anthropologische[n] Fundament der Ästhetik«17 befördert. Um dies zu rechtfertigen, nimmt Baumgarten eine strukturelle Analogie zwischen den höheren und den unteren Erkenntnisvermögen an, das analogon rationis, über dessen Designation in der Kunst sich die Ästhetik als philosophische Disziplin legitimiert. Die sinnlichen oder sensitiven Vorstellungen, die ›unter der Deutlichkeit verbleiben‹ und deren Zusammenhang den ›Grund der Seele‹ ausmacht, sind strukturell analog zu denjenigen der Vernunft. Nicht nur das: Als Fundament der Seele sind sie zudem auch in deutlichen Empfindungen als »Dunkelheit beigemischt«.18 14

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Vgl. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 115: »Da die Psychologie feste Prinzipien gibt, zweifeln wir nicht, daß es eine Wissenschaft geben kann, die das untere Erkenntnisvermögen lenkt, bzw. eine Wissenschaft, wie etwas sensitiv zu erkennen ist.« Zur verbreiteten Einschätzung, das Dunkle sei in Wolffs Psychologia empirica lediglich als Defizit bestimmt vgl. exemplarisch Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, S. 45-47 und Adler, Hans: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, S. 16f. Vgl. dagegen die kritischen Reevaluierungen von Wolffs Bedeutung für die Begründung der Ästhetik in Beiser, Frederick C.: Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing, Oxford/New York 2009 und Buchenau, Stefanie: The Founding of Aesthetics in the German Enlightenment. The Art of Invention and the Invention of Art, Cambridge 2013. Vgl. dazu die Theses psychologicæ in Bilfinger, Georg Bernhard: Dilucidationes Philosophicæ de Deo, Anima Humana, Mundo, et Generalibus Rerum Affectionibus, Tübingen 1725, §§ 232-369, bes. § 268. Georg Friedrich Meier (Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, Halle 1763, S. 16) berichtet von der Bedeutung Bilfingers für Baumgartens Metaphysik. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 80. Zuvor bereits in Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica [3. Teil]. Lat./dt., in: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Lat./dt., übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, § 511. Die Metaphysica wird, sofern nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe zitiert. Berndt, Frauke: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/Boston 2011, S. 89. Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 544. Vgl. dort auch zum Verhältnis von Empfindung (hier: sensatio) und sinnlicher Vorstellung (hier: perceptio sensitiva): »Und jede Empfindung ist eine sinnliche Vorstellung, die durch das untere Erkenntnisvermögen gestaltet werden muß.« Vgl. dazu Groß, Steffen W.: Cognitio Sensitiva. Ein Versuch über die Ästhetik als Lehre von der Erkenntnis des Menschen, Würzburg 2011, S. 178-223, bes.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung von 1741 rekapituliert Baumgarten die Reihe der Vorstellungen und deren Erkenntnisgrade: Die Vorstellungen seien »entweder klar oder dunckel. Die klaren haben entweder auch lauter klare Merckmahle, oder dunckele. Die letzten sind verworren; die ersten deutlich. Diese haben entweder auch bloß deutliche Kennzeichen, oder verworrene. Im ersten Fall sind sie vollständig; im andern unvollständig.«19 Ausgehend von dem Anteil der aus dem fundus animae untilgbaren Dunkelheit erscheinen so im Feld der sinnlichen Erkenntnis dunkle und klar-verworrene Vorstellungen sowie, auf der Seite der logischen Erkenntnis, klar-deutliche und adäquate Vorstellungen. Während sich Baumgarten bis hierhin an Leibniz’ Erkenntnisleiter orientiert, setzt er ihr jedoch einen wichtigen Parameter hinzu. Die Steigerung der Klarheit einer Vorstellung hängt nicht allein von der Steigerung der Deutlichkeit ihrer Merkmale ab, sondern auch von der Anzahl dieser Merkmale: Nimm zwei klare Vorstellungen mit je drei Merkmalen an, aber in der einen seien die gleichen Merkmale klar, die in der andern dunkel sind: so ist die erste klarer. Also wird die Klarheit einer Vorstellung durch die Klarheit der Merkmale erhöht, indem sie deutlich und vollständig wird. Nimm zwei klare Vorstellungen mit gleich klaren Merkmalen an, von denen die eine drei, die andere sechs Merkmale enthält: dann ist die zweite klarer. Also wird die Klarheit durch die Menge der Merkmale erhöht.20 Vorstellungen zeichnen sich für Baumgarten dadurch aus, Merkmale in eine Einheit zusammenzufassen, wobei deren Anzahl einerseits hinreichen muss, um den Vorstellungsgegenstand zu bestimmen, und andererseits, »um das Vorgestellte wiederzuerkennen«,21 und das bedeutet: die Vorstellung wieder-

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S. 210. Frauke Berndt (Poema/Gedicht [Anm. 17], S. 25) weist darauf hin, dass die Attribute sensualis und sensitivus nur ein einziges Mal, in den Meditationes (Anm. 1) miteinander konfrontiert werden: »VORSTELLUNGEN von gegenwärtigen Veränderungen des Vorstellenden sind EMPFINDUNGEN (SENSATIONES). Diese sind sensitiv (sensitivae) […] und folglich poetisch […].« Baumgarten, Alexander Gottlieb: »Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er Zu seiner Antrits-Rede und ersten Franckfurthischen Lese-Stunden eingeladen«. Neu hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alexander Aichele, in: Aufklärung 20 (2008), S. 271-304, hier § 6, Anm. *. Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 531. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 13. Vgl. gleichlautend die Bestimmung der klaren Vorstellung bei Leibniz: »Meditationes« (Anm. 4), S. 33.

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holbar zu halten.22 Hiervon ausgehend unterscheidet Baumgarten in seiner Metaphysik (1739) zwei Logiken des Wachstums: »Die größere Klarheit, die auf der Klarheit der Merkmale beruht, kann intensiv größer, diejenige, die auf der Menge der Merkmale beruht, extensiv größer genannt werden. Die extensiv klarere Vorstellung ist lebhaft.«23 Diese Bestimmung ist für das gesamte Projekt der Baumgartenschen Ästhetik fundamental; für den Kontext einer Philosophie der Form bei Baumgarten ist sie zudem einschlägig, weil sie für Baumgartens Diskussion der Dichtung bzw. des Gedichts (poema) eine wichtige Rolle spielt. Die sinnlichen Vorstellungen sind in besonderer Weise Angelegenheit der Kunst. Analog zur Logik, als der »Wissenschaft, etwas philosophisch zu erkennen« bzw. der »Wissenschaft, die das obere Erkenntnisvermögen bei der Erkenntnis der Wahrheit leitet«,24 ist die Ästhetik für die entsprechenden Niederungen zuständig. »Sensitive Vorstellungen sind Bestandteile eines Gedichtes,« heißt es in den Philosophischen Betrachtungen, und »folglich poetisch […]. Da aber die sensitiven Vorstellungen dunkel oder klar […] sein können, so sind die dunklen und die klaren Vorstellungen poetisch.«25 Das Kriterium der Poetizität tritt an dieser argumentativen Stelle in den Einzugsbereich einer Mengenlehre der Merkmale. Je komplexer eine Vorstellung also ist, je höher ihre Merkmalsdichte – unabhängig von deren Deutlichkeit –, desto klarer ist sie: »In extensiv sehr klaren Vorstellungen wird mehr sensitiv vorgestellt als in weniger klaren […]. Folglich tragen sie mehr zur Vollkommenheit des Gedichtes bei […]. Daher sind extensiv klarere Vorstellungen äußerst poetisch.«26 Gegenüber der potentiellen Hochrechenbarkeit klarverworrener Vorstellungen in klar-deutliche auf dem Weg des Erkenntniszuwachses, die bei Leibniz noch die Positionierung auf dem Erkenntniskontinuum gesichert hatte, tritt in der Kunst für Baumgarten nun eine prinzipielle Zweiwertigkeit der Erkenntnisvermögen. Die ästhetische und die philosophische, d.h. logische Vorstellung treten auseinander. »Deutliche Vorstellungen, vollständige, adäquate, durch alle Stufen tiefgehende Vorstellungen sind nicht sensitiv, folglich auch nicht poetisch […].«27

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Vgl. Campe: »Effekt der Form« (Anm. 11), S. 131. Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 531. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 115. Ebd., § 12. Ebd., § 17. Ebd., § 14.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

III. »Je mehr die Dinge bestimmt werden, desto mehr umfassen die Vorstellungen von ihnen. Je mehr indessen in einer verworrenen Vorstellung angehäuft wird, desto extensiv klarer […] wird sie. Folglich ist es poetisch, in einem Gedicht die vorzustellenden Dinge so viel wie möglich zu bestimmen.«28 In Baumgartens extensiv klarer sinnlichen Vorstellung finden sich die Gegenstandsmerkmale in sinnlicher Fülle gehäuft und gedrängt. Geradezu überfüllt ist diese Konfiguration der klar-verworrenen Vorstellungen gegenüber dem Erkenntnismodus der Logik, der die Adäquatheit und »Deutlichkeit der Begriffe«29 auf dem Weg der zergliedernden Auseinanderlegung anstrebt. Das Gedicht, um das es in seinen Philosophischen Betrachtungen geht,30 bestimmt Baumgarten als »vollkommene sensitive Rede«31 (oratio sensitiva perfecta). Damit sind zwei Aspekte angesprochen: Einerseits die Tendenz ihrer »Bestandteile[,] zur Erkenntnis sensitiver Vorstellung [zu] streben […].«32 Andererseits der Befund, dass eine Rede um so vollkommener, d.h. vollständiger,33 ist, je mehr Bestandteile sie in sich integriert. Die Rede, heißt das, die nicht über begriffliche Deutlichkeit verfügt, sondern sowohl in jedem seiner – vollzähligen – Bestandteile zur sinnlichen, also undeutlichen Vorstellung neigt und diese Dichte zu extensiver Klarheit steigern kann, ist ein Gedicht. Besonders gut eignen sich hierfür Individuen, die Baumgarten »durchgängig bestimmt«34 nennt. Anders als die logische Erkenntnis, die abstrahierend verfährt und das Individuum gemäß der Adäquatheit seiner Merkmale »allgemeinen Bestimmungen«35 zuführt, d.h. als Exemplar einer Art oder Gattung identifiziert, richtet sich die sinnliche Erkenntnis auf die verworrene, unbegriffliche, je konkrete Singularität der Einzelvorstellung. Auf verschiedenen Ebenen ist diese Logik in der sinnlichen Rede bzw. im Gedicht am Werk. Wie Baumgarten eingangs bestimmt, findet eine In28 29 30 31 32 33 34 35

Ebd., § 18. Ebd., § 14. Vgl. Simon: Idee der Prosa (Anm. 12), S. 47, Anm. 85 für eine knappe Diskussion der Übersetzungsmöglichkeiten von poema. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 9. Ebd., § 7. Vgl. Berndt: Poema/Gedicht (Anm. 17), S. 42. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 19. Mirbach, Dagmar: »Einführung. Zur fragmentarischen Ganzheit von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58)«, in: Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), S. XV–LXXX, hier S. XLIII.

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dividualisierung auf der Ebene der sensitiven Vorstellungen selbst statt, auf der Ebene der Verknüpfung (nexus) dieser Vorstellungen sowie auf der Ebene der »Wörter oder artikulierte[n] Laute, die aus Buchstaben als ihren Zeichen bestehen […].«36 Entscheidend für das Gelingen ist damit in erster Linie die komplexe »Assoziationsdynamik«37 der Einzelvorstellungen, die in den unterschiedlichen Entstehungsstufen des Gedichtes zu beachten ist: Baumgarten diskutiert dies etwa anhand des Themas, des Beispiels, der Eigennamen oder der Kataloge im Gedicht; aber auch anhand der Figuren, des Metrums und der Reime. Vorrang wird dabei dem spezifischen Kriterienkatalog einer Abundanz der Merkmale unter den Bedingungen der extensiven Klarheit gegeben. Beispielsweise wird die Beschreibung von Baumgarten gegen den Verdacht verteidigt, sie könne eine klar-verworrene Vorstellung in mehrere deutliche Vorstellungen verwandeln: Stattdessen setze sie, so Baumgarten, »an die Stelle des einen sensitiven A B. C. D., d.h. mehrere sensitive Vorstellungen.«38 Zur Darstellung gebracht wird im Gedicht also nicht bloß das Individuelle, in seinen vielfältigen einzelnen Bestimmungen für sich: Vielmehr lässt sich an ihm sowohl seine Partizipation an einem Ganzen zeigen, wie auch, zumindest im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten, seine mannigfaltigen Verhältnissen zu anderen Individualitäten, d.h. an der einzelnen Sache »alle Merkmale […], alle Verhältnisse, alle Verbindungen derselben mit andern Dingen, alle Aehnlichkeiten, alle zufällige Beschaffenheiten, Eigenschaften und wesentliche Stücke derselben, alle ihre Gründe und Folgen«39 erfasst werden.

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Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 6. Krauß, Andrea: »Nuancen des Firmaments. Versuchsanordnungen ›extensiver Klarheit‹ zwischen Alexander Gottlieb Baumgarten und Barthold Heinrich Brockes«, in: Andrea Allerkamp/Dagmar Mirbach (Hg.): Schönes Denken. A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik, Hamburg 2016, S. 223-251, hier S. 235. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 55. Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre, Halle 1762, § 164. Vgl. auch Baumgarten (»Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien« [Anm. 19], § 7, Anm. *) in seiner Antrittsvorlesung: »Nicht nur von allen Dingen gantz deutliche Begriffe haben, bleibt der Gottheit eigen; sondern auch nur eine einige Sache sich gantz vollkommen deutlich vorzustellen. Wer eine einige Sache sonder einige Verwirrung denckt, denckt alles vollkommen deutlich. Der Beweiß fällt nicht schwer. Alles und iedes ist im allgemeinen Zusammenhange mit allen übrigen. Wer demnach etwas gantz vollkommen deutlich dencken soll, muß alle Verhältnisse zugleich vollkommen deutlich dencken. Also auch alle seine correlata, oder dieienigen Dinge, mit denen es in Verhältniß steht; sonst würde sein Zusammenhang, folglich es selbst nicht, [nicht] vollkommen deutlich vorgestellt. Weil nun ein iedes Ding im Verhältniß mit allen übrigen steht, so kann keines

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

Eine vollständige, d.h. im Kontext, vollkommene Bestimmung dieser Aspekte ist, darin folgt Baumgarten Leibniz, Gott vorbehalten. Gleichwohl weist Baumgarten in der Ästhetik den sinnlichen Vorstellungen der Singularien einen eigenen Wahrheitswert zu: die »ästhetische Wahrheit« (veritas aesthetica), die »ihrem hauptsächlichen Sinn nach WAHRSCHEINLICHKEIT«40 ist, und welche sich ihrerseits dadurch auszeichnet, trotz ihres mundanen Gewissheitsdefizits keinerlei Falschheit zu enthalten.

IV. 1750 gibt Baumgarten der Ästhetik mit auf den Weg, ihr »Zweck« sei »die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher (perfectio cognitionis sensitivae, qua talis). Dies aber ist die Schönheit.«41 Damit sind mindestens drei Horizonte eröffnet: Erstens ist die Erläuterung des Gedichtes als vollkommene sinnliche Rede auf den gesamten Bereich der Ästhetik ausgeweitet. Zweitens ist mit dem Zweck (finis), der die perfectio regiert, etwas angedeutet, das bereits in einer 1889 erschienenen Übersetzung der Passage durch Friedrich Braitmaier ausdrücklich gemacht wurde. Dort lautete die entsprechende Stelle: »Zweck der Ästhetik ist die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis als solcher […]. Die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis nun heißt Schön-

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ohne alle übrige vollkommene Deutlichkeit erlangen. Die Anmerckung ist nützlich, daß man sich von unserem reinen Verstande nicht zu hohe Dinge träumen lasse.« Vgl. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 483. Ebd., § 14.

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heit.«42 Damit ist der entschiedene »Prozeßcharakter«43 der sinnlichen Erkenntnis markiert, der auch für die dritte Auffälligkeit der Leitlinie der Ästhetik zentral ist: Mit dem Begriff der Schönheit wird nämlich drittens ein Begriff in die Debatte eingebracht, der in den Philosophischen Betrachtungen noch fehlte. Zunächst zu Letzterem. Schönheit existiert bei Baumgarten in zwei Registern:44 Einerseits ist Schönheit der Name der Vollkommenheit der ontologischen Ordnung des Universums, die sich in der Harmonisierung bzw. Synchronisierung des voneinander unterschiedenen Seienden äußert. So nennt Baumgarten die »SCHÖNHEIT DER SACHEN UND DER GEDANKEN«, die »SCHÖNHEIT DER ORDNUNG und der Disposition« und die »SCHÖNHEIT DER BEZEICHNUNG, welche der Ausdruck und die Redeweise ist«45 als verschiedene Verhältnisse, in denen sich harmonische Übereinstimmungen herstellen. Darüber hinaus fungiert Schönheit, zweitens, aber auch als Beschreibung einer funktionalen Relation, die sich auch in notwendig defizitären Milieus einstellen kann: im Streben nach Vervollkommnung, in der Prozessoder Verfahrensform der Ästhetik. Komplementär zur ästhetischen Wahrheit nimmt Baumgarten die Existenz einer »LOGISCHE[N] Wahrheit IM ENGEREN SINNE«46 an, die auf die höheren Erkenntnisvermögen und die begriffliche Deutlichkeit bezogen ist.

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Braitmaier, Friedrich: Geschichte der poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Zweiter Teil, Frauenfeld 1889, S. 23 [meine Hervorh., P.H.]. Vgl. den Hinweis hierauf bei Nivelle, Armand: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin/New York 1971, S. 19. Vgl. auch den Hinweis bei Baumgarten, Alexander Gottlieb: ›[»Kollegnachschrift über die Ästhetik«]‹, in: Poppe, Bernhard: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Borna-Leipzig 1907, S. 65-258, hier § 1: »Man könnte vielleicht noch eins und das andere wider unsere Erklärung einwenden; man könnte sagen, warum man nicht perficiendae zur Definition hinzugesetzet hätte. Allein die wenigen Kennzeichen bestimmen einmal schon alles zum hinlänglichen Unterschiede, und dann liegt das schon darinnen, weil alle Wissenschaft meine Kenntnis vollkommener macht.« Solms, Friedhelm: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, S. 60. Vgl. dazu u.a. Solms: Disciplina aesthetica (Anm. 43), S. 58-60; Franke: Kunst als Erkenntnis (Anm. 14), S. 89. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), §§ 18-20. Ebd., § 424.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

Beide – ästhetische und logische Wahrheit – halten, ihren Erkenntnismodalitäten gemäß, einander ergänzende Anteile an der metaphysischen Wahrheit. Baumgarten führt jedoch noch eine weitere Wahrheitsform ein, die er »AESTHETIKOLOGISCHE WAHRHEIT« nennt und die in unterschiedlichen Brennweiten vorliegt: als allgemeine ästhetikologische Wahrheit sowie, vom Ästhetiker vorzuziehen, als »EINZELNE ästhetikologische Wahrheit«.47 Die ästhetikologische Wahrheit, insbesondere die einzelne, ist zur größtmöglichen Annäherung an die metaphysische Wahrheit fähig. Der für diese Annäherung zuständige Kriterienkatalog lautet wie folgt: Je 1) reicher folglich, 2) je größer und würdiger, 3) je genauer, 4) je klarer und deutlicher, 5) je gewisser und gründlicher, 6) je glühender die Vorstellung eines Gegenstands ist, 7) je mehr, 8) je Größeres und Wichtigeres, 9) nach je stärkeren Gesetzen sie umfaßt, 10) je mehr das in ihr Enthaltene zusammenstimmt, um so größer ist ihre ästhetikologische Wahrheit.48 Aufgrund ihres kombinatorischen Charakters findet in der ästhetikologischen Wahrheit eine Ausbalancierung der beteiligten logischen und ästhetischen Wahrheitsformen statt, die Baumgarten mit dem Begriffspaar der ›formalen Vollkommenheit‹ (perfectio formalis) und ›materialen Vollkommenheit‹ (perfectio materialis) einführt und die in ein bestmögliches Mischungsverhältnis zu bringen sind, um »beide Vollkommenheiten auch nur mittelmäßig erreichen«49 zu können: Punkte 1-6 betreffen die logische, formale Vollkommenheit, Punkte 7-10 die sinnliche, materiale. Der Kontext der Einführung der ästhetikologischen Wahrheit in der Ästhetik ist nun eine Diskussion der ästhetischen Wahrheit in ihrer sinnlichen Erscheinungsform. Ehe in § 440 die ästhetikologische Wahrheit ausgefaltet wird, erläutert Baumgarten in § 439, dass die ästhetische Wahrheit auf die Möglichkeit ihrer Erkenntnisgegenstände angewiesen ist, einerseits hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit von internen Merkmalskonfigurationen,50 andererseits hinsichtlich der äußerlichen Umstände.51 Dieser Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände korrespondiert, so Baumgarten weiter, die ebenfalls zweifache Bedingung der Einheit der Gegenstände. Zu der »Einheit der

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Ebd., § 440. Ebd., § 556. Ebd., § 562. Vgl. dazu ebd., § 431. Vgl. dazu ebd., §§ 432-435.

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inneren Bestimmungen« zählt er etwa die Einheit der Handlung; zur »Einheit der äußeren Bestimmungen, Verhältnisse und Umstände« die Einheit von Ort und Zeit. In der Einheit, so weiter Horaz zitierend, erhalte man Abgerundetheit und »schönen Zusammenhang«. »Daher«, schließt der Paragraph, »gefiel Augustinus die Einheit in dem Maße, daß er sie die Form jeder Schönheit nannte.«52 Was im unmittelbaren Anschluss als ästhetikologische Wahrheit diskutiert wird, so schlage ich vor, ist in einem präzisen Sinn jene ›Form der Schönheit‹, als die schöne Form, die das organisatorische Zentrum von Baumgartens ästhetischem Projekt bildet. Form, als Garantin der spezifischen Sinnlichkeit von Kunst, fasst eine Mannigfaltigkeit in der Einheit zusammen. In eben dieser Funktion als Ordnerin vormals formlos-undeutlicher Elemente ist sie es auch, die die Rede von einer »Medientheorie«53 Baumgartens voll rechtfertigt: Wenn Baumgarten in der Metaphysik die Ästhetik erneut, und zwar als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und der Darstellung (scientia sensitive cognoscendi et proponendi) ankündigt,54 dann klafft die vieldiskutierte Lücke zwischen beiden Registern an eben der funktionalen Stelle der Form. Die beiden zentralen Analogieverhältnisse des ästhetischen Projekts, dasjenige zwischen unterem und höherem Erkenntnisvermögen sowie dasjenige zwischen Erkenntnis und Darstellung,55 werden von Baumgarten überkreuz gelegt. An ihrem Kreuzungspunkt findet sich ein Zentrum, das einmal (hinsichtlich der ersten Analogie) ›ästhetikologische Wahrheit‹ heißt und einmal (hinsichtlich der zweiten Analogie) ›Form‹. Was mit Blick auf die metaphysische Wahrheitstheorie ein harmonisches Mischverhältnis garantiert, ist in epistemologisch-formaler Hinsicht immer verstanden als »Nullpunkt«56 oder Grenzwert zwischen Erkenntnis und Darstellung.

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Ebd., § 440. Zum Kontext vgl. Trelenberg, Jörg: Das Prinzip »Einheit« beim frühen Augustinus, Tübingen 2004, S. 19-41. Berndt: Poema/Gedicht (Anm. 17), S. 14 und passim. Vgl. Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 533. Vgl. Berndt, Frauke: »Die Kunst der Analogie. A. G. Baumgartens literarische Epistemologie«. in: Allerkamp/Mirbach (Hg.): Schönes Denken (Anm. 37), S. 183-199, hier S. 197. Haverkamp, Anselm: »›Wie die Morgenröthe‹. Baumgartens Innovation«, in: Campe/Haverkamp/Menke: Baumgarten-Studien (Anm. 11), S. 15-47, hier S. 33, Anm. 30.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

V. An den allgemeinsten, abgesondertsten Gegenständen, die durch die […] Kunst zur höchsten formalen Vollkommenheit dessen, was von den Menschen zu besitzen ist, hinaufgeführt werden müssen […], vor allem aber an den einzelnen Gegenständen, welche die höchste materiale Vollkommenheit der ästhetikologischen Wahrheit darbieten, an den Individuen und den allerbestimmtesten Gegenständen erfreut sich der ästhetische Horizont als an seinem Wald, seinem Chaos, seinem Stoff, aus dem er die ästhetische Wahrheit zu einer wenn nicht gänzlich vollkommenen, so doch schönen Form so herausmeißelt, daß während der Ausarbeitung so wenig wie möglich an material vollkommener Wahrheit verlorengeht und beim Ausfeilen um des Geschmackvollen willen abgerieben wird.57 Als ›schöne Form‹ tritt die reine, mannigfaltige und unförmige Sinnlichkeit durch Formierung im ›ästhetischen Horizont‹ hervor. Als Form wird damit nicht ein Repertoire gegebener Anordnungstypen begriffen, sondern ein Verfahren, den Rohstoff der »Wörter, des Steines, der Farben oder Töne«,58 d.h. den gesamten Komplex der sinnlichen Erkenntnis, zur Darstellung zu bringen: einen Umstand, den Baumgarten mit Bezug auf Augustinus als »gefällige abgerundete Kürze«59 bezeichnet hatte und den er in der Darlegung der ästhetikologischen Wahrheit als »kurze, aber geschmackvoll mit Fülle ausgestattete[] Abgerundetheit«60 beschreibt. Die eigentümliche Formulierung im obigen Zitat, die nahelegt, dass die schöne Form möglicherweise auch aus einem Wald herausgemeißelt werden könne, resultiert aus einem Übertrag. In § 560 fragt Baumgarten: »[W]as ist die Absonderung, wenn nicht ein Verlust? Ebenso brächtest du aus einem Marmor von unregelmäßiger Form keine Marmorkugel heraus, wenn nicht durch wenigstens soviel Einbuße an Material, in welchem Maße sie der höhere Wert der Rundheit verlangen wird.«61 Schöne Form in Baumgartens Fassung, also das positivierte Streben nach Ver-

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Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 564. Vgl. zu dieser vielbesprochenen Stelle die Diskussionen bei Berndt: »Kunst der Analogie« (Anm. 55), S. 197-199, sowie Simon: Die Idee der Prosa (Anm. 12), S. 49-52. Franke: Kunst als Erkenntnis (Anm. 14), S. 107. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 439. Ebd., § 565. Ebd., § 560.

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vollkommnung (perfectio phaenomenon),62 bedeutet immer auch eine Phänomenalisierung auf Kosten des sinnlichen Materials. Die extensive Klarheit des Kunstwerks ist nicht in Deutlichkeit umzurechnen, ohne an konkreter Lebhaftigkeit zu verlieren. Indem die aufgrund des gemeinsamen Bezugs auf metaphysische Wahrheit auch in der Sinnlichkeit »latente[] Form«63 zur Erscheinung gebracht wird, werden in dieser selegierenden ›Absonderung‹ (abstractio) zugleich immer auch Dispositionen zur Form – unwiederbringlich – verloren. Das ist das Risiko des Formverfahrens. Denn wie bereits in Baumgartens Diskussion des Gedichts deutlich wird, korrespondiert die Betonung der assoziierenden oder »Synthesisfunktion«64 der Schönheit – bzw. hier noch: Poetizität –65 einer definitorischen Großzügigkeit in Sachen des Sensitiven. Unter diesen weiten Materialbegriff fallen rhetorische Traditionsbestände,66 aber sodann auch der gesamte Bereich der sogenannten »scharfe[n] Sinne«, der zwar auch die körperliche Wahrnehmung äußerer Sinnesreize umfasst, in erster Linie aber ein selbstbewusst zu erschließendes Milieu des »innere[n] Gefühl[s]«,67 »innere[n] Sinn[s]«68 und »innere[n] Bewußtsein[s]«69 beinhal-

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Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica/Metaphysik, Historisch-kritische Ausgabe, übersetzt eingeleitet und hg. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, § 662. Vgl. dazu Franke: Kunst als Erkenntnis (Anm. 14), S. 88-91. Adler: Prägnanz des Dunklen (Anm. 14), S. 45. Simon: Die Idee der Prosa (Anm. 12), S. 44. Vgl. Niehaus-Pröbsting, Heinrich: »Über den Zusammenhang von Rhetorik, Kritik und Ästhetik«, in: Wilfried Barner (Hg.): Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. DFGSymposion 1989, Stuttgart 1990, S. 237-251, hier S. 246. Vgl. dazu § 79 der Philosophischen Betrachtungen (Meditationes, Anm. 1): »Eine uneigentliche (bildliche) Bedeutung finden wir in einem uneigentlichen Wort. Da aber die uneigentlichen Ausdrücke meistens die eigentlichen Bezeichnungen für eine sensitive Vorstellung sind, so sind die Figuren poetisch: 1. Weil die Vorstellung, die durch figürliche Umschreibung hinzutritt, sensitiv und damit poetisch ist […]. 2. Weil sie, d.h. die poetischen Figuren, zusammengesetzte verworrene Vorstellungen verschaffen […].« Vgl. zum intrikaten und hier völlig verkürzten Komplex der Rhetorik bei Baumgarten die brillanten Diskussionen bei Berndt: Poema/Gedicht (Anm. 17) sowie Haverkamp und Campe in Campe/Haverkamp/Menke: Baumgarten-Studien (Anm. 11); für den vorliegenden Zusammenhang, weil mit Blick auf die Form, darunter besonders einschlägig Campe: »Effekt der Form« (Anm. 11). Baumgarten: [»Kollegnachschrift«] (Anm. 42), § 29. Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 535. Baumgarten: [»Kollegnachschrift«] (Anm. 42), § 29.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

tet, dem Baumgarten auch die »Einbildungen«, als die »Vorstellungen von Dingen […], die einst gegenwärtig waren«70 an die Seite stellt. Auch bereits Geformtes, ist damit nahelegt, wird in neuer sinnlicher Verarbeitung potentieller Formgebung zugeführt.71

VI. Damit ist der akkumulativen Logik des Formverfahrens eine temporale Dimension hinzugefügt, die als »Integration der Bildlichkeit«72 in die sukzessive Verfassung des Gedichts73 beschrieben worden ist.74 Die Sache der Form schließt in der Abrundung zeitliche Abläufe in sich; doch anstatt das Einheit propagierende Werkmodell der Klassik zu präfigurieren, das Hegels Satz von der »lebendigen Selbständigkeit, in welcher sich das Ganze ohne scheinbare Absicht zu vollendeter Rundung in sich zusammenschließt«,75 auf den Begriff bringt, macht sich an dieser Stelle – der Stelle der Zeit und des Verfahrens – noch eine weitere Eigentümlichkeit von Baumgartens Form bemerkbar: Denn ebenso wie die Form zur Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis, das Gedicht also etwa zur Vervollkommnung 70 71

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Baumgarten: Metaphysica [3. Teil] (Anm. 16), § 558. Vgl. dazu auch Krauß: »Nuancen des Firmaments« (Anm. 37), S. 230f. Vgl. dazu die Bemerkung Klaus Weimars (Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 73), der den Ort von Baumgartens Konzeption in der Geschichte des Wissens der Literatur im Hinblick darauf bestimmt, dass hier »der poetische Text sich aus der immerwährenden Zirkulation von Poet zu Poet herausgelöst hat und zum Gebrauchsgegenstand für einen neuen Nur-Leser zu werden im Begriffe war«. Berndt: Poema/Gedicht (Anm. 17), S. 55. Vgl. dazu auch die hier anschlussfähigen Überlegungen in Polaschegg, Andrea: »(K)ein Anfang des Ganzen. Das skulpturale Werkkonzept der Klassik und seine Folgen für die Literaturwissenschaft«, in: Thorsten Valk/Albert Meier (Hg.): Konstellationen der Künste um 1800, Berlin/Boston 2015, S. 99-124. An dieser Stelle liegt auch der Einsatz der Evidenz in Baumgartens Systematik, die von Rüdiger Campe in mehreren Aufsätzen entfaltet worden ist. Vgl. dazu wiederum die Beiträge in Campe/Haverkamp/Menke: Baumgarten-Studien (Anm. 11), sowie »Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant«, in: Sibylle Peters/Martin Jörgen Schäfer (Hg.): »Intellektuelle Anschauung«. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25-43. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bände, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, S. 270.

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der sinnlichen Rede, strebt, ja mithin selbst »als eine Tätigkeit ausgewiesen wird«,76 sind mit der Bestimmung der Schönheit auch erhebliche Konsequenzen für den Personenstand des felix aestheticus verbunden, für die Figur des Ästheten, der Baumgartens Ästhetik zum Auftritt verhilft. Zum Charakter des glücklichen Ästhetikers (felicis aesthetici) wird […] die Einübung und die ÄSTHETISCHE ÜBUNG (ἄσϰησις et EXERCITATIO AESTHETICA) erfordert, die häufigere Wiederholung gleichartiger Handlungen, zu dem Zweck, daß sich eine Übereinstimmung des Geistes und der Gemütsart […] ergibt, und zwar im Hinblick auf ein gegebenes Thema, oder […] besser gesagt: im Hinblick auf nur einen Gegenstand, der gedacht werden soll, nur eine Sache, damit die Fertigkeit, schön zu denken (habitus pulcre cogitandi), allmählich erworben wird.77 ›Charakter‹ des ästhetischen Menschen, heißt das, ist immer Charakterbildung. Die vielfach besprochene »Einziehung der Philosophie auf Anthropologie«78 ist derart bei Baumgarten konzipiert als das Streben der und zur sinnlichen Erkenntnis, das als fortgesetzte Praxisform des Individuums verstanden wird. In einem Programm der Disziplinierung der Natur des Menschen, die ansonsten droht – so vorteilhaft ihre »Anlagen oder ihre Fertigkeiten« auch immer gewesen sein mögen – »um einiges«79 abzunehmen und zu erlahmen,

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Berndt: Poema/Gedicht (Anm. 17), S. 83. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 47. Herder, Johann Gottfried: »Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann«, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M. 1985, S. 101-134, hier S. 132. Vgl. mit Blick auf das Verhältnis von Ästhetik und Anthropologie bei Baumgarten die maßgeblichen Studien von Christoph Menke, versammelt in Campe/Haverkamp/Menke (Hg.): BaumgartenStudien (Anm. 11) sowie von Gabriel Trop (»Aesthetic Askesis: Aesthetics as a Technology of the Self in the Philosophy of Alexander Baumgarten«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 37/1 [2013], S. 56-73; Poetry as a Way of Life. Aesthetics and Askesis in the German Eighteenth Century, Evanston 2015). Zum Verhältnis von Baumgartens Ästhetik zum Kontext der ›vernünftigen Ärzte‹ in Halle vgl. Zelle, Carsten: »Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750«, in: ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001, S. 5-24 und Borchers, Stefan: Die Erzeugung des ›ganzen Menschen‹. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert, Berlin/New York 2011, S. 96-108 und passim. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 47.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

schlägt Baumgarten vor, die Perfektionierung der sinnlichen Erkenntnis auf Dauer zu stellen: lebenslanges Lernen. Die ästhetische Übung »ermöglicht […] eine ständige Charakterisierung des Individuums«.80 Diese »Einheit von Individualisierung und Disziplinierung […], die in Baumgartens Subjektbegriff liegt«,81 stellt ab auf »Herrschaft, keine Tyrannei«82 des zu vervollkommnenden Sinnlichen. Das Sinnliche, als die klar-verworrene Erkenntnis, die in der Lage ist Individuen in ihrer je konkreten Individualität zu erfassen, ist, so die Pointe, damit zugleich Gegenstand perfektionierender Individualisierung; die Lebhaftigkeit (vividitas) der extensiven Klarheit, der Vitalaspekt der schönen Form, zugleich bezogen auf die Form des Lebens des ästhetischen Menschen, das auf den »focus perfectionis«, den »Grund oder Brennpunct der Vollkommenheit«,83 ausgerichtet bleibt.

VII. Beschreiben lässt sich Baumgartens Entwurf ästhetischer Individualität dann einerseits im Kontext der Geschichte der Disziplinartechniken v.a. der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deren »neue[s] Objekt der natürliche Körper [ist]: ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer«;84 andererseits aber auch im Kontext dessen, was um 1700 den Komplex der praktischen Philosophie bildet85 und in den Arten gegenwartsbezogenen Handelns unterweist; und das heißt: im Kontext verschieden ansetzender systematischer Versuche, eine sich in neuer Weise verzeitlichende menschliche Existenz als Leben zu theoretisieren.

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Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S. 208. Menke, Christoph: »Das Wirken dunkler Kraft: Baumgarten und Herder« in: Campe/Haverkamp/Menke (Hg.): Baumgarten-Studien (Anm. 11), S. 73-115, hier S. 98. Baumgarten: Ästhetik (Anm. 3), § 12. Baumgarten: Metaphysica/Metaphysik (Anm. 62), § 94 [Baumgartens eigene Übersetzung]. Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 80), S. 199. Zur »prison cell, the grimmest of social forms«, vgl. auch Levine, Caroline: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015, S. 8. Vgl. einige Hinweise dazu bei Bahr, Petra: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant, Tübingen 2004, S. 34-40.

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Baumgarten erweitert gleichfalls den metaphysischen Begriff des Individuums, der auf der Korrelation der Bestimmtheit der individualisierten Substanz, als Monade, mit der Existenz von Bestimmtheit überhaupt beruhte:86 Die vom fundus animae ausgehende Logik der Individualisierung – als Funktionsbeschreibung in der Theorie der sinnlichen Erkenntnis – rechnet sich so um in eine »Logik der Individualität«.87 Die Ästhetik schreibt sich damit ein in eine historische Tendenz, der gemäß Individualität, als Bestimmung im Verhältnis zum ihr »in Raum und Zeit Mitwirkliche[n]«,88 zur Bedingung von Wirklichkeit wird,89 wie nicht zuletzt die Fabeltheorie der Zeit weiß: »Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Individuo zu; und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken.«90 Die ästhetische Wahrheit, im Leben des Ästheten in Form gebracht, versinnlicht zwar noch die überzeitliche metaphysische Wahrheit, die von der schönen Form aber nicht mehr nur belegt wird, sondern zur ›Disposition‹ steht und zur Aufgabe wird. Die Gesetzmäßigkeiten der harmonia entis sind indes »no longer simply self-evident, ontological givens, but must be actively produced in aesthetic cognition if their aesthetic truth is to be guaranteed.«91

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Vgl. Franke: »Kunst als Erkenntnis« (Anm. 14), S. 88-91; Simon, Ralf: Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998, S. 251. Baeumler: Das Irrationalitätsproblem (Anm. 13), S. 127. Baumgarten: Meditationes (Anm. 1), § 32. Vgl. mit Blick auf den Roman neben den klassischen Studien von Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt a.M. 1994 und Blumenberg, Hans: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion, München 1969, S. 9-27 auch Campe, Rüdiger: »Die Form der Person im Roman«, in: Armen Avanessian/Jan-Niklas Howe (Hg.): Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen, Berlin 2014, S. 165-194. Lessing, Gotthold Ephraim: »Abhandlungen zur Fabel, I.«, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4: Werke 1758-1759, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1997, S. 345-411, hier S. 371. Vgl. dazu auch Pethes, Nicolas: Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise, Konstanz 2016, S. 27-29. Christian Wolffs Diskussion der Fabel (in seiner Philosophia practica universalis [1738/39], §§ 302-316; zum Teil übersetzt in Leibfried, Erwin/Werle, Josef M. (Hg.): Texte zur Theorie der Fabel, Stuttgart 1978, S. 34-42) hängt ab von der Untersuchung und Funktionalisierung der »Beispielerzählungen« (ebd., S. 40f.). Zu Wolff vgl. Torra-Mattenklott, Caroline: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry, Paderborn 2016, S. 63-93; zum Baumgarten-Wolff-Kontext vgl. Baeumler: Das Irrationalitätsproblem (Anm. 13), S. 221. Trop: Poetry as a Way of Life (Anm. 78), S. 48.

Das Verfahren der Form bei Baumgarten

Damit sind für die Emanzipation der ästhetischen Erkenntnis auch neue Rahmenbedingungen bezeichnet: »Sie ist eo ipso vollständige Erkenntnis des aktualen Zustands der kontingenten Welt durch einen endlichen, mithin selbst kontingenten Geist.«92 Die daraus erwachsende Konsequenz für das Verfahren der Form, als der Form des Sinnlichen, ist damit zuletzt auch angedeutet. Die vielzitierte Emanzipation der Sinnlichkeit erscheint bei Baumgarten als Unternehmung, in der Öffnung auf die Sensation die ›Zusammenstimmung‹ von Form und Seinsordnung herzustellen.93 Zugleich belegt Baumgarten aber auch die riskante Anlage dieser Unternehmung. In der von ihm theoretisierten Individualisierung der Form ist der Aufweis erbracht, dass die Aufgabe der Harmonisierung immer auch die Möglichkeit der Dissonanz impliziert.

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Aichele, Alexander: »Ding und Begriff. Wirklichkeit und Möglichkeit in A.G. Baumgartens Theorie ästhetischer und szientifischer Erkenntnis«, in: Andrea Allerkamp/Dagmar Mirbach (Hg.): Schönes Denken A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik, Hamburg 2016, S. 117-125, hier S. 123. Vgl. Trop: Poetry as a Way of Life (Anm. 78), S. 48.

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Entzeitlichung Zur Temporalität der reinen ästhetischen Form Peter Neumann

Form und Zeit sind Wechselbegriffe. Dieser Befund ist philosophiehistorisch vergleichsweise jung. Aber seit dem Epochenumbruch um 1800, seit die Formen unseres Denkens, Urteilens und Handelns nicht mehr ewig und unveränderlich oder einfach nur vorhanden und bloß gegeben sind, sondern durch eine Wende auf das Subjekt vielmehr zeitlich, veränderlich und dynamischinnovativ wurden, verweist Form zugleich auf die Zeit, die ihr als erst noch zu ordnendes Ganzes geschichtlich im Rücken liegt, und Zeit zugleich auf die Form, die sie als Organisationseinheit zusammenhält. Formverhältnisse sind Zeitverhältnisse – et vice versa.1 Was für Formverhältnisse im Allgemeinen gilt, trifft auf ästhetische Darstellungsverhältnisse im Besonderen zu. Kant, dem diese Wende grosso modo zu verdanken ist, versteht unter einer ästhetischen Darstellung bekanntlich »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann«. (KU, B 192f.)2 Schön erscheint uns nach Kant dasjenige Produkt der Kunst, das zwar alle ›Pünktlichkeit‹ in der Übereinkunft mit Regeln

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Vgl. Seel, Martin: »Form als eine Organisation von Zeit«, in: Josef Früchtl/Maria MoogGrünewald (Hg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. 100 Jahre »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, Hamburg 2007, S. 33-44. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, I. Abteilung: Werke (Bd. 1-9); II. Abteilung: Briefwechsel (Bd.10-13); III. Abteilung: Nachlaß (Bd. 14-23); IV. Abteilung: Vorlesungen (Bd. 24-29), hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. Die hier verwendeten Schriften Kants, die Kritik der reinen Vernunft (KrV) und Kritik der Urteilskraft (KU), werden – wie üblich – nach der Paginierung der A- und B-Auflage zitiert.

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Peter Neumann

erkennen lässt, ohne deshalb aber irgendeine Form von ›Peinlichkeit‹ in der Ausführung, eine bloße Schulform, zu verraten. Die Unangemessenheit der Form gegenüber dem, was es unter anderen – begrifflichen – Umständen zu schematisieren gälte, markiert nun aber kein kognitives Defizit, keinen epistemischen Mangel, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, sondern bereits die Pointe des von Kant betriebenen Geschäfts einer Kritik unseres Geschmacksvermögens. Indem die ästhetische Anschauung »viel zu denken veranlasst« bzw., wie Kant an anderer Stelle auch sagt, zu einem bestimmten Begriff »viel Unnennbares hinzudenken läßt« (KU, B 197), sich der rein begrifflichen Darstellung also entzieht, stellt sie eine ungeheure Verlebendigung unseres Erkenntnisvermögens dar und verbindet den allseits gescholtenen ›toten‹ Buchstaben der Aufklärung mit ihrem sehnlich erwarteten ›dynamischen‹ Geist. Was von der einen Seite als begriffliche Unangemessenheit erscheint, präsentiert sich von der anderen Seite als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die das Denken als solches prozessualisiert.3 Die Unangemessenheit der Form, ihre zwecklose Zweckmäßigkeit, prädestiniert die ästhetische Anschauung also geradezu, zwischen den Gegensätzen zu vermitteln, die Kluft, die sich in der und durch die kritische Philosophie Kants so unvermutet aufgetan hatte – hier die geschlossene Kette der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, da die Anfänglichkeit menschlicher Freiheit –, gleichsam ›nebenbei‹ zu überwinden. Was sich jedoch auf der einen – systemphilosophischen – Seite als ein im Modus der Kunst und ihrer Kritik sich vollziehendes Versöhnungsgeschehen getrennter Fakultäten verstehen lässt, ruft auf der anderen – praxeologischen – Seite gerade die Frage nach ihrer Angemessenheit auf den Plan. Ist die ästhetische Anschauung als Vermittlungsinstanz zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit auch in der Lage ein Bild von der Wirklichkeit menschlicher Freiheit zu geben?4 Um 1800, so der leitende, vielfach durchbuchstabierte Gedanke, rückt die Gegenwart als eine prekäre, durchgehend temporalisierte Denk- und Lebensform in den Blick.5 Ausschlaggebend an der veränderten Zeiterfahrung ist, 3

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Vgl. Frank, Manfred: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, München 1972. Vgl. Sandkaulen, Birgit: »Das negative Faszinosum der Zeit. Temporalität und Kunst bei Schelling«, in: Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800, hg. v. Thomas Kisser, München 2011, S. 259-272. Vgl. Koselleck, Reinhart: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein,

Entzeitlichung

dass sich die Veränderung permanent vollzieht, dass Zeit als radikale Diskontinuität ins Denken und in die Lebenswirklichkeit eindringt. Zeit wird zusehends als beängstigend, konfliktgeladen, enteilend, krisenhaft, getaktet, alarmierend, aktualitäts- und neuigkeitsvergessen erfahren. Zu den einschneidenden Zeit modalisierenden Erfahrungen gehören – hier bloß stichwortartig –: die Erfahrung eines beschleunigten sozialen Wandels, tiefgreifenden gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Umbruchs sowie umfassenden geschichtlichen Aufbruchs.6 ›Herkunft‹ und ›Zukunft‹ treten geschichtlich auseinander; sie entzweien sich in ein polares Gefälle, dessen inneres Spannungsgefüge immer neue temporale Differenzen aus sich hervortreibt. Man lebt in einer pluritemporalen Gegenwart, sieht sich konfrontiert mit einer Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten.7 Im Folgenden möchte ich anhand der ästhetischen Theorien von Friedrich Schiller und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in exemplarischer Weise zeigen, dass die Temporalität der reinen ästhetischen Form nur in einem sehr begrenzten Sinne der Pluritemporalität geschichtlicher Gegenwart um 1800 gerecht zu werden verspricht. Auf systemphilosophischer Ebene ist vielmehr zu beobachten, dass der Tendenz zur Intensivierung, Pluralisierung und Differenzierung die Bewegung zur Transzendierung, Singularisierung und Homogenisierung der Zeit von jeher eingeschrieben ist. Diesem Tendenzchiasmus, so lässt sich beobachten, folgen nahezu alle Theorien der reinen ästhetischen Form um 1800: Auf die Tendenz zur radikalen Verzeitlichung von Zeit, Gegenwart und Subjektivität folgt unter Etablierung einer latenten, erfahrbar in die Gegenwart hineinragenden ›ewigen Zeit‹ die Gegentendenz zur Entzeitlichung. Wo Gegenwart anfängt, prekär und temporär zu werden, muss eine ›andere‹ Zeit an ihre Stelle treten, die sie gleichsam ›auffängt‹ und in den Lauf einer übergreifenden, durch ihre epochalen Verwerfungen hindurchgehenden Geschichte wieder einbettet.

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7

München 1987, S. 269-282; Niklas Luhmann: »Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme«, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2., Opladen 1975, S. 103-133, hier S. 112. Vgl. Oesterle, Ingrid: »›Es ist an der Zeit!‹ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800«, in: Goethe und das Zeitalter der Romantik, hg. v. Walter Hinderer/Alexander von Bormann/Gerhart von Graevenitz, Würzburg 2002, S. 91-121. Vgl. Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016; Schneider, Sabine/Brüggemann, Heinz (Hg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne, München 2011.

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Dieser Tendenzchiasmus von Verzeitlichung und Entzeitlichung, so möchte ich im Folgenden zeigen, bildet die temporale Signatur einer Ästhetik der reinen Form. Deutlich werden soll im Durchgang durch die ästhetischen Theorien Schillers und Schellings, dass hierin zugleich aber auch dessen geschichtsphilosophische Grenzen zu suchen sind. Gerade den Umbruch, die Zäsur, Erosion, Unterbrechung, kurz: Die geschichtliche Diskontinuität vermag eine Ästhetik der reinen Form nicht (mehr) darzustellen. Was Epoche macht, bleibt für sie bloße Episode.

I. Form als Verzeitlichung. Der fließende Punkt der Gegenwart Um das Verhältnis von Zeit und Form in der ästhetischen Anschauung näher zu bestimmen, ist zunächst Struktur und Funktion der in ihr zu Wirksamkeit gelangenden produktiven Einbildungskraft in den Blick zu nehmen. Kant bestimmt die Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich als das Vermögen, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (KrV, B 151). Einbildungskraft ist, so gesehen, ein paradoxes Vermögen: Sie stellt einen Gegenstand anschaulich vor, ohne dass der so präsentierte Gegenstand anschaubar, als Gegenstand in der äußeren Anschauung überhaupt präsent sein müsste. Mit anderen Worten: Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand in der Anschauung hervorzubringen, ohne ihn ›wirklich‹ hervorzubringen.8 Aber nur eben durch dieses Vermögen, einen Gegenstand präsent und absent zugleich zu halten – man erinnere sich an die Linienanalogie in der Transzendentalen Ästhetik: Eine Linie, die nur besteht, solange sie auch von uns gezogen wird, ein unermüdlicher ›Linienfraß‹ sozusagen, die Linie als fließender Punkt der Gegenwart – nur eben durch dieses Vermögen also, einen Gegenstand in der phänomenalen Schwebe zu halten, unterscheidet sich der produktive Vollzug der Einbildungskraft von der produktiven Wirkung eines durch die philosophischen Lehren der vorangegangenen Jahrhunderte ›herumtappenden‹ göttlichen Verstandes. Während der göttliche Verstand durch

8

Vergleichsweise klar wird die paradoxale Struktur der produktiven Einbildungskraft in der angelsächsischen Literatur von Béatrice Longuenesse herausgearbeitet: Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the ›Critique of pure reason‹, Princeton 2000.

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seine Vorstellungen zugleich die Gegenstände dieser Vorstellungen hervorbringt, stellt die Einbildungskraft Gegenstände vor, ohne sie dadurch schon realiter hervorzubringen. Für den göttlichen Verstand muss immer schon alles zugleich sein, kein Unterschied zwischen dem, was bloß möglich ist, und dem, was wirklich ist. Für den mit produktiver Einbildungskraft begabten endlichen Verstand gilt das nicht. Er generiert und aktualisiert im Unterschied dazu den Gegensatz von Möglichem und Wirklichem permanent neu. Er verzeitlicht, so könnte man sagen, die Welt, die in der ungebrochenen, gegenwartslosen Einfachheit der göttlichen Anschauung gegeben war.9 Auch hier gilt abermals, dass die Unterschiedenheit der Form von dem, was es philosophisch in Begriffen zu fassen gäbe, kein kognitives Defizit, keinen epistemischen Mangel, sondern bereits die Pointe des von Kant betriebenen Geschäfts einer transzendentalen Ästhetik darstellt: Bringt der göttliche Verstand die Gegenstände in der gegenwartslosen Einfachheit göttlichen Anschauens hervor, kann die Einbildungskraft im Gegensatz dazu gerade als gegenwartsstiftendes Vermögen bezeichnet werden, und zwar in dem Maße, wie zeitliche Gegenwart überhaupt erst von dort möglich wird, wo durch die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung zugleich auch die Fähigkeit zur Abstraktion von der unmittelbaren Gegenwart der Anschauung gegeben ist, sei dieses Anschauen nun rein intellektueller oder rein sinnlicher Art. Zur Verzeitlichungsleistung der Einbildungskraft gehört, wie Hartmut und Gernot Böhme notieren, »ein inneres Mitmachen, ein Nachzeichnen«: Die »Sinnlichkeit ist niemals bloß rezeptiv«.10 Ohne Vollzug der produktiven Einbildungskraft keine zeithafte Gegenwart, kein endliches Subjekt; das ist das transzendentale Argument in der ersten Kritik. In der ästhetischen Anschauung ist die Verzeitlichungsleistung der Einbildungskraft um ein Vielfaches potenziert. Geht es in klassischen Erkenntnisurteilen strukturell darum, eine Anschauung unter Begriffe zu subsumieren, enthält auch das Geschmacksurteil ein Prinzip der Subsumtion, nur »nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d.i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt« (KU, B 146). Soll

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Vgl. gerade auch zur Struktur und Funktion der Einbildungskraft die Darstellung von Prauss, Gerold: Die Welt und wir (= Band I/1: Sprache – Subjekt – Zeit), Stuttgart 1990. Böhme, Hartmut/Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a.M. 1983, S. 314.

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diese ›Zusammenstimmung‹ der Vermögen nun aber ›zum Behuf unserer Urteilskraft‹, wie es bei Kant so gerne heißt, zustande kommen, bedarf es einer zusätzlichen Anstrengung, weil die geforderte Subsumtion des einen Vermögens unter das andere noch immer dessen relative Selbstständigkeit gewährleisten können muss. Die überschießende Freiheit unseres Vermögens der sinnlichen Anschauungen soll für die Urteilskraft zwar erschließbar, aber nicht begrifflich determinierbar sein, sie verlöre ansonsten ja gerade, was sie als Vermittlungsinstanz zwischen Natur und Freiheit schließlich so attraktiv erscheinen lässt: den ›lebendigen‹ Geist, der aus ihr spricht. An dieser Stelle kommt die ästhetische Denkfigur des Spiels ›ins Spiel‹ – aber nicht nur diese. Entscheidender vielleicht noch als das – später vor allem durch Schiller konzeptionell weiter ausgebaute – ›Spiel‹, das durch die ungeheure Dynamizität, die es in sich birgt, die Harmonie der Vermögen unter Beweis stellen können soll, ist die mit dem Spiel verbundene Zeitfigur des Augenblicks, durch die sich die Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand geradezu konstellativ, um an dieser Stelle einen Begriff aus der Methodenlehre Walter Benjamins aufzugreifen, einstellt. Konstellatives Anschauen – als Denkform, die bis an den Anfang der Philosophie, die Archaik, zurückreicht – speist sich aus der Überzeugung, dass der Begriff einer Sache nicht ein für alle Mal feststeht, sondern aus der je spezifischen Situation heraus zu erschließen ist, in der sich dieses oder jenes Ding ›gegenwärtig‹ befindet. Dass ein Gegenstand aber in und aus unterschiedlichen Situationen heraus zu verstehen ist, zeigt, was ja auch gerade für die ästhetische Anschauung gilt, »daß es sich entzieht, daß es immer noch anders zu bestimmen sein wird als in der gerade gegebenen Beziehung«.11 Alle ästhetischen Verhältnisse erweisen sich in diesem Sinne als konstellative Formen. Ihr vollständiger Begriff muss überhaupt erst noch entfaltet werden. Die Wahrheit selbst bekommt, um noch einmal auf Benjamin zu referieren, einen »Zeitkern«.12 Da die ästhetische Anschauung nun aber – 11

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Ortland, Eberhard u.a.: »Genealogie als konstellatorische Form in Hesiods Theogonie«, in: Markus Hattstein u.a. (Hg.): Erfahrungen der Negativität. Festschrift für Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Hildesheim u.a. 1992, S. 15-28, hier S. 23. In den Aufzeichnungen und Materialien zu Benjamins Fragment gebliebenem Passagen-Werk heißt es: »Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht […] nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden. Das ist so wahr, daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee«. Vgl. dazu Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte

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wie gesagt – an die zeitliche Struktur des Augenblicks gebunden ist, in dem sie sich unvermutet einstellt, folgt auf die Tendenz zur radikalen Verzeitlichung der Form der geradezu entgegengesetzte temporale Modus einer radikalen Entzeitlichung. Was anschaubar werden soll, insbesondere in den auf Kant folgenden frühromantischen Philosophien, ist die unmittelbare Identität des für uns Differenten. Als epistemologisches Verhältnis drückt die ästhetische Anschauung die unter zeitlichen Bedingungen realisierte unvermittelte Selbstgegenwart des Absoluten aus, die sich eben nur im Moment einstellen kann. Dieser Moment des Kairos wird in den in zahlreichen Varianten ausgearbeiteten Genieästhetiken um 1800 jeweils unterschiedlich konzeptualisiert. Gemeinsam ist jedoch allen Ansätzen, dass sie die Entzeitlichung als Form der Befreiung verstehen, als eine Befreiung von den zeitlichen Bedingungen menschlichen Daseins, unserer Zeitverhaftetheit, und sei es auch nun gerade umgekehrt durch verweilende Vertiefung in die Zeit selbst.

II. Form als Entzeitlichung. Die Aufhebung der Zeit in der Zeit Die Entbehrung eines qualitativ Neuen sorgt in der reflexiv verzeitlichten Moderne dafür, dass die Erkenntnis des ›rechten Zeitpunkts‹ zum Korrektiv einer unter den Bedingungen der Negativität erfahrenen Gegenwart wird. Diese aus der Logik des Abfalls, der trennenden Scheidung des Verstandes resultierende Struktur negativer Geschichtserfahrung tritt um 1800 vorzugsweise in der Figur des geräuschlos sich abspulenden bzw. bereits abgespulten Lebens in Erscheinung.13 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Fragmentierung einer sich in heterogene Funktionssphären immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft erhält der Kairos als genuines Schöpfungsmoment gerade mit Blick auf diesen in der ›Sattelzeit‹ sich vollziehenden Erfahrungswandel die Rolle und Funktion, eine an der Schwelle von der Antike zur Moderne verlorengegangene Einheit von Selbst und Welt als je zu aktualisierenden Zukunftshorizont in die geschichtliche Gegenwart selbstreflexiver Ratio zurückzuholen.

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Schriften, Bd. V, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1982, S. 43-1063, hier S. 578. Vgl. Hölter, Achim: »Das Rad der Zeit ‒ Eine Denkfigur der Romantik«, in: arcadia 30/3 (1995), S. 248-285.

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Im Grunde ist es Friedrich Schiller, der das ›Leben im Uhrwerk der Zeit‹, diese für die soziale, ästhetische und kulturelle Moderne so maßgebliche Erfahrung einer durch und durch fragmentierten, mit Max Weber gesprochen, ›entzauberten Gegenwart‹, zum ersten Mal auf den Begriff bringt, als er 1795 in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen notiert: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens«. (NA 20, 323)14 Was Schiller hier als das »eintönige Geräusch des Rades« beschreibt, macht den ganzen Umfang der später auch von Schelling in der Moderne diagnostizierten Negativität deutlich. Ebenso wie bei Weber bedeutet die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Im Gegenteil: Der Glauben daran, dass man, wenn man nur wollte, alles jederzeit erfahren könne, dass man – im Prinzip – alle Dinge durch Berechnen beherrschen könne, kehrt sich gegen das Subjekt selbst.15 Wo nur noch Erfahrungsarmut herrscht, da kann der Mensch auch nicht mehr ›bildsam‹ – im buchstäblichen Sinne poietisch – sich zu sich selbst und seiner eigenen Zeit verhalten. Das in reflexiver Distanz zu sich selbst befangene Bewusstsein hindert den Menschen daran, wie Schiller in der gerade zitierten Passage sagt, »die Harmonie seines Wesens« herauszubilden. Er bleibt ans ›Rad der Zeit‹ gefesselt, ist der alltäglichen Routine, der Rationalisierung und Ökonomisierung ausgeliefert, die mit rasender Geschwindigkeit in die gesellschaftlichen Teil- und Subsysteme eindringen.16 Geschichtliche Gegenwart, das ist unter diesen – negativen – Vorzeichen für Schiller nicht weniger als später für Adorno, der vom Jenaer Hofrat bekanntlich nicht viel hielt, der Verhängniszusammenhang einer stillgestellten, in schlechter Unendlichkeit um sich selbst kreisenden, entpoietisierten Zeit. Jürgen Habermas hatte so Unrecht nicht, als er Schillers Briefabhandlung als die

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Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Lieselotte Blumenthal/Benno von Wiese, Weimar 1943ff. Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: Studienausgabe der Max WeberGesamtausgabe, Bd. 1/17, hg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, Tübingen 1994, S. 9. Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, 523f.

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»erste programmatische Schrift zu einer ästhetischen Kritik der Moderne« bezeichnete.17 Die grundlegende Zeitoperation nun aber, auf die man bei Schiller in den Ästhetischen Briefen stößt, wenn es um die Struktur und Funktion der ästhetischen Anschauung geht, ist die einer Aufhebung der Zeit in der Zeit.18 Im Vierzehenten Brief, in dem Schiller näher auf die ›Wechselwirkung‹ zwischen Sachtrieb und Formtrieb zu sprechen kommt, die beide eine ganz eigene Beziehung zu Fragen der Zeitlichkeit unterhalten, heißt es wie folgt: Der Sachtrieb will, daß Veränderung sey, daß die Zeit einen Innhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sey. Derjenige Trieb also, in welchem beyde verbunden wirken, (es sey mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen) der Spieltrieb also würde dahin gerichtet seyn, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Seyn, Veränderung mit Identität zu vereinbaren. Schillers ›spielerische Umtriebe‹ haben, wie hier deutlich wird, ein zeittheoretisches Implikat: Nur in dem Maße, wie die ästhetische Anschauung die philosophische Reflexion gleichsam in einem Augenblick überwindet, kann das Ewige, die menschliche Freiheit selbst, auch in der Zeit erscheinen, der Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit buchstäblich ›gelöst‹ werden. Selbstgegenwart ist nur von der äußersten zeitlichen Grenze des Augenblicks her möglich, der die Handlung in einem Schwebezustand, einer Unbestimmtheitsrelation belässt. Ebenso wenig wie der Lessing’sche Betrachter der Laokoon-Gruppe im dargestellten Moment entscheiden kann, ob der Kampf des Priesters Laokoon und seiner Söhne nun gewonnen ist oder verloren, es aber gerade diese Ambivalenz ist, die dem Kunstwerk seine unerhörte Freiheit und jede Fixierung sprengende Dynamik verleiht, kann das Genie erklären, wie im Moment der Darstellung das vollendete, in sich selbst ruhende Kunstwerk entsteht. Sinnliche Anschauung wird zur ästhetischen Anschauung in dem Moment, in dem das Subjekt vermöge eines gewaltsamen Sich-Losreißens von der Zeit gleichsam gewaltlos in einen Gegenstand sich versenkt. In ihm, dem

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Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 59. Vgl. Janke, Wolfgang: »Die Zeit in der Zeit aufheben. Der transzendentale Weg in Schillers Philosophie der Schönheit«, in: Kant-Studien 58 (1967), S. 433-457.

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Augenblick, als kleinster metaphysischer Einheit der Zeit, löst die unbewusste Tätigkeit der ästhetischen Anschauung die zeitliche Anspannung der philosophischen Reflexion und verweist sie an ein zeitentbundenes, geschichtsübergreifendes Ganzes. Der Künstler »entäußert« sein Streben, wie Michael Theunissen sagt, damit das Erstrebte, »die Freiheit von der Zeit«, als daseiende zur Anschauung kommt.19 Dieses Geschehen, in dem das Subjekt sich spiegelbildlich im Kunstwerk anschaut und sich als ein widerstreitendes, aber gleichwohl in diesem Moment mit sich versöhntes Ich erkennt, lässt sich mit Schiller als Aufhebung der Jetztzeit in die Allzeitigkeit qua Ewigkeit verstehen. Was bei Schiller als Zeitfigur einer Aufhebung der Zeit in der Zeit zum Vorschein kommt, stellt sich bei Schelling unter verschärften identitätsphilosophischen Vorzeichen als eine wahre ›Vernichtung‹ heraus. Diagnose und Lösungsvorschlag sind ganz analog zu Schiller zu verstehen: Der Philosophie gelingt es nicht mehr aus eigener Kraft sich des höchsten Prinzips der Philosophie, der Einheit des Idealen und Realen in ihrer Differenz zu versichern. Allein die Kunst vermag noch diese Einheit herzustellen, indem sie das Absolute nicht im philosophischen Begriff, sondern nur vergegenwärtigend zur Darstellung bringt. Das Kunstwerk ist, wie Schelling im System des transzendentalen Idealismus ausführt, die »einzige und ewige Offenbarung« (AA I/9,1, 318) des Absoluten, indem es dem Genie, das auch Schelling im Anschluss an Kant als die »angeborene Gemütsanlage (ingenium)« versteht, »durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt« (KU, B 181), indem es also dem Genie gelingt, durch eine unbewusste Tätigkeit etwas für das Ich ›objektiv‹ zur Anschauung zu bringen, was dem Subjekt anderenfalls nur in einer numinosen ›intellektuellen Anschauung‹ zugänglich wäre.20 Die Vermittlung von Realem und Idealem bleibt für Schelling genau wie für Schiller dem unbewussten Wirken des Genies vorbehalten. Das Genie besitzt das natürliche Talent, die flüchtige Gelegenheit, den prägnanten Augenblick der Übereinstimmung von Selbstsein und Weltsein zu vergegenwärtigen und damit die Kluft zwischen dem – antik gesprochen – ewigen Sein des Kosmos und der – modern verstanden – ver-

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Theunissen, Michael: »Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen«, in: ders.: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 285-298, hier S. 285. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe. I. Werke; II. Nachlaß; III. Briefe, hg. von der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. (AA).

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gänglichen Existenz des Daseins zu überbrücken, die tragische Diskrepanz aufzuheben.21 Es fällt nicht schwer zu erkennen, dass auch Schellings ästhetische Anschauung unter ganz bestimmten zeittheoretischen Vorzeichen steht. Auch in Schellings ästhetischer Theorie wird auf die gedankliche Figur einer Aufhebung der Zeit in der Zeit zurückgegriffen, ja, wenn man genau hinsieht, wird diese sogar noch um ein Vielfaches verschärft. Schelling spricht im Vergleich zu Schiller nicht von der ›Aufhebung der Zeit in der Zeit‹, er spricht von einer ›Vernichtung der Zeit in der Zeit‹. Die Zeit, so heißt es in geradezu exemplarischer Weise in der 1804 erschienenen Philosophie der Kunst, sei die »Vernichtung des besonderen Lebens als eines besonderen«: »[E]s [das besondere Leben, P.N.] entsteht nur in der Zeit, es ist nicht an sich selbst, sondern nur, sofern ihm der unendliche Begriff des All eingebildet, und sofern es durch diesen Begriff gesetzt [ist], nicht weiter«. (SW VI, 220)22 In der ästhetischen Anschauung soll das Besondere durch die Einbildung der absoluten Identität in die Differenz als ein Besonderes ›vernichtet‹ werden; nur wenn es auf diese Weise vernichtet wird, kann der Ursprung des besonderen Lebens aus dem allgemeinen Leben für das sich im Kunstwerk widerspiegelnde Subjekt durchsichtig werden. Das je individuelle Individuum, samt seines in irreduzibler Individualität verstrickten Zeitlebens spielt überhaupt nur insofern eine Rolle, als in ihm und durch es hindurch ein Universelles, Ewiges zur Darstellung gelangt. Im Entstehen und Vergehen der Dinge schaut das All nur sein »eigenes unendliches Leben« an, unabhängig vom »unendlichen Begriff des Alls« (SW VI, 220) sind die endlichen Dinge ›nichts‹. Unter dem Eindruck einer solchen glossalischen Anschauung degeneriert die ästhetische Befreiung von der Zeit zur Logogenese des Absoluten. Auf die Tendenz zur radikalen Verzeitlichung durch den erfahrenen geschichtlichen Bruch folgt die Tendenz zur radikalen Entzeitlichung, ihrer eigenen Vernichtung. Wo aber, und hier beginnen sich allmählich die Einwände gegen eine Ästhetik der reinen Form zu formieren, das Besondere nur auf Kosten seiner Besonderheit zur Allgemeinheit erhoben werden kann, da stellt sich

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22

Vgl. Zantwijk, Temilo van: »Ästhetische Anschauung. Die Erkenntnisfunktion der Kunst bei Schelling«, in: Johannes Grave/Reinhard Wegner (Hg.): Der Körper der Kunst. Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800, Göttingen 2007, S. 132-161. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke, I. Abteilung: 10 Bde. (= I−X); II. Abteilung: 4 Bde. (= XI−XIV), hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856-1861 (SW).

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noch im selben Atemzug die Frage nach einem unwiderruflichen Recht der Besonderheit des Besonderen ein. Deshalb ist auch gegen die Interpretation der Vernichtung des Besonderen als einer Invisibilisierung des Einzelnen, eines »Durchsichtig-Werden[s] auf das Ganze oder die Einheit hin«, der destruktive Charakter idealistischer Formästhetiken hervorgehoben worden.23 Allen voran Adorno erkennt in der Lehre eines geschichtslos, rein um seiner selbst willen Erscheinenden die Gefahr der Verherrlichung eines am Ende gewaltsam gegen den Einzelnen sich kehrenden Begriffs. Dem bloßen Selbstzweck sei, »im unerbittlich integern Mangel an Rücksicht auf den andern, auch Inhumanität nicht fremd«.24 Im Gefolge von Adorno stellen auch Jürgen Habermas und Peter Szondi eine dergestalt aus der »Nivellierung der Endlichkeit des Endlichen« hervorgegangene Identität radikal in Frage.25 Sie gäbe das Individuum in seiner je eigenen, nicht zuletzt geschichtlich-praktischen Formierung preis. Wo man aber wie Adorno, Habermas und Szondi den Wert des Endlichen als eines irreduziblen Endlichen und in eins damit die Verschiedenheit des Verschiedenen einklagt gegen eine Form der Identität, die immer schon darauf aus ist, jegliche Form von Individualität sub specie aeternitatis ästhetisch zu vernichten, da ist bekanntlich auch der berühmt-berüchtigte Einspruch Hegels aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes nicht weit, der ‒ gleichsam stilprägend für alle nachfolgende Idealismuskritik ‒ besagt, dass es sich bei einem derart »leblosen Schema« um die »Nacht« handeln würde, »worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind«.26 Die zeitliche Entgrenzung der Gegenwart in der ästhetischen Anschauung erweist sich in methodischer Hinsicht als eine Vernichtung von deren eigentlicher Zeitfülle.

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Leinkauf, Thomas: Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transformation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant, Münster 1998, S. 41f. Adorno, Theodor W.:Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 105. Habermas, Jürgen: Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken, Bonn 1954, 188f.; Szondi, Peter: »Schellings Gattungspoetik«, in: ders.: Poetik und Geschichtsphilosophie II, Frankfurt a.M. 1974, S. 222-237. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Bd. 9, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1980, S. 17. Vgl. dazu auch Marquard, Odo: »Hegels Einspruch gegen das Identitätssystem«, in: Dieter Henrich (Hg.): Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975, Bonn 1977, S. 103-112.

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III. Form als Zäsur. Zeit im Übergang zu Geschichte Schillers und Schellings ästhetische Theorien spiegeln die doppelte Erfahrungsgeschichte des historischen Umbruchs um 1800 wider. Zum einen findet die radikale Verzeitlichung aller Wissens- und Lebensbereiche in der Unabgeschlossenheit der ästhetischen Form geradezu ihre epistemische Entsprechung. In unverkennbarem Anschluss an, aber auch in deutlicher Abgrenzung vom geschichtlichen Fortschrittsoptimismus kantischer Prägung drängen sowohl Schiller als auch Schelling auf eine Gegenwartsdiagnose, die ihre eigene Zeit in die Krise gekommen sieht.27 Allein die Kunst vermag noch dem ›Riss‹, der so unheilbar durch die Zeit gefahren war, auf systemischer Ebene zu begegnen. Zum anderen verdeckt die reine ästhetische Form aber auch jenen Umbruch, um den es ihr geht. In dem Maße, wie uns die ästhetische Anschauung durch die Aufhebung oder gar Vernichtung der Zeit in der Zeit auf eine Zeit jenseits aller Zeitlichkeit verweist, muss sie zugleich eine ganz spezifische Form der Zeit verlieren: die Zeit der Geschichte. Mit ihr verschwindet eine Formensprache, die auf ontologischer Ebene gerade nicht systemischen Prinzipien wie Homogenität, Kontinuität und Unendlichkeit folgt, sondern temporale Figuren wie Zäsur, Umbruch, Unterbrechung, Ereignis, Geistesgegenwart, Latenz, Nachträglichkeit und Zeitsprung ins Zentrum stellt.28 Liest man die Struktur und Funktion der ästhetischen Anschauung auf diese Weise, so lässt sich, was im Grunde für eine Ästhetik der reinen Form spricht, gleichermaßen gegen sie wenden. Ist die Kunst, wie Schelling sagt, »ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß« (AA I,9,1, 328), dann greift sie ebendeswegen auch zu kurz, weil sie »Natur und Geschichte«, »Leben und Handeln« immer nur wieder von der zeitlichen Grenze des Augenblicks her, bloß präsentistisch, nicht aber in ihrem je eigenen, unvorhersehbaren, ja, auch unumkehrbaren Geschehen zu erfassen vermag. Das Absolute bleibt von der geschichtlichen Dynamik der Dinge selbst unberührt.

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Vgl. Jauß, Hans Robert: »Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes«, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, S. 67-106. Zum Folgenden vgl. Neumann, Peter: Zeit im Übergang zu Geschichte. Schellings Lehre von den Weltaltern und die Frage nach der Zeit bei Kant, Freiburg i.Br. 2019.

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So lässt sich die ästhetische Anschauung – und das ist der Punkt, auf den es hier ankommt – ihrer temporalen Struktur nach als ein »geschichtsfreies Refugium«29 verstehen. Zeit tritt aber nie als eine solche geschichtslose Größe in Erscheinung. Zeit wird immer wieder neu in Differenz zu anderen Zeiten geschichtlich-praktisch von uns hervorgebracht und widerfährt uns auf irreversible Weise im Prozess der Hervorbringung selbst. Erfahrung ist in diesem Sinne das, was sich ereignet, ein Akt des Vollzugs, der schlechterdings unvordenklich und einmalig geschieht.30 Stellt sich die ästhetische Anschauung als augenblicksförmig dar, so ist sie gerade deshalb außerstande, die Erfahrung des Wirklichen, des Neuen, des Realen zu bestimmen, das heißt, einen zureichenden Begriff von ihrem eigenen Anfang zu gewinnen. Die kontemplative Versenkung in die Zeit käme nur bis zu ihrem eigenen Nullpunkt. Was geschichtlich Epoche macht, bleibt im Schein ästhetischer Präsenz für sie bloße Episode. Schiller und Schelling ist dieses Problem, ästhetische Form nicht nur als scheinhaften Übergang, sondern im emphatischen Sinne als Zäsur zu verstehen, nicht entgangen. Schiller stellt seiner Ästhetik des Schönen darum auch mit seiner 1801 erschienenen Abhandlung Über das Erhabene eine Ästhetik des Erhabenen an die Seite.31 Das Erhabene müsse, heißt es dort, »zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen und die Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens nach dem ganzen Umfang unsrer Bestimmung, und also auch über die Sinnenwelt

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Dietzsch, Steffen: »Naturphilosophie als Handlungstheorie? Geschichtsphilosophische Bemerkungen zur frühen Naturphilosophie Schellings«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (7/1975), 1467‒1476, hier S. 1475. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: »Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz«, in: ders.:Gesammelte Werke, Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Tübingen 1986, S. 133-145; Hammer, Espen: Philosophy and Temporality from Kant to Critical Theory, Cambridge 2011; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: »Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte. Einsichten und Paradoxien«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65 (2018), Heft 1, S. 2-24. Vgl. Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995; von Wolff-Metternich, Brigitta-Sophie: »›Wenn das Erhabene mit dem Schönen sich verbindet …‹. Moral- und geschichtsphilosophische Implikationen der Schillerschen Ästhetik«, hg. vom Weimarer Schillerverein u. der Deutschen Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2004; Ehlers, Nils: Zwischen schön und erhaben. Friedrich Schiller als Denker des Politischen. Im Spiegel seiner theoretischen Schriften, Göttingen 2011.

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hinaus, zu erweitern« (NA 21, 52). Während das Schöne die Vernunft in ein resonierendes Verhältnis mit der Welt setzt, soll das Erhabene sie gerade zum Verstummen bringen. Im Unterschied zum Schönen öffnet sich im Erhabenen kein Resonanzraum, in dem die Vernunft sich selbst bespiegeln kann; im Angesicht einer plötzlich auftauchenden Gefahr verschließt sich dieser vielmehr.32 ›Erhaben‹ nennt Schiller ein Objekt, das die Freiheit des menschlichen Geistes gegen die sie zu entmächtigen drohende Unfreiheit in Gestalt der Natur, des Schicksals oder der Geschichte zur plötzlichen Gegenwehr aufruft. Im Angesicht des stürmischen Ozeans, eines brennenden Vulkans, reißender oder giftiger Tiere, oder einer Revolution, die über uns hereinzubrechen droht, öffnet sich ein Abgrund für die Vernunft: Der Mensch muss einsehen, wie ohnmächtig er den Gewalten der physischen Welt gegenübersteht, wie sehr er ihnen als Wesen der sinnlichen Welt, das er zunächst und zumeist ist, ausgeliefert ist, einer Übermacht, gegen die er sich nur behaupten kann, indem er als Wesen der geistigen Welt, das er nicht auch, sondern vor allem ist, auf seine eigene Freiheit reflektiert. Das Erhabene stellt die Vernunft sozusagen auf die Probe, und zwar diese zu sein oder gar keine. Der Mensch muss sich im wahrsten Sinne ›entscheiden‹: Er muss sich zur Freiheit entscheiden, indem er sich von der zerstörerischen Kraft der Natur, die ihn von außen bedrängt, im Moment der Gefahr lossagt.33 In diesem Sinne muss das Erhabene im Sinne Schillers auch zum Schönen dazukommen. Es ist nicht allein die Schönheit, in der sich die Freiheit zu erkennen gibt. Das Schöne muss sich mit dem Erhabenen verbinden, weil es selbst noch immer zu sehr von den Bedingungen der Sinnlichkeit abhängt, an den Gegenständen der äußeren Erscheinungswelt haftet. Erst im Gefühl des Erhabenen, das Ausdruck eines tragischen Konfliktes zwischen Natur und Freiheit ist, sind wir ganz frei, auf den Nullpunkt unserer eigenen Existenz zurückgestellt. Erst von hier aus, der zurückerlangten Freiheit, können wir unserer eigenen Gegenwart als Zeitgenossen gegenübertreten. Ein Zustand,

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Vgl. Hühn, Helmut: »Freiheit und Zeit. Zur Temporalität des Schönen und des Erhabenen«, in: ders./Dirk Oschmann/Peter Schnyder (Hg.): Schillers Zeitbegriffe, Hannover 2018, S. 325-344. Riedel, Wolfgang: »›Weltgeschichte ein erhabenes Object‹. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken«, in: Am Beginn der Moderne. Schiller um 1800. Mit Beiträgen von Nobert Oellers und Wolfgang Riedel, hg. vom Weimarer Schillerverein Weimar u. der Deutschen Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2001, S. 3-22.

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der zwar eben so wenig von Dauer ist wie der Moment ästhetischen Anschauens, aber das widerstehende Potenzial menschlichen Handelns spürbar werden lässt.34 Das Erhabene, sagt Schiller, »verschafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte«. (NA 21, 45) Auch Schelling nimmt konzeptionelle Korrekturen vor, um der Wirklichkeit menschlichen Handelns gerecht werden zu können. Der Eigendynamik von Natur und Geschichte, Leben und Handeln auf den Grund zu kommen, bildet das Grundmotiv für die in verschiedenen Anläufen ausgearbeitete Weltalterphilosophie ab 1811, die am Ende doch Fragment bleibt. Genau wie Bergson übt Schelling Kritik am vereinseitigenden, jede zeitliche Qualität nivellierenden Präsentismus der Moderne. Die Fälle ›um 1800‹ und ›um 1900‹ sind verwandt, auch wenn die gemeinsame Stoßrichtung ihrer ›Zeit‹-Kritik nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Bergson und Schelling durchaus unterschiedliche Gegenmodelle zum Konzept der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Zeit kantischen Zuschnitts verfolgen. Während Bergson die reine Dauer, die von ihm auch als ›wirkliche Zeit‹ bezeichnet wird, gegen die abstrakt-lineare Zeit Kants aufbietet, arbeitet Schelling einer ›unreinen‹, weil immer schon mit Geschichtlichkeit und der Erfahrung endlicher, 34

Vgl. Koopmann, Helmut: »Das Rad der Geschichte. Schiller und die Überwindung der aufgeklärten Geschichtsphilosophie«, in: Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hg.): Schiller als Historiker, Stuttgart/Weimar 1995, S. 59-76. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Versuch von Koopmann, aus diesem Befund heraus der gegenläufigen Tendenz nachzuspüren und zu prüfen, in welcher Weise sich Schiller in seiner ästhetischen Theorie auch auf das geschichtlich Negative bezieht. Insbesondere beim ›ästhetischen‹ Schiller, so hält Koopmann fest, lasse sich erkennen, »daß die Moderne nicht mehr in ihrer Gloriole, sondern vielmehr in ihrer Miserabilität gesehen wird, in ihrer Zerrissenheit und Zerspaltenheit, in ihrer zerstörerischen Widersprüchlichkeit und in ihrer für den Menschen wie für die Kultur gleichermaßen tödlichen Gegensätzlichkeit« (S. 68). Auch Hofmann, Michael: Schiller. Epoche – Werk –Wirkung, München 2003, S. 87, erkennt bei Schiller – angestoßen durch Revolutionserfahrungen – »Zweifel an einer Kohärenz des Geschichtsverlaufs und an der Vorbildlichkeit der Zustände seiner Gegenwart«. Zu beachten bei der hier diagnostizierten Gegentendenz bleibt aber: Die Zweifel an den Errungenschaften der eigenen Gegenwart gehen bei Schiller noch nicht mit einer radikalen Wende zur geschichtlichen Gegenwart einher. Vielmehr bringt die Wendung zur poetischen Wahrheit der Geschichte beim ›ästhetischen‹ Schiller wiederum »die Gattung und nicht das sich so leicht verlierende Individuum« (NA 25, 154) in den Blick. Der unverkennbaren Vielseitigkeit des Schiller’schen Zeit- und Geschichtsdenkens widmet sich der Sammelband von Hühn/Oschmann/Schnyder: Schillers Zeitbegriffe (Anm. 32).

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menschlicher Freiheit beschlagenen Eigenzeitlichkeit entgegen. Es ist dieses Moment geschichtlicher Positionalität, das Schelling im Ganzen näher an existenzphilosophische Zeittheoretiker wie Kierkegaard heranrückt: Zeit und Zeitlichkeit erscheinen nur in den Grenzen der eigenen, je geschichtlichen Existenz.35 Galt es in der Philosophie der Kunst von 1804 noch als ausgemacht, die »Individualitäten der größten Meister« (SW V, 363) im Allgemeinen charakterisieren zu können, so fällt die Ästhetik in den Weltaltern sehr viel bescheidener aus. Die Philosophie steht nicht mehr »auf der gleichen Höhe« (SW V, 369) mit der Kunst; deshalb nicht, weil sie ‒ im ›gegenwärtigen‹ Zustand der Negativität ‒ selbst noch nicht auf der Höhe, das heißt, selbst noch nicht Wissenschaft im eigentlichen – ›geschichtlichen‹ – Sinne ist. Als Wissenschaft wäre sie, wie Schelling betont, was sie ihrem Wesen und ihrer Wortbedeutung nach ist: »Historie« (WA, 204) im Sinne einer Erzählung der lebendigen Entwicklung des Absoluten.36 Davor muss die ›gegenwärtige‹ Philosophie aber ihre Waffen strecken: Sie hat selbst noch nicht die ästhetischen Mittel an der Hand, um das zu leisten, was zu leisten ihre Bestimmung ist. Wozu das ›große Epos‹ einmal imstande sein soll, davor muss die ›gegenwärtige‹ Wissenschaft noch zurückschrecken: »Nicht Erzähler können wir seyn, nur Forscher, abwägend das Für und das Wider jeglicher Meynung, bis die rechte feststeht, unzweifelhaft, für immer gewurzelt«. (WA, 9) Schillers und Schellings Erweiterungen bzw. Korrekturen ihrer ästhetischen Ansätze werfen Fragen auf, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Fragen der Vergeschichtlichung und Selbsthistorisierung, die für eine ästhetische Theorie der Moderne noch immer von entscheidender Bedeutung sind. Die Temporalität der reinen ästhetischen Form, so sollte im Durchgang durch diese methodischen Grundüberlegungen in exemplarischer Weise deutlich werden, vermag diesem Anspruch nur bedingt Rechnung zu tragen. Die Kontrastierung von Kunst als geschichtsfreiem Refugium und Geschichte als zeitgebundener Praxis erfolgt in den Ästhetiken der reinen Form um 1800 noch nicht entschieden genug.

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Zur Kritik am Mythos einer reinen, von aller Geschichtlichkeit entbundenen, bloß in sich selbst versunkenen Dauer vgl. Horkheimer, Max: »Zu Bergsons Metaphysik der Zeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931-1936, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M. 1988, S. 225-248. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. von Manfred Schröter, München 1946 (WA).

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Im Begriff der ›musikalischen Form‹ kreuzen sich historische und systematische Perspektiven. Als historischer Terminus erlangt der Begriff ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts musiktheoretische Bedeutung und reagiert auf den erhöhten Systematisierungsbedarf, der aus den kompositorischen Freiheitsgraden autonomieästhetischer Konzepte erwächst. Er ist somit Indikator einer Selbstbezüglichkeit, die die sich neu eröffnenden Kontingenzen kompositorischer Entscheidungsprozesse reflexiv begleitet und als formale Elemente markiert und exponiert. Als systematische Kategorie verweist der Begriff dagegen auf eine spezifische, relational strukturierte mediale Disposition des musikalischen Materials, die sich über die historischen Spielarten von ›Musik‹1 hinweg erstreckt: Bausteine musikalischer Formgestaltung sind Tonhöhen- und Tonlängenverhältnisse, Intervalle und rhythmische Proportionen, d.h. nicht einzelne Elemente, sondern ein distinktes Repertoire gleichsam ›elementarer Relationen‹. Je nach kultureller und historischer Ausprägung kann es sich dabei um mathematische Proportionen, um eine ars magna consoni et dissoni,2 um eine Kombinatorik rhetorischer Figuren oder auch um ein motivisch-thematisches Geflecht handeln. Töne sind Träger dieser ›elementaren Relationen‹ und musikalische Form bildet in der vielfach gestaffelten Relationierung von Relationen ein mehrschichtiges Gefüge, dessen leitende satztechnische Prinzipien in musiktheoretischen Traktaten, in Harmonie-, Kontrapunktund Generalbaßlehren und ab dem späteren 18. Jahrhundert dann auch in Formen- und Kompositionslehren niedergelegt werden. Abhängig von 1 2

Zur historischen und kulturellen Begrenztheit des Begriffs ›Musik‹ als Abstraktum vgl. Bohlman, Philipp: World Music. A Very Short Introduction, Oxford 2002, Seite 7f. So der Titel einer in der pythagoreischen Musiktradition stehenden Schrift von Athanasius Kircher aus dem Jahr 1650. Kircher, Athanasius : Musurgia universalis sive Ars Magna Consoni et Dissoni, Rom 1650.

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den historisch sich wandelnden Gestaltungsspielräumen der Formbildung innerhalb der Medium-Formverhältnisse, d.h. abhängig von kompositorischen Regulativen, die entweder feststehende Form- und Satzmodelle stärker betonen oder die umgekehrt die Lizenz geben, von prädefinierten Formabläufen abzuweichen, verfügt der Begriff daher stärker über genreund gattungstypologische Implikationen oder über Akzente, die die je individuelle Gestalt eines einzelnen Werks in der Gesamtheit seiner Relationen in den Vordergrund stellen. In dieser changierenden Bedeutungsbestimmung hat sich der Begriff schließlich im ausgehenden 19. Jahrhundert weitgehend etabliert, findet in verschiedenen semantischen und ästhetikgeschichtlichen Ausfaltungen Eingang in musikalische Enzyklopädien und Lexika3 und wird Grundlage einer musikanalytischen Praxis, die sich unmittelbar am Raster der ›Formenlehren‹ orientiert: »Formenlehre ist…«, so ein 1978 publizierter Eintrag in dem 1882 von Hugo Riemann begründeten Riemann-Musiklexikon, die systematische Darstellung von Typen der Gliederung mus. Werke, der Gruppierung thematischer und nichtthematischer Teile und der Disposition der Tonarten. […] A.B. Marx sah in der Dreiteiligkeit, der Gliederung in Exposition der Thematik, modulierenden Bewegungstheil und Reprise ein Naturgesetz der mus. Form. Im Gegenzug zu dem Verfahren, Formen als Dispositionen von Teilen zu erklären, betont. H. Riemann den thematisch-motivischen Zusammenhang […]. Andererseits legt der Sachverhalt, daß Formkategorien wie Exposition, Verarbeitung und Wiederkehr, Fortsetzung und Überleitung, Vorbereitung, Episode und Anhang, Steigerung und Auflösung nicht ohne Berücksichtigung satztechnischer und stilistischer Bedingungen sinnvoll anwendbar sind, die Folgerung nahe, die F. in mus. Analyse (E. Ratz) oder historischer Typologie (Ansätze bei H. Leichtentritt) aufgehen zu lassen.4 In dieser definitorischen Gemengelage, die keineswegs untypischerweise systematische Bestimmungsansätze mit spezifischen kompositionsgeschichtlichen Ausprägungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verschränkt, dominiert ein syntaktisch bestimmtes Formverständnis, das sich über die 3

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»Die formalen Momente der Musik […] sind im allgemeinen nicht an ein einzelnes Substrat (Höhe, Dauer, Stärke) gebunden, sondern in Wechselwirkungen zwischen den elementaren Faktoren begründet.« Dahlhaus, Carl: »Form«, in: Brockhaus Riemann Musiklexikon in zwei Bänden, hg. von Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Wiesbaden/Mainz 1978, S. 418. Dahlhaus, Carl: »Formenlehre«, in: Brockhaus Riemann Musiklexikon (Anm. 3), S. 419.

Die Dynamisierung der musikalischen Form

relationale Grundstruktur legt: Feingliedrig differenzierte Segmente werden in übergreifenden Beziehungszusammenhängen zu Einheiten zusammengebunden, die dann ihrerseits wiederum die Bausteine umfassenderer Relationen bilden. Auf diese Weise entwickelt sich musikalische Form als sukzessiver Ausbau motiv-thematischer Arbeit über Perioden- und Satzbildung zu größeren Formabschnitten, die sich schließlich zum Werk als Ganzem zusammenschließen und gattungsspezifische Formmodelle hervortreten lassen. Oder in umgekehrter Perspektive formuliert: Der makrostrukturelle Aufbau stellt das Raster für die Elaborierung darauf abgestimmter Einzelmomente der Form bereit. Die ästhetische Komplexität, die aus dieser syntaktischen ›Fugung‹ und dem Zusammenspiel vielschichtiger Relationen erwächst, wird im ausgehenden 18. Jahrhundert insbesondere im Medium der Zeit und der hier sich manifestierenden Dynamisierungen reflektiert. Die vielschichtige Verknüpfung der formbildenden Elemente fordert – nach den Worten von Christian Friedrich Michaelis – in hohem Maße »die Einbildungskraft« des Hörers, dem unendlich viel Eindrücke in zu geschwinder Zeit vorbeieilen, und das Gemüth in der rauschenden Fluth der Töne zu rasch fortgerissen wird, oder auch (wie in vielstimmigen fugirten Compositionen) die Melodieen zu vielfach sich in einander harmonisch verwickeln, als daß die Einbildungskraft das Mannichfaltige leicht und ruhig zu einem Ganzen vereinigen und als ein Ganzes ohne Anstrengung übersehen könnte.5 Der hier von Michaelis im Anschluss an Immanuel Kants kritische Philosophie hervorgehobene Vorgang einer »Objektivierung« als das »Bilden eines Ganzen«, das »in der Musik vorzüglich« durch eine Verknappung von Wahrnehmungsressourcen »erschwert oder vereitelt«6 wird, berührt ein grundlegendes Moment – die Zeitgestaltung –, das auf so vielfältige Weise mit der Musik verbunden ist wie es historisch sich wandelnde Zeitvorstellungen selbst gibt. Im Rahmen der in diesem Beitrag interessierenden Zusammenhänge lenkt dieses Moment den Blick auf eine aus musiktheoretischen Traditionen heraus möglicherweise erklärbare, aber letztlich doch erstaunliche Facette des Formbegriffs um 1800: die des weitgehenden

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Michaelis, Christian Friedrich: Über den Geist der Tonkunst und andere Schriften, hg. von Lothar Schmidt [= Musikästhetische Schriften nach Kant, Bd.2, hg. v. Rainer Cadenbach], Chemnitz 1997, S. 242f. Ebd.

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Ausschlusses dynamisierter Zeitverhältnisse aus der musiktheoretischen Reflexion. Die veränderte Zeitsemantik des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit ihren Temporalisierungsschüben und die gleichsam ›autopoietisch‹ operierenden, den Prozeßcharakter von Musik selbstreferentiell in Szene setzenden Verfahren der musikalischen Formgestaltung hätten nahegelegt, den tradierten musiktheoretischen Routinen stärker auch systematisierende Zugriffe an die Seite zu stellen, die sich an prozessualen Abläufen orientieren und damit über die Prinzipien der »Fortschreitung« oder »Fortspinnung«, wie sie die vorausgehenden Kontrapunkt- oder Generalbaßlehren des 17. und 18. Jahrhunderts prägen, hinauszugehen. Im Musikleben selbst ist dieser Aspekt einer zunehmenden Dynamisierung als neue ästhetische Erfahrung dagegen nahezu omnipräsent: in den zeitgenössischen Kompositionen und ihren vielbeachteten stilistischen Innovationen ebenso wie in den Hörerfahrungen, den semantisch-metaphorischen Repertoires der Sprache, die in Musikzeitschriften und Literatur gepflegt wird, oder in aggregierenden Begriffen wie dem der ›musikalischen Romantik‹ – allein in musiktheoretischen und musikanalytischen Ansätzen findet dieser Umstand keine, oder allenfalls indirekte Resonanz.7 Diese Zurückhaltung mag – wie bei Michaelis andeutungsweise erkennbar – mitbedingt sein durch eine Anlehnung an philosophische Traditionen und deren zunehmende begriffliche Diffusion in stärker popularisierten Formen ästhetischer Kommunikation, in deren Zuge »Zeit« als »innerer Sinn«8 innerhalb der sich öffnenden Schere zwischen Produktion und Rezeption aus dem Gebiet musiktheoretisch ›objektivierbarer‹ Dimensionen der Formgestaltung ausgeschieden und – mit einer gewissen semantischen Geschmeidigkeit – in das Gebiet subjektiver Wahrnehmung

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Symptomatisch hierfür ist E.T.A. Hoffmanns vielbeachtete Rezension der fünften Sinfonie Ludwig van Beethovens in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung aus dem Jahr 1810, in der die neuartige syntaktische, motivisch-thematische Komplexität des Werks musikanalytisch detailliert beschrieben wird, die Rezension jedoch immer dann, wenn Aspekte der (für die damaligen Hörer offenkundig höchst frappierenden) entwicklungsdynamischen Prozesse thematisiert werden, in ein metaphorisch aufgeladenes, divinatorisches Sprachregister wechselt und die subjektive Dimension des Musikhörens betont. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: »Rezension der Sinfonie Nr. 5 op. 67 von Ludwig van Beethoven«, in: AMZ XII. Nr. 40, 41 (1810). Sp. 630-642, Sp. 652-659. So Immanuel Kants differenzierende Zuordnung, die in musikästhetischen Schriften dieser Zeit aufgegriffen und dort – aus der Struktur des Kant’schen Begriffsgefüges herausgelöst – oftmals freier und in ihrer Bedeutung weniger verbindlich verwendet wird.

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verschoben wird. Um 1900 hat sich diese (etymologisch abgefederte) Reduktion des Formbegriffs auf syntaktische Zusammenhänge, auf ›Umriss‹ und ›Gestalt‹, die das Werk primär als vielstufig in sich verschachteltes relationales Gefüge, als gleichsam räumlich fixierbares Endprodukt begreift, weitgehend durchgesetzt. Dies hängt nicht zuletzt mit der Ausdifferenzierung der Musikwissenschaft als universitärer Disziplin und der damit einhergehenden Standardisierung musikanalytischer Methoden zusammen, die aus der Kanonisierung einer spezifischen musiktheoretischen Richtung und der hier geleisteten Systematisierung musikalischer, insbesondere auch harmonischer Strukturen hervorgegangen ist.9 Gleichwohl ist die Frage nach der theoretischen Durchdringung der zeitlichen Dimension musikalischer Formbildung nicht ganz verstummt, sondern tritt – von den Rändern des Fachs her und in Rückgriff auf andere Wissenstraditionen – mit kritischen Impulsen in das Feld wissenschaftlicher Diskussionen ein: Auf höchst unvollkommenem und daher meist falsch auslaufendem Wege ist die Lehre, welche sich auf die Anweisung beschränkt, diese und jene Verteilung von Themen, Perioden, Satzgruppen usw. zu verfolgen, bis zur Beschreibung des Gesamtumrisses; das ist zwar ein Teil der Aufgabe, unumgänglich, und es kann doch um sie herumführen, wenn es nicht andere ihrer Untergründe mit einschließt; man soll vielmehr zur Empfindung hindringen, wie inneres Drängen und Entwickeln sich in Formkurven ergießt, wie das Formen zur Form wird. WIRD, nicht erstarrt! […] Die Musikwissenschaft, und wohl vor ihr noch die Pädagogik, hat allzuleicht vergessen, daß wir in der Musik streng genommen keine Form haben, sondern einen Formvorgang. Wir müssen uns also daran gewöhnen, beim Begriff »Form« in etwas anderm die Hauptsache zu sehen als in den äußeren Umrissen, die selbst nur Fingerzeig für jenes andere sind und auf die eine allzubillige Betrachtungsweise ihr bequemes Schwergewicht legt.10

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Beispielhaft stehen hierfür die musikwissenschaftlichen Ansätze Hugo Riemanns, die ihren Niederschlag in seinem umfangreichen Schrifttum der Jahre 1874 bis 1918 gefunden haben. Kurth, Ernst: Bruckner, 2 Bde., Berlin 1925, Bd. 1, S. 233ff.

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Ernst Kurth, der Autor dieser Zeilen,11 legt den Akzent auf ein prozessual orientiertes Verständnis von musikalischer und im weiteren Sinne auch: ästhetischer Form. Form, definiert als »Spannungsbegriff«, als eine »in Schwebe gehaltene Wechselwirkung von Kraft und deren Bezwingung in Umrissen«12 umfasst in ihrem involutiven Charakter zwei Formbegriffe: einen tradierten engeren und einen weiter gefaßten, der – seinerseits relational definiert – als Ergebnis vielgestaltiger Operationen den eigentlichen Gegenstand der musikalischen Analyse bildet und dabei den enger gefassten Formbegriff als eine seiner Dimensionen einschließt. Die spezifische Charakteristik, die die Gestaltung dieser Relation, dieses »Übergang[s] von Kraft in Form«13 jeweils kennzeichnet, und die Anteile, die dabei jeweils »Formung« und »Form«, »Kraft« und »Umriss« zukommen, sind dagegen historische Variablen, die den Boden für stilgeschichtliche Untersuchungen bereiten. In der Verallgemeinerung einer spezifischen historischen Konfiguration, von der ausgehend unzulässigerweise nur einer der beiden Pole prämiert wird und die daher dazu verleitet, stilgeschichtliche Besonderheiten als »Formgesetze« oder gar mediale Charakteristika von Musik zu missdeuten, liegt der Grundfehler tradierter musikwissenschaftlicher Positionen: Die Enge des historischen Blicks hat auch hier Unheil gestiftet; die Formenlehre, die heute Lehrwesen und Ästhetik beherrscht, ist im wesentlichen eine Frucht der nachklassischen Zeit, baut auf Betrachtungen, die schon 11

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Ernst Kurth, innerhalb des disziplinären Kontextes wissenschaftlich und institutionell weitgehend isoliert, wird erst spät auf eine Professur in Bern berufen. Kurth verfolgt innerhalb seiner umfangreichen form- und stilgeschichtlichen Untersuchungen den Ansatz einer integralen, philosophische, psychologische und physiologische Ansätze einbeziehenden musikwissenschaftlichen Forschung. Zentrale Bezugspunkte seiner Arbeit sind daher nicht die um 1900 weitgehend standardisierten Analysemethoden des Fachs Musikwissenschaft, sondern die wissenschaftlichen Innovationen des 19. Jahrhunderts und deren Weiterentwicklungen im 20. Jahrhundert. Seine 1912 eingereichte Habilitationsschrift Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, die nachfolgende Untersuchung zu Grundlagen des linearen Kontrapunkts, eine umfassende Studie zur Romantischen Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«, eine zweibändige Monographie zu Bruckners symphonischem Werk sowie seine letzte Schrift Musikpsychologie bilden je einzelne, aber kohärent miteinander verbundene Stationen, Traditionen einer wechselseitig eng aufeinander bezogenen geistes- und naturwissenschaftlichen Forschung für die Musikwissenschaft nicht abreißen zu lassen. Kurth: Bruckner (Anm. 10), S. 234. Ebd., S. 233.

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dem klassischen Schaffen unmittelbar, aber am Äußerlichen nachtastend mitfolgten, und hat es unterlassen, Abstand von den Vorbildern zu gewinnen. […] Diese ganze Sinnwidrigkeit hat wieder zwei Wurzeln: sie rührt erstens von der mangelnden Erkenntnis, daß der Formbegriff keineswegs (auch beim Klassizismus nicht) allein in den Umrissen beruht, zweitens von dem noch schlimmeren Widersinn, von klassischen Umrißmerkmalen in das Wesen anderer formaler Triebkräfte der älteren Musikgeschichte eindringen zu wollen.14 In diesen kritischen Interventionen und anderen, vergleichbaren Diskussionsansätzen deutet sich an, dass im Formbegriff grundlegende wissenschaftliche Verfahren verhandelt und auf je spezifische Weise neu ausgerichtet werden: Dies betrifft die Beobachtungsebenen, von denen aus die Trennlinie zwischen historischen und systematischen Zuständigkeiten gezogen wird und die damit wesentlich den Zuschnitt des Gegenstandsfeldes bestimmen; dies betrifft, eng damit verbunden, die Frageimpulse und Untersuchungshorizonte, die die unterschiedlichen Implikationen des Begriffs jeweils perspektivisch eröffnen; und dies betrifft in direkter Konsequenz dann auch die Modi seiner konkreten stilhistorischen und musikanalytischen Operationalisierung. Die in den unterschiedlichen Begriffsbestimmungen sich auf je verschiedene Weise manifestierende Binnenstruktur des Formbegriffs (also gleichsam seine eigene ›Form‹) entscheidet somit über basale musikwissenschaftliche Zugangsweisen – und Kurths Bestrebungen einer Redefinition dieser zentralen Kategorie ist ineins ein Versuch, die in den Begriff eingelagerte, historisch gewachsene, ästhetisch-philosophische und empirisch-naturwissenschaftliche Komplexität für das eigene Fach verfügbar zu machen. Im Folgenden seien einige Schlaglichter auf diesen Zusammenhang geworfen. *** Den musiktheoretischen und analytischen Zugängen, die, blind für musikhistorische Unterscheidungsnotwendigkeiten, »an einer Überschätzung der Außenumrisse«15 leiden, setzt Kurth eine andere Definition von Musik

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und musikalischer Form entgegen. Diese knüpft an ein philosophisch-semantisches Repertoire an, das gerade auch in musikästhetischen Kontexten tiefe Spuren hinterlassen hat: Musik ist nicht nach einem oft variierten Wort »tönende Architektur«, sondern bauender Wille. Darum ist es widersinnig so vorzugehen, als würden wir die Form nur sehen; damit denkt man immer allein an die starr gewordenen Umrisse; wir empfinden die Form. […] Denn Musik ist keine Augenkunst. Nicht daß die Formen (nach dem Umriß für jedermann mechanisch beschreibbar) da sind, ist von Belang, sondern aus welcher Dynamik sie ausgeworfen sind. Und auch das gilt ebenso von den kleinsten formalen Teilerscheinungen an.16 Arthur Schopenhauers Philosophie und die Sonderstellung, die der Musik in diesem Rahmen unter den Künsten zugewiesen wird, bilden unverkennbar den Bezugspunkt dieser Einlassungen. Im weiteren argumentativen Verlauf lösen sich Kurths Ausführungen jedoch weitgehend von der ursprünglich metaphysischen Grundierung einer solchen Bestimmung. Jenseits des zunächst offensichtlich dominierenden Impulses, den Formbegriff in der Bindung an Schopenhauers Kategorie des »Willens« mit einer gewissen plakativen Geste aus den diagnostizierten Einseitigkeiten zu lösen, deutet die vorausgehende Definition von Form als Spannung zwischen Formung und Form, zwischen »innere[m] Formtrieb und äußere[r] Formabzeichnung«,17 bereits darauf hin, dass dieser Begriff aus einem Wechselspiel zeit- und raumbasierter Kategorien, und damit auch: auditiver und visueller Wahrnehmung rekonstruiert wird – und dies sowohl in Rückgriff auf Traditionslinien, die hinter Schopenhauer zurückführen, als auch in Übernahme zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Damit tritt das dominante differenzbildende Kriterium, das Schopenhauer in der Unterscheidung zwischen Musik und den anderen Künsten hervorhebt, hinter die je spezifischen Relationen und Funktionen zurück, die auditive und visuelle Faktoren vor dem Hintergrund materialer Eigenschaften und physiologischer Bedingungen in den einzelnen Kunstarten einnehmen. Sie erzeugen unterschiedliche Ausgangsbedingung, gleichsam verschiedene Grunddispositionen für die Formbildung, deren historisch variable Konstellationen und Akzentsetzungen dann das Zusammenspiel der

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Ebd., S. 235. Ebd., S. 234.

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Künste und damit (avant la lettre) auch deren intermediale Potentiale bestimmen. Diese Neudeutung verdankt sich zu wesentlichen Teilen einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die im Gefolge der Fortschritte naturwissenschaftlich-empirischer Forschung Ergebnisse physiologischer Untersuchungen in die Reflexion ästhetischer Zusammenhänge einfließen lässt und dies mit den in Kant’scher Tradition stehenden Fragen nach den »Formen der Anschauung«, die den Zeitund Raumvorstellungen, dem »inneren« und »äusseren Sinn«18 jeweils zugrundeliegen, auf neue Weise verbindet. Diese Impulse einer, wenn man so will, naturwissenschaftlich-physiologisch fundierten ›Modernisierung‹ philosophischer Positionen, die nicht zuletzt auch in Hermann von Helmholtz einen einflussreichen Repräsentanten findet, deuten sich schon in der Schopenhauer-Rezeption Richard Wagners an, der in seiner 1870 verfassten Schrift Beethoven19 mit dem Begriffspaar »Lichtwelt« und »Schallwelt« eine medial fundierte Differenz zwischen den im Wortsinne ›theatralen‹, durch Tanz, Gebärde, Architektur und bildende Kunst bestimmten Künsten auf der einen und der Musik auf der anderen Seite akzentuiert. Innerhalb der einzelnen Künste dupliziert sich diese Dichotomie dann als Zuordnungslogik der formbildenden Parameter, die in unterschiedlichem Maße durch auditive oder visuelle Anteile geprägt scheinen und in der gezielten formalen Exposition dieser ihrer jeweiligen Affinität ästhetische Prägnanz gewinnen.20 Diese ›re-entry‹-Figur und die sich damit zwischen den Künsten eröffnenden strukturellen Bezüge und Kopplungsmöglichkeiten bestimmen letztlich Wagners kompositorisch-konzeptuelles Vorgehen im Rahmen der intendierten ästhetischen Innovationen des »Dramas« respektive »Gesamtkunstwerks«.21 Musik ist hierbei grundsätzlich in einer Doppelfunktion präsent: einerseits als ein

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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft, Riga 1781. Wagner, Richard: »Beethoven«, in: Dichtungen und Schriften, Bd. 9, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1983, S. 46. Konkret knüpft Wagner in seiner Beethoven-Schrift an Schopenhauers Denkfiguren der »Hellsichtigkeit« und des »Geistersehens« an, die verschiedene, aber komplementäre Spielarten der Objektivierung von Raumvorstellungen in der Wendung von Innen nach Außen darstellen und damit geeignet sind, mediale Differenzen zwischen den Künsten und zwischen formbildenden Prozessen zu charakterisieren. Der Begriff des »Dramas« ist bei Wagner theoretisch durchgearbeitet; der von ihm äußerst selten benutzte Begriff des »Gesamtkunstwerks« besitzt dagegen eher den Charakter einer metaphorischen Umschreibung seines ästhetischen Konzepts.

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von den anderen Künsten geschiedenes Phänomen, das an die Schopenhauersche Dichotomie zwischen »Wille« und »Vorstellung« anknüpft, anderseits als ein durch »Licht-« und »Schallwelt« vielfältig binnengestaffeltes Medium, das sich über einzelne seiner Gestaltungsparameter – etwa den Rhythmus als gleichsam physisch dominiertes Moment der Formgestaltung – unmittelbar mit den visuell-theatralen Dimensionen der Gebärde und einer metrisch konturierten sprachlichen Artikulation zu verbinden vermag. Diese Doppelfunktion greift bis in kleinste kompositorische Details der formbildenden Prozesse ein, bestimmt die Wechselbeziehungen und Spannungen zwischen den musikalischen Parametern und damit zugleich die stilbildenden Mittel, die den Einsatz von Harmonik, Rhythmik, Melodik, Dynamik, Instrumentation sowie ihr Verhältnis untereinander kennzeichnen. Die kompositorische Aktivierung dieser Verflechtungspotentiale zwischen den Parametern führt dann nahezu zwangsläufig zu einer weiteren Binnendifferenzierung innerhalb der formbildenden Parameter selbst, die zwischen den Polen »Lichtwelt« und »Schallwelt« in der Feingliedrigkeit ihrer eigenen Binnenrelationalität über die Flexibilität verfügen, mal stärker Momente der Umrissgestaltung, mal stärker Aspekte der Prozessualität hervorzuheben (auf harmonischer Ebene beispielshalber im Gegenüber von diatonisch geprägter Dur-MollTonalität und einer von Spannungen durchsetzten Alterationschromatik). Auf diese Weise können sie sich (z.B. in einer vom Metrum weitgehend abgelösten rhythmisch freien Bewegung) anderen Verfahren (etwa der Entwicklung eines von syntaktischen Einschnitten losgelösten Melos) anpassen und deren Formimpulsen folgen. Diese eng aufeinander abgestimmten Gestaltungsprinzipien, die zugleich in der spezifischen, funktional bestimmten Verwendung musikalischer Parameter und ihrer kompositorischen Elaboration stilbildende Wirkung entfalten, prägen nicht nur (wie Wagner in Tristan und Isolde gleichsam paradigmatisch vorführt) die kompositorische Gestaltung im Detail, sondern auch die Grundkonzeption einzelner Werke. Die großformale Disposition basiert hier nicht primär auf einer übergreifenden Gliederung syntaktischer Art (die nur die eine Seite des Formbegriffs umfasste), sondern leitet sich aus einem Formverständnis ab, das den involutiv angelegten Doppelcharakter des Formbegriffs akzentuiert. So gliedert sich beispielshalber Tristan und Isolde, jenseits der an der äußeren Handlung orientierten Einteilung in drei Aufzüge, in zwei gänzlich unproportionierte Abschnitte: in eine orchestrale »Einleitung« einerseits, in der die Musik in

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Auslotung all ihrer Potentiale als »unmittelbare Äußerung des Willens«22 und als formbildende Kraft eine »ganze Welt« entstehen lässt und damit bereits »alles in sich enthält«,23 was die nachfolgenden drei Aufzüge dann im Detail entfalten – und in ein »Gleichnis« andererseits, das als »wirklich vor unseren Augen sich bewegende[s] Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik«24 diesen fombildenden Kräften mit der »Handlung in drei Aufzügen«25 eine spezifische Gestalt verleiht; eine Gestalt, an der Musik dann ebenfalls unter Akzentuierung ihrer stärker konturbildenden Formmomente sowie in Allianz mit den theatralen Künsten und der Dichtung mitwirkt. Friedrich Nietzsche – durch seinen persönlichen Kontakt bereits vor der Drucklegung mit dem Manuskript von Wagners Beethoven-Schrift vertraut – reformuliert diesen Gedanken in Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik 1872 auf prägnante Weise unter Mobilisierung einer anderen einschlägigen Semantik: Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei.26 Aus dieser Grundbestimmung, die (neben ihren vielfältigen weiteren Implikationen) die Doppelfunktion von Musik pointiert umreißt, leitet Nietzsche vier Jahre später die Grundzüge eines »wahren Begriffs von Form« ab »als von einer notwendigen Gestaltung […] im Reiche des Sichtbaren«, nach der die Musik »verlangt«.27 In diesen Konzepten tauchen die basalen Kategorien von Raum und Zeit, äußerem und innerem Sinn, Auge und Ohr, Sehen und Hören, Vorstellung und Wille, Lichtwelt und Schallwelt, apollinisch und dionysisch, Umriss und Dynamisierung als zentrale Fluchtpunkte der Differenzbildung immer wieder auf. Sie werden im Zuge ihrer vielfältigen Übertragungen von 22 23

24 25 26 27

Wagner: »Beethoven« (Anm. 19), S. 46. Aus einem Brief von Richard Wagner an Mathilde Wesendonck vom 3. März 1860. Wagner, Richard: Tagebuchblätter und Briefe an Mathilde Wesendonck. 1853-1871, Berlin o.J., S. 260. Zit. nach Heldt, Brigitte: Richard Wagner – Tristan und Isolde, Laaber 1994, S. 20. Wagner: »Beethoven« (Anm. 19), S. 94. So Wagners Bezeichnung auf der Titelseite der Partitur, die den Begriff Oper programmatisch durch den Begriff Drama ersetzt. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Leipzig 1872, S. 120. Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Wagner in Bayreuth«, in: ders.: Werke in drei Bänden, Band 1, hg. von Karl Schlechta, München 1954, S. 389f.

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philosophisch-ästhetischen in physiologisch-empirische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge aus ihrem ursprünglichen Argumentationsgefüge je ein Stück weit gelöst, verlieren in den Diskussionen einer kunstund wissenschaftsinteressierten Öffentlichkeit oftmals ihre ursprüngliche differenzierende Funktion und erlangen in eins neue Bedeutungsdimensionen, die aus veränderten wissenschaftlichen und ästhetischen Kontexten an sie herangetragen werden. Sie tragen die Spuren einer semantischen Verästelung und beweglichen Komplexität in sich, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts um den musikalischen Formbegriff legt. Jenseits eines buchstäblich ›einseitig‹ ausgerichteten Formverständnisses innerhalb der musikwissenschaftlichen Fachdisziplin liegen somit um 1900 vielfältige Anschlussstellen für alternative Entwürfe bereit. Kurths Auseinandersetzung mit philosophisch-ästhetischen Traditionen sowie mit zeitgenössischen lebensphilosophischen Ansätzen zielen in ihren semantischen Anleihen zuallererst auf eine Sensibilisierung für die dynamischprozessual bestimmten Dimensionen musikalischer Form. Die signifikante Spannung, die auf diese Weise gegenüber dem weitgehend kanonisierten musikwissenschaftlichen Verständnis hervortritt, zieht dann notwendigerweise Veränderungen des stilgeschichtlichen und musikanalytischen Zugriffs nach sich. Ausgehend von dem Formbegriff als Spannungsbegriff und der ihm inhärenten Flexibilität in der Justierung der Anteile zwischen Formung und Form wird – wie oben bereits angesprochen – eine wissenschaftliche Distanz gewonnen, von der aus sich historisch variable, stilistische Ausprägungen unterscheiden, formgeschichtlich aufschlüsseln und in eine kunstvergleichende Perspektive überführen lassen. Kombiniert mit Erkenntnissen aus der naturwissenschaftlich-empirischen Forschung, die den Formbegriff physiologisch und medial anreichern,28 werden die visuellen respektive auditiv bedingten Anteile zu Trägern einer binnenstrukturellen Komplexität, aus der sich quer zu einer eindimensionalen binären Schematisierung Momente einer andersgelagerten Unterscheidungslogik zwischen den Künsten ableiten lassen: Form ist Bezwingung der Kraft durch Raum und Zeit. Das Hauptgewicht liegt dabei im Worte »Bezwingung«, denn nicht die Kraft, noch ihre Festigung in

28

Vgl. Schlüter, Bettina: »Eigenzeiten der musikalischen Form. Musik-Wissen im Gefüge der Disziplinen des 19. Jahrhunderts«, in: Michael Gamper u.a. (Hg.): Zeiten der Form, Formen der Zeit, Hannover 2016, S. 177-192.

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der Erscheinungswelt, sondern, wie schon ausgeführt, die Spannung zwischen beiden macht den Formbegriff aus. Jene Definition freilich wäre die allgemeinste für den Formbegriff, die im Grunde noch über die Musik hinausgeht; in ihre Bezirke gelangt man, wenn man die Kraft als ihre eigenen Energien, den Raum als einen nicht wirklichen und nur als eine von ihr ausgeworfene Begleitvorstellung auffaßt.29 Die besondere Funktion, die den zentralen Formkonstituenten Raum, Zeit, Kraft und Vorstellung jeweils zukommt – die also gleichsam die Form des Formbegriffs und die daraus sich ableitende mediale Spezifik prägen – ist entscheidend für die kategoriale Differenzierung der Künste. »Kraft« und »Energie«, die an dieser Stelle »Wille« ersetzen, sind zugleich Indikatoren einer semantischen Erweiterung, die auf naturwissenschaftliche Entwicklungen und die breite semantische Streuung der dort etablierten Kernbegriffe reagiert. Sie sind Synonyme einer Instanz, die Transformationen – auch diejenige zwischen Formung und Form – unablässig antreibt und die nicht zuletzt auf diese Weise auch physikalische, physiologische, psychologische und ästhetische Dimensionen in Austauschbeziehungen zueinander setzt und ihre Relationierbarkeiten neu denkt. Der musikalische Formbegriff als »Spannungsbegriff« wird damit Schauplatz einer Komplexität, die aus dem neu arrondierten Wissen vieler Fachgebiete fließt und tradierte philosophische Kategorien wie auch disziplinär geprägte formanalytische Begrifflichkeiten in dieses neue Geflecht funktionaler Wechselbeziehungen hineinzieht. Dies wird in den verschiedenen Implikationen und Anschlüssen, die ein solch angereicherter Formbegriff bereithält, deutlich. Das Zusammenspiel von zeit- und raumbasierten Kategorien eröffnet die gegenüber einem kanonisierten musikwissenschaftlichen Formverständnis nun perspektivisch genau aus entgegengesetzter Richtung zu stellende Frage, wie innerhalb temporalisierter Strukturen Form im Sinne von ›Umriss‹ überhaupt entstehen kann und welche Operationen dies leisten. Henri Bergsons Ausführungen in Materie und Gedächtnis sekundieren an dieser Stelle Kurths Überlegungen: Die räumlichen »Begleitvorstellungen« erbringen als aggregierende Instanz eine Leistung, die sich formanalytisch verwerten und mit dem Begriff des »Bewegungsbildes« umreißen lässt: Die Ausgangsfrage also, ob wir eine zeitliche Abfolge als ein »Bild« (d.h. gleichzeitigen Eindruck) fassen können, ist dahin zu beantworten, daß wir 29

Kurth: Bruckner (Anm. 10), S. 239.

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es nicht nur können, sondern müssen; sonst gäbe es keine Musik; die Verwandlung von Bewegung in »Bild« ist eine psychische Grundfunktion, deren Folgen noch von verschiedensten Seiten her zu erkennen sein werden. Das Bewegungsbild ist ein noch viel größeres Wunder als die Tonempfindung und die Bewegung; denn diese existieren an sich, jenes aber nur in einer Vorstellung, die den wirklichen Vorgang, eine verlaufende Bewegung, in einen Simultaneindruck umwertet.30 Das »Bewegungsbild« als semantisches Korrelat eines grundlegenden musikalischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsprinzips der Kondensierung musikalischer Zeit findet seinerseits wiederum Anknüpfungspunkte in gestalttheoretischen Ansätzen. In kritischer Abgrenzung von der »Tonpsychologie« Carl Stumpfs als einem der führenden Vertreter der Gestalttheorie, dessen Untersuchungen sich primär auf den einzelnen Ton als Ort einer komplexen Verschmelzung akustischer, physiologischer und psychischer Operationen beschränken,31 dehnt Kurth die gestaltpsychologische Perspektive auf alle Prozesse von Einheitsbildung aus. »Man kann das Kernproblem auch dahin zusammenfassen«, so artikuliert er diesen Gedanken, daß ein Bewegungsverlauf sich als »Form« erhält. Daß er sogar für das bloße Gedächtnis bedeutsamer ist als die klingenden Eindrücke, zeigt eine Beobachtung, die man alltäglich bei Unmusikalischen oder Halbmusikalischen machen kann: das Nachsingen eines ganzen Motivbildes fällt ihnen oft leicher als das Nachsingen bestimmter Töne […]: das Ganze reißt die Teile mit.32 Formanalytisch ist daher nicht primär relevant, auf welche Weise Elemente kombiniert, Relationen verschaltet und daraus wiederum übergreifende 30 31

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Kurth, Ernst: Musikpsychologie, Berlin 1931, S. 97. »Indem sich Energievorgänge in Tönen darstellen, erfolgt, um mit einem Fachausdruck der Psychologie zu reden, eine ›Sensibilisierung‹ des Psychischen. Sie sind bei jedem Ton, so unzählige Male er schon der Musik zur Verfügung lag, neu schöpferisch, vermögen ihm (auch bei unverminderter Stärke und Klangfarbe) immer andere Wirkungen zu verleihen, und schon das bewiese, daß zwischen physikalisch-physiologischem Reiz und psychischer Wirkung gar keine starre Entsprechung besteht. Dieses Fehlen gleichbleibender, fester Zusammenhänge zwischen beiden vermöchte allein schon zu erklären, warum zwischen Tonpsychologie und Gesetzen der Musiktheorie keine durchgreifenden ursächlichen Verbindungen herzustellen waren, und alle derartigen Versuche (an denen es nie fehlte), schon vor dem Innenleben der schlichtesten Klangverbindung scheiterten.« (Ebd., S. 55) Ebd., S. 90.

Die Dynamisierung der musikalischen Form

Formniveaus gebildet werden, sondern wie Elemente und Relationen modulierend in übergeordnete Prozesse und Bewegungsverläufe hineinwirken und wie sie aus diesen zugleich Strukturwert beziehen. Die hier wirksam werdende Unterscheidung zwischen den »klingenden Eindrücken« und der aggregierenden Leistung einer räumlichen »Begleitvorstellung« ist ihrerseits wiederum nur eine Spielart eines unablässigen komplementären Wechselspiels zwischen sinnlicher Manifestation auf der einen und psychischer Tätigkeit (der Musterbildung und der Genese von Anschlusspielräumen) auf der anderen Seite – eines Wechselspiels, das bis auf die Ebene der Töne als Klangbausteine und der durch sie getragenen elementaren Relationen heruntergebrochen werden kann. Bergsons Figur einer unablässigen Transformation zwischen einem je »Aktuellen« und einem damit implizierten »Virtuellen«, das bereits vor seiner sinnlichen Manifestation das Formgeschehen mitbestimmt, wird entsprechend als dynamisierendes Strukturelement auf die mikrostrukturelle Ebene des musikalischen Formaufbaus appliziert: Im Rahmen der sowohl lebensphilosophisch geprägten als auch durch die Physik inspirierten Semantik einer musikalisch aktivierten und gestalteten »Kraft«, die sich in der »farbig leuchtende[n] Bewegtheit« der »Töne« spiegelt, wird das Wechselspiel von Relationen und Elementen (bzw. in musikalischen Kontexten eben: elementaren Relationen) als Wechselspiel zwischen »kinetischer« und »potentieller Energie«, als »Ausströmung von Spannung in Klang«33 neu gefasst und als Grundprinzip musikalischer Prozessualität markiert. Die »Kraft«, die »über die leeren Räume zwischen den Noten und über diese selbst hinweg flutet«34 schließt somit an die tradierten Kategorien der Musiktheorie, die harmonischen und melodischen Relationen, die Intervall- und Tonbeziehungen, die rhythmischen Proportionen an, markiert diese und die sie organisierenden Prinzipien in ihrer reinen Relationalität jedoch als Wahrnehmungsvorgang ohne eigenes physikalischakustisches Korrelat – als Dimension eines virtuell anwesenden, in den Klang eingelagerten Höreindrucks, der seine formbildende Wirkung in der Setzung von Anschlussspielräumen entfaltet: Somit ist der tragende Inhalt einer jeden Melodiebewegung, aber auch jedes einzelnen Tones, den sie durchstreift, eine lebendige Kraft, ein aus dem Tone herausdrängender eigentümlicher psychischer Spannungszustand, den ich 33 34

Kurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«, Bern/Leipzig 1920, S. 349. Ebd., S. 8.

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als »kinetische Energie« bezeichnet habe. […] Aus den Tönen selbst ist nichts zu erklären, aus der Spannung, die sie durchstreift und erfüllt, alles.35 Dieser Ansatz hat Implikationen für den formanalytischen Zugriff. So sehen sich, um nur einen Aspekt anzudeuten, Versuche, die ungewöhnlichen Ton- und Akkordverbindungen der Alterationschromatik auf der Grundlage tradierter funktions- oder stufenharmonischer Ansätze zu bestimmten, mit strukturellen Ambivalenzen konfrontiert, die nahezu zwangsläufig zu unentscheidbaren Diskussionen über unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten führen. Ihnen allen gemeinsam liegt jedoch die Umwegigkeit eines analytischen Zugriffs zugrunde, der in Orientierung an den notierten Tonhöhen, Intervallbeziehungen und Akkorden oftmals auf entfernte, dem Höreindruck sich nicht mehr vermittelnde harmonische Beziehungen zurückgreifen muss, statt von der »Spannung«, die die Töne »durchstreift«, auszugehen. Folgt man Kurths Argumentation, dann ist das Stilmittel der Alteration nicht allein als ein spezifisches harmonisches Verfahren zu verstehen, sondern als ein Vorgang, der auf viel grundsätzlichere Weise Tonidentitäten selbst in Frage stellt und mitunter eine »Tonverschiebung gerade bis in den Punkt hinüberschnell[en]« lässt, »wo das Tonsystem bereits einen Nachbarton festgelegt hat«, so »daß wir unter Umständen c und cis als den ›gleichen‹ Ton betrachten können«.36 »Die Alteration«, so Kurth, »beruht eben in der musikpsychologischen Erscheinung, daß sich der Klang als etwas Dehnbares darstellt«,37 dass eine »psychische Willensaktivität« den notierten Tonwechsel überschreibt und »wir« stattdessen den Ton »aus seiner Lage versetzen, herausspannen«, an ihm »zerren und seine Reichweite ausdehnen«.38 Analysen streng nach Notat, die diese Spannungskräfte übersehen, gehen daher am Wesentlichen vorbei. Die Töne erlangen ihre strukturelle Signifikanz (und ›Identität‹) erst aus dem Ganzen und der Dynamik der je aktuell in Wechselbeziehungen zueinander tretenden Formzusammenhänge. Kurth erläutert dies genauer am Beispiel des ›Tristan-Akkordes‹. Dessen spezifische Kontur wird nicht primär durch die harmonische Fortschreitung geprägt, sondern durch deren Wechselwirkung mit anderen, interferierenden Formprozessen: Die chromatische Linienführung der Mittelstimme »durchschneidet« den Akkord, sie trägt den »Willen zur Zersetzung des Akkordes«, d.h. die Alterationen 35 36 37 38

Ebd., S. 6f. Kurth: Musikpsychologie, S. 10 (Anm. 30). Ebd. Ebd., S. 9.

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und Dissonanzen, die ihn »entstellen«, gleichsam in ihn hinein.39 In der Exposition solcher melodischer Spannungsbewegungen, die neue Dissonanzenergien produzieren, radikalisiert der spätromantische Stil das Prinzip der unablässigen Transformation von »kinetischer Energie« in »potentielle Energie«, von Kraft in ihre klangformliche Manifestation, indem er ganze musikalische Formbereiche – wie hier Melodik und Harmonik – in diesen Spannungszustand hineinzieht und polar gegeneinander in Stellung bringt. Im Rahmen einer solchen argumentativen Struktur, die den Formbegriff als Spannungsbegriff bis zu dem Punkt des möglichen »Widerruf[s] der klanglichen Bedingungen durch eine psychische Willensaktivität«,40 weiterentwickelt, erlangt die Musikpsychologie sowie die von ihr abgeleitete historisierende Variante der Stilpsychologie den Status einer musikwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Sie bildet das Fundament einer neuen, in ihrem Grundansatz revisionsbedürftigen Musiktheorie41 und prägt entsprechend einen formanalytischen Zugriff, der »statt bei Klangformen und Klangverbindungen bei gewissen psychologischen Grundvorgängen an[zu]setzen« hat, »die sich in ihnen [den Klangformen, B.S.] nur darstellen.«42 Ausgehend von naturwissenschaftlich-experimentellen Erkenntnissen und dem neuen Wissen um akustische, physiologische und psychologische Zusammenhänge gelangt so eine ›Tiefendimension‹ in den Blick, die als fundierende Schicht den sich formierenden musikalischen Raum- und Zeitstrukturen zugrundeliegt, in sie als organisierendes Prinzip hineinwirkt und damit – an ästhetisch-philosophische Traditionen in der Nachfolge von Kant erinnernd – den Fokus zunächst auf allgemeine Bedingungen der Wahrnehmung richtet: Es ist wie die gleich weiter zu betrachtenden Merkmale von Gravitation, Stofflichkeit, Räumlichkeit, Energieaufspeicherung usf. ein Trugeindruck, und doch nicht eine bloße Begleiterscheinung; vielmehr liegen in alledem

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Kurth: Romantische Harmonik (Anm. 33), S. 59f. Kurth: Musikpsychologie (Anm. 30), S. 9. »Was die Musiklehre schlechtweg als Gegebenheiten hinnimmt, bildet für die Musikpsychologie erst Ansatzpunkte, bei denen sie sich in ihr eigenes Gebiet eingraben muß. […] Die Probleme fangen meist da an, wo sonst das Denken aufhört, indem man sich auf den Boden der ›Selbstverständlichkeiten‹ stellt.« Kurth: Musikpsychologie (Anm. 30), S. 63. Ebd., S. 4.

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konstituierende Momente, ohne die die ganze Musik aus unserm Bewußtsein verschwände. […] Aber ob von Schwerkraft, Stoßkraft, Elastzität usw., von trughaften Begleitvorstellungen wie Hell-, Dunkel- und Farbigkeitseindrücken, von Scheinkörperlichkeit oder vom Raume die Rede ist, im Grunde beobachten wir dabei nicht den Ton, sondern immer nur die Psyche, über die uns schon der Ton alle möglichen Sonderbarkeiten verrät. […] Wenn eine Saite schwingt, Beitöne erzeugt und forpflanzt, so ist das der Klang; daß aber Spannung und Graviation ihn durchsetzen, – das sind wir, darin spiegelt sich nicht das klingende Phänomen, sondern unsere Psyche.43 Diese hier aufgeführten »Merkmale« stellen jedoch keineswegs nur sekundäre, subjektiv geprägte Höreffekte dar, die formanalytisch vernachlässigbar wären, sondern sie bilden die zentralen Momente, in denen musikalische Formbildung durch die Töne als Trägerschicht hindurch ihre eigentlichen Gestaltungsbezugspunkte findet. Als Konstituenten der »Kraft«, zu der sie als aggregierende Einheit zusammenfließen, parametrisieren sie – zu Kurths Schopenhauer-Referenzen zurückkehrend – gleichsam die Dimension des »Willens« im Prozess seiner ›Formwerdung‹ und versuchen dessen transzendenten Status in den komplementären Wechselbeziehungen zwischen physischer Welt, physiologischen Prozessen und musikalischer Wahrnehmung neu zu verankern. Ein solcher Ansatz geht letztlich von einem rekursiven Verhältnis aus, das sich zwischen diesen Ebenen aufspannt: In der musikalischen Form externalisieren sich Grundprinzipien der Raum- und Zeitkonstitution, die aller Wahrnehmung zugrundeliegen, und bieten sich – Gestalt geworden – einer nach außen gerichteten Wahrnehmung als Figuration von deren eigener Prozessualität wieder an. Auf diese Weise wird in der Form eine Konvergenz von psychischen und ästhetischen Strukturen erfahrbar, die nicht zuletzt in ihren performativen Qualitäten den Hörakt selbst modifiziert und auf Selbstbezüglichkeit konditioniert. Dieses rekursive Verhältnis gerät in der Romantik – so Kurth in Akzentuierung der historischen Dimension dieses Prinzips und seiner selbstreflexiven Tendenzen – in das Zentrum der Aufmerksamkeit.44 Die mediale Grunddisposition von Musik 43 44

Ebd., S. 11. »Überall vollzieht sich die Ausströmung von Spannung in Klang, das Grundphänomen der Musik, als ein Kampf; die Klänge sind Materie, Widerstand der Energien. Aus Wille und Widerstand ergibt sich das gesamte Phänomen der Harmonik. Melodie ist fließende Willensbewegung, der Akkord ihre Hemmung und der hiedurch hervorgerufene Spannungszustand […]. Als das Wesen der Romantik trat von den Wurzelerschei-

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mit ihren spezifischen Möglichkeiten, Zeit im Kontext »räumlicher Begleitvorstellungen« prozessual zu gestalten und Spannungszustände zwischen Formbildung und Umriss flexibel zu skalieren, wird nun zum dominierenden kompositorischen Prinzip und tritt damit gleichsam an die ›Oberfläche‹ der musikalischen Form. Sie wird auf diese Weise zu einem beherrschenden Stilmittel, das im hörenden Vollzug die prozessualen Charakteristika der Wahrnehmung selbst mit zur Erscheinung bringt.45 Damit treten zwangsläufig auch die Momente in den Blick des Wissenschaftlers, die die Bezüge zwischen den rekursiv aufeinander bezogenen Ebenen im Moment ihrer ästhetischen Formbildung organisieren. Verantwortlich für dieses Zusammenspiel zwischen physischer, physiologischer, psychischer und ästhetischer Dimension ist, so Kurth in seiner letzten Schrift Musikpsychologie, eine »Eindrucksumbildung«.46 Diese lässt die akustische Vielfalt und Komplexität eines einzelnen Tones – seine physikalischen Eigenschaften, Frequenzen, Amplituden, Wellenformen – sowie die daran anschließenden nicht weniger komplexen physiologischen Operationen in der »Tonempfindung« zu einem einzigen »Toneindruck« »zusammenstürzen«.47 In diesen »Einheitseindrücken« bleiben jedoch Spuren der Komplexität der fundierenden akustisch-physiologischen Schichten erhalten, sie »flackern« aus der »rein gehörsmäßigen Vorstellung« »heraus« und sind als »Eindrücke aus fremden Vorstellungskategorien trughaft und unklar« mit der »Vielfalt« der »Teilmerkmale im Ton«48 verwoben. Kurth knüpft mit dieser Argumentation direkt an die Ergebnisse der von Helmholtz in den 1850er Jahren begründeten

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nungen der Harmonik an das riesenhaft gesteigerte Gegen- und Ineinanderwirken der beiden, zu Gegenpolen hinstrebenden Entwicklungsströmungen hervor.« »Unter die überkommenen Form- und Schönheitsgesetze dringen sie [die Romantiker] daher zu einem Gestaltungsprinzip, das die psychischen Energien wieder unmittelbar aus den Tiefen entfesselt. Sie spürten, daß diese überall, wo sie uns bewußt werden, sich unserem Empfinden im Eindruck eines Kräftewirkens darstellen, das einen merkwürdigen Parallelismus zwischen psychischen und den äußeren, den physischen Kräften in der gesamten Natur zeigt, und sie suchten nach der Identität, die sich hinter diesem Parallelismus birgt.« Kurth: Romantische Harmonik (Anm. 33), S. 349, S. 537. »Gemeint ist also immer nur die Kraftwelle im Spiel der seelischen Gestaltung; darin liegt die Beziehung zu den Bildern des physischen Kräftewaltens, daß die psychischen Kräfte, wie sie in der Musik zum Vorschein kommen, gleichartige Verlaufsformen haben.« Kurth: Bruckner (Anm. 10), S. 253. Kurth: Musikpsychologie (Anm. 30), S. 9. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6f.

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»physiologischen Akustik«49 an, die auf der Grundlage klangexperimenteller Verfahren sowie mathematischen und anatomischen Wissens detailliert erforscht, wie das Ohr akustische Phänomene verarbeitet und welche Klangeindrücke der Wahrnehmung daraus erwachsen. Diese Forschung klärt nicht nur in der systematischen Erschließung der Obertonreihen über die komplexe Binnenstruktur einzelner Klangereignisse und musikästhetische Basiskategorien wie Konsonanz und Dissonanz auf, sondern entwickelt ineins auch physiologisch fundierte Erklärungsansätze für musikalische Raum- und Bewegungseindrücke, die sich in der Skalierung von Höhe und Tiefe, von Tonnachbarschaften und Tondistanzen, von Farbigkeits- und Helligkeitsgraden, von Stofflichkeit und Materialität und vielem anderen mehr manifestieren. Die »Eindrucksumbildung« an der Schwelle von physiologischen und psychischen Prozessen verleiht Erklingendem als einer mit vielfältigen Eigenschaften ausgestatteten Tonwahrnehmung somit »jene Grundfunktionen, welche die Toneindrücke erst so umgestalten, daß sie zu Formen erweckt und in eine innere Gehörswelt aufgebreitet werden können.«50 Erst in diesem Aggregatzustand werden sie somit Teil eines formbildenden Prozesses, der entsprechend nicht eigentlich mit Tönen oder Relationen, sondern mit Raum-, Zeitund Bewegungseindrücken arbeitet. Die akustische und physiologische Binnenkomplexität der Elemente, die sich in der Wahrnehmung zu einer Einheit zusammenfügt, bleibt daher als Selektionshorizont der Formbildung erhalten: Der Ton an sich zeigt sich psychologisch als eine ungemein vielfältige Einheit, wie er es physikalisch ist. Dies führt zu einer formalen Eigentümlichkeit bezüglich seiner Inhalte selbst. Als ein hochkompliziertes Gebildes steckt er, sich selbst überlassen, voll wechselnder Unbestimmtheiten, die in jedem Augenblick zur Verbindung bereitliegen, erst der musikalische Zusammenhang bindet ihre Fülle zu einer bestimmten Ausprägung; sie ergibt den Charakter des Tones und stellt sich gleichfalls als ein unmittelbarer Einheitseindruck dar, in den eine Vielfalt zusammenschlägt, wieder in einem Vereinfachungsprozeß wie der physiologisch aufgenommene Ton. Die Fülle aber, die unter der Oberfläche dieses Gesamteindrucks erspannt liegt und durch sie

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Helmholtz, Hermann von: Über die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonien, mit einem wissenschaftshistorischen Nachwort hg. von Fritz Krafft, München 1971, S. 7. Kurth: Musikpsychologie (Anm. 30), S. 316f.

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spürbar bleibt, ist auch die Quelle all der unbestimmten Entfaltungsmöglichkeiten.51 Der Formbegriff gewinnt auf diese Weise eine Binnenstaffelung, die jenseits der (nach traditionellem musiktheoretischen Verständnis so bedeutsamen) syntaktisch-relationalen Organisation weitere Ebenen umfasst und diese in ein gleichsam emergentes Verhältnis zueinander setzt: Die akustische und physiologische Ebene bildet hierbei ebenso eine ästhetisch regulierende Schicht wie übergreifende Dispositionen musikalischer Bewegungsformen, aus deren Gestalteinheiten Einzelmomente ihren Formwert beziehen. Musikalische Formbildung – und komplementär dazu: musikalische Formanalyse – spannt sich somit zwischen diesen beiden Regulativen auf: einer Ebene des Mediums, dessen Binnenkomplexität (d.h. dessen akustische und physiologische Strukturen) auf der Ebene der musikalischen Form als Selektionsmechanismus zur Geltung gelangt und damit selbst als Form verarbeitet wird, und einer Ebene aggregierender Einheitsbildung, deren formale Prädispositionen diese Selektionsprozesse gleichsam von oben übergreifend anleiten. Will man von einer solchen Konturierung des Formbegriffs noch einmal zum Ausgangspunkt der Überlegungen – zur Kreuzung historischer und systematischer Perspektiven und Bestimmungsleistungen – zurückkehren, so wird deutlich, dass ein dynamisiertes Formverständnis das Ergebnis arrondierten Wissens unterschiedlicher – ästhetisch-philosophischer, experimenteller, akustischer, physiologischer und psychologischer – Herkunft ist. Der daraus resultierende Formbegriff verfügt auf diese Weise über einen vielschichtigen strukturellen Aufbau, an dessen Übergängen zugleich neuartige Komplexitätsmodelle hervortreten: Hinter der vielfach noch durch ästhetische und philosophische Traditionen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gespeisten Semantik und in Auseinandersetzung mit gestalttheoretischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts werden Theoriebausteine erkennbar, die systemische Differenzen (zwischen Akustik, Physiologie und Wahrnehmung), emergente und autopoietische Prozesse, Selektionsverstärkung und Medium-Form-Verhältnisse beschreiben – und damit avant la lettre auf weitere Entwicklungen des Formbegriffs im 20. Jahrhundert hinweisen.

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Ebd., S. 23.

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Literarische Form und Intervention Zur Formdiskussion im Kontext der proletarischrevolutionären Literaturtheorie um 1930 Jürgen Brokoff

I. Kritische Aspekte des Formbegriffs Formgeschichte schließt auch auf dem Gebiet der Formen von Literatur und Kunst eine Geschichte der Formkritik und der Formkrise mit ein. Unter Formkrise ist dabei nicht ein ›Leistungstief‹ zu verstehen; vielmehr ist der Begriff in Analogie zum Sprachgebrauch des französischen Dichters Stephane Mallarmé zu sehen, der in einem seiner Essays von einer »Vers-Krise« spricht.1 So, wie es nach Mallarmé eine »Krise des Verses« gibt, die in den Augen des Mallarmé-Lesers Jacques Rancière eine soziale Krise widerspiegelt,2 gibt es auch eine Krise oder mehrere Krisen der Form. Kritik und Krise der Form gehören zur Geschichte der Form stets dazu. Die folgenden Überlegungen verstehen sich vor diesem Hintergrund als Beitrag zu einer literaturgeschichtlichen Formreflexion, die an jenen Stellen ansetzt, wo der Formbegriff kritisch und zugleich krisenhaft auftaucht, wo er als Begriff selbst thematisch wird und als Gegenstand von Auseinandersetzungen und Kontroversen nicht nur künstlerische, sondern auch politische Fragen tangiert. Bevor eine Diskussion der Jahre um 1930 in den Blick genommen werden kann, die im Zeichen der Kritik und der Krise des Formbegriffs steht, sind in literaturgeschichtlicher Perspektive zwei kritische Thematisierungen des Formbegriffs aus dem 19. Jahrhundert schlaglichtartig anzuführen. Diese

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Vgl. Mallarmé, Stéphane: »Crise de vers/Vers-Krise«, in: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, Gerlingen 1998, S. 210-231. Vgl. Rancière, Jacques: Mallarmé. Politik der Sirene, Zürich 2012.

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Jürgen Brokoff

können exemplarisch verdeutlichen, was es mit der Formel von der Kritik und Krise der Form auf sich hat.

II. Kritik der Form im 19. Jahrhundert Blickt man zurück auf die deutschsprachige Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, so steht der Formbegriff unter anderem im Zentrum einer Kontroverse, die um 1830 zwischen den Schriftstellern Heinrich Heine und Karl Immermann einerseits sowie August von Platen andererseits ausgetragen wird. Auf die Veröffentlichung des Gedichts Östliche Poeten von Immermann im zweiten Teil von Heines Reisebildern, das Platens (und Friedrich Rückerts) Nachbildung orientalischer Formen in der deutschen Lyrik satirisch aufs Korn nimmt,3 reagiert Platen in seiner versgebundenen Komödie Der romantische Ödipus mit antisemitischen Ausfällen gegen Heine und bezeichnet diesen unter anderem als »Pindarus vom kleinen Stamme Benjamins«, als »Petrark des Laubhüttenfestes«.4 Diese antisemitischen Ausfälle veranlassen Heine, in seinem Text Die Bäder von Lucca Platens Homosexualität öffentlich zu machen.5 Heine verbindet diese Offenlegung mit einer grundsätzlichen Kritik an Platens Werk, in deren Mittelpunkt der Formbegriff steht.6 Platen zeige sich in seinen Dichtungen als Beherrscher einer Form, der jedes Leben, jeder Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben abgehe. Wie hier nur angedeutet werden kann, spielen Heine und Immermann die bloß äußerliche Formkunst Platens, die genauer betrachtet leer und tot sei, gegen die eigene Zeitdichtung aus, die im innersten Einklang mit der Gegenwart stehe und voll von Leben sei. Der Formbegriff gerät in der HeinePlaten-Kontroverse erstmals unter Generalverdacht. Die Wirkungsmacht dieses Verdachts gegen die Form erstreckt sich innerhalb und außerhalb der Platen-Heine-Kontroverse bis weit ins 20. Jahrhundert. Noch bei Thomas Mann, der schon früh ein großes Interesse für Platen und dessen Formkunst 3 4 5 6

Vgl. Immermann, Karl: »Östliche Poeten« in: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981, S. 242. Platen, August von: Der romantische Oedipus. Lustspiel in fünf Akten, Stuttgart/Tübingen 1829, S. 94. Vgl. Heine, Heinrich: »Die Bäder von Lucca«, in: ders.: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 2, Darmstadt 1969, S. 391-474. Vgl. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010, insb. S. 345-396.

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entwickelt, hallt ein problematischer, negativer Formbegriff nach, der in die Kritik geraten ist. Dies zeigt der erste Absatz des Platen-Essays von 1930, der auch als Reflex auf die Figur des Gustav von Aschenbach und dessen Formkrise und Formproblematik in Manns eigener Novelle Der Tod in Venedig gelesen werden kann: Platen, der Lyriker, gilt für den Mann der Strenge, des kalten Ebenmaßes, des klassizistischen Formalismus. Es ist wahr, er hat den Zerfall der Form bekämpft, die Zeit gegeißelt, weil sie sich romantischer Erweichung überließ, und dem, was er als das Schlechte empfand, der Auflösung, das kunstrein Gestaltete, die heilige Form als das Wahre und Unverlierbare entgegengestellt.7 Die bis zu Thomas Mann nachwirkende Kritik eines der Bewegung und dem Leben entgegengesetzten Formbegriffs wird hier angeführt, weil diese in den Jahren um 1930 auch unter anderen politischen Umständen und in anderen ästhetischen Konstellationen auftaucht. 1930 ist zugleich auch das Erscheinungsjahr von André Jolles Buch Einfache Formen.8 Der Formbegriff wird aber nicht nur von Kritik begleitet, ihm haftet auch etwas Krisenhaftes an. Die Krise der Form muss dabei nicht immer und nicht notwendigerweise mit einer sozialen Krise in Verbindung stehen, wie dies Rancières Überlegungen zur Verflechtung von Kunst und Politik im Zeitalter des ästhetischen Regimes der Künste nahelegen. Die Krise kann auch in einem buchstäblichen Sinne Kontinuität, Dauer und Fortbestand der Form betreffen. Ein wichtiges literarisches Zeugnis, das die krisenhafte Dimension des Formbegriffs selbst in poetischer Gestalt reflektiert, ist Charles Baudelaires Gedicht Une charogne, das um 1843 entsteht und in den Gedichtband Les Fleurs

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Mann, Thomas: »Platen – Tristan – Don Quichotte«, in: ders.: Essays, Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926-1933, Frankfurt a.M. 1994, S. 245-258. Vgl. André, Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, (ND) Tübingen 2006. In der Einführung heißt es: »Alles, was Bauer, Handwerker, Priester bisher an Arbeit geleistet haben, gehört zum Leben, zergeht mit dem Leben, erneuert sich im Leben oder hat nur mit dem Leben Bestand. Durch die Arbeit der Sprache aber bekommt es in der Sprache selbst eine neue Beständigkeit. In doppelter Weise: Erstens wird alles Erzeugte, Geschaffene, Gedeutete von der Sprache benannt. Zweitens aber – und hier greifen wir tiefer – ist Sprache selbst ein Erzeugendes, Schaffendes, Deutendes, etwas, worin sich Anordnung, Umordnung, Verordnung eigenst ereignen.« (S. 16)

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du Mal von 1857 aufgenommen wird. Der Sprecher des Gedichts betrachtet im Dialog mit einer als »mon âme« bezeichneten Gesprächspartnerin den Zerfall körperlicher Formen, den ein am Wegesrand liegendes Aas darbietet: Les formes s’effaçaient et n’étaient plus qu’un rêve, Une ébauche lente à venir, Sur la toile oubliée, et que l’artiste achève Seulement par le souvenir.9 Das Schwinden der Formen (les formes), das nicht nur das am Wegesrand liegende Aas, sondern auch die reizvolle und anmutige Begleiterin des Sprechers nach deren Tod kennzeichnen wird, bildet aber nicht den Endpunkt des Gedichts. In der letzten Strophe folgt noch der Ausruf und Anruf des Dichters, der die Überführung der zerfallenden Formen des Körpers in die bewahrende Form des Gedichts zum Thema hat. Diese – nun im Singular stehende – Form (la forme) ist aufs engste mit dem »göttlichen Gehalt« verbunden: Alors, ô ma beauté! Dites à la vermine Qui vous mangera de baisers, Que j’ai gardé la forme et l’essence divine De mes amours décomposés!10 Die poetische und poetologische Formreflexion in Baudelaires Gedicht ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie bei aller Apotheose der Form (im Singular) und aller Betonung des göttlichen Gehalts (essence divine) ein Sensorium für die Flüchtigkeit und Dekomposition der Form bereitstellt.11 Ungeachtet 9

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Baudelaire, Charles: »Une Charogne/Ein Aas«, in: ders.: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen. Vollständige zweisprachige Ausgabe, Deutsch v. Fiedhelm Kemp, München 1986, S. 66 (V. 29-32). Kemps Übersetzung lautet: »Die Formen schwanden hin und waren nur ein Traum noch, fast nicht erkennbar auf vergeßner Leinwand ein Entwurf, den der Künstler aus dem Gedächtnis nur vollendet.« (Ebd., S. 67) Ebd., S. 66 (V. 45-48). – In der Prosaübersetzung Kemps: »Dann, o meine Schönste! Sage dem Gewürm, das küssend dich verspeisen wird, daß ich die Form, den göttlichen Gehalt bewahrte meiner Liebe, die in dir zerfällt!« (Ebd., S. 67) Ein verwandter Gedanke findet sich auch in Šklovskijs Ausführungen zur revolutionären Form von Laurence Sternes Roman Tristram Shandy. Šklovskij führt aus, dass im Falle von Sternes Roman das »Bewusstwerden der Form mit Hilfe ihrer Auflösung« geschieht. Erst wenn die künstlerische Form neben ihren kompositorischen Elementen auch dekompositorische Elemente besitzt und dekonstruktive Faktoren erscheinen lässt, wird sie bewusst wahrnehmbar, spürbar. – Vgl. Šklovskij, Viktor: »Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy«, in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus.

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der festeren Kopplung, die Luhmann zufolge die Form von der loseren Kopplung des Mediums unterscheidet,12 ist Form wandelbar. Sie kann auch zum Untergang verurteilt sein.

III. Kritik und Krise der Form um 1930 Noch bevor in Deutschland in den Jahren um 1930 eine intensive Diskussion über den Fortbestand literarisch-künstlerischer Formen einsetzt, gerät in der von Stalins Machtverfestigung geprägten Sowjetunion die literaturtheoretische Richtung der sogenannten Formalen Schule zunehmend unter Druck.13 Die von Leo Trotzkij erstmals im Jahr 1924 vorgetragene Kritik, die die Literatur- und Kunstwissenschaft den Geltungsansprüchen der marxistischen Theorie untergeordnet wissen wollte, zielte auf die formorientierten Ansätze der Moskauer Linguisten und der Petersburger Dichtungstheoretiker, zu denen unter anderem Viktor Šklovskij, Roman Jakobson, Juri Tynjanov und Boris Eichenbaum gehörten.14 Der Komplementärbegriff, den die neue Formale Schule in Ergänzung zum Formbegriff in Stellung brachte, war bekanntlich nicht der des Inhalts, sondern der des Materials.15 Aus den spezifisch literarischen Verfahren der Materialorganisation16 leiteten die Vertreter der Formalen Schule die spezifisch literarischen Formen der poetischen und der prosaischen Sprache ab.17 »Wir sind keine ›Formalisten‹,

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Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, Band 1, München 1994, S. 245-299, hier S. 251. Vgl. Luhmann, Niklas: Kapitel »Medium und Form«, in: ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 165-214. Vgl. dazu den Band von Günther Hans (Hg.): Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, München 1973. Zur Geschichte und Literaturtheorie des Russischen Formalismus s. Erlich, Victor: Russischer Formalismus, München 1964; Hansen-Löve, A. Aage: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978. Zu den Manifesten des Russischen Formalismus vgl.: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, Bd. 1 u. 2, München 1994; Mierau, Fritz: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987. Vgl. dazu Brokoff, Jürgen: »Die Geburt der Literaturtheorie aus dem Material avantgardistischer Kunstpraxis«, in: Modern Language Notes 29 (2014), Nr. 3, S. 484-503. Vgl. dazu Tynjanov, Jurij: »Das literarische Faktum«, in: ders.: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, Frankfurt a.M. 1967, S. 7-36.

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sondern, wenn Sie so wollen, Spezifizierer«,18 schrieb Boris Eichenbaum im selben Jahr, in dem Trotzkij und Nikolaj Bucharin zum Angriff gegen den »Formalismus«, so der neue Feindbegriff, ausholten. Im Fahrwasser eines dezidierten Anti-Formalismus argumentierte am Ende der Zwanziger Jahre auch der Kreis um den jungen Michail Bachtin. Bei aller Wertschätzung, die man heute zu Recht den Prinzipien der Dialogizität, der Polyphonie und der ,gegenkulturellenʻ Ausrichtung der Bachtin’schen Theorien entgegenbringt, wird gern verschwiegen, dass einer der engsten Mitstreiter Bachtins, Pavel Medvedev, 1928 von der »Notwendigkeit der Liquidation der nihilistischen Tendenzen« der Formalen Schule spricht und deren Vertreter auffordert, »auf den festen Boden unserer gemeinsamen Weltanschauung zu treten«.19 Die unter dem Stichwort »Marxismus und Formalismus« bekannte literaturtheoretische Kontroverse bildet eine wichtige Station in der Geschichte des literaturwissenschaftlichen Formbegriffs, die angesichts der ideologischen Grabenkämpfe im 20. Jahrhundert einer weiteren Untersuchung bedarf. Abgesehen von dieser literaturtheoretischen Kontroverse um den Formalismus, die zu Beginn der fünfziger Jahre in Gestalt des sog. Formalismusstreits in der neugegründeten DDR wieder aufflammt,20 kommt es in den Jahren um 1930 auf breiterer Front zu einer Diskussion über den Begriff der Form. Diese Diskussion ist zugleich eine Debatte über die Selbst- und Fremdbestimmtheit literarisch-künstlerischer Formen und sie demonstriert den Bedeutungszuwachs heteronomieästhetischer Positionen, was seinerseits Auswirkungen auf den Formbegriff hat. Das Verhältnis von Heteronomie- und Autonomieästhetik und der damit verbundene Formbegriff sind alles andere als einfach zu bestimmen. Das zeigt ein Aufsatz von Adorno aus der Zeit nach 1945. In seiner Schrift Engagement, die in der ursprünglichen Radio-Fassung mit dem Titel Engagement oder künstlerische Autonomie? versehen ist, erläutert Adorno, dass es bei dieser Opposition nicht um die Formulierung einer starren Alternative im Sinne ei-

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Ejchenbaum M., Boris: »Zur Frage der Formalisten«, in: Marxismus und Formalismus (Anm. 13), S. 72. Medvedev N., Pavel: Die formale Methode in der Literaturwissenschaft, hg. v. Helmut Glück, Stuttgart 1976, S. 94. Vgl. das SED-Dokument von Hans Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur, Berlin (Ost) 1951.

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nes ,Entweder-Oderʻ geht.21 Im Gegenteil: Adornos Argumentation, die sich gegen ein einseitig politisches Verständnis von Jean-Paul Sartres Konzept des literarischen Schreibens richtet, ist darauf ausgerichtet, den Gegensatz von engagierter und autonomer Kunst als dialektische Bewegung zu denken. Deren Dynamik kommt bei der Festlegung auf eine der beiden Seiten zum Erliegen. Jeder Versuch, die eigene Position rückhaltlos auf Kosten der entgegengesetzten zu behaupten, führt zu einer unfreiwilligen Negierung auch der eigenen Position: Jede der beiden Alternativen negiert mit der anderen auch sich selbst: engagierte Kunst, weil sie, als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser durchstreicht; die des l’art pour l’art, weil sie durch ihre Verabsolutierung auch jene unauslöschliche Beziehung auf die Realität leugnet, die in der Verselbständigung von Kunst gegen das Reale als ihr polemisches Apriori enthalten ist.22 Viele der von Adorno ins Spiel gebrachten Begriffe lassen eine gewisse Präferenz für die autonomieästhetische Bestimmung der Kunst erkennen: »Form«, »Formgesetz«, »Gebilde«, und »Gestalt«.23 Dabei ist aber die Bindung der künstlerischen Formen an die Gesellschaftlichkeit der Kunst nicht außer Acht zu lassen. Der Frankfurter Philosoph wandelt mit Blick auf die Sozialität künstlerischer Formen auch auf den Spuren des frühen Georg Lukács. Dieser hatte 1909 in seinem Aufsatz Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas eine später berühmt gewordene Formel geprägt: »Das wirklich Soziale aber in der Literatur ist: die Form.«24 Anzuführen ist in diesem Kontext auch Adornos Aussage, dass das ins Kunstwerk eingegangene Wort sich der Bedeutungen, die es außerhalb desselben hat, niemals vollständig entledigen kann: »Die Rudimente der Bedeutungen von draußen in den Dichtungen sind das unabdingbar Nichtkünstlerische an der Kunst«.25 Wenn es, wie Adorno annimmt, ein »unabdingbar Nichtkünstlerische[s]« gibt, das ins innerste Zentrum des Kunstwerks hineinragt und dort bestehen bleibt, dann kann weder von vollständiger Autonomie noch von vollständiger Heteronomie, sondern nur von 21 22 23 24 25

Vgl. Adorno, Theodor W.: »Engagement«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1997, S. 409-430. Ebd., S. 410. Ebd., S. 411-418. Lukács, Georg: »Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas. Vorwort«, in: ders.: Werke, Bd. 15, hg. v. Frank Benseler, Darmstadt und Neuwied 1981, S. 10. Adorno: »Engagement« (Anm. 21), S. 411.

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der »Dialektik beider Momente« die Rede sein.26 Form ist sowohl künstlerisch als auch gesellschaftlich und das ist nicht als ausschließender Gegensatz zu verstehen. Möglicherweise unterscheidet das Nichtkünstlerische in der Sprachkunst diese von anderen Künsten. Eine in diese Richtung weisende Position vertritt Paul Valéry, wenn er in Poésie pure die ,Reinigungʻ des dichterischen Werks von »nichtpoetischen Elementen« gleichzeitig zum »unerreichbare[n] Ziel« und zur Bedingung des poetischen Schaffens erklärt.27 Ein dialektisches Verständnis von Heteronomie- und Autonomieästhetik spielt nicht nur in Adornos kritischer Auseinandersetzung mit Sartre eine Rolle. Schon Sartres eigene Position, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der Abhandlung Que’est-ce que la littérature? ausgearbeitet wird, lässt sich keineswegs auf die Formel einer einseitigen und vorbehaltlosen Privilegierung des Engagements des Schreibenden bringen. Vielmehr führt Sartres Rede vom Engagement, wie zuletzt Ursula Geitner gezeigt hat, immer auch das gegenläufige Moment des Dégagement mit sich.28 Geht man nun auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück, so fällt auf, dass die Beziehung von Heteronomie- und Autonomieästhetik auch hier keineswegs einfach zu bestimmen ist. So spricht Walter Benjamin in seinem Aufsatz Der Autor als Produzent, der auf einem 1934 konzipierten Vortrag basiert, von »literarischen Formen«, die sich im Zuge der autonomieästhetischen Entwicklung bürgerlicher Kunst verfestigt haben, um diese »literarischen Formen« dann, mit Blick auf die »Energien der Gegenwart«, in einem »gewaltigen Umschmelzungsprozess« untergehen zu lassen.29 Benjamin setzt damit eine Debatte fort, die zu Beginn der Dreißiger Jahre unter Beteiligung von Georg Lukács, Ernst Ottwalt und anderen in der proletarisch-revolutionär ausgerichteten Zeitschrift Die Linkskurve über das Verhältnis von Tendenz und

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Ebd. Vgl. dazu Brokoff: Geschichte der reinen Poesie (Anm. 6), insb. S. 17-26; Valéry, Paul: »Poésie pure (Notizen für einen Vortrag)«, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Bd. 5, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1991, S. 65-74, hier S. 66. Vgl. dazu Geitner, Ursula: »Stand der Dinge: Engagement-Semantik und Gegenwartsliteratur-Forschung«, in: Jürgen Brokoff/Ursula Geitner/Kerstin Stüssel (Hg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur, Göttingen 2016, S. 19-58. Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Bd. II/2, Frankfurt a.M. 1991, S. 683-701, hier: S. 687. – Zitatnachweise fortan nach dieser Ausgabe im Text unter Angabe der Seitenzahl.

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Parteilichkeit und über den Gegensatz von Reportage und Gestaltung geführt wurde.30 Im Folgenden soll Benjamins Position in diesem Kontext interessieren, weil ihr die Momente der Formkritik und der Formkrise innewohnen. Diese Momente sind mit einem Interventionsgedanken verbunden, der die Formen von Kunst und Literatur an Formen politisch-ästhetischer Kollektivbildung bindet. Die Frage ist, was dies für die Formen und die Form des Kunstwerks bedeutet. Benjamin steht mit der Diagnose vom Untergang literarischer Formen, die zugleich auf bezeichnende Weise Postulat und Wunsch ist, nicht allein. Ähnlich argumentiert zur gleichen Zeit, über weltanschaulich-ideologische Grenzen hinweg, Ernst Jünger.31 Im Essay Der Arbeiter von 1932, der einen von der Herrschaft des Arbeiters bestimmten Staat entwirft, wird der Kunst eine durch und durch heteronome Funktion im Arbeitsstaat zugewiesen.32 Jüngers emphatische Rede vom ,Ende der Kunstʻ im bürgerlichen, autonomen Sinne erklärt nicht nur die »letzte Ausfaserung des einmaligen Erlebnisses durch den bürgerlichen Roman« für unbedeutend und unzeitgemäß,33 sondern stellt mit »Architektur« (220), »planmäßiger Landschaftsgestaltung« (225), »Siedlungswesen« (229) und »Städtebau« (230) die individuelle Leistung überschreitenden Kunstformen in den Mittelpunkt, die für das neu zu schaffende Kollektiv der Mitglieder des »Arbeitsstaat[es]« (250) und für dessen Räume von Bedeutung sind. Kunst ist für Jünger »nichts Abgelöstes, nichts, was an sich und aus sich heraus Gültigkeit besitzt« (225). Ungeachtet dieser programmatischen ,Abhängigkeitserklärungʻ, die jede Kunstäußerung rigoros auf den Prüfstand staatlich-kollektiver Tauglichkeit stellt und sich von der politisch-gesellschaftlichen Indienstnahme jeglicher Kunst fasziniert zeigt,

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Vgl. dazu den vierten Jahrgang der Zeitschrift Die Linkskurve, der die Beiträge von Lukács, Ottwalt und anderen enthält. Vgl. Die Linkskurve (4), Jahrgang 1932 – Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, ND Frankfurt a.M. 1978. Vgl. zum Folgenden auch meinen Aufsatz: »Heteronomieästhetik und Gemeinschaftsbildung im Zeichen des Rhythmus. Überlegungen zu einer theoriegeschichtlichen Konstellation in den 1930er und 1940er Jahren«, in: Irene Albers u.a. (Hg.): Heteronomieästhetik der Moderne. Jenseits literarischer Autonomie [im Erscheinen]. Vgl. dazu meinen Handbucheintrag: »Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932)«, in: Ernst Jünger Handbuch, hg. v. Matthias Schöning, Stuttgart 2014, S. 105-116. Jünger, Ernst: »Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt«, in: ders.: Sämtliche Werke, Band 8: Essays II, 1981, S. 151. – Zitatnachweise im Folgenden nach dieser Ausgabe im Text unter Angabe der Seitenzahl.

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ist aber auch hier, auf der Ebene des programmatischen Entwurfs, künstlerische Autonomie mit im Spiel. Helmut Lethen hat darauf hingewiesen, dass Jüngers Verfahren, sämtliche Referenzen und Quellenverweise sowie »Ambivalenzen des Ausdrucks« aus seinem Buch zu entfernen, um es als eine von sachlicher Gewissheit gezeichnete Manifestation der »Gestalt des Arbeiters« (160) erscheinen zu lassen, den »kurios individuellen Zug des Buches, die Handschrift seines Autors« ausmacht.34 Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass der von Jünger proklamierten Heteronomieästhetik, die im Kontext der totalitären Projekte einer politischen Avantgarde im Sinne eines »enge[n] Zusammenhang[s] […] zwischen Kunst und Staatskunst« (225) zu sehen ist, nichts stärker entgegensteht als die individuelle Form von Jüngers Essay, seine unverwechselbare Autorschaft, die ja ein Hauptkennzeichen von künstlerischer Autonomie ist. Von einer Gemeinschafts- und Kollektivbildung ist auch im erwähnten Aufsatz von Benjamin die Rede. Der Text von 1934 beginnt mit einer Feststellung über die Entscheidung des fortgeschrittenen Schriftstellers, sich auf die Seite des Proletariats zu stellen, und folgert aus dieser Entscheidung des Künstlers: »Da ist’s denn nun mit seiner Autonomie aus.« (684) Benjamins Text nimmt im Anschluss eine Aufgabenzuweisung in den Blick, die die Heteronomie35 des sich zum Proletariat bekennenden Schriftstellers von Seiten des Staates festlegt: »Der Sowjetstaat wird zwar nicht, wie der platonische, den Dichter ausweisen, er wird aber […] diesem Aufgaben zuweisen, die es ihm nicht erlauben, den längst verfälschten Reichtum der schöpferischen Persönlichkeit in neuen Meisterwerken zur Schau zu stellen.« (695) Das Kollektiv, das Benjamin in Übereinstimmung mit Sergej Tretjakows Konzept des »operierenden Schriftstellers« (686) ins Auge fasst, ist eines, das aus Lesern Schreibende macht und damit die »Scheidung zwischen Autor und Leser« (689) aufhebt. Damit ist die Frage nach einer neuen politischen Form des Schreibens verbunden. Benjamin und auch Tretjakow geht es nicht um eine Reform der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft. Es geht um eine Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse, die zu einer grundlegenden Neubestimmung des Autors und seines Schreibens führen soll. Als institutionalisierte Kategorie zählt der »Autor« ebenso wie die literarischen Formen

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Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994, S. 213. Vgl. dazu den Aufsatz von Hahn, Marcus: »Heteronomieästhetik der Moderne. Eine Skizze«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2013), S. 23-35.

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»Werk, Roman, Buch« zu den »starren, isolierten Dinge[n]« (685), die es in der neuen, von den Forderungen des Proletariats bestimmten Situation hinter sich zu lassen gilt. An der folgenden Passage aus dem Aufsatz ist insbesondere Benjamins Verwendung des Formbegriffs auffällig: Sie mögen Tretjakow schätzen und vielleicht doch der Meinung sein, daß sein Beispiel in diesem Zusammenhang nicht allzuviel besagen will. Die Aufgaben, denen er sich da unterzogen hat, werden Sie vielleicht einwenden, sind die eines Journalisten oder Propagandisten; mit Dichtung hat das alles nicht viel zu tun. Nun habe ich aber das Beispiel Tretjakows absichtlich herausgegriffen, um Sie darauf hinzuweisen, von einem wie umfassenden Horizont aus man die Vorstellungen von Formen oder Gattungen der Dichtung an Hand von technischen Gegebenheiten unserer heutigen Lage umdenken muß, um zu jenen Ausdrucksformen zu kommen, die für die literarischen Energien der Gegenwart den Ansatzpunkt darstellen. Nicht immer hat es in der Vergangenheit Romane gegeben, nicht immer wird es welche geben müssen; nicht immer Tragödien; nicht immer das große Epos. Nicht immer sind die Formen des Kommentars, der Übersetzung, ja selbst der sogenannten Fälschung Spielformen am Rande der Literatur gewesen, […]. Nicht immer ist die Rhetorik eine belanglose Form gewesen, sondern großen Provinzen der Literatur hat sie in der Antike ihren Stempel aufgedrückt. Dies alles, um Sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß wir in einem gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen mitten innestehen, einem Umschmelzungsprozeß, in dem viele Gegensätze, in welchen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlagkraft verlieren könnten. (687) Zu den fraglich gewordenen Gegensätzen gehört an vorderster Stelle der Gegensatz von Autor und Publikum, von Autor und Leser. Benjamin diskutiert die Aufhebung des Gegensatzes von Autor und Publikum bzw. Leserschaft am Beispiel der Zeitung. Die Sozialisierung des Mediums Zeitung, die auch im Fokus von Sergei Tretjakov steht, setzt eine Dialektik von Untergang und Wiederherstellung in Gang, bei der sich der Status des Lesers grundlegend verändert: Der Untergang des Schrifttums in der bürgerlichen Presse erweist sich als die Formel seiner Wiederherstellung in der sowjetrussischen. Indem nämlich das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum, die die bürgerliche Presse auf konventionelle Art aufrechterhält, in der Sowjetpresse zu verschwinden.

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Der Lesende ist dort jederzeit bereit, ein Schreibender, nämlich ein Beschreibender oder auch ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverständiger […] gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort. (688) Die nachfolgenden Ausführungen Benjamins, die auch auf Brechts Konzept des epischen Theaters Bezug nehmen, machen deutlich, dass der im Kontext der Presse verhandelte »Zugang zur Autorschaft« (688) »nur ein Beispiel« unter anderen ist (686). Er betrifft jede Form von Autorschaft. Ziel des von Benjamin ins Auge gefassten Prozesses ist die »Literarisierung der Lebensverhältnisse« (ebd.). Diese »Literarisierung der Lebensverhältnisse« sieht nicht nur, wie im Fall der Sowjetunion, die gewollte Intervention des Staates in die künstlerischen Belange des Schriftstellers vor. Es geht in einem strukturellen Sinne um eine grundlegende Neuordnung der literarisch-künstlerischen Produktionsverfahren, in deren Rahmen das Schreiben selbst als eine intervenierende Tätigkeit zu begreifen ist. Inwiefern? Und welche Auswirkungen hat das auf die von Benjamin angesprochenen »literarischen Formen« (687)? Der Interventionscharakter zeigt sich zunächst darin, dass die Schreibenden den passiven Zustand konsumtiven Lesens überwinden und in die aktive Rolle von Textproduzenten wechseln. Dergestalt greifen sie verändernd in das Feld des Schrifttums ein. Benjamin geht dabei ganz konkret und im dezidiert politischen Sinne von einer echten Umwandlung der Lesenden in Schreibende aus. Befördert dann die Zeitung eine neue Form des Schrifttums, das, wie Benjamin in polemischer Zuspitzung schreibt, »an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert« (688)? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass die Zeitung das mediale Format ist, in dem neue Formen des Schreibens Gestalt annehmen. Aber letztlich stellt sich die Frage, ob der von Benjamin inaugurierte »Umschmelzungsprozeß literarischer Formen« nicht noch einschneidender zu denken ist. Die Umstellung auf die intervenierende Tätigkeit des Schreibens bricht jegliche Abgeschlossenheit produzierter Texte auf. Es geht nicht um die Produktion von etwas Geschriebenem, sondern um das Schreiben selbst, das nicht in einer Form gefangen gehalten werden kann, auch nicht in der Form des einmal fixierten Zeitungsartikels. Schreiben ist ein unaufhörlicher, kontinuierlicher Prozess. Benjamin verbindet die Überlegung, dass das intervenierende Schreiben »niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern stets zugleich die an den Mitteln der Produktion« ist, mit der Forderung, dass die so entstehenden Erzeugnisse »neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion besitzen müssen«. (696)

Literarische Form und Intervention

Benjamin geht es nicht um eine Erledigung des Formbegriffs, sondern um dessen Ablösung vom Werkbegriff. Form und Werk treten im Zuge des beschworenen Umschmelzungsprozesses begrifflich auseinander. Drei Formen der Intervention stehen dabei besonders im Fokus: erstens die »Umfunktionierung der Konzertform«, die mit Bezug auf Hanns Eisler den »Gegensatz zwischen Ausführenden und Hörenden« aufhebt und die »Mitwirkung des Wortes« am Konzert vorsieht (694). Zweitens, mit Blick auf Brecht, die Umfunktionierung der Theaterform durch die Praxis der Unterbrechung. Intervenierend ist diese Praxis in zweifacher Weise: die durch V-Effekte desillusionierten Zuschauer intervenieren in die etablierte Institution der Theateraufführung, zuvor aber muss das in der Logik des epischen Theaters konzipierte Stück in die Vorstellungswelt der Zuschauenden intervenieren. Benjamin zitiert eine Äußerung Brechts, nach der die folgende Operation entscheidend ist: »die Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken« (690). Es steht außer Frage, dass dies eine Intervention im prägnanten Sinne ist. Und drittens geht es, wie oben angedeutet, um die Umfunktionierung der Schreibformen durch ein revolutionäres Neuverständnis der Autorinnen und Autoren als Produzenten. Was heißt das aber zu Ende gedacht? Dass alle Schreibenden sich ihrer produzierenden und intervenierenden, unterbrechenden und eingreifenden Autorschaft bewusst werden? Dass alle schreiben und so die Revolution vollzogen wird? Am Ende seines Aufsatzes macht Benjamin einen bemerkenswerten Rückzieher. Er spricht plötzlich nicht mehr von schreibenden Kollektiven, sondern von »Schriftstellern, auf die es ankommt« (699; Hervorhebung im Original) und von den »besten Technikern ihres Fachs« (ebd.). Rüdiger Bubner, der in seiner wirkungsmächtigen Abhandlung Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik Benjamins Aufsatz als den einzigen Versuch einer materialistischen Grundlegung der Ästhetik bezeichnet, der über Deklarationen hinausgeht, sieht hierin ein Scheitern von Benjamins Konzept.36 Dieses Scheitern mag in politischer Hinsicht zutreffen, vor allem, wenn man sich die in der späteren DDR verordneten Schreibprogramme vor Augen führt, die aus Schriftstellern ,arbeitende Schreiberʻ und aus Werktätigen ,schreibende Arbeiterʻ machen wollte.37 Und doch ist Benjamins formkritischer Aufsatz in zweifacher Hinsicht wegweisend gewesen. Die von Benja36 37

Bubner, Rüdiger: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 9-51. Vgl. dazu den Band: Bitterfelder Nachlese. Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen, hg. v. Simone Barck u. Stefanie Wahl, Berlin 2007. – Vgl. ebenfalls Greiner, Bernhard: Die Literatur der Arbeitswelt in der DDR, Heidelberg 1974. – Die einschlägigen Do-

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min geforderte Transformation von Lesenden in schreibende Produzenten wird in der Literaturtheorie fruchtbar gemacht. Dass Textproduktionen nicht zwangsläufig mit der Herstellung eigener, mit Autornamen versehener Texte im herkömmlichen Sinne verbunden sein müssen, sondern auch die Umwandlung konsumtiv Lesender in produktiv Lesende, die ebenso sehr schreiben wie lesen, bedeuten kann, haben vor allem die Arbeiten von Roland Barthes gezeigt. Hier ist insbesondere auf das Buch S/Z von 1970 zu verweisen, in dem Barthes den Lektüreprozess insofern dynamisiert, als er den Textbegriff mit unendlichen Spielmöglichkeiten versieht, was nur durch die Transformation des passiven Lesens zu einem (unabschließbaren) ,schreibenden Lesenʻ möglich wird.38 Zum anderen gibt die Umschmelzung literarischer Formen und Formationen, die ja eine Verflüssigung fester Strukturen impliziert, einen Hinweis auf die Umbildungsprozesse, die an die Stelle des Werkcharakters Aktivitäten treten lassen. Rancière spricht in seiner Abhandlung Le partage du sensible von »Tätigkeitsformen« – »manières de faire« –,39 die an die Stelle abgeschlossener Werkstrukturen getreten sind und bei denen eine endgültige Unterscheidung zwischen dem Künstlerischen und dem Politischen nicht mehr getroffen werden kann. Diese Unentscheidbarkeit hält sowohl den Begriff der Intervention als auch den Begriff der Form in einem Zwischenzustand des Künstlerischen und Politischen, und es ist dieser Zwischenzustand, der noch in der Gegenwart für das Verhältnis von Kunst und Politik charakteristisch ist.

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kumente und Materialien findet man in: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, hg. v. Elimar Schubbe, Stuttgart 1972. Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt a.M. 1987. Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008.

Ästhetik der pulchritudo adhaerens Zur Form der Warenwelt Heinz Drügh

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage nach einer Ästhetik der pulchritudo adhaerens, der anhängenden, nicht-autonomen Form: Ich gehe dabei in drei Schritten vor. Erstens wird dargestellt, wie und mit welchen Implikationen in der Autonomieästhetik die Vorstellung einer reinen Form (pulchritudo vaga) von der bloß anhängenden Form abgesetzt und zum Inbegriff des Ästhetischen erklärt wird. Zweitens skizziere ich, wie gegen diesen mächtigen Trend anhängende, d.h. von Zweckzusammenhängen bestimmte Formen nicht zuletzt seit dem Industrialismus wieder in den Fokus des Ästhetischen gelangt sind. Und drittens diskutiere ich einige Aspekte, die eine gegenwärtige Ästhetik der nicht-reinen oder kontaminierten Form, der pulchritudo adhaerens, kennzeichnen.

1. Nach Kants einflussreicher Bestimmung in der Kritik der Urteilskraft beruht das ästhetische Erlebnis auf einem Geschmacksurteil.1 Dessen Gegenstand ist nicht wie in vielen traditionellen Ästhetiken der »Begriff eines Objekts«, sondern ein »Gefühl des Subjekts« (§ 17): sein Lust- bzw. Unlustempfinden. Es geht dabei um die Verschiebung des rationalistischen Konzepts von ›Schönheit‹, das an Merkmalen des Objekts festgemacht wurde, zu einem deutlich diffuseren und volatileren Lust-/Unlustempfinden, das, übersetzt in ein Geschmacksurteil, zur Basis des Schönheitsbegriffs und zur Begründungsfigur 1

Ich zitiere aus: Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt a.M. 2009, mit der Angabe des Paragraphen im laufenden Text.

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der philosophischen Disziplin ›Ästhetik‹ wird. Mit ›Form‹ meint Kants Ästhetik nicht mehr die Beschaffenheit eines schönen Objekts, sondern die spezifische Art der subjektiven Erfahrung: »die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vorstellung« (§ 11). Zweckmäßig ist die Form der Vorstellung für Kant, wenn alle beteiligten Subjektvermögen – Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand – daran harmonisch mitwirken. Dabei kommen sie nicht zum Halt in einer Konstellation, die ein festes Resultat – eine Erkenntnis oder eine Handlungsmaxime – ergeben würde, sondern treiben ihr Spiel vollzugsorientiert, d.h. ohne auf ein Ende hin orientiert zu sein. Auf dieser Bestimmung beruht Kants grundsätzliche Unterscheidung des ästhetischen Urteils von solchen der Erkenntnis oder der Moral. ›Ästhetisch‹ ist ein Urteil laut Kant nur dann, wenn es »ohne […] Zweck« (§ 11), d.h. – noch einmal gesagt – ohne festen Begriff oder Erkenntnisziel und ohne eine Leitvorstellung des moralisch Guten gebildet wird. Kant versteht Form also eigentlich als glückliche Konstellation von Subjektvermögen. Rückübersetzt in die herkömmliche Nomenklatur der ästhetischen Form, also in Bezug auf das Schöne, spricht er von »freie[r] Schönheit (pulchritudo vaga)«. Hiervon unterscheidet er eine »bloß anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens)«, die immer einen »Begriff von dem voraus[setzt], was der Gegenstand sein soll« (§ 16, meine Hervorhebung). Damit meint Kant einen rationalistischen »Begriff« von »Vollkommenheit«, nach dem das ästhetische Objekt organisiert und aufzufassen ist. Freie Schönheit setzt hingegen »keinen Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein soll« (§ 16). Nur im Fall begriffslos operierender, freier Schönheit werden die menschlichen »Gemütskräfte«, so Kant, in der beschriebenen Weise »zweckmäßig in Schwung versetzt«, in ein »Spiel« lebhafter Sinnlichkeit und gesteigerten Selbstgefühls. Und dieses Spiel, das »sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt«, hat stets eine intellektuelle Komponente: Es wird während seines Vollzugs nicht nur sinnlich und gefühlsmäßig viel geboten, sondern es gibt stets auch »viel zu denken« (§ 49). Die Autonomieästhetik verbindet, ja verschweißt geradezu das sinnlich-emotionale Erlebnis des Subjekts, seine Lust- und Unlustempfindung, die vielleicht nachdrücklichste philosophische Exposition des sinnlich erlebenden und fühlenden Subjekts bis dato, mit dem Prozess kognitiver und kommunikativer Verarbeitung. Die pulchritudo vaga ist somit nicht nur frei von objekthafter Bestimmung, sie ist auch insofern frei oder vielleicht besser im Wortsinn vage, als sie zu einer Art Passepartout für die kommunikative Verhandlung ästhetischer Erfahrung wird, zu einer

Ästhetik der pulchritudo adhaerens

»Selbstverständigungsformel«2 ohne Fundierung in spezifischen Qualitäten des Objekts. Ein weiterer zentraler Aspekt von Kants autonomieästhetischer Absetzung der pulchritudo vaga von der pulchritudo adhaerens ist die Wendung gegen ein Verständnis von Schönheit als eines angenehmen Reizes. »Mit dem Schönen« ist es laut Kant »ganz anders bewandt« als mit dem Angenehmen. Zwar empfinden wir bei beiden Lust, ebenso beim Angenehmen wie beim Schönen. Während die sinnlich-angenehme Form aber gewissermaßen animalisch bleibt, gelingt im Fall ästhetischer Schönheit die rationale Sublimierung und kommunikative Prozessierung der Lust. Eine Proposition wie »Canariensekt ist angenehm« stellt deshalb für Kant eine unzulässige Formulierung dar. Stattdessen muss es heißen: Er ist »mir angenehm«. Ein Unterschied ums Ganze. De gustibus non est disputandum. Über Geschmack – und gemeint ist sinnlicher Geschmack – lässt sich nicht streiten: »Einer liebt den Ton der Blasinstrumente«, schreibt Kant, »der andre den von Saiteninstrumenten. Darüber […] zu streiten, um das Urteil anderer […] für unrichtig zu schelten, wäre Torheit« (§ 7). Warum aber ist diese Unterscheidung des Schönen vom bloß Angenehmen so wichtig? Der Grund liegt in der Sache der Ästhetik selbst. Als philosophische Disziplin wird sie erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts durch den Philosophen Alexander Baumgarten etabliert, und zwar nicht in erster Linie als Lehre vom Schönen und der Kunst, sondern als Beschäftigung mit der menschlichen Sinnlichkeit. Der griechische Begriff Aisthesis bedeutet wörtlich: Sinneswahrnehmung. Die Sinnlichkeit zählt Baumgarten nun zum Bereich einer »untere[n] Erkenntnislehre« – »gnoseologia inferior« genannt.3 In der Formulierung ›untere Erkenntnislehre‹ verbirgt sich sowohl eine Auf- als auch eine Abwertung. Die Aufwertung besteht darin, dass Sinnlichkeit hier überhaupt als Erkenntnisvermögen geadelt, ihr eine gewisse Vernunftkompatibilität zugesprochen wird (was in der rationalistischen Tradition nicht selbstverständlich ist). Die Abwertung liegt in dem Adjektiv »untere«. Untere Erkenntnisvermögen, Sinnlichkeit oder auch die »Wirrnisse der Gefühle«,

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Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 1: Von Kant bis Hegel, Opladen 1993, S. 47. Baumgarten, Alexander: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« [1750/58], übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1988, § 1, S. 4.

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die Baumgarten dazu zählt, sind der gängigen kulturellen Metaphorik zufolge weniger wichtig, weniger deutlich, auch materieller als obere Erkenntnisvermögen wie der Verstand. Und möglicherweise sind die da unten auch ein bisschen gefährlich. Untere Erkenntnisvermögen, so Baumgarten, üben nur dann »keine Gewaltherrschaft« aus, wenn man ihnen »eine sichere Führung« angedeihen lässt:4 Sie müssen kultiviert, verfeinert und mit einer Anleitung zur Kontemplation versehen werden. »Annehmlichkeit gilt« laut Kant »auch für vernunftlose Tiere«, »Schönheit [indessen] nur für Menschen, d.i. [für] tierische, aber doch vernünftige Wesen« (§ 5). Tierisch, aber doch vernünftig – das ist der Weg des Ästhetischen. Ausgehend von einer starken sinnlichen Erfahrung kommen dabei sowohl die Imagination als auch die Arbeit der Begriffe zum Tragen, ohne dass sich die Sache je ganz auflösen ließe. Im Erlebnis des Schönen, so Kant, sinniere ich ohne alles reale, weltliche Interesse über den Gegenstand. Dabei erfahre ich mich, so noch einmal Kant, als »völlig frei«, und zwar deshalb, weil es hier nicht um »Privatbedingungen […] des Wohlgefallens« gehe. Man habe deshalb im Ästhetischen sogar guten Grund, »jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten« (§ 6) oder »anzusinnen« (§ 8). Kants Umwidmung des Gemeinsinns vom Politisch-Sozialen in den Bereich der Ästhetik hat seine Wurzeln in der schottischen Aufklärungsphilosophie. So schreibt schon Francis Hutcheson in seiner Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725), dass die äußeren Sinne nur die Lieferanten von »simple ideas« seien, von einfachen Vorstellungen, während das Schöne »complex ideas« stimuliere, die »vastly greater pleasures«, weit exquisiteres und größeres Vergnügen bereiteten als ihre kleinen, sinnlichen Geschwister.5 Die Idee der Komplexität gehört seitdem zum Grundinventar ästhetischer Theorie. Eine ästhetische Idee gibt ›viel zu denken‹, so Kants bereits angesprochene Devise. Die resultierende, durch und durch bürgerliche Auffassung des adäquaten Umgangs mit Kunst lautet deshalb: Konzentration, Kontemplation, Versenkung; was in gewisser Hinsicht wiederum, so Walter Benjamin spitz, eine Tendenz zum Asozialen habe6 bzw. Signum einer Welt ist, in der es, wie Terry Eagleton spottet, noch »Hausangestellte[…] gibt, 4 5 6

Ebd., § 12, S. 7. Hutcheson, Francis: Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue [1725], Indianapolis 2012, S. XX. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Erste Fassung), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, S. 431-471, hier S. 463.

Ästhetik der pulchritudo adhaerens

die den Eingang gegen Eindringlinge abschirmen, während man sich zum Lesen zurückzieht«.7 Die Vorstellung einer Subtilität und Komplexität des Fühlens, Wahrnehmens und Denkens unter Absehung von konkreten, materiellen Verhältnissen durchzieht die Modellierungen der Autonomieästhetik und des Formalismus auch im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. So schreibt Arthur Schopenhauer: Das »Absondern der Form von der Materie bringt solche [Form, HD] der Idee um vieles näher.«8 Der Philosoph Robert Zimmermann entwirft eine Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft, in der er fordert, dass »die Theile außerhalb der Form«, also im Bereich der »Materie«, »ästhetisch gleichgültig« sind.9 Für die Moderne konstatiert der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer, ausgehend von Alois Riegls psychologischem Konzept des ›Kunstwollens‹, einen »Abstraktionsdrang«,10 der das »einzelne Objekt der Außenwelt […] aus seiner Verbindung und Abhängigkeit von den anderen Dingen« geradezu »erlös[t]« und es »absolut« macht.11 »Das Leben als solches«, ist Worringer überzeugt, »wird als Störung des ästhetischen Genusses empfunden.«12 Der formalistische Literaturtheoretiker Viktor Šklovskij wiederum fordert von der Kunst ein »Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge«, d.h. ein »Verfahren der erschwerten Form.« Nur ein solches Verfahren steigere »die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung«. Und dieser »Wahrnehmungsprozeß«, schreibt Šklovskij, »ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden.«13 Auch Clement Greenberg, amerikanischer Vordenker des abstrakten Expressionismus, besteht auf der Autonomie von Kunst: »Aesthetic distance means separation, a kind of transcendence, if you please. […] Art as art takes place away from life as lived, is experienced as other than the life-world […]. And this otherness is part of art’s gift«. Kunst, die ihrer Bestimmung nachkommt, bestünde demnach in dem Geschenk, Distanz nehmen zu können »from all political, social, economic, or religious or moral issues or

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Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart/Weimar 2012, S. 79. Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Bd.II, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1986, S. 498. Zimmermann, Robert: Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft, Wien 1865, S. 21. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie [1908], München 1959, S. 58. Ebd., S. 55. Ebd., S. 59. Šklovskij, Viktor: »Die Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1969, S. 3-35, hier S. 15.

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factors«.14 Von besonderer Bedeutung ist dabei die Distanz zu Phänomenen wie »popular, commercial art and literature with their chromeotypes, magazine covers, illustrations, ads, slick and pulp fiction, comics, Tin Pan Alley music, tap dancing, Hollywood movies etc. etc.«15 Wieder und wieder wird diese Variante der Autonomieästhetik vorgetragen: Subtilität der Wahrnehmung, Komplexität des Gefühls und des Denkens, Transzendenz, Überschreitung der Wirklichkeit sei nur möglich via autonomer, hoher Kunst. In Bezug auf die Unterscheidung zwischen ernster Musik und Popmusik skizziert der Musiksoziologe Simon Frith das Klischee dieses Arguments: »Serious music matters because it transcends social forces; popular music is aesthetically worthless because it is determined by [social forces] them (because it is ›useful‹ or ›utilitarian‹)«.16 Auch Kant sondert gewisse Gegenstände, denen die Nutzanwendung allzu deutlich anhaftet, bzw. deren Schönheit nicht losgelöst von Zwecken zu begreifen ist, aus dem Gebiet des Ästhetischen aus. »[D]ie Schönheit eines Pferdes« etwa oder eines »Gebäudes« setzt in seinen Augen »einen Begriff vom Zwecke voraus« (§ 16). Ein Pferd seiner reinen Form nach ›schön‹ zu nennen, wäre demnach unmöglich. Denn ob man es will oder nicht, es mischen sich stets Aspekte seines Nutzwerts ins Urteil: Schnelligkeit, Kraft oder die durch das Gebiss oder den Glanz des Fells bezeugte Gesundheit. Ein Gebäude ist nur dann schön, wenn sich auch angenehm in ihm wohnen lässt. Freie Schönheit ist für Kant hingegen »der bloßen Form nach« schön. »Blumen« etwa hält er für solch »freie Naturschönheiten«, ebenso »[v]iele Vögel« und »eine Menge Schaltiere« (§ 16) (dies allerdings wohl nur deshalb, weil noch keine Evolutionstheorie den verborgenen Zweck hinter all diesen Formen erkannt hat). Im Bereich der Artefakte fallen nach Kant unter die Kategorie der ›freien Schönheit‹ allerdings nicht etwa große Kunstwerke, sondern dekorative Künste und Arrangements: »Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten«. Diese bedeuten – so Kant – »für sich nichts« und sie »stellen [auch] nichts vor« (§ 16). Nur weisen diese Ornamente und Ranken auch noch keinen Weg in ungegenständliche oder abstrakte Kunst und wirken daher in ihrer Vermeidung konkreter Formen ein wenig 14 15 16

Greenberg, Clement: Autonomies of Art, zitiert nach einem Video, Mountain Lake Virginia 1980, www.sharecom.ca/greenberg/autonomies.html. Greenberg, Clement: »Avant-Garde and Kitsch«, in: ders.: Art and Culture. Critical Essays, Boston 1961, S. 3-21, hier S. 9. Frith, Simon: »Towards an aesthetic of popular music«, in: ders.: Taking Popular Music Seriously. Selected Essays, London/New York 2007, S. 257-273, hier S. 257.

Ästhetik der pulchritudo adhaerens

hilflos. Wenn sie nämlich als freie Schönheiten für das genuin Ästhetische stehen, dann hätte, wundert sich Kants Königsberger Lehrstuhlnachfolger Traugott Wilhelm Krug, doch tatsächlich »bloßes Laubwerk […] einen höheren ästhetischen Werth als eine Mediceische Venus […], was wohl so leicht niemand der Kritik zugeben möchte«.17 Gegen die eigentliche Absicht haben die freien Formen, die Kant nennt – Tapetenmuster, Ranken – ihren lebensweltlichen Sitz sogar eher im Bereich angewandter Kunst, wären also Fälle von pulchritudo adhaerens. Dieser in der idealistischen Ästhetik verpönte Bereich gewinnt indes im Industrialismus rasch an Bedeutung und kommt in den Genuss einer unvoreingenommeren ästhetischen Bewertung.

2. Die Ästhetik der pulchritudo adhaerens speist sich aus zwei ganz unterschiedlichen Motiven. Einerseits artikuliert sich mit ihr die allgemeine Besorgnis über den Niedergang ästhetischer Standards durch die heraufziehende Massengesellschaft und die industrielle Produktion. Andererseits erhebt sie Einspruch gegen die Dominanz des idealistischen Kunstbegriffs mit seiner prägenden Vorstellung der freien Form. Immer wieder im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert geht es der Kunsttheorie – prominent in der Kunstgewerbs- und der Arts and Crafts-Bewegung – darum, die Befürchtung zu diskutieren, das einstmals stolze Handwerk sei »ins Schlepptau der wechselnden Moden geraten und werde außerdem bedrängt durch niedrige Preise industrieller Massenprodukte, die sich als [dekorierter] Schund herausstellen«.18 Der Architekt und Kunsttheoretiker Gottfried Semper etwa eröffnet die Prolegomena seiner 1860 im Untertitel als »praktische Ästhetik« bezeichneten Abhandlung Der Stil mit der Diagnose, sich »mitten in einer Krisis« zu befinden. Als solche begreift er den »allgemeinen Verfall[]« bzw. die »zeitweilige Verwirrung auf dem Gebiete derjenigen Fähigkeiten des Menschen […], die sich in dem Erkennen

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Krug, Wilhelm Traugott: »Geschmackslehre oder Ästhetik« (Königsberg 1810), in: ders.: System der theoretischen Philosophie, Wien 1818, S. 67. Hirdina, Heinz: »Design«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 41-63, hier S. 45.

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und Darstellen des Schönen bethätigen«.19 Was Semper damit meint, ist zum einen der angesprochene »Verfall« des Geschmacks durch industrielle Massenkunst, dem es durch eine Grundsatzüberlegung zur »Kunstindustrie«20 und ihren ästhetischen Grundlagen zu begegnen gelte. Zum anderen steht damit die als asketisch empfundene Konzentration der idealistischen Ästhetik auf die »höheren Regionen der Kunst« zur Debatte: ein »schematisch-puritanisches Kunstregiment«21 mit Erscheinungsformen wie einer aufgesetzten »Kunstextase« oder einer »oft lächerliche[n] Deutesucht«, jeweils vorgetragen von vermeintlichen »Kunstkenner[n]«, ein System, dem schlicht die »Triebkraft«22 abhanden gekommen sei. Beklagt wird also ebenso die mangelnde Verständigung über ästhetische Qualitätsstandards in der industriellen Produktion sowie komplementär die allgemeine »Verödung der Kunstformenwelt.«23 Bei dieser kulturkritischen Klage bleibt es aber nicht. Vielmehr wird die »Phönixgeburt [eines] neuen Kunstlebens aus dem Vernichtungsprozesse des alten«24 in Aussicht gestellt. Entscheidende maieutische Hilfe dafür leistet eine Ästhetik, die ihrer gesellschaftlichen Rahmungen inne wird. Konkret steht dafür die Forderung nach einer »empirische[n] Kunstlehre«, die keine »reine Ästhetik« oder »abstrakte Schönheitslehre« mehr sei. Nicht »die Form als solche«25 steht dabei im Fokus, sondern das Ästhetische als »Produkt oder Resultat« von Faktoren, »die nicht selbst Form sind«,26 jedenfalls nicht im emphati19

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Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt a.M. 1860, S. V. Ebd., S. VII. Ebd., S. XX. Ebd., S. VIII. Ebd., S. XX. Ebd., S. V. Ebd., S. VI. Ebd., S. VII. An dem Punkt, wo Caroline Levine mit ihrer viel beachteten Studie Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network (Princeton 2016) einsetzt, war die ästhetische Theorie also schon einmal. Aus der design theory borgt sich Levine den Begriff der ›affordance‹, den man mit ›Aufforderung‹ übersetzen könnte. »Affordance«, schreibt Levine, »is a term used to describe the potential uses or actions latent in materials and designs« (S. 6). Formfragen stellen sich demnach ganz handfest, anders als etwa in der Dekonstruktion (Spätling der formalistisch-autonomieästhetischen Tradition), die Phänomene wie »interstices, vagueness and indeterminacy, boundary-crossing and dissolution« bevorzugt, Phänomene, die laut Levine ihrer Tendenz nach »formless or antiformal« (S. 9) sind. Wer sich für literarische Form interessiert, tue daher gut dar-

Ästhetik der pulchritudo adhaerens

schen Sinn: beispielsweise des Bildungswesens. Das dort zu Sempers Zeit gerade verankerte »Prinzip[] der rein realistischen Vorerziehung« in »Realschulen« und »technischen Anstalten«, das »werkthätige[] Klassen« zu »Fachmenschen« heranziehen soll, führe, so könnte man meinen, zu einer »grundsätzlichen Ertödtung eben desjenigen Organs, das bei dem Kunstempfinden, und in gleichem Masse bei dem Kunsthervorbringen, sich bethätigt, ich meine den Sinn und den rein menschlich-idealen Trieb des sich selbst Zweck seienden Schaffens und die dem Künstler sowie dem Kunstempfänglichen unentbehrliche Gabe unmittelbaren anschauenden Denkens«.27 Diese Krise lässt sich aber insofern nutzen, als sie die ›werktätigen Klassen‹ überhaupt als relevante Größe ins Gebiet ästhetischer Theorie hineinlässt und ebenso die Abkapselung der Autonomieästhetik in Frage stellt wie sie die technischen, sozialen und ökonomischen Implikationen der Künste als Momente ästhetischer Theorie ernst nimmt; gleichsam »als wolle«, schreibt der Ökonom und sozialdemokratische Politiker Heinrich Waentig, »nach langer Trennung die hohe Kunst von ihrem Throne wieder zum Volke herabsteigen und wie ehemals auch das Alltagsleben bis in seine Tiefen durchdringen und befruchten«.28 Die Ästhetik der pulchritudo adhaerens ist folglich eine Ästhetik der »sociale[n] Form[]«.29 Konkret engagiert sie sich für eine »Hebung des Kunstsinnes im Allgemeinen«.30 Zu diesem Zweck rekurriert sie auf die »ältesten und einfachsten Erfindungen des Kunsttriebes«: »[I]ch meine den Schmuck, die Waffen, die Gewebe, die Töpferwerke, den Hausrath, mit einem Wort die Kunstindustrie, oder das was man auch die technischen Künste nennt«.31 Systematisch bedeutet dies die Würdigung jener einst von den artes liberales bzw. den ›schönen Künsten‹ abgespaltenen artes mechanicae. Beschworen werden Zusammenhänge, in denen, wie Semper mit fast romantischer Emphase schreibt, »jeder Handarbeiter in seiner Art ein Künstler war oder wenigstens zu sein strebte«.32 Ein weiteres Reservoir der Formbetrachtung stellt die natürliche Morphologie der Mineral- und Kristallbildung bzw. der Botanik dar,

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an, gegen die Usancen der autonomieästhetischen Tradition immer auch eine konkret verortete, materielle, soziale Welt ins Kalkül zu ziehen. Semper: Der Stil (Anm. 19), S. VIII. Hirdina: »Design« (Anm. 18), S. 45. Semper: Der Stil (Anm. 19), S. 5. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VII. Ebd., S. IX.

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in der Semper Keime für das »Absolute[]« und »in sich Vollkommene[]« entdeckt und auf Begriffe wie »Symmetrie, Proportion und Richtung« bringt.33 Auch hier landet die Argumentation bei ornamentalen Formen, die nun aber nicht – wie bei Kant – als Inbegriff der pulchritudo vaga verstanden werden, sondern auf eigentümliche Weise eine biologisierte Vollkommenheitsästhetik mit dem Musterkatalog industriell-technischer Gestaltung verbinden. In der Tat hat die autonomieästhetische Askese mit den Verhältnissen von Kunstproduktion, -verbreitung und -rezeption im 19. Jahrhundert wenig am Hut. Spätestens hier jedoch ist die Eingliederung der Kunstsphäre in kapitalistische Bezüge von Produktion und Handel weitgehend vollzogen. Umgekehrt prägen die neuartigen Weisen der Produktion, Distribution und des Konsums von Waren die Darstellungs- und Wahrnehmungsformen schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf spürbare Weise. Wie sich ästhetische Theorie produktiv daran abarbeitet, lässt sich oft eher bei Außenseitern des Kunstdiskurses beobachten – etwa bei dem Soziologen Georg Simmel. Auf der einen Seite findet sich auch bei Simmel die geläufige Kritik an der Konsumgesellschaft. In dieser würden, stellt Simmel fest, immer mehr »Objekte […] billig und massenhaft« hergestellt.34 Dies führe zu einem »Übergewicht« der »objektive[n] über die subjektive Kultur«.35 Die »subjektive Färbung des Produkts« schwinde;36 eine Entwicklung, die Simmel als die viel zitierte »Tragödie der Kultur« bezeichnet.37 Doch bei einer solch einseitigen Einschätzung bleibt es nicht. Wie wäre es nämlich, fragt Simmel, wenn man die Fülle von Dingen in der Konsumkultur einmal nicht als ›Tragödie‹ begriffe? Wenn man anzuerkennen oder wahrzunehmen versuchte, dass jene »Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst« in Wirklichkeit geradezu »unsäglich kultiviert« sind, während »die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, […] keineswegs in demselben Verhältnis fortgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen« sei?38 Aus dieser Annah-

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Ebd., S. XXV. Simmel, Georg: »Philosophie des Geldes« [1900], in: ders.:Gesamtausgabe, Bd. VI, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a.M. 1989, S. 631. Ebd., S. 621. Ebd., S. 634. Simmel, Georg: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911/1912], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. XII: Aufsätze und Abhandlungen 1909−1918, hg. von Rüdiger Kramme und Angela Rammstedt, Frankfurt a.M. 2001, S. 194−223, hier S. 219. Simmel: »Philosophie des Geldes« (Anm. 34), S. 620.

Ästhetik der pulchritudo adhaerens

me resultiert für Simmel die ästhetisch herausfordernde Aufgabe der Zeit: Es geht darum, die aufgrund der »Erweiterung der Konsumtion«39 sprunghaft ausgeweitete Kultur der »Objekte«, nicht zuletzt solcher, die »billig und massenhaft« hergestellt wurden und dadurch zunehmend als »sachlich[]« und »unpersönlich[]«40 erscheinen, »besser und schneller als bisher zum Material der subjektiven zu machen«.41 Zur Debatte steht damit ein Grundvorgang des Ästhetischen, ein Prozess subjektiver, ebenso sinnlich-emotionaler wie gedanklicher Aneignung. Eine solche Ästhetisierung der Lebenswelt, von der sich hier bereits sprechen lässt, bedeutet freilich keine haltlose Überhöhung des Konsumobjekts. Es geht vielmehr um die »Ambivalenzen und Irritationen, die durch das Oszillieren unserer Reizangebote zwischen Ästhetik und Lebenswelt überhaupt ausgelöst werden«42 und um die Frage, wie eine solche »Vielfachheit« des »Zueinandergehörens […] der Menschen und der Dinge« auch in seiner ästhetischen Qualität gewürdigt werden kann. Die Pointe dieses Versuchs bestünde also darin, die grundsätzliche Dualität »von uns selbst als dem Niedrigeren zu uns selbst als dem Höheren« auszufechten.43 Die Vorstellung des »reinen Kunstwerks«, eine Ästhetik der reinen Form, der pulchritudo vaga, stünde dem nur im Weg, indem sie »das Wirklichkeitsmoment« der Kunst »sozusagen verzehrt«.44 Es gilt folglich zu zeigen, dass ästhetische Delikatesse bei einer Öffnung zur Wirklichkeit nicht notwendig preisgegeben wird. Möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall, und das ist der entscheidende Punkt, an dem die Ästhetik der pulchritudo adhaerens mit einem zentralen Anliegen der Autonomieästhetik konvergiert, dem Aspekt der Reflexivität und der Komplexitätssteigerung. Denn könnte nicht, fragt Simmel, in der Weigerung, den Stiefel autonomer Ästhetik weiter routiniert runterzuspielen, auch ein besonderer ästhetischer Reiz, eigentümliche ästhetische Subtilität verborgen liegen: »Für 39 40 41

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Ebd., S. 631. Ebd. Simmel, Georg: [Beitrag zu:] »Die Zukunft unserer Kultur. Stimmen über Kulturtendenzen und Kulturpolitik« [1909], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. XVII: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889 – 1918 [u.a.], hg. von Klaus Christian Köhncke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus, Frankfurt a.M. 2004, S. 79-83, hier S. 83. Liessmann, Konrad Paul: Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Wien 2009, S. 35. Simmel: »Tragödie der Kultur« (Anm. 37), S. 210. Simmel, Georg: »Der Henkel. Ein ästhetischer Versuch« [1905], in: ders.:Gesamtausgabe, Bd. VII: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1995, S. 345-350, hier S. 345.

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weniger zartes Empfinden«, urteilt Simmel in dem Aufsatz Soziologische Aesthetik, bedürfe es, um es jenen »Reiz der Distanz kosten zu lassen«, der nun einmal kennzeichnend für ästhetisches Erleben ist, »einer größeren Ferne des Objektes selbst […]; je unkultivierter und kindlicher das ästhetische Gefühl ist, desto phantastischer, der Wirklichkeit ferner, muß der Gegenstand sein, an dem das künstlerische Bilden zu seinem Effekt kommt«.45 »Feinere Nerven«, so Simmels überraschende Wendung, »bedürfen dieser gleichsam materiellen Unterstützung nicht«, ja sie empfinden das Ästhetische »um so intensiver […], an je näherem, niedrigerem, irdischerem Materiale es sich vollzieht«.46 Dieses Umschlagsmoment – Tragödie der Kultur und Banalisierung des Ästhetischen einerseits, feinere Nerven und ästhetische Intensivierung andererseits – findet sich auch schon an der Schwelle zur modernen Lebenswelt, in Friedrich Schlegels 1797 publizierter Abhandlung Über das Studium der Griechischen Poesie. Schlegel diagnostiziert dort ebenfalls eine Krise der Moderne. Dieser fehle es an »Einheit«. Dem »Schönen« eigne keine Verbindlichkeit mehr. Stattdessen herrschten »Verwirrung« und »Verzweiflung« und nicht zuletzt eine »Anarchie […] des Geschmacks«.47 Als Grund dafür wird einmal mehr die Massengesellschaft mit ihren Märkten und zugehörigen Medien angeführt, insbesondere deren ständiges Heischen nach Aufmerksamkeit. Eine bloße »Karikatur des öffentlichen Geschmacks«, meint Schlegel, sei die »Mode«, weil diese, statt sich geschmackssicher im Rahmen eines Expertenzirkels an einem ausgewiesenen Kanon zu orientieren, »mit jedem Augenblicke einem andern Abgotte« huldige:48 Resultat sei ein rastloses Streben nach dem »Piquanten und Frappanten«49 dem »Choquante[n]«50 oder »Interessanten«,51 das in einer ständigen Überbietungslogik auf unendlich gestellt werden muss, weil es »kein höchstes Interessantes gibt«.52 Gegen den Strich dieser Kulturkritik

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Georg Simmel: »Soziologische Aesthetik« [1896], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. V: Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, hg. von Hans-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt a.M. 1992, S. 197-214, hier S. 210. Ebd. Schlegel, Friedrich: »Über das Studium der Griechischen Poesie«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd 1: Studien des klassischen Altertums, hg. von Ernst Behler, Paderborn 1979, S. 217-367, hier S. 219. Ebd. Ebd., S. 228. Ebd., S. 254. Ebd., S. 228. Ebd., S. 253.

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räumt jedoch auch Schlegel ein, dass es den Modernen nicht per se an »ästhetischer Kraft« fehle.53 Im Gegenteil: Es gebe sogar »eine Darstellung der Verwirrung in höchster Fülle, der Verzweiflung im Überfluss aller Kräfte«.54 Das Interessante steht also nicht nur für die Krisendiagnose einer sich »in Neuigkeitssucht verschleißenden Poesie«,55 sondern es fordert auch – erstaunliche Wendung der Argumentation – »ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie«.56 Das Umschlagsmoment zwischen dem reinen Schönen, der puren ästhetischen Form, und ihren neuzeitlichen Kontaminationen lässt sich in der ästhetischen Tradition bis zu den kunstpsychologischen Überlegungen zum Phänomen der »vermischte[n] Empfindung[en]«57 zurückverfolgen, wie sie der Philosoph Moses Mendelssohn angestellt hat. Die Rede ist von dem Problem, warum uns ästhetische Reize besonders dann tangieren, wenn sie durchsetzt von Leid, Schrecken und Entsetzen sind. Es ist schlicht so, schreibt Mendelssohn, dass das »Schmerzhaftangenehme[]«,58 also das »Unangenehme, das mit dem Angenehmen vermischt ist«, dasjenige also, was nicht den Maßstäben ästhetischer Vollkommenheit oder Schönheit gehorcht, nicht nur »tiefer in das Gemüth« eindringt, sondern auch nachhaltiger ist: es scheint sich schlicht »länger darin zu erhalten« und eine »allzu frühe Sättigung« des Empfindens und Intellekts zu verhindern.59 Was man sich dabei vor Augen halten muss: Es geht beim Aufklärer Mendelssohn, gewissermaßen an den Anfängen der ästhetischen Disziplin, um das Problem der allgemeinmenschlichen »Ausprägung einer reflexiven, inneren Empfindungsweise«, für die nicht die sterilen Zirkel »regelkundige[r] Experten« mit ihrem »Urteilsmonopol« die höchste Verbindlichkeit haben, und auch nicht die penibel von Reiz und Rührung gereinigte harmonische Austarierung der Subjektvermögen, an die Kant im

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Ebd., S. 259. Ebd., S. 219. Matuschek, Stefan: »Über das Studium der Griechischen Poesie«, in: Johannes Endreß (Hg.): Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar, S. 8388, hier S. 84. Schlegel: »Über das Studium der Griechischen Poesie« (Anm. 47)., 252f. Mendelssohn, Moses: »Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen« in: ders.: Ästhetische Schriften, hg. von Anne Pollok, Hamburg 2006, S. 142-187, hier S. 148. Mendelssohn, Moses: »Über die Empfindungen«, in: ders.: Ästhetische Schriften, hg. von Anne Pollok, Hamburg 2006, S. 9-82, hier S. 70. Mendelssohn: »Rhapsodie« (Anm. 57), S. 157.

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ästhetischen Urteil denkt. Am Beginn des Ästhetischen steht ziemlich deutlich erkennbar der Wunsch nach dem »Genuß der eigenen Emotionen«, und das geht häufig einher mit dem »Wunsch nach heftiger Gemütserregung«.60 So drängt es sich geradezu auf, die pulchritudo adhaerens, die mit der kapitalistischen Warenproduktion, -distribution und -konsumtion verbundenen Gemütszustände als die gemischte Empfindung der Gegenwart zu begreifen. Vermieden wird dabei die Sättigung, die Selbstzufriedenheit einer hermetisierten, sich als autonom begreifenden Kunst. Deren prätendierte Komplexitätssteigerung wird hingegen als Verstrickung des Ästhetischen in gesellschaftliche Diskurse begriffen, die es kulturpoetisch zu entflechten gilt. In diesem Sinne wird die Konfrontation mit den Niederungen nicht-autonomer Objekte im Ästhetischen als Steigerung gedacht. Das soll nun abschließend in der Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Roman, Ottessa Moshfeghs 2018 erschienenem My Year of Rest and Relaxation, konkretisiert werden.

3. Es sind drei Aspekte einer gegenwärtigen Ästhetik der pulchritudo adhaerens, die ich mit Bezug auf Ottessa Moshfeghs Roman diskutieren möchte:61 Erstens geht es dabei um den Modus, in dem insbesondere Waren als prototypische Vertreter von pulchritudo adhaerens präsentiert werden. Dieser Modus soll hier, abweichend von der These blinder Affirmation, die das Gros konsumkritischer Theorien mehr oder weniger einseitig hervorhebt, als paradigmatische Vorbehaltlichkeit kenntlich gemacht werden, als Öffnung eines Raums der Relativierung, ironischen Abwägung und Deliberation. Dieser Aspekt hat – zweitens – seine Basis in einem Urteil, mit dem sich Konsument*innen zwischen zwei gleichwertigen Produkten aufgrund ihrer divergierenden Präsentationsform entscheiden. Dieses Urteil soll in seiner Struktur als ästhetisches Urteil kenntlich gemacht werden. Es ist nämlich weder ein epistemologisches Sachurteil, 60 61

Zelle, Carsten: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 76. Vgl. dazu auch Baßler, Moritz/Heinz Drügh: »Einleitung: Konsumästhetik«, in: dies. (Hg.): Konsumästhetik. Umgang mit käuflichen Gegenständen, Bielefeld 2019, S. 7-25; Drügh, Heinz: »Mmes. Maisel und Moshfegh. Die Epoche Pop, gesehen von heute aus«, in: schliff. Literaturzeitschrift, Themenheft »POP«, hg. Kathrin Schuchmann und Christopher Quadt, München 2019, S. 123-137.

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noch ist es zweckgebunden, wie es Kant für die pulchritudo adhaerens vorsähe. Ästhetik dringt hier somit – und zwar auf substantielle Weise – in eine Sphäre vor, die im Rahmen der Autonomieästhetik für geradezu widerästhetisch gehalten wurde. Drittens ist dabei auch der formale, institutionelle Rahmen der Literatur von Interesse; ein Rahmen, in dem es immer auch um die Produktion, Distribution und den Konsum geht. Dieser Rahmen nun, so die These, ist nicht etwas, was nur kultursoziologisch zu erforschen wäre;62 er ist es auch unter Gesichtspunkten der Form: als eine Ästhetik, die nicht so tut, als entstünde sie im aseptischen Raum reiner Formen, sondern die die institutionellen Voraussetzungen in ihren Schreibverfahren als Bedingung ihres Erscheinens und damit als Teil ihres Kunst-Seins: als Form verhandelt. Bevor ich diese drei Aspekte an Ottessa Moshfeghs Roman profiliere, kurz zu dessen Handlung: Sie spielt im Jahr 2001, vor den 9/11-Terroranschlägen, was dem Titel, der nach einer Detox- oder Wellness-Auszeit klingt, einen merkwürdigen Klang gibt. Die namenlos bleibende Ich-Erzählerin ist 24 Jahre alt: »tall and thin and blond and pretty […]. Even at my worst, I knew I still looked good« (27).63 Reich ist sie auch noch, Erbin eines größeren Vermögens. Mit Nonchalance wohnt sie in einem teuren Apartment in Manhattans Upper East Side, inklusive Marmorfoyer und Concierge. Ihren Job in einer trendigen New Yorker Galerie hat die studierte Kunsthistorikerin gerade gekündigt. Dort hatte sie nichts weiter zu tun, denn als hübsches und schräges Accessoire zu posieren, als »fashion candy« oder »hip decor« (36). Hiervon nimmt sie sich nun eine Auszeit, ihr »year of rest and relaxation«. Konkret heißt das: Sie knallt sich mit einem immer stärker werdenden Cocktail von Schlafmitteln, Sedativa und Antidepressiva zu, mit dessen Hilfe sie sich schließlich nahezu drei Tage am Stück schlafen legen kann. In den Wachphasen nimmt sie nicht viel mehr als Animal Crackers, Pizza und Kaffee mit Unmengen an Zucker zu sich und vertreibt sich die Zeit mit Binge-watching, vorzugsweise von Whoopi Goldberg-Filmen auf VHS. Dieses »hibernating« (3), der Winterschlaf, ist zunächst einmal von einem tabula rasa-Prinzip geprägt, einer Abrechnung mit dem New Yorker Galerienbetrieb, in dem sie nichts Anderes mehr sehen kann als »canned counterculture crap, ›punk, but with money‹, nothing to inspire more than a trip

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Vgl. Childress, Clayton: Under the Cover. The Creation, Production and Reception of a Novel, Princeton 2017. Moshfegh, Ottessa: My Year of Rest and Relaxation, New York 2018. Ich zitiere mit Seitenangabe im laufenden Text.

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around the corner to buy an unflattering outfit from Comme des Garçons« (36). Dies verlangt nach reinigender Entsagung, was auch die Dinge betrifft, von denen sie täglich umgeben ist: »The deep sleep […] required a completely blank canvas […]. I wanted nothing but white walls, bare floors, lukewarm tap water« (258f.). Nun könnte sich hier die Frage aufdrängen, ob diese fast mönchische Reinigungs- und Konzentrationsphantasie nicht genau das Gegenteil von pulchritudo adhaerens impliziert? Eben nicht, ist die Antwort, denn der Roman ist klug genug, diesen weiblichen Anti-American Psycho nicht ungebrochen zu präsentieren. Die Entschleunigung des Lebens, das Farewell ans Dauer- und Multitasking, die Askese vom Konsum – nur zu gerne ist das selbst, wie der Roman weiß, nichts anderes als durchkommerzialisierte Burnout-Wellness. Auch wenn hier also tabula rasa gemacht werden soll, leuchten die Inventarstücke des survival kits für den Winterschlaf immer noch recht attraktiv: After a few months of sloppy, half-asleep patronage, the Egyptians [die Gechäftsführer der Bodega, HD] started calling me ›boss‹ and readily accepted my fifty cents when I asked for a loosie, which I did often. I could have gone to any number of places for coffee, but I liked the bodega. It was close, and the coffee was consistently bad, and I didn’t have to confront anyone ordering a brioche bun or no-foam latte. […] The bodega coffee was working-class coffee–coffee for doormen and deliverymen and handymen and busboys and housekeepers. The air in there was heavy with the perfume of cheap cleaning detergents and mildew. I could rely on the clouded freezer full of ice cream and popsicles and plastic cups of ice. The clear Plexiglas compartments above the counter were filled with gum and candy. Nothing ever changed: cigarettes in neat rows, rolls of scratch tickets, twelve different brands of bottled water, beer, sandwich bread, a case of meats and cheese nobody ever bought, a tray of stale Portuguese rolls, a basket of plasctic-wrappes fruit, a whole wall of magazines that I avoided. I didn’t want to read more than newspaper headlines. (5f.) Unübersehbar ist hier zunächst die imaginäre Überhöhung des Kaffees. Für unsere reiche Erzählerin scheint es aus Stilerwägungen wichtig zu sein, keinen modischen Hipster-Kaffee wie »no foam latte« zu trinken, sondern ›ehrlichen‹ Werktätigen-Kaffee: »It’s good because it’s awful« hat eine andere New Yorkerin dieses Prinzip gute 50 Jahre zuvor genannt, Susan Sontag in ih-

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ren Notes on Camp.64 Bei Camp geht es laut Sontag um eine Zuwendung zu den »coarsest, commonest pleasures«, die dann rasch zu solchen umgedreht werden, die »more ingenious« sein sollen als diejenigen der Hochkultur oder der gehobenen Gesellschaft (als »Latin poetry and rare wines« – oder eben als exklusive Kaffeesorten).65 Ihrerseits werden diese Versatzstücke mit einer Mischung aus Liebe bzw. einem »tender feeling«66 und einer gewissen Vorbehaltlichkeit präsentiert: in »quotation marks«.67 Entsprechend bemerkt Moshfeghs Erzählerin über ihr Idol Whoopi Goldberg: »Wherever she went, everything around her became a parody of itself, gauche and ridiculous. That was a comfort to see. Thank God for Whoopi. Nothing was sacred.« (196) Ähnlich paradox wie hier – Thank God – Nothing was sacred – gestaltet sich auch die Liebe zum Kaffee. Die asyndetische Aufzählung, semiotisch würde man sagen: das Paradigma ›gewöhnlichen‹ Kaffees (»working-class coffee–coffee for doormen and deliverymen and handymen and busboys and housekeepers«), legt zwar eine gehörige Beflissenheit in der imaginären Prozessierung von Kaffee an den Tag. Dies bedeutet jedoch keine haltlose Überhöhung, sondern trägt parodistische Züge und versetzt das Genannte in »leichte Vorbehaltlichkeit« bzw. in »imaginäre Anführungszeichen«.68 Genau dies, jene in Überflussgesellschaften mögliche modal-paradigmatische Abstufung des Konsumguts, wäre mein erster Aspekt gegenwärtiger pulchritudo adhaerens. Es geht nun darum, die ambivalente Rolle der pulchritudo adhaerens von Waren für das spätmoderne Individuum kenntlich zu machen. Der Trost (»comfort«), der durch die Dinge vermittelt wird69 beruht in westlichen Überflussgesellschaften grundsätzlich darauf, dass sie ebenso Halt geben wie in ihrer paradigmatischen Selbstrelativierung identitäre Verfestigungen lockern. Die Formulierung »I could rely on the clouded freezer full of ice cream« steht dafür, dass man sich an die beschlagene Tiefkühltruhe materialiter anlehnen, vor allem aber auch, dass man sich jederzeit auf sie verlassen kann. Gut gefüllt ist die Bodega, und zwar nicht zuletzt mit Unterschiedlichstem, das den gleichen Gebrauchswert besitzt. 12 verschiedene Sorten 64 65 66 67 68 69

Sontag, Susan: »Notes on ›Camp‹«, in: dies.: Against Interpretation, New York 1966, S. 275-292, hier S. 292. Ebd., S. 288. Ebd., S. 292. Ebd., S. 280. Baßler, Moritz: »Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur«, in: Pop. Kultur & Kritik, Heft 6, Frühling 2015, S. 104-127, hier S. 104. Vgl. auch Miller, Daniel: The Comfort of Things, Cambridge/Malden 2008.

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Mineralwasser wachen über die Szenerie – als ständige Begleiter wie als Strukturgeber (12 Stunden des Tages), als Fundierung der eigenen Existenz (12 Stämme Israels, 12 Apostel), aber auch als Jury (12 Geschworene), welche die Handlungen der Heldin indirekt beurteilt. Es ist ja durchaus so, dass ihr Agieren eine provozierend desinteressierte, apolitische Haltung vorführt: In ihrem Stammkiosk muss die Erzählerin für ihr Projekt ›rest and relaxation‹ den Fokus ihrer Aufmerksamkeit ziemlich verengen (›to keep [one’s] head down‹), all jene Magazine und bis auf die Zeitungsschlagzeilen alles Gedruckte meiden, mit dem man an diesem Ort potenziell auch immer konfrontiert wird. In diesem komplizierten Sinn ist das somnambule Schlurfen der Erzählerin in ihrer Bodega ›beautiful‹ und ›awful‹: ebenso cool wie schrecklich, ›half-asleep‹ wie hellwach, ebenso Halt, Trost und Imaginationsräume in den Angeboten der Konsumwelt suchend, wie ästhetisch die Erfahrung einer »psychopathology of affluence« markierend.70 Eine solche Ästhetik der alltäglichen Formen vermeidet damit die Prätention der reinen Form, sie zeigt die durchgängige Kontamination des Lebens wie des Ästhetischen, genießt dieses Downgrading auch zu guten Stücken, zwingt aber stets – und vielleicht auch im Unterschied zu so manchen reineren Ästhetiken, die sich ihrer Interventionsmacht mitunter recht sicher sind – zur Reflexion über Anspruch und Reichweite des Ästhetischen heute. Eine solche pulchritudo adhaerens wäre allerdings, und das ist mein zweiter Punkt, als simple Absetzung von der Emphase der reinen Form noch nicht hinreichend verstanden. Sie ist vielmehr durchaus und sogar im allerstrengsten Sinn mit der Modalität des ästhetischen Urteils verbunden, wie ihn Kant in der Kritik der Urteilskraft definiert hat. Wenn unsere Heldin ihren Kaffee bevorzugt, weil er »beautiful/awful« ist: »good bad«, was für ein Urteil begründet dann diese Wahl? Es handelt sich nicht um ein Erkenntnisurteil (im Sinne von wahr/falsch), natürlich auch um kein moralisches Urteil (im Sinne von gut/schlecht), sondern offensichtlich um ein Geschmacksurteil. Nun kommt einem allerdings, denkt man an ästhetische Urteile bei Kant, immer sogleich der Aspekt des ›interesselosen Wohlgefallens‹ in den Sinn, der in Konsumangelegenheiten ganz fern zu liegen scheint. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Werbeleute mit den von ihnen kreierten Markenimages unser Interesse wecken wollen, den Wunsch, die Ware zu besitzen. Dennoch geht die Ware nicht in diesem Zweckzusammenhang auf; das ästhetische Ur-

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Sontag: »Notes on ›Camp‹« (Anm. 64), S. 289.

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teil hat nach Kant stets und konstitutiv einen begrifflichen Anteil, der dem bloß Angenehmen, das in der Sinnlichkeit gefangen bleibt, fehlt. Mit Blick auf die gegenwärtige Kultur ist das Verhältnis des Schönen zum Angenehmen freilich noch einmal genauer zu überdenken. Man könnte nämlich mit einigem Grund vermuten, dass das Angenehme in der gegenwärtigen Kultur den gesellschaftlichen Platz des Ästhetischen usurpiert hat; und ich würde wiederum behaupten, dass eine Reflexion über die ästhetischen Qualitäten der pulchritudo adhaerens einen Ausweg hieraus weist. Zunächst zu Kants Trennung des Angenehmen vom Schönen: Das bloß Angenehme, etwa im Urteil darüber, ob uns Kaffee schmeckt oder nicht, hat nach Kant im Gegensatz zum Ästhetischen keinen begrifflichen Anteil. Nicht nur lässt sich niemand mit Argumenten davon überzeugen, dass ihm etwas schmeckt (oder sonst angenehm ist) bzw. was ihm nicht schmeckt (nicht angenehm ist), es hat auch umgekehrt, wer den Bodega-Kaffee lecker findet, nicht wirklich das Bedürfnis, andere davon zu überzeugen. Man lässt, schreibt Kant, in solchen Geschmacksfragen »jegliche[n] seinen Kopf für sich haben« (§ 8). Im Ästhetischen hingegen, meint er weiter, haben wir – im Unterschied zum bloß Angenehmen – sehr wohl ein ausgesprochenes Interesse daran, dass andere, besonders Menschen, die uns wichtig sind, unsere ästhetischen Urteile teilen. Im »freien Spiel der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung«, so Kant, genießt der Mensch das Zusammenspiel seiner Erkenntniskräfte: Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand. Resultat ist eine die Grenzen der subjektiven Empfindung überschreitende »Erkenntnis[] überhaupt« (§ 9), wie Kant das nennt, und diese drängt dazu, anderen nicht nur mitgeteilt, sondern »jedermann« mit der Erwartung auf Beipflichtung ›angesonnen‹ (§ 8) zu werden. Ein solcher Vorgang geht zwar nicht im Begrifflichen auf, aber er hat doch stets einen nicht unerheblichen begrifflichen Anteil. Das heißt, wir beginnen zu argumentieren, wenn jemand unserem Urteil nicht zustimmt. Ganz so einfach ist das freilich heute nicht mehr. Angesichts der Fülle sogenannter Food- und Weinseminare u.ä. lässt sich feststellen, dass Geschmack alles andere als noch privat ist. »Alles, was man braucht, um Wein richtig zu genießen«, lautet etwa der Titel eines einigermaßen beliebig herausgegriffenen Ratgebers. ›Richtig‹ ist hier als Opposition zu ›falsch‹ weniger ein epistemischer denn ein Wertungsterminus für angemessenes Verhalten, worunter in netzwerkkapitalistischen Zeiten zentral auch die Befähigung gehören dürfte, seine ›Genussfähigkeit‹ auszustellen. Das Setting hat auch eine noch direktere ökonomische Komponente: Zur Gewährleistung des ›richti-

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gen‹ Genusses gehören doch sicher auch das ›richtige‹ Glas und der ›richtige‹ Weinkühlschrank. In diesem Sinne geht es auch um das Einüben eines Vokabulars, mit dem sich in einem Kreis von ›Weinkennern‹ bestehen lässt, Bourdieus altbekannte Distinktion. In Zeiten schwindender Verbindlichkeit der Hochkultur könnte es also sein, dass einem nun eine »Bildungs-Elite gegenübersteht, die sich so unglaublich ersatzgräflich und weinkennerhaft aufführt, dass es einem graust«.71 Sicher ist die Kritik am elitären Gestus triftig. Und doch bleiben der Geschmack und seine Kommunikation bedeutsam für die »gruppenbildenden Lebensformen« gegenwärtiger Kultur.72 So fordert der Soziologe Antoine Hennion eine »reflexive conception of amateurs’ activities«, denn: [this] leads to a view that is respectful both of amateurs’ own understandings of their tastes as well as of the practices they undertake to reveal these tastes to themselves. In fact, ›amateurs‹ do not believe things have taste. To the contrary, they bring themselves to detect the taste of things through a continuous elaboration of procedures that put taste to the test.73 Ziemlich präzise führt Moshfegh solche Testverfahren vor Augen, etwa wenn die Erzählerin sich offensiv von bestimmten Stilgemeinschaften absetzt, mit denen sie auf den ersten Blick durchaus etwas gemein hat, mit der Kunstszene oder den New Yorker Hipstern: »›Dudes‹ reading Nietzsche on the subway, reading Proust, reading David Foster Wallace, jotting down their brillant thoughts into a black Moleskine pocket notebook. Beer bellies and skinny legs, zip-up hoodies, navy blue peacoats or army green parkas, New Balance sneakers« (32), ständig auf der Suche nach kulturellen Gegenständen, die »new«, »hot« oder »supposed to be good« sind (13). Ihre eigene Ästhetik der pulchritudo adhaerens kann die Erzählerin dagegen deutlich besser dort verwirklichen, wo sie wohnt, in der Upper East Side, denn: »Nobody up there gave a

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Goldt, Max: »Der Sprachkritiker als Unsympath und Volksheld versiegender Minderheiten«, in: ders.: Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens. Prosa und Szenen 2002-2004, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 151-172, hier S. 165. Venus, Jochen: »Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie«, in: Marcus S. Kleiner/Thomas Wilke (Hg.): Performativität und Medialität populärer Kulturen, Wiesbaden 2013, S. 49-73, hier S. 51. Hennion, Antoine: »Those Things that Hold us Together: Taste and Sociology«, in: Cultural Sociology I (I) (2007), S. 97-114, hier S. 98. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Johannes Passmann.

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shit about ›irony‹ or Dogme 95 or Klaus Kinski« (33). Die Upper East SideKultur als allerneueste Sincerity? Das ist eine ziemlich schräge Wiederaufnahme von David Foster Wallaces Invektive gegen eine »ihrer selbst bewusste Ironie«, »an der« in postmodernen Zeiten »Fernsehen und Literatur konvergieren«;74 gegen jene endlosen Schleifen der »Autoreferenzialität« und »Metafiktion.«75 Aber auch »Hyperrealismus« oder »Post-Postmodernismus«76 , die als Ausweg daraus aufscheinen und in dem Künstlerbund Dogma 95 eine ihrer filmisch viel beachteten Formen finden, stellen für Moshfegh keine Alternative dar. Ja, Foster Wallace selbst bleibt in Moshfeghs durchaus maliziöser Darstellung den Logiken des Interessanten nicht entzogen, all jenem, was »new«, »hot« oder »supposed to be good« ist. Im Gegenteil: Die verhassten New Yorker ›Dudes‹ machen ihn zu einem Hype und kopieren als Fans nicht nur seinen Style, sondern notieren in Serie Pastiches des Verehrten in ihre Moleskine-Büchlein.77 In der Logik einer warenförmigen Populärkultur, schreibt Jochen Venus, geht buchstäblich »jedes Faszinosum […] unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten […] ein. Auf diese Weise emergieren Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels«,78 und diese kristallisieren sich eben nicht nur an populären Gegenständen wie dem Superbowl oder Death Metal, sondern auch an einer ikonischen Autorpersona wie David Foster Wallace. Hierbei entsteht unweigerlich die Unsicherheit, ob man einem bloßen Spektakel des massenkulturellen Mainstreams auf den Leim geht oder ob das starke und wache, d.i. vollzugsorientierte Erleben und Fühlen – ähnlich wie von Simmel beschrieben – einen »Vitalitätseffekt«79 in den etablierten Zonen kulturellen Austauschs bewirkt. Es geht also um eine Ästhetik der unreinen Form, die anders als ihre reine Schwester nicht schon qua ihrer Erscheinung und den mit ihr verbundenen Praktiken der analytisch-hermeneutischen Durchdringung mit einiger Selbstgewissheit ausgestattet ist, dass hier

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Wallace, David Foster: »E Unibus Pluram: Fernsehen und Literatur in den USA«, in: ders.:Der Spaß an der Sache. Alle Essays, hg. von Ulrich Blumenbach, Köln 2018, S. 231300, hier S. 248. Ebd., S. 246. Ebd., S. 265. Zur Semantik und Werbe-Ikonographie der Moleskine-Hefte vgl. Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin 2013, S. 156-159. Venus: »Die Erfahrung des Populären« (Anm. 72), S. 67. Ebd., S. 68.

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Freiheitsgrade gesteigert und möglicherweise sogar alternative gesellschaftliche Praktiken ersonnen und eingespielt werden. Wir haben es vielmehr mit einem schmuddeligen, kontaminierten Bereich zu tun, der immer ein wenig unseriös daherkommt. Genau darin aber könnte seine besondere, »paradoxe Leistungsfähigkeit« in aestheticis bestehen, wie Dirk Baecker in Bezug auf das Design ausführt.80 »Ein Designer«, schreibt Baecker, »ist jemand, dem man misstrauen darf und dessen Lösungen genau dann überzeugen, wenn dieses Misstrauen ernst genommen wird,« ein Misstrauen, das »nicht mehr von Schamanen, Priestern oder Experten abgewehrt werden muss«, sondern zu dem man in einem ästhetischen Diskurs geradezu eingeladen wird, der via kleiner, anhängender, kontaminierter Formen nicht triviale »Anschlusskommunikationen« erwirkt.81 Dazu wird freilich, gut dialektisch, eine wie auch immer brüchige ästhetische Rahmung benötigt. »Keine Kunst kann etwas nur dort sein, wo man mit Kunst rechnen könnte«,82 und umgekehrt (wie in der Moderne so häufig durchgespielt): Kunst könnte sich dort besonders effektvoll, interessant neu definieren und zur kommunikativen Prozessierung einladen, wo das Risiko eingegangen wird, den Bereich der Kunst zu verlassen. Diese Umschlagstruktur wäre der dritte Aspekt, den ich nun abschließend noch in Bezug auf Moshfeghs Spiel mit den kunstbetrieblichen Gegebenheiten andeuten möchte. Während die Erzählerin des Romans für die Kunstszene wenig übrig hat, designt Moshfegh für sich selbst eine literarische Persona mit durchgängigem Blick auf den Literaturbetrieb. Nachdem ihr modernistischer Erstling McGlue zwar gerühmt und preisgekrönt, aber eher mau verkauft worden war, entschied sich die Autorin, wie sie behauptet, zu einem ungewöhnlichen Schritt: Für die Arbeit an ihrem zweiten Roman – dem Thriller Eileen (der de facto dann 2016 auf der Shortlist des renommierten Man Booker-Preises landete) – erwarb sie, wie sie nicht ohne Koketterie erzählt, einen Ratgeber für Hobbyautor*innen, der ein Rezept versprach, wie man in kürzester Zeit ein Erfolgsbuch verfassen könne: The 90-Day Novel. Nach eigener Auskunft hielt sie sich einfach exakt an dessen Tipps. »I needed to write something that

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Baecker, Dirk: »Designvertrauen«, in: ders.: 4.0. oder Die Lücke, die der Rechner lässt, Leipzig 2018, S. 248-260, hier S. 256. Ebd., S. 255f. Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, S. 117

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was going to be reminiscent to the crap that people are used to«.83 Genialität und Kunstfertigkeit werden dabei freilich nicht aufgegeben – »How do you expect me to make a living?! I’m not going to be making cappuccinos. I’m fucking brilliant!«84 – worum es vielmehr geht, ist eine zeitgemäßere, weniger abgeschmackte Form von deren Realisierung. Eine Form von Brillanz wäre es dann, die Formexperimente der Moderne in der Prosa eher zu verstecken als zu exponieren; gerade diese Form der Camouflage wäre es dann, was ›fucking brillant‹ zu nennen wäre: So lässt sich in der Bodega-Passage die Formulierung »the clouded freezer full of ice cream […]. The clear plexiglas compartments […]« als syntaktischer wie phonetischer Parallelismus identifizieren, der seinerseits eine phonetische Spiegelsymmetrie bzw. einen Chiasmus rahmt: i-c-p-p-c-i – ›ice cream and popsicles and plastic cups of ice‹. Diese formale Markierung bedeutet natürlich auch eine Form ästhetischer Überhöhung, die sich, wenn man so will, als literarische Simulation der symmetrischen Konsum-Displays oder der ständigen Wiederholung des Gleichen (nothing ever changed), als formale Spiegelung von starker Involvierung und Abstandnahme seitens der Heldin lesen ließe; und natürlich drängt sich auch die metaphorische Verbindung zwischen den Waren im freezer und unserer winterschlafenden Heldin auf. Dies alles ist aber allenfalls halbernst, wie auch der Umgang der Erzählerin mit Shampooflaschen nicht rotwangig eine modernistische Ästhetik der pulchritudo adhaerens inszeniert, sondern mindestens genauso deren Parodie ist. In the Shower I read the Shampoo label and got stuck to the words ›sodium lauryl sulfate‹. Each word carried with it a seemingly endless string of associations […] ›Lauryl‹: Shakespeare, Ophelia, Millais, pain, stained glass, rectory, butt plug, feelings, pigpen, snake eyes, hot poker. I shut the water off, did my diligence with the laundry, et cetera, took an Infirmiterol, and lay back down on the mattress. ›Sulfate‹: Satan, acid, Lyme, dunes, dwellings, hunchbacks, hybrids, samurais, suffragettes, mazes. (269) Da ist neben mancher Abseitigkeit mit Shakespeare und Ophelia auch reichlich hochkulturelle Anmutung mit im Spiel, später kommen auch noch »Hollywood, Hegel« und Derridas »carte postale« (270) hinzu.

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Goebel, Luke B.: »Vanity is the Enemy. An Interview with Ottessa Moshfegh«, in: The Fanzine, 17.1.2017, http://thefanzine.com/vanity-is-the-enemy-an-interview-withottesa-moshfegh/(letzter Zugriff: 11.11.2019). Ebd.

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Der britische Autor und Journalist Sam Leith hat jüngst im Guardian, als es um die Frage nach schwieriger Prosa und ihre Berechtigung im gegenwärtigen Kunstbetrieb ging, eine Stilkategorie namens »easy-difficult« ins Spiel gebracht: Einfach-schwer, was aber nicht als Midbrow-Literatur zu verstehen ist, nicht als Kunstsimulation in leichtem Ton, wie sie schon Umberto Eco verspottete, Literatur, der man sich mit der Einbildung an die Hand gibt, das Herz der Kultur schlagen gehört zu haben ohne sich einen Piep dafür anstrengen zu müssen.85 Die Schwierigkeit, das Anspruchsvolle oder Interessante, das Moshfeghs Roman stattdessen sucht ist aber sicher auch nicht die Schwierigkeit der Moderne oder der Avantgarde und ihrer formalen Askesen. Was diese Prosa interessant macht ist, dass sie sich der pulchritudo adhaerens zuwendet, über die das Urteil in der gehobenen Kultur stets schon festzustehen schien. Dadurch, wie etwa Moshfegh dem Warenförmigen in ihren Texten Raum gibt, vermeidet sie jene allzu verbreitete einfache Negation, die meint, dass man sich allein qua autonomer Kunst und formaler Komplexität den Niederungen des Konsumalltags entziehen könne. Worum es stattdessen bei Moshfegh geht, das ist eine Ästhetik der pulchritudo adhaerens, die zu charakterisieren hier mein Anliegen war.

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Eco, Umberto: »Die Struktur des schlechten Geschmacks«, in: ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M. 1984, S. 59-116, vgl. hier S. 62, 64, 71.

Die Form des Buches Oder warum das absolute Buch bei Novalis Seiten hat Matthias Bickenbach Das Wesentliche der Darstellung ist – was das Beywesentliche des Gegenstands ist. […] Das Beywesentliche muß nur als Medium, als Verknüpfung behandelt werden – also nur dieses Aufnehmende und Fortleitende Merckmal muß ausgezeichnet werden.1   Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muß man nach ihrem Ornament fragen. […] Indem das Ornament sich als Verzierung ins Äußerliche verliert, entsteht es im Inneren neu.2

In einem literaturwissenschaftlichen Kontext nach der Form des Buches zu fragen, mag absurd erscheinen, darf doch das Wissen darüber, was ein Buch ist und welche Form es hat, vorausgesetzt werden. Dieses implizite Wissen ist zugleich für unsere Gesellschaft insgesamt anzunehmen. Die massive Digitalisierung von Texten in den letzten Jahrzehnten scheint dem Wissen über das Buch als Ding aus Papier sogar zuträglich sein, sind doch vermehrt Publikationen jenseits der Spezialdisziplinen zur Buchwissenschaft zu verzeichnen,

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Novalis: »Fichte-Studien«, in: ders.:Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, München 1978, S. 194. Luhmann, Niklas: »Medium und Form«, in: ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 165-214, hier S. 197.

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die daran erinnern, was ein Buch ausmacht und wie komplex seine typographisch gestaltete Form inklusive seiner Paratexte ist.3 Doch was genau wäre, mit Novalis formuliert, »das Beywesentliche« als Form des Buches? Hätte auch das absolute Buch Seiten und ein Cover? Ist der frühromantische Gedanke eines absoluten Buches heute nicht eher als digitaler Hypertext und universell erweiterbares Netz zu denken? In der Gegenüberstellung von Buch und absolutem Buch drängt sich die Frage nach der Form des Buches auf. In der aktuellen Medienkonkurrenz gedruckter und digitaler ›Bücher‹ erodiert praxeologisch wie epistemologisch die Grenze zum Ding aus Papier, spätestens seitdem von E-Books die Rede ist und second screens zwischen Smartphones und Tablets das Lesen am Bildschirm so bequem und flexibel machen wie die Lektüre gedruckter Bücher. Seitdem sind Differenzierungen hinsichtlich der Form des Textes wie der möglichen Unterschiede für die Rezeption notwendig geworden. Nach dem allzu gerne bemühten Topos vom ›Ende des Buches‹ in einer Zeit, in der mehr Bücher gedruckt wurden als jemals, hat der Diskurs über die Zukunft des Buches inzwischen differenzierte Beobachtungen hervorgebracht. Einerseits stellen viele Studien auf die empirische Verbreitung von Bildschirmmedien ab, andererseits stellen neuere neurokognitive Untersuchungen eine für etwa 1999 noch undenkbare Gleichwertigkeit der Lesbarkeit von Texten an den neuen Bildschirmen mit gedruckten Texten fest.4 Die Literatur- und Medienkulturwissenschaften reagierten ihrerseits – angesichts der Open-Access-Initiative der EU und des Bundesbildungsministeriums – mit der Etablierung von Digital Humanities sowie mit einer Differenzierung von Lektüreformen und –funktionen. Der abwertende Topos nur oberflächlicher »Häppchenlektüre« am Bildschirm gegenüber einem idealisierten close oder deep reading im Buch wird inzwischen

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Vgl. Houston, Keith: Book. A Cover-to-Cover exploration of the most powerful object of our time, New York/London 2016; Amaranth, Borsuk: The Book, Cambridge, MA 2018. Für den deutschen Kontext: Reuß, Roland: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014; Hagener, Michael: Zur Sache des Buches, 2. überarbeitete Auflage, Göttingen 2015; Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne, Göttingen 2016. Der Anteil an E-Books im Buchmarkt stieg nach 2007 mit Amazons »Kindle« deutlich an, stagniert aber mittlerweile um 10 %. Vgl. Bestle, Sarah: Das Medium E-Book und die Zukunft der Literatur, München 2011; Gerlach, Jin: Die Akzeptanz elektronischer Bücher. Eine umfassende Analyse der Einflussfaktoren, Wiesbaden 2014.

Die Form des Buches

erheblich differenzierter in Bezug auf Leseinteressen und Lektüretechniken wie scanning, skimming oder hyper reading gefasst.5 Nun hat jüngst die so genannte Stavanger-Erklärung des EU-Forschungsnetzwerks e-read ein Fazit aus zahlreichen empirischen Studien und MetaStudien gezogen, in dem die Gleichwertigkeit der Lektüre am Bildschirm einerseits bestätigt, aber zugleich den Vorteil des Lesens von längeren Texten in der Form von Büchern für die vertiefende Erfassung, Reflexion und Erinnerung an Inhalte deutlich hervorgehoben.6 Für Bildung, verstanden als intensivierte individuelle Aneignung und Auseinandersetzung, ist die Form des Buches unverzichtbar. Doch warum genau gerade die Form des Buches trotz möglicher Gleichrangigkeit der visuellen Erfassung von Text am Bildschirm vorteilhaft sein soll, ist nach wie vor ungeklärt, die neurokognitive Perspektive führt das Konzept der »embodied cognition« an.7 Hieran kann eine formtheoretische orientierte Perspektive anknüpfen.8 Dabei soll nicht die Geschichte des Buches oder unterschiedliche Gestaltungen und Formate im Vordergrund stehen, sondern ein abstrakt gehaltener Ansatz, der übergreifend in der Form

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Vgl. Hagner: Zur Sache des Buches (Anm. 3), S. 227f. Hagner unterscheidet fünf Leseformen (narrativ, analytisch, selektiv, scannend, wild); Hayles, Katherine N.: »How We Read: Close, Hyper, Machine«, in: ADE Bulletin 150 (2010), S. 62-79. Für einen aktuellen Überblick im Kontext des Forschungsnetzwerks »e-read«: Wolf, Maryanne: Schnelles Lesen, langsames Lesen, München 2019. Der deutsche Titel referiert auf die vorgebliche Leitdifferenz. Doch langsames Lesen ist nicht notwendigerweise immer und für alle Stoffe das bessere Lesen wie umgekehrt schnelle Lektüre nicht per se schlechteres Lesen ist. Beide Tempi haben Vor- und Nachteile, die seit dem 18. Jahrhundert diskutiert werden. Vgl. Bickenbach, Matthias: »Formen individuellen Lesens«, in: Alexander Honold/Rolf Parr (Hg.): Lesen. Grundthemen der Literaturwissenschaft, Berlin/Boston 2018, S. 256-272. »Stavanger-Erklärung« (2018) unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ themen/stavanger-erklaerung-von-e-read-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html (zuletzt aufgerufen am 20.8.2019). Anders noch bezüglich Röhrenmonitoren: Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm. Eine Analyse visueller Faktoren, Münster 2002, vgl. Ziefle, Martina: »Lesen an digitalen Medien«, in: Christine Grond-Rigler/Wolfgang Straub (Hg.): Literatur und Digitalisierung, Berlin/Boston 2013, S. 223-250. Vgl. die Arbeitsgruppe 4 von »e-read«: »The ergonomics of reading (physiology; haptic & tactile feedback)« unter: http://ereadcost.eu/wg-4 (zuletzt aufgerufen am 27.9.2019). Für einen Überblick zur Formtheorie vgl. Erdbeer, Robert Matthias/Kläger, Florian/Stierstorfer, Klaus (Hg.): Literarische Form: Theorien – Dynamiken – Kulturen. Beiträge zur literarischen Modellforschung, Heidelberg 2018.

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des Kodex eine besondere »Affordanz« vermutet,9 die einerseits Implikationen für seinen Gebrauch nahelegt, diesen Gebrauch jedoch strikt an seine Form koppelt. Man sieht dann deutlicher, dass etwa das Blättern in Büchern eine bestimmte Kulturtechnik ist, die andere Voraussetzungen und Effekte hat als scrollen, wischen oder zoomen von digitalen Texten.10 Was jedoch als Form des Buches zu bezeichnen ist, bleibt genauer zu bestimmen. Es ist jedenfalls nicht sein Format (Folio oder Duodez, »Wälzer« oder Taschenbuch), sondern das ihnen jenseits der je unterschiedlichen Anmutungen Gemeinsame. Es geht auch nicht nur um den Buchblock oder die Peritexte von Büchern als typographisch gestalteten Objekten,11 sondern um die Form, die genau diese Komplexität von Materialität, Format und Heterogenität als Einheit einer Vielfalt von Text und Design, Typographie, Haupt- und Peritext, erlaubt. »Diese Formendifferenz ist nicht durch Formenwahl bedingt (dann könnte sie vermieden werden), sondern durch das jeweils zugrundeliegende Medium, dessen lose Kopplung strikte Kopplung ermöglicht.«12 Dass eine formtheoretische Reflexion des Buches dann möglicherweise auch die Formtheorie selbst betrifft, indem sie über die üblichen binären Schemata von Form/Inhalt oder Form/Gehalt hinausgeht, verschiebt die Annahme, bereits zu wissen, was Bücher sind und wodurch sie sich von digitalen Texten unterscheiden.

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Der Begriff Affordanz wurde durch James Gibson 1977 als weder objektiver noch rein subjektiver Aufforderungscharakter von Dingen in der Umwelt von Lebewesen eingeführt. Gibson, James J.: »The Theory of Affordances«, in: Robert Shaw/John Bansford (Hg.): Perceiving, Acting, and Knowing. Toward an Ecological Psychology, Hilldale 1977, S. 67-82. Zum Ansatz und zur Anwendung auf Bücher vgl. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Frankfurt a.M. 2015, S. 108-152. Vgl. Piper, Andrew: Book was there. Reading in electronic times, Chicago/London 2012; Bickenbach, Matthias: »Opening, Turning, Closing: The Cultural Technology of Browsing and the Differences between the Book as an Object and Digital Texts«, in: Nicolas Pethes/Pál Kelemen (Hg.): Philology in the Making. Analog/Digital Cultures of Reading and Writing, Bielefeld 2019, S. 163-176. Stanitzek, Georg: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland, Berlin/New York 2010, S. 157201. Zum Ansatz Luhmann: »Medium und Form« (Anm. 2), S. 186.

Die Form des Buches

I. Druckbücher im digitalen Kontext Auf amazon.de erhält man beim Klick auf den Button »Blick ins Buch« zunehmend gerade nicht einen Blick in das Buch, sondern auf sein digitales Double. Auf einem Reiter oben in dem Fenster, das sich geöffnet hat, wird die Unterscheidung zwischen »E-Book« und »Druckbuch« angeboten. Die Logik dieser Unterscheidung scheint klar und ist doch zu hinterfragen. Der Begriff des »Druckbuches« ist jedenfalls nicht länger eine Tautologie. Der Terminus printed books erinnert immerhin daran, dass Bücher historisch nie nur auf gedruckte Bücher einzuschränken waren, aber auch daran, dass die Gleichsetzung von Druck und Buch die printing culture zu stark verkürzt.13 Die Form des Buches ist damit nicht allein durch die Herstellung im Druck zu bestimmen. Die Standarddefinition des Buches ist allerdings nach wie vor, wie Ursula Rautenberg notiert, ein »gebundenes Druckwerk«,14 oder laut UNESCO Definition eine Publikation von mindestens 49 Seiten. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aber steht es historischer und genauer. Der Buchstabe B wird von Jacob Grimm 1860 noch selbst bearbeitet. Dort heißt es schlicht: »mehrere blätter machen ein buch«.15 Über die Form des Buches ist damit bereits viel gesagt. Medium der Kopplung sind Seiten oder Blätter. Genau das macht buchhistorisch die Form des Kodex aus. Das aber heißt schlicht, dass digitale Texte und E-Books keine Bücher sind und sein können, sondern nur so heißen. Man mag zwar darüber streiten, ob digitale Texte noch Seiten haben oder ob die Rede etwa von webpages nur metaphorisch, aber nicht technisch zutrifft. Selbst das PDF-Format, das als einziges digitales Format die Form der Seite eines Dokuments grundsätzlich bewahrt, kann als paradoxe digitale Simulation einer Seite angesehen werden.16 HTML-Texte und E-Books dagegen beruhen auf einer Textkodierung, die heute den Namen reflowable text trägt. Die Form der digitalen Seite passt sich an das jeweilige Ausgabegerät an. Deshalb kennen E-Books keine Seitenzahlen mehr, sondern so genannte Positionsnummern. Doch was bei 13 14 15 16

Vgl. Gitelman, Lisa: Paper Knowledge. Toward a Media Theory of Documents, Durham/London 2014. Rautenberg, Ursula: »Buchmedien«, in: Natialie Binczek/Till Dembeck/Jörg Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin 2013, S. 235-246, hier S. 235. Art. »Buch«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2, Reprint München 1984, Sp. 467. Gitelman: »Near Print and Beyond Paper: Knowing by *.pdf«, in: dies.: Paper Knowledge (Anm. 13), S. 111ff.

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Seiten immerhin noch streitbar scheint und in der Textpräsentation der Digitalisate in Online-Repositorien durch Faksimile-Bilder der gescannten Buchseiten zumindest als visuelle Form bewahrt bleibt, wird durch die Grimmsche Definition – »mehrere blätter machen ein buch« – die Differenz festgeschrieben. Es gibt keine Blätter im digitalen Universum, allenfalls ein einziges universales ›Blatt‹ ohne Rückseite, nämlich die Oberfläche des Bildschirms. All das mag man noch für banal halten, auch wenn es bereits auf die Differenzqualität des Buches verweist. Gedruckte oder digitale Seite – der Unterschied erscheint nicht groß. Doch es geht hierbei nicht einfach um die Form des Textes, seine transponierbare visuelle Form oder Gestalt, sondern um die Affordanz der Form als Medium strikter Kopplung, in der die Materialität einen Unterschied macht. Natürlich stellen sich auch in der rein visuellen Form der Textpräsentation am Bildschirm schon Unterschiede ein. Digitale Texte brauchen andere Typografien – ohne Serifen, das ist besser lesbar am Bildschirm, während auf Papier Schriften mit Serifen (als Unterlägen) besser lesbar sind – so Christoph Bläsi zur »buchnahen Textgestaltung am Bildschirm«.17 Auch das Seitenlayout verändert sich. Während die Zeilenlänge in Büchern auf eine für das lesende Auge günstige Zeichenverteilung eingerichtet werden, vergessen elektronische Texte dies mitunter oder präsentieren gleich nur sehr kurze Texte mit kurzen Zeilenlängen, so dass das Lesen längerer Texte geradezu verlernt werden kann, weil längere Zeilen nun als anstrengend empfunden werden, durch die Gewöhnung an wenige Sakkaden, die Sprünge, die das Auge beim Lesen durch den engen Schärfebereich der Fovea tun muss. Kulturkritiker wie Nicolas Carr oder Manfred Spitzer setzen genau hier mit ihren Warnungen vor dem Bildschirm an: Durch Gewöhnung an »Häppchenlesen« verlerne man die Konzentration und Aufmerksamkeit für längere Texte und damit – so etwa auch Roland Reuß – Reflexion und Urteilskraft.18 Auch wenn diese Kritiker die positiven Möglichkeiten beschleunigten Textumgangs zu ignorieren pflegen und implizit ein vermeint17

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Bläsi, Christoph: »Gleiche Ziele, andere Lösungen: Buchnahe Gestaltung am Bildschirm«, in: Cornel Dora (Hg.): Buchgestaltung: Ein interdisziplinäres Forum, Tagung der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft, St. Gallen, Wiesbaden 2008, S. 129-142. Vgl. Carr, Nicholas G.: Wer bin ich, wenn ich online bin und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert, München 2010; Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, Stuttgart 2012. Vgl. auch Reuß, Roland: Ende der Hypnose. Vom Netz zum Buch, 4. Auflage, Frankfurt a.M./Basel 2012.

Die Form des Buches

lich ideales Lesen im Sinne des sukzessiven Durchlesen naiv voraussetzen, das historisch wie aktuell nie ohne Alternativen war, markiert diese Debatte, dass Veränderungen in der Form des Textes hohe Relevanz für die Rezeption haben. Damit macht die Digitalisierung von Texten etwas deutlich, dass in der Texttheorie bislang so kaum thematisiert worden ist: Der Inhalt von Texten kann nicht unabhängig von ihrer visuellen und materiellen Form als beliebig und ohne Veränderung transponierbar behandelt werden. Die Abstraktion des Inhalts von seiner Form, gleich welcher typographischen, drucktechnischen oder digitalen Umsetzung, als ›Dasselbe‹ nur in anderer Form, geht von einem »dingontologischen« metaphysischen Standpunkt aus, der die Bedeutung der Zeichen ins Jenseits ihrer Formen verlegt, ohne die Rekursivität von Wahrnehmung und Inhalten zu reflektieren.19 Wenn aber die Ansätze einer Theorie der »embodied cognition«, in der die Körpermatrix für Wahrnehmung und Orientierung sowie in Folge für die Erinnerung an Inhalte eine größere Rolle als bislang angenommen einnimmt, wenn Räumlichkeit von Textgestaltung, zwei- wie dreidimensional, einen größeren Einfluss auf die Rezeption haben, weil der Ort des lesenden Auges und die Taktilität des Textes orientierte Faktoren auch für den Inhalt des Gelesenen bilden, dann arbeitet die Form des Textes mit an unseren Gedanken, wie man Nietzsches bekannt gewordenen Satz über Schreibmedien replizierend, formulieren kann. Die scheinbar einfache Frage nach der Form erhält dadurch neue Relevanz. Doch welche Form formt das Buch? Wohl kaum nur sein Format. Vielmehr ist zu fragen, was ist ein Blatt – verstanden als Form?

II. Die Zwei-Seiten-Form Von der visuellen Form eines Textes, seiner Wahrnehmung als typographische Gestalt, muss eine andere Form der Form unterschieden werden. Allerdings impliziert das Zauberwörtchen »Form« bereits stets seine Gegenbegriffe – wie Gehalt, Inhalt oder Medium –, und ist, so Luhmann, als Unterscheidung

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Vgl. Luhmann: »Medium und Form« (Anm. 2), S. 166. »Mit der Unterscheidung Medium/Form wird eine andere Ausgangsdifferenz vorgeschlagen [als Ding/Eigenschaft, Substanz/Akzidenz u.a.], die das dingontologische Konzept ersetzen, das heißt: überflüssig machen soll.« Dazu ist nicht die Differenz Medium/Form ausschlaggebend, sondern die Reflexion, dass diese Beobachtungen eines Beobachters bzw. eines Systems sind und »Information ein rein systeminternes Produkt« (ebd.).

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selbst »eine Form mit zwei Seiten«,20 die je nach Beobachtung und Bezeichnung jeweils unterschiedlich adressiert werden kann: Die Form als strikte Kopplung kann unter anderen Gesichtspunkten als Medium loser Kopplung gelten und umgekehrt, so dass die Unterscheidung in sich selbst wiedereintritt, in sich selbst auf einer ihrer Seiten wiedervorkommt. Formen werden in einem Medium durch feste Kopplung seiner Elemente gewonnen. Auch dabei sind zwei Seiten der Form vorausgesetzt. Unser Begriff der Zwei-Seiten-Form bleibt also auch in diesem Kontext erhalten. Formen, die durch feste Kopplung der Möglichkeiten eines Mediums gebildet werden, unterscheiden sich selbst (Innenseite) von den anderen Möglichkeiten, die das Medium bietet (Außenseite).21 Die Form des Buches als Medium aus geschichteten Blättern resultiert aus der Form des Blattes, der Seite, die ihrerseits eine bestimmte Form (ein Format) hat und wiederum Medium für typographische Formen ist. Damit aber scheint der Begriff der Zwei-Seiten-Form noch nicht erschöpft. Denn die Rede von den zwei Seiten der Form nimmt, wie auch immer metaphorisch, die Form der Seite als eine Zwei-Seiten-Form in sich auf. Die (Buch-)Seite als Modell der Form verweist damit auf etwas grundlegend Anderes als auf die nur visuelle Gestalt etwa eines Ornaments oder einer Figur, einen Umriss, einer Gestalt. Als Zwei-Seiten-Form der Seite ist nicht nur ihre Ausdehnung und relative Dicke, sondern ihre Dreidimensionalität in der Differenz von Vor- und Rückseite maßgebend. Genau das macht ja die Buchseite als Blatt aus: recto und verso, Vor- und Rückseite. Formtheorie muss mithin, wenn sie die abstrakte Allgemeinheit von Luhmanns Reflexionsansatz verlassen will, zwischen zwei verschiedenen Formen von Form unterscheiden können: zwischen visueller und plastischer Gestalt, zwischen einem Bild als Form und der Form des Bildes als Objekt – und das heißt auch: zwischen dem Text und seiner Materialität. Auch die Etymologie von forma gibt einen Hinweis auf diese feine Unterscheidung innerhalb des Begriffs. Es gibt eine Differenz zwischen »form, gestalt [und] figur«, weil nur letzteres »die ganze gestalt« meine, während die Form »nur den umrisz« bezeichne.22 Damit scheint Form zunächst nur

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Luhmann: »Medium und Form« (Anm. 2), S. 169. Ebd. Art. »Form«, in: Deutsches Wörterbuch (Anm. 15), Bd. 3, Sp. 1898.

Die Form des Buches

als eine Reduktion der ganzen (dreidimensionalen) Gestalt oder Figur aufgefasst zu sein, als die visuelle Form als Umriss, die jene andere Form in der Unterscheidung von Umriss und Gestalt ausschließt. Doch so einfach ist es nicht. Die visuelle Form als Umriss ist nur eine etymologische Seite, deren andere in der Geschichte der Wortbedeutung in den Hintergrund getreten ist. Sie ist in der älteren Wortform in der Bedeutung »barm« als »dem tragenden Schoß« zu finden.23 Der tragende Schoß mag ein sehr aufgeladenes Bild sein, das vieles impliziert (u.a. Weiblichkeit, Fruchtbarkeit, Geborgenheit), doch es markiert jedenfalls nicht einfach nur einen Umriss. Die Wortbildung »Form« stammt denn auch etymologisch vom lateinischen ferre (bringen, tragen, etragen) ab, »weil die gestalt das mit sich, an sich getragene ist.«24 Man möchte an diesem Dickicht der Sprache verzweifeln, die zwischen Redundanz und Differenz kaum zu unterscheiden vermag. Doch deutlich wird, dass die Unterscheidung zwischen Umriss und Gestalt hier nicht die Form nur auf die Seite des Umrisses platziert, sondern die Form der Gestalt als ›tragender Schoß‹ erstens als eine selbstreferentielle Schließung definiert, als erkennbare Abgrenzung »mit sich« von anderen, und zweitens eine plastische Dimension »an sich« impliziert, die die Form trägt bzw. sie selbst ist. Die Form der Form ist Träger und Getragenes und folglich gleichsam Gefäß oder Behälter, also eine dreidimensionale Form, die Formen ermöglicht – so wie die Rahmen der Buchdrucker zum Schöpfen von Papier und zur Einrichtung der Lettern im Fachjargon »Form« heißen. Diese Rahmen sind, real wie metaphorisch, materielle Formen, die der visuellen Form vorausgehen und sie gleichsam tragen oder konstituieren. Wozu dieser sprachliche Aufwand, nur um visuelle und plastische Formen zu unterscheiden? Weil dies, im Fall der Form des Buches, so offenkundig Bücher dreidimensionale Objekte aus Papier sind, zumindest in der Literaturtheorie und der Reflexion von Texten bislang weitgehend vergessen scheint. Erst jetzt kann formtheoretisch begründet werden, warum die Form des Buches nicht nur als visuelles, typographisches Objekt, sondern als »das Beywesentliche« der materiellen Gestalt gefasst werden muss.25 Der Buchblock, der Einband, die Blätter und die Form der Seite, sind als spezifische Form zu

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Ebd. Ebd. Das gilt auch für das Blatt jenseits der Buchseite. »Das Medium Blatt ist das mit Abstand am meisten vernachlässigte Kommunikationsmedium unserer Zeit«. Faulstich, Werner (Hg.): Das Alltagsmedium Blatt, Paderborn 2008, S. 7.

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reflektieren, die die visuelle Erscheinung des Textes organisiert. So einfach dieses Argument scheint, es hat weitreichende kulturtechnische Konsequenzen für den Mediengebrauch, der im Fall von digitalen Texten ganz andere textual minds und Kulturtechniken des Umgangs mit Information fordert.26 Die Digitalisierung rückt damit nicht nur ihre eigenen Formen von Text (und Fragen der Vergleichbarkeit, Nachhaltigkeit und Verwendung) in den Blick, sondern auch das Buch als nicht mehr selbstverständliche Form. Wenn »mehrere blätter« ein Buch »machen«, dann impliziert diese Materialität notwendig die Dreidimensionalität dieser Form. Die geschichteten Blätter bilden Haufen relativer Dicke und diese für Leser (aber nicht für Bücherwürmer27 ) scheinbar banale Tatsache, scheint die Buchkultur zu wenig zu reflektieren – sonst könnte Carlos Spoerhase nicht eigens daran erinnern. Gegenüber Paul Valérys Beobachtung, dass die beiden Dinge, die ein gutes Buch ausmachen, in der typographischen Gestaltung der Buchseite als linearsukzessive Lesbarkeit einerseits, aber auch in der Gestalt der Seite als visuelles Ganzes andererseits bestehen, verweist Spoerhase darauf, dass damit die Dreidimensionalität des Buches vergessen werde, auch wenn Valéry die den typographischen Satz mit Architektur vergleicht.28 Valéry bezieht sich nur auf die visuelle Form der Gestaltung des Textes.29 Leider führt Spoerhase diesen Gedanken mit Blick auf besonders dicke Romane als »Wale« jedoch nur wenig aus. Diese Wälzer aber erinnern, über ihr Gewicht und den Anspruch an Leser hinaus, besonders deutlich an die Arbeit des Blätterns, die jeder Lektüre notwendig vorangehen muss. Das Wal und Wälzer in der Etymologie einen gemeinsamen Ursprung haben (Wal kommt vom »wallen«, rollen, wälzen), 26 27

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Vgl. van der Weel, Adrian: Changing our textual minds. Toward a digital order of knowledge, Manchester 2011. Was auch immer Bücherwürmer sind (Holzwürmer, Käfer, Silberfischchen, es gibt rund 160 Arten von Buchschädlingen): Die vom Buchdrucker William Blade 1879 erstmals versuchte Zucht einer Holzkäferlarve scheiterte mehrfach, weil diese nur unter dem Anpressdruck der Buchseiten im geschlossenen Buch fressen können. Daher ist der Rat Johann Hermanns, dessen Aufsatz über Bücherwürmer 1774 preisgekrönt wurde, die Bücher fleißig zu blättern und am besten selbst zu einem Bücherwurm zu werden. Bibliotheken müssten dann aber »eine Menge Diener« für das Umblättern einstellen. Hermann greift auf die erst von Lessing (im Frühwerk Der junge Gelehrte) 1754 eingeführte Metapher des Lesers als Bücherwurm zurück. Vgl. Harskötter, Hektor: Der Bücherwurm, Darmstadt 2010, hier S. 24, S. 44 und S. 62f. Spoerhase: Linie, Fläche, Raum (Anm. 3), S. 13. Valéry, Paul: »Die zwei Dinge, die den Wert eines Buches ausmachen«, in: ders.: Über Kunst, übersetzt von Carlo Schmid, Frankfurt a.M. 1959, S. 15-22.

Die Form des Buches

ist hier natürlich ein Witz der Sprache, für den Herman Melvilles Moby-Dick, dem Ursprung aller dicken Bücher als Wal, nachhaltig als Pate steht.30 Für die Affordanz der Form des Buches ist damit der entscheidende operative Hinweis auf das gegeben, was diese Form ausmacht. Die Schichtung der Seiten ist nicht nur die optimierte Form eines Speichers für Text, der in der Geschichte des Buches für die Ablösung der antiken Buchrolle durch den Kodex steht, sondern zugleich eine spezifische Form der Nutzung. Der Kodex erfindet die Kulturtechnik des Blätterns. Erst die Schichtung von Seiten erfordert die blätternde Hand. »Wer Bücher liest, der blättert«, schreibt Christoph Benjamin Schulz in seiner Dissertation Poetiken des Blätterns.31 Aus dieser Perspektive kann dann deutlich werden, dass Bücher »zu einer Partitur für das Blättern« werden können. Mit Blick auf Romane von Jean Paul und Laurence Sterne schreibt Schulz: »Indem das Blättern von literarischer Seite her kalkuliert und vom Text als Option signalisiert wird, ist es zu einem literarischen Ereignis […] erhoben«.32 Das »Beywesentliche« des Buches, seine äußere Form wird hier zur inneren Form der Narration. Die umfangreiche Dissertation zeigt unter anderem wie das Blättern im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Willkür und Kunst thematisiert wurde, führt es jedoch als Kulturtechnik konsequent auf die Form des Kodex zurück: Aus dieser Struktur des Buches ergibt sich eine bemerkenswerte und folgenreiche Konsequenz: Der Kodex sequentialisiert das Gewebe des Texts unabhängig von möglichen textimmanenten Gliederungen wie Absätzen und Kapiteln. Er verräumlicht den Text, macht aus ihm einen aus einzelnen Lagen geschichteten greifbaren Gegenstand, der geblättert werden muss. Wenn das Buch ein Leitmedium unserer Kultur ist, dann ist sie nicht nur die Geschichte des Kodex, dann zeigt sich auch unsere Kulturgeschichte als eine Kultur und eine Geschichte des Blätterns.33 Das ist vollmundig formuliert, öffnet aber eine neue Perspektive. So vergessen das Blättern in Büchern als Kulturtechnik erscheint – üblicherweise 30

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Vgl. Melville, Herman: Moby-Dick oder Der Wal, übersetzt von Matthias Jendis, München 2001, S. 13 zur »Wortkunde«. Bekanntlich teilt Melville in Kapitel 32 Wale nach Buchformaten ein, S. 231ff. In den Briefen an Nathanael Hawthorne spricht Melville mehrfach von »meinem Wal« und fragt, ob er ihm »eine Flosse« schicken solle. Melville, Herman: Ein Leben. Briefe und Tagebücher, übersetzt von Werner Schmitz und Daniel Göske, München 2004, S. 256f. und S. 262. Schulz, Christoph Benjamin: Poetiken des Blätterns, Hildesheim/Zürich/New York 2015. Ebd., S. 26. Ebd.

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wird es allenfalls dem ordentlichen Lesen gegenübergestellt, nicht aber als Praxis der Textaneignung reflektiert34 –, so deutlich kann man es in der ersten Thematisierung der Form des Buches namens Kodex in der Literatur überhaupt als Argument für seine Form lesen. Der römische Dichter Martial lässt in seinen Epigrammen gleich das zweite zu einem Werbetext in eigener Sache werden und betont dabei die Differenzqualität des damals noch neuartigen Kodex gegenüber den üblichen volumina, den Buchrollen.35 Martial schreibt: »Du, der du meine Bücher überall bei dir/und als Begleiter wünscht auf weiten Wegen:/kauf jene, die das Pergament auf schmale Seiten drängt./Die großen steck in ihre Hüllen. Mich faßt eine Hand.«36 Der Kodex führt die zweiseitig beschriebene Seite ein. Das macht ihn zu einem effizienteren Textspeicher als die Buchrolle und mehrfach führt Martial im 14. Buch bewundert gleichsam Werkausgaben von Homer und Vergil in einem Band aus Pergament an: »Welch kleines Pergament nicht Maro [Vergil] auf, den riesigen«.37 Die schmalen Seiten und das kleine Format lassen das Buch handlich werden und damit zu treuen Begleiter, etwa auf Spaziergängen oder Reisen. Martial stiftet damit den Topos des Vademecums. Das ist aber nicht alles. Sein Verweis auf die Unhandlichkeit der Buchrollen in ihren Hüllen bezieht sich auf deren aufwändige Gebrauchsweise des Auf- und Abrollens. Dieses erforderte Übung und vor allem beide Hände, meist las man laut im Stehen. Der Kodex bietet demgegenüber einen ebenso einfachen wie flexiblen Gebrauch von Texten: Aufschlagen und Umblättern. So unscheinbar es ist: Durch diese Form werden weitere neue Kulturtechniken möglich, die letztlich die gesamte Schriftkultur des Abendlandes nachhaltig prägen werden. Allen voran die Lektüre mit dem Stift in der Hand. Weil der Kodex nur mit einer Hand gehalten werden braucht, ermöglicht er das Herausschreiben, Anstreichen und Notieren während der Lektüre. Die

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»[L]ies ordentlich, das blättern hilft nichts«, heißt es im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (Anm. 13), Bd. 2, Sp. 78. Vgl. Maye, Harun: »Blättern«, in: Heiko Christians/Matthias Bickenbach/Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 135-148. Vgl.Cavallo, Guglielmo: »Vom Volumen zum Kodex: Lesen in der römischen Welt«, in: ders./Roger Chartier (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt a.M. 1999, S. 97-133. Martial: Epigramme [I,2], übersetzt und herausgegeben von Walter Hofmann, Leipzig 1997, S. 27. Martials Buch war in unterschiedlichen Formaten erhältlich. Ebd., S. 602.

Die Form des Buches

Folgen sind nahezu gleichzusetzen mit unserer Schriftkultur selbst. Sie heißen: Kommentar, Exzerpt, Studium und Exegese. Mit dem Kodex entsteht der Typus des Schriftgelehrten, der untrennbar mit dem Buch verbunden ist. Evangelisten und Heilige wie Augustinus und Hieronymus werden zu exemplarischen Buchlesern, die in der Malerei des Abendlandes tradiert werden und bei der Lektüre oft einen Stift in der Hand halten. Dass gerade die Bibel sich in der Form des Kodex etabliert, stabilisierte die damals neue Form des Buches nachhaltig bis zum 4. Jahrhundert. Orignes kommentiert erstmals in Gänze die Bibel und die Exegese braucht Techniken der Querverweisung, um ihr System des mehrfachen Schriftsinns zu errichten. Dass der Kirchenvater Augustinus zudem seine Bekehrung zu Gott in der berühmten Leseszene des »tolle lege«, »nimm und lies«, in seinen Bekenntnissen durch das zufällige Aufschlagen einer Bibelseite inszeniert, dürfte diese Form des Buches nachhaltig empfohlen haben.38 Solche Orakeltechniken sind mit Schriftrollen ja schlechterdings nicht möglich. Die Frage nach der Form des Buches ist also nicht mit der nach dem Format zu verwechseln. Zwar geht, wie Michael Niehaus gezeigt hat, alle moderne und nachgerade digitale Formatierung auf den Begriff zurück, den das Buch geprägt hat, doch das Format ist nur die eine Seite der Form, die von seiner anderen, der dreidimensionalen Form geschichteter Blätter, zu unterscheiden ist.39 Mag ersteres digital transformiert und kodiert werden, so stellt letzteres eine Differenzqualität dar, die nicht ohne Verluste und Veränderungen im Mediengebrauch transponiert werden kann. Noch für die Buchseite selbst ist dies, wie schon angemerkt, fraglich.

III. Rinde, Buch und Seite als Ding und Zeichen Die Buchseite ist in sich selbst erstens eine künstliche Einheit der Textorganisation. Ihre Gestaltung als Verteilung der Zeichen auf ihrer Fläche hat eine eigene Geschichte seit der visuellen Gliederung der antiken scriptio continua durch Spatien und später durch Punkte und Kommata während des Mittelal-

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Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, übersetzt von Joseph Bernhart, Frankfurt a.M. 1987, S. 417. Niehaus, Michael: Was ist ein Format?, Bielefeld 2018.

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ters.40 Die Buchseite als Einheit der lesbaren Form wird nach Ivan Illich erst um 1130 entwickelt.41 Dies aber ist nur ihre visuelle Form zu Lesbarkeit. Die Buchseite ist zweitens ein zweiseitiges Ding. Auch diese Form erfindet der Kodex von Beginn an. Es ist eine komplexe Form, die mehrere Unterscheidungen ermöglicht – eine doppelte Form der Dopplung: Zum einen die Unterscheidung von recto und verso, also Vor- und Rückseite des Blattes, wie die alte Bezeichnung bis lange nach dem Buchdruck lautete, bevor die Paginierung dies ersetzt hat. Die zwei Seiten der Seite motiviert und erzwingt das Umblättern, aus dem kontinuierlichen, ›panomaratischen‹ Leserblick der Buchrolle wird ein fragmentierte, selektiver Blick, der ein ›Fort/Da‹-Spiel spielt.42 Zum anderen ergibt sich die die Doppelseite im aufgeschlagenen Buch, in der sich recto und verso gegenüberstehen. Beide Formen der Seite erlauben Orientierungsmerkmale (links/rechts, oben/unten, vorne/hinten), die wiederum die Orientierung im Text und die Erinnerung an bestimmte Stellen fördern sowie die Navigation im Text durch Seitenangaben, Inhaltsverzeichnisse und Register erlauben.43 Die Form des Buches ist damit auch eine mnemotechnische Optimierung. Mehrere Studien haben inzwischen nachgewiesen, dass die Erinnerung an Gelesenes in E-Books schwächer ist als die der Lektüre in gedruckten Büchern. Doch damit nicht genug. Die Erinnerung an das, was im digitalen Text verschwindet, nämlich dass Bücher Seiten haben, in denen geblättert werden muss, erlaubt es, den Ursprung des Buches als eine komplexe Form noch genauer in den Blick zu nehmen. Dazu muss man kein Buchwissenschaftler sein. Die genaue Lektüre von historischen Wörterbüchern reicht mitunter aus. Was besagt die Vor- und Rückseite der Seite als Form? Was ist das Buch als dreidimensionaler Buchblock? Nun klingt der Begriff Buch zufällig nach Buche. Etymologisch greift das Wort also auf jenen Baum zurück, der auch unseren Buchstaben seinen Namen gibt. Die Buche, von dem das Buch seinen Namen nimmt, obwohl viele frühe Bucheinbände nicht Buchen- sondern eher Eichenholz verwendeten, verweist nicht auf den Einband, auf Holz oder gar Papier oder ähnliches. 40 41 42 43

Vgl. Parkes, Malcolm B.: Pause and Effect: An Introduction to the History of Punctuation in the West, Aldershot 1993. Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a.M. 1991. Vgl. dazu kritisch Cavallo: »Vom Volumen zum Kodex« (Anm. 35), S. 131ff. Vgl. Mak, Bonnie: How page matters, Toronto 1979.

Die Form des Buches

Das Spiel der Zeichen Buch/e bringt vielmehr ein komplexes Verhältnis von Schriftzeichen und Materialität ins Spiel, in der die Form des Buches impliziert ist. Schon lange vor dem Buchdruck Gutenbergs sind Bücher, wie Martial anzeigt, eine Form der Speicherung der Schrift, die nicht nur das materielle Trägermedium meint (Papyrus, Pergament, später Papier) sondern dessen Einheit als einer Zwei-Seiten-Form. Und diese hat nicht den Baum namens Buche, sondern vielmehr die Rinde des Baumes zum Vorbild. Der Befund ist erstaunlich. Ob biblios, liber, puoch, book oder livre, die Etymologie von »Buch« verweist stringent auf die Rinde (lateinisch: liber). Jacob Grimm hält fest: Dies wort führt unmittelbar in die heidnische zeit. wie den Griechen βύβλος, βίβλος bast, rinde und dann, weil sie bemahlt, beschrieben wurde, schrift, brief und buch, den Römern liber bast und buch bedeutete; so gieng unsern vorfahren, die ihre schrift auf steine und zum gewöhnlichen gebrauch auf büchene breter ritzten, die vorstellung des eingeritzten über auf buche, den namen des baums, aus dessen holz breter und tafeln am leichtesten geschnitten werden konnten; […]. nicht anders bezeichnete auch codex und tabula sowol das beschriebene holz als hernach das buch. […] da die bücher blätter haben, erscheint die verwandtschaft zwischen buch und buche begründet und höchst passend. schon Mathesius erreichte die richtige deutung, obwol er ohne noth die bretter des einbands statt der buchstaben selbst ins auge faszt.44 Ob der Analogieschluss überzeugt oder nicht: Der Übergang vom Ritzen auf Steinen zum weicheren organischen Material entspricht also kulturgeschichtlich dem Wechsel des Schreibens vom exklusiven »zum gewöhnlichen gebrauch«. Bücher sind also profane Alltagsmedien. Ihren Namen aber haben sie von einem Schreibmedium her, das nicht nur die besondere Eigenschaft der leichteren Einschreibung bedeutet, sondern die Einheit von Außen- und Innenseite. Die Rinde des Baumes mit seiner helleren und weicheren Innenseite und einer dunkleren und härteren Außenseite ist das Modell der Form des Buches. Die Verwechslung des Mathesius, (die »bretter des einbands« zum Kritierium zu nehmen), ist symptomatisch. Das beschriebene Holz aber, das Grimm zur Herleitung des Namens dient, ist ebenfalls nur die halbe Wahrheit. Denn wenn das Buch etymologisch auf Rinde verweist, dann ist die Einheit von Innen und Außen, von Buchdeckel und Seite, von Vorder- und Rückseite als Form bereits immer schon gegeben. Noch das absolute Buch müsste 44

Art. »Buch«, in: Deutsches Wörterbuch (Anm. 15), Sp. 467.

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zwei Buchdeckel und Seiten haben. Ein Buch ist folglich immer schon und grundsätzlich Einband und Inhalt, materieller Behälter und organsierte Zeichenmenge zugleich, eine Form der Vorder- ohne Rückseite nicht zu haben ist. Dies gilt natürlich auch dann und erst recht, wenn die Rückseite keine Zeichen aufweist und leer bleibt. Die Etymologie zeigt jedoch auch die Ironie des Zeichens selbst auf. »Buch« und »Buche« sind ja nur konventionelle, arbiträre Bezeichnungen. Sie haben keine natürliche oder ursprüngliche Beziehung zu dem, was sie bezeichnen, sondern sind Elemente in einem Sprachsystem, die ihre Bedeutung durch Relation zu anderen Zeichen erhält. Diesen Grundgedanken der Linguistik und des Strukturalismus fasste Ferdinand de Saussure bekanntlich in einem anschaulichen Beispiel zusammen, das den Begriff der Arbitrarität doppelsinnig und ironisch, wenn nicht subversiv, am französischen Wort für Baum (frz. Arbre) illustriert. Das Wort Baum ist arbiträr und sagt dies paradoxerweise auch. So schreibt de Saussure den Baum als Denkmodell des Zeichens ein. Zugleich aber ist ein Zeichen für Saussure immer schon die untrennbare Einheit seiner zwei Seiten: Signifikant und Signifikat. Die Einheit der Unterscheidung macht es unmöglich, ein Beispiel für ein Signifikat zu nennen – es wäre immer schon der Signifikant – ebenso wie dieser nie ›rein‹, ohne Vorstellung dessen, wofür er steht, erscheinen kann. Zur Veranschaulichung dieser Einheit wählt Saussure ein weiteres Bild: In der »langue« gehörten Signifikant und Signifikat zusammen wie die Vor- und Rückseite eines »feuille de papier«.45 Zeichen und Sprache, Buch und Buchseite sind mithin Zwei-SeitenFormen, das heißt Modelle der Einheit einer Relation (Innen/Außen, Form/Inhalt, Bezeichnung/Bedeutung, System/Umwelt). Genau dafür steht die Rinde des Baumes ein. Auch das Wort Kodex stammt vom lateinischen caudex ab: Rinde. Für die Form des Buches aber bedeutet das Modell der Zwei-SeitenForm dann auch, dass ein Buch die Einheit seiner Unterscheidung ist. Etwa von Haupttext und Vorwort oder von Text und Fußnote, aber auch von Text und Gestaltung und allen ›äußeren‹ Paratexten, die im gedruckten Buch Innen und Außen untrennbar miteinander verbindet. Paratexte wie Umschlag,

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»La langue est encore comparable à une feuille de papier : la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans verso.« de Saussure, Ferdinand : Cours de linguistique générale, Paris 1971, S. 157.

Die Form des Buches

Schmutztitel oder Klappentexte, Impressum oder Vorwort sind daher keine Nebensächlichkeiten, die vom eigentlichen Text trennbar wären.46 Erst die generalisierende Rede vom Text lässt die Entkopplung von Gestaltung und Bedeutung zu und der digitale Text verzichtet dann auch gerne auf Paratexte. Er gestaltet freilich auch neue, schneidet jedoch von digitalisierten Büchern allzu oft die vermeintlich äußere Information ab. E-Books springen sofort auf die erste Seite des Haupttextes. Sie simulieren damit das Aufschlagen und den sofortigen Beginn der Lektüre, aber sie überspringen den orientierenden Zugang, bei dem Umschlag, Schmutztitel und Verlagsangaben oder Inhaltsverzeichnis erst überblättert werden müssen, aber eben als orientierende Paratexte präsent sind. Covergestaltung und Einband oder Typographie verraten immer auch etwas über das Genre und die Zeit, in der das Buch publiziert wurde. Die Form des Buches ist daher ein Orientierungsrahmen der Lektüre, der im digitalen Text verschwindet. Wie wirkungsvoll aber diese Form ist, wird einmal mehr, scheinbar ganz banal, beim Lesen von Büchern deutlich: »Beim Lesen wird der vordere Teil dicker, während der hintere abnimmt«, so der Produktdesigner Mark Rolston zum Manko des Kindle, denn genau das vermittele »ein starkes Gefühl von Fortschritt« und stärkt so die Lesemotivation.47 Digitale Texte müssen sich anstrengen, um solche Effekte der Motivation erst zu erzeugen. E-Books zeigen dann Fortschrittsbalken oder kalkulierte Rest-Lesezeit an, aber dies erreicht Leser nur auf einer abstrakt-visuellen Ebene, während die Seiten eines Buches plastisch einen Unterschied machen.

IV. Novalis’ Leseszene und das absolute Buch Die neue Perspektive auf das Buch als Form lässt nun in der Literatur das, was man als Leseszene bezeichnen kann, anders beobachten. Stand im Fokus dieser Forschung bislang die Figur von Lesers und Leserin in der Literatur und wurden ihre Lektüreweisen zum Teil der deutschen Literatur insbesondere des 18. Jahrhunderts, wurden das Was und das Wie der Lektüre zum Fokus.

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Vgl. Stanitzek: »Buch: Medium und Form« (Anm. 11). Rohwetter, Marcus: »Niemand wird das Buch abschaffen. Produktdesigner Mark Rolston über hässliche Lesegeräte, falsche Versprechungen und die Zukunft des gedruckten Wortes« in: Zeit Online (23.10.2008), unter: https://www.zeit.de/2008/43/KindleInterview-Rolston (zuletzt aufgerufen am 23.9.2019).

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Ob Werther oder Anton Reiser, viele Figuren in Romanen und Dramen lesen bestimmte Stoffe und verstehen sie auf ihre Weise. Man kann in diesen Leseszenen selbstreflexive sowie sozial- und buchgeschichtliche Spezifika entdecken. Zuweilen rückt das kleine Format oder die Lektüre im Freien in den Blick oder auch die körperliche oder geistige Haltung der Leserin oder des Lesers dem Text gegenüber.48 Von der formtheoretischen Perspektive auf das Buch aus, werden nun die Formen dieses Mediengebrauchs namens Lesen im Buch ebenfalls relevant. Das macht einen Unterschied. Für die berühmte Leseszene in Augstinus Bekenntnissen heißt dies, dass man eben nicht das stille Lesen für sich einzige als Besonderheit dieser Leseszene hervorhebt, sondern auch den Gebrauch des Kodex in seinem Zusammenhang zu Orakeltechniken, die Augustinus damit umdeutet. Damit aber verschiebt sich auch der Begriff der Leseszene. Analog zu Rüdiger Campes Begriff der »Schreibszene« ist der Begriff des Lesens weiter zu fassen, als die Rezeption des Textes durch das Auge. Campes Relationen einer Trias von Kognition, Medium und Körper für das Schreiben ist auf Lesen zu übertragen.49 Die Wahrnehmung des Textes durch das Auge und seine Sakkaden und dem Spezifika des jeweiligen Textmediums ist der Körper des Lesenden hinzuzufügen, nicht nur die Körperhaltung, sondern auch die blätternde Hand. In literarischen Leseszenen entdeckt man erst dann Details, die zuvor wenig Aufmerksamkeit fanden. Wo werden Bücher aufgeblättert, umgeblättert, zu- oder aufgeschlagen, mit welchen Emotionen, in welchem Kontext und in welcher Funktion für die Handlung oder die narrative Struktur des Textes? Spiegelt gar der Texte die Struktur des Blätterns, zwingt er Leser zum Zurück- oder Vorblättern? Lädt er sie zur Navigation in der Geschichte ein? Mit Laurence Sternes Tristram Shandy tritt ab 1759 ein Buch in Erscheinung, das schon alle Register einer solchen narrativen Einbindung und Reflexion zieht. Die berühmten Merkmale des so avantgardistischen Textes, seine Erzählabbrüche und Digressionen, die Anrede von Leserin und Leser, die ominöse schwarze Seite im Text, der äußerst brüchige verschlungene Erzählfaden, all das findet sich auch im Motiv der Lektüre wieder, die hier jedoch gerade nicht auf das geistige Erfassen, das Verstehen von Text, beschränkt

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Vgl. Marx, Friedhelm: Erlesene Helden.Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg 1995. Campe, Rüdiger: »Die Schreibszene. Schreiben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt a.M. 1991, S. 759772.

Die Form des Buches

ist, wie Schulz herausgearbeitet hat. Bei Sterne sieht Buchlektüre etwa so aus: »Die ersten dreißig Seiten, sagte mein Vater, indem er die Blätter umschlug, – sind ein wenig dröge; und alldieweil sie mit dem Thema nicht eng verknüpft sind, ––– wollen wir sie einstweilen überspringen […].«50 Was hier als Parodie des unsachgemäß überblätternden Lesens erscheinen mag – das angesprochene Thema ist nichts weniger als die Entstehung der Menschheit –, macht auf der Erzählebene, was der gesamte Roman zelebriert: Es unterbricht einen Zusammenhang, hält inne, verzögert und verlagert den Diskurs. Die blätternde Hand wird zur eingreifenden Geste, die Geschichten beginnen oder enden lassen kann. Damit schlug mein Vater das Buch zu, – indes nicht so, als sei er resolviert, nicht weiter draus zu lesen, denn er beließ den Zeigefinger im Kapitel: ––– auch nicht verdrießlich, – denn er schlug das Buch langsam zu; sein Daumen lag danach auf dem vorderen Einbanddeckel, währen drei Finger, ohne das mindeste gewaltsame Pressen, den Hinterdeckel trugen. –––51 Sterne beschreibt die lesende Hand an vielen Stellen so auffällig und detailliert, dass dieser Roman geradezu als Reflexion des Buches als Objekt gelten kann. Die Leseszenen im Tristram Shandy führen so auf ein umfassendes Spiel mit dem Leser, der selbst um-, vor- und zurückblättern soll. Dafür steht exemplarisch eine Szene, in der eine Leserin explizit angesprochen wird. Wie konnten Ihr, Madam, beim Lesen des letzten Kapitels nur so unaufmerksam sein? Ich teilte Euch darin mit, Daß meine Mutter keine Papistin war. ––– Papistin! Nichts dergleichen habt Ihr mir mitgeteilt, Sir. Madam, ich bin so frei, es noch einmal zu wiederholen, Daß ich es Euch wenigstens so deutlich gesagt habe, wie es sich Euch mit Worten, aus denen glatte Schlußfolgerungen gezogen werden können, nur sagen läßt. –– Dann, Sir muß mir eine Seite entgangen sein. – – Nein, Madam, – nicht ein Wort ist Euch entgangen […] zur Strafe bestehe ich darauf, daß Ihr unverzüglich zurückblättert, das heißt, sobald Ihr beim nächsten Punkt angekommen seid, das ganze Kapitel noch einmal durchlest.52

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Sterne, Laurence: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman, übersetzt von Michael Walter, Bd. 5, Zürich 1988, S. 116f. Ebd., S. 126f. Ebd., S. 128.

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Der Punkt, der diesen Satz beschließt, ist ein Hyperlink avant la lettre für eine erneute Lektüre, bei der man also genauer auf Details im Text achten soll. Dieser Text ist performativ, er macht etwas mit seinen Lesern und versucht das Leseverhalten zu beeinflussen, indem das Zurückblättern zum Teil der Geschichte wird. Man mag dies für ein außergewöhnliches Buch und damit für eine Ausnahme halten. Doch sicher ist das nicht. Wer in Romanen blättert, ist bislang über Schulz’ Dissertation hinaus kaum in den Blick genommen worden. Ein für die Form des Buches interessantes Beispiel ist die bekannte Leseszene in Novalis Heinrich von Ofterdingen. Im Inneren des Berges trifft Heinrich auf den Einsiedler und sieht in einem alten Buch unbekannter Sprache auf Bilder sich selbst und seine Geschichte. Natürlich steht dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Mythos von Barbarrossa, sondern wesentlich auch mit Novalis’ Komposition des Romans, dessen Fortführung auch die historische Zeit wie die Lebenszeit des Einzelnen als Ewigkeit neu fasst, so dass Erinnerung und »Ahndung« einer Zukunft zusammenfallen können. Die Zeit wird dann ja auch im Klingsohr-Märchen am Ende im »Reich der Ewigkeit« suspendiert. Das geschichtsphilosophische Thema überschneidet sich mit dem der Selbsterkenntnis und dem schaffenden Ich, das letztlich die Welt erschafft. Es ist für Novalis »das Beywesentliche«, das als Medium alles miteinander verbindet: Das Wesentliche der Darstellung ist – was das Beywesentliche des Gegenstands ist. […] Wie findet man in Theilen das Ganze und im Gantzen die Theile? Das Beywesentliche muß nur als Medium, als Verknüpfung behandelt werden – also nur dieses Aufnehmende und Fortleitende Merckmal muß ausgezeichnet werden.53 Doch Novalis schreibt hier nicht über Bücher oder Poetologie, sondern über Fichtes Philosophie des sich selbst setzenden Ichs. Dieses denkbar zentrale Motiv für die Frühromantik, in dem das Ich »als Medium, als Verknüpfung« und damit als »das Beywesentliche« gedacht wird, verbindet sich hier jedoch hermeneutisch (Teil und Ganzes) mit dem Verstehen und lenkt damit die Aufmerksamkeit auch auf das Buch als Medium des Geistes. In Novalis Heinrich von Ofterdingen wird nun beides miteinander verbunden, die Findung des Ichs, das Motiv der Selbsterkenntnis der Bestimmung Heinrichs zum Dichter, wird

53

Novalis: »Fichte-Studien«, (Anm. 1), S. 194.

Die Form des Buches

durch ein altes Buch befördert. Doch wie beschreibt Novalis das Buch in dieser Leseszene genau? Er liest ja nicht, sondern sieht sich schöne gemalte Bilder in einem Buch an. Dies jedoch auf eine Art und Wiese, die der Form des Buches geschuldet ist. Heinrich sieht zunächst »auf einer steinernen Platte ein großes Buch liegen«,54 später »mehrere Bücher auf der Erde«.55 Es geht also nicht einfach um das eine Buch. Nach den Ausführungen darüber, wie man Geschichte richtig lesen solle (es sei mehr Wahrheit in den Märchen), zeigt der Einsiedler seine Bücher näher. Der Einsiedler zeigte ihnen seine Bücher. Es waren alte Historien und Gedichte. Heinrich blätterte in den großen schöngemahlten Schriften, die kurzen Zeilen der Verse, die Überschriften, einzelne Stellen, und die sauberen Bilder, die hier und da, wie verkörperte Worte, zum Vorschein kamen, um die Einbildungskraft des Lesers zu unterstützen, reizten mächtig seine Neugierde. (311) Hier ist nicht von Lektüre die Rede, sondern von einer Annäherung an ein fremdes, nahezu unbekanntes, wertvolles Objekt, das sich durch eine Vielzahl von Attraktionen auszeichnet: »schöngemahlte[n] Schriften, Überschriften, kurze Verse, »saubere Bilder«. Markant an diesen Büchern ist mithin ihr Ornament, vom Text oder Inhalt ist hier nicht die Rede. Dieser Blick von außen auf das Buch – situiert im fiktiven mittelalterlichen Kontext – hebt die Form des Buches als visuelle Attraktion hervor. Heinrich reizen die »schöngemahlten Schriften« und wenig später bittet er darum, mit ihnen allein zu bleiben. Doch Heinrich liest nicht, er liest auch nicht irgendwo hinein. Vielmehr heißt es: »Er blätterte mit unendlicher Lust umher.«56 Erst dieses Umherblättern und Stöbern ermöglicht es schließlich, dass er dann ein Buch auswählt: Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben war, […]. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beim Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er erschrak und glaubte zu träumen, aber beym wiederholten Ansehen

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Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: ders.: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 1, München 1978, S. 302. Ebd., S. 304. Ebd., S. 312.

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konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. […] Die letzten Bilder waren dunkel […]; der Schluß des Buches schien zu fehlen.57 Auch den Dichter Klingsohr wird er in diesem Buch schon gesehen haben, wie er sich später in Augsburg erinnert. Doch warum hat dieses prophetische Buch keinen Titel? Es ist offensichtlich ein Fragment. Das alte Buch kennzeichnet nicht nur die fremde, provenzalische, also romantischer Volkssprache, die Heinrich nicht lesen kann, sondern eine Form, die es als Buch (schöngemalte Schrift, saubere Bilder) auszeichnet und dennoch vom Buch unterscheidet: »Es hatte keinen Titel […] der Schluß des Buches schien zu fehlen«. Die Frage aus formtheoretischer Sicht zu dieser Leseszene bei Novalis in der geblättert, aber nicht gelesen wird, ist nicht, wie plausibel die Symbolik der Figur der Kreisform oder Ewigkeit als goldenes Zeitalter ist, sondern vielmehr wie gerade diese Form des Buches als Fragment mit diesem geschichtsphilosophischen Denken zusammenhängt. Die Leseszene verweist, anders gesagt, auf den Mythos des absoluten Buches. Das Buch, in dem die Geschichte eines jeden Ichs bereits geschrieben steht wäre ja ein denkbar absolutes Buch oder die Schöpfung selbst. Nicht zufällig notiert Novalis im Kontext der Romanentstehung: »Aufgabe – in einem Buche das Universum finden.«58 Im 104. Blüthenstaub-Fragment aber heißt es demgegenüber: »Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden.« Die gegenwärtigen Bücher seien nur Fragmente, jedoch: »Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen« von denen also vielleicht einmal ein Körnchen aufgehen kann.59 Die Metapher des Samens verweist auf den Namen Novalis selbst zurück, der sich ja eigens für diese Blüthenstaub-Fragmente im Athenäum diesen Namen zulegte: »Der Neuland rodende«, der auf dem harten Berg dürftige Samen aussäht. Das Motto der Fragmenten-Sammlung verknüpft Namen, Saat und Fragment denkbar eng miteinander. Dass die Frühromantiker zudem das Fragment zur Form der Gedanken der Moderne werden lassen, ist einschlägig bekannt. Wie aber lassen sich Fragment und absolutes Buch zusammendenken? In der Forschungsliteratur ist erstaunlich wenig zu diesem Thema zu finden. Das gilt für Mallarmés späte Notizensammlung ebenso wie für Novalis

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Ebd. Novalis: »Fragmente 1799/1800«, in: ders.: Werke, Bd. 2 (Anm. 1), S. 838. Novalis: »Blüthenstaub-Fragmente«, ebd., S. 274.

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oder Friedrich Schlegel.60 Tatsächlich gelten auch nur vergleichsweise sehr wenige Bemerkungen der Frühromantiker explizit der Idee eines absoluten Buches. Die Prominenz dieses Mythos mag vor allem durch die Analogie zur Tradition eines »Buches der Natur« gestiftet sein, die Hans Blumenberg für Novalis Enzyklopädie-Projekt aufgezeigt hat.61 Im anschließenden Kapitel Blumenbergs zum absoluten Buch ist er jedoch gar nicht am Buch interessiert, sondern beschäftigt sich mit dem Vergleich der frühen und späteren Geschichtsphilosophie Friedrich Schlegels – als ob die Form der Geschichte die des absoluten Buches sei. Man muss hier jedoch auf andere, konkrete Bücher schauen, um die Form des absoluten Buches genauer fassen zu können. Die Metapher des absoluten Buches ist nicht nur der frühromantischen Poetologie im Sinne einer allumfassenden Synthese aller Gattungen und Wissenschaften, wie sie das Athenäums-Fragment 116 formuliert, geschuldet, sondern dem Buch der Bücher, der Bibel. Friedrich Schlegel kommt exakt zu dieser Zeit zu einem ominösen »Bibelproject«. Denn auch als Buch sei die Bibel ein Paradigma. Novalis bestätigt den Freund. Er schreibt in einem Brief: Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft überhaupt – und ihres Körpers, des Buches – ebenfalls auf die Idee der Bibel geraten – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel, entwickelt, giebt die Theorie d[er] Schriftstellerey oder der Wortbildnerey überhaupt – die zugleich die symbolische, indirecte, Construktionslehre des schaffenden Geistes abgibt.62 Die Bibel wäre demnach als Buch eine (symbolische) Konstruktionslehre des schaffenden Geistes. Was sie auszeichnet ist jedoch weder die Einheit eines schaffenden Geistes oder Autors, noch ihre religiöse Stellung. Für Schlegel ist die Bibel als Buch vielmehr ein Buch aus Büchern, eine Heterogenität aus vielen Büchern, Autoren, Stilen und Zeiten, Legenden und Geschichten. Die Bibel ist, anders gesagt, ein Fragment aus Fragmenten. Schlegel schreibt: »Als 60

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Vgl. Schreiber, Jens: Das Symptom des Schreibens. Roman und absolutes Buch in der Frühromantik (Novalis/Schlegel), Frankfurt a.M./New York 1983, insbesondere S. 118-140; Kesting, Marianne: »Aspekte des absoluten Buches bei Novalis und Mallarmé«, in: Euphorion 68 (1974), S. 420-436. Übergreifend Jacobs, Angelica: »Metamorphosen des absoluten Buches zwischen 1800 und 1900«, in: Alexander Lasch/Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Handbuch Sprache und Religion, Berlin/Boston 2017, S. 443-482. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 267-280. Novalis: Werke, Bd. 1 (Anm. 54), S. 673.

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Bibel wird das neue ewige Evangelium erscheinen, von dem Lessing geweissagt hat: aber nicht als einzelnes Buch im gewöhnlichen Sinne. Selbst das, was wir Bibel nennen, ist ja ein System von Büchern.«63 Die Differenz von »gemeinen« zum »unendlichen Buch« sei in dem Wort »Bibel« bereits gegeben, es gebe kein anderes: »Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch«.64 Damit ist das absolute Buch als Buch aus Büchern definiert. Es ist nicht universaler Speicher, sondern fragmentarische Heterogenität in symbolischer Form. Dazu zählt auch, was Schlegel dann in den späteren Literarischen Notizen folgert: »Die Bibel hatte die schöne Anlage zu einem (absolut universellen) Volksroman der immer fortgesetzt werden konnte; Luthers Fehler, da zu fixieren und die Legenden abzuschneiden.«65 Aus der Heiligen Schrift wird ein »Volksroman«, der als absolutes Buch keineswegs enzyklopädisch alles enthält, sondern vielmehr perspektivisch und fragmentarisch ein unsystematisches System hervorbringt, das fortsetzbar, also progressiv ist. In diesem Sinne ist das Fragment des Buches, in dem Heinrich blättert, Anstoß und Symbol von Erwartung und Erfüllung, dem seine Bestimmung zum Dichter folgt. Die Reflexion bei Novalis geht indes noch einen Schritt weiter. Novalis denkt die Form des Buches nicht einfach als Speicher oder Behälter von Information. Sondern die Leseszene im Heinrich von Ofterdingen macht deutlich, dass der Zugang und die Motivation, sich etwas genauer anzusehen oder anzueignen, im Vorfeld bereits durch die Form des Buches angeregt wird. Seine Affordanz heißt: blätter mich, schlag mich auf. Die Form des Buches als Zwei-Seiten-Form des Urmodells der Seite bzw. der Rinde mit Vorder- und Rückseite motiviert das Umwenden des Blattes. Es ist so das Blättern in vielen Büchern, das Heinrich erst das eine Buch, das sein Interesse weckt, überhaupt auswählen lässt und es ist das Blättern in diesem Buch, das die Bilder finden und zu einer Chronik seines Lebens zusammenstellen lässt. Dass diese stochastische und idonsynkratische Nutzung des Buches den Text gar nicht lesen kann, spielt hier keine Rolle. Zu deutlich ist die Verbindung von Buch und Interesse des Ichs, letztlich sich selbst zu finden, in den Vordergrund gestellt und mit der Frage nach der Bestimmung, der Bildung des Ichs, zusammengeführt. Novalis’ Heinrich ist ja gezielt als

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Friedrich Schlegel: Athenäum (1798), Bd. II, S. 265. Zitiert nach Schreiber: Das Symptom des Schreibens (Anm. 60), S. 130. Ebd. Schlegel, Friedrich: »Literarische Notizen«, Nr. 458. Zitiert nach Schreiber: Symptom des Schreibens (Anm. 60), S. 130.

Die Form des Buches

Gegenentwurf zu Goethes Wilhelm Meister konzipiert. Dass diese symbolische Geschichte übertragbar ist und sein muss, notiert Novalis bereits im unmittelbaren Kontext seiner Thematisierung der modernen Bücher als Fragmente. In einer Variante heißt es: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel«.66 Kurz darauf fällt auch sein bekanntes Diktum vom Leser als erweiterten Autor. Damit der Geist aber ›heiligen‹, also beseelen kann, bedarf er der Motivation des Zugangs auf Inhalte, eine Form, in der der Text zum Lesen, Betrachten, Sich-Vertiefen einlädt. Die Form des Buches, seine Zwei-Seiten-Form, in der die Gestaltung und der Inhalt verschränkt sind und die Form der Seite als »das Beywesentliche« und Medium der Verknüpfung, das zum Blättern motiviert, ist insofern hier als Bedingung der Möglichkeit des Geistes markiert. Man mag einwenden, dass dies um 1800 nahe liegt. Doch so historisch determiniert diese Leseszene sein mag, was sie über die Form des Buches aussagt, legt zumindest die Frage nahe, ob und wie neuere Medien durch ihre Form funktional äquivalente Alternativen bieten.

66

Novalis: Werke, Bd. 2 (Anm. 54), S. 274.

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2. Literarische Formen

Philologisch-philosophische Arabesken Schlegel liest Goethe und Fichte Anja Lemke

In §16 der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant zwischen »zweierlei Arten von Schönheit«, der freien und der bloß angehängten. »Die erstere«, so Kants Erläuterung, »setzt keinen Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein soll; die zweite setzt einen solchen und die Vollkommenheit des Gegenstands nach demselben voraus.«1 Im ersten Fall handele es sich um »(für sich bestehende) Schönheiten«2 , im zweiten um »bedingte«3 , die Objekten zugehört, die ihrerseits nicht zwecklos sind. Als Beispiele für freie Schönheit nennt Kant »Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten usw.«, die »nichts bedeuten, für sich nichts vorstellen, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe.«4 Da hier das Geschmacksurteil tatsächlich nur der bloßen Form nach gefällt wird, gilt es Kant als »rein«. Die Freiheit der Einbildungskraft, die, wie es bei Kant heißt »in Beobachtung der Gestalt gleichsam spielt«5 , wird durch keinen Begriff eingeschränkt. Anders als bei der »angehängten Schönheit«, die Objekten zukommt, welche durch ihre Zweckhaftigkeit bereits semantisch festgelegt sind, bleibt das Geschmacksurteil, das an der freien Schönheit gewonnen wird, von jeder Semantisierung frei. Obwohl Kant in diesem Paragraphen den Begriff der Arabeske nicht verwendet, wird seine Beschreibung bereits von der zeitgenössischen Rezeption mit dem Konzept identifiziert und der neueren Forschung zum Ausgangspunkt, um Schlegels Überlegungen zur Arabeske an die Kant’sche Formästhe-

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Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1990, S. 69. Ebd. Ebd. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70.

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tik der freien Schönheit anzuschließen.6 Umstritten ist allerdings, wie weit die Parallelen zwischen Kants Konzept der Urteilskraft und Schlegels Kunsttheorie reichen. Folgt man etwa der Argumentation Walter Benjamins, so handelt es sich in beiden Fällen um Theorien, die das Moment der Reflexion ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, jedoch mit gänzlich unterschiedlichen Bezugspunkten. Bei Kant besteht die Reflexionsbewegung im ästhetischen Urteil darin, dass es sich in Ermangelung eines begrifflich fixierten Objekts auf das Subjekt zurückbiegt. Es ist, das betont insbesondere der § 9 der Kritik der Urteilskraft, eine selbstreflexive Erfahrung der Lust oder Unlust der eigenen Gemütskräfte, die Erfahrung der eigenen Seelenvermögen und ihrer Erkenntnisfähigkeiten. Im Geschmacksurteil wird damit erfahrbar, was im Verstandesurteil lediglich mit Blick auf das Objekt vom Menschen aktiviert wird. Es geht um die durch Selbstreflexion produzierte Erfahrung der Lebendigkeit der eigenen Gemütsbewegung. Kant spricht von einem »belebenden Prinzip«, durch das das Subjekt »sich selbst fühlt«7 . Genau hier sieht Walter Benjamin in seiner Dissertation zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik die Differenz zwischen Kant und Schlegel, wenn er hervorhebt, dass die romantische Reflexion »nicht, wie die Urteilskraft, ein subjektiv reflektierendes Verhalten« sei, sondern »in der Darstellungsform des Werkes eingeschlossen« liege, »sich in der Kritik« entfalte, »um sich endlich im gesetzmäßigen Kontinuum der Formen zu erfüllen.«8 Es bildet den Kern von Benjamins Verständnis der Schlegel’schen Kunstkritik, dass diese nichts an das Werk heranträgt, sondern die im Werk selbst angelegte Reflexion zur Entfaltung bringt: »Kritik des Werkes, ist seine Reflexion, welche selbstver-

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Vgl. u.a. Polheim, Karl: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München/Paderborn/Wien 1966; Oesterle, Günter: »Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Schlegels Brief über den Roman«, in: Dirk Grathoff (Hg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt a.M./Bern/New York 1985, S. 233-292; Behnke, Kerstin: »Romantische Arabesken. Literatur ohne Figur und Grund zwischen Ornament-Schrift und (Text)Gewebe«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift, München 1993, S. 101-123. Zur Diskussion um die ästhetische Valenz der Arabeske im 18. Jahrhundert vgl. Oesterle, Günter: »Arabeske«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Band. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 272-286. Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 1), S. 40. Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« [1920], in: ders.: Gesammelte Schriften I, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, S. 88.

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ständlich nur den ihm immanenten Keim derselben zur Entfaltung bringen kann.«9 Anknüpfend an diese Diskussion geht es den folgenden Ausführungen darum, zu zeigen, dass Schlegels Konzept der Arabeske sich nicht so eindeutig, wie Benjamin dies formuliert, vom Kantischen Subjektbezug im ästhetischen Urteil verabschiedet, sondern vielmehr den Gegensatz zwischen subjektiver Selbstreflexion auf der einen und der Entfaltung der Reflexion im Werk auf der anderen Seite in ein arabeskes Spiel der Potenzierung der Formen einlässt. Die Art und Weise, wie Schlegel dies tut, lässt sich exemplarisch an zwei Linien seiner kritischen Rezeption verfolgen. Zunächst entlang einer philologischen Linie, die sich in Schlegels kritischer Auseinandersetzung mit Goethes Wilhelm Meister als dem Prototyp individueller Bildungsgeschichte zeigt.10 Die zweite Line bildet als philosophische die Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre11 , wie sie in den nicht zufällig von Schlegel als Philosophische Lehrjahre bezeichneten Notizheften parallel zur Arbeit an der Meister-Rezension zu finden ist. Beiden Linien ist gemeinsam, dass sie sich mit dem Wilhelm Meister und der Wissenschaftslehre auf Texte beziehen, in denen ihrerseits das Verhältnis von Form und Subjektivität, d.h. von Form und Leben im Sinne von Individualität bzw. absolutem Ich, bereits zum Austrag kommt: Im Wilhelm Meister durch die Engführung der Bildungsgeschichte des Individuums mit der Frage nach der Formlosigkeit des modernen Romans, der diese Form allererst durch das Darzustellende, d.h. das im Roman zur Entfaltung kommende, kontingente individuelle Leben gewinnt12 ; in Fichtes

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Ebd. Wobei der Begriff »Linie« indiziert, was hier aus Raumgründen nicht ausgeführt werden kann: dass es sich um eine arabeske Struktur handelt, die nicht nur die MeisterRezension, sondern das romantheoretische Projekt als Ganzes, also auch die Lucinde sowie den Brief über den Roman und die Fragment-Sammlungen mit einschließt. Wenn hier und im Folgenden von Fichtes Wissenschaftslehre die Rede ist, so sind damit die frühen Arbeiten aus den Jahren 1794-1795 gemeint, also »Über den Begriff der Wissenschaftslehre«, »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« sowie »Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen«, in: Johann Gottlieb Fichte: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hg. von Fritz Medicus, Bd. 1, Darmstadt 2013, S. 155-215, 275-519 und S. 521-603. Vgl. zum Verhältnis von Leben und Form im modernen Roman grundlegend: Campe, Rüdiger: »Form und Leben in der Theorie des Romans«, in: Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich/Berlin 2009, S. 193-211. Ausführlich zum Zusammenhang der hier diskutierten

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früher Wissenschaftslehre, durch den Versuch, die innere Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft im absoluten Ich zu gründen und dieses zum formalen Grundsatz der gesamten Transzendentalphilosophie zu machen. Schlegels Lektüre dieser beiden Schlüsseltexte potenziert die bei Goethe und Fichte thematische Auseinandersetzung um das Ich, indem sie sie durch erneute Reflexion auf die Seite der Form überführt, die als Arabeske die inhaltlichen Aporien gerade nicht synthetisierend löst, sondern dynamisierend in bewegliche Formung überführt.

Arabeske I: Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre – Schlegels Über Wilhelm Meister Exemplarisch soll die erste Linie, die die in Goethes Roman angelegte Tendenz zur Selbstreflexivität als Formprinzip für die Gattung sichtbar macht, nachgezeichnet werden, indem zunächst die Initiationsszene im 7. Buch der Lehrjahre skizziert wird, um sie dann in ein Verhältnis zu Schlegels MeisterRezension zu setzen. Mit der Initiation im Turm, in der Wilhelms Eintritt in die Turmgesellschaft inszeniert wird und seine Lehrjahre für beendet erklärt werden, kommt auch der Roman in gewisser Weise zu sich selbst, hält doch Wilhelm mit dem Lehrbrief den Verlauf seines bisherigen Lebens in der Hand, das der Roman bis zu diesem Punkt beschrieben hat. Gleichzeitig reflektiert der Roman an dieser Stelle die Formgesetze von Wilhelms Lebensweg, die dem Roman selbst wiederum allererst seine Form geben. Was in dieser Initiationsszene zur Darstellung kommt ist nicht nur der Höhepunkt der bisherigen Romanhandlung, sondern gleichzeitig die Formierung eben jenes Zufalls, der im Roman an den entscheidenden Knotenpunkten bei der Begegnung mit den Emissären des Turms immer wieder besprochen wurde. Was Wilhelm selbst betrifft, so markiert die Initiation den Umschlagpunkt, an dem er, wenn man so will, von einem theatralen zu einem Romancharakter wird. Erstmals formt sich in ihm die Einsicht, dass »das, was wir Schicksal nennen«, »bloß Zufall«13 sein könnte, während er zuvor bei allen Zusammentreffen mit den Abgesandten des Turms im Verlauf des Romans immer darauf insistiert

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Fragen mit der Romantheorie um 1800: Lemke, Anja: Kontingenz und Potentialität – Formen des Möglichen im Roman um 1800, Berlin: August-Verlag (in Vorbereitung). Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt a.M. 1992, S. 872.

Philologisch-philosophische Arabesken

hatte, dass die ihm begegnenden Ereignisse als schicksalhafte Winke zu verstehen seien. Der Turm dagegen hatte in Übereinkunft mit der Poetologie des Romans stets den Zufall als bildendes Element in den Mittelpunkt gestellt.14 Diese Poetologie, die zuvor in zahlreichen Kunstgesprächen im Roman selbst thematisiert worden ist, wird jetzt als Form des Romans erkennbar, indem sie sich Wilhelm in der Initiationsszene als Formprinzip seines eigenen Lebens zeigt. Dies wird deutlich, wenn man sich die formale Ausgestaltung der Szene genauer vor Augen führt. Der Saal, in dem die Initiation stattfindet, gleicht zum einen einer Bibliothek: »an den Seiten waren schön gearbeitete Schränke mit feinen Drahtgittern verschlossen, wie man sie in Bibliotheken zu sehen pflegt, nur sah er anstatt der Bücher viele Rollen aufgestellt«.15 Diese Schriftrollen enthalten die kompletten Lebensdokumentationen aller Turmmitglieder. Hier wird das gesamte Datenmaterial archiviert, das der Turm für sein gesellschaftliches Formungsexperiment zusammengetragen hat und auch Wilhelm wird in einer solchen Rolle die Beschreibung seines eigenen Lebens ausgehändigt werden. Zum anderen heißt es aber auch: »Der Saal, in dem er sich nunmehr befand, schien ehemals eine Kapelle gewesen zu sein, an statt des Altars stand ein großer Tisch, auf einigen Stufen mit einem grünen Teppich behangen, darüber schien ein zugezogener Vorhang ein Gemälde zu bedecken.«16 Im Verlauf des Kapitels wird deutlich, dass der Vorhang kein Bild, sondern eine Bühne verdeckt, auf der nach und nach die verschiedenen Emissäre des Turms auftauchen, die Wilhelm jeweils an den Knotenpunkten seines bisherigen Lebens begegnet waren. Da ist zum einen der Fremde, mit dem er in der Nacht vor dem Bruch mit Marianne im Gasthaus über die großväterliche Kunstsammlung gesprochen und über das Verhältnis von Schicksal und Zufall diskutiert hat; sodann taucht der Landgeistliche auf, der die Diskussion um Schicksal und Zufall auf der Bootsfahrt weitergeführt hat; der Offizier hat einen Auftritt und schließlich noch einmal der Geist aus Shakespeares ›Hamlet‹, den Wilhelm während der Premiere des Stücks für den Geist seines Vaters gehalten hatte.

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Vgl. Goethe: Lehrjahre (Anm. 13), S. 423f. und S. 475. Zur Rolle des Zufalls bei der Kontingenzsteuerung der Turmgesellschaft vgl. Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007. Pethes spricht in diesem Zusammenhang treffend von der »Figur des gelenkten Zufalls«, vgl. S. 303. Goethe: Lehrjahre (Anm. 13), S. 872. Ebd.

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Wilhelms Begegnung mit seinem eigenen Leben ist hier durch die Darstellungsmodi der Schrift und des szenischen Bildes markiert, die die Ordnungsmedien bilden, durch die die Kontingenz der Welt strukturiert und diskursiv zugänglich gemacht werden kann. Durch die Schriftrollen gelingt dem Roman eine potenziell unendliche Öffnung des Binnenraums der Erzählung, ein detailliertes ›Aufrollen aller Lebensmomente‹, umgekehrt zeigen die Begegnungen mit den Emissären auf der Bühne, dass dieser Lebensweg gleichwohl nur eine sich realisierende Welt aus einer Vielzahl von möglichen Welten ist. Indem in der Initiationsszene die vier Emissäre des Turms noch einmal auftauchen, werden exakt die zentralen Knotenpunkte aufgerufen, an denen die ›wirkliche Geschichte‹ Wilhelm Meisters, d.h. die im Roman erzählte, sich als eine narrative Kausalkette zu erkennen gibt, die gleichwohl ein ganzes Geflecht anderer möglicher Kausalitäten, eine unendliche Fülle anderer Lebensverläufe in anderen möglichen Welten als Rückseite mit sich führt. Anders als etwa später bei Borges werden diese anderen, inkompossiblen Welten hier jedoch nicht als Teil eines gemeinsamen narrativen Universums ausgewiesen, aber in Gestalt der Emissäre werden die Schnittstellen der unterschiedlichen Ereignisreihen markiert.17 Was dem Roman hier gelingt, ist zum einen die Reflexion auf seine eigene Formierung – Wilhelm Meisters Lehrjahre, die hier in den zwei Darstellungsformen von Theater und Buch zu sich selbst kommen – auf der anderen Seite weist der Roman aber auch das mit der Erzählung verbundene Formgesetz der stetigen Unterscheidung von Aktualität und Potentialität mit aus und zeigt an den in der Szene erneut aufgerufenen Abgesandten des Turms das nichterzählte mögliche Andere, die Möglichkeiten, die die Form als ihr Anderes, von sich Unterschiedenes als Form erst möglich machen. In diesem Sinne ist der Roman nicht nur das Schaffen einer Welt, der Welt von Wilhelm Meister, sondern er zeigt als Roman auch das Formgesetz dieser Welt, indem er auf die unendlichen anderen möglichen Welten als unausgesprochener Hintergrund der aktualisierten Erzählung mit verweist.

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Vgl. zum komplexen Verhältnis das der Roman in dieser Szene zu Leibniz Erzählung über die Geschichte des Sextus Tarquinius und die beste aller möglichen Welten einnimmt, Lemke, Kontingenz und Potentialität (Anm. 12). Zur Rolle von Leibniz für die Entwicklung des modernen Romans und seinen Bezügen zur Ökonomie vgl. auch Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 3 2008, S. 139-222.

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Blickt man von hier auf Schlegels Meister-Rezension, so zeigt sich, dass Schlegel in ihr das Verhältnis von Form und Leben in gewisser Weise umdreht, also nicht länger der Roman wie bei Goethe seine eigene Formlosigkeit durch die Darstellung eines sich formenden Lebens kompensiert, sondern vielmehr die strenge Formästhetik, die Schlegel im Anschluss an Kants Bestimmung der freien Schönheit mit dem Konzept der Arabeske entwickelt, ihrerseits der Ort wird, von dem aus die Form des Lebens gedacht werden muss. Was die Initiationsszene aus dem Wilhelm Meister vorführt, wird für Schlegel zum Formprinzip des romantischen Romans. Was sich Wilhelm in der Initiationsszene verdichtet, zeigt sein eigenes Leben als Verflechtung einzelner Episoden, die ihre Form aus der Aktualisierung des Möglichen gewinnen, wird Schlegels Ausgangspunkt zur Beschreibung der Romanstruktur. Dies zeigt zunächst der Umstand, dass der Begriff der Bildung, den die spätere Tradition des Bildungsromans ausschließlich auf das Individuum Wilhelm Meister und dessen Lebensweg bezieht, bei Schlegel ganz im Zeichen der poetischen Form steht: »Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beispielen dargestellt, und in einfache Grundsätze zusammengedrängt werden.«18 Diese Bildung in ihren Gesetzen freizulegen, ist die zentrale Absicht der romantischen Kritik. Sie treibt damit als romantische Philologie weiter, was sie im Roman selbst bereits angelegt sieht und was diesen Schlegel zufolge zu einem »schlechthin neue[n] und einzige[n] Buch«19 macht, die Doppelbewegung von Formung des Romans auf der einen, und Reflexion über die Formgesetze auf der anderen Seite. Entsprechend setzt der Text auch ein, indem er dem Leser die Entstehung des Romans vor Augen führt: »Ohne Anmaßung und ohne Geräusch, wie die Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt aus seinem Innern leise emporsteigt, beginnt die klare Geschichte.«20 Der Prozess der Formung wird dann entlang der einzelnen Bücher der Lehrjahre verfolgt, wobei für Schlegel jedes Buch »mehr oder weniger […] für sich ein malerisches Ganzes«21 bildet, gleichzeitig aber alle Teilelemente in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit das »Ganze« des Werkes bilden, dessen Or18

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Schlegel, Friedrich: »Über Goethes Meister«, in: Charakteristiken und Kritiken I (17961801), hg. und eingeleitet von Hans Eichner, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd.2 (KA II), hg. von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1967, S. 143. Ebd., S. 133. Ebd., S. 126. Ebd., S. 129.

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ganisationsgesetzen Schlegels Aufmerksamkeit gilt. Schritt für Schritt durchläuft die Rezension nun diese einzelnen kleinen, in sich weitgehend autonom organisierten »Massen«22 , wobei Schlegels besonderes Interesse den Übergängen zwischen den Teilen gilt. Hier, an den Schnittstellen zwischen den einzelnen Büchern, an den Fugen stoßen für Schlegel die Autonomie der Teile und die Autonomie des Ganzen ebenso aufeinander, wie die Idee von Geschlossenheit und Rundung mit dem Gesetz von Zeitlichkeit und Progress. […] hier öffnet sich mit jedem Buch eine neue Szene und eine neue Welt; auch hier kommen die alten Gestalten verjüngt wieder; auch hier enthält jedes Buch die Keime des künftigen und verarbeitet den reinen Ertrag des vorigen mit lebendiger Kraft in sein eigentümliches Wesen.23 Was Schlegel interessiert, ist der Zusammenhang von zeitlicher Sukzession und Offenheit sowie räumlicher Rahmung und Abrundung, der es erlaubt, System und Fragment zusammenzudenken. »Durch jene Fortbildung ist der Zusammenhang, durch diese Einfassung ist die Verschiedenheit der einzelnen Massen gesichert und bestätigt. Und so wird jeder notwendige Teil des einen und unteilbaren Romans ein System für sich.«24 Das Werk bildet sich als in sich vielfach Zusammengesetztes, dessen einzelne Teile, wie die Schlegel’schen Fragmente, gleichermaßen in sich geschlossen und auf Anschlüsse von außen angewiesen sind. Die Knotenpunkte, die Wilhelm auf der Bühne im Turm vorgeführt wurden, sind jetzt die Strukturelemente des Romans, sie sind die Schnittstellen zwischen den einzelnen Episoden, die hier nicht länger dem Protagonisten vor Augen gestellt werden, sondern in der reflexiven Bewegung des kritischen Weiterschreibens für den Leser deutlich werden. Als Leser von Schlegels Rezension verfolgen wir das ›Werden des Romans‹ in dieser reflexiven Bewegung, die uns die Formation der einzelnen Buchteile in ihrer Geschlossenheit sowie ihrer Reihung und ihres ornamentalen Ineinanderverwobenseins vorführt. Subjekt des Romans ist nicht länger das sich entwickelnde Individuum, sondern der Roman selbst, dessen Formung nun verfolgt wird. Die in der Initiationsszene vorgeführte Romanstruktur wird zur Arabeske, sie wird Form und Reflexion der Form, leitet eine Lektüre an, 22

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Vgl. zu Schlegels Verwendung des Begriffs der »Masse«: Benne, Christian: »Kunst der Organisation: zur Philologie der ›Massen‹ in Friedrich Schlegels Über Goethes Meister«, in: Ulrich Breuer/Remigius Bunia/Armin Erlinghagen (Hg.): Friedrich Schlegel und die Philologie, Paderborn 2013. S. 99-121. Schlegel: »Über Goethes Meister« (Anm. 18), S. 135. Ebd.

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die als »magisches Schweben zwischen Vorwärts und Rückwärts«25 jene Ornamentalität herstellt, die es erlaubt, die Formierung des Romans produktiv nachzuvollziehen und reflexiv in seiner Gesetzmäßigkeit zu beobachten. Dieses Wechselspiel zwischen dem Teil und dem Ganzen, dem Besonderen und dem Allgemeinen, das sowohl im Innern immer neue Elemente der möglichen Welt auftauchen als auch die Fülle des Möglichen insgesamt aufscheinen lässt, wird nun von Schlegel seinerseits verzeitlicht, der Roman selbst also in die Struktur einer durch zeitlichen Wandel gekennzeichneten modernen Welt eingelassen, indem Schlegel darauf hinweist, dass der Wilhelm Meister seine eigene Gattungsgeschichte reflexiv mit entfaltet und auf diese Weise die Form zum Leben erweckt: Wenn wir auf die Lieblingsgegenstände aller Gespräche und aller gelegentlichen Entwicklungen, und auf die Lieblingsbeziehungen aller Begebenheiten, der Menschen und ihrer Umgebung sehen: so fällt in die Augen, daß sich alles um Schauspiel, Darstellung, Kunst und Poesie drehe. Es war so sehr die Absicht des Dichters, eine nicht unvollständige Kunstlehre aufzustellen, oder vielmehr in lebendigen Beispielen und Ansichten darzustellen, daß diese Absicht in sogar zu eigentlichen Episoden verleiten kann… .26 Dabei gilt Schlegels Interesse nicht nur der formalen Organisation des Textes, sondern gleichermaßen der Frage der Subjektivität. Das erlaubt es Schlegel zum einen Wilhelms Bildungsgang selbst allegorisch als Entwicklungsgeschichte der Kunst zu verstehen, vom Puppenspiel und den Jahrmarktszenen der Gaukler als dem »goldenen Zeitalter der Poesie«27 über die Musik bis zum Schauspiel als »Naturgeschichte des Schönen«, die im Roman als vergangene Elemente der Kunstgeschichte reflexiv aufgegriffen und auf diese Weise künstlich in die Formierung des Gattungshybrids eingeflochten werden. Andererseits zeigt Schlegel, dass Wilhelm seine Individualität erst im Gespräch über die Kunst gewinnt. Wilhelms Charakter, gekennzeichnet für Schlegel durch »grenzenlose Bildsamkeit«28 , erhält seine Form im kommunikativen, interaktiven Geflecht mit den anderen Protagonisten des Romans, ohne dabei jemals aus dem Formungsprozess heraus zu einer festen Form zu kommen. Wilhelm entwickelt sein Empfindungsvermögen, so könnte

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Ebd., S. 130. Ebd., S. 131f. Ebd., S. 131. Ebd., S. 129.

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man mit Rekurs auf Kants Beschreibung des reflexiven Urteils in der Kritik der Urteilskraft formulieren, allererst durch die Kunst. »Lebenskunst«29 und »Kunstlehre«30 verschränken sich. Damit wird die Ausbildung seiner Subjektivität von Schlegel eingelassen in das Konzept der Arabeske, Wilhelms Ich entsteht durch die arabeske Form des Romans. In der Figur der Arabeske gelingt es Schlegel, reflexive Subjektivität und zeitgenössische Kontingenzerfahrung formal miteinander zu verbinden und diese Formung transzendental zu reflektieren. Die Arabeske ist die Figur, die als asemantische Darstellungsform eine »fragmentarische Bewältigung der gesteigerten Kontingenzerfahrung, durch die Integration dieser Erfahrung in die Poetik«31 erlaubt. Dies meint keine formale Stillstellung der Kontingenz, sondern ihre Überführung in Produktivität. Die Arabeske stellt eine Form für die Formlosigkeit zur Verfügung, die ihrerseits dynamisch bleibt. In ihr vollzieht sich eine stetige Bewegung zwischen absolutem Chaos und Form, die das Kunstwerk in der reflexiven Bewegung immer wieder neu aus dem Chaos absoluter Potentialität hervortreten lässt, ohne dass es sich jemals gänzlich gegen diese Formlosigkeit eines Absoluten abschließen könnte. Vielmehr garantiert gerade die Formlosigkeit die Potentialität, Fülle und Unendlichkeit des künstlerischen Prozesses. Die Arabeske ist als Produktivmachen der Potentialität die formale Antwort auf die Kontingenz der Zeit. Die Pole der Schöpfung und der Reflexion, zwischen denen sich für die Frühromantik die Transzendentalpoesie als Bewegung des Schwebens der Einbildungskraft aufspannt, kommen in der arabesken Verflechtung und Reihung nicht zur festen Form, sondern verschränken sich dergestalt, dass die Reflexion selbst schöpferisch werden kann, die Form immer wieder in die Kontingenz zurückgeführt wird, sich neu aus ihr herausbildet und auf diese Weise Potentialität nicht endgültig in Aktualität überführt, sondern prozessual produktiv gemacht wird. Dabei integriert diese asemantische Darstellung gesteigerter Kontingenzerfahrung Subjektivität, indem sie das im Bildungsroman thematisierte Verhältnis von Form und Leben durch reflexive Potenzierung auf die Form des Romans überträgt und auf diese Weise den Ausdifferenzierungsprozess der 29 30 31

Ebd., S. 136. Ebd., S. 131. Schnyder, Peter: »Kontingenzpolitik. Das Glücksspiel als interdiskursives Element in der Politischen Romantik«, in: Uwe Hebekus/Ethel Matala de Mazza/Albrecht Koschorke (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, S. 148.

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Gattung Roman weitertreibt. Der frühromantischen Versuch, die Arabeske als zentrales Strukturelement des Romans zu denken, verlässt damit das Moment der Subjektivität gerade nicht, sondern verbindet die arabeske Romanstruktur mit der Bildung von Individualität.32 Was sich gegenüber der Romanästhetik des Bildungsromans ändert, ist nicht die Verschiebung von Subjektivität auf Form, sondern die Richtung, in der sich Form und Leben organisieren: Es ist nicht länger ein individuelles Leben in seinem Umgang mit Zufälligkeit und Kontingenz, das dem Roman die Form liefert, sondern die Form des Romans als Formierung der Kontingenz wird zum Muster individueller Bildung.

Arabeske II: Fichtes Wissenschaftslehre – Schlegels Philosophische Lehrjahre Was für das Verhältnis von individuellem Leben und dessen Formgebung im Wilhelm Meister sowie die Potenzierung durch die Schlegel’sche Kritik gilt, gilt analog auch für das absolute Ich der Transzendentalphilosophie, mit dem sich Schlegel in seiner Auseinandersetzung mit Fichte befasst.33 Ohne ins Detail zu gehen, lässt sich festhalten, dass Fichtes enormer Erfolg bei den Frühromantikern, aber auch bei dem jungen Dreigestirn Hölderlin, Hegel und Schelling zunächst darauf zurückzuführen ist, dass seine Wissenschaftslehre den Anspruch hat, die losen Fäden, die Kant zurückgelassen hatte, zu bündeln und, wie Fichte in »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« ausführlich erläutert, auf einen Grundsatz zurückzuführen.34 Dies gilt sowohl für die beiden Erkenntnisstämme von Verstand und Anschauung, die die Kritik der reinen

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Davon zeugt auch der Begriff der Bekenntnisse, der mehrfach bei Schlegel als zentrales Element der Romanpoetik auftaucht, etwa in den »Bekenntnissen eines Ungeschickten« in der Lucinde oder im Brief über den Roman, dem »Grotesken und Bekenntnisse … die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind«. Schlegel, Friedrich: »Gespräch über Poesie« (KA II, Anm. 18), S. 330. Schlegels inhaltliche Auseinandersetzung mit Kant und Fichte kann hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Vgl. u.a. die ausführliche Darstellung von Frischmann, Bärbel: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus J.G. Fichte und Fr. Schlegel, Paderborn/München 2005, sowie die dort aufgeführte Literatur. Zu Fichtes Wissenschaftstheorie, vgl. Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 2011, S. 185-207. Vgl. Fichte: »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« (Anm. 11), § 1 und 2, S. 166-183.

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Vernunft identifiziert, als auch für die Differenz von praktischer und theoretischer Vernunft, die Freiheit und Erkenntnis bei Kant voneinander trennt. In der Tathandlung des absoluten Ich, in der sich das Ich gleichzeitig setzt und sich in dieser Setzung als sich selbst setzendend, das heißt als Subjekt und Objekt der Handlung begreift, sucht Fichte Erkenntnis und freie Handlung, Selbsterkenntnis und Selbstsetzung, Anschauung und Reflexion zusammenzuführen, um auf diese Weise eine Neubegründung der Transzendentalphilosophie aus dem Ich vorzulegen. Die Tathandlung als Schritt über Kant hinaus, bildet auch für die Frühromantiker zunächst den Kern von Fichtes Reflexion. So schreibt Schlegel in seiner Rezension der ersten vier Bänden von Niethammers Philosophischem Journal von 1797: Der einzige Anfang und vollständige Grund der WISSENSCHAFTSLEHRE ist eine Handlung: die Totalisierung der reflexiven Abstraktion, eine mit Beobachtung verbundene Selbstkonstruktion, die innre freie Anschauung der Ichheit, des Sichselbstsetzens, der Identität des Subjekts und des Objekts. Die ganze Philosophie ist nichts anderes als Analyse dieser einigen, in ihrer Bewegung aufgefaßten, und in ihrer Tätigkeit dargestellten Handlung.35 Nun führt die »Analyse dieser einigen, in ihrer Bewegung aufgefaßten« Handlung bei Schlegel, wie auch bei Novalis und bei Hölderlin, sehr schnell zur Kritik an der Reduktion auf das Ich=Ich als ersten Grundsatz, und die ausführliche Auseinandersetzungen mit Fichte kreisen in immer neuen Anläufen um die Frage, wie es möglich ist, nicht wieder in den Kantischen Dualismus zurückzufallen, aber gleichwohl ein Denken vom Absoluten zu entwickeln, das nicht auf ein Ich reduziert werden kann, sondern sich als eine dynamische, sich in der Reflexion potenzierende Bewegung konstituiert. Mit Schlegels Worten: »Fichte’s Gang ist noch zu sehr grade aus, nicht absolut progr.[essiv] cyklisch «.36 Dies Überführen in zyklisches Denken vollzieht sich in den Philosophischen Lehrjahren in auffälliger Weise in der Suche nach einer für dieses Denken angemessenen Formsprache, die interessante Parallelen zur Arabeske aufweist, bislang in der Forschung aber kaum beachtet wurde. Konzentriert man sich auf die Frage der Form lassen sich die Philosophischen Lehrjahre als Pendant zur

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Schlegel, Friedrich: Rezension der vier ersten Bände von F. J. Niethammers Philosophischem Journal von 1797, in: KA VIII (Anm. 18), S. 28. Schlegel, Friedrich: »Geist der Fichtischen Wissenschaftslehre. 1797-1798« (KA XVIII, Anm. 18), S. 31.

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Meister-Kritik lesen, sie sind eine Art »Überwissenschaftslehre«, der es darum geht, inhaltliche Fragen, die der deutsche Idealismus produziert hat, durch Formalisierung zu potenzieren. Schon die rein äußerliche Form der kleinen Notizbücher, die Schlegel selbst aus gefalteten und zusammengenähten Blättern des Formats 40 x 25 cm gefertigt hat und die ihn sein Leben lang begleitet haben37 , weisen Bezüge zum Konzept der Arabeske auf. Es gibt Titelblätter, deren Beschriftung ins Ornamentale geht. So enthält das Titelblatt zum Heft von 1806 sowohl Buchstaben in Persisch und Sanskrit als auch rein ornamentale Figuren. Zwischen semantisch identifizierbaren Buchstaben und Worten und den ornamentalen Zeichen sind die Übergänge fließend.38 Zudem sind die Hefte durchgehend in Form von Fragmenten verfasst. Allein die erhaltenen zwölf Hefte zählen 7502 Fragmente, die wiederum durch zahlreiche Zwischenüberschriften unterteilt sind, die, darin der Lucinde nicht unähnlich, auf ganz unterschiedliche Textformen philosophischen Schreibens hindeuten. Es gibt: »Scholien«39 , andere Überschriften sprechen von »Vermischten Gedanken«40 , eine Rubrik ist mit »Geist der Fichtischen Wissenschaftslehre«41 überschrieben, andere Abteilungen sprechen von »Kritik der Philosophie. 1797«42 , es gibt eine Gruppe zur »Form der Kantischen

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Insgesamt gab es, Aufzeichnungen zufolge, ursprünglich 65 Hefte aus den Jahren 17961828, wovon allerdings nur die ersten 12 Hefte bis 1806 erhalten sind. Die ersten fünf Hefte haben für die Lyceums- und die Athenäums-Fragmente als »Fundgrube‹ gedient, in ihnen haben sowohl Schlegel selbst als auch Schleiermacher einzelne Fragmente mit Strichen versehen und dann exzerpiert. Da diese Striche in den erhaltenen Heften fehlen, geht man davon aus, dass es sich bei diesen bereits um Überarbeitungen handelt, die Schlegel ca. 1804/05 vorgenommen hat, als er sich zur Publikation der Hefte entschloss. Zu einer solchen Publikation zu Lebzeiten ist es allerdings nie gekommen. Vgl. zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Hefte: Behler, Ernst: »Einleitung« (KA XVIII, Anm. 18), S. XII–LXX und Eicheldinger, Martina: »Philosophische Lehrjahre«, in: Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Johannes Endres, Stuttgart 2017, S. 157-162. Siehe Abb. 2. Schlegel, Friedrich: »Philosophische Lehrjahre 1797-1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796-1828«, mit Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1963 (KA XVIII, Anm. 18), S. 135. Ebd., S. 141. Ebd., S. 31. Ebd., S. 40.

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Abb. 1: Titelblatt »Zur Philosophie«, 1806 (Ph. Lj. XI Titelblatt), KA, Bd. XVIII, S. XXXIII

Philologisch-philosophische Arabesken

Philosophie«43 , »historische Ansichten der Philosophie«44 sowie »Vermischtes (Auch Litter[atur].) 1798«45 . Häufig vermerkt die Überschrift auch das Jahr und den Ort: »Zur Moral. ›Angefangen 1798 in Dreßden im Sommer.-‹46 «, »KANT. (noch in Jena.) 1796-1797«47 , Gedanken (1797. – Auf der Reise nach Berlin, in Weißenfels.)48 . Als weitere Formalisierung findet sich ein Abkürzungssystem, das vor allen Dingen mit griechischen Anfangsbuchstaben arbeitet. So stehen ϕ und ϕσ für Philosophie, π für Poesie, ϕλ für Philologie, γρ für Grammatik und χα für Chaos, um hier nur einige Beispiele zu geben. Zudem, und dies ist für den hier diskutierten Zusammenhang von besonderem Interesse, gibt es vor allen Dingen gegen Ende der frühromantischen Zeit, also Anfang 1800 vor der Umsiedlung nach Paris verstärkt Versuche, insbesondere für die Auseinandersetzung mit Fichte eine mathematische Formsprache zu finden, die ich mit dem Begriff der philosophischen Arabeske beschreiben möchte, weil sie ganz im Sinne der oben diskutierten asemantischen Darstellungsform als mathematische Formeln keinen Sinn ergeben, dennoch aber als Form eine Art ornamentalen Raum schaffen, mit dem sich das Problem, um das es Schlegel in seiner Fichterezeption primär geht, figurativ nachzeichnen lässt. Die mathematische Formsprache ist die Darstellungsform, mit der Schlegel seiner eigenen Forderung, Fichte weniger linear zu denken, sondern zyklisch, performativ nachkommt. Im Zentrum steht dabei Schlegels Ringen um eine Formalisierung des Unendlichen bzw. Absoluten. In einer bis heute gängigen Schreibweise wählt Schlegel in den Heften immer dann, wenn er einen Begriff wie etwa die Poesie oder die Philosophie als reine, absolute oder unendliche bezeichnen möchte, einen Bruch, der im Nenner eine 0 führt, ist doch 01 in der Algebra ein geläufiges Zeichen für ∞. Entsprechend ist die Null, das Zeichen für unendlich, abso[absolute Transzendentalität],49 ανλ lut und manchmal auch für rein: Transc 0 0 [absolute Analytik],50 Reelle [absolut Reelle],51 P rog [reine Progression].52 0

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 59. Ebd., S. 56. Ebd., S. 68. Ebd., S. 197. Ebd., S. 19. Ebd., S. 23. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 417. Ebd., S. 297.

0

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Interessant ist nun, dass der Term für das Unendliche q bzw. das Abso1

1

lute selbst bei Schlegel nicht einfach 10 ist, sondern: » 0 x0 0 «53 . Das heißt, Schlegel wählt für das Unendliche eine Formel, die Potenz und Wurzel miteinander verbindet und ihrerseits das Zeichen für Unendlich an drei verschiedenen Stellen unterbringt: als Exponent der Wurzel, als 0 im Nenner im Bruch x0 und als Potenz für die Basis x0 in der Wurzel. Mathematisch aufgelöst ist das strenggenommen nicht möglich, da sich durch 0 nicht teilen lässt. Rechnet man dennoch, kommt man immer wieder auf 0 oder auf Unq endlich. So ist etwa in der Gleichung » −

1 0

0 1

1

=

1 0 54 « 0

in Fragment [1102]

p 1

aus »N.B. Aus der Zeit der Vorlesung von 1800-1801« der erste Term 0 01 √ 1 1 gleich 0 0 = 01/ 0 = 00/1 = 00 , wobei 00 keinen definierten Wert in der Elementaren Algebra hat. Im zweiten Teil der Gleichung kann 10 als Limes von x1 interpretiert werden. Wenn x im positiven Bereich gegen 0 geht, kann man schreiben: 10 = +∞, im negativen Bereich: 10 = −∞. Daher entspricht der zweite Teil der Gleichung (±∞)±∞ . Je nachdem in welche Richtung sich 1 = 0 x bewegt und wann, kann dies (+∞)+∞ = ∞ oder (+∞)−∞ = ∞ +∞ −∞ 55 bedeuten oder (−∞) oder (−∞) . Gerade weil sich die Formel mathematisch nur immer wieder gegen Null und Unendlich auflösen lässt, wird durch sie das Unendliche für Schlegel als eine Art formaler Raum der Potenzierung und Radizierung darstellbar, in dem jede Stelle innerhalb der Formel selbst wieder verabsolutiert und verunendlicht werden kann, so dass es tatsächlich zu einer Art »polemische[n] Totalität« als »notwendige Bedingung der Methode und Kriterium des Systems«56 kommt, wobei System hier im Sinne Schlegels ein System aus Fragmenten meint und polemisch von polemos als Kampf und Gegensätzlichkeit gedacht werden muss. Es ist diese grundlegende Öffnung des Absoluten bzw. Unendlichen in Richtung eines vielfach immer wieder umzubesetzenden, in sich beweglichen Ganzen, in die Schlegel Fichtes transzendentales Ich gleichsam einlässt, es auf diese Weise mit dem Absoluten verschränkt und seinerseits in ein unendliches Spiel der Form überführt. Exemplarisch lässt sich dies etwa im Fragment [1068] der Fragment-Sammlung »Zum Idealismus« zeigen: 53 54 55

56

Ebd., S. 491. Ebd., S. 413. Für die mathematische Umformung der Formel sowie die Erläuterungen danke ich James T. Smith und Matthias Beck, beide Professoren für Mathematik an der San Francisco State University. Schlegel: »Philosophische Lehrjahre« (Anm. 38), S. 517.

Philologisch-philosophische Arabesken

q 1

1

A = 0 x0 0 A = Ich

q 1

1

0 Ich = 0 Ich 0 57 x = Ich

q 1

1

und imFragOder ähnlich in Fragment [1093]: A = Ich und 0 Ich = x0 0 58q 1 1 0 ment [1102]aus »N.B. Aus der Zeit d[er] Vorlesung 1800-1801«: − 0 Ich = x0 0 ·−59 In diesem Sinne heißt es schon 1776 in den Philosophischen Fragmenten: Nicht bloß der Stoff ist unerschöpflich, sondern auch die Form, jeder Begriff, jeder Erweis, jeder Satz unendlich perfektibel. ›Auch die Mathematik ist davon nicht ausgeschlossen, kann davon nicht ausgeschlossen seyn‹ Äußerst wichtig ist die Perfektibilität der Mathematik für die Philosophie, W.L. Wissenschaftslehre und Logik.60 Es geht in diesem Formelspiel nicht mehr darum, stabilen, gesicherten Sinn zu produzieren, sondern um die Dynamisierung der Form selbst, die gleichermaßen unendlich extensiv als auch unendlich intensiv ist und als Formsprache tendenziell asemantisch bleibt, gleichzeitig aber gerade dadurch in unendlicher Formung immer weiter gesteigert und verdichtet werden kann: »Die ABSOLUTE Perfektibilität des ›kritischen‹ Systems ist nicht bloß extensiv sondern auch intensiv, so daß die Freyheit des ›Kritikers‹ auch IN dem kleinsten Bezirk unendlich ist, bey der Sicherheit immer vorwärts zu kommen.«61 Für beide Rezeptionslinien, die philologische und die philosophische, zeigt sich, dass Schlegel kritische Lektüren dem Prinzip der arabesken Reihung folgen. So wie Schlegel Fichtes transzendentales Ich nicht mehr zum absoluten Grund, sondern zu einem beweglichen Teil einer unendlichen, in sich mehrfach reflexiv potenzierten Formsprache macht, dreht seine Meister-Kritik die Diskussion der Formung, die sich im Bildungsroman primär entlang der Bildung des Individuums vollzieht, um, indem sie die im Text angelegte Reflexion auf die Form zum eigentlichen Gehalt des Romans werden lässt. In beiden Rezeptionslinien ist es die Arabeske als in sich selbst zurücklaufende, verschlungene Form, die Schlegels autonomer Formästhetik

57 58 59 60 61

Ebd., S. 409. Ebd., S. 412. Ebd., S. 413. Ebd., S. 506. Ebd., S. 507.

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die Möglichkeit bietet, Prozesse der Formierung zum beweglichen Strukturprinzip zu machen. Was in der Kunst lange als rahmende Verzierung und als inferiores asemantisches Spiel gegenüber dem eigentlichen »Gehalt« des Kunstwerks galt, wird zum tragenden Element eines unendlichen Spiels der Formen, in dem »Lebenskunst« und »Kunstlehre« sich verschränken, das Subjekt selbst in die pulsierende Bewegung von Formung und Chaos mit einbezogen wird und Subjektivität als flüchtiges prozessuales Produkt von Selbstreflexion durch die Begegnung mit Form ermöglicht wird.

Anorganische Form Zu Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre Wolfgang Hottner

Nachdem er sich vor allem im ersten Weimarer Jahrzehnt intensiv mit anorganischer Materie, mit Fragen des Bergbaus, der Geologie, der Geognosie und der Mineralogie beschäftigt hat, treten Johann Wolfgang Goethes »Felsenspekulationen«1 nach der Rückkehr aus Italien im Jahr 1788 in den Hintergrund. Sie weichen dem Fokus auf die Beschreibung lebendiger Formen der organischen Natur, wie der Metamorphose, der Urpflanze und der Entwicklung von Lebendigem.2 Goethes Projekt einer Morphologie, die »besonders die organischen«3 Gestalten in den Blick rückt, ist als Lehre von der »Bildung und Umbildung der organischen Körper«4 zu verstehen, die an Gestalten, welche »festgestellt, abgeschlossen und in [ihrem] Charakter fixiert« erscheinen, kein vordergründiges Interesse entwickelt. In Goethes organizistischer Naturkonzeption, in der »nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes« vorgesehen ist

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Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: »Schriften zur Morphologie«, in: ders.:Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985-2013. Abt. I: Sämtliche Werke. Bd. 25, hg. v. Wolf von Engelhardt u. Manfred Wenzel, Frankfurt a.M. 1989, S. 520. Zitate aus der Frankfurter Ausgabe werden fortan durch die Sigle FA mit römischer Abteilungsnummer sowie arabischen Band- und Seitenzahlen nachgewiesen. Vgl. dazu Geulen, Eva: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016; Wellbery, David E.: »Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800«, in: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ›anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin 2014, S. 17-42; Förster, Eckart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 2011. Goethe, FA I, Bd. 24, S. 392. Ebd., S. 365.

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und »alles in einer steten Bewegung schwank[t]«, wird das Anorganische sekundär. Im Schatten der Lebenswissenschaften und der modernen Biopolitik wird das Anorganische zur inerten Materie, die in ihrer Abgestorbenheit mit der generativen Dynamik des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens per definitionem nichts gemein hat.5 Es mag zwar zur Ausgestaltung von Formen fähig sein – die Goethe insbesondere in der Kristallisation des Granits erkennt – doch die anorganische Formwerdung bringt nur Stummes, Gleichgültiges und Gewordenes hervor, das der Mannigfaltigkeit und der Prozessualität des Lebendigen entgegensteht. Goethe setzt den Unterschied zwischen dem Organischen und dem Anorganischen im Jahr 1805 nicht nur terminologisch fest,6 für ihn besteht auch eine grundlegende Differenz zwischen der Betrachtung und Beschreibung organischer bzw. anorganischer Natur. In einem Brief aus dem Winter 1814 an Christian Schlosser empfiehlt Goethe, das »anorganische Reich […] anfangs recht atomistisch zu behandeln, nur zu sehen, und nicht zu denken. Die Eindrücke der Gestalten, der Farben, kurz aller äußerlichen Kennzeichen und was man Habitus nennt, sich wohl einzuprägen.«7 Es schade dabei nicht, so Goethe, »wenn man alles erst einzeln, historisch aufnimmt, und abwartet, bis der Geist zuletzt die vielen bekannten Elemente synthesiere.«8 Das »Gegenteil« gelte für das Studium des Lebendigen: Sodann möchte ich gerade das Gegenteil von dem was ich bei’m Anorganischen geraten, bei dem Organischen aussprechen. Wenn wir uns das Studium desselben erleichtern wollen, so müssen wir erst die Ideen in uns erwe-

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Ebd., S. 392. In einem kurzen und titellosen Text, der am 13. Mai 1805 in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erscheint, bezieht er sich auf den inkonsequenten Gebrauch der Negation des Wortes ›organisch‹ durch Henrik Steffens. Wie auch sein Lehrer Friedrich Wilhelm Joseph Schelling spricht Steffens von ›anorgisch‹ und ruft damit »eingeschlichen[e]« Bedeutungsebenen auf, die für Goethe entschieden zu weit führen. Er wünscht daher die Ersetzung des Wortes durch das ihm unproblematischer erscheinende ›anorganisch‹. Goethes Empfehlung zur korrekten Negation des Wortes zielt auf die präzise Abbildung eines »Gegensatz[es]« und tilgt damit die Reziprozität zwischen belebter und unbelebter Natur, die in ›anorgisch‹ noch angeklungen war. Vgl. Goethe, FA I, Bd. 24, S. 377. Goethe, FA II, Bd. 7, S. 380. Ebd., S. 380.

Anorganische Form

cken und beleben, und dieses wird ja in den neuern Zeiten immer möglicher, wo man sich an ideelere Behandlungen gewöhnt.9 Der Atomismus des Anorganischen entzieht sich für Goethe, was zu einem grundsätzlichen Zweifel an der Erkennbarkeit der anorganischen Natur und ihrer Prozesse führt.10 Das Anorganische steht für einen Bereich, in dem eine auf die Darstellung von Lebendigkeit ausgerichtete Vernunft keine Sinnhaftigkeit zu erkennen vermag: »Die Vernunft hat nur über das Lebendige Herrschaft; die entstandene Welt, mit der sich die Geognosie abgibt, ist tot. Daher kann es keine Geologie geben, denn die Vernunft hat hier nichts zu tun.«11 An einen Übergang zwischen organischer und anorganischer Materie ist für den späten Goethe nicht mehr zu denken.12 Er beharrt auf einer systematischen Trennung zwischen den Sphären, wie in einem Gespräch mit Eckermann am 23. Februar 1831 besonders deutlich wird: Bei Tisch kam das Bestreben gewisser Naturforscher zur Erwähnung, die, um die organische Welt zu durchschreiten, von der Mineralogie aufwärts gehen wollen. »Dieses ist ein großer Irrtum«, sagte Goethe. »In der mineralogischen Welt ist das Einfachste das Herrlichste, und in der organischen ist es das Komplizierteste. Man sieht also, daß beide Welten ganz verschiedene Tendenzen haben, und daß von der einen zur anderen keineswegs ein stufenartiges Fortschreiten stattfindet.«13 Goethes epistemologische Skepsis gegenüber dem Anorganischen sowie die Idee einer strikten ontologischen Differenz zwischen organischer Formwerdung und anorganischer Formlosigkeit hat auch Auswirkungen auf seine literarische Produktion, insbesondere auf Wilhelm Meisters Wanderjahre, dessen zweite Fassung er 1829 beendet. In Goethes letztem Roman spielen das Gebirge, der Bergbau und anorganische Materie eine wichtige Rolle: Die Fortsetzung von Wilhelms Reise beginnt mit einer Gebirgsszenerie, im ›Bergfest-Kapitel‹ werden Weltentstehungstheorien verhandelt und aus Jarno wird Montan. Vor allem das Verhältnis zwischen Wilhelm und Montan sowie

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Ebd., S. 381. Goethe, FA I, Bd. 25, S. 119: »Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht.« Ebd., S. 118. Vgl. zuletzt Groves, Jason: »Goethe’s Petrofiction: Reading the ›Wanderjahre‹ in the Anthropocene«, in: Goethe Yearbook XXII (2015), S. 95-113. Goethe, FA II, Bd. 12, S. 450.

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die narrative Funktion des Letzteren soll in den folgenden Überlegungen im Zentrum stehen. Montan ist nicht nur seit den Lehrjahren eng mit den formalen Prämissen der Wilhelm Meister-Romane verbunden, sondern aktualisiert auch intertextuelle Aspekte, die für ein Verständnis von Wilhelms traumatischer Vorgeschichte entscheidend sind.14 Interessant ist dabei, dass der vom späten Goethe als definitiv zu verstehende Gegensatz zwischen einer organischen und einer anorganischen Sphäre auch auf poetologischer Ebene fruchtbar gemacht wird. Montans retardierend-dämonisches Wesen, seine anorganische Lebensform bildet einen in der Forschung bisher wenig beachteten Widerpart zur Geschichte von Wilhelms Entwicklung, Bildung und Werden. Mit Blick auf den Gegensatz zwischen organischem Werden sowie anorganischer Verhärtung, Zwecklosigkeit und Gleichgültigkeit, der das Verhältnis zwischen diesen beiden Figuren strukturiert, erscheint, so die These, auch die erzählerische Form der Wanderjahre in einem neuen Licht.

I. Die Wanderjahre beginnen auf der »Höhe des Gebirges«, an einem topischen Ort romantischer Naturästhetik: Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser, bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum schnell nach der Tiefe wendete. Die Sonne stand noch hoch und erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen Füßen. Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. (WJ, 263)15

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Goethe, Johann Wolfgang: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, in: ders.:Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985-2013. Abt. I: Sämtliche Werke, Bd. 10, hg. v. Gerhard Neumann, Frankfurt a.M. 1989, S. 575. Zitate aus den Wanderjahren werden mit Seitenzahl im Text mit der Sigle WJ angegeben. Vgl. Schwamborn, Claudia: Individualität in Goethes ›Wanderjahren‹, Paderborn 1997, S. 142-152; vgl. Naumann, Barbara: »Geistererscheinungen. Wiederholung und Symbolisierung in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.): Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Opladen 1998, S. 38-62.

Anorganische Form

Felix, der nach den Namen für Dinge und Wesen der Natur fragt, hat ein Stück Katzengold gefunden und Wilhelm erinnert sich nur mühsam an dessen Bezeichnung:16 »Ich weiß nicht«, lautet die erste direkte Rede in den Wanderjahren. Wilhelms Ratlosigkeit in Anbetracht anorganischer Materie macht deutlich, dass vom »Dechiffrieren« einer romantischen Allnatur, von fließenden Übergängen zwischen den Seinsbereichen, wie sie Novalis in den Lehrlingen zu Sais besingt, nicht mehr die Rede ist.17 Wilhelm ist folglich auch kein »Lehrer der Natur«18 und Felix’ prosaisches Katzengold weit entfernt von der Magie eines romantischen Karfunkels. Die anorganische Materie, die im Schatten dieser »mächtigen Felsen« zu finden ist, birgt daher auch nur falschen Schein und lässt kein »mächtiges rotes Licht« mehr erstrahlen.19 Dass es sich dabei um Pyrit handelt, ist dennoch entscheidend, da sich dieses Mineral durch häufige Zwillingsbildungen auszeichnet. Dadurch antizipiert der Pyrit das Ende des Romans, in dem Wilhelm und Felix mit dem Zwillingspaar Kastor und Pollux verglichen werden: »So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen«. (WJ, 745)20 Die Anfangsszene der Wanderjahre lässt sich zudem als ironischer Abgesang auf die ›Nachtseiten‹ romantischer Natur und Erzählungen von einsamen Männern an bedeutsamen Orten lesen. Vor allem auf Ludwig Tiecks Der Runenberg scheint Goethe in der Eröffnungsszene der Wanderjahre anzuspielen: Ein junger Jäger saß im innersten Gebürge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. Er bedachte sein Schicksal, wie er so jung sei, und Vater und Mutter, die wohlbekannte Heimat, und alle Befreundeten seines Dorfes verlassen hatte, um eine fremde Umgebung zu suchen, um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen, und er blickte mit einer Art

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Zur Eingangspassage vgl. Adler, Jeremy: »›Die Sonne stand noch hoch …‹. Zu Landschaft und Bildung in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe, München 1982, S. 222-239. Vgl. Novalis: »Die Lehrlinge zu Sais«, in: ders.: Schriften, Bd. 1: Das dichterische Werk, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1977, S. 71-115, hier S. 98f. Ebd., S. 109. Ebd., S. 106. Vgl. Schlaffer, Hannelore: Wilhelm Meister: Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980, S. 166-175.

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von Verwunderung auf, daß er sich nun in diesem Tale, in dieser Beschäftigung wieder fand.21 In Goethes Roman kehrt eine Vielzahl von Motiven aus Tiecks Erzählung wieder: der Jäger, der Waldbach, der Gesang, der Zusammenhang von Gold und Steinen,22 die freiwillige Entsagung, die Bergwerke sowie »Berge, Klüfte und Tannwälder«.23 In den Wanderjahren ist von der Faszination für das Gebirge, einem »Trieb« zu den Steinen nicht viel geblieben. Die ›Sprache der Steine‹ ist zumindest für Wilhelm nicht mehr zu verstehen.24 Goethes Abgesang auf die romantische Naturforschung scheint noch einmal an den Wahnsinn erinnern zu wollen, der den Protagonisten Christian im Runenberg ereilt, der weg vom Lebendigen und hin zur verhängnisvollen »Gesellschaft der Steine« geführt wird.25 Es ist das Anorganische, das Christians »Gemüt zerrüttet, und den verwüstenden Hunger nach dem Metall« in ihn »gepflanzt« hat:26 »Tag und Nacht sann ich und stellt mir hohe Berge, Klüfte und Tannenwälder vor, meine Einbildung erschuf sich ungeheure Felsen«.27 Insbesondere Christians Vater – ein Pflanzen und Blumen liebender Gärtner – fühlt sich für das Schicksal seines Sohnes verantwortlich, da er diesen nicht schon in frühen Jahren vom »Anblick des Gebirges hüten und bewahren« hatte können.28 Doch die Befürchtungen des Gärtners bewahrheiten sich: Christian wird am Ende »Christel«, der in organischen Wesen lediglich »Leichen vormaliger herrlicher Steinwelten« erkennt.29 Auch in den Wanderjahren ist das Anorganische mit dem Nicht-Wissen und mit der Erinnerung an den Wahnsinn und die Vereinzelung, die es im Runenberg auslöst, verbunden. Zugleich nimmt mit Montan eine dem Anorganischen zugewandte Figur eine zentrale Stellung ein, und auch Wilhelm hat einen Sohn, der eine »gewaltsame Neigung zum Gestein« (WJ, 287) entwickelt. Felix’ Fixierung auf das Gestein führt die Wanderer daher auch bald

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Tieck, Ludwig: »Der Runenberg«, in: ders.: Schriften, Bd. 6, Phantasus, hg. von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1985, S. 184-209, hier S. 184. Ebd., S. 207. Ebd., S. 187. Novalis: »Lehrlinge zu Sais« (Anm. 17), S. 101. Tieck: »Runenberg« (Anm. 21), S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 187. Ebd., S. 202. Ebd., S. 200.

Anorganische Form

zu einem bekannten Einsiedler im Gebirge. Bei der Durchsicht von Gesteinsproben wird Wilhelm klar, dass diese von seinem alten Wegbegleiter Montan stammen. Wilhelm macht sich mit Felix und dem »verdächtigen Knaben« namens Fitz auf die Suche nach dem Mann mit den »schönen Steinen« (WJ, 288).

II. Montan, vormals Jarno, ist für den Formzusammenhang des Wilhelm MeisterKomplexes eine intrikate Figur.30 Nachdem er in der Theatralischen Sendung und in den Lehrjahren zunächst nur den Status einer Nebenfigur innehat, ist er vor allem in den Wanderjahren sehr präsent.31 In den Lehrjahren tritt er zum ersten Mal im vierten Kapitel des zweiten Buches in Erscheinung. Die anderen Figuren wissen nicht recht, »was man aus dem Namen machen solle«.32 Jarno ist der natürliche Sohn und Berater des Fürsten, Mitglied der Turmgesellschaft, später heiratet er aus pragmatischen Gründen Lydie, als Lothario

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Zur Figur des Montan vgl. zuletzt insbesondere Müller, Klaus-Detlef: »Wilhelm Meisters Weg in ein tätiges Leben. Jarno als Mentor«, in: Goethe-Jahrbuch 133 (2016), S. 57-91. Vgl. Krehbiel, August R.: »Herder as Jarno in ›Wilhelm Meister‹, Book III«, in: Modern Philology 17.6 (1919), S. 325-329; Vgl. Azzouni, Safia: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ und die ›Hefte zur Morphologie‹, Köln 2005, S. 127f; Vgl. Blessin, Stefan: Goethes Romane: Aufbruch in die Moderne, Paderborn/München u.a. 1996, S. 331-341; Rohde, Carsten: »Ingenieursdenken und Sternenglaube. Natur und Naturwissenschaften in Goethes ›Wanderjahren‹«, in: Reulecke, Anne-Kathrin (Hg.): Von null bis unendlich. Literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens, Köln 2008, S. 177-180. Müller: »Wilhelm Meisters Weg« (Anm. 30), S. 90: »Er [Jarno, W.H.] ist aus einer Nebenfigur der Theatralischen Sendung über seine wichtige erkenntnislenkende und handlungsleitende Funktion in der Turmgesellschaft zur Schlüsselgestalt des Wissens und der Erziehung in den Wanderjahren hinaufgewachsen. Diesen Zugewinn verdankt er seiner scharfsinnigen Einsicht in die wechselnden Zeitverhältnisse vom Ancien Régime über die Revolutionszeit bis zur nachrevolutionären Moderne.« Goethe, Johann Wolfgang: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: ders.:Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer u.a., Frankfurt a.M. 1985-2013. Abt. I: Sämtliche Werke. Bd. 9, hg. v. Wilhelm Voßkamp und Hermann Jaumann, Frankfurt a.M. 1992, S. 355-993, hier S. 521. Zitate aus den Lehrjahren werden mit Seitenzahl im Text mit der Sigle LJ angegeben.

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diese verlässt. Er hat »etwas Kaltes und Abstoßendes« (LJ, 521), ein unverhältnismäßiges Lachen und spricht in Gleichnissen. Nach Schlegel fehlt es Jarno an »Einbildungskraft« und am »Sinn für das Höchste«, er habe nur einen »schlichte[n] trockene[n] Verstand«.33 Jarno äußert sich zudem despektierlich über Wilhelms Theorie und Praxis des Schauspiels, er verachtet die anderen Schauspieler, den Harfner und Mignon. (LJ, 553f.) Als Anreger und Kritiker Wilhelms weist er ihn auf die Werke Shakespeares hin, die einen Wendepunkt in Wilhelms Bildungsgeschichte markieren und ihn einsehen lassen, dass »es in der Welt anders zugehe, als er sich es gedacht«. (LJ, 540) Jarnos Ratschläge machen großen Eindruck auf Wilhelm, obwohl ihn Jarnos Kälte abstößt. Dessen Leitspruch lautet: »Ruhig und vernünftig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich.« (LJ, 934) Er wird Wilhelms Mentor und weist ihn wiederholt darauf hin, »in ein tätiges Leben überzugehen« (LJ, 553). Seine kritischen Fragen bedingen Szenen der Rekapitulation und der biographischen Rückschau und im gleichen Kapitel unter dem Eindruck Shakespeares entlockt Jarno Wilhelm dessen Lebensgeschichte zum ersten Mal: »Wilhelm konnte seinen Dank [für die Empfehlung Shakespeares] nicht genug ausdrücken, und war willig, seinem Freunde und Beschützer die ganze Geschichte seines Lebens zu erzählen.« (LJ, 553) Jarno fördert Vorgeschichtliches – für Wilhelm sowie den Leser – zu Tage.34 Er ist es, so Schiller am 9.7. 1796 an Goethe, der »durch seine harte und trockene Marnier« fähig ist, »eine Wahrheit heraus zu sagen, die den Helden sowie den Leser auf einmal um einen großen Schritt weiter bringt.«35 Im siebten Buch trifft Wilhelm seinen »alten Gönner« (LJ, 804) schließlich wieder und erneut bringt Jarno Wilhelm zum Erzählen des bisherigen Geschehens: Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei? Wilhelm erzählte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: es ist doch sonderbar, sehr sonderbar! (LJ, 805) Jarno selbst rekapituliert darauf seine bisherige Geschichte, die auf die Lebensform vorausdeutet, die er als Montan führen wird. Beim Zeitpunkt jenes 33

34 35

Schlegel, Friedrich: »Über Goethes Meister«, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. v. Hans Eichner, München 1967, S. 126-146, hier S. 138f. Vgl. Schlaffer, Heinz: »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«, in: Goethe Jahrbuch 95 (1978), S. 212-226, hier S. 220f. Schiller an Goethe am 9.7.1796, in: Emil Staiger (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, Frankfurt a.M. 2005, S. 250.

Anorganische Form

zweiten Wiedersehens zwischen ihm und Wilhelm ist er schon »kein Soldat mehr« und Seit der Zeit, daß ich Sie [Wilhelm, W.H.] nicht gesehen habe, hat sich vieles geändert. Nach dem Tode meines Fürsten, meines einzigen Freundes und Wohltäters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verhältnissen herausgerissen. Ich beförderte gern was vernünftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem bösen Maule zu reden. Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr, als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollte sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muß ihn bei Seite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter hören. Sie sollen Teil daran nehmen, wenn Sie mögen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? ich sehe, ich fühle Ihnen an, auch Sie haben sich verändert. Wie stehts mit Ihrer alten Grille, etwas Schönes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen? (LJ, 809f.) Auf Jarnos misanthropische Selbsterkenntnis und dessen »Menschenhaß« (LJ, 811) antwortet Wilhelm lediglich: »Ich bin gestraft genug! rief Wilhelm aus, erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe.« (LJ, 810) Doch Jarno wird als Montan in den Wanderjahren eben dies tun: Er wird Wilhelm an eine so bedeutsame wie traumatische Episode seines Lebens und damit auch an seine eigentliche Bestimmung zum Wundarzt erinnern. Jarno bzw. Montan ist somit mehr als eine Randfigur des Wilhelm MeisterKomplexes, da er Wilhelm ein ›Bewusstsein‹ für die Bedingungen der eigenen Lebensform und den damit verbundenen Entwicklungen ermöglicht.36 Jarno/Montan hält die »harmonische Ausbildung« Wilhelms immer wieder an, zwingt ihn zu Umwegen und unterbricht damit auch die erzählerische Darstellung des »Stufengang[s] der Lehrjahre«.37 Er figuriert das Prinzip des Retardierenden, einem jener Motive, die den »Gang aufhalten, oder den Weg verlängern«, wie Goethe und Schiller im Schema Über epische und dramatische Dichtung erläutern.38 Durch Montan wird das Verhältnis von Wilhelms fortlaufender Entwicklung und der latent fortwirkenden Vorgeschichte deutlich

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Vgl. Schlechta, Karl: Wilhelm Meister, Frankfurt a.M. 1985, S. 91. Schlegel: »Über Goethes Meister« (Anm. 32), S. 136. Vgl. Goethe, FA I, Bd. 18, S. 446.

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– mit seinem retardierenden Wesen stellt er eine Relation zwischen beiden Ebenen her.39 Diese retardierende Funktion macht Montan auch zu einer Figuration des Dämonischen, jener Kraft, die Goethe in der parallel zu den Wanderjahren entstehenden Autobiographie Dichtung und Wahrheit beschreibt.40 Das Dämonische ist für Goethe eine Kategorie der Kontingenz, die zwischen Göttlichkeit und Unvernunft oszilliert, eine Macht, die Ordnungen und Ordnungsversuche korrumpiert, Pläne durchkreuzt und zugleich die Möglichkeitsbedingung darstellt, zwischen Ereignissen einen »Zusammenhang« herzustellen.41 Es bildet »eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen«.42 Die »ungeheure Kraft« des Dämonischen tritt für Goethe vor allem an denjenigen Menschen hervor, die sich nicht durch »Herzensgüte« auszeichnen.43 Montans kalte Exzentrik und die starke Anziehung, die er auf Wilhelm ausübt, zeigen Züge des Dämonischen. Hinzu kommt, dass seine retardierende Funktion diesen Eindruck noch verstärkt, verbindet doch Goethe selbst in einem Gespräch mit Eckermann das Motiv des Retardierens mit dem Wirken des Dämonischen: »Immer sind die retardierenden Dämonen da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, so daß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam.«44 In eben dieser analeptisch-dämonischen Funktion wird Montan für Wilhelm in den Wanderjahren zu einer »ungeheuren Kraft«, denn er löst die umständliche Erzählung des Traumas vom Tod des Fischerknaben aus, die Einsicht in bisher verborgene Zusammenhänge und die Tatsache, dass seine bisherige Lebensform nur einen Umweg zur eigentlichen Bestimmung darstellte.

39 40

41 42 43 44

Vgl. dazu Zumbusch, Cornelia: »Nachgetragene Ursprünge: Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter)«, in: Poetica 43 (2011), S. 267-299. Vgl. dazu Zumbusch, Cornelia: »Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹«, in: Lars Friedrich/Eva Geulen/Kirk Wetters (Hg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, München 2015, S. 79-95. Goethe, FA I, Bd. 14, S. 839f.; Vgl. dazu Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, S. 504-566. Goethe, FA I, Bd. 14, S. 841. Goethe, FA I, Bd. 14, S. 841. Goethe, FA II, Bd. 12, S. 674.

Anorganische Form

Jarno/Montan ist somit Spiegelfigur und Gegenspieler Wilhelms zugleich.45 Als Gewordener, Sich-nicht-Entwickelnder kontrastiert er bereits in den Lehrjahren mit Wilhelms Entwicklung und bremst deren »immer vorwärts, niemals rückwärts« verlaufende Bewegung stellenweise aus.46 In den Wanderjahren wird die Bindung Wilhelms an Jarno/Montan sowie dessen analeptische Funktion noch deutlicher, indem er das Personal der Wanderer ergänzt und insbesondere Wilhelm zur autobiographischen Erzählung von dessen Vorgeschichte nötigt. Sein retardierend-dämonisches Wesen und seine Tendenz zur Vereinzelung entsprechen dem Entsagungsprogramm des Romans und steht im Widerspruch zu der präsentischen Lebensform der Wanderer: »Nun aber gehört zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die: daß sie, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch Künftigen sprechen durften, nur das Gegenwärtige sollte sie beschäftigen.« (WJ, 296) Für Montans enge Verbindung zur narrativen Form der Wanderjahre spricht die Präsenz seiner Stimme in den Aphorismensammlungen sowie die Tatsache, dass er es vielmehr ist, der Wilhelms novellistische Erzählung des ertrunkenen Fischerknaben auslöst. In seiner dämonisch-retardierenden Funktion wird Jarno/Montan damit für die a-teleologische, achronologische Erzählstruktur der Wanderjahre, jenem »Verband disparater Einzelheiten« (WJ, 860), zum entscheidenden Katalysator.47 Es überrascht daher kaum, dass der Morphologe Goethe einen dämonisch-retardierenden Charakter wie Montan mit dem Anorganischen in Verbindung bringt.

45

46 47

Vgl. dazu Westerhoff, Armin: »Schweigen und Verstummen in Goethes ›Wanderjahren‹«, in: Béatrice Dumiche (Hg.): Goethe als Neuerer und Vermittler, Essen 2003, S. 117123; vgl. Salmen, Christina: ›Die ganze merkwürdige Verlassenschaft‹. Goethes Entsagungspoetik in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹, Würzburg 2003, S. 104-112. Goethe, FA I, Bd. 9, S. 792. Vgl. Zumbusch: »Dämonische Texturen« (Anm. 40) S. 95: »Zum einen lassen sich die Wanderjahre als Unternehmen der Retardation deuten, in dem die eingeschobenen Erzählungen dem permanenten Aufschub der Handlung dienen. Die Verlangsamung macht sich vor allem als Aufschub eines Endes geltend, das als plötzliche Wendung immer nur vorläufig ist und seine Fortsetzung als Möglichkeit in sich enthält.« Vgl. auch Müller-Sievers, Helmut: »The Moment of Narration: Outlines for a Kinematic Study of Goethe’s ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: ders.: The Science of Literature. Essays on an incalculable Difference, Berlin/New York 2015, S. 219-226; Bez, Martin: Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Aggregat, Archiv, Archivroman, Berlin/New York 2013.

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III. Montan hat sich ins Gebirge zurückgezogen. In den Wanderjahren treffen sich Wilhelm, Felix und Fitz mit Jarno hoch oben auf einem Gipfel und setzen sich mit diesem »auf dem frühesten Gestein dieser Welt« (WJ, 289) nieder. Als Felix Jarno nach der Weltenbildung fragt, wird er lapidar auf die lange Dauer solcher Vorgänge verwiesen: »gut Ding will Weile haben«. (WJ, 289) Das anschließende Gespräch dreht sich um Jarnos Entschluss, »ein neues Leben zu beginnen« (WJ, 291), das sich mit dem »Allerseltsamste[n]« (WJ, 291) – den Steinen und dem Gebirge – beschäftigt. Jarno taucht in den Wanderjahren »seinem ganzen Wesen nach verhärtet und verschärft« wieder auf, seine Ironie hat sich in Zynismus und Sarkasmus verkehrt.48 Er hat sich gänzlich den Steinen zugewandt, die sich einem hermeneutischen Zugang versperren und »nicht zu begreifen« sind. (WJ, 291) Jarnos neues Leben in den Wanderjahren ist aber zugleich die Fortsetzung eines längst begonnenen, denn die Begeisterung für das Anorganische entpuppt sich als kindliche Prägung, da er von einem Bergbeamten erzogen wurde. Durch die Wiederentdeckung der eigenen Vorgeschichte erscheint er »wieder behaglich und verjüngt«. (WJ, 297) Jarno ist ein Entsagender, ein Enttäuschter und Verstummter: Die Menschen wollt’ ich meiden. Ihnen ist nicht zu helfen, und sie hindern uns, daß man sich selbst hilft. Sind sie glücklich, so soll man sie in ihren Albernheiten gewähren lassen; sind sie unglücklich, so soll man sie retten, ohne diese Albernheiten anzutasten; und niemand fragt jemals, ob du glücklich oder unglücklich bist. (WJ, 291) Jarno wird in dieser regressiven Verhärtung zur Kontrastfigur Wilhelms, der »immer nur im menschlichen Herzen den wahren Schatz gesucht« (WJ, 296) hatte. Er hat sich in der stummen Unbegreiflichkeit des Anorganischen eingerichtet, dem, was sich »nur um seiner selbst willen« studieren lässt. In einer von ihm so bezeichneten »Zeit der Einseitigkeiten« gilt es, die eigene Beschränktheit anzuerkennen und in diesem Sinne auf andere Menschen einzuwirken: Sich auf ein Handwerk zu beschränken ist das beste. Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst sein, und der beste, wenn er Eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem

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Vgl. Schlechta: Wilhelm Meister (Anm. 36), S. 93.

Anorganische Form

Einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird. (WJ, 295) Auf eine Synthese von Denken und Handeln kommt es Montan an, auf eine Lebensform, die »das Glück herbeiruft, um es zu regeln.« (WJ, 536) Eine solche radikale Lebensform ist mit der Vergemeinschaftung, der Pädagogisierung, der Modernisierung, Kollektivierung unverträglich, denn »jeder weiß nur für sich, was er weiß, und das muß er geheim halten« (WJ, 535). Als Gewordener erinnert Montan Wilhelm an dessen Werden und die Ausrichtung seiner Fähigkeiten auf den einen, der Allgemeinheit dienlichen Zweck. Diese Rolle Montans zeigt sich besonders in dem Gespräch in der Hütte des Köhlers. Begleitet vom Wolfsgeheul und Hundegebell der Kinder besprechen Wilhelm und Montan einmal mehr ihre jeweiligen »Zustände« (WJ, 296). In den Gleichnissen, die Montan für sich und Wilhelms Lebensform findet, kommt die Differenz zwischen dem Organischen und dem Anorganischen noch einmal ganz deutlich zum Einsatz. Montan ist der eigenen Einschätzung nach in seiner Beschäftigung mit den Steinen zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgekehrt. Die Kohleherstellung wird ihm zum »Gleichnis« seiner Existenz: [I]ch halte mich für einen alten Kohlenkorb tüchtig büchener Kohlen, dabei aber erlaub’ ich mir die Eigenheit, mich nur um mein selbst willen zu verbrennen, deswegen ich denn den Leuten gar wunderlich vorkomme. (WJ, 298) Für Wilhelms Lebensform findet Montan zugleich ein Bild aus dem Bereich des Organischen. Montan bezeichnet Wilhelm als »Wanderstab«, der »die wunderliche Eigenschaft hat, in jeder Ecke zu grünen, wo man ihn hinstellt, nirgends aber Wurzel zu fassen« (WJ, 298). Daraufhin zieht Wilhelm ein Arztbesteck hervor: Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah, und von Montan als ein altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaßen von dessen Besitz ab. (WJ, 299) Ausgehend davon entwickelt sich ein Gespräch über Wilhelms Bezug zu diesem »Fetisch« (WJ, 299): Wilhelm erzählt das Erlebnis vom ertrunkenen Fi-

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scherknaben. Diese Vorgeschichte, die Wilhelms Fixierung plausibilisieren soll, spart der Erzähler an dieser Stelle aus, um zugleich auf ein kommendes Ereignis zu verweisen: Was es aber gewesen war, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch nicht vertrauen, soviel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei, einem gewissen besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu widmen, vorausgesetzt, Montan werde sich bei den Verbündeten dahin verwenden, daß die lästigste aller Lebensbedingungen, nicht länger als drei Tage an einem Orte zu verweilen, baldigst aufgehoben und ihm vergönnt werde, sich zu Erreichung seines Zweckes da oder dort, wie es ihm belieben möge, aufzuhalten. (WJ, 299) Montan bewirkt damit Wilhelms Einsicht in seine praktische Bestimmung und verspricht ihm bei deren Verwirklichung zu helfen. Durch Montans Einwirkung erzählt Wilhelm am Übergang vom zweiten zum dritten Buch der Wanderjahre seine Vorgeschichte, eine seiner »frühesten Jugendgeschichten« (WJ, 542), die er später niederschreiben und die dem Leser in Wilhelms Brief an Natalie nachgereicht wird.49 Wilhelm kommt in einem Brief dabei vom »Allgemeinsten« zum »Wunderliche[n]«. (WJ, 541) Wilhelms tragische Erinnerung ist zeitlich enthoben und spielt sich an ländlich-idyllischen Schauplätzen ab.50 Bei einem Ausflug zu Pfingsten eröffnet sich dem Stadtkind Wilhelm eine »freie, weit ausgebreitete Welt«. (WJ, 543) Er lernt bei diesem Aufenthalt den »Sohn des Fischers« (WJ, 544) kennen, der ihm in einer homoerotischen Szene als ideale Verkörperung des Schönen erscheint und wenig später beim Krebstauchen stirbt. In seinem Brief an Natalie ordnet Wilhelm dieses Erlebnis zugleich als hochgradig bedeutend für sein weiteres Leben ein: Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen: daß im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige was uns nachher zu den Sinnen kommt nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln. (WJ, 546) 49

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Vgl. Siegert, Bernhard: »Leichenschau zwischen Kunst und Medizin. Goethe und Hufeland«, in: Ernst Osterkamp (Hg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Frankfurt a.M. 2002, 211-229. Vgl. dazu auch Schlaffer: Wilhelm Meister (Anm. 20), S. 132.

Anorganische Form

Agitiert durch Adolfs Ertrinken setzt sich Wilhelms Vater für größere öffentliche Sicherheitsvorkehrungen ein, um vor »Hagelschlag, Wasserfluten und Brandschäden« (WJ, 552) zu schützen. Durch das Mithören eines Gesprächs über die »Wiederbelebung der für tot Gehaltenen« (WJ, 552) entsteht Wilhelms immer wieder aufgeschobener Wunsch, die Technik des Aderlasses zu erlernen, die den Fischerknaben hätte retten können. Von daher rührt Wilhelms Fetisch des Arztbestecks, den Montan nun als Zeichen für Wilhelms soziale Bestimmung erkennt und auf deren Verwirklichung er drängt.51 Montan löst in diesem Gespräch aber nicht nur »eine der frühesten Jugendgeschichten« Wilhelms aus, er ist zugleich auf intrikate Weise mit dem Inhalt der »umständlichen Erzählung« (WJ, 552) verbunden.52

IV. Exkurs: Wiederholung und Wiederkehr Montans analeptische Funktion führt nicht nur zur Erinnerung an die entscheidende Vorgeschichte des Wilhelm Meister-Komplexes, die noch vor Wilhelms Wunsch, Schauspieler zu werden, zurückreicht. Die Figur des Montan deutet namentlich auf noch weiter entfernte Zeiten, Schauplätze und Zusammenhänge hin, die aber für ein Verständnis von Wilhelms Berufung zum Wundarzt und die erzählerische Form der Wanderjahre entscheidend sind. Der Name Montan verweist auf die Figur des Montanus aus Guarinis Il Pastor Fido, der 1589/90 entstandenen tragicommedia pastorale, an die sich Wilhelm schon in den Lehrjahren erinnert: Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine 51

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Vgl. Saße, Günter: »›Die Zeit des Schönen ist vorüber‹. Wilhelm Meisters Weg zum Beruf des Wundarztes in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹«, in: IASL 26 (2001), S. 72-97, hier S. 77. Ein Forschungsüberblick zur ›Fischerknaben-Szene‹ findet sich bei Herwig, Henriette: Das ewig Männliche zieht uns hinab: ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹. Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie, 2. Aufl., Tübingen/Basel 2002, S. 22f.; vgl. dazu auch Böhme, Hartmut: »Eros und Tod im Wasser – ›Bändigen und Entlassen der Elemente‹. Das Wasser bei Goethe«, in: ders. (Hg.), Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt a.M. 1988, 208-233, zuletzt Zumbusch, Cornelia: »Fest und Flüssig. Liquidierung der Form in Goethes ›Pandora‹«, in: Sabine Schneider/Juliane Vogel (Hg.), Epiphanie der Form, Göttingen 2018, S. 36-58, hier S. 46-50.

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frühsten Jungendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt, alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem Pastor fido vor, die an diesen einsamen Plätzen scharenweis seinem Gedächtnisse zuflossen.53 Goethe selbst kennt das Stück seit seinem Studium und auch während der Arbeit an den Wanderjahren taucht der Pastor Fido wieder auf.54 In einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1824 erzählt Goethe von einer Aufführung von Rossinis Tancredi im Weimarer Hoftheater. Unerfreut über die »Helme, Harnische, Waffen und Trophäen« der Bürgerkriegsszenerie, erträumt sich Goethe – wie einst Wilhelm im Gebirge – eine pastoral-arkadische Kulisse:55 Ich half mir aber gleich und verwandelte die Vorstellung in eine favola boschareccia, ungefähr wie der Pastor Fido. So putzte ich mir auch das Theater heraus, da waren Poussinische und anmutige Landschaften, stutzte die Personen zusammen, ideele Hirtin und Hirten wie in Daphnis und Chloe, sogar an Faunen fehlte es nicht, und nun war wirklich nichts auszusetzen weil die hohle Prätention einer heroischen Oper wegfiel.56 Guarinis Pastor Fido, zwischen 1570 und 1580 entstanden und als Gegenentwurf zu Torquato Tassos Aminta (1573) konzipiert, zeichnet sich durch eine komplizierte Verschachtelung von Handlungssträngen und durch die Profanierung des bukolischen settings aus, was insbesondere in den grausam-komischen Opferhandlungen ersichtlich wird. Der Pastor Fido unterläuft aristotelische Einheitsvorstellungen und beinhaltet eine Vielzahl an Personal und

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Goethe, FA I, Bd. 9, S. 439. An seine Schwester schreibt Goethe am 6. Dezember 1765: »Im Ital. Den Pastor fido doch der ist manchmahl schwer, laß dir ihn vom Vater erklären.« Vgl. Goethe, FA II, Bd. 1, S. 30. Vgl. auch Nelting, David: »(Un)Ordnungen Arkadiens in Spätrenaissance und Frühbarock: Zu Konstruktion und Destruktion von Ordo bei Torquato Tasso und Battista Guarini«, in: Marc Föcking/Bernhard Huss (Hg.): Varietas und Ordo. Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock, Stuttgart 2003, S. 114-131; Sampson, Lisa: Pastoral Drama in Early Modern Italy. The Making of a new Genre, London 2006, S. 129-169; Perella, Nicolas: »Fate, Blindness and Illusion in the Pastor fido«, in: Romanic Review 49 (1958), S. 253-268. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u.a. Bd. 20.1, Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hg. von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm, München 1991, S. 825.

Anorganische Form

Chören, deren Verstrickungen und Wirken nur durch einen Prolog nachvollziehbar bleibt. Guarinis überaus einflussreiche und durch die zahlreichen Übersetzungen in ganz Europa populäre Pastorale spielt insbesondere für die romantische Literaturgeschichtsschreibung eine wichtige Rolle. August Wilhelm Schlegel hat mehrere Szenen aus dem Pastor Fido übersetzt und ein Sonett verfasst, das den Inhalt des Stücks zusammenfasst. Seinem Bruder Friedrich Schlegel gilt der Pastor Fido als Werk, in dem »romantische[r] Geist und die klassische Bildung zur schönsten Harmonie […] verschmelzen«:57 Seine Tendenz geht […] zuerst und zuletzt auf idealische Schönheit, auf Enthusiasmus für diese und auf die Fülle der Harmonie, nicht auf eine in der Tiefe oder Leichtigkeit unübertreffliche Darstellung und Virtuosität in dieser. Daher die klassische Würde und Anmut, die harmonische Bildung seiner Sprache und Form, wonach Tasso nur strebte. Was man auch für das Gegenteil sagen mag, er ist ohne Vorgänger gewesen und ohne Nachfolger geblieben, steht einzig und allein da in der italiänischen Poesie.58 In Bezug auf die Wanderjahre ist vor allem die Figur Montanus interessant, der in Guarinis Arkadien die Rolle des Opferpriesters am Altar der Diana innehat. Montanus ist unglücklich, weil er glaubt, bei einer Überschwemmung vor 19 Jahren seinen Sohn verloren zu haben, der in den Fluten ertrunken sein soll. Immer wieder spricht Montanus von diesem schrecklichen Erlebnis: Du erinnerst dich wohl noch jener thränenreichen Nacht, o wer unter uns hätte sie schon vergessen können! als der aufgeschwollene Ladon die Ufer dergestalt durchbrach, daß die Fische da schwommen, wo sonst die Vögel genistet, und das fortreissende Wasser Menschen und Thiere, Ställe und Vieh in einer Fluth mit sich nahm. In eben der Nacht, o schmerzhafte Erinnerung, verlohr ich mein Herz, oder vielmehr was mir lieber als das Herz war, ein ganz junges Kind noch in Windeln, damals meinen einzigen und von mir todt und lebend einzig geliebten Sohn.59 57 58

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Vgl. Olschki, Leonardo:G.B. Guarinis Pastor Fido in Deutschland. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Leipzig 1908, S. 21-15. Schlegel, Friedrich: »Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio«, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. von Hans Eichner, München 1967, S. 391f. Guarini, Battista: Der treue Schäfer. Ein Schäferspiel aus dem Italiänischen des Battista Guarini, übersetzt von Johann George Scheffner, Mietau 1773, S. 39; vgl. Guarini, Battista: Opere, hg. von Marziano Guglielminetti, Turin 1971, S. 503f.: »Io credo ben ch’abbi memoria (e quale/sì stupido è tra noi, ch’oggi non l’abbia?)/di quella notte lagrimosa,

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Montanus selbst weiß aber nicht, dass Mirtrillo eben nicht in den Fluten umgekommen ist, sondern von Hirten aufgezogen wurde. In der Nacht der Überschwemmung wurde er von dem Diener Dameta an den Hirten Carino übergeben, da ein Orakel prophezeit hatte, dass Montanus seinen eigenen Sohn töten werde. Am Ende des Stücks begegnen sich Vater und Sohn wieder und das Orakel scheint sich doch zu bewahrheiten, denn Montanus soll seinen Sohn opfern. Nur durch die Intervention des blinden Wahrsagers Tirenio, der die verschiedenen Orakelsprüche günstig auslegt, wird die Tötung Mirtillos nicht vollzogen. Am Ende fügen sich die vielen Handlungsstränge glücklich zusammen und die Götter erwarten in Arkadien keine Menschenopfer mehr: die »Zeit der Rache und des Zorns ist vorbei, jetzt ist die Zeit der Gnade und Liebe.«60 Dass Goethe Guarinis Pastor fido in den Lehr- und Wanderjahren aufgreift, Wilhelm die Pastorale auswendig kennt, ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen erweist sich damit der Schauplatz, an dem sich Wilhelms prägende Begegnung und der tragische Verlust des Fischerknaben abgespielt hat, als arkadischer.61 So evoziert Wilhelms Erinnerung einen »ländliche[n] Zustand«, der doch »höherer Art« (WJ, 545) ist. Diese geistige Idylle, die Wilhelm seit seinen »frühsten Jugendträumen« anzieht, ist eine paradiesische Gegenwelt, in der Empfindsamkeit und Muße über der Arbeit stehen. Die pathetische Schönheit dieser Landschaft bleibt im Wissen um ihre Vergänglichkeit ambivalent.62 Diese Merkmale treffen auch noch auf das Arkadien in Guarinis Pastor Fido zu, wo am Ende des vierten Akts der Chor der Hirten singt:

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quando/il tumido Ladon ruppe le sponde,/sì che là dove avean gli augelli il nido/notaro i pesci, e in un medesmo corso/gli uomini, e glo animali,/e le mandre, e gli armenti/trasse l’onda rapace./In quella stessa notte/(oh dolente memoria!) il cor perdei,/anzi quel che del core/m’era più caro assai,/bambin tenero in fasce,/unico figlio allora, e da me sempre/e vivo, e morto unicamente amato«. Guarini: »Der treue Schäfer« (Anm. 59), S. 283; Guarini: Opere (Anm. 59), S. 701: »Non è più tempo di vendetta e d’ira/ma di grazia e d’amore«. Vgl. dazu Brandt, Reinhard: Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung, Freiburg i.Br. 2005, S. 113-129; Buschendorf, Bernhard: Mythische Denkform – Zur Ikonographie der ›Wahlverwandtschaften‹, Frankfurt a.M. 1986, S. 66-123. Vgl. dazu Snell, Bruno: »Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft«, in: Antike und Abendland 1 (1945), S. 26-41; Petriconi, Hellmuth: »Das neue Arkadien«, in: Antike und Abendland 3 (1948), 187-200; Maisak, Petra: Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt, Frankfurt a.M. 1981.

Anorganische Form

O goldne schöne Zeit, als Milch die Speise,/Der Busch, von dessen zarten Knospen sich,/die unberührten Heerden labten,/Der jungen Welt kunstlose Wiege war;/Als sie noch keine Furcht für Gift und Stal empfang:/Da hing der dunkle stürmische Gedanke noch keinen Schleyer vor der Sonne ewges Licht,/Doch jetzt hat die Vernunft,/Die unter dem Gewölk der Sinne friert,/Der Himmel uns verschlossen, Und Wanderer ziehn seitdem nach fremden Ländern, Unruhig schwankt die Fichte auf dem Meer.63 Die bukolische Landschaft und das damit einhergehende arkadische Bewusstsein bilden die Folie für Wilhelms Erinnerung, die sich nicht in der »alten, ernsten Stadt« (WJ, 542) abspielt, sondern »in’s Freie« (WJ, 542) und zu einem Fluss führt. Dem Stadtkind Wilhelm öffnet sich dabei zum ersten Mal eine »freie, weit ausgebreitete Welt« (WJ, 543): Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknopsen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende Weiß der Baumblüte, alles gab uns den Vorgeschmack glücklicher paradiesischer Stunden. (WJ, 543) Der Schauplatz von Wilhelms erotischer Begegnung mit Adolf trägt Züge eines locus amoenus und steht damit im Zeichen der arkadischen Freizügigkeit, in der »Flüsterworte, Liebkosungen und zärtliche Küsse« auf der Tagesordnung stehen.64 Die »feurigen Küsse« (WJ, 545), die die beiden Jungen dort austauschen und der »Abschiedskuss« (WJ, 549), den Wilhelm dem Toten gibt, verweisen nicht nur auf den topos des Liebensgartens, sondern auch auf den sogenannten Kusswettstreit im zweiten Akt des Pastor Fido. Damit fügt sich auch die Rede von einer »Originalnatur« in das arkadische Passepartout ein. Wilhelms Verlust des »eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinns« durch den Tod Adolfs, die schmerzliche Einsicht, dass nach diesem »Aufblühen der Außenwelt« nur noch Abglanz zu erwarten ist, ist Ausdruck eines arkadischen

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Vgl. Guarini: »Der treue Schäfer« (Anm. 59), S. 228; Guarini: Opere (Anm. 59), S. 657: »Oh bella età de l’oro,/quanda’era cibo il latte/del pargoletto mondo e culla il bosco;/e i cari parti loro/godean le gregge intatte,/né temea il mondo ancor ferro né tòsco!/Pensier torbido e fosco/allor non facea velo/al sol di luce eterna./Or al ragion, che verna/tra le nubi del senso, ha chiuso il cielo,/ond’è che il peregrino/va l’altrui terra, e’l mar turbando il pino.« Petriconi: »Das neue Arkadien« (Anm. 62), S. 193; vgl. Maisak: Arkadien (Anm. 62), S. 4050; vgl. Buschendorf: Mythische Denkform (Anm. 61), S. 89-108.

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Bewusstseins, die topische Klage über die Unwiederbringlichkeit des Eigentlichen und des Schönen.65 Neben der arkadischen Grundierung der Fischerknaben-Episode weist auch die finale Anagnorisis zwischen Montanus und Mirtillio Ähnlichkeit mit dem Ende der Wanderjahre auf. Montanus’ Rettung des eigenen Sohnes vor dem Opfertod und die Tilgung des Traumas vom ertrinkenden Sohn wird durch Wilhelms Rettung von Felix aus dem Fluss im letzten Kapitel der Wanderjahre wiedergespiegelt. Während Montanus’ Trauma des ertrunken geglaubten Sohnes sich nur durch eine komplizierte Verkettung von Zufällen auflöst, überwindet Wilhelm in der finalen Rettung des Sohnes sein Trauma durch die zweckmäßige Anwendung seiner »Fähigkeiten und Fertigkeiten« (WJ, 555) selbst.66 An diesem wie an jenem Ende liegen Vater und Sohn sich in den Armen und es wird der »mitleidige Himmel durch den Lebenden den Verlust des Todten ersetzen«.67 Wilhelm ist zur rechten Zeit an der richtigen Stelle, führt den Aderlass durch, und Felix kehrt zurück ins Leben: Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: »Wenn ich leben soll, so sei es mit dir!« Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Retter um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen. (WJ, 744f.) Der gerettete und zugleich wiedergefundene Felix, der bereits in den Lehrjahren als »Ersatz« für den Verlust der »geliebten Mutter«68 Marianne einstehen musste, ermöglicht es Wilhelm, den verlorenen Fischerknaben Adolf wiederherzustellen und das zuvor Versäumte endlich zu tilgen. Das Trauma Wilhelms, das in der Rettung des eigenen Sohnes überwunden wird und seine Berufung zum Wundarzt festlegt, erweist sich somit als ›Wiederbelebung‹ eines arkadischen topos aus Guarinis Pastor Fido – demjenigen Stück, das Wilhelm seit seiner Jugend auswendig kennt und das die verklärende Darstellung 65 66 67 68

Vgl. Auer, Michael E.: »›Originalnatur‹ in ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: German Studies Review XXXXII.3 (2009), S. 637-651, hier S. 639f. Vgl. dazu grundlegend Empson, William: Some Versions of Pastoral, New York 1974, S. 2789. Guarini: »Der treue Schäfer« (Anm. 59), S. 40; Guarini: Opere (Anm. 59), S. 504: »Forse nel vivo il ciel pietoso ancora/ristorerà la perdita del morto.« Goethe, FA I, Bd. 9, S. 950.

Anorganische Form

seiner Vorgeschichte in seinem Brief an Natalie maßgeblich prägt. Die erzählerische Form von Wilhelms Lebensgeschichte findet ihren eigentlichen Anfang (Tod des Fischerknaben) und ihr Ende (Felix’ Rettung) im mythologischpastoralen Stoff des Pastor fido.69 In einem Roman, der nach dem formalen Prinzip der »Spiegelung und des Wiederscheins« (WJ, 860) konzipiert ist, erweist sich auch der vermeintliche Anfang der Lebens- und Ausbildungsgeschichte des Protagonisten, samt der Einsicht in die Unwiederbringlichkeit einer »Originalnatur«, als Kopie, Wiederholung und Umschrift. Dass die von Wilhelm »umständlich« und sehr spät nachgelieferte Vorgeschichte eine Variation eines literarischen topos ist, überrascht angesichts der Poetik der Wanderjahre nicht, liegt doch – so ist in Makariens Archiv nachzulesen – literarische Originalität in der Fähigkeit origineller Umschrift: Die originalsten Autoren der neusten Zeit sind es nicht deswegen, weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein, weil sie fähig sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären gesagt gewesen. (WJ, 772)

V. Doch noch einmal zurück zu Montan und Wilhelm. Unmittelbar vor Wilhelms Bekenntnissen aus Arkadien hat Montan auf dem Bergfest im neunten Kapitel einen großen Auftritt. Der Schauplatz ist eine »Erscheinung« und mit diversen Lichtern geschmückt, die an einen »Vulkan« (WJ, 532) denken lassen: [D]iese Lichter, die bei Tag und bei Nacht im ganzen Jahre unter der Erde leuchten und wirken und die Fördernis versteckter, kaum erreichbarer irdischer Schätze begünstigen, diese quellen und wallen gegenwärtig aus ihren Schlünden hervor und erheitern die offenbare Nacht. (WJ, 532) Schließlich trifft Wilhelm auf Jarno, der ihn über seine Umbenennung in Montan unterrichtet. Nach dem Essen beginnt unter den anwesenden Gästen ein »ortsgemäßes Gespräch«, das sich um die »Erschaffung und Entstehung der Welt« (WJ, 533) dreht und zu einem heftigen Streit führt. Der Erzähler 69

Vgl. dazu Zumbusch, Cornelia: »›beschädigt und wiederhergestellt‹. Kompensationslogik und Romanform in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹«, in: DVjs 88/1 (2014), S. 321, hier S. 21.

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gibt fünf Ansichten wieder, angefangen mit der Mehrheitsmeinung bis hin zur Meinung »zwei oder drei stiller Gäste«, deren »kühle Betrachtung« (WJ, 534) keinen Anklang findet: Man hielt es ungleich naturgemäßer die Erschaffung einer Welt mit kolossalem Krachen und Heben, mit wildem Toben und feurigem Schleudern vorangehen zu lassen. Da nun übrigens die Glut des Weines stark mit einwirkte, so hätte das herrliche Fest beinahe mit tödlichen Händeln abgeschlossen. (WJ, 534) Wilhelm wird durch diese Rede »verwirrt und verdüstert« und hat »noch von alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche funfzehn Ellen über die höchsten Gebirge gestanden« (WJ, 534) im Sinn. Schließlich bespricht er am nächsten Morgen den Sachverhalt mit Montan, der am Abend zuvor selbst für verschiedene Standpunkte argumentiert hat, ohne seine eigene Meinung preiszugeben: »Wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf gesprächig zu sein« (WJ, 535), lautet dessen schlichte Antwort. Die Entstehung der Gebirge ist für Montan nicht mehr von Interesse: »Wie diese Gebirge hier entstanden sind, weiß ich nicht, will’s auch nicht wissen; aber ich trachte täglich, ihnen ihre Eigentümlichkeit abzugewinnen.« (WJ, 536) In Montans Desinteresse an kosmogenetischen Fragestellungen spiegelt sich auch Goethes eigene Abkehr von dieser Thematik, die ihn fast das gesamte erste Weimarer Jahrzehnt eingenommen hatte. Das Anorganische ist für den Goethe zur Zeit der Wanderjahre verstummt. In der ironisch gebrochenen Diskussion über die Modalitäten der Erderschaffung, unter der »Glut des Weines« (WJ, 534) verkommt der für Goethes frühere Naturforschung so bedeutsame Sachverhalt zu einem Stammtischthema. Berge geben uns wohl den Begriff von Naturgewalt, nicht aber von Wohltätigkeit der Vorsehung. […] Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein Menschenfreund sie preisen! (WJ, 762) Das Anorganische erscheint in den Wanderjahren als ein ungeheuerlicher und hermetischer Bereich jenseits lebenswissenschaftlichen Wissens und hat dort, wo das »Leben am besten durch das Lebendige belehrt« (WJ, 764) wird, nur eine scheinbar untergeordnete Funktion. Die Steine, Gebirge und anorganischen Formen sind für den späten Goethe (sowie den Wilhelm)

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eigentümlich und schlichtweg »nicht zu begreifen« (WJ, 291). In dem lebenswissenschaftlich dominierten Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts, der auf normative Weise Kunst, Freiheit und Staatsmodelle mit Lebendigkeit auflädt, markiert es eine unwirkliche und formlose Sphäre, die jenseits der Erforschung, Beherrschung und Regierung des Lebendigen zu liegen scheint. Das Anorganische ist damit die lediglich inhaltlose Schattenseite einer vitalistischen Vernunft, die an der Schwelle zur Moderne primär das ›Leben‹ zu denken versucht:70 »Was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht.«71 In solchen Sätzen spricht sich eine Überzeugung Goethes aus, die sich insbesondere im Lauf der 1810er Jahre verfestigt. Goethe unterscheidet dezidiert anorganische Formwerdungsprozesse von denen des Lebendigen, weshalb auch die gleichnishafte Übertragung auf das Leben und Lebensformen nur tödlich enden kann. Obwohl die Figuren in Die Wahlverwandtschaften zwar davon ausgehen, dass »der Mensch doch um manche Stufe über jene Elemente erhöht« steht,72 erkennen sie in den »ganz leblosen Dingen«73 doch allerlei »Menschen« und »Sozietäten«, letztlich und fatalerweise sich selbst. Der Determinismus der anorganischen Materie bestimmt zugleich den katastrophalen Verlauf der Handlung, er rafft pflanzenhafte Wesen wie Ottilie dahin, durchkreuzt deren sukzessives Fortschreiten.74 Dort, wo die morphologische Vernunft kaum hinreicht, hat das Leben nichts zu suchen und es tut gut daran, sich im Leblosen nicht zu spiegeln: Man muß diese totscheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer,

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Zur Normativität des Lebendigen am Anfang der Moderne vgl. Canguilhem, Georges:Das Normale und das Pathologische, übersetzt von Monika Noll und Rolf Schubert, Berlin 2012; Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, übersetzt von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2006. Goethe, FA I, Bd. 25, S. 119. Goethe, FA I, Bd. 8, S. 305. Goethe, FA I, Bd. 8, S. 300. Vgl. Zumbusch, Cornelia: »The Metamorphoses of Ottilie: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ and the Botany of the Eighteenth Century«, in: European Romantic Review 28 (2017), S. 7-20.

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unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.75 Einzig der eigentümliche Montan hat sich im Anorganischen eingerichtet und verkörpert in seiner Schweigsamkeit, Exzentrik und Asozialität jene Charakteristika, die Goethe dem Nicht-Lebendigen zugeschrieben hat. Doch auch wenn er bereits namentlich einen Bereich figurieren soll, der dem Werden, dem Sich-Entwickeln und dem Bilden zuwiderlaufen soll, so erweist er sich in seiner retardierend-analeptischen Funktion für die Form des Romans und die Lebensform des Protagonisten als überaus wichtig. Erst vor dem Hintergrund und mit Hilfe der versteinerten Existenz Montans wird Wilhelms Fortgang und Entwicklung ersichtlich. Das Verhältnis des versteinerten Montan und des Protagonisten Wilhelm, der an jeder Stelle »grünen« kann, zeigt die nicht zu tilgende Dialektik zwischen dem Organischen und dem Anorganischen, die Durchkreuzung einer Grenze, die von der morphologisch-vitalistischen Vernunft um 1800 errichtet wurde.76 Montans entsagende, vom Leben abgekoppelte Existenz erinnert an die Rückseite einer auf Reproduktion, Bildung und Entwicklung ausgerichteten Lebensform.77 Montan stellt vitalistische Prämissen – »was fruchtbar ist, allein ist wahr« (WJ, 586) – in Frage, er existiert um seiner selbst willen, ohne einem höheren Zweck dienen zu wollen. In Montans Selbstbeschreibung als Kohlenkorb, der sich »nur um [s]einer selbst willen« verbrennt, deutet sich eine ästhetische Zwecklosigkeit an, mit der das Anorganische seit der Romantik belegt wird.78 In seinem dämonischretardierenden Wesen erweist sich Montan als unerlässlich für die unförmige Struktur und das analeptische Formprinzip des Romans. Auch wenn sich der Roman durch Richtungslosigkeit auszeichnet, er »Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes« (WJ, 863) enthält, lässt sich das, was darin ›Leben‹ heißt, nicht ohne ihren Widerpart erzählen.

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Goethe, FA I, Bd. 8, S. 305f. Vgl. dazu auch Butler, Judith: »Der unorganische Leib beim frühen Marx: Ein Grenzbegriff des Anthropozentrismus«, in: dies.: Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand, übers. v. Michael Adrian u. Bettina Engels, Konstanz 2019, S. 27-73, hier S. 32. Vgl. Geulen, Eva: »Betriebsgeheimnisse der ›Pädagogischen Provinz‹ in Goethes ›Wanderjahren‹«, in: ZMK 1 (2010), S. 33-50. Vgl. dazu Menke, Christoph: »Leben ohne Zweck«, in: Internationales Jahrbuch für philosophische Anthropologie 5 (2015), S. 149-158.

Ornamentaler Realismus Zur Poetik der reinen Prosa bei Adalbert Stifter Nicolas Pethes

I. Die Aufmerksamkeit für Formfragen in Ästhetik und Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts schreibt sich von der Kritik des Mimesiskonzepts im Rahmen einer genieästhetisch modellierten Autonomieästhetik her: Kunst kann sich als Kunst nur in Abgrenzung zur vorgefundenen Wirklichkeit oder Natur bestimmen und ist mithin nicht als deren Nachahmung, sondern als Transformation zu konzipieren. Diese Position prägt gerade auch Programme des literarischen Realismus, was sich etwa an deren Distanznahme zur neuen Abbildtechnologie der Photographie zeigt – wiewohl selbst im Falle einer solchen ›Realaufzeichnung‹ Aspekte wie Kameraperspektive oder Kadrierung als selegierende und also formgebende Operationen zu konstatieren sind.1 Wenn Stendhal den Roman in Le Rouge et le Noir (1830) als den notorischen »Spiegel« bezeichnet, »der sich auf einer Landstraße bewegt« und sowohl das »Blau des Himmels« als auch den »Schlamm und die Pfützen des Weges« reflektiert, dann metaphorisiert er nicht nur die Position einer anti-idealistischen Ästhetik, wie sie zeitgleich etwa auch von Georg Büchner vertreten wird,2 1 2

Vgl. Plumpe, Gerhard: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990. Vgl. Bauer, Matthias: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 71. Stendhals Forderung »Klagen Sie lieber die Straße an, auf der sich die Pfütze befindet, oder besser den Straßeninspektor, der das Wasser sich aufstauen und die Pfütze sich bilden ließ«, nimmt dasjenige Argument vorweg, mit dem Büchner im Brief an seine Familie vom 27. August 1835 den vulgären Realismus in Dantons Tod rechtfertigte – der sich als solcher aber ja dennoch einer ästhetischen Entscheidung und nicht einer determinierten Wirkung der Welt auf die Kunst verdankt, ähnlich wie auch Spiegelbilder abhängig von Ausrichtung und Ausschnitt sind.

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sondern implizit auch das Wissen um den selektiven Charakter einer solchen Widerspiegelungsästhetik. Man könnte mithin sagen, daß Kunstwerke (oder Medientechnologien) gerade dann, wenn sie sich dem Realismus verpflichten, nur um so deutlicher offenlegen, daß Darstellungen nie unmittelbare Abbildung, sondern immer selegierende Formbildung sind. Das korrespondiert mit dem weit gefaßten Formbegriff, den Niklas Luhmann in Anlehnung an Fritz Heider und George Spencer Brown vertreten hat und demzufolge jede Artikulation – ganz unabhängig von epochenspezifischen ästhetischen Strömungen oder Medientechnologien – als ›Form‹ zu betrachten ist, d.h. als Selektion einer bestimmten Kopplung von Elementen aus einem Pool möglicher anderer Elemente bzw. Kopplungen. Ungeformt ist demnach immer nur das so verstandene Medium, die lose gekoppelten Elemente, niemals ihr konkret aktualisiertes Arrangement, z.B. ein literarischer Text.3 Diese Unhintergehbarkeit von Form liegt auch der These zugrunde, die Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft vertritt, daß Kunstwerke nie in erster Linie repräsentierend die Welt beschreiben und also als Kunstwerke hinter dieser dargestellten Wirklichkeit unsichtbar bleiben, sondern immer auf die Formselektionen rekurrieren, die eine solche Darstellung möglich machen. Kunstwerke machen sich mit anderen Worten als solche kenntlich, d.h. sie stellen heraus, daß jede Darstellung auf die feste Kopplung von Material in Raum und Zeit angewiesen ist, und daß jede dieser Formselektionen kontingent ist, d.h. auch anders hätte erfolgen können und eben aus diesem Grund Interesse für die trotz aller anderen Optionen aktualisierte Version einfordern. Aufgrund dieser Selbstreferenz auf das eigene Gemachtsein versteht Luhmann Kunstwerke, auch und gerade realistische, zunächst als ornamental und nicht als repräsentierend. Oder anders: Es gibt keine Repräsentation ohne Formselektion. Sieht man genauer hin, dann bleibt allerdings das Ornamentale auch in einer pointiert repräsentierenden Kunst immer die Infrastruktur des Kunst3

Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 165-214, zur Redundanz des Mediums gegenüber der Varietät der Form vgl. etwa S. 170: »Die Elemente, deren lose Kopplung das Medium bildet, also […] zum Beispiel die Worte eines Textes, müssen problemlos wiedererkennbar sein. Sie enthalten geringe Information, weil die Information, die das Kunstwerk auszeichnet, erst durch Formbildung gewonnen werden soll. Die Formbildung erst bewirkt Überraschung und garantiert Varietät, weil es dafür mehr als nur eine Möglichkeit gibt […].«

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werks, weil, wenn man überhaupt Raum und Zeit als Medium verwendet (und wie anders sollte ein Kunstwerk erscheinen können), es unerläßlich ist, auch diese Medien zu ordnen – was immer dann in ihnen repräsentiert wird.4 Luhmanns Hinweis auf die Unhintergehbarkeit des Ornamentalen ist für die Literatur des 19. Jahrhunderts aber nicht nur aufgrund der spezifischen Mimesisdebatte im Rahmen des Realismus von Interesse, sondern auch, weil sich im Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts Prosagattungen immer weiter in den Vordergrund spielen – Texte also, die, auch im Sinne des rhetorischen Konzepts einer prosa oratio, die im Unterschied zur versförmig ›gewendeten‹ Dichtung ›geradeheraus‹ verfaßt ist, eine Stilebene für mehr oder weniger nüchtern beschreibende Texte bereitzustellen scheinen.5 Der Vorwurf der Kunstlosigkeit, der gegen Prosatexte, insbesondere den Roman, bis weit ins 18. Jahrhundert, erhoben wird, ist dabei vor allem ein Vorwurf der Formlosigkeit: Von einem » verwirrete[n] Misch=Masch ohne Ordnung und Annehmlichkeit«,6 spricht Eberhard Werner Happel am Ende des 17. Jahrhunderts im Anschluß an Pierre-Daniel Huet, und in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik von 1804 heißt es: [D]er Roman verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können. […] Auch die Freiheit der Prose fließet schädlich ein, weil ihre Leichtigkeit dem Künstler die erste Anspannung erlässet und den Leser vor einem scharfen Studium abneigt.7 Nur in der Frühromantik wird das Konzept zur gleichen Zeit bekanntlich positiv gewendet und die Formenmischung des Romans bzw. die formale Unbegrenztheit der Prosa als Reflexionsmedium der absoluten Idee der Kunst positioniert.8 Davon abgesehen bleibt die literaturtheoretische Debatte des 19. 4 5 6

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Ebd., S. 186. Vgl. Barck, Karlheinz: »Prosaisch – poetisch«, in: ders .u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, S. 87-112. Happel, Eberhard Guerner: »Der Insulanische Mandorell« [1682], zitiert nach Eberhard Lämmert (Hg.): Romantheorie 1620-1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 30. Jean Paul: »Vorschule der Ästhetik« [1804], ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. von Norbert Miller, München/Wien 1975, Bd. IX, hier S. 248f. Vgl. in diesem Sinne Benjamin, Walter: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« [1920], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser

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Jahrhunderts aber von einer spezifischen Simultaneität von Prosakonjunktur und Prosaskepsis dominiert, die als solche auch den Kern von Hegels Diagnose bildet, es sei die moderne bürgerliche Gesellschaft selbst, die von einer gänzlich kunstfernen »Prosa der Verhältnisse« geprägt sei und in der Folge die zugehörige Literatur produziere. Als eine solche Prosagattung sei der Roman kein Kunstwerk, sondern ein triviales Sammelsurium von Alltagsgegenständen ohne Zusammenhang und ästhetische Form, wie Hegel dies beispielweise angesichts der Romane des eben zitierten Jean Paul befindet: [S]o sieht man es denn auch den Jean Paulschen Kombinationen häufig an, daß sie nicht aus der Kraft des Genies hervorgegangen, sondern äußerlich zusammengetragen sind. Jean Paul hat deshalb auch, um immer neues Material zu haben, in alle Bücher der verschiedensten Art, botanische, juristische, Reisebeschreibungen, philosophische, hineingesehen, was ihn frappierte, sogleich notiert, augenblickliche Einfälle dazugeschrieben und, wenn es nun darauf ankam, selber ans Erfinden zu gehen, äußerlich das Heterogenste – brasilianische Pflanzen und das alte Reichskammergericht – zueinandergebracht.9 Diese Invektive illustriert zum einen dasjenige, was Gerhard Plumpe als grundlegendes Paradox realistischer Literatur nach der Kunstperiode identifiziert hat: daß der bürgerliche Realismus sein Ästhetikprogramm der Transformation der Wirklichkeit in einem gesellschaftlichen Kontext verkündet, der gänzlich kunstfern geworden ist und, wenn man Hegels Kritik folgt, aus gänzlich unidealen, materiell-kontingenten Quisquilien besteht.10 Die Literatur ›nach der Kunstperiode‹ hat dieses Paradox einer künstlerischen Abbildung des Kunstlosen bekanntlich durch die bekennend epigonale Restitution eines klassischen Kunstideals zu lösen versucht.11 Für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber, daß der theoriegeschichtli-

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und Rolf Tiedemann, Bd. 1, Erster Teil, Frankfurt a.M. 1974, S. 7-120, hier bes. S. 98, sowie davon ausgehend Simon, Ralf: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, München 2013. Hegel, G.W.F.: »Vorlesungen über die Ästhetik« [1818-28], in: ders.: Werke, Bd. XIII-XV, Frankfurt a.M. 1970, Bd. XIII, S. 382. Plumpe, Gerhard: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1985, S. 9-40, hier S. 15f. Vgl. Meyer-Sickendieck, Burghard: Die Ästhetik der Epigonalität: Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen/Basel 2001.

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che Vorwurf der Formlosigkeit unter Maßgabe eines weiten Formbegriffs gar nicht zu greifen vermag – für die Betrachtung der Handlungswirren frühneuzeitlicher Abenteuergeschichten, der Digressionen des Romans der Aufklärung oder die »Welt des Alltäglichen und der Prosa«, in der der Mensch »in der Abhängigkeit von äußeren Einwirkungen, Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen« steht,12 ist ja mit Luhmann vielmehr von Interesse, auf welche Weise die fraglichen Texte ihr Material – dessen vermeintlich formlose Anhäufung kritisiert wird – jenseits von rhetorischen oder poetologischen Vorgaben dennoch in ein spezifisches Arrangement bringen, d.h. eine bestimmte (und als solche kontingente) Anordnung für die vermeintlich chaotischen und unkünstlerischen Elemente wählen und gerade dadurch deren Form generieren. Texte in Prosa sind aus dieser Perspektive von im engeren Sinne poetischen Texten nicht schlicht durch einen Mangel an Form unterschieden, sondern lediglich durch einen anderen Modus der Formbildung. Diese spezifische Formbildung kann im Fall von Prosa nicht aus gattungsästhetischen Vorgaben abgeleitet werden, sondern muß aus dem Arrangement der inhaltlichen und sprachlichen Elemente eines Textes selbst emergieren. Dieses Arrangement kann – und das gilt keinesfalls nur für Prosa, fällt aber in ihrem Fall aufgrund der Abwesenheit alternativer Formkriterien besonders auf – die Proportionen der Abschnitte eines Textes, die Abfolge von Handlungssequenzen, den Wechsel von Erzählerstimmen und -perspektiven, die Redundanz und Varietät von Motiven und Formulierungen, die Länge von Satzphrasen, die lautliche Gestalt von Wörtern und Wortfolgen und vielleicht sogar die visuelle Dimension des Druckbilds eines Texts oder des Formats eines Buchs betreffen. Diese Liste erinnert an den Ansatz des russischen Formalismus, innerhalb dessen Literatur ebenfalls zunächst ›ohne Sujet‹, d.h. mit Blick auf die ›ornamentale‹ Gestaltung und Anordnung ihrer Elemente analysiert werden sollte. So beschreibt Viktor Šklovskij das Kunstwerk nicht als Artikulation eines inhaltlichen Gehalts oder einer ideologischen Zielsetzung, sondern primär als handwerkliches und technisches Arrangement von Material und notiert in seinem auch für die hier gewählte Begrifflichkeit programmatischen Aufsatz Ornamentale Prosa zu Andrej Belyj: »So bilden sich Sachen aus Lauten. Die reale Fabel wird nur punktuell markiert. Menschen und Sachen hängen von

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Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Anm. 9), Bd. XIII, S. 197f.

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Mal zu Mal durch Lautfolgen zusammen.«13 Und in Literatur ohne Sujet führt er am Beispiel von Wassili Rosanow vor, wie auch die semantische Dimension von Texten aus dem Arrangement von Material heraus entsteht: Indem Rosanow die von Hegel als kunstlos gebrandmarkten Alltagselemente oder Landschaftsbeschreibungen in seine Prosa integriere, führe er vor, daß auch diese Aspekte künstlerisch angeordnet – und das heißt: geformt – werden können: »Diese Bücher sind nicht formlos, denn wir bemerken an ihnen die Beständigkeit des Verfahrens, ihre Konstruktion.«14 Auch Prosa – verstanden als ungebundene Rede wie als nüchterner Alltagsrealismus15 – ist demnach Form, und zwar insofern sie ein »Verhältnis aus Materialien« entwirft. Wie Ingo Stöckmann in einem Aufsatz zur Vorgeschichte des Formalismus und Strukturalismus gezeigt hat, war dieses Verständnis von Form als relationale Kategorie bereits Bestandteil der nachhegelschen Ästhetik in der Mitte des 19. Jahrhunderts: So hat bereits Johann Friedrich Herbart eine Theorie des Kunstwerks als »Summe funktionaler Relationen zwischen Verhältnisgliedern«16 entworfen – d.h., Kunst nicht von ihrem Gehalt her bestimmt, sondern von der »Selektivität der Formen« her, die auch jeder inhaltlichen Darstellung zugrundeliegt und damit zeigt, daß Kunstwerke aus der differentiellen Relation dieser Formen und nicht aus Darstellung von Inhalten oder der Abbildung von Wirklichkeit entstehen. Auf der Grundlage dieser Vorwegnahme formalistischer Beschreibungen von Literatur in der ästhetischen Theorie des bürgerlichen Realismus soll im Folgenden eine formästhetische Beschreibung realistischer Prosa versucht werden. Und damit ist keineswegs eine bloß narratologische Beschreibung 13

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Šklovskij, Viktor: »Ornamentale Prosa« [1929], übersetzt von Erhard Weinholz, in: Fritz Mierau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 88-111, hier S. 99. Šklovskij, Viktor: »Literatur ohne Sujet« [1921], übersetzt von Fritz Mierau, in: Fritz Mierau (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 33-58, hier S. 39. Vgl. zu diesem Doppelsinn Moretti, Franco: The Bourgeois. Between History and Literature, London 2013, Kapitel II.: »Serious Century« (S. 67-100) und meinen Aufsatz »Archive des Alltags. Normalität. Redundanz und Langeweile als Elemente einer Poetik der Prosa«, in: Daniela Gretz/Nicolas Pethes (Hg.): Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Kultur und Literatur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg 2016, S. 129-148. Stöckmann, Ingo: »›Überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland‹. Zur theoriegeschichtlichen Bedeutung der formalen Ästhetik im 19. Jahrhundert«, in: Scientia Poetica 19 (2015), S. 88-135, hier S. 104. Vgl. ders.: »Form, Theorie, Methode. Die formale Ästhetik des 19. Jahrhunderts«, in: DVjS 90 (2016), S. 57-108.

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gemeint, auch wenn die Erzähltheorie in der Nachfolge von Gérard Genette fraglos wichtige formale Aspekte erzählender Prosa in den Blick genommen hat. Wie Caroline Levine aber im Anschluß an Nicholas Dames und Catherine Callagher argumentiert, hat die Erzähltextanalyse dabei stets die visuelle Dimension des Erzählens betont, wie sich dies vor allem an Konzepten wie ›Erzählperspektive‹ zeigt. Aufgrund dieses Schwerpunkts seien aber die Raum- und Zeitstrukturen textueller Arrangements, wie sie auch für Luhmanns Verständnis der figuralen Dimension des Kunstwerks zentral sind und die Levine unter dem raumzeitlichen Konzept des Rhythmus faßt, zu wenig beachtet worden: »In refusing this interest in rhythm, twentiethcentury criticism grasped even the most time-bound of literary forms – poetic meter and novelistic plot – as ultimately stilled and contained, as in the well-wrought urn and narrative closure.«17 Folgt man diesem Hinweis aus dem Umfeld des New Formalism, dann ist das Ziel einer Textanalyse nicht die Beschreibung der geschlossenen Struktur eines Erzähltextes, sondern der Nachvollzug des Prozesses seiner Formgenerierung – ähnlich, wie ja auch Luhmann die ornamentale Dimension eines Kunstwerks aus Unterscheidung von Redundanz und Varietät im Prozeß aufeinanderfolgender Formselektionen versteht.18 Das Kunstwerk ist also immer zunächst selbst als raum-zeitlich rhythmisiertes und konkretisiertes Materialarrangement in den Blick zu nehmen und erst auf der Grundlage dieser seiner Form daraufhin zu befragen, auf welche Weise es (fiktionale) Raumund Zeitrelationen in der dargestellten Welt abbildet – ein Gehalt, der auch 17

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Levine, Caroline: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015, S. 52. Zum folgenden vgl. ebd., S. 3: »[F]orm has never belonged only to the discourse of aesthetics. […] [A]n attention to both aesthetic and social forms returns us to the very heterogeneity at the heart of form’s conceptual history […]: »form« always indicates an arrangement of elements – an ordering, patterning, or shaping. […] Form […] will mean all shapes and configurations, all ordering principles, all patterns of repetition and difference.« Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 3), S. 185: »Das Ornamentale dient direkt der Organisierung von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät. Ornamente setzen einen durch sie selbst definierten und gleichsam von innen geschlossenen Raum voraus; und Entsprechendes gilt für die Ornamentalisierung von Zeit (etwa im Tanz oder im Aufbau oder Abbau von Spannung in einer Erzählung). […] Dagegen setzt die repräsentierende Kunst zunächst einmal die Erzeugung eines imaginären Raums oder einer imaginären Zeit voraus, um damit größere Freiheiten zu haben, dies selbst-geschaffene Medium sowohl repräsentierend als auch ornamental zu nutzen.«

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im Rahmen des New Formalism deshalb von Interesse ist, weil die (von Hegel noch als ungestalte Äußerlichkeiten beklagten) Einrichtungen der bürgerlichen Welt selbst ritualisierten oder institutionalisierten Ordnungsstrukturen folgen, die Levine ebenfalls als forms betrachtet und vorschlägt, analog zur Form von Kunstwerken zu analysieren. Und ohne Levines holistischem Werkverständnis zu folgen, besteht darin der Schritt, den die nachstehenden Überlegungen über eine formalistische bzw. strukturale Analyse literarischer Formästhetiken hinauszugehen vorschlagen: Eine Fokussierung auch realistischer Prosa als ästhetische Form ist gerade keine ästhetizistische oder eskapistische Ausblendung von Gehalt oder Kontexten eines Texts, sondern legt vielmehr die Parallelen zwischen Formen der Kunst, der Strukturierung des Dargestellten und den Einrichtungen der Gesellschaft offen. Auf dieser Grundlage können weder die Wirklichkeit der Prosa bzw. die prosaische Wirklichkeit weiter als Gegenpole zu einer Formästhetik noch deren Dimension des Ornamentalen lediglich als nachträgliche Verzierung eines vorgängigen Gehalts betrachtet werden. Vielmehr ist das selbstreferentielle Arrangement von sprachlichem Material die Voraussetzung für die Schreibund Lesbarkeit solcher Gehalte – und auch Analysen von Prosa haben in der Folge zunächst den Formen der entsprechenden Arrangements zu gelten.

II. Auf der Grundlage dieser Überlegungen sollen nun in einem zweiten Schritt Relevanz und Funktion einer solchen Perspektive auf die ornamentale Dimension beschreibender Prosa vorgeführt werden. Gegenstand dieser Beispielanalyse ist die späte Prosa Adalbert Stifters, die für ihre Tendenz zu ausladenden deskriptiven Passagen ebenso berüchtigt ist wie für den Sachverhalt, daß diese Beschreibungen von starken Wiederholungsstrukturen geprägt sind.19 Die Stifter-Forschung spricht angesichts dieses redundanten, wenn nicht gar tautologischen Erzählverfahrens »von einer manisch-iterativen Rhetorik« Stifters und insinuiert sogar: »Die Rhythmen der Prosa können eine geradezu

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Vgl. Wild, Michael: Wiederholung und Variation im Werk Adalbert Stifters, Würzburg 2001 sowie für die nachstehenden Überlegungen besonders instruktiv die Umwertung der topischen Kritik an Stifters Beschreibungen zu einem selbstreferentiellen Verfahren im Vorgriff auf die Moderne bei Heinz Drügh: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (1700-2000), Tübingen 2006, S. 224-332.

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halluzinatorische, mantraartige Wirkung ausüben«.20 Die repetitive Schreibweise wird dabei meist, etwa mit Blick auf den Nachsommer, auf Stifters Spiegelung der zyklischen Abläufe der Natur in den rituellen Abläufen innerhalb menschlicher Gesellschaften bezogen21 und die literarischen Erzählverfahren mithin in Relation zu außerästhetischen Formen und Institutionen gesehen. Diese Engführung literarischer, natürlicher und sozialer Formen im Konzept einer Anordnung von Elementen in wiederkehrendes Muster prägt Stifters Texte tatsächlich auf auffällige Weise – denkt man etwa an die Erzähltextsammlung Bunte Steine, die nicht nur das literarische Format einer Anthologie als mineralogische Sammlung metaphorisiert, sondern die darin enthaltenen Geschichten über Kinder als weihnachtliches »Festgeschenk« für Kinder konzipiert, in der Vorrede das notorische »sanfte Gesez« als Prägung aller Natur- und Gesellschaftserscheinungen durch regelmäßig wiederkehrende ›kleine‹ Ereignisse bestimmt sowie in den einzelnen Texten geologische Orientierungsmarken (Granit), die Insistenz alltäglicher Routinen (Kalkstein) oder die Vorzeichen von Naturkatastrophen (Bergkristall, Kazensilber) thematisiert – und auf diese Weise die erzählten Inhalte durchweg mit dem Arrangement von Elementen in Raum und Zeit in Beziehung setzt.22 Was aber, wenn man diese Raum-Zeit-Elemente nicht primär als inhaltliche Motive, also etwa zyklische bzw. rituelle Abläufe in Natur und Kultur, betrachtet, sondern als Reflexion der Formbildung der Texte selbst, die sich ebenfalls aus der Anordnung von – hier nun sprachlichen – Elementen am Leitfaden von Redundanz und Varietät ergibt? Diesen Perspektivwechsel von Form als Verzierung auf Form als Bedingung des Kunstwerks scheint auch Martin Swales im Blick zu haben, wenn er schreibt: »Die rhythmische Vertextung ist der eigentliche Sinngenerator«.23 Was aber heißt ›Rhythmus‹ in diesem Zusammenhang genau? Auf welche Weise generiert die Relation von Wiederholung und Abweichung die Form von Stifters Texten? Oder anders

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Vgl. stellvertretend und resümierend Swales, Martin: »Ritual«, in: Christian Begemann/Davide Giuriato (Hg.): Stifter Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, S. 294-298, hier S. 297. Vgl. Bolterauer, Alice: Ritual und Ritualität bei Adalbert Stifter, Wien 2005; Becker, Sabina/Grätz, Katharina (Hg.): Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus, Heidelberg 2007, hier insbesondere die Beiträge der beiden Herausgeberinnen. Vgl. zur Relation der Materialität und Semiotik dieser natürlichen und gesellschaftlichen Elemente grundlegend immer noch Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren, Stuttgart/Weimar 1995. Swales: »Ritual« (Anm. 20), S. 297.

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gefragt: Wie kann die Abfolge der Formselektionen eines Texts – von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz – sowohl hinsichtlich der Kontingenz ihrer Selektion als auch hinsichtlich ihrer rekursiven Bezugnahme aufeinander beschrieben werden? Wenn das gelingt, hätte man ein Modell zur Hand, für das ›Form‹ weder externes rhetorisches Muster noch bloße Rahmung von Gehalt wäre, sondern die Struktur, die durch Redundanz und Varietät im Prozeß des Arrangements von Textelementen emergiert. Betrachtet man unter dieser Maßgabe konkrete Texte bzw. Textauszüge, dann lassen sich leicht Belege für einen solchen immanenten Formbildungsprozeß der Textoberfläche in ihrer sprachlichen Materialität finden – die als solche aber nicht etwa unabhängig von den erzählten Inhalten anzusehen ist, sondern vielmehr deren analoge Geformtheit zu sehen erlaubt. Das läßt sich exemplarisch anhand zentraler Passagen aus dem ersten Kapitel von Stifters Mittelalterromans Witiko von 1865 sowie der vorletzten, für den Druck abgelehnten, Erzählung Der fromme Spruch von 1867 zeigen: Witiko setzt ein mit der Beschreibung des Titelhelden bei seinem Ritt durch die böhmischen Wälder. Daß die Beschreibung dieser Reise dabei nahezu ereignislos bleibt, korrespondiert mit der radikal neutralen Erzählhaltung des Textes, die keinerlei Innensicht auf den Protagonisten gewährt und ihn ausschließlich anhand äußerer Elemente – seiner Kleidung, seiner Bewegungen und seiner Gespräche – präsentiert und charakterisiert. Auf beiden Ebenen, der Reisebeschreibung und der Figurendarstellung, wird der erzählte Gehalt auf diese Weise durch das (lesbare) Arrangement von Sichtbarem und Hörbarem generiert – und dies durch eine starke Pointierung ihrer Rekursivität, die angesichts der vollständigen Abwesenheit sprachlicher Ornamente innerhalb des objektivierenden Darstellungsgestus selbst zum Ornamentalen des Textes wird.24 Das betrifft zum einen die mikrostrukturelle Anlage einzelner Sätze: »Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war.«25 Es betrifft zum anderen das Wiederaufgreifen eines Satzes wenige Seiten darauf: »Er ritt wieder eine Lehne hinan,

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Vgl. Croz, Véronique: »Erfahrung und Darstellung von Geschichte. Zum Problem der Form in Stifters Witiko«, in: Ursula Franke/Heinz Paetzold (Hg.): Ornament und Geschichte, Bonn 1996, S. 227-243. Stifter, Adalbert: Witiko, in: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 5.1, Stuttgart 1984, S. 17, im folgenden mit der Sigle W nachgewiesen.

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eine Lehne hinab, ein Wäldchen aus, ein Wäldchen ein, ein, der Boden wurde immer unwirthlicher und war endlich mit Wald bedeckt.« (W 26) Die Konstellation dieser beiden Beispielzitate zeigt deutlich, wie der Text an die Stelle eines linearen Fortgangs der Handlung das formale Spiel von Redundanz und Varietät treten läßt.26 Während der erste Satz bereits in sich hochgradig auf der Relation von Redundanz und Varietät beruht, wie der anaphorische Modus der Aufzählung oder die Abfolge der Richtungsvokabeln hinan, hinan, hinunter, hinein, hinaus zeigen, wiederholt sich diese Relation durch den zweiten Satz auf der nächsthöheren Ebene, insofern dieser zweite Satz den ersten ebenfalls gleichzeitig wiederholt und modifiziert. Auf diese Weise wird die Möglichkeit, einen Ablauf zu erzählen, z.B. der Fortgang einer Reise oder die Veränderung der Landschaft, an die gleichzeitige Herstellung von Kontinuität gebunden. Ähnliches gilt für die Gespräche, die Witiko unterwegs führt, so etwa als er das Mädchen Bertha trifft und sich folgender Dialog entspinnt (W 35): »Ach, was ihr für schöne Haare habt!« sagte das Mädchen. »Und was du für rothe Wangen hast,« erwiederte er. »Und wie blau eure Augen sind,« sagte sie. »und wie braun und groß die deinen,« antwortete er. »Und wie ihr freundlich sprecht,« sagte sie. »Und wie du lieblich bist«, antwortete er. Auch hier sind etwaige inhaltliche Aussagen des Textes – also z.B. die Anbahnung eines Liebesverhältnisses – vollständig von den Äußerlichkeiten sowohl der Merkmale der Beteiligten als auch der topischen Abfolge ihrer Repliken überlagert. Jede Replik greift Aspekte der Vorrede auf, wandelt sie ab und stellt auf diese Weise Zusammenhang und Entwicklung des Gesprächs zugleich her – ein Gespräch, das hier in erster Linie Form ist, oder, mit Luhmann gesprochen, in der Selbstreferenz der Kommunikation auf das kommunizierende System und weniger in der Fremdreferenz auf Inhalte besteht.27 Diejenige Szene im Witiko, die diesen Prozeß der Emergenz sprachlicher Form aus dem Wechselspiel von Redundanz und Varietät beim Arrangement 26

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Doppler, Alfred: »Witiko, der Wald und die Waldleute – Das Stilprinzip der Wiederholung in Adalbert Stifters Witiko«, in: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 7/8 (2000/2001), S. 39-46, konstatiert leicht abweichend von der hier vorgeschlagenen Lektüre den Umschlag vom Linearen ins Zyklische. Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 182f. und S. 198f.

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des sprachlichen Materials am deutlichsten vor Augen führt, ist die Reichsversammlung in Prag im dritten Kapitel des ersten Buchs, zu der Witiko als Bote des kranken Herzogs Sobeslaw reist, um diesen über die Beratungen über seine Nachfolge zu informieren. Dieser ›Gehalt‹ der Reise wird im Roman aber fast vollständig von institutionellen Verfahrensfragen überlagert – so z.B. der Streitpunkt, ob Witiko überhaupt an der Versammlung teilnehmen und in ihr sprechen darf.28 Angesichts dieser Frage bezieht sich der Text weniger auf Witikos Anliegen als auf die »Erhabenheit dieser Versammlung«, »die Macht und Gewalt dieser Versammlung« sowie immer wieder »die Ordnung dieser Versammlung«: »Die Ordnung, die Ordnung«. (W 126) Entsprechend ist auch die Szene angelegt, in der die Teilnehmer der Versammlung ihre Meinung zur Nachfolge des Herzogs kundtun. Auch hier dominiert rituelle Form sachlichen Gehalt: »Es ist an der Zeit, daß die, welche angemeldet sind, über die vorgelegte Sache in ihrer Ordnung reden.« (W 132) Daß dies in der Folge auch geschieht und alle Mitglieder der Versammlung sich erheben und sprechen, wird in Stifters Roman nun nicht etwa zeitraffend iterativ berichtet, sondern vielmehr zeitdeckend seriell und singulativ, d.h. unter Einhaltung der Reihenfolge sämtlicher Redebeiträge sowie deren vollständiger Dokumentation unbeschadet der angesichts des rituellen Rahmens unvermeidlichen Redundanzen: Es war eine kleine Zeit still, und es erhob sich niemand. Dann stand in der Mitte des Saales ein Mann auf, der zum Oberkleide ein schwarzes Bärenfell und auf der schwarzen Haube eine blaue Feder hatte. Er rief: »Ich bin Rowno aus dem Mittage Böhmens und bin auf dem Reichstag in Sadska gewesen. Dort war der Wille nicht frei. Die groß sind, erhielten Versprechungen, und wir die Kleinen, fürchteten die Macht. Ich kann nicht für Wladislaw, den Sohn des erlauchten Herzogs Sobeslaw streiten«. Nach ihm stand ein Mann auf, der ein grobes schwarzes Oberkleid und eine Hahnenfeder auf der Bärenhaube hatte: »Ich bin Diet von Wettern aus dem Mittage Böhmens, und stimme mit meinem Landsmanne Rowno.« (W 132) Auf diese Weise wird die Passage fortgeführt und präsentiert die formale und inhaltliche Redundanz der Wortmeldungen bei Varietät von Kleidung und Herkunft der Sprecher. Im weiteren Verlauf der Beratungen bleibt es bei der 28

Vgl. Kaufmann, Kai: »Mündliche Rede, schriftliche Urkunde, wörtliches Protokoll. Adalbert Stifters Geschichtsroman Witiko«, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Grenzräume der Schrift, Bielefeld 2008, S. 127-141.

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inhaltlichen Redundanz der einzelnen Stellungnahmen, die sich alle gegen die Wahl von Sobeslaws Sohn Wladislaw aussprechen, und dabei nur selten die Eingangsformeln weglassen: »Ich spreche nur daß der junge Wadislaw nie unser Herzog werden kann; denn Sobeslaw hat uns immer unterdrückt, und endlich hat er uns nach Sadka gelockt, um uns dort unsern Willen zu rauben.« (W 133) Als Varietät stehen neben dieser formalen und inhaltlichen Redundanz der Dokumentation der Versammlung Vorschläge für alternative Nachfolgekandidaten: »Ich schlage vor, daß wir den Fürsten von Znaim, Konrad, den Sohn Luitolds, des Brudersohnes des Königs Wratislaw, wählen. […]« »Ich stimme bei«, rief einer im Saale. »Ich auch, ich auch«, riefen mehrere. […] Dann sagte Znata: »Wenn wir Wladislaw, den Sohn unsers erlauchten Herzogs Sobeslaw, nicht als Nachfolger seines Vaters wählen, so schlage ich einen andern Wladislaw vor, nämlich Wladislaw, den Sohn des weisen und milden Herzogs Wladislaw, den Enkel des Königs Wratislaw, den Brudersohn des jetzigen Herzogs Sobeslaw.« (W 135f.) Auf diese Weise korrespondiert im Witiko der rituelle Ablauf eines politischen Entscheidungsfindungsprozesses (der hier im Wortsinn Selektion, nämlich eine politische Wahl, ist) mit der Form des Textes, die ebenfalls abwechselnd Redundanz und Varietät selegiert – mit der Pointe, daß am Ende im Namen »Wladislaw« beide zusammenfallen, da er gleichlautend mit dem ersten Vorschlag ist, aber dennoch eine andere Person meint. Und aus diesem Ineinander von Redundanz und Varietät innerhalb eines einzelnen Namens schlägt der Text noch weiteres Formbildungspotential, insofern er vorführt, wie er in der weiteren Diskussion wiederholt appellförmig ausgerufen und also wiederholt wird: »Es entstand nun ein so starkes Rufen, daß es betäubend war: »Nicht der Sohn Sobeslaws«, »dein Wladislaw«, »Wladislaw«, »Wladislaw«, »Wladislaw«.« (W 148) Schon in dem zuvor zitierten Plädoyer von Znata taucht der Name »Wladislaw« viermal auf, und droht daher trotz des Versuchs, die beiden gemeinten Kandidaten zu unterscheiden, tautologisch zu werden. Dieser Effekt ist dann spätestens mit der vierfachen Nennung von »Wladislaw«, die durch sechs weitere in den Folgeabsätzen fortgesetzt wird, erreicht: Die Redundanz der Namensnennung scheint sich zu verselbständigen und der Text wird aufgrund der mit dieser Redundanz einhergehenden Reduktion von Informa-

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Abb. 1: Witiko, 1865, S. 167

tion nicht nur im semantischen Sinne zum Rauschen,29 sondern durchaus

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Vgl. Naumann, Dietrich: »Semantisches Rauschen. Wiederholungen in Adalbert Stifters Roman Witiko«, in: Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hg.): Dasselbe noch einmal. Die Ästhetik der Wiederholung, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 82-108.

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auch auf der visuellen Ebene der Buchseite: Die überproportionale Wiederkehr der Buchstabenfolge »Wladislaw«, die in der Erstausgabe des Romans von 1865 auf einer Seite (der Seite 167, Abb. 1) zu stehen kommt, erzeugt auch auf der Ebene des Schriftbildes einen Redundanzeffekt, der ebenfalls von der Semantik ablenkt und statt dessen das materielle Arrangement der Buchstaben auf der Buchseite auffällig werden läßt.30 Oder anders gesagt: Auch die Dimensionen von Layout und Typographie, d.h. der Anordnung der Zeichen auf dem Papier, gehört zu den formalen Elementen eines Textes, verschiebt den Aspekt der Form aber ganz auf die materielle Ebene. Die Redundanz des Erzählten manifestiert sich mithin auch im Druckbild – woraus folgt, daß die ästhetische Form des Witiko nicht nur auf der strukturellen Ebene des Textes, sondern auch auf der visuellen der Buchseite bzw. des Buchs zu analysieren ist.31 Das Bindeglied zwischen diesen beiden Perspektiven auf Textstruktur und Schriftmaterialität besteht dabei darin, daß Form in beiden Fällen in den Fokus rückt, indem innerhalb eines vermeintlich ereignisarmen Erzählzusammenhangs bzw. typographisch genormten Schriftbilds Wiederholungen auffällig (und – bzw. weil – sichtbar) werden. Insofern sie als solche gerade nicht informativ sind und mithin auch nicht primär semantisch

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Ich folge hier methodisch der Anregung von Marten, Catherine: Bernhards Baukasten. Schrift und sequenzielle Poetik in Thomas Bernhards Prosa, Berlin 2018, die – gestützt auf die Konzepte des »typographischen Dispositivs« (vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000) und der Schriftbildlichkeit (vgl. Krämer, Sybille/CancikKirschbaum, Sarah/Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin/New York 2012) – vorgeschlagen hat, die oft als ›musikalisch‹ beschriebenen sequentiellen Wortwiederholungen in Bernhards Texten als Bestandteil einer visuellen Buch-Ästhetik im Kontext der Herstellung von Marken- und Autorenidentitäten durch Layout-Strategien des Suhrkamp-Verlags in den 1970er und 1980er-Jahren zu analysieren: vgl. z.B. S. 216 oder S. 319. Daß die typographische Gestaltung der zweidimensionalen Buchseite (vgl. Wehde: Typographische Kultur, Anm. 30) zu den paratextuellen Rahmungen eines Textes zu zählen sind, betont Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001, S. 23 und S. 38f. Wechselwirkungen zwischen Buchlayout und Textsemantik sind entsprechend ein zentraler Gegenstand der Buchwissenschaften bzw. Book History, vgl. etwa McKenzie, Douglas: Bibliography and the Sociology of Texts, Cambridge 1999, S. 17: »[T]he particular inquiry I wish to pursue is whether or not the material forms of books, the non-verbal elements oft he typographic notations within them, the very disposition of space itself, have an expressive function of conveying meaning«. Vgl. Ernst, Albert: Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung, Würzburg 2005.

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zu decodieren sind, bleibt ihre schiere Materialität und Wiederkehr wahrnehmbar – und zwar als Elemente, die durch diese Wiederkehr auf vorherige Passagen zurückverweisen und innerhalb des Texts durch diese Rekursivität denjenigen strukturellen Zusammenhalt stiften, der innerhalb der deskriptiv breit und chronologisch linear angelegten Prosa ansonsten verloren zu gehen droht. Die Form des Witiko entsteht mit anderen Worten aus der spezifischen Selektion mikro- und makrostruktureller Redundanzen, die damit alles andere als ›überflüssig‹ und ›langweilig‹ sind, sondern vielmehr den – seinerseits gezielt gestalteten – Mangel an strukturbildenden turning points der Handlung kompensieren, über die sich der Roman als – rhetorisch und gattungsästhetisch ›ungeformtes‹ – Prosa-Genre ansonsten organisiert.32 Daß zu diesen Redundanzen auch die Materialität des Druckbilds gehört, das sich auf diese Weise ebenfalls von seiner Funktion ablöst, der Lesbarkeit und semantischen Decodierbarkeit des Textes zu dienen,33 impliziert, daß die Formästhetik von Stifters Prosa bereits auf diejenigen Tendenzen der literarischen Moderne vorausweist, innerhalb derer die visuelle Oberflächenästhetik der typographischen Gestaltung eines Textes mitunter ganz von deren Semantik abgelöst wird – wenn sie ihr nicht sogar programmatisch entgegengesetzt wird34 oder, wie Catherine Marten dies für die Gestaltung von Thomas Bernhards Romanen im Suhrkamp-Verlag gezeigt hat, zum zentralen Austragungsort der spezifischen Poetik des Schreibens als Schreibprozeß wird.35 Dieser Spur – die letztlich in die Frage nach einem spezifischen Ästhetizismus von Stifters vermeintlichem Realismus mündet – kann im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter nachgegangen werden. Daß aber materialphilologische Ansätze, die sich in jüngerer Zeit mit der konkreten Erscheinungsweise von Stifters Texten in unterschiedlichen Zeitschriften- und Buchformaten beschäftigen,36 in dieser Hinsicht vielversprechend sind, scheint

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Zur Tendenz des Romans des 19. Jahrhunderts, den Anteil handlungsarmer filler gegenüber spektakulären turning points aufzuwerten, vgl. nochmals Moretti, Franco: »Serious Century« (Anm. 15). Im Sinne von Wilberg, Hans Peter/Forssmann, Friedrich: Lesetypographie, Mainz 1997. Vgl. Rancière, Jacques: »Die Fläche des Designs«, in: ders.: Politik der Bilder, Zürich 2006, S. 107-125; zur »Autonomisierung der Typographie« in der Avantgardeliteratur vgl. Wehde: Typographische Kultur (Anm. 30), S. 19. Vgl. Marten: Bernhards Baukasten (Anm. 30). Vgl. Kaminski, Nicola/Ruchatz, Jens: Journalliteratur – ein Avertissement, Hannover 2017; Pethes, Nicolas: Literarische Fall-Archive. Zur Epistemologie und Ästhetik seriellen Erzäh-

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vor diesem Hintergrund evident – und bietet im vorliegenden Zusammenhang auch die Möglichkeit, dem in der Rezeptionsgeschichte seit Hebbels Invektiven notorischen Vorwurf der übertriebenen Breite und Langeweile von Stifters Texten ebenso formästhetisch entgegenzutreten, wie ihrer vermeintlich restaurativen Mimetik. Denn die nur leicht modifizierte Abfolge von Sätzen oder die Wiederholung von Namen als Rhythmisierung des Erzählflusses wie des Druckbilds legen das ästhetische Konstruktionsprinzip von Stifters Prosa offen, insofern sie als materielles Arrangement in Korrelation mit den erzählten Inhalten stehen: So zeigt insbesondere der rituelle Rahmen der Prager Versammlung, wie sich nicht nur im Fall des Erzählens, sondern bereits im Augenblick des Ablaufens der Ereignisse an jeder einzelnen Stelle die Frage stellt, ob das vorausgehende Ereignis wiederholt wird oder etwas Neues ins Spiel kommt, d.h. die bestehende Struktur bestätigt oder modifiziert wird. Und insofern solche rituellen Kontexte als soziale Systeme selbst aus nichts anderem als Kommunikation bestehen und mithin auf sprachlichen Formselektionen beruhen, sind sie als soziale Formen unmittelbar mit der sprachlichen Form des Textes verknüpft, der ebenso sehr von ihnen berichtet, wie auf der Ebene des Berichteten die sozialen Formen aus Kommunikation generiert werden. Stifters Witiko präsentiert auf diese Weise tatsächlich die Verbindung literarischer und gesellschaftlicher Formen im Sinne des New Formalism – dies allerdings weniger in Gestalt einer gesellschaftspolitischen Aussage und auch nicht als Übertragung des holistischen Werkbegriffs einer klassizistischen Ästhetik auf Institutionen und Rituale, wie dies bei Caroline Levine mitunter anklingt. Bescheidener, aber dafür im Detail wesentlich präziser, reflektiert Stifters historischer Roman statt dessen lediglich, daß sich die Genese von Sozialstrukturen derselben kommunikativen Prozessierung der Unterscheidung von Redundanz und Varietät verdankt wie die Genese literarischer Textstrukturen. Daß diese Reflexion nicht nur für politische Institutionen im Kontext des historischen Romans, sondern auch für familiäre Strukturen innerhalb kürzerer Texte gilt, zeigt Stifters Der fromme Spruch. Im Unterschied zum voluminösen Witiko-Roman kann hier tatsächlich mikrostrukturell, d.h. Satz für Satz, nachvollzogen werden, wie die Form von Prosa anhand von Redundanz und Varietät generiert wird. So lautet gleich der erste Satz von Stifters für

lens am Beispiel von Stifters Mappe, Heft # 5 von Labor der Phantasie, hg. von Jutta Müller Tamm, Berlin 2015.

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den Druck bezeichnenderweise als zu steif und uninteressant abgelehnten Erzählung: Dietwin von der Weiden hatte die Gepflogenheit, an jedem vier und zwanzigsten April gegen den Abend in das Gut seiner Schwester einzufahren. Am vier und zwanzigsten April des Jahres 1860 fuhr er um fünf Uhr nachmittags durch das Tor des Schlosses ein.37 Diese Eingangspassage wiederholt und variiert die einzelnen Elemente der Aussage gleichermaßen und setzt damit den Ton für eine Erzählung, die ganz auf die Affirmation von Regelmäßigkeit setzt; die Geschwister begehen ihren gemeinsamen Geburtstag, und der Symmetrie dieses Verwandtschaftsverhältnisses entsprechen die vollständig symmetrisch angelegten Dialogpassagen, die in einem so hohen Grad auf wiederholende Bestätigung setzen, dass die Repliken nahezu ohne Differenz und Innovation, d.h. ohne Information bleiben: »Er ging zu ihr, und die Geschwister küßten sich jetzt auf den Mund. »Das Heil Gottes, Gerlint,« sagte er, »und möge dir dieser Tag noch recht oft wiederkehren.« »Das Heil Gottes, Dietwin«, sagte sie, »und möge dir dieser Tag noch recht oft wiederkehren.« (FS 185) In derselben Weise verständigen sich die Geschwister auch über hauswirtschaftliche und weitere Familienangelegenheiten – stets bestätigt die Antwort das vorab bereits Gesagte, und d.h. die vollständige Ordnung der Dinge. Zu diesem symmetrischen Arrangement der Redebeiträge treten die auffällig häufigen Hinweise auf die ständig wechselnde Kleidung, deren Beschreibung sich, wie in Kalkstein oder Witiko, durch die Erzählung hindurchzieht und der über die Kontraststufen schwarz, weiß und grau die Dimension einer ornamentalen Äußerlichkeit zukommt, zu der sich auch Mobiliar und Gemälde im Schloß gesellen. Einziges Handlungsmoment, d.h. das einzige Irritationsmoment in dieser vollständigen Symmetrie und Harmonie des Textes stellt der Plan der Geschwister dar, ihren Neffen und ihre Nichte miteinander zu verheiraten – ein Vorhaben, dem sich die beiden Jüngeren zunächst verweigern, bevor sie endlich, spezifisch für Stifter, zueinanderfinden. Die formästhetische Pointe

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Stifter, Adalbert: »Der fromme Spruch«, in: ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 3.2, Erzählungen, 2. Band, hg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff, Stuttgart 2003, S. 176-361, hier S. 179, im folgenden mit der Sigle FS nachgewiesen.

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dieses Plotelements liegt dabei nicht nur in der Anspielung auf die experimentelle Viererkonstellation A, B, C, D aus Goethes Wahlverwandtschaften, in denen die Interaktion der Protagonisten auch schon als Arrangement materieller Elemente im engen chemischen Sinn angelegt ist.38 Darüber hinaus setzt Stifter auch in Der fromme Spruch das Mittel ein, Eigennamen als Markierung der Einheit von Redundanz und Varietät zu gebrauchen: Der Neffe Dietwin und die Nichte Gerlint heißen genau so wie Onkel und Tante, so daß der Eheschluß der beiden die Konstellation des Geschwisterpaars genealogisch fortsetzt: »Gerlint«, rief Dietwin. »Dietwin«, rief Gerlint. Und plötzlich faßten sie sich in die Arme, umschlangen sich, und küßten sich auf den Mund. »Dein Auge blickt auf mich als Gattin, Gerlint,« sagte Dietwin. »Dein Auge blickt auf mich als Gatte, Dietwin,« sprach Gerlint. (FS 336) Es ließen sich weitere Textpassagen anführen, das Prinzip dürfte aber deutlich sein: Die inhaltlichen Motive der familiären Zusammengehörigkeit und Genealogie, wie sie ja auch in Witiko in Form der Nachfolgeregelung durch Wladislaw Thema sind, sind von einer Textstruktur gerahmt, die ebenfalls von einem Höchstmaß an Geschlossenheit und Kontinuität geprägt ist und deren Varietät aus einem rein kombinatorischen Spiel mit Alternativen besteht: Gerlint/Dietwin, Gattin/Gatte, sagte/sprach usw.39 Diese Schreibweise ist wie angedeutet als manierierter Spätstil verspottet worden. Die jüngere Forschung hat aber darauf hingewiesen, wie die in der Erzählung dargestellten gesellschaftlichen und familiären Rituale durch eine ritualisierte Textstruktur gespiegelt werden.40 Andreas Ammer und Albrecht Koschorke haben in diesem Zusammenhang gezeigt, wie damit eine komplette Entleerung des Textes von semantischer Differenz und ereignishaften Inhalten vollzogen wird.41 Dem ist fraglos zuzustimmen. Doch es wäre verfehlt, in dieser Formelhaftigkeit von Stifters Prosa wahlweise eine Feier oder eine Kritik solcher gesellschaftlicher Rituale zu sehen. Vielmehr dient die so 38 39 40 41

Vgl. Hoffmann, Christoph: »›Zeitalter der Revolutionen‹. Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels«, in: DVjS 67 (1993), S. 417-450. Vgl. Wild: Wiederholung und Variation (Anm. 19), S. 133ff. Vgl. Ragg-Kirkby, Helena: Adalbert Stifter’s Late Prose. The Mania for Moderation, Rochester 2000; Bolterauer: Ritual und Ritualität (Anm. 21). Ammer, Andreas/Koschorke, Albrecht: »Der Text ohne Bedeutung oder die Erstarrung der Angst. Zu Stifters letzter Erzählung Der fromme Spruch«, in: DVjS 61 (1987), S. 676719.

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markant überpointierte sprachliche wie inhaltliche Ritualisierung von Stifters Texten dazu, die formale Dimension von Prosaerzählungen kenntlich zu machen: Weder die einzelnen Wortmeldungen auf der Reichsversammlung in Witiko noch die Dialogpassagen in Der fromme Spruch können auf überzeugende Weise auf ihren Informationsgehalt gelesen werden. Und gerade weil sie sich einer solchen Übersetzung verweigern, stellen sie die formale Dimension der Texte aus, die sich aus der Wiederholung und Abwandlung der aufeinanderfolgenden Worte ergibt. Das soll nicht heißen, daß diese Worte nicht auch einen linearen Geschehensverlauf darstellten, wie er eben ja auch knapp zusammengefaßt wurde. Weil diese Referenz der Worte aber so wenig ereignisreich und überraschend ist, verweisen die Worte des Textes nicht primär auf das von ihnen Dargestellte, sondern immer auch auf sich selbst zurück, d.h. auf die Abfolge ihre Wiederholung, die dem Text seine Form gibt. Liest man sie so, dann geben Stifters späte Erzähltexte nicht in erster Linie mimetische Auskunft über die Welt, von der sie – scheinbar so überaus detailreich – erzählen, sondern vor allem von der ästhetischen Form, die sie für sich selbst generieren. Dergestalt kann man diese Texte – mit Blick auf die Gattungsgeschichte der ›reinen Poesie‹ 42 auf den ersten Blick paradox, auf den zweiten jedoch formästhetisch konsequent – bezeichnen als ›reine Prosa‹.

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Vgl. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010.

»die reine farben- formen- und linienfreude« Zur Vision einer ›reinen Formkunst‹ in den ornamentalen Konstellationen der Blätter für die Kunst Daniela Gretz »Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche.«1

Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang.2 Mit dieser programmatischen Selbstbeschreibung als Dienst an einer ästhetizistischen ›kunst für die kunst‹ und der damit verbundenen »Geste der Abwehr gegen Vereinnahmungsansprüche anderer Funktionsbereiche«,3 wie sie sich zeitgenössisch im exemplarisch aufgerufenen Naturalismus dokumentieren, inszeniert sich die von Stefan George begründete und von Carl August Klein herausgegebene Zeitschrift Blätter für die Kunst bei ihrem ersten Erscheinen im Oktober 1892 emphatisch als ein Medium der Kunst.

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Hofmannsthal, Hugo von: »Gesammelte Werke«, Bd. Reden und Aufsätze 3, hg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a.M. 1979, S. 268. »Blätter für die Kunst«, in: BfdK, 1. Folge, 1. Bd., Oktober 1892, S. 1. Luhmann, Niklas: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M.1986, S. 623-626, S. 623. Vgl. dazu: Kolk, Rainer: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890−1945, Tübingen 1998, S. 51.

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Mit Niklas Luhmanns These von einer für Kunst konstitutiven medialen »Doppelrahmung« lässt die Zeitschrift sich als »äußere[s] Medium der auffälligen Besonderheit und Abgrenzung« beschreiben, das mittels extrinsischer Rahmung »sicherstellt, daß die Formen als Kunst wahrgenommen werden«, indem sie nicht nur Kommunikation durch Kunst ermöglicht, sondern auf einer Ebene von Beobachtung erster Ordnung zugleich Kommunikation über Kunst in Gang setzt. Davon ist mit Luhmann dann jeweils die intrinsische Rahmung durch ein kunstspezifisches »inneres Medium der Formung des Materials«4 zu unterscheiden. Durch die Fokussierung auf ›dichtung‹ und ›schrifttum‹ sowie den Verweis auf die ›neue fühlweise und mache‹ der propagierten ›geistigen Kunst‹, wird hier auch schon das primäre innere Medium der Formgestaltung in den Blätter für die Kunst adressiert: Sprache bzw. Schrift, noch präziser die Worte, Laute, Lettern, die im weiteren Erscheinungsverlauf zum Ausgangspunkt für die avantgardistische Vision einer ›reinen Formkunst‹ werden. Zentral ist dabei der prinzipielle Anspruch der Zeitschrift auf die Integration der Künste Malerei, Musik und Dichtung, der sich bis 1900 u.a. ganz konkret in »inlagen« in Gestalt von Musikstücken und Kunstreproduktionen dokumentiert,5 aber vor allem im Hinblick auf jene intermedialen Verflechtungen von Interesse ist, welche später explizit adressiert werden: »Dies sei uns noch immer anfang und ende: von der Kunst zu reden: den künsten in ihren beziehungen und ihrem zusammenwirken eine die andre anregend und vor erstarrung bewahrend.«6 Dieser Rekurs auf andere Künste dient als Bezug auf »Richard Wagner« und »Arnold Böcklin« zunächst der Selbstinszenierung des Blattes als Teil einer nationalen Erneuerungsbewegung der Kunst in Abgrenzung von internationalen Vorbildern.7 Wenn Paul Gérardy in einem 4

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6 7

Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 178, vgl. auch S. 57f u. S. 78. Vgl. zu den Begriffen extrinsische und intrinsische Rahmung: Dembeck, Till: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert, Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul, Berlin 2007, S. 34-46 und (mit Bezug auf Luhmann), S. 431−436. In der Forschung werden neben der sporadischen Publikation der »inlagen« primär ihre zweifelhafte Qualität und stilistische Diversität als Anzeichen für ihre Marginalität gewertet. Vgl. dazu (inklusive einer zusammenfassenden Übersicht über alle in den Blättern enthaltenen »inlagen«): Martus, Steffen: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹«, in: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, hg. von Achim Aurnhammer u.a., Berlin, Boston 2012, S. 301-364, hier S. 336f. [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 4. Folge, I.-II. Bd., Nov. 1897, S. 1-4, S. 1. Vgl. dazu Klein, Carl August: »Über Stefan George, eine neue Kunst«, in: BfdK, 1. Folge, II. Bd., Dez. 1892, S. 45-50, hier S. 50.

»die reine farben- formen- und linienfreude«

späteren Beitrag über »Geistige Kunst«, der sich durch das vorangestellte Zitat »Wir wollen die GEISTIGE KUNST…, Blätter f. d. Kunst. Bd 1« explizit auf das hier eingangs zitierte Kunstprogramm zurückbezieht, deren Vertreter als »spätgeborene brüder des malers« Böcklin bezeichnet und ihnen zuschreibt, »durch den klaren und nie entstellten rhythmus ihrer gedichte gleich-strebende träume auszudrücken«,8 verweist dies aber nicht zuletzt auf eine in den Blättern anzutreffende intermediale Dimension der Kunstbezüge.9 Denn einerseits findet sich dort eine Vielzahl von Gedichten, die sich explizit auf andere Kunstformen zurückbeziehen, wie z.B. Georges »Eine Pietà des Böcklin«,10 Karl Bauers »Adagio in cis-moll«11 , Georges »Übertragung« von Jens Peter Jacobsons »Arabeske zu einer Handzeichnung Michel Angelo’s«,12 oder Gérardys »Das Domfenster«.13 Andererseits wird die im Kunstprogramm angesprochene neue ›mache‹ dieser ›geistigen Kunst‹ immer wieder mittels Begriffen wie ›Klang‹, ›Ton‹, ›Rhythmus‹, ›Farbe‹ und ›Linie‹ beschrieben, wodurch die visionäre Neuausrichtung der Dichtung als ›reine Formkunst‹ in Bezug auf Musik und Malerei verdeutlicht wird, wofür gerade das bildkünstlerische Ornament als »bevorzugtes Reflexionsmedium«14 dient. Bevor dies genauer in den Blick genommen wird, gilt es allerdings zur Einordnung dieser Vision zunächst die Blätter für die Kunst als das ›äußere Medium‹, in dem sich derartige innere mediale Formgestaltung einerseits vollzieht, andererseits aber dergestalt beobachtet und reflektiert wird, selbst 8 9

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Gérardy, Paul: »Geistige Kunst«, in: BfdK, 2. Folge, IV. Bd., Okt. 1894, S. 110-113, hier S. 111. Mit Irina O. Rajewsky, die u.a. auch die Interart Studies unter dem Begriff der Intermedialität subsumiert, ließe sich dieser intermediale Kunstbezug als »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produktes durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als Distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem Kontaktmedium eigenen Mitteln« konkretisieren, in dem »nur letzteres […] materiell präsent« ist. Dies.: Intermedialität, Tübingen u.a. 2002, S. 19. George, Stefan: »Eine Pietà des Böcklin«, in: BfdK, 1. Folge, IV. Bd., Mai 1893, S. 119. Bauer, Karl: »Adagio in cis-moll«, in: BfdK, 1. Folge, V. Bd., August 1893, S. 138-139. Das Gedicht firmiert hier gemeinsam mit vier weiteren zudem unter der Überschrift »Gedichte zu Bildern«. George, Stefan: »Arabeske zu einer Handzeichnung Michel Angelo’s«, in: Bfdk, 1. Folge, V. Bd., August 1893, S. 152-155. Gérardy, Paul: »Das Domfenster«, in: BfdK, 4. Folge, III. Bd., Sep. 1899, S. 77-78. Dieses Gedicht verweist zugleich zurück auf eine der »inlagen«, Melchior Lechters »Zeichnung für ein Glasfenster« aus dem III. Bd. der 1. Folge. Simonis, Annette: Literarischer Ästhetizismus: Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000, S. 106.

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näher als ornamentale Konstellationen mit in vielerlei Hinsicht paradoxer Grundlage zu charakterisieren.

Die Blätter für die Kunst als ornamentale Konstellationen Diese paradoxe Grundlage der Blätter dokumentiert sich erstens in einer dezidierten Abgrenzung von populären Zeitschriftenformaten15 und einer ostentativen Positionierung außerhalb des Marktes, die sich letztlich als Marktstrategie erweist. Die Blätter für die Kunst werden von Klein im Selbstverlag in einer durchschnittlichen Auflagenhöhe von 300 Stück herausgegeben und je anteilig durch die Beiträger finanziert, denen keinerlei Autorenhonorare gezahlt werden.16 Die Erscheinungsweise bis 1919 ist höchst unregelmäßig, die ersten vier Folgen erscheinen in je fünf als ›Bände‹ bezeichneten Heften im Oktavformat mit jeweils etwas über dreißig Seiten, die dann mit einer jeweils im fünften ›Band‹ enthaltenen Gesamtübersicht im Buchformat zusammengebunden werden können; von der fünften Folge an wird nur noch dieses publiziert.17 Das Titelblatt des ersten Heftes druckt parallel den Hinweis »Diese zeitschrift im verlag des herausgebers hat einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis«, der den Eindruck marktferner, elitärer Exklusivität eines Austausches gleichgesinnter Künstler erwecken soll, wie den Verweis auf die Auslage in Buchhandlungen in Berlin, Wien und Paris,18 der deutlich werden lässt, dass die Zeitschrift sehr wohl auf dem Markt zu erwerben

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Walter Schmitz deklariert die Blätter für die Kunst sogar dezidiert als »Anti-Zeitschrift«. Ders.: »Der George–Kreis und seine Medien: Poetische Präsenz/Aristokratismus der Distanz«, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2003, S. 327-352, hier S. 337. Vgl. hierzu Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 313. Vgl. für eine Gesamtübersicht inkl. Auflistung aller Einzelbeiträge: Kluncker, Karlhans: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt a.M. 1974, S. 190-237. Dass die Blätter von vornherein auf das Buchformat hin angelegt sind, dokumentiert sich in der bandübergreifenden Seitenzählung der einzelnen Folgen. Ab der III. Folge wird Paris durch München ersetzt, mit der V. Folge, mit der Holten Verlag und Vertrieb übernimmt, entfällt der Verweis. Vgl. ebd.

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ist.19 Die Blätter-Forschung hat die Zeitschrift im Zusammenhang mit der so auf dem Titelblatt dokumentierten publizistischen Doppelstrategie wahlweise als »halböffentlich«20 gekennzeichnet und ihr den »Charakter eines gruppenintern zirkulierenden Manifestes«21 zugeschrieben oder aber gerade vom subversiven »Konzept Gegenöffentlichkeit« als »Legitimationsstruktur publizistischer Strategien«22 gesprochen, wodurch sich letztlich der »Marktentzug als Marktlücke«23 erweist, was Rudolf Borchardt bereits 1928 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung pointiert formuliert: Die für Deutschland neue Tatsache, daß man einen Gegenstand in zweierlei Weise verkaufen kann – erstens, indem man bekanntmacht, er sei überall für eine bestimmte Summe zu erstehen, zweitens, indem man bekanntmacht, er sei überhaupt nicht zu haben –, eine simple Tatsache, die auf dem Theorem von der halboffenen Tür beruht, wirkte mit publikatorischer Kraft.24 Damit entsprechen die Blätter für die Kunst dem Zeitschriftenformat des »little magazine«, dessen massive internationale Verbreitung um 1900 die ›kleinen

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Da die Preisangaben zwischen 3 und 4,5 Mark pro Halbjahr schwanken ist davon auszugehen, dass Preise immer wieder neu ausgehandelt wurden. Vgl. ebd. sowie Dimpfl, Monika: »Die Zeitschriften Der Kunstwart, Freie Bühne/Neue Deutsche Rundschau, und Blätter für die Kunst: Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900«, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil II, hg. v. ders. u Georg Jäger, Tübingen 1990, S. 116-197, hier S. 131. Fechner, Jörg-Ulrich: »L’âpre gloire du silence« …: Europäische Dokumente zur Rezeption der Frühwerke Stefan Georges und der »Blätter für die Kunst« 1890−1898, Heidelberg 1998, S. 17. Der dies nur auf die Praxis des Überlassens von Freiexemplaren an Gleichgesinnte durch Blätter-Mitarbeiter bezieht und dafür auf französische und belgisch-wallonische Vorbilder verweist (vgl. ebd. S. 20). Kolk: Literarische Gruppenbildung (Anm. 3), S. 49. Dimpfl: »Die Zeitschriften« (Anm. 19), S. 157f. Vgl. zur einer solchen forciert publikationsstrategischen Lesart auch Dieter Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement, München, New York, London, Paris 1979, S. 38. Brokoff, Jürgen: Geschichte der reinen Poesie Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 2010, S. 447. Dies kann Brokoff auf die Selbstbeschreibung mittels »ökonomischen Vokabulars« (ebd.) als »unternehmen« (BfdK 1 Folge, Bd. I, Okt 1892, S. 1) stützen, das seine Funktion selbst explizit als Ausfüllen einer solchen »lücke« charakterisiert (BfdK, 1. Folge, Bd. V, August 1893, S. 129). Borchardt, Rudolf: »Die Gestalt Stefan Georges«, zit. n. ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Marie Luise Borchardt, Bd.: Prosa I, Stuttgart 1957, S. 295−313, hier S. 303.

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Literaturmagazine‹ zu »Leitmedien der literarischen Moderne«25 avancieren lässt. Gerade im Hinblick auf eine immer wieder angedeutete,26 aber noch nicht systematisch rekonstruierte formatspezifische Vorbildlichkeit französischer, belgischer und niederländischer Zeitschriften, wie Floréal, La Wallonie, Écrit pour L’Art, L’Ermitage, und Mercure de France, scheint eine neuerliche Betrachtung der Blätter in diesem internationalen Formatkontext längst überfällig und vielversprechend. In diesem Zusammenhang entpuppt sich zweitens der Verzicht auf ökonomischen Profit dann durchaus als »Zugewinn an symbolischem Kapital«,27 indem sich paradoxerweise die »Praxis nationaler Exklusivität […] über internationale Verbreitung einstellt«,28 in deren Kontext die Blätter sich gleichermaßen als »Sachwalter der europäischen AvantgardeBewegung«29 in Deutschland verstehen wie zugleich als genuin deutsche Bewegung inszenieren.30 Nicht nur im Kontext eines solchen Ausbalancierens von internationalen Vernetzungen und nationalem Profil mit Originalitätsanspruch ist es schließlich von Interesse, wenn die programmatische Einleitung des ersten Heftes weiter konstatiert: Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite. Zwar werden wir auch belehrend und urteilend die neuen strömungen der literatur im in- und ausland einführen, uns dabei aber so sehr

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Spoerhase, Carlos: »Kleine Magazine, große Hoffnung«, in: Merkur 69 (2015), S 72-79, hier S. 72. Vgl. dazu u.a. Fechner : »L’âpre gloire du silence« … (Anm. 20), S. 14 und Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 303. Kolk: Literarische Gruppenbildung (Anm. 3), S. 55, vgl. auch Martus: Geschichte der »Blätter für die Kunst« (Anm. 5), S. 315. Ebd., S. 320. Neben der auf dem Titelblatt dokumentierten Auslage der Blätter in einer Pariser Buchhandlung ist unter deren internationaler Verbreitung dabei vor allem deren Rezeption in französischen, belgischen und niederländischen Zeitschriften zu verstehen, die in den Blättern selbst immer wieder plakativ in Szene gesetzt wird. Vgl. dazu Fechner: »L’âpre gloire du silence« … (Anm. 20), S. 14. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 303. So z.B. in der Rückführung des französischen Symbolismus auf die deutsche Romantik. Vgl. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 47 oder in der Umdeutung dieser und anderer internationaler Einflüsse der Blätter als deutsches Erbteil eines »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.« [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 3. Folge, II. Bd., März 1896, S. 35. Vgl. zum Begriff der deutschen Bewegung in diesem Zusammenhang ausführlicher: Gretz, Daniela: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, Paderborn 2007, S. 147-174 und S. 241-273.

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wie möglich aller schlagworte begeben* die auch bei uns schon auftauchten und dazu angethan sind die köpfe zu verwirren und dabei zugleich in der entsprechenden Fußnote just die aus dem französischen Kontext importierten Schlagworte »Symbolismus Dekadentismus Okkultismus u. s. w.«31 prominent in Szene setzt, die, wie auch das schon in der Propagierung einer »kunst für die kunst« übersetzte und so aufgerufene Schlagwort einer »L’art pour l’art«, im weiteren Erscheinungsverlauf der Zeitschrift immer wieder bemüht werden. Dies verweist zugleich drittens auf eine paradoxe Vermittlungsstrategie dieses Kunstprogramms, indem so nicht nur im ostentativen Verzicht auf französische Schlagwortimporte diese so allererst im deutschsprachigen Raum etabliert werden, sondern auch neben ›Werken, an denen man später die Regeln ableiten‹ soll, bereits ›Lehrsätze‹ formuliert werden, worauf sich bis zur IV. Folge in weiteren ›Einleitungen und Merksprüchen‹, Aphorismen und kurzen Essays regelmäßig ein solches miszellanes Wechselspiel von Werken und aus diesen abgeleiteten Regeln und ›Lehrsätzen‹ entfaltet. An dieser rekursiven Ausformulierung des Kunstprogramms sind vor allem Carl August Klein, der wahlweise als »Camouflage«32 , »Strohmann«33 oder »Tarnkappe«34 Georges bezeichnet wird, aber auch Paul Gérardy, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl maßgeblich beteiligt, zuweilen trägt aber George auch unter eigenem Namen etwas dazu bei. Im Rahmen einer solchen doppelten Vermittlungsstrategie von komplementären performativen ›Werken‹ und aus diesen abgeleiteten ›Lehrsätzen‹ setzt sich die Zeitschrift selbst als »privilegierten Kontext« der Einzelbeiträge in Szene und trainiert so auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung beim Leser eine »Lesehaltung, die größtmögliche Aufmerksamkeit in ihren Gegenstand investiert und auf die Wahrnehmung von Relationen setzt«.35 Aufschlussreich ist hier die charakteristische, in leichter Variation wiederkehrende inhaltliche Struktur der Einzelbände: Am Anfang und/oder Ende stehen unregelmäßig Einleitungen und Nachrichten, die, wenn überhaupt,

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»Blätter für die Kunst«, in: BfdK, 1. Folge, I. Bd., Okt. 1892, S. 1. Apel, Friedmar: »Die eigene Sprache als fremde. Stefan Georges frühes Kunstprogramm«, in: George-Jahrbuch 8 (2010/11), S. 1-18, hier S. 2. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 319. Bozza, Maik: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf, Göttingen 2016, S. 22. Martus: »Geschichte der »Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 322 und S. 357.

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nur mit »Blätter für die Kunst« gezeichnet sind und so den äußeren Rahmen der Publikation markieren. Den eigentlichen Auftakt der Hefte bilden dann Beiträge Georges (in der Regel Vorabveröffentlichungen aus dessen neuen Gedichtbänden, die zugleich eine Werbefunktion haben; zuweilen aber auch ältere, pseudonyme Veröffentlichungen Georges oder Übertragungen, die dieser zu seinem eigenen Werk zählt),36 darauf folgen Beiträge (in der Regel Gedichte oder Dramenauszüge) zentraler, bereits bekannterer Mitarbeiter wie Hugo von Hofmannsthal, Paul Gérardy, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages, häufig schließen sich daran programmatisch-poetologische Beiträge Kleins oder der zitierten bekannteren Autoren an, die so im Zentrum der Heftstruktur stehen, bevor erneut Dichtungen meist noch unbekannter Debütanten folgen, den Abschluss der Hefte bilden in der Regel Übertragungen internationaler Autoren, die meist als Texte Georges ausgewiesen werden und so mit dessen Auftaktdichtungen einen zweiten, inneren Rahmen bilden.37 In dieser rekursiven Heftstruktur dokumentieren sich zunächst mit der Werbefunktion, der Etablierung eines Forums für Nachwuchsautoren, einer entsprechenden (durch die »inlagen« durchaus auch kunstübergreifenden) Sammlungsfunktion für eine neue künstlerische Bewegung, die in Gestalt der sukzessiven Etablierung von geteilten Normen der Produktion und Rezeption von Texten, schließlich zu einer Stilbildung führt,38 und der anthologischen Aufbereitung der internationalen ästhetizistisch-symbolistischen Bewegung für den deutschen Markt eine Reihe unterschiedlicher zentraler Funktionen der Zeitschrift.39 Dabei ist im Rahmen der Sammlungsfunktion vor allem die Produktion multipler Anschluss- und entsprechender Auslegungsmöglichkeiten der Ein-

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Die einzige Ausnahme findet sich in den hier zugrunde gelegten ersten vier Folgen im III. Bd. der 4. Folge vom Oktober 1899, an dessen Anfang aus gegebenem Anlass »Verse aus dem Nachlass« des im Vorjahr verstorbenen Blätter-Beiträgers Richard Perls stehen. Martus: »Geschichte der »Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 317f. Martus differenziert die Beiträge allerdings nicht generisch, weshalb die zentrale Stellung der programmatischen Beiträge in der Mitte der Hefte nicht deutlich wird. Vgl. dazu Kolk: Literarische Gruppenbildung (Anm. 3), S. 57 und ausführlich Kluncker: Blätter für die Kunst (Anm. 17), S. 108-156, der von der Ausbildung eines »Schulstiles« (ebd., S. 111) spricht. Vgl. zu den vielfältigen Funktionen der Zeitschrift in den zu differenzierenden unterschiedlichen aufeinanderfolgenden Phasen des Erscheinungszeitraums Dimpfl: »Die Zeitschriften« (Anm. 19), S. 177-183.

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zelbeiträge zu betonen.40 Zu diesen im ›äußeren Medium‹ der Zeitschrift bereitgestellten Anschlussmöglichkeiten gehören neben den aktuellen Schlagworten moderner künstlerischer Avantgardebewegungen, insbesondere des Symbolismus, vor allem nationale künstlerische und literarische Traditionen, aber, nicht zuletzt durch Autoren wie Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Ludwig Derleth, auch gleichermaßen jüdische, germanische, antike und christliche Traditionsbestände wie aktuelle okkulte kosmische und lebensphilosophische Diskurse. Im Rahmen der so skizzierten, rekursiven sich variierend wiederholenden miszellanen Grundstruktur lassen sich überdies unterschiedliche serielle »Konstellationsverfahren«41 von literarischen und programmatischen Beiträgen beobachten, wie das komplexe (z.T. durch entsprechende Rückvereise explizit gemachte) »strategische Arrangement«42 der sequenziellen Aufeinanderfolge der Beiträge oder durch Redundanzen und Variationen von rekurrenten Inhalten, Schlagworten, Topoi und Metaphern erzeugte »Resonanzen«.43 Mit Blick auf diese Konstellationsverfahren lassen sich die Blätter für die Kunst im neuerlichen Rückgriff auf Luhmann als ornamentale Konstellationen44 beschreiben, wenn dieser »Ornamente« als »Rekursionen, Rückgriffe und Vorgriffe, die sich als solche fortsetzen« begreift, wobei »der laufende Anschluß das Prinzip [ist], mit dem das zunächst Ausgeschlossene aufgegriffen, als Anlaß definiert und zur Wiederholung desselben oder zur Anknüpfung von anderem verwendet wird«, so dass das Ornament »seinen eige-

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Im Gegensatz zu Bestrebungen einer Forschung zum Publikationsorgan Georges, deren Ziel naturgemäß ist, die Zeitschrift möglichst auf eine einheitliche programmatische Position festzulegen. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 336. Martus führt diese Konstellationsverfahren zuvor anhand einer exemplarischen Analyse des ersten Bandes (ebd., S. 318-328) vor. Auch Rainer Kolk arbeitet in diesem Sinne bereits eine entsprechende prinzipielle ›Komplementarität‹ einzelner Blätter-Beiträge heraus, vgl. dazu ders.: Literarische Gruppenbildung (Anm. 3), S. 69-72. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 318. Ebd., S. 336. Diese versuchsweise Adaption des luhmannschen Ornamentbegriffs steht im Kontext des DFG-Projekts »Ornamentale Konstellationen: Zur Ästhetik von Literaturmagazinen im Raum moderner Massenmedien (1880 bis 1930)«, dessen Ziel es ist, den zeitgenössisch virulenten Ornamentbegriff auf unterschiedlichen Ebenen für eine vergleichende Analyse von Literaturmagazinen im Raum der modernen Massenmedien fruchtbar zu machen.

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nen imaginären Raum durch eine laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge« erzeugt, wobei »Übergänge unkenntlich gemacht, zumindest nicht als Brüche betont [werden], denn jede Stelle im Ornament ist zugleich die andere einer anderen.«45 Wenn Luhmann das Ornament zugleich als »Infrastruktur des Kunstwerks« charakterisiert, die »der Organisierung von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät«46 dient, lässt sich dies mit Blick auf die eingangs eingeführte Vorstellung einer »Doppelrahmung« von äußerem Medium der Aufmerksamkeitserzeugung und Installierung von Beobachtungsverhältnissen und innerem Medium der Formgestaltung gleich doppelt fruchtbar machen, insofern das »Ornament als Formel für die doppelte ›Schließung‹ des Werks nach außen und nach innen; […] sozusagen Ponderation und Rahmen zugleich«47 ist und dabei als Denkfigur einen »Übergang von Operationen zu Beobachtungen und umgekehrt«48 ermöglicht. Erstens lässt sich hier, gleichsam in einer komplexen Verschachtelung von Ornamentstrukturen und -funktionen, mit dem Ornament als Denkfigur die Ästhetisierung des Mediums Zeitschrift im Format des »little magazine« beschreiben, indem die Blätter operativ durch selbstreferentielle Rückverweise auf den, nicht zuletzt durch die periodische Erscheinungsweise, ›laufenden Anschluss‹ in Gestalt gleichmäßig verteilter, rekurrenter Inhalte, Schlagworte, Topoi und Metaphern intrinsisch Beobachtungsverhältnisse installieren und so eine zum Kunstwerk strukturhomologe »›artifizielle‹ Form […] etablieren, die zugleich als Medium für Formen in der Form dient«49 , nämlich für die integrierten Kunstwerke, was Luhmanns Lesart des Ornaments als »Grundform

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 194f. Ebd., S. 185 u. S. 186. Werber, Niels: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner systemtheoretischen Beobachtbarkeit. Zu Niklas Luhmanns Buch ›Die Kunst der Gesellschaft‹«, in: Weimarer Beiträge 43 (1997), S. 339-348, hier S. 347. So Natalie Binczek, die zugleich kritisiert, dass dabei das Ornament »stets unterstellt werden muß«, weil »›laufenden Anschluß‹ […] immer nur ein Ornament generieren [kann], das sich selbst und alle anderen einzeln wahrnehmbaren Ornamentstrukturen überschreitet.« Dies.: »Zur Funktion des Ornaments in Luhmanns Kunst-Buch«. Mit einem Supplement zum Bild des Ornaments in L’annèe dernière à Marienband, in: Gregor Schwering/Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München 2002, S. 103-122, S. 114f. Die entscheidende Frage dabei ist allerdings die nach der jeweiligen Produktivität dieser Unterstellung. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 188.

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des Entwickelns von Formen aus Formen«50 entspricht. Verkompliziert wird dies, da diese intrinsische zugleich immer von einer extrinsischen Schließung der Blätter auf unterschiedlichen Ebenen begleitet wird: von der angedeuteten paratextuellen Rahmung durch Titelblätter und Editorials sowie der skizzierten rekursiven und ihrerseits damit wiederum ornamentalen Struktur der inhaltlichen, zugleich aber durch Layout, typographische Textgestaltung in Form von Schrifttypen, aber auch Ornamenten im engeren Sinne, Linien und Weißräumen, immer auch formalen Heftordnungen. Indem die Blätter als ornamentale Konstellationen zugleich zum ›äußeren Medium‹ der durch sie extrinsisch gerahmten Kunstwerke werden,51 erweisen sie sich für den (wissenschaftlichen) Leser als Beobachter zweiter Ordnung, der beobachtet, wie sie Kunstwerke ›ausstellen‹ und in ihren programmatisch-poetologischen Beiträgen beobachten, zweitens aber auch als deren ornamentale ›Infrastruktur‹. In diesem Kontext erscheint die ›laufende Verwandlung von Formgrenzen in mehrdeutige Übergänge‹ nun als »Kippfigur« des beständigen »Umschlags von Ornament in Figur«,52 von der lo50

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Ebd., S. 193. Dies wäre allerdings weniger produktionsästhetisch als rezeptionsästhetisch mit Bezug auf die installierten Beobachtungsverhältnisse und den Nachvollzug der operativen Schließung durch den Leser zu verstehen. Vgl. zu einer Lesart von Luhmanns Ornamentbegriff als doppelter, extrinsischer und intrinsischer Rahmung: Dembeck: Texte rahmen (Anm. 4), S. 434. Luhmann selbst weist darauf hin, dass die Grenze/der Rahmen eines Kunstwerks selbst als Form, z.B. als Ornament gestaltet sein kann: »Aber wenn man dies nachvollzieht, sieht man sie schon nicht mehr als Grenze, sondern beobachtet Formenunterschiede – eins ergibt sich aus dem anderen –, die man dem Kunstwerk zurechnet.« Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 79. Dieses Formenspiel zwingt den Beobachter dazu, »von Form zu Form weiterzugehen, um schließlich die Form, mit der man begonnen hatte, als die andere Seite einer anderen Form wiederzuerreichen.« Das äußere Medium der Kunst ist dann, die »Gesamtheit der Möglichkeiten, die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen nach außen zu kreuzen und auf der anderen Seite Bezeichnungen zu finden, die passen, aber durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen. […] Im Suchen verwandelt sich dann das Medium in Form.« Ebd, S. 190f. Dembeck: Texte rahmen (Anm. 4), S. 432. Bereits die Blätter selbst deuten dies an, indem sie die Kritik an der schwankenden Qualität der Beiträge mit der Funktion der »minder starken beiträge […] zur bildung des nötigen hintergrundes« zurückweisen ([Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 3. Folge, V. Bd, Oktober 1896, S. 129-132, S. 131) und diese als notwendiges Medium der Formbildung ausweisen: »von aller wichtigkeit ist es die kleineren zu erziehen und hinzuleiten auf dass sie die luft bilden in denen der grosse gedanken atmen kann.« [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 4. Folge, I.-II. Bd., Nov. 1897, S. 1-4, hier S. 3.

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sen Kopplung von Elementen im äußeren Medium der Zeitschrift (mit ihren, vom Kunstwerk aus betrachtet, zentrifugalen miszellanen wie seriellen potentiellen Anschlussmöglichkeiten) in deren zentripetale festere Kopplung in der inneren medialen Formgestaltung, die Luhmann im Fall der Sprachkunst/Poesie wiederum als »ornamentale Qualität von Wortkonstellationen« beschreibt.53 Denn die Dichtungen sind zwar einerseits Teil der ornamentalen Blätter-Konstellationen, bilden aber andererseits durch die operative Schließung im inneren Medium der Formgebung, sofern sie Sprache/Worte/Laute/Lettern nur als Medium der Formbildung nutzen (im Gegensatz zu deren kommunikativem Gebrauch im Rest der Zeitschrift), ein intrinsisches »inneres Ornament« als »funktionales Äquivalent« zum nun nurmehr extrinsisch rahmenden aus: »eine innere ›Schönheitslinie‹, die das figurativ getrennte verbindet und stärker gekrümmt ist, also stärker verdichtet, als es in der Natur vorkommt. Indem das Ornament sich als Verzierung ins Äußerliche verliert, entsteht es im Inneren neu.«54 In diesem Zusammenhang ist das äußere wie innere Ornament von Zeitschrift wie Kunstwerk aber jeweils gerade nicht als Verzierung mit einer bloß dienenden Funktion »der Unterstreichung, der Betonung des Wesentlichen«55 zu verstehen, sondern »übernimmt die Last

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Erlaubt es die extrinsische Rahmung durch das äußere Medium, dem Beobachter erster Ordnung ein Objekt als Kunstwerk zu identifizieren und zum Gegenstand von Kommunikation zu machen, so erlaubt die intrinsische Rahmung dem Beobachter zweiter Ordnung, »dem Kunstwerk selbst den Leitfaden weiterer Beobachtungen [zu] entnehmen«, d.h. das »Kunstwerk anhand der Formen [zu] beobachten, die in das Werk selbst eingearbeitet sind. Auch diese sind immer Differenzformen mit der Besonderheit, daß auf der einen Seite etwas festgelegt ist, was der anderen Seite den Spielraum des Beliebigen nimmt oder doch einschränkt. […] Dabei kommt es darauf an zu sehen, welche Freiheiten die Festlegung einer Seite noch ließ; und damit auch, wie sicher die daraufhin möglichen Operationen ausgeführt sind.« Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 119f. Ebd., S. 196. Luhmann verortet dies kunsthistorisch in der Renaissance (ebd., S. 193, Fußnote 40, vgl. dazu auch ausführlich ebd., S. 350-360), allerdings lässt sich das SichVerlieren ins Äußerliche auch als Effekt operativer Schließung des Kunstwerks und des entsprechenden Umschlags von Ornament in Figur verstehen: Das äußere Medium der ornamentalen Blätter-Konstellation wird in dem Moment zur bloß verzierenden Rahmung, z.B. in Gestalt typographischer Ornamente oder blancs, die die einzelnen (Wort)Kunstwerke vom ›laufenden Anschluss‹ separieren und als Figur sichtbar machen, in dem das »innere Ornament« zum Signum der Autonomie des Werks wird (ebd., S. 198). Ebd., S. 185f.

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der Sinngebung. Wenn man Kunstwerke als Kunstwerke auf ihr Formenspiel hin beobachten will, muß man nach ihrem Ornament fragen.«56 Dies bedeutet aber im Hinblick auf die verschachtelten ornamentalen Konstellationen der Blätter für die Kunst, dass man diese jeweils nur durch »retroactives Lesen« erfassen kann, das »die lineare Struktur des Textes verl[ässt] und ihn zirkulär begreif[t], ja in viele wechselseitig vernetzte Zirkel zerleg[t].«57 Dies soll nun exemplarisch anhand der Vision einer ›reinen Formkunst‹ als Versuch der blätterinternen Beobachtung des ›inneren Ornaments‹ der Wortkunstwerke angedeutet werden.

Die Vision einer ›reinen Formkunst‹ oder die ›reine Form‹ als ›inneres Ornament‹ Den ›Form‹-Diskurs der Blätter um die ›neue mache‹ der ›geistigen Kunst‹ eröffnet der Essay »Über Stefan George, eine neue Kunst«,58 der ausgehend von Albert Saint-Pauls Beschreibung Georges als »poète symboliste de l’Allemagne« im Rahmen eines »substanzielle[n] und programmatische[n] ›Symbolismusstreit[s]‹ um literarische Form«59 bereits alle wesentlichen Aspekte kurz einführt, die dann jeweils in einer Reihe von weiteren Beiträgen rekursiv systematisch entfaltet werden. Als zentrale Gemeinsamkeit Georges und der Symbolisten wird herausgestrichen, »dass es ihm wie Ihnen aufgegangen ist worin das wesen der modernen Dichtung liegt: das wort aus seinem gemeinen alltäglichen kreis zu reissen und in eine leuchtende sfäre zu erheben.«60 Diese Erhebung des Wortes in die »leuchtende sfäre« der Dichtung setzt dessen Herausreißen aus dem »gleichwie schlechte münze von hand zu hand gehen« im »gemeinen tages-verkehr« der Alltagsverständigung voraus, den 56 57

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Ebd., S. 196. Ebd., S. 201. Luhmann konstatiert, dass »diese Anstrengung« nur »innerhalb eines einzelnen Gedichtes erreicht und zugemutet« werden kann, die Herausforderung der Lektüre der Blätter als ornamentale Konstellationen besteht darin, sie versuchsweise entsprechend auszuweiten. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7). Der Essay wurde inzwischen als »raffinierte Selbstmanifestation« und »zukunftsweisendes Programm« Georges identifiziert. Apel: »Die eigene Sprache« (Anm. 32), S. 13. Vgl. zu Georges (Ko-)Autorschaft auch ebd., S. 1 sowie Bozza: Genealogie des Anfangs (Anm. 34), S. 20. Ebd., S. 11. Dieser wird ebd., S. 15-28 ausführlich rekonstruiert. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7) , S. 47.

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Karl Wolfskehl in seiner kurzen Abhandlung »Über die dunkelheit« später kritisch beleuchtet und ihm das »schweigende geheimnis schwerer worte und ferner klänge« in der Schönheit der Dichtung entgegenstellt, das dieser auch als Motto vorangestellt ist.61 Auch Kleins Essay wird von einer komplexen paratextuellen Rahmenkonstruktion zweier Motti eingeleitet, in der erstens im Rückgriff auf Horaz Georges ›neue Kunst‹ als eine so bislang nicht vernommener Lieder (»Carmina non prius/Audita«)62 eingeführt wird und zweitens diese Kunst im typographischen Spiel mit einem Goethe-Zitat als »in unserer muttersprache oft ebenso dichten/als ob es eine fremde wäre«63 charakterisiert wird. Sich in einer solchen »sprache auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne« erzeugt zugleich jene »klangvolle dunkelheiten« der Dichter, die auch in einem späteren Mallarmé-Porträt thematisiert werden.64 Die Befreiung des Wortes von der kommunikativen Verständigungsfunktion der Alltagssprache, der auch in Kleins Essay mit poetischer Verfremdung verbundene Verzicht auf Verständlichkeit, ist einerseits eine »Reinigung der Poesie von der Vorherrschaft der Bedeutung«, welche »die Sprache der Poesie […] in ihrer Körperlichkeit«,65 ihrer Sinnlichkeit, Materialität und Medialität hervortreten lässt, andererseits resultiert sie aber in jener ›klangvollen Dunkelheit‹, die auf eine leibliche, sinnliche Wirkung als ›neue fühlweise‹ abzielt, die wiederum mit neuen »hermetische[n] Sinnsuggestionen«66 verbunden werden kann: durch genau erwogene wahl und anhäufung von konsonanten und vokalen bekommen wir einen eindruck ohne zuthat des sinnes. jubel und trauer glätte und härte nacht und licht fühlen wir ohne dass wir die begriffe dastehn haben. ganze verse dünken uns aus einer anderen sprache und versetzen uns

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Karl Wolfskehl: »Über die dunkelheit«, in: BfdK, 3. Folge, V. Bd, Okt. 1896, S. 140-143, hier S. 142. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 47. Vgl. dazu Apel: »Die eigene Sprache« (Anm. 32), S. 4-7. »Dichterköpfe III. Mallarmé«, in: BfdK, 1. Folge, 5. Bd, August 1893, S. 134-137, hier S. 136. Die Abgrenzung vom Sprachgebrauch der ›unheiligen menge‹ verweist zugleich auf die erste Verszeile des Horaz-Mottos aus Kleins Essay zurück: »Odi profanum vulgus et arceo«. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 45. Brokoff: Geschichte der reinen Poesie (Anm. 23), S. 27. Vgl. dazu Simonis: Literarischer Ästhetizismus (Anm. 14), S. 129

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in seltsame unruhe. alles läuft auf eins hinaus: den grossen zusammenklang wobei wir durch die worte erregt werden wie durch rauschmittel.67 Gerade in einer solchen klassischen Regelmäßigkeit der Georgeschen Form liegt aber, wie Klein erläuternd anschließt, die entscheidende Differenz zwischen diesem und den Symbolisten: »Im gegensatz zu den Jüngsten die die formen auflösen sind die seinigen streng regelmässig«.68 Diesen Gegensatz, der hier lediglich knapp auf den Versuch der Umsetzung des neuen materialästhetischen, wortkünstlerischen Programms im Rahmen je unterschiedlicher nationalsprachlicher Ausgangsvoraussetzungen zurückgeführt wird, greift Klein später in seinem Essay »Über das rein Formelle« wieder auf, der vom George-Motto »Wenn du dichtest sing und male. wenn du redest gieb kurze gedanken und in guter reihe. Ausweitung und verknüpfung besorgen wir schon« eingeleitet wird und sich so als neuerlicher ebensolcher Erläuterungsversuch zu Georges Dichtung lesen lässt. In diesem Sinne konstatiert Klein: »Wenn wir im nachbarlande die bestrebung erkennen in der dichtung die maasse aufzulösen die reime zu entstellen die alten strofen zu sprengen […]: so hat das jetzt für uns geringe bedeutung« und führt dies darauf zurück, dass in Deutschland die »strengen formregeln« den »grad der äußeren vollendung nie erreicht« haben: »Die formelle reinheit ist bei unsern klassikern nirgends durchgeführt.«69 Ergo liege die Erneuerung der Dichtersprache in Deutschland gerade nicht in der Auflösung der Form, sondern in der erstmaligen Perfektionierung ›formeller Reinheit‹ in einer neuen Klassik: Wenn also die jungen dichter unsrer neuesten künstlerischen bewegung mit unbestrittener meisterschaft die sprache zu höchster glätte den reim zu höchster reinheit bringen die wortverbindungen von allen unebenheiten und missklängen reinigen so scheinen sie dem einzig richtigen gang der

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Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 48. Klein konstatiert hier ergänzend »Die form dieses werkes ist im strengsten sinn klassisch. Hier giebt es keine falschen unreinen reime mehr keinen einzigen leichtsinnigen fehler im takt und […] dasselbe wort wiederholt sich niemals im reim.« Ebd., S. 46f. Klein, Carl August: »Unterhaltungen im grünen salon. Herrn Stefan George gewidmet, I. Über das rein Formelle«, in: BfdK, 1. Folge, III. Bd., März 1893, S. 83-85, hier S. 83f.

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entwicklung zu folgen, mögen sie auch den fremden dadurch zu klassisch oder zu parnassisch vorkommen.70 Der ›grosse zusammenklang‹ als dergestalt ›formell reine‹ ornamentale Wortoder vielmehr Klangkonstellation der Dichtung wird vor allem in den BlätterBeiträgen Karl Wolfskehls aber auch als mystisch-kosmischer Allzusammenhang lesbar, dessen rauschhafte Erfahrung eine »liebende[] hingabe« erfordert, die zur Selbstaufgabe führt: alle fesseln fielen, alle die formen, alle die farben freuen sich der eigenen pracht, die doch Einer mutter kinder froh sich wissen. Heiliges dunkel, heilige nacht, da du auf unser selbst uns weisest, fühlen wir stolz und schaudernd in uns die blüten alles lebens prangen. was das wissen von uns selber reicher und tiefer bildet das schweigende geheimnis schwerer worte und ferner klänge, das lässt von allem fremden leben die hüllen fallen. nur wenn wir uns erfassen erfassen wir das all. Pan aber, das grosse licht, löscht alle einzelflammen.71 Entsprechend bedeutet die ›neue mache‹ hier keinen Verzicht auf Gehalt,72 sondern dessen Transformation in einen (imaginären) Effekt der Form, was auch bei Klein mit einem sich anschließenden weiteren Macaulay-Zitat über Milton erläuternd nahegelegt wird: »Ändern wir den bau des satzes nehmen wir ein sinnverwandtes für ein wort so ist die ganze wirkung zerstört. Der zauber verliert seine macht.«73 Dass dabei die ornamentale Wort- und Klangkonstellation durchaus auch als visuelle Zeichenkonstellation zu verstehen ist, legt der bei Klein unmittelbar darauffolgende Satz nahe, der zugleich eine, wenngleich zurückgewiesene, Erklärung für deren hermetische Dunkelheit liefert: 70

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Ebd., S. 85. Bozza liest dies vor dem Hintergrund von Nietzsches Der Fall Wagner und dessen Gegenüberstellung von dekadentem ›niedergehenden‹ und klassischem ›aufsteigenden‹ Leben als »Verteidigung des deutschen Anspruchs auf ›klassische Ästhetik‹ und reine, aufstrebende Schönheit im Kampf gegen die mit dem Niedergang und der Ästhetik der Auflösung identifizierten französischen Symbolisten.« Bozza: Genalogie des Anfangs (Anm. 34), S. 28. Wolfskehl: »Über die dunkelheit« (Anm. 61), S. 141f. Vgl. dazu Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 50: »Die weittragende bedeutung dieser poetischen schöpfungen liegt nicht nur darin dass sie […] eine neue poetik andeuten: sie teilen zugleich das sichere gefühl mit dass der geistige gehalt […] eine umartung erfahren muss.« Ebd., S. 49.

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Keine interpunktion. wenigstens keine im alten sinn. nur hie und da punkte um unerwartete einhälte zu bezeichnen. die strofe ist ein musikalisches ganze dessen gliederung sich von selbst ergiebt. ein höchst einfaches system von dem nur der flüchtige beobachter behaupten kann dass es das verständnis erschwere.74 Auch die so anklingende Integration von vermeintlichen Äußerlichkeiten in die ›formelle reinheit‹ erfährt in einem weiteren Klein-Essay über »Das doch nicht äusserliche« eine systematischere Ausformulierung. Ausgehend von der allgemeinen Feststellung, dass der Verfasser »für das technische eines buches […] mit verantwortlich« ist und »für sein geschöpf eine standesgemässe kleidung beansprucht« und einer sich anschließenden, mit Bezug auf die Brüder Grimm entfalteten Kritik an der »ungestalte[n] und hässliche[n]«, »verdorbene[n] und geschmacklose[n]« ›deutschen‹ Frakturschrift und dem mit ihr veranlassten »albernen gebrauch der grossen anfangsbuchstaben« wird hier die in den Blättern zur Anwendung kommende, für George typische konsequente Kleinschreibung jenseits des Satzanfangs mit dem Eindruck ›formeller Reineit‹ gerechtfertigt: »Kaum ein leser wird an den lateinischen und kleinen anfangsbuchstaben ärgernis nehmen […], allen unbefangenen aber muss die daraus entsprungene sauberkeit angenehm ins auge fallen.«75 Dem wird, parallel zu Kleins George-Essay, in Bezug auf »lesezeichen« noch die Regel »je weniger desto besser«76 und das Streben nach »einfachheit« in der »rechtschreibung« hinzugefügt.77 Auch wenn das erste Blätter-Heft als »geprägt von typographischer Beliebigkeit, einem Durcheinander von neun (!) verschiedenen, allesamt unharmonischen Auszeichnungsschriften […], dazu noch dekoriert mit den bescheidenen Fleurons aus dem Setzkasten einer belanglosen Druckerei«78 beschrieben und deren Zurückbleiben hinter dem »Niveau der Buchgestaltung, das Klein in Das doch nicht Äusserliche entwirft«79 konstatiert wird, bleibt doch zunächst einmal der weitgehende Verzicht auf Fraktur und die (am Vorbild der französischen Symbolisten geschulte und im deutschsprachigen Kontext durch74 75 76 77 78 79

Ebd. »Unterhaltungen im grünen Salon. III. Das doch nicht äusserliche«, in: BfdK, 1. Folge, V. Bd., August 1893, S. 144-146, hier S. 144f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Lucius, Wulf D.: »Die buchkünstlerische Gestaltung der Werke Stefan Georges – Solitär oder Zeitstil?«, in: George-Jahrbuch 9 (2012/13), S. 69-91, S. 72. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 317.

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aus innovative) Bevorzugung schlichter Antiqua- und Groteskschriftarten für den Textkörper festzuhalten, während verzierte Schrifttypen lediglich in Titeln und Überschriften eingesetzt werden.80 Auch ohne Verwendung der 1904 aus der Akzidenz-Grotesk heraus entwickelten Stefan George-Schrift ergibt sich für die Blätter neben dem intendierten »Distinktionsgewinn«81 hieraus gemeinsam mit der Kleinschreibung, der reduzierten Interpunktion und der z.T. gewöhnungsbedürftigen, ›vereinfachten‹ Rechtschreibung ein durchaus vergleichbarer Effekt »erschwerter Leserlichkeit«,82 wie er für die StG-Schrift in radikalisierter, ans »Ornament«83 grenzender Form herausgearbeitet worden ist. Komplementär zur wortkünstlerischen Poetik wird in den Blättern so ein Stocken des Leseflusses provoziert, das es nötig macht, Wort für Wort aus-

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Eine nähere Untersuchung des konkreten Einsatzes der unterschiedlichen Schrifttypen in den Heften steht noch aus. Zu überprüfen wäre, ob der Versuch einer thematischen und stilistischen Differenzierung und Abgrenzung der einzelnen Beiträge mittels Typographie Hintergrund der konstatierten ›Beliebigkeit‹ der Auszeichnungsschriften sein könnte, ganz in dem Sinne, in dem der von George einmal als Nachahmung der Blätter qualifizierte Pan differenziert: »Ein Buch ist ein großer Saal, von dem man einen einheitlichen Eindruck erwarten darf, eine illustrierte Zeitschrift dagegen ist ein Haus mit vielen Zimmern und Gelassen. Das Haus selbst, in seiner ganzen äußeren Erscheinung, muß einheitlich stilganz wirken, aber die einzelnen Räume sollen nach Wunsch und Wesen derer eingerichtet sein, die ihn ihnen wohnen.« »Zur Ausstattungsfrage«, in: Pan 1 (1895) 1, S. 40. Darauf deutet auch der einzige Rückgriff auf Fraktur in der Überschrift zur Publikation von Wolfskehls Gedichten aus den »heroischen Zierraten« (BfdK, 2 Folge, III. Bd., Aug. 1894, S. 85) hin, dem eine Korrespondenz zwischen typographischer Form und Inhalt zugrunde liegt. Vgl. dazu Kluncker: Blätter für die Kunst (Anm. 17), S. 67. Schäfer, Armin: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 102. In diesem Sinne werden die nicht nur äußerlichen Fragen von Typographie und visuellem Design in den ›Einleitungen und Merksprüchen‹ in dezidierter Abgrenzung vom deutschen Buch- und Zeitschriftenmarkt erneut aufgegriffen. Vgl. [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 3. Folge, IV. Bd., August 1896, S. 97-99, hier S. 98 Vgl. dazu: Reuß, Roland: »Industrielle Manufaktur. Zur Entstehung der ›Stefan-GeorgeSchrift‹«, in: Doris Kern/Michel Leiner (Hg.): Stardust. Post für die Werkstatt. KD Wolff zum Sechzigsten, Frankfurt a.M./Basel 2003, S. 166-191, S. 178 und Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 ∙ 1900, vierte, vollständig überabeitete Ausgabe, München 2003, S. 313-319, hier S. 315f. Reuß: »Industrielle Manufaktur« (Anm. 82), S. 177 und Kittler: Aufschreibesysteme (Anm. 82), S. 317, mit der Beobachtung, dass wenn die Schrift dergestalt zum Ornament, komplementär dazu das Ornament zum Interpretandum wird.

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zubuchstabieren, diese sind mithin auch darauf angelegt, zuweilen als reine, »gesehene Form«84 rezipiert zu werden. Das so skizzierte umfassende klangliche wie visuelle Ideal ›reiner Form‹ wird später apodiktisch in Georges Aphorismen »Über dichtung« festgehalten: Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn […] sondern die form d.h. durchaus nichts äusserliches sondern jenes tief erregende in maass und klang […]. die zusammenstellung das verhältnis der einzelnen teile zu einander die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung.85 In diesem Gesamtzusammenhang liegt es nahe, in der ›leuchtenden sfäre‹ des Wortes in Kleins George-Essay eine »bewusste oder unbewusste Übersetzung«86 von Mallarmés Vorstellung eines ›reinen Werks‹ in Crise de vers zu sehen: »L’œuvre pure implique la disparation élocutoire du poète, qui cède l’initiative aux mots […] ils s’allument de reflet réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries«.87 Das Wortkunstwerk wäre entsprechend als Sphäre im Sinne eines ›geschlossenen Gebiets‹ ›reiner Form‹ zu verstehen, innerhalb dessen Worte unter Verzicht auf ihre denotative Funktion in wechselseitiger Reflexion ihrer ambigen Konnotationen aufleuchten, wie das virtuelle ›Feuer‹ von Edelsteinen,88 wobei Sphäre zugleich auf den »für Sterbliche nicht hörbare[n]« Sphärengesang89 verweist, wodurch hier gleicherma84 85 86

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Schäfer: Die Intensität der Form (Anm. 81), S. 114. [George, Stefan]: »Über Dichtung«, in: BfdK, 2. Folge, Bd. IV, Okt. 1894, S. 122. Oelmann, Ute: »Das Gedicht als ›Gebilde‹. Zur Poetik des jungen Stefan George«, in: Hansgerd Delbrück (Hg.): Sinnlichkeit in Bild und Klang. Festschrift für Paul Hoffmann zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1987, S. 317-352, hier S. 325 Fußnote 43 u. 40. Mallarmé, Stephané : Œuvres complétes, Édition critique présentée par Carl Paul Barbier et Charles Gordon Milian, Paris 1983, S. 211. Feuer ist ein terminus technicus für den durch den Schliff erzeugten imaginären Farbeeffekt durchsichtiger Edelsteine, der durch Dispersion, d.h. die Aufspaltung des auf die geschliffene Oberfläche aufprallenden Lichtes in seine Spektralfarben erzeugt wird. Brockhaus’ Konversations-Lexikon weist »Sphäre« als einen bildlichen Ausdruck für »abgeschlossene[] Gebiete aus«, der u.a. vom Himmelsgewölbe abgeleitet wird, was die in wechselseitigen Reflexionen aufleuchtenden Worte auch als mögliche Analogiebildung zu den Sternenkonstellationen des Himmelsgewölbe lesbar macht. Zumal der Folgeeintrag sich auf den »Sphärengesang« als »nach der Annahme des Phythagoras […] für Sterbliche nicht hörbare Tönen der Planeten« bezieht. Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Auflage, Neue Revidierte Jubiläums-Ausgabe, Leipzig, Berlin und Wien 1901−1904, 17 Bde, Bd. 15: Social – Türken, S. 147. Diese Lesart entfaltet

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ßen die visuelle wie die akustische Dimension der neuen Dichtungsart integriert wird. Die so adressierten klanglichen wie visuellen Aspekte der ›reinen Form‹ werden in einer Reihe der publizierten Gedichte ausgestellt, z.B. bereits im allerersten Heft in »Die Spange«, das selbstreflexiv und zugleich metapoetisch die Gestaltung der titelgebenden Spange thematisiert. Dabei wird in der ersten Strophe das ursprüngliche Begehren, diese anorganisch und puristisch wie »ein[en] glatte[n] feste[n] streif« aus »kühlem eisen« zu gestalten geschildert, das am mangelnden zum derartigen ›Guss‹ reifen »metall« scheitert, was zugleich auf das Sprachmaterial verweist wie die Aufmerksamkeit auf die mit diesem assoziierten und antizipierten Lettern90 und damit auf das Schriftbild des Gedichts als ›gesehene Form‹ der Spange lenkt, in der die beiden Strophen symmetrisch um eine Leerzeile angeordnet sind, die so auch als ›Nadel‹ der Gedicht-Spange deutbar wird. In der zweiten Strophe wird dann komplementär klangvoll, jeweils ornamental durch wiederkehrende rekursive Assonanzen innerhalb der einzelnen Verse, deren opulente, dekorative Gestalt als künstlich hergestellte organische florale »grosse fremde dolde/Geformt aus feuerrotem golde/Und reichem blitzendem gestein« imaginiert. Wenn dabei letztlich das Gedicht selbst (mit seinem gleichmäßigen vierhebigen jambischen Rhythmus, seinem Kreuz- und umarmenden Reim, seinen Assonanzen und seinem symmetrischen Schriftbild) als einzige tatsächlich geformte Spange erscheint, wird dadurch einerseits die Aufmerksamkeit materialästhetisch auf dessen auf der »ornamentale[n] Qualität von Wortkonstellationen« beruhende, gleichermaßen visuell wie klanglich ›reine Form‹ als ›inneres Ornament‹ gelenkt. Andererseits kommt dieser Effekt hier aber gerade im Spiel mit den »Konnotationen der Worte« unter Verzicht auf deren eindeutige Denotation zustande: »Erst auf der schwer zu ›lesenden‹

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Richard Perls Gedicht »Vom neuen Bunde«, in dem die Dichtung wie folgt charakterisiert wird: »Von hellen sternen scheinst du hergerauscht/Ich höre lichtes freie fluten rauschen,/Und wie ich einst der seelen klang gelauscht/So will ich deinem sphärenklange lauschen.« Perls, Richard: »Vom neuen Bunde«, in: BfdK, 2. Folge, V. Bd., Feb. (recte: März) 1895, S. 145−146, hier S. 146. Vgl. zur Bedeutung von magisch-mythischen Bildern wie »vom überspringenden Feuer« und »vom Sternenhimmel« für die Aufladung von Georges Dichtung im Rekurs auf eine Ästhetik des Erhabenen, Simonis: Literarischer Ästhetizismus (wie Anm. 14), S. 135. Vgl. Reuß: »Industrielle Manufaktur« (wie Anm. 82), S. 189.

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Ebene symbolischer und klanglicher, sinnhafter und rhythmischer Konspiration beziehen Gedichte, indem sie Formen bilden, sich auf sich selbst.«91 Im Rahmen der verschachtelten Ornamentstruktur der Blätter ist dieses ›innere Ornament‹ der ›Spange‹ allerdings wiederum Teil der es zugleich rahmenden ornamentalen Blätter-Konstellationen, in dem es unter der Überschrift »Hymen, Pilgerfahrten, Algabal« als letztes Gedicht aus den »Pilgerfahrten« zugleich als ›Spange‹ dient, die diese mit den darauffolgenden Gedichten aus dem »Algabal« verbindet, der als Inbegriff dekorativ-ornamentaler Lyrik Georges gilt,92 und hier besonders mit dem letzten der abgedruckten Gedichte, dem seinerseits selbstreflexiven wie metapoetischen »Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme« korrespondiert. In diesem wird – mittels des exzessiven Gebrauchs der Kopula »und«, deren »beharrliche Wiederholung […] die verwendete Ornamenttechnik, das Muster der rückläufigen Verknüpfung von Satzelementen, besonders auffällig hervortreten« lässt,93 wechselnden Rhythmen, Klängen in Gestalt von Reimen und Assonanzen, die durch archaisierende Wortwahl in den Vordergrund gerückt werden, und einer Metaphorik absoluter Künstlichkeit – der titelgebende Garten als künstlich hergestellte organische Natur zum Symbol der ästhetizistischen ›geistigen Kunst‹, die die Vorrede des Heftes propagiert, wobei mit der Frage nach der Möglichkeit der Zeugung der »Dunkle[n] grosse[n] schwarze[n] blume« in diesem »heiligtume« erneut ›vexierbildartig Gegenstand, Darstellungsmedium und technische Voraussetzungen‹ des Gedichts verdeutlicht werden, indem diese »schwarze blume […] faktisch als Schriftbild vor den Augen des Lesers«94 steht. Die so angedeuteten ornamentalen Konstellationen beschränken sich aber eben nicht auf Georges eigene Gedichtzyklen, wenn z.B. später bei Wolfskehl im Gedicht »Ausstattung« aus den »heroischen Zieraten« die »spange« als königliche »herrenspange« und damit als Insigne der Herrschaft wiederkehrt,95 oder die ›schwarze blume‹ eine doppelte Resonanz in

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Luhmann: Kunst der Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 200 und S. 202f. Vgl. zur »auffallende[n] Reprise des Vokals und Liquids« im titelgebenden Namen »Algabal« als »effektvolle[r] Umsetzung des bevorzugten Musters von Rekursionen in die akustische bzw. graphematische Zeichenfolge« Simonis: Literarischer Ästhetizismus (Anm. 14), S. 121. Ebd., mit Bezug auf Hofmannsthals Gedichte »Ballade des äußeren Lebens« und »Terzinen über Vergänglichkeit«, die ebenfalls in den Blättern erstpubliziert werden. Martus: »Geschichte der ›Blätter für die Kunst‹« (Anm. 5), S. 325. Wolfskehl, Karl: »Ausstattung«, in: BfdK, Folge 2, Bd. III, Aug. 1894, S. 85.

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Richard Perls Gedicht »Vom neuen Bunde« findet, in dem zum einen beim Zusammentreffen der imaginierten Gemeinschaft dieses ›neuen Bundes‹ dekorativ »Schwarze rosen duften in den Vasen« und ihren Mitgliedern zum anderen im »sphärenklang« der Dichtung im »alten heiligtume« ein »neues wissen um die blaue blume« ›zugeraunt und geflüstert‹ wird.96 So werden in den ornamentalen Konstellationen der Blätter mit Herrschaft und Gemeinschaftsbildung Anschlussmöglichkeiten eröffnet, die in der operativen Schließung der selbstbezüglichen ›inneren Ornamente‹ der George-Gedichte allenfalls als eingeschlossenes Ausgeschlossenes eines unmarked space virtuell möglicher aber nicht aktualisierter Sinnhorizonte präsent sind. Aufgrund der skizzierten visuellen wie klanglichen Qualitäten der ›neuen mache‹ wird die Dichtkunst bei Klein im Rückgriff auf Novalis entsprechend, als »mittelkunst zwischen den bildenden und tönenden künsten« in Szene gesetzt: »sollte der takt der figur, der ton der farbe entsprechen?«97 Diese intermediale Vergleichsstruktur, die zunächst dazu dient in der Analogiebildung die rein mediale Funktion der Sprache in ihrer Materialität hervorzuheben, wird zugleich immer wieder als ›neue fühlweise‹ symbolisch aufgeladen, wie in Ludwig Klages »aus einer seelenlehre des künstlers«, wo dieser apodiktisch konstatiert: »Alle kunst welche die ersten rohen anfangsversuche hinter sich hat ist in einem gewissen verstande sinnbildlich (symbolisch) sie giebt zeichen die empfindungswerte bedeuten.«98 Dabei geht auch Klages zunächst von einer Differenzierung künstlerischer Sprechweise von der »Mitteilung in einer durch überlieferung und gewohnheit gefestigten redeweise« der »meisten menschen« aus: »Die allerwenigsten und das sind die künstler bedienen sich des rytmus, des tons der farbe und der form um intimste nur wenigen begreifliche geheimnisse zu verraten.«99 Anschließend folgt eine nähere Bestimmung der mit dieser Sprechweise verbundenen kompositorisch-stilistisch geschlossenen künstlerischen Form als »auswahl«, »komposition« und »stil«.100 Schließlich wird diese aber im Rahmen einer ›Seelenlehre des Künstlers‹ als Ausdruck eines »schöpferischen entlastungsbedürfniss[es]« und als »geistige[r] notausgang überschüssiger oder gewaltsam eingeschränkter lebenskräfte« in »jenem merkwürdigen vorgange durch den der 96 97 98

Perls: »Vom neuen Bunde« (Anm. 89), S. 145 und S. 146. Klein: »Über Stefan George« (Anm. 7), S. 47. Klages, Ludwig: »aus einer Seelenlehre des Künstlers«, in: BfdK, 2. Folge, V. Bd., Feb. (recte: März) 1895, S. 137-144, hier S. 143. 99 Ebd., S. 138. 100 Ebd., S. 140f.

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mensch befähigt ist aus seinen peinen heimlich freuden und seltene fertigkeiten zu machen«101 verstanden, als symbolische »erzeugung einer hochgeistigen stimmung«, deren Wirkung nicht im Erkenntnisgewinn, sondern in der Steigerung der Lebensfreude liegt.102 Dies lässt sich als eigentümliche Lesart einer »Intensität der Form«103 beschreiben, die ausgehend von der für den deutschsprachigen literarischen Ästhetizismus charakteristischen Kopplung von ›Kunst und Leben‹ als »sekundäre[] Anreicherung und Überformung der autonomen arabesken Figurationen mit Bedeutungsmomenten«104 qua »Wiedereintritt der Form in die Form«105 zu verstehen ist, die in der Annahme gesteigerten Lebens als Formeffekt resultiert. Klages wagt allerdings abschließend mit der Vision einer ›reinen Formkunst‹ noch einen »vermutenden blick

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Ebd., S. 141f. Vgl. dazu auch die ähnliche Formulierung im Rekurs auf das dichterliche Werben um Gefährten, die um die »entschwundenen leiden« der Dichtung wissen, im unmittelbar anschließenden Gedicht »Vom neuen Bunde«: »Längst vergessner schmerzen heitre erben/Werden sich in freudenhüllen kleiden.« Perls: »Vom neuen Bunde« (Anm. 89), S. 145. George legt im Folgeheft mit »Über Kraft« eine modifizierende Korrektur dieser psychologisierenden Lesart vor, wenn er im Gegenzug konstatiert: »Vor den zu lebhaften ausbrüchen der kraft im kunstwerk muss man auf der hut sein. […] durch bezwingen dieser ausbrüche zeigt sich wahre kraft. […] denn kunst ist nicht schmerz und nicht wollust sondern der triumph über das eine und die verklärung des andern.« [George, Stefan]: »Über Kraft«, in: BfdK, 3. Folge, I. Bd., Jan. 1896 (recte Dez. 1895), S. 31. Worauf Klages in »vom schaffenden« später wiederum mit folgender Selbstkorrektur zu reagieren scheint, wenn er von diesem konstatiert: »ohnmächtig und dennoch entsagungsunfähig wandelt er über den verwirrungen des lebens und schlägt ihr bild in die fesseln lächelnder schönheitsform« und dies als Selbstopfer für das Werk interpretiert: »nur weil er dem werke es zum opfer bringt hat das leben ihm wert«. Ludwig Klages: »vom schaffenden«, in: BfdK, 4. Folge, I.−II. Bd., Nov. 1897, S. 3438, hier S. 34. Auch die ›Einleitungen und Merksprüche‹ der Blätter verweisen im Zusammenhang mit dem typographisch hervorgehobenen Schlagwort »Sinnbild (symbol)« auf die diesbezügliche Differenz zwischen »Älterer und heutiger Kunst«: »Wir wollen keine erfindung von geschichten sondern wiedergabe von stimmungen keine betrachtung sondern darstellung keine unterhaltung sondern eindruck« und konstatieren: »Gedicht ist nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung. zum ersteren genügt das gewöhnliche wort zum zweiten bedürfen wir noch auswahl klang maass und reim.« [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 2. Folge, II. Bd., März 1894, S. 33f. Schäfer: Die Intensität der Form (Anm. 81). Schäfer spricht von »wortkünstlerischen Verfahren«, »die auf die Intensivierung eines diffusen Sinns zielen« (ebd., S. 41), der bei Klages als Lebensintensivierung konkretisiert wird. Simonis: Literarischer Ästhetizismus (Anm. 14), S. 129. Ebd., S. 146.

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in die zukunft«: »ist vielleicht die zeit des sinnbildlichen kunstwerkes nur ein übergang? […] und was dann? dann bliebe das aller ursprünglichste: die reine farben- formen- und linienfreude.«106 Dies ist insofern aufschlussreich, als damit deutlich die Differenz zwischen einer solchen zukünftigen utopischvisionären Vorstellung ›reiner Form‹ und ihrer symbolischen, lebensphilosophisch-vitalistischen Aufladung im Rahmen des Ästhetizismus der Blätter markiert wird, die auch noch für traditionellere mystisch-kosmische Auslegungen wie die Wolfskehls offen bleibt. Diese symbolische Aufladung ›reiner Form‹ verdeutlicht auch noch einmal Hugo von Hofmannsthals späterer Beitrag »Bildlicher ausdruck«, der ausgehend von dessen vermeintlicher Ornamentalität im Sinne einer bloßen Verzierung als rhetorischer ornatus, der »rede: ein dichtwerk sei mit bildlichem ausdruck geziert«, die daraus resultierende »falsche auffassung« kritisiert, »die bilder – metafern – [seien] etwas allenfalls entbehrliches, dem eigentlichen stoff aus welchem gedichtetes besteht äusserlich aufgeheftetes« und stattdessen konstatiert: »vielmehr aber ist der uneigentliche der bildliche ausdruck korn und wesen aller poesie: jede dichtung ist durch und durch ein gebilde aus uneigentlichen ausdrücken.«107 In Abgrenzung von der ridikülisierten Vorstellung der künstlerischen Form als bloßer ornamentalen Verzierung eines Gehalts,108 wird hier im Rückgriff auf den Begriff des ›Gebildes‹

106 Klages: »aus einer Seelenlehre des Künstlers« (Anm. 98), S. 144. Konterkariert zu werden scheint diese Vision von einer späteren kritischen Reflexion über das sich verselbständigende »handwerkliche« in »Vom schaffenden«: »das rein formale […] gewinnt ihm an selbständigkeit und achtbarkeit in dem maasse als er sich der meisterschaft darin nähert. das leidenschaftliche innere welches er darzustellen rang zergeht ihm zulezt völlig in der freude am spiel mit dem äusseren. […] den meister unterscheidet es dass er die glut ewiger jugend aus aller peinlichkeit handwerklichen bemühens unvermindert davonträgt.« Allerdings wird diese auch dort einerseits vom »Zweifel« begleitet, dass dieses kunstverständnis nur »die traurige glut einer abenddämmerung über einem menschheitstage welcher untergeht« sein könnte, andererseits von der neuerlichen ›ahnung‹, »dass nur uns das verständnis dafür mangelt, welcher art die schaffende freude sein wird in der uns zu engen welt der späteren menschheit.« Klages: »Vom schaffenden« (Anm. 101), S. 37 und S. 38. 107 Hofmannsthal, Hugo von: »Bildlicher ausdruck«, in: BfdK, 4. Folge, I.-II. Bd., Nov 1897, S. 13. 108 Vgl. ebd.: »Die leute suchen gern hinter einem gedicht was sie den ›eigentlichen sinn‹ nennen. sie sind wie die affen die auch immer mit den händen hinter einen spiegel fahren als müsse dort ein körper zu fassen sein.«

»die reine farben- formen- und linienfreude«

zum einen die ›reine Form‹ als sinnkonstitutives ›inneres Ornament‹ akzentuiert, das auf dem Zusammenspiel der ›Konnotation der Worte‹ beruht,109 denn unter »Gebild« wird zeitgenössisch, ein »›damastartiger kleingemusterter Stoff‹« verstanden und »Damast« ist wiederum »›ein mit Figuren auf Atlasgrund durchwirktes einfarbiges Seidengewebe‹, ein ›ein oder mehrfarbiger Stoff mit großen Mustern (Blumen, Ornamenten, Landschaften, Genres) zu Tafeltüchern, Servietten etc.‹«110 Zum anderen erfolgt aber auch hier wieder eine symbolisch-vitalistische Aufladung, wenn analogisierend konstatiert wird: »Was der dichter in seinen unaufhörlichen gleichnissen sagt das lässt sich niemals auf irgend eine andere weise (ohne gleichnisse) sagen: nur das leben vermag das gleiche auszudrücken, aber in seinem stoff, wortlos.«111 Die Begriff des Gebildes wird dann im Folgeheft u.a. in Karl Wolfskehls »Betrachtungen über Kunst« erneut aufgegriffen, die sich ausgehend von der vermeintlichen Spiegelung des Lebens in der Kunst am Problem der Wirkung eines autonom verstandenen Kunstwerks abarbeiten, die hier erneut eher als Formeffekt, als »begleiterscheinung seines daseins«, beschrieben wird. In diesem Zusammenhang konstatiert er: Die gesetze die im kunstwerk die worte, töne, farben zum gebilde vereinen sind freilich keine andern als die wir in der natur wirkend erkennen. Aber nur im kunstwerk finden wir ihr reines ziel und erfolgsicheres gleichsam bewusstes walten. Also dass man eher das naturgeschehen durch die werke der kunst als diese mittels der sogenannten wirklichkeit zu begreifen vermöchte.112 Auch hier lässt sich so das ›Gebilde‹ durchaus schon als ›inneres Ornament‹ im Sinne Luhmanns lesen, als »innere ›Schönheitslinie‹, die das figurativ getrennte verbindet und stärker gekrümmt ist, also stärker verdichtet, als

109 Eine komplementäre, auf den Rhythmus bezogene Lesart des ›Gebildes‹, die zugleich dessen affektive Wirkung verdeutlicht, findet sich zu Beginn des gleichen Heftes: »kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rytmisch) ergreift und ergriffen wird.« [Einleitungen und Merksprüche], in: BfdK, 4. Folge, I.-II. Bd., Nov 1897, S. 3. 110 So die entsprechenden Artikel im Brockhaus v. 1906, zitiert nach Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin 2007, S. 515−708, hier S. 626. 111 Hofmannsthal: »Bildlicher ausdruck« (Anm. 107), S. 13. 112 Wolfskehl, Karl: »Betrachtungen über Kunst«, in: BfdK, 4. Folge, III. Bd., Okt 1899, S. 85−86.

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es in der Natur vorkommt«.113 Wolfskehls »Betrachtungen über Kunst« sind dabei aber selbst Reprise auf Georges wenige Seiten vorher stehendes Gedicht »Der Teppich«, das den Form-Diskurs der Blätter bis dahin ebenfalls im Rückgriff auf den Begriff des ›Gebildes‹ noch einmal performativ in einer solchen ›ornamentalen Schönheitslinie‹ verdichtet:

DER TEPPICH   Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze Und blaue sicheln weisse sterne zieren Und queren sie in dem erstarrten tanze.   Und kahle linien ziehn in reich-gestickten Und teil um teil ist wirr und gegenwendig Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten. Da eines abends wird das werk lebendig.   Da regen schauernd sich die toten äste Die wesen eng von strich und kreis umspannet Und treten klar vor die geknüpften quäste Die lösung bringend über die ihr sannet!   Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde. Sie wird den vielen nie und nie durch rede Sie wird den seltnen selten im gebilde.114

Erneut handelt es sich um ein selbstreflexives und zugleich metapoetisches Gedicht, das sich selbst als ›Wortkunstwerk‹ als ein solches »Teppich«-›Gebilde‹ in Szene setzt, indem das formale, ›gegenwendige‹ SichVerschlingen von auf- und absteigenden Rhythmen, Wortwiederholungen,

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm. 4), S. 196. George, Stefan: »Der Teppich«, in: BfdK, 4. Folge, III. Bd., Okt. 1899, S. 69.

»die reine farben- formen- und linienfreude«

Assonanzen, durchgehenden Kreuzreimen und einleitenden Anaphern,115 zu denen in den ersten beiden Strophen erneut die ornamentale kopula »und« gehört, zunächst mit dem dort inhaltlich verhandelten Sich-Verschlingen von »menschen«, »gewächsen, tieren« und »sterne[n]« zum »bund« im »erstarrten tanze« eines ornamentalen Teppichbildes als Form in der Form korrespondiert, das im Rekurs auf den Gesamttitel des durch das einleitende »Hier« dieses Gedichtes eröffneten Gedicht-Zyklus auch als allumfassender kosmischer »Teppich des Lebens« lesbar wird, nicht zuletzt vor dem vitalistisch-kosmischen Hintergrund der ornamentalen Blätter-Konstellationen, in die dieses wiederum selbst ›verschlungen‹ ist. Allerdings erscheint dann paradoxaler Weise im zweiten Teil gerade dieses ebenfalls zu den ›Strichen und Kreisen‹ der Lettern erstarrte ›innere Ornament‹ des »Teppich«-›Gebildes‹ des Gedichts selbst als Auslöser für die plötzliche, epiphane Erfahrung einer ›Lösung‹ des ›Rätsels‹ der so im thematisierten wirren Leben des Teppichs ›Verstrickten‹ als ›Lebendig-Werden‹ des Werkes für eine und in einer elitären Minderheit von ›Schönheitsliebenden‹, die fähig ist »ein dichtwerk als gebilde zu begrüssen und zu geniessen«,116 die in den ornamentalen Konstellationen der Blätter wiederum mit Perls als ›neuer bund‹ der Blätter-Gemeinschaft lesbar wird.

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Norbert von Hellingrath versteht den von ihm u.a. in seiner Hölderlin-Dissertation verwendeten zeitgenössischen Begriff der ›inneren Form‹ in einem Brief an Wilhelm Böhm in diesem Sinne als »Art der sprachbewegung«, als »vorwärtsdringen, sich entgegenstemmen, zögern etc der verschiedenen wortgruppen in ihrem verhältnis gegeneinander«. Zitiert nach: Jacob, Joachim: »Norbert von Hellingrath im Horizont zeitgenössischer Sprachästhetik: Hugo von Hofmannsthal, Theodor Lipps und Wilhelm Dilthey«, in: Jürgen Brokoff/Joachim Jacob/Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014, S. 70-105, hier S. 104. So die Beschreibung der intendierten Rezeptionshaltung seiner Gedichte in Georges Vorrede zur zweiten Ausgabe von »Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal«. Vgl. dazu Oelmann: »Das Gedicht als ›Gebilde‹« (Anm. 86), S. 319.

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Die Gestalt der Literatur Zum Verhältnis von Form, Format und Formation in Robert Musils Journalprosa Marcus Krause

1. Der Dichter Musil und das journalistische Schreiben In der Vorbemerkung zu dem 1935 im Buchformat erschienen Nachlaß zu Lebzeiten äußert sich Robert Musil wie folgt zu den unter den Überschriften ›Unfreundliche Betrachtungen‹ und ›Geschichten, die keine sind‹ versammelten Prosaminiaturen: Sie tragen die Zeit ihrer Entstehung sichtbar an sich, und was an ihnen Spottrede ist, gilt zum Teil gewesenen Zuständen. Auch in der Form zeigen sie diesen Ursprung; denn sie sind für Zeitungen geschrieben worden, mit ihrem unaufmerksamen, ungleichen, dämmerig-großen Leserkreis, und hätten ohne Frage anders ausgesehn, wenn ich sie, so wie meine Bücher, für mich allein und für meine Freunde geschrieben hätte. Gerade hier war also die Frage zu beantworten, ob es erlaubt sei, die Veröffentlichung zu wiederholen. Jede Umänderung hätte dazu genötigt, alles neu zu entwerfen, und ich mußte mich ihrer ganz enthalten, außer daß ich da und dort etwas, das unter den Umständen seines Entstehens nicht nach Wunsch geraten war, im Sinn seiner eigenen Absichten nachbesserte.1 Das Zitat stellt einen nur scheinbar klaren, tatsächlich aber etwas undurchsichtigen Zusammenhang zwischen dem Erstpublikationsort der im Nachlaß versammelten kleinen Prosa und ihrer Ästhetik her. Zum einen wird dieser

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Musil, Robert: Nachlaß zu Lebzeiten, in: ders.: Bücher II (=Gesamtausgabe Band 8), Salzburg/Wien 2019, S. 401-545, hier: S. 405. Im Folgenden werden Zitate aus dem Nachlaß im Fließtext lediglich unter Angabe der Seitenzahlen zitiert.

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Zusammenhang hinsichtlich des Inhalts der Sammlung gestiftet, da der Nachlaß-Prosa ein über die Zeitung vermittelter Aktualitätsbezug zugeschrieben wird, der – ohne dass genau begründet würde, warum – ihre literarische Qualität zu beeinträchtigen scheint. Zum anderen wird ein Zusammenhang hinsichtlich der Form der Prosa behauptet, der allerdings eben nicht formal, d.h. beispielswiese mit Bezug auf das mediale Format der Zeitung/Zeitschrift und ihres Einflusses auf die in ihr veröffentlichten Texte, sondern im Rekurs auf das adressierte Publikum begründet wird. Dieses Publikum wird als Massenpublikum gekennzeichnet, das als zu »groß« und heterogen, zu »unaufmerksam« und zu »dämmerig« für eine dem literarischen Anspruch Musils angemessene Lektürehaltung charakterisiert wird und das derart dem maximal elitären, nämlich nur aus Musil selbst und seinen Freunden bestehenden, Adressatenkreis seiner »Bücher« diametral entgegensteht. Folgt man aber dem letzten Satz des Zitats, scheint trotz dieser recht negativen Charakterisierung der im Nachlaß versammelten Texte ihre Form dennoch so geschlossen oder ihr Organisationsgrad so hoch, dass an diesen Texten nur Kleinigkeiten geändert und diese minimalen Änderungen auch nur den ursprünglichen »Absichten« entsprechend vorgenommen werden konnten (was ein genauerer Vergleich der verschiedenen Fassungen im Übrigen schnell als Lüge enttarnen kann). Form und Inhalt der kleinen Prosa des Nachlasses sind also durch ihre Herkunft aus der periodischen Presse beeinflusst,2 wenn nicht gar kontaminiert worden. Sie sind zugleich aber offenkundig so dicht und hochwertig, dass sie sich allzu groben Überarbeitungen durch ihre literarische Qualität widersetzen. All dies wird lediglich behauptet und nicht bzw. – durch den undurchsichtigen Verweis auf das Publikum – nur andeutungsweise begründet, so dass es nicht überrascht, wenn die »Frage« danach, »ob es erlaubt sei, die Veröffentlichung zu wiederholen«, zwar gestellt, aber nicht mit Argumenten beantwortet wird. Die Gegenüberstellung von Journalprosa und Buch, die in dem Zitat vorgenommen wird und offenkundig einen Bewertungshorizont für literarische Qualität bereitstellt, greift auf eine andere Stelle in der »Vorbemerkung« des Nachlasses zurück, die sich der Frage nach dem Wert der von Musil versammelten Texte aus einer anderen – nämlich einer quantitativen – Perspektive nähert. Zwei Absätze vor dem oben angeführten Zitat heißt es: 2

Eine gute Übersicht zu Musils Tätigkeiten in diesem Feld findet sich bei Müller, Dominik: »Feuilletons und kleine Prosa« in: Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert Musil Handbuch, Berlin/Boston 2016, S. 363-383.

Die Gestalt der Literatur

Inmitten einer donnernden und ächzenden Welt bloß kleine Geschichten und Betrachtungen herauszugeben; von Nebensachen zu reden, wo es so viele Hauptsachen gibt; seinen Ärger an Erscheinungen zu haben, die weit vom Schuß zurückliegen: ohne Zweifel, es mag manchem als Schwäche erscheinen, und ich will gern gestehn, daß auch mir der Entschluß zur Herausgabe allerhand Sorgen bereitet hat. Aber erstens hat immer schon ein gewisser Größenunterschied zwischen dem Gewicht dichterischer Äußerungen und dem Gewicht der unberührt von ihnen durch den Weltraum rasenden zweitausendsiebenhundert Millionen Kubikmeter Erde bestanden und mußte irgendwie in Kauf genommen werden. Zweitens darf ich mich vielleicht auf meine Hauptarbeiten berufen, denen es an den zusammenziehenden Kräften, die man hier vermissen könnte, am wenigsten fehlen dürfte; die weiterzuführen, aber gerade eine solche Zwischenveröffentlichung verlangte. (S. 404) Bei aller Ironie, welche die zitierten Ausführungen kennzeichnet, indem sie das »Gewicht dichterischer Äußerungen« mit dem der »durch den Weltraum rasenden zweitausendsiebenhundert Millionen Kubikmeter Erde« vergleichen, bleiben sie dennoch von einer Leitunterscheidung gesteuert, die durchaus auf der Vorstellung eines quantitativen Vergleichs basiert. Den »kleinen Geschichten und Betrachtungen« werden nämlich die »Hauptarbeiten« entgegengestellt, womit nicht nur die Differenz zwischen kleinen und großen literarischen Arbeiten oder Formen aufgerufen wird, sondern noch eine zweite quantitative Unterscheidung. Diese lässt sich aus der Rede von den »zusammenziehenden Kräften« herleiten. Sie suggeriert, dass die Hauptarbeiten im Gegensatz zu den kleinen Formen ein größeres Gewicht oder – vielleicht besser – eine größere Dichte aufweisen, eine Dichte, die den Hauptarbeiten eine zentripetale Kraft zu verleihen scheint, mittels welcher sie die verschiedenen Elemente, aus denen sie bestehen, aufeinander zu beziehen und zusammenzuhalten vermag. Da man genau solche Kräfte bei den kleinen Journaltexten »vermissen könnte«, heißt dies im Umkehrschluss, dass diesen kleineren Formen eine Zentrifugalkraft und eine dieser Kraft entsprechende Neigung unterstellt wird, sich beziehungslos zu verstreuen. Ohne dass dies in dem hier vorliegenden Rahmen im Einzelnen nachvollzogen werden könnte, wiederholen Musils Gegenüberstellungen von Zei-

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tung/Zeitschrift3 und Buch, von Journalismus und Dichtung sowie den mit diesen zusammenhängenden Bewertungen eine bis weit ins 20. Jahrhundert dominante Ideologie, gemäß welcher eine literarischen Hochkultur, die eng mit genie- und/oder autonomieästhetischen Vorgaben verbunden ist, streng und eindeutig von einer literarischen Populärkultur unterschieden werden kann und muss, die von heteronomen, insbesondere ökonomischen, Zwängen und dem Bezug auf den Geschmack der Masse geprägt ist.4 Diese Ideologie kann insofern als medienvergessen gekennzeichnet werden, als sie die Medialität der literarischen Hochkultur weitestgehend nicht reflektiert, obwohl sie die der populären Kultur/Literatur unterstellten Mängel durchaus immer wieder auch in kausalem Zusammenhang mit den sie verbreitenden Massenmedien thematisiert.5 Demgegenüber ist in den vergangenen Jahrzehnten ein gesteigertes Interesse für die Medialität auch oder sogar insbesondere der als Hochliteratur kanonisierten Texte festzustellen. An diesem Interesse kann zudem beobachtet werden, dass es sein Verständnis von Medialität immer weiter konkretisiert hat, so dass es in jüngerer Zeit bei konkreten Fragen einerseits nach der Materialität der Seite, auf der literarische Texte publiziert werden,6 und andererseits nach dem (medialen) Format, in dem literarische Texte publiziert werden,7 angelangt ist. An dieses Interesse, welches selbstredend stets auch zu beobachten versucht, welchen Einfluss Seiten-, Buch- und Magazinformate auf die (sprachliche) Form literarischer Texte (und die Form ihrer Rezeption) ausüben, schließen auch die hier vorliegenden Überlegungen an. Mit Blick auf verschiedene Texte aus Musils Nachlaß zu Lebzeiten sollen die Unterschiede beschrieben werden, welche derselbe ›Text‹ erfährt, wenn er zum einen im Kontext eines Buches und zum anderen als Element einer Zeitung/Zeitschrift veröf-

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Die im Folgenden auch unter dem Begriff des Journals zusammenfassend angesprochen werden. Vgl. aber zu Geschichte und Theorie dieser Unterscheidung Hecken, Thomas: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld 2007 und jüngst Maase, Kaspar: Populärkulturforschung. Eine Einführung, Bielefeld 2019. Vgl. zum Verhältnis von Populärkultur und Massenmedien Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997. Vgl. Bornstein, George: Material Modernism. The Politics of the Page, New York 2001. Vgl. Spoerhase, Carlos: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018 und Niehaus, Michael: Was ist ein Format?, Hannover 2017.

Die Gestalt der Literatur

fentlicht wird.8 Für diese Beschreibung möchte ich insbesondere die Begriffe Form, Format und Formation nutzen. Entsprechend sollen diese drei Begriffe – ausgehend von der Analyse der kleinen Prosa Musils – voneinander abgegrenzt, definiert und als Bestimmungsgrößen literarischer ›Texte‹ bzw. ihrer Interpretation charakterisiert werden. Zur Erleichterung der Lektüre sei eine Basisdefinition dieser Begriffe bereits hier angedeutet: Als Formen werde ich – im Rückgriff auf die Medium/Form-Unterscheidung,9 die Niklas Luhmann im Anschluss an Fritz Heider10 vorgeschlagen hat – alle diejenigen festen Kopplungen von medialen Elementen bezeichnen, die sich auf der Ebene des Mediums der Sprache einerseits und des Mediums der Schrift andererseits beschreiben lassen (womit vor allem die oralen und die visuellen Strukturierungensleistungen der Rhetorik wie auch die Verknüpfung und Organisation einzelner Aussagen zu einem Text angesprochen sind). Als Formate sollen solche Kopplungen von Elementen bezeichnet werden, die sich auf der Ebene der Druckmedien entwickelt und sich als feste Größen etabliert bzw. institutionalisiert haben11 (also insbesondere das Buch und das Journal, aber auch solche Formate, die auf einer niedrigeren Abstraktionsebene angesiedelt sind, also Buchformate wie die Anthologie, die Werkausgabe etc. sowie Journalformate, wie das generische Format z.B. einer Familienzeitschrift und das spezielle Format, welches jedes einzelne Magazin ausbildet).12 Formationen schließlich sollen diejenigen Arrangements von Textformen bezeichnen, die sich innerhalb eines solchen Formates beobachten lassen, so dass derselbe

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Vgl. zur theoretischen Einordnung dieser Fragestellung Frank, Gustav: »Prolegomena zu einer integralen Zeitschriftenforschung«, in: Rahmenthema: Zeitschriftenforschung. Jahrbuch für Internationale Germanistik XLVIII/2 (2016), S. 101-121. Vgl. zu dieser Unterscheidung Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 190-202. Vgl. zum Verhältnis der Konzeptionen Heiders und Luhmanns Baecker, Dirk: »Vorwort« zu Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin 2005, S. 7-21. Dass solche Formate für alle Darstellungsmedien, mit Blick auf die Präsentation von Texten heutzutage also insbesondere auch für digitale Medien, zu beschreiben wären, versteht sich. Da sie für das hier verhandelte Beispiel aber noch keine Rolle spielen, ist oben nur von Druckmedien die Rede. Zur Unterscheidung zwischen medialen, generischen und speziellen Formaten vgl. Kaminski, Nicola/Ruchatz, Jens: Journalliteratur – ein Avertissement, Hannover 2017.

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Text – je nachdem, in welchem Veröffentlichungsformat er betrachtet wird – Bestandteil ganz unterschiedlicher Formationen sein kann.13

2. Formen und Formate Das damit angesprochene Bewusstsein von der Medialität der Literatur und dem Einfluss von Formaten auf ihre Gestalt und ihre Wahrnehmung wurde bereits von Musil selbst zum Ausdruck gebracht. Mit Blick auf sein Novellenbüchlein Vereinigungen trägt er 1918 wohl auch als Reaktion auf die Rezeption der beiden Novellen in eines seiner Notizhefte Folgendes ein: »Der Fehler dieses Buches ist, ein Buch zu sein. Dass es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten und sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist. – – –«14 Mit dem Verweis auf »Einband, Rücken, Paginierung« rückt die Notiz die materiale Dimension des Buches Vereinigungen in den Vordergrund und stellt sie als Widerstand gegen eine angemessene Lektüre der Novellen dar.15 Genauer: Der erste Satz des Zitates spielt – will er keine reine Tautologie sein – zwei Bedeutungen des Signifikanten ›Buch‹ gegeneinander aus. Zum einen bezeichnet das ›Buch‹ das literarische Werk Vereinigungen oder auch seine Konzeption bzw. Ästhetik. Zum anderen bezeichnet der Begriff ›Buch‹ das Druckmedium, in dem dieses Werk zur Erscheinung bzw. in die Welt gelangt. Musils Notiz rekurriert also zum einen auf den Totalitätsanspruch und die kulturelle Dignität, die das Buch einem oder mehreren Texten verleiht, indem es diese Texte als veröffentlichungswürdiges Werk codiert, und zum anderen darauf, dass eine sehr grundlegende Differenz zwischen einem Text und einem Buch als seinem medialen Träger insofern existiert, als der zugrunde gelegte Text eben auch in anderer Weise, z.B. als wechselnde Seiten unter Glasplatten oder als Beitrag zu einer Zeitschrift, materialisiert werden kann. 13

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Denkbar und sinnvoll ist auch der Anschluss des Begriffs der Formation an die Konzepte der Diskursformation, der Montage und der Assemblage, was in dem hier vorliegenden Rahmen allerdings nicht ausgeführt werden kann. Robert Musil: Tagebücher, Reinbek 1983, S. 347. Vgl. zu dieser Dimension ausführlicher Rickenbacher, Sergej: »Der Fehler, kein Buch zu sein. Die Klagenfurter Robert Musil-Ausgabe und die ästhetische Erfahrung des Buches«, in: Massimo Salgaro (Hg.): Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe. Bedingungen und Möglichkeiten einer digitalen Edition, München 2013, S. 173-196.

Die Gestalt der Literatur

Mit dieser Gegenübersetzung von Buch und Buch stellt Musils Notiz also vor Augen, dass ein Buch keineswegs nur als ein Medium im Sinne eines materialen Trägers verstanden werden kann, sondern – wie jedes Massenmedium – als ein Dispositiv aufgefasst werden muss, welches neben verschiedenen Materialien, Technologien und Institutionen ebenso bestimmte ideologische Vorstellungen – z.B. hinsichtlich bestimmter Werk- und Autorschaftskonzepte – umfasst und miteinander verbindet.16 Darüber hinaus macht die Notiz aber auch deutlich, dass sich eine Lektüre von Literatur – wie wohl jedes Lesen – nicht in Bezug auf einen abstrakten Text und sein Verstehen erschöpft, sondern dass jeder Vorgang der Lektüre – jenseits jeder Hermeneutik – auch das Wahrnehmen medialer Oberflächen beinhaltet, oder genauer: dass jedes Verstehen von Texten auf ein Sehen von Seiten angewiesen ist.17 Greift man zur Beschreibung dieses Sachverhalts auf die Begrifflichkeit der Systemtheorie zurück, lässt er sich mit Hilfe der Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation reformulieren und näher bestimmen. In der Kunst der Gesellschaft geht Luhmann zunächst von dem schlichten Befund aus, dass »die Wahrnehmung alle Kommunikation« »rahmt«: »Ohne Augen kann man nicht lesen, ohne Ohren nicht hören.«18 Das klingt banal, hat aber weitreichende Konsequenzen, denn »in beiden Fällen« liegen »kognitive Operationen« vor, »die eigene Informationsverarbeitungsstrukturen ausbilden«.19 Mit anderen Worten: Wahrnehmung und Kommunikation können nicht ineinander übersetzt werden. Das soll keineswegs besagen, dass man nicht über Wahrnehmungen kommunizieren oder Kommunikation nicht wahrnehmen könnte. Nur kann man aber niemals Wahrnehmung kommunizieren (sondern nur Kommunikation über Wahrnehmung) und Kommunikation, die einfach nur wahrgenommen (und nicht verarbeitet) wird, ist eben keine. Für die Lektüre von Texten hat diese Differenz weitreichende Konsequenzen. Sie besagt nämlich, dass Selektionen nicht erst auf der Ebene des Verstehens von Kommunikation getroffen werden, sondern ebenso bereits auf 16

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Vgl. z.B. zur Medialität des Buches Stanitzek, Georg: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Ursula Rautenberg (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Bd. 1: Theorie und Forschung, Berlin 2010, S. 156-200. Vgl. zu den wahrnehmungspsychologischen Hintergründen die entsprechenden Beiträge in Rautenberg, Ursula/Schneider, Ute (Hg.): Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston 2018, zum Verhältnis von Lesen und Sehen aber auch Mendelsund, Peter: What We See When We Read, New York 2014. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 28. Ebd., S. 30.

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der Ebene der Wahrnehmung. Auch die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung, welche die Voraussetzung für jedes Verstehen bildet,20 wird entsprechend bereits vor aller Interpretation semantischer Strukturen zur Anwendung gebracht. So ist zunächst einmal zu entscheiden, was überhaupt als Information wahrgenommen wird und was nicht, was also so in Form gebracht ist, so als Form beobachtet werden kann, dass es als Kommunikationsangebot zu verstehen ist. Eine solche Form muss als umrissenes eigenständiges Element wahrgenommen und d.h. von der Umwelt unterschieden werden, um als Kommunikationsangebot verarbeitet werden zu können. Und eines der wichtigsten Hilfsinstrumente zur Erleichterung dieser Unterscheidung stellen mediale Formate zur Verfügung. Anders als der Begriff der Verbreitungsmedien, den die Systemtheorie verwendet und den sie dadurch definiert, dass Verbreitungsmedien »den Empfängerkreis einer Kommunikation« »bestimmen und erweitern«,21 nahezulegen scheint, erhöhen Medien keineswegs nur und auch nicht in erster Linie Reichweite und Adressaten einer Kommunikation, sondern bringen diese in eine Form, die sie als Information überhaupt erst einmal wahrnehmbar werden lässt. Und solche Formen werden auch nicht nur auf der Ebene von Verbreitungsmedien wie Buch und periodischer Presse hervorgebracht. Darüber hinaus gibt es auch auf der Ebene der konkreten Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien Formate, die solches In-Form-Bringen besonders erfolgreich gestalten, und sich z.B. als Erfolgsmedien in Gestalt bestimmter Buchformate oder Zeitschriftentypen etablieren.22 Nun sehen die bis heute gängigsten Verfahren der Textinterpretation weitgehend davon ab, diese Ebene selbst als Kommunikation zu begreifen und in die Interpretation einzubeziehen bzw. überhaupt als des Verstehens würdig zu begreifen. Dies hat sich spätestens seit dem medial turn des 20. Jahrhunderts – zumindest für die literaturwissenschaftliche Lektüre von Texten – grundlegend geändert. In der Folge dieser Wende stellt sich die Frage des Verstehens als – im Sinne der Systemtheorie – Unterscheidung 20 21 22

Vgl. hierzu ausführlich Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1987, S. 192203. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Anm. 9), S. 202. Solche Erfolgsmedien gäbe es dann also nicht nur auf der Ebene der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, auch auf der technisch-material-gestalterischen Ebene bestimmter Medienformate gibt es offenkundig solche, die Informationen besonders prägnant und damit erfolgreich formatieren, und solche, die dies in geringerem Maße leisten.

Die Gestalt der Literatur

von Information und Mitteilung nicht mehr ausschließlich auf der Ebene der sprachlichen Semantik, sondern im Grunde auf jeder Ebene der Formbildung eines Textes. Eine solche Neuausrichtung der philologischen Aufmerksamkeit lässt sich insbesondere für solche Texttheorien beobachten, die sich von Medientheorie, Buchwissenschaft und Editionswissenschaft gleichermaßen beeinflusst zeigen.23 Aus der Perspektive solcher Ansätze gibt es keine Textgestalt mehr, die als Editionsideal, welches seinen Ursprung und seine Einheit in der Intentionalität einer Autorschaft findet, postuliert und unabhängig von der konkreten Materialisation des Textes als medial formatiertes Dokument beschrieben werden könnte. Die Beschränkung der Aufmerksamkeit auf die Varianzen des lingustic code und ihren Bezügen zu einem ursprünglichen Text wird von einem Interesse an den Veränderungen der bibliographical codes, den materiellen, typographischen und institutionellen Charakteristika von Texten, abgelöst.24 Setzt man als Ebenen der Formbildung eines Textes z.B. die Medien Sprache, Schrift, Druck, Buch, Buchformat an, besagt dies im Register der Unterscheidung Information/Mitteilung, dass nicht nur auf der Ebene der Sprache die Seite der Mitteilung die Information beeinflusst und die restlichen Ebenen als mehr oder weniger transparent bzw. für die Konstitution der Information belanglos eingestuft werden, sondern die Mitteilungsseite auf jeder dieser Ebenen beobachtet wird. Unter einer solchen Perspektive beeinflusst und prägt dann jede einzelne der genannten medialen Ebenen, also die Form des Buchformats, die Form des Buchs, die Form des Drucks und die Form der Schrift, den Inhalt oder die ›Botschaft‹ eines Textes. Auch wenn es für die Alltagslektüre eines Zeitungsartikels eher unpraktikabel ist, all diese Ebene zu berücksichtigen, gibt es gute Gründe dafür, dass sich die literaturwissenschaftliche Beobachtung eines Textes darum bemüht, jede dieser Ebenen zu ›verstehen‹, indem sie z.B. danach fragt, welchen Einfluss Zeitschriften- und Buchformate, Typographie, Design, Seitengestaltung etc. auf den Informationsgehalt eines Gedichtes haben.25

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Vgl. hierzu und den Konsequenzen für den Begriff des Textes und die philologische Praxis z.B. Reuß, Roland: »Spielräume des Zufälligen. Zum Verhältnis von Edition und Typographie«, in: Text. Kritische Beiträge 11 (2006), S. 55-100. Vgl. hierzu bereits McGann, Jerome: A Critique of Modern Textual Criticism, Chicago 1983. Vgl. auch Lechtermann, Christina: »Material Philology«, in: Susanne Scholz/Ulrike Vedder (Hg.): Handbuch Literatur und Materielle Kultur, Berlin/Boston 2019, S. 117-125.

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3. Die zwei Körper der »Vereinigungen« Dass der Einfluss der materiellen Formatierungen auf Texte alles andere als marginal ist, lässt sich mit Blick auf das Beispiel der Vereinigungen verdeutlichen. Dem Hinweis Musils auf die Inkongruenz zwischen der Form des Buches und dem, was seine Vereinigungen eigentlich sind, ist zwar insofern kaum gerecht zu werden, als sein Vorschlag, die Seiten wie gesammelte Blätter von Bäumen zwischen Glasplatten zu pressen und immer wieder auszuwechseln, wohl eher metaphorisch aufzufassen ist, da es keine konkrete Apparatur, keine Lektüretechnologie gibt, die diesen Vorschlag standardmäßig umsetzen könnte. Der Vorschlag zielt aber offensichtlich darauf, den Text nicht von Seite zu Seite umblätternd zu lesen, sondern ihn auf einen Blick als Fläche zu sehen, ihn in seiner Gestalt wahrzunehmen und nicht oder nicht nur als Kommunikation zu verstehen. Und gerade die Vorgabe, dass die Seiten »von Zeit zu Zeit« zu wechseln seien, ohne dass für Musil eine Rolle zu spielen scheint, in welcher Reihenfolge gewechselt und an welche Stellen die Seiten platziert werden sollen, macht deutlich, dass die Vereinigungen in ihrem Wesen – zumindest aus der Sicht ihres Autors – wohl weniger durch hermeneutische Anstrengungen als durch die Betrachtung von Oberflächen und das Empfinden von Atmosphären zu erfassen sind.26 Nun muss man dieser Position nicht bis ins Letzte folgen, um zu veranschaulichen, welchen Einfluss das Format eines Textes auf seine Wahrnehmung und seine Lektüre hat. Vergleicht man nämlich eine Doppelseite der Erstausgabe der Vereinigungen mit ihrem Abdruck in der Frisé-Werkausgabe, lassen sich die Unterschiede bereits kaum übersehen (vgl. Abb. 1 & 2). So fällt neben dem Unterschied zwischen Fraktur und Antiqua auch sogleich die Differenz hinsichtlich der Größe der Seiten und Seitenränder ins Auge. Da eine Seite der Erstausgabe offenkundig weniger Wörter enthalt, wirkt der Text dort deutlich weniger dicht und entsprechend lesefreundlicher als in der Werkausgabe. Auch wenn das Druckbild also jeweils einen ganz anderen Eindruck macht, liegt hinsichtlich des Mediums der (Schrift)Sprache aber in beiden Fällen dieselbe Form, dieselbe strikte Kopplung der

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Zum Begriff der Atmosphäre und Stimmung (auch mit konkretem Bezug auf Musil) vgl. Arburg, Hans-Georg von/Rickenbacher, Sergej (Hg.): Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2012.

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Abb. 1: Musils Erstausgabe der »Vereinigungen« (Georg Müller 1911, KleinOktavformat, 17,5 x 11,2 x 1 cm)

verwendeten Sprachzeichen, vor.27 Der ›Text‹ im abstrakten Sinne einer festgelegten Abfolge sprachlicher Zeichen ist in beiden Fällen derselbe.28 Wie aber bereits die im vorangehenden Satz in Klammern gesetzte ›Schrift‹ andeutet, wird es bereits auf der nächsten Ebene der Formbildung schwierig. Denn auf dieser ist zu entscheiden, ob man die offenkundige Differenz zwischen 27

28

Zum Begriff der Varianten und seinem Verhältnis zur Editionsphilologie vgl. Seidel, Robert: »Editionsphilologie«, in: Handbuch Literatur und Materielle Kultur (Anm. 25), S. 126134. Ich vermeide hier absichtlich den eigentlich üblichen Begriff ›Textgestalt‹, der dem im Fließtext erläuterten abstrakten Textbegriff entspricht, und in der Editionswissenschaft von seiner Materialisierung auf ›Textträgern‹ unterschieden wird, da mir gerade die Gestalt eines Textes maßgeblich von seiner medialen Formgebung, seinen ›Trägern‹ abzuhängen scheint. Stattdessen verwende ich die analoge Unterscheidung von Text und Dokument, die im englischen Sprachraum derjenigen zwischen Textgestalt und Textträger entspricht. Vgl. zu diesen und weiteren Konzeptualisierungen des Textes Kammer, Stephan/Lüdeke, Roger: »Einleitung«, zu: dies.: Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, S. 9-25.

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Abb. 2: Die »Vereinigungen« in Frisés Werkausgabe (Rowohlt 1978, Oktavformat, 20 x 12,6 x 5 cm)

den beiden Texten in der Erst- und in der Werkausgabe dem Medium der Schrift oder dem Medium des Drucks zuordnen möchte, ob man z.B. die Differenz Fraktur/Antiqua als Problem der Schrift oder des (Schrift-)Drucks begreift. Diese Zuordnungsschwierigkeit macht erneut deutlich, dass die Formbildung eines Mediums zu einem oder in ein neues Medium führt (also der Druck als Form des Mediums Schrift und die Schrift als Form des Mediums der Sprache aufgefasst werden kann). Darüber hinaus verdeutlicht sie aber auch, dass von Medium oder Form stets nur in relativem Sinne gesprochen werden kann, dass zudem mit der Medium/Form-Differenz Sachverhalte höchst unterschiedlichen Abstraktionsgrades adressiert werden und dass Medien schließlich zwar begrifflich benannt, konkret aber nur als Form (in einem anderem Medium) beschrieben werden können, da sie erst als Form überhaupt die Schwelle der Wahrnehmbarkeit überschreiten.

Die Gestalt der Literatur

Gleichgültig aber, im Rahmen welchen Mediums man die Differenz beschreibt, die beide Texte bezüglich der Schriftart auszeichnet, die Tatsache, dass Schriftsätze wie Fraktur und Antiqua überhaupt beobachtet und benannt werden können, weist bereits darauf hin, dass mediale Artefakte wie Bücher nicht einfach nur durch den Wechsel von Formbildungen in verschiedenen Medien, also durch den Hinweis auf die festere oder losere Kopplung von Elementen beschrieben werden können. Ein Schriftsatz ist nämlich ein gutes Beispiel dafür, dass sich zwischen Formen und Medien Verknüpfungsweisen ausmachen lassen, deren Kopplung als weniger rigide als in Formen, aber zugleich deutscher stringenter als bei Medien zu beschreiben sind. Und diese Verknüpfungsweisen oder -vorgaben lassen sich – wie angedeutet – als Formate bezeichnen. Natürlich ist die Frage, was im allgemeinen ein Format ausmacht, nicht einfach oder kaum zu beantworten, da der Begriff des Formats sich inzwischen in so vielen medialen Kommunikationszusammenhängen etabliert und entsprechend ausdifferenziert hat, dass ein gemeinsamer Nenner all der verschiedenen Formatbegriffe nur noch schwierig zu finden ist. Greift man auf Michael Niehaus Überlegungen zum Formatbegriff zurück, ließe sich ein solcher gemeinsamer Nenner aber folgendermaßen kennzeichnen: Ein Format definiert ein Medium mit »von außen gesetzten, klar definierten Regeln« und »setzt daher die Möglichkeit einer im Prinzip beliebig wiederholbaren Operation voraus.«29 Darüber hinaus gehört es »zur Logik des Formats, dass von ihm eine Art Ordnung oder Devise zu einer immer weitergehenden Vereinheitlichung ausgeht. Formate sind übergriffig.«30 Bereits an diesen kurzen Charakterisierungen wird erkennbar, dass das Konzept des Formats einerseits auf Medien einwirkt, andererseits aber selbst von diesen abhängt, da die Möglichkeit zur Formatierung von medientechnologischen Standards und von der Möglichkeit zur mechanisierten Standardisierung von Produktionsprozessen abhängt. Wenig erstaunlich also, dass der Formatbegriff mit der Entwicklung des Buchdrucks aufkommt und ursprünglich vor allem Papier- und Buchformate bezeichnet.31 Und neben der Differenz hinsichtlich der Druckschrift bestehen bei den beiden oben beschriebenen Ausgaben von Musils Vereinigungen offenkundig

29 30 31

Niehaus: Format (Anm. 7), S. 9. Ebd., S. 16. Vgl. hierzu die deskriptiven Kategorien in Boghardt, Martin: Archäologie des gedruckten Buches, Wiesbaden 2008.

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auch mit Blick auf diese Formate Unterschiede. So ist die Werkausgabe gegenüber dem Erstdruck ein wenig größer (Oktav gegenüber Kleinoktav) und vor allem deutlich (5:1 cm) dicker und entsprechend schwerer. Hinsichtlich des Satzspiegels lässt sich festhalten, dass die Stege in der Erstausgabe deutlich größer (ca. doppelt so groß) sind als die Stege in der Werkausgabe. Dies führt gemeinsam mit der Differenz von Fraktur und Antiqua sowie einer unterschiedlichen Schriftgröße dazu, dass eine Seite der Werkausgabe ungefähr doppelt so vielen Zeilen, nämlich 43, Raum gibt als die Erstausgabe, nämlich 23, was wiederum zu einer mehr als doppelt so großen Anzahl an Wörtern pro Seite (durchschnittlich 430 zu 185) führt. Man kann all diese medialen und stofflichen Qualitäten beschreiben und in Zahlen fassen und natürlich die Beschreibungsreichweite auch noch deutlich weiter – z.B. bis zu Papierart, -beschaffenheit und -dicke – ausdehnen, sollte dabei aber nicht die Frage vergessen, wie sich eine solche Beschreibung des ›Dokuments‹ als materialem Artefakt zu dem ›Text‹ verhält, den es verbreitet. Anders formuliert: Lässt sich eine Gestalt der Literatur in der Weise annehmen und beschreiben, dass die konkrete medial-materielle Beschaffenheit eines Textes seinen semantischen und ästhetischen Gehalt beeinflusst, dass die mediale Form ihren Inhalt formatiert? Dass sich diese Frage kaum anders als mit ja beantworten lässt, dürfte klar sein. Schwieriger wird es, wenn man genauer benennen möchte, wie solche Formatierungen zu konkretisieren und wie stark ihr Einfluss einzuschätzen ist. Grundsätzlich ist klar, dass die Etablierung bestimmter Kommunikationsmedien und Formate zunächst einmal komplexitätssteigernd insofern wirkt,32 als sie zur Ausdifferenzierung einer Formensprache einerseits und zur Ausbildung von Erwartungshaltungen, die dann wiederum als erwartete Erwartungen in neue Formbildungen eingespeist werden können, andererseits führt. Hilfreich mag hier das Konzept der ›Affordanz‹ sein,33 da es verdeutlicht, dass Medien und Formate eben nur Angebote zu ihrer Nutzung unterbreiten, aber natürlich nicht direkt beeinflussen können, wie mit ihnen verfahren wird. 32

33

Vgl. mit Blick auf die Schrift als Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation Luhmann, Niklas: »Die Form der Schrift«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift, München 1993, S. 349-366. Vgl. zur Etablierung und Entwicklung des Begriffs Greno, James G.: »Gibson’s Affordances«, in: Psychological Review 101/2 (1994), S. 336-342. Ein Update des Konzepts findet sich bei Norman, Donald: The Design of Everyday Things, New York 2013 und im Kontext des new formalism bei Levine, Caroline: Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford 2015 (vgl. insbesondere S. 6-8).

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Dabei kann schon mit Blick auf die beschriebene Differenz zwischen Antiqua und Fraktur herausgestellt werden, dass nicht nur Formen, sondern selbstverständlich auch Affordanzen einem historischen Wandel unterliegen.34 Das verdeutlicht bereits der schlichte Befund, dass ein Text in Fraktur, der heutzutage gelesen wird, seinen historischen Status signalisiert, während ein vergleichbares Signal bei einer zeitgenössischen Lektüre durch die Schriftart gewiss nicht gegeben wurde. Der Unterschied zwischen Fraktur und Antiqua kann aber auch über solche historischen Differenzen hinaus Aufschluss darüber geben, wie relevant bereits die Wahl der Schriftart für die Lektüre ist, ist dieser Unterschied zu Beginn des 20. Jahrhunderts doch stark ideologisch aufgeladen, wie das folgende Zitat aus Jan Tchischolds Typographie-Bibel veranschaulicht: Der betont nationale, partikularistische Charakter der Fraktur, aber auch der entsprechenden Nationalschriften anderer Völker, zum Beispiel des Russischen oder Chinesischen, widerspricht den heutigen übernationalen Bindungen der Völker und zwingt zu ihrer unabwendbaren Beseitigung. An ihr festzuhalten, ist Rückschritt. Die lateinische Schrift ist die internationale Schrift der Zukunft.35 Aus Tchischolds Neuer Typographie lässt sich aber neben einem Bekenntnis zur Antiqua auch ein Bekenntnis zum Funktionalismus zitieren, dessen Credo für den Zusammenhang zwischen Schriftform und Lektüreinhalt mehr als relevant ist: Jede Typographie, die von einer vorgefaßten Formidee – gleichviel welcher Art – ausgeht, ist falsch. Die Neue Typographie unterscheidet sich von den früheren dadurch, daß sie als erste versucht, die Erscheinungsform aus den Funktionen des Textes zu entwickeln. Dem Inhalt des Gedruckten muss ein reiner und direkter Ausdruck verliehen werden. Seine ›Form‹ muß, wie in den Werken der Technik und denen der Natur, aus seinen Funktionen heraus gestaltet werden. Nur so gelangen wir zu einer Typographie, die dem geistigen Entwicklungsstadium des heutigen Menschen entspricht. Die Funktio-

34

35

Vgl. zu den historischen Wandlungen des Verhältnisses von Fraktur und Antiqua Hartmann, Silvia: Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941, Frankfurt a.M. u.a. 1999. Tchischold, Jan: Die neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäß Schaffende, Berlin 1928, S. 77.

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nen des Textes sind der Zweck der Mitteilung, Betonung (Wortwert) und der logische Ablauf des Inhalts.36 Deutlicher lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Schrift bzw. der Druckseite und dem Text, den beide darstellen, kaum betonen. Damit schließt Tchischolds Forderung gewissermaßen an Musils Klage an, welche er darüber führt, dass seinem Text Vereinigungen ein anderes Format als dasjenige des Buches angemessen wäre. Konsequent zu Ende gedacht, besagt nämlich Tchischolds Funktionalismus der Typographie nichts anderes als dass jedem Text oder zumindest jeder Textsorte eine eigene, nur diesem oder dieser angemessene Dokumentengestalt zugeordnet werden müsste. Das würde wiederum im Umkehrschluss bedeuten, dass bereits die mediale Oberfläche eines Textes entscheidende Informationen über ihn widerspiegeln würde, ohne dass man sich auf die Ebene seiner Semantik begeben müsste. Nun sind weder die Forderungen Tchischolds noch Musils jemals in einer Weise oder einem Maße erfüllt worden, dass sich solche Entsprechungen zwischen Texten und ihren medialen Form(at)en etabliert hätten. Aber auch ohne solche absoluten Kongruenzen lassen sich im Vergleich zwischen Werkund Erstausgabe von Musils zweitem Buch ›Vereinigungen‹ zwischen visueller Oberfläche und semantischer Tiefe beobachten, die für die Frage nach der Affordanz von Druckformaten bemerkenswert sind. Die beiden Novellen Vereinigungen gelten in einem Maße als außerordentlich schwierig zu verstehende und dichte Texte, dass der Artikel über die Vereinigungen im MusilHandbuch sogar meint, dass das »Schwer- bzw. Unverständliche der beiden Erzählungen […] zum Stachel im Fleisch der Musil-Philologie«37 geworden sei. Und der Handbuch-Artikel bemerkt auch bereits Folgendes: Die erzählte Handlung vollzieht sich in vier Tagen (bzw. Nächten) und erstreckt sich in der Erstausgabe des Georg Müller Verlags […] über 98 Seiten, während der Text in den von Frisé herausgegebenen Gesammelten Werken nur 38 Seiten einnimmt […], was seine ›Unlesbarkeit‹ verstärkt.38 Fragt man genauer, warum die gemeinhin konstatierte hermeneutische ›Unlesbarkeit‹ in einem Korrespondenzverhältnis zum Umfang der Druckseiten 36 37 38

Ebd., S. 68. Nübel, Birgit: »Vereinigungen (1911)«, in: Musil Handbuch (Anm. 2), S. 120-156, hier: S. 122. Ebd., S. 127.

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stehen sollte, kann man zum einen festhalten, dass die zitierte ›Unlesbarkeit‹ ihren Sinn aus der Ambiguität bezieht, aufgrund der sich das Attribut ›unlesbar‹ sowohl auf die Vereinigungen als literarische Kommunikation (der Text ist schwer zu verstehen und zu interpretieren) als auch auf die Wahrnehmung der Vereinigungen als gedrucktem Artefakt (der Text ist schwer zu entziffern, zu sehen) beziehen lässt. Mit Hilfe dieser Ambiguität lässt sich auch die eigentlich metaphorische Rede von der ›Dichte‹ eines Textes näher bestimmen, denn eigentlich meint die Charakterisierung eines Textes als dicht normalerweise eher nicht, dass seine Buchstaben und Wörter besonders eng aneinander stehen, sondern dass seine Semantik besonders schwierig zu verstehen. Im Falle der Werkausgabe der Vereinigungen lässt sich nun aber ein Entsprechungsverhältnis zwischen diesen beiden Lesarten der Dichte eines Textes feststellen, welche die Metapher der hermeneutischen Dichte mit dem physikalischen Begriff der Dichte, von dem diese Metapher die entscheidenden Attributionen übernimmt, wieder in Verbindung bringt. Die physikalische Definition der Dichte als Quotient der Masse eines Objekts und seinem Volumen lässt sich nämlich nicht wirklich auf die hermeneutische Dichte eines Textes, dafür aber umso mehr auf seine materiale Dichte übertragen. Hierzu sind Seitenangaben wie 98 zu 38 Seiten zwar weniger gut geeignet, da Seiten aufgrund ihrer von Buch zu Buch unterschiedlich großen Flächen eine relative Größe darstellen, wohingegen das Verhältnis von Wörtern und Seite schon recht genaue Angaben erlaubt. Und gemäß diesem Verhältnis enthält eine Seite in der Erstausgabe durchschnittlich 185 Wörter und eine Seite in der Werkausgabe 430 Wörter, so dass letztere tatsächlich – wenn schon nicht ›unlesbarer‹ – so doch zumindest schwerer zu lesen im Sinn des schlichten Wahrnehmens eines Textes ist. Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal, dass Satzspiegel, Typographie, Buch- und Seitenformat, die hier gemeinsam angeführt werden, da sie stets im Verbund auftreten, durchaus einen Einfluss auf die Form der Kommunikation haben, auf das Verhältnis von Information und Mitteilung und entsprechend auch auf das Verstehen eines Textes. Auch dass die Vereinigungen in der Werkausgabe ›schwerer‹ zu lesen sind, hat im Übrigen neben dem übertragenen noch einen deutlich handfesteren Sinn. Die Werkausgabe wiegt nämlich mit einem Gewicht von über einem Kilogramm tatsächlich schwerer als die Erstausgabe mit ihren leichtfüßigen 170 Gramm. Wollte man also auch die dritte Dimension des Buches als Lektürefaktor (ein Faktor, dem sich insbesondere diejenigen Leser, die das Buch der Werkausgabe in den Händen haltend lesen, kaum werden entziehen können,

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da sich die genutzte Muskulatur schnell bemerkbar machen wird) einbeziehen, wäre ein weiterer gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Buchformaten gefunden.39

4. Formate und Formationen Es gäbe noch verschiedene weitere Unterschiede hinsichtlich der visuellen Darstellung und haptischen Präsentation der Texte der Vereinigungen zu beschreiben,40 die bereits angedeuteten genügen aber hoffentlich, um zu veranschaulichen, dass und wie mediale Formate die Wahrnehmung und das Verständnis von Texten als Sprach- und Schriftformen beeinflussen (oder eben formatieren). Ebenso augenfällig – wenn auch nicht primär visuell, sondern eher strukturell – ist ein Unterschied auf einer anderen Ebene des Buchformats, nämlich auf der Ebene der Textformationen, die einem Buchformat jeweils zugeordnet bzw. von den Buchdeckeln auch materiell eingehegt sind. Ins Auge fällt nämlich sogleich, dass die Erstausgabe neben den Peritexten (wie Titel, Autorname, Inhaltsverzeichnis, Impressum, Seitenzahlen etc.),41 die das Buch organisieren, lediglich aus zwei längeren Texten, eben den beiden Novellen Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika besteht, während das Buch der Werkausgabe unvergleichlich mehr Texte beinhaltet. Wie nämlich bereits der Titel dieses zweiten Bandes der Gesammelten Werke ankündigt, versammelt er all diejenigen Texte Musils, die sich irgendwie den Genres »Prosa und Stücke«, »Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches«, »Essays und Reden« sowie »Kritik« zuordnen lassen (oder ließen).42 Der Lektürezusammenhang ist also für diejenigen, welche die Werk39

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Vgl. zur Forderung nach einer Berücksichtigung der dritten Dimension des Buches Spoerhase, Carlos:Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne, Göttingen 2016. Vgl. hierzu Giertler, Mareike: »In zusammenhanglosen Pünktchen lesen. Zu den Auslassungszeichen in Musils Die Vollendung der Liebe«, in: dies./Rea Köppel (Hg.): Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz, München 2012, S. 161-183. Und deren Strukturierungsleistung natürlich nicht groß genug eingeschätzt werden kann. Zur Definition des Konzepts des Peritexts vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001. Das Format eines Buches zählt Genette im Übrigen auch zu den peritextuellen Phänomenen (genauer: zum verlegerischen Peritext). Oder ließen: Die neue Gesamtausgabe bricht konsequent mit solchen Gattungszuordnungen und sortiert Musils Texte gemäß ihrer Publikationsformate.

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ausgabe in der Hand halten ein gänzlich anderer, als für diejenigen, die lediglich die Vereinigungen vor sich haben. Über die Art und Weise, wie Werkausgaben mit den Textformationen, die sie präsentieren, und den Peritexten, mit denen sie diese Formationen strukturieren und kommentieren, Lektüren und Interpretationen, Werkzusammenhänge und Autorbilder formatieren und produzieren, ließe sich vieles sagen.43 Ich möchte aber zu den Formationen zurückkehren, mit denen dieser Text begonnen wurde, nämlich der Formation, die Musils Journalprosa einerseits im Kontext des Nachlaß zu Lebzeiten bildet, und den Formationen, deren Bestandteil diese Texte in ihren ursprünglichen Publikationskontexten (den Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie zuerst veröffentlich wurden) eingenommen haben. Dabei wird es nicht um die Änderungen gehen, die Musil an diesen Texten, durchgeführt hatte, bevor er sie in den Nachlaß aufnahm,44 was natürlich keineswegs bedeuten soll, dass diese irrelevant wären. Hier sei aber nur angedeutet, inwiefern bestimmte mediale Formate die Lektüre nicht nur durch ihre visuelle Darstellung und ihre Affordanz prägen, sondern auch durch die textuellen und textuell-piktoralen Arrangements, durch die jeweilige Formation, in welche ein Format einen Text einordnet. Dies soll anhand von zwei kurzen Beispielen geschehen: den Texten »Triëdere« und »Türen und Tore«. Lässt man die Vorbemerkung außer Acht, hat Musil den Nachlaß zu Lebzeiten in vier Abschnitte gegliedert ›I Bilder‹, ›II Unfreundliche Betrachtungen‹, ›III Geschichten, die keine sind‹ und ›IV Die Amsel‹. »Türen und Tore« ist der zweite und »Triëdere« der achte Text von elf Texten, die in der zweiten Sektion versammelt sind. Obwohl die Sektionsüberschriften durchaus als Provokation gängiger Genrezuschreibungen verstanden werden können, die bis zur paradoxalen Verneinung der sowieso maximal unterbestimmten Textsorte ›Geschichte‹ geht, behaupten sie dennoch alleine durch ihre Existenz, dass die einzelnen Prosastücke, die in einer Sektion zusammengefasst sind, Gemeinsamkeiten aufweisen, die eine solche Gruppierung rechtfertigen. Entsprechend hat die Forschung dem Imperativ des Inhaltsverzeichnisses des

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Gerade hinsichtlich der Publikation der Werke Musils ist dies ausführlich diskutiert worden. Vgl. zu dieser Diskussion insbesondere die Beiträge in dem Band Salgaro: Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe (Anm. 15). Vgl. aber Fanta, Walter: »Das textgenetische Dossier des ›Nachlaß zu Lebzeiten‹«, in: Musil-Forum 35 (2017/18), S. 132-154.

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Nachlaß zu Lebezeiten Folge geleistet und Gemeinsamkeiten zu definieren versucht, die den durch die Struktur des Buches vorgegebenen Mengenbildungen Rechnung tragen. Beispielsweise so zur ersten Sektion: »Das Gemeinsame der ›Bilder‹ ist ihre Umgrenzung und ihre perspektivische Struktur. Sie evozieren kleine, von einem mehr oder weniger deutlich hervortretenden Betrachter wahrgenommene Weltausschnitte.«45 Zum zweiten Abschnitt: »Der Grundduktus der ›Unfreundlichen Betrachtungen‹ dagegen ist ein kritischsatirischer, darin liegt ihr ›unfreundlicher‹ Charakter. Erzählende Elemente treten hier zugunsten der Reflexion zurück, ohne je ganz zu verschwinden.«46 Und schließlich zur dritten Gruppe: »Die vier Erzählungen der dritten NzLAbteilung unterscheiden sich primär dadurch von den ›Bildern‹ und ›Betrachtungen‹, dass es hier Protagonisten gibt, die in sozialen Kontexten agieren. Dabei übernehmen die ›Geschichten‹ aus den ›Betrachtungen‹ das satirische Moment, aus den ›Bildern‹ eine gewisse Statik; denn trotz äußerer Bewegung und innerer Bewegtheit gibt es keine Entwicklung in diesen Erzählungen, was der Grund für ihre paradoxe Bezeichnung sein mag.«47 Man kann an den zitierten Charakterisierungen zwar erkennen, wie fragil die Unterscheidung der Textgruppen ist, sieht aber zugleich auch, wie sehr bereits die Zusammenstellung von vier Sektionen hermeneutisch produktiv gemacht werden kann oder eben muss, will man das Format des Buches nicht vernachlässigen. Dies scheint in besonderem Maße für die ›unfreundliche Betrachtung‹ »Triëdere« zu gelten, die beschreibt, wie ein nicht näher bestimmter Protagonist Szenen in seiner Umwelt durch ein Prismenfernglas, ein Triëder, beobachtet. Von der Position dieser Betrachtung lässt sich feststellen: »Triedere steht genau in der Mitte des NzL.« Das Stück hat »programmatischen Stellenwert für die literarische Reflexion, das formale Element der ›Betrachtungen‹, und darüber hinaus für Musils Dichtungsverständnis insgesamt.«48 Darüber hinaus bildet der Text, »dessen Wiederabdruck Musil wohl nicht zufällig genau in die Mitte von NzL setzte«, »eine Art Gebrauchsanleitung zu [einem] isolierenden Blick« und ist damit »nicht nur ein Metatext zu Musils Feuilletons, sondern zum ganzen Genre.«49 Eine solche zentrale Position lässt sich 45 46 47 48 49

Hake, Thomas: »Nachlaß zu Lebzeiten (1936)«, in: Musil Handbuch (Anm. 2), S. 320-340, hier: S. 322. Ebd., S. 323. Ebd., S. 324. Ebd., S. 323. Müller: »Feuilletons« (Anm. 2), S. 370.

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aber nur für den Nachlaß behaupten. Im Kontext der Erstveröffentlichung von »Triëdere«, der zweiten Seite des Berliner Tageblatts vom 18. Oktober 1926, ist die Stellung des Textes dagegen alles andere als zentral. Der Text erscheint ›unter dem Strich‹, also im nicht eigens gekennzeichneten Feuilleton der Tageszeitung (vgl. Abb. 3). Dafür ist dann aber auch die Genrebestimmung des Textes einfacher, er ist noch keine ›unfreundliche Betrachtung‹, sondern erscheint als Feuilleton im Feuilleton.50 Damit ändert sich der Bezugsrahmen, die diskursive Formation, auf die der Text zu beziehen ist, vollständig.51 Es sind nicht mehr all die kanonisierten Texte, die mit dem Namen ›Musil‹ unterzeichnet und im Nachlaß versammelt sind, sondern zum einen andere Texte, die zeitgenössisch dem Genre Feuilleton zugeordnet sind, sowie natürlich die Texte, die in der Ausgabe des Berliner Tageblatts in Nachbarschaft zu »Triëdere« stehen. So lässt sich das Prismenfernglas nur auf den beiden Seiten, auf denen »Triëdere« erscheint, auf Texte mit den folgenden Überschriften richten: »Die südslawische Kabinettskrise«, »Polnische Beklemmungen«, »Das französische Budget«, »Loucheurs Vortrag in Wien«, »Die Prager Regierungserklärung«, »Der Sturm im steiermärkischen Landtag«, »Die NationalPharisäer«, »Um die Renten der Standesherren«, »Der Magdeburger Skandal im Landtag«, »Gegen den Hohenzollernvergleich«, »Zusammenstoß im Norden Berlins«, »Ein Erlaß des Reichslandbundes«, »Trauerfeier für Professor Franz«, »Berliner Anwaltverein«, »Im Demokratischen Klub«.52 Vor dem Hintergrund solcher Nachbartexte gewinnt eine Aussage wie die folgende offenkundig eine andere Bedeutung, als ihr im gewohnten Habitat literarischer Prosa zuzuschreiben wäre: Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man

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Zu den Merkmalen dieses Genres, deren Bestimmung zwar schwierig, aber doch einfacher erscheint als die Bestimmungen, welche die Gruppenbildung Nachlaß fordert, vgl. Frank, Gustav/Scherer, Stefan: »Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 22/3 (2012), S. 524-539. Vgl. zu solchen Änderungen auch Müller, Dominik: »Robert Musil, Joseph Roth und das Feuilleton. Nachlaß zu Lebzeiten: Von der Zeitung zum Buch«, in: Kevin Mulligan/Armin Westerhoff (Hg.): Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle, Paderborn 2009, S. 239254. Berliner Tageblatt Nr. 487, 15. Oktober 1926, S. 2.

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Abb. 3: »Triedere«, Berliner Tageblatt (1926)

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sieht Dinge immer samt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Heben sie sich aber einmal heraus, so sind sie schrecklich und unverständlich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein muß, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten.53 Eine vergleichbare Bedeutungsverschiebung, die von der »Umgebung« abhängt, gilt auch für folgendes Zitat über den Wandel der Mode, um nur noch ein weiteres zu nennen: Und doch, wie willig folgen wir dabei den Führern, die eigentlich selbst nur erschrocken voranfliehen, und welches Glück grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn wir Anschluß haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern! Warum das alles?! Vielleicht befürchten wir mit Grund, daß unsere Eigenschaften wie ein Pulver auseinanderfallen würden, wenn wir sie nicht in solche Tüten stecken könnten.54 Damit soll nicht im Geringsten die zentral poetologische und auch epistemologische Stellung des Textes, der tatsächlich in großartiger Manier die Gebundenheit der menschlichen Wahrnehmung an ideologische und mediale Formatierungen reflektiert, bestritten sein. Ganz im Gegenteil. Nur ist die Perspektive eine vollkommen andere, je nachdem, ob der Text solche Reflexionen aus dem Zentrum eines als hochliterarisch codierten Werks oder vom Rand einer Tageszeitung aus anstellt. In einer schon durch ihre geringere Informationsdichte und Bruchstückhaftigkeit deutlich weniger kontingenten Umgebung als eine solchen Tageszeitung befindet sich das zweite angekündigte Beispiel, »Türen und Tore«, bei seiner Erstpublikation. Diese ›unfreundliche Betrachtung‹ tritt zuerst im Jahr 1928 in der 20. Nummer der Sport im Bild in die Welt. Um die Formation, in die Musils Text zu diesem Zeitpunkt eintritt, besser einordnen zu können, sind einige erläuternde Worte zu der Zeitschrift erforderlich, denn die Sport im Bild war zwar das erste deutschsprachige illustrierte Sportmagazin (gegründet im Jahr 1895), hat allerdings die durch diese Kennzeichnung annoncierte Bedeutung im Jahr 1928 längt abgelegt. Insbesondere in den 1920er Jahren entwickelte sich die Zeitschrift zum Hochglanz- und Lifestyleprodukt,

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Ebd. Ebd.

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welches immer weniger über populäre, dafür aber immer mehr über elitärere Sportarten wie Pferderennen, Golf, Tennis oder Polo berichtete und diese Berichterstattung durch Reisereportagen, Mode- und Gesellschaftsjournalismus sowie literarische Beiträge ergänzte. Dass sich der Untertitel des Magazins im Jahr 1921 von »Illustrierte Wochenschrift für Sport, Gesellschaft und Theater« zu »Das Blatt der guten Gesellschaft« änderte, ist also durchaus Programm. Die Ästhetik des Magazins ist durch einen sehr hohen Bildanteil geprägt. In der Ausgabe, in der Musils kleine Studie erscheint, lassen sich auf 66 Seiten beispielsweise beinahe 90 Bilder zählen (sowohl Fotografien als auch Zeichnungen/Aquarelle, die größtenteils in Farbe reproduziert und deren KünstlerInnen im Inhaltsverzeichnis genannt werden). Dabei sind die bei den zahlreichen Werbungen (24) verwendeten Bilder noch nicht mitgezählt. Aus den beworbenen Produkten ist auch leicht ersichtlich, dass die gepflegte Ästhetik von Bildern, Texten und dem Gesamtdesign auf die höhere oder zumindest wohlhabendere Gesellschaft zielt: Neben hochwertigen Pflegeprodukten, Parfums, Genuss- und Luxusartikeln werden meist auch teure Automobile, Jagdutensilien sowie exklusive Reiseziele angepriesen. Bemerkenswert sind die fließenden Übergänge zwischen den redaktionellen bzw. künstlerischen Beiträgen und den Werbeseiten. Teilweise ist nämlich sowohl mit einem Blick auf das Bildmaterial als auch durch eine Oberflächenlektüre zunächst gar nicht bemerkbar, dass eine Seite keinen journalistischen, sondern einen zu verkaufenden Artikel präsentiert. Erst eine genauere Lektüre stößt – meist erst am Ende des Textes – auf das Produkt, welches beworben werden soll. Solche Advertorials tauchen derart regelmäßig auf, dass die Grenze zwischen ihnen und den anderen Beiträgen deutlich verunsichert wird. Auch die Reportagen und literarischen Texte, in deren Formation sich Musils Text in der Sport im Bild einordnet, zeichnen sich in der Regel durch eine gefällige Oberflächenästhetik und durch eine Stoffwahl auf, die einen gewissen intellektuellen Anspruch verrät, dabei aber niemals politisch wird oder den guten Geschmack verletzt. Dieser Anspruch spiegelt sich auch in den Namen wider, die – neben zahlreichen heute weitgehend vergessenen Unterhaltungsautoren – Beiträge für die Sport im Bild lieferten. Zu diesen Namen gehören beispielsweise Erich Maria Remarque, Robert Walser, Franz Blei, Kasimir Edschmid, Gustav Meyrink oder Jean Giraudoux. Typisch für die Diktion vieler der Beiträge ist der folgende Auszug aus dem ›Baden-Badener Modebrief‹, der wenige Seiten vor Musils »Türe und Tore« abgedruckt ist. Neben einer Fotografie findet sich dort die Bilderläuterung: »Mademoiselle Andre, Paris, mit einer Stuttgarter Freundin vor der

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Renntribüne in Iffezheim. Der marineblaue, mit Schakal besetzte Samtmantel und das königsblaue, sehr apart geschnittene Nachmittagskleid aus Lindener Samt erregten allgemeines Aufsehen.«55 Direkt vor Musils Text findet sich ein Beitrag über »Die Geste des Rauchers«, die bildreich – sowohl im rhetorischen Sinne als auch in dem Sinne, dass zahlreiche Darstellungen von Rauchern aus der bildenden Kunst reproduziert werden – eine Kulturgeschichte des Rauchens präsentiert, die elegant von Sozial- zur Kunstgeschichte und wieder zurück zu wechseln versteht und sich Gedanken über die feinen gesellschaftlichen Unterschiede macht, die zwischen dem Rauchen einer Zigarre und dem Rauchen einer Zigarette bestehen. Sogleich nach Musils Text findet sich eine kurze Erzählung mit dem Titel »Der Hirsch im Meer«, die von einer Hirschjagd erzählt, welche ein ungewöhnliches Ende findet. Dieses Ende sei zitiert, da es nicht nur diese Erzählung, sondern auch die Erzählweise, die für eine große Zahl der in der Sport im Bild veröffentlichten Texte typisch ist, pointiert charakterisiert: Der Hirsch sah uns noch einmal mit seinen großen, glänzenden Augen an. Dann schritt er ins Meer. Zuerst ging er, und als das Wasser tiefer wurde, fing er zu schwimmen an, fort, ins Meer hinaus, immer weiter! Ein paar Hunde gingen auch ins Wasser, kehrten aber bald um. In diesem Hirsch, der da fort schwamm, war etwas so Menschliches, so etwas von einem ratlosen Menschen, der in den Tod getrieben wird, daß mich ein wahnsinniges Verlangen überkam, das Tier zu retten. Ich hatte meine Jacke schon ausgezogen, ich rief nach einem Boot, ja, die anderen mußten mich festhalten, um zu verhindern, daß ich ins Meer sprang. Aber der Hirsch war schon weit weg; nicht mehr als ein schwarzer Punkt in der weiten See, die in der Abenddämmerung schon grau zu werden begann . . . Und deshalb, mein Lieber, nehme ich niemals mehr an einer Hirschjagd teil. Selbst ein Engländer hat seine sentimentalen Momente . . . Sherry, Jenks? Gern, stellen Sie das Glas nur hierher.56 Ein solches Schlussbild hat Musils Beitrag über »Türen und Tore« nicht zu bieten. Dafür wird er von nicht weniger als sieben Tür-/Torbögen flankiert, die auf der Doppelseite, auf der Musils Text hauptsächlich abgedruckt ist, mehr Raum einnimmt als der Text selbst (vgl. Abb. 4 & 5). Und eine solche – doch etwas kitschig anmutende – Begleitung, die den Text immer wieder 55 56

Sport im Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft, 34. Jahrgang Nr. 20 (28. September 1928), S. 1441. Ebd., S. 1451.

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unterbricht, ja geradezu durchlöchert und den lesenden Blick dazu einlädt, durch die angebotenen Türöffnungen zu schauen,57 scheint Musils Text auch dringend nötig zu haben, da seine Ironie dem Duktus des Magazins eindeutig zuwiderzulaufen scheint. Wenigstens lässt dies der eröffnende Satz, der zudem noch dadurch hervorgehoben wird, dass er durch einen Absatz vom restlichen Text getrennt wird, vermuten: »Türen gehören der Vergangenheit an, wenngleich die Hintertüren bei Bauwettbewerben gegenwärtig noch recht beliebt sein sollen.«58 Die Ironie dieser Hintertüren, die nicht literal auf einen an der Rückseite eines Gebäudes gelegenen Ausgang verweisen, sondern metaphorisch auf die Missachtung oder Umgehung bestehender Gesetze und Regularien, scheint sogar dem Text selbst so deplatziert, dass er sie gleich im nächsten Satz wieder einzukassieren versucht: »Läßt man, um berechtigte Empfindlichkeiten zu schonen, den zweiten Teil dieser Behauptung beiseite, so kann sich von der Richtigkeit des ersten jeder bei sich selbst überzeugen.«59 Nun ist schwer zu leugnen, dass durch eine solche Verneinung die vorangegangene Ironie eher noch einmal hervorgehoben und betont als durchgestrichen und getilgt wird, dennoch erlaubt es diese Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeiten der Leserschaft der Sport im Bild dem Text,60 in einem Duktus fortzufahren, der den stilistischen Gepflogenheiten des Magazins eher entspricht als der Eröffnungssatz. Nicht nur das Thema – der Text handelt nämlich tatsächlich von Türen und Toren –, auch die Erzählweise gibt sich nun einen gefälligen Anschein. Beide – Thema und Erzählweise – scheinen von einer Nostalgie beseelt, die sich von den Entwicklungen der Moderne enttäuscht zeigt und diese Enttäuschung in einer Kritik am neusachlichen Funktionalismus artikuliert.61 Dass sich solche Gefälligkeit alles

57

58 59 60

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Vgl. zu einer weitergehenden Interpretation dieser Löcher Arburg, Hans-Georg von: »Hermeneutik und Hermetik bei Musil und Le Corbusier«, in: Poetica 43/3-4 (2011), S. 319-354. Der Aufsatz weist darüber hinaus nicht nur auf einige entscheidende Unterschiede zwischen den Zeitschriften- und der Nachlaß-Fassung hin, er verfolgt auch die Kritik von Musils Essay einerseits in Richtung des Manns ohne Eigenschaften und andererseits in Richtung der Architekturtheorie Le Corbusiers weiter. Sport im Bild (Anm. 55), S. 1448. Ebd. In der Nachlaß-Fassung findet sich die zitierte Zurücknahme der Ironie gestrichen. Man darf vermuten, dass dies unter anderem deswegen geschehen ist, weil der Text nun primär ein anderes Publikum adressiert. Vgl. zur Einordnung der Kritik des Textes auch das entsprechende Kapitel in Nübel, Birgit: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin/New York 2006.

Die Gestalt der Literatur

andere als ironiefrei erzählt, ist aber wahrscheinlich bei einem Text von Musil nicht überraschend: Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte man noch an einer Tür horchen, und welche Geheimnisse erfuhr man da bisweilen! Der Graf hatte seine Stieftochter heimlich enterbt, und der Held, der sie heiraten sollte, erfuhr gerade noch rechtzeitig, daß er sie entführen müsse, damit man ihn nicht vergifte. Das sollte einer in einem zeitgenössischen Haus versuchen! Ehe er dazu käme, an der Tür zu horchen, würde er alles schon längst durch die Wände erfahren haben; ja nicht nur das: von dem ersten und leisesten Gedanken angefangen, der sich bildete, wäre er mit dabeigewesen.62

Abb. 4 & 5: »Türen und Tore«, Sport im Bild (1928)

Der Minimalplot, den der Text beim Horchen an der Tür imaginiert, ist problemlos auch ohne den Kontext der Zeitschrift als Kolportage erkennbar, seine volle Schlagkraft entfaltet der Sarkasmus, mit dem er präsentiert wird, aber definitiv eher in der Nähe solcher Erzählungen wie »Der Hirsch im Meer«

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Sport im Bild (Anm. 55), S. 1448.

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als im Kontext des Nachlaß zu Lebzeiten, wo sich die »Türen und Tore« zwischen den ›unfreundlichen Betrachtungen‹ über »Schwarze Magie« und über »Denkmale« öffnen und sich somit zwischen zwei Texten platziert finden, die eine vergleichbar ironische Perspektive wie »Türen und Tore« selbst einnehmen. Zu der Wirkung dieser Einbettung in die Text-Bild-Formation der Doppelseite einerseits und in die Formation der Gesamttexte der Sport im Bild andererseits trägt darüber hinaus auch bei, dass der ironische Anstrich der romantisch-nostalgischen Passagen zwar lesbar, aber nicht so deutlich ist, dass er nicht auch überlesen werden könnte. Ein solches Überlesen könnte sich zudem dadurch bestätigt sehen, dass die Stellen, welche Kritik am architektonischen Funktionalismus üben, sich einer Ironie bedienen, die deutlich in Sarkasmus übergeht, und somit ein höheres Maß an Spott aufzuweisen scheinen als die nostalgischen Stellen. So heißt es z.B. über die moderne Architektur, dass sie »herausgefunden hat, daß der Mensch auf der Klinik geboren wird und im Spitale stirbt, weshalb auch seine Wohnräume von antiseptischer Nüchternheit erfüllt sein müßten, um die unserem Leben eigene Schönheit zu zeigen. Es gibt da noch vieles zu tun.«63 Solcher Hohn, der hier unverkennbar und bissig auftritt, artikuliert sich an den Stellen, die sich in Nostalgie üben, deutlich zurückhaltender. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Text den konservativen wie den modernistischen Blick durch die Türen und Tore gleichermaßen in ihren ideologischen Schwachpunkten bloßstellt.64 Der Text gleicht somit der einen modernen Erfindung, die »Türen und Tore« lobt: »Die einzige originelle Tür, die unsere Zeit hervorgebracht hat, ist die gläserne Drehtür des Hotels und des Warenhauses.«65 Wie eine solche Drehtür wendet sich die Ironie Musils auf beide im Text vertretenen Positionen, die beide – wenn auch in unterschiedlichem Maße – der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Und diese Drehtür entlässt ihren Spott auch in Richtung des Publikums der Sport im Bild. Zumindest könnte es deutlicher kaum adressiert werden als in der folgenden Passage, die äußert akzentuiert all diejenigen Begierden aufzählt, die von den werbenden wie den erzählenden Texten des Magazins immer wieder beschworen werden:

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Ebd., S. 1449. Aus anderer Beobachtungsperspektive und mit Blick auf die Nachlaß-Variante des Textes kommt von Arburg zu einem ähnlichen Ergebnis. Vgl. von Arburg: »Hermeneutik und Hermetik« (Anm. 57), S. 354. Sport im Bild (Anm. 55), S. 1450

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Das Haus hat dem gedient, was man scheinen wollte, und dafür hat man immer Geld übrig; heute aber sind andere Dinge da, die diesen Zweck erfüllen, Reisen, Automobile, Sport, Theater, Winteraufenthalte, Appartements in Luxushotels. Die Phantasie des Zeigens, was man ist, geht in dieser Richtung, und wenn ein reicher Mann sich trotzdem noch ein Haus baut, so bleibt etwas Künstliches daran, etwas Privates, das keine Erfüllung einer allgemeinen Sehnsucht ist. Und wie soll es Türen geben, wenn es kein »Haus« gibt?!66 Natürlich hat die ›Phantasie des Zeigens«, die in dem Zitat bloßgestellt wird, auch in der Textformation des Nachlaß zu Lebzeiten eine identifizierbare Referenz. Nirgends zeigt sie aber pointierter auf die upper class und ihre luxuriösen Bedürfnisse als in der Formation der Sport im Bild als jenem Magazin, das in Bildern und Texten, in Werbungen und Reportagen eben diese Klasse imaginiert und ihre Bedürfnisse im Zwei-Wochen-Rhythmus (re)produziert.

5. Die Gestalt der Literatur Dass der hier vorliegende Versuch mit dem Titel »Gestalt der Literatur« überschrieben wurde, geschah in der Hoffnung, dass er bis zu seinem Ende – also hier – deutlich machen konnte, dass an den Texten Musils (wie natürlich auch allen anderen Texten) nicht nur die sprachlichen und rhetorischen Formbildungen beachtens- und untersuchungswert sind, sondern dass diese Formen auf mediale Formate und Formationen verwiesen sind, um zur Erscheinung gelangen zu können und dass erst das Zusammenspiel von Form, Format und Formation eine Gestalt hervorbringt, welche die Lektüre eines Textes ermöglicht. Der Begriff der Gestalt bietet sich dabei zur Beschreibung dieses Zusammenspiels keineswegs nur deswegen an, weil er sich auf die epistemischen Hintergründe und Interessen – die Wahrnehmungspsychologie und Gestalttheorie des frühen 20. Jahrhunderts – beziehen lässt, auf welche die Texte Musils immer wieder deutlich Bezug nehmen.67 Vielmehr betont der Begriff der Gestalt darüber hinaus erstens, dass literarische Texte keineswegs nur auf der Ebene der Sprache oder allenfalls noch der Schrift medial geformt sind, sondern auch auf der Ebene ihrer visuellen Oberfläche, ihrer Publikation in verschiedenen massenmedialen Formaten, welche diese 66 67

Ebd., S. 1449f. Vgl. zuletzt ausführlich Brüning, Karen: Die Rezeption der Gestaltpsychologie in Robert Musils Frühwerk, Frankfurt a.M. u.a. 2015.

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Gestalt und damit auch die Lektüre entscheidend mitgestalten. Zweitens setzt er voraus, dass an der Konstitution einer Gestalt stets die beiden Pole einer Äußerlichkeit im Sinne einer materiell-medialen Form und einer Innerlichkeit im Sinne einer diese Form wahrnehmende und verstehend weiterverarbeitende Instanz beteiligt sind (wie auch immer man diese Interaktion dann theoretisch ausgestalten mag). Damit hängt drittens zusammen, dass solche Gestaltbildung weder nur durch Wahrnehmungsprozesse noch alleine durch Verstehensprozesse (im Sinn der Einheit der Differenz von Information und Mitteilung), sondern nur als Interaktion der beiden Tätigkeiten beschrieben werden kann. Viertens ließen sich über den Begriff der Gestalt einige der wahrnehmungspsychologischen Einsichten, die in den verschiedenen gestalttheoretischen Schulen von Ehrenfels bis Lewin formuliert worden sind, auf die Beschreibung auch von literarischen Texten anwenden. Dies scheint vor allem dann hilfreich, wenn Texte nicht mehr nur als abstrakte Ansammlung von Zeichen, sondern als konkrete materielle oder mediale Artefakte untersucht werden,68 die zunächst einmal visuell und haptisch erfasst werden müssen, bevor sie interpretiert werden können. In diesem Zusammenhang bietet sich zum einen der gestalttheoretische Begriff der Übersummativität als Beschreibungskategorie (und Ersatz für sich an den hermeneutischen Zirkel anlehnende Teil-Ganzes-Relationen)69 an, gemäß der das »Ganze […] etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Es kommen nicht etwa nur zu den – unveränderten – Teilen Gestaltqualitäten hinzu, sondern alles, was zu einem Teil eines Ganzen wird, nimmt selbst neue Eigenschaften an.«70 Was für den Nachvollzug einer Textlektüre nichts anderes besagt, als dass die hier angedeutete Beschreibung von Formen, Formaten und Formationen eben nicht als Analyse von Elementen oder Ebenen durchgeführt werden sollte, die voneinander getrennt werden können, sondern stets nur mit Blick auf ihre Interaktion untereinander und mit dem Gestaltganzen erfolgen kann. Zum anderen erscheint für eine philologische Aufmerksamkeit, die sich 68

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Zur nicht immer einfach zu treffenden Unterscheidung zwischen Materialität und Medialität vgl. Ortlieb, Cornelia: »Materialität und Medialität«, in: Handbuch Literatur und Materielle Kultur (Anm. 25), S. 38-46. Vgl. hierzu beispielsweise Wertheimer, Max: »Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt«, in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften, Vierter Band (1923), S. 301-350. Metzger, Wolfgang: »Was ist Gestalttheorie?«, in: Kurt Guss (Hg.): Gestalttheorie und Erziehung, Darmstadt 1975, S. 1-17, hier S. 6. Auch Musil beschreibt das Phänomen an verschiedenen Stellen, besonders prägnant in seinem Essay »Literat und Literatur«.

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für die Materialität oder Medialität der Kommunikation interessiert, das auf die Gestalttheorie zurückgehende Konzept der Affordanz besonders fruchtbar, weil es von einem Interaktionsfeld zwischen Produzenten, medialen Artefakten und rezipierenden Subjekten ausgeht. Für dieses Feld wäre festzuhalten, dass Handlungsmacht keinem dieser Pole eindeutig zugeschrieben werden kann (also weder einem medientechnologischem noch einem hermeneutischen Determinismus folgt), sondern nur als (wenn auch nicht gleichmäßig) verteilte Handlungsmacht in ihrem Einfluss auf Lektüren angemessen dargestellt wird. Schließlich ließe sich mit dem Gebrauch des Begriffs der Gestalt, auch wenn die hier dazu gemachten Andeutungen mehr als fragmentarisch sind, sowie der Unterscheidung von Form, Format und Formation die Hoffnung verbinden, dass die immer wieder totgesagte, bis heute aber – zumindest alltagspraktisch und didaktisch – eher nicht überwundene Form/Inhalt-Unterscheidung endgültig verabschiedet und ein aussagekräftigerer Formbegriff etabliert werden könnte.71 Allerdings arbeitete auch schon Robert Musil in verschiedenen seiner Texte von den eher formalästhetischen Überlegungen in »Literat und Literatur«72 bis zur kulturkritischen Anthropologie des ›Theorems von der menschlichen Gestaltlosigkeit‹73 an einer solchen Differenzierung. Offenkundig mit weniger bleibendem Erfolg.

71 72

73

Vgl. zu den aktuell hiermit verbundenen Problemen Kemp, Wolfgang: »Kein Formbegriff in Sichtweite. Kann uns die Systemtheorie helfen?«, in: Merkur 842 (2019), S. 31-44. Vgl. Hickman, Hannah: »Musils Essay Literat und Literatur. Form und Gestalt in Wissenschaft und Kunst«, in: Josef Strutz (Hg.): Kunst, Wissenschaft und Politik von Robert Musil bis Ingeborg Bachmann, München 1986, S. 34-50. Vgl. zur Erläuterung Amann, Klaus: »Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹«, in: Ulrich Johannes Beil/Michael Gamper/Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit, Zürich 2011, S. 237-254.

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»Formale Ekstase!!! (Great!)« Zum Animismus der Linie in Ästhetik, Literatur und Animationsfilm Charlotte Jaekel

Seit geraumer Zeit zeigt sich ein gesteigertes Interesse an einer grundlegenden allgegenwärtigen Form, die lange Zeit nur marginale Beachtung gefunden hat: die Linie. Das anhaltende Desinteresse mag indes verwundern, gibt es doch, so führt Christian Moser aus, kaum einen Bereich kultureller Produktion, in dem der »Linie nicht eine wahrnehmungs-, wissens- oder handlungsleitende Rolle zukommt. Sie ist offenbar eine elementare Kulturtechnik.«1 Linien sind omnipräsent in allen Gebieten der Kultur, beim Reisen und im Verkehr wie in den Naturwissenschaften, in der alltäglichen Wahrnehmung wie in der Ästhetik, in Handwerk und Technik wie in der Schrift, um

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Moser, Christian: »Ethnologie und Anthropologie«, in: Esther Ramharter/Sabine Mainberger (Hg.): Linienwissen und Liniendenken, Berlin 2017, S. 141-201, hier S. 142. Neben dem zitierten, materialreichen Band Linienwissen und Liniendenken, der Texte u.a. aus Philosophie, Naturwissenschaften, Anthropologie und Ästhetik versammelt und kommentiert, in denen Theorien der Linie verhandelt werden, sind insbesondere die Arbeiten des Sozialanthropologen Tim Ingold, der die Beschäftigung mit der Linie »by an ambition to restore anthropology to life« (Ingold, Tim: »Introduction«, in: ders. (Hg.): Redrawing Anthropology: Materials, Movements, Lines, London/New York 2016, S. 1-21, hier S. 2) erstmalig 2007 in einer breit angelegten, systematischen Anthropologie der Linie mit dem Titel Lines. A Brief History popularisiert hat und 2015 in einer weiteren, ethnografisch wie ökologisch ausgerichteten Studie zur Linie mit dem im vorliegenden Zusammenhang einschlägigen Titel Life of Lines ausgeweitet hat, hervorzuheben. Vgl. zudem zur Auseinandersetzung mit dem ›Faszinosum Linie‹ aus ästhetik- und wissenschaftstheoretischer Perspektive Mainberger, Sabine: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin 2010 sowie aus poetologisch-philosophischer Sicht im Hinblick auf Comic und Graphic Novel Börnchen, Stefan: Poetik der Linie. Wilhelm Busch, Max und Moritz und die Tradition, Hannover 2015.

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nur einige der evidentesten Bereiche zu benennen. Doch nicht allein kulturelle Artefakte sind durch Linien strukturiert – die (Wahrnehmung der) Natur ist es ebenso. Systematisch und historisch zeigt sich eine unterschiedliche Präferenz für bestimmte Ausprägungen von Linien. Systematisch gilt ihre Form als Indikator für die Demarkationslinie zwischen Kultur und Natur: Die Trennung zwischen beiden Bereichen verläuft anhand von geraden und gewundenen Linien – während sich in der Natur nur sehr wenige Geraden finden lassen, ist die »tamed, man-made world of Culture«, wie der Ethnosoziologe Edmund Ronald Leach bemerkt, gekennzeichnet durch geometrische Formen, sie ist »full of straight lines, rectangles, triangles, circles and so on.«2 Historisch ist die Form der Linie – sofern man dem triumphalistisch-evolutionären Narrativ der Moderne folgt – ein Indikator der evolutionären Differenzen zwischen ›primitiven‹ und modernen Denkfiguren. Während nichtmodernes Denken mit verschlungenen, ungebändigten Linien identifiziert wird, zeigt die Moderne insgesamt die Tendenz zur Begradigung von Linien, innerhalb derer auch die Natur domestiziert wird: Verschlungene Flussläufe werden begradigt, an die Stelle von wild wuchernden Wäldern treten symmetrische Parkanlagen mit geometrisch beschnittenen Pflanzen.3 Nicht zuletzt zeichnet sich 2

3

Leach, Edmund: Culture and Communication: The Logic by which Symbols are Connected, Cambridge 1976, S. 51. Auch Sergej Eisenstein, auf den im Beitrag noch näher eingegangen werden wird, verweist im Rückgriff auf Hippolyte Adolphe Taine auf die Domestizierung der Natur im Sinne einer Begradigung von Linien in den Gärten von Versailles, wo die natürlichen, sich windenden Linien der Pflanzen zu geometrischen Körpern gestutzt wurden (Eisenstein, Sergej: Disney, hg. und übers. von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Berlin 2011. Das Fragment wird im Folgenden direkt im Fließtext mit der Sigle DIS und der Seitenzahl angegeben). Vgl. zudem die Darstellung der verschiedenen kunstgeschichtlichen Positionen zur Frage, ob auch die gerade Linie in der Natur (etwa in Kristallen und Spinnennetzen) vorzufinden ist anhand von Hundertwasser und Kandinsky bei Börnchen: Poetik der Linie (Anm. 1), S. 20f. Vgl. das Kapitel How the Line Became Straight in Tim Ingolds Initialstudie zur Linie Lines. A Brief History, London/New York 2007, S. 152-170. Vgl. dagegen Bruno Latours Position, dass sich die Linearisierung des Denkens nie wirklich ereignet hat. Auch in der Moderne existieren die verschiedensten Wissenspraktiken, die auf einem nichtlinearen Denken beruhen. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist die technische Intelligenz. Technisches Denken erfolgt Latour zufolge nie geradlinig, wie ebenso der von den Modernen postulierte allumfassende Rationalismus – das Charakteristikum der vermeintlichen Moderne – lediglich das Resultat einer Selbsttäuschung ist. Vgl. Latour, Bruno: Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 212f.

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eine Linearisierung des Denkens ab – das zyklische, mytho-poetische Denken traditioneller Gesellschaften wird gegen das straight thinking4 des linearen, logisch-analytischen Verstands der westlichen Welt gestellt. Daran sind laut dem Sozialanthropologen Tim Ingold Dichotomien von immenser Tragweite geknüpft: »rational thought as against sensory perception, with intellect as against intuition, with science as against traditional knowledge, […] with civilization as against primitiveness, and – on the most general level – with culture as against nature.«5 Die begradigte Linie wird, so Ingold, im Zuge der Moderne zum »icon of modernity«.6 Demgegenüber lässt sich ab dem 19. Jahrhundert ein Bereich kultureller Artefakte ausmachen, der der Entwicklung hin zu statischen, fixierten, begradigten und geometrischen Linien widersteht – die künstlerische Fiktion sowie in der Folge ihre Beschreibung in Teilen der Ästhetik. Vor diesem Hintergrund ist neben der das moderne Denken prägende dichotomischen Klassifizierung geschwungener, ›wilder‹ und gerader, ›domestizierter‹ Linien im vorliegenden Zusammenhang ein weiterer Aspekt von Interesse, der – so zeigt sich in der rezenten Diskussion – mit der Theoretisierung von Linien aufs engste verknüpft ist: Die ihnen inhärente Beziehung zum Leben.7 4 5 6

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Vgl. Ingold: A Brief History (Anm. 3), S. 167. Ebd., S. 152. Ebd., S. 167. Zusätzlich ändert sich in dem von Ingold beobachteten Modernisierungsnarrativ die kontinuierliche zur fragmentierten Linie, dem »icon of postmodernity« (ebd.). Die frakturierte, ›postmoderne‹ Linie wird hier der Vollständigkeit halber benannt, soll im Folgenden aufgrund der epochenspezifischen Ausrichtung der Fragestellung aber nicht weiter verfolgt werden. Darauf, dass Linien in enger Verbindung zum Leben stehen, verweist bereits der Titel von Ingolds Studie The Life of Lines. Er schreibt dort: »to lead life is to draw a line«. Ingold, Tim: The Life of Lines, London/New York 2015, S. 118. Das englische Verb to draw unterhält selbst eine enge Beziehung zum Leben, wie der Künstler Andy Goldsworthy bemerkt: »drawing […] is related to life, like drawing breath or a tree drawing nourishment through its roots to draw with its branches the space in which it grows. A river draws the valley and the salmon the river.« (Goldsworthy, Andy: Stone, London 1994, S. 82) Auf die Evidenz des Integrationspotentials der Sprünge des Lachses macht Ingold anhand einer Initiationsszene, der Beobachtung von Lachsen, die sich flussaufwärts bewegen, aufmerksam: »if you merely look at it [den Sprung des Lachses, C.J.], there is nothing much to see. You have rather to look with it: to relive the movement that, in turn, described the vault of my own observation as I watched the salmon leap the falls.« Und weiter: »In this line, movement, observation and description become one. And this unity, I contend, is nothing less than that of life itself.« Ingold: »Introduction« (Anm. 1), S. 1.

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Insbesondere die Frage nach den psychischen und physischen Vorgängen bei der Beobachtung natürlicher Linien – etwa Landschaften – wie auch Objekten bringt eine Beseelung, Belebung der Umwelt hervor, wie große Teile der Ästhetik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts theoretisch reflektieren. Es ist eben diese Verbindung von Linien und Leben, die mich im Folgenden interessieren wird: Die Beobachtung von Linien ermöglicht – so die These – innerhalb ästhetischer Fragestellungen ab dem 19. Jahrhundert den Blick auf, im Sinne Bruno Latours,8 nichtmoderne, im vorliegenden Zusammenhang genauer: animistische Denkfiguren der Moderne. Ganz verschwunden sind diese nämlich trotz fortschreitender rationalistischer Sichtweisen nie – Edward Burnett Tylor, der den Begriff ›Animismus‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert als Beschreibung einer der modernen Weltsicht gegenüber defizitären, niederen Entwicklungsstufe in einem der wichtigsten Begründungswerke der Kulturwissenschaft Primitive Culture (1871/deutsch 1873) entwickelt hatte, konzediert, dass der Animismus »von Anfang bis Ende in ununterbrochenem Zusammenhange bis mitten in die moderne Cultur hinein[reicht].«9 Der Ort, an dem sich animistische Wahrnehmungsweisen – sogenannte survivals, deutsch ›Überlebsel‹ – neben dem Aberglauben am hartnäckigsten halten, ist die Fiktion, genauer Literatur, die uns zu den Ursprüngen der Zivilisation zurückführen kann.10 Atavismen blei8

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Latours Projekt ist die Wiedergewinnung einer nichtmodernen Gesellschaft, die sich dadurch auszeichnet, dass die Sphären Natur und Kultur noch nicht als getrennt gelten. Es geht um die Enthüllung des nichtmodernen Potentials der Moderne, darum zu zeigen, dass die Trennung zwischen Natur- und Gesellschaftspol, über die sich die Moderne laut Latour definiert, nur eine künstliche ist. Darüber lässt sich konstatieren, dass wir letztlich – so der Titel seiner wohl meist rezipierten Arbeit – nie modern gewesen sind, da der vermeintlich ubiquitäre Rationalismus lediglich eine Illusion ist. Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1998. Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Bd. 1, o.O. 2001, S. 420. Vgl. ebd., S. 110. Wenn auch die Tylor’schen Äußerungen aufgrund ihres kolonialistisch-evolutionären Zuschnitts mit Vorsicht zu genießen sind, echot dessen Diagnose – selbstredend unter geänderten Vorzeichen – in der ganz rezenten Diskussion. Erhard Schüttpelz beschreibt, natürlich von den Schlacken kolonialistischen und evolutionistischen Denken befreit, in seiner literatur- und kulturtheoretischen Studie Die Moderne im Spiegel des Primitiven die Umwandlung von vormals religiösem Wissen im Ästhetisierungsprozess: »Was in der Moderne illegitimes religiöses Wissen geworden ist (›Survivals‹ oder ›Magie‹), ist zugleich in mündlicher, dann in schriftlicher Form legitimes ästhetisches und poetisches Wissen geworden […]. Der ›Animismus‹ bleibt wirksam,

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ben als Abdruck, als Spur einer überkommenen Denkweise in alltäglicher wie dichterischer Sprache im kollektiven Gedächtnis präsent und zirkulieren so weiter innerhalb der modernen Gesellschaft. Aus der ethnologischen Perspektive des 19. Jahrhunderts handelt es sich um eine anthropologische Konstante, dass die »genaue und weitgehende Analogie zwischen dem Leben der Natur und dem Leben der Menschen […] seit undenklicher Zeit die Aufmerksamkeit der Dichter« – und man kann dies mit Blick auf die folgende Diskussion wohl auf die Künste im allgemeinen ausweiten – »gefesselt«11 hat. Die zeitgenössische Diagnose des Journalisten und Schriftstellers Wolfgang Kirchbach steigert die Beobachtung Tylors zur These, dass gerade das moderne, mechanische Naturverständnis ein massives Begehren nach Animismus als dessen Gegenpol heraufbeschwört: Sollte diejenige Weltanschauung recht behalten, welche die Erscheinungen um uns und in uns nach einer mechanischen Methode sich entwickeln und hervorgehen sieht […], so würden wir Menschen, sofern auch wir selbst geistig und körperlich nach einer solchen Methode leben und vergehen, ein hohes poetisches Recht haben, die Dinge um uns zu beleben mit den Werten unseres eigenen Innern, und die moderne Poesie hätte die Aufgabe, dies im Sinne der Wahrheit zu modifizieren […].12

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weil man ihn modern als Fiktion genießen kann […].« (Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven – Weltliteratur und Ethnologie 1870-1960, München 2005, S. 376) Eben deshalb erweist sich Literatur als so produktiv für neue mythische Erzählungen einerseits und für eine Archivierung von aus moderner Perspektive überkommenem mythischem Wissen andererseits. Tylor, Die Anfänge der Cultur (Anm. 9), S. 313. Kirchbach, Wolfgang: »Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten?«, in: Wolfgang Kirchbach und seine Zeit. Briefwechsel und Essays aus dem Nachlaß, hg. von Marie Luise Becker und Karl von Levtzow, München 1910, S. 177-207, hier S. 197. Gerade mit Blick auf künstlerische Fiktionen zeigt sich das immense animistische Potential der Moderne. Denn, so Latour, »[w]enn Animismus bedeutet, dass die Dinge über ein bestimmtes Handlungsvermögen verfügen, dann hat die Moderne die Menge solcher Vermögen in der Welt in außerordentlichem Maße vermehrt.« Im Grunde ist es der Inanimismus der Moderne, der unerklärlich ist: »Animismus lässt sich leicht erklären, aber der Inanimismus, der Glaube an das Unbelebte, ist sehr sonderbar. Insbesondere wenn das Unbelebte von selbst spricht [gemeint sind Tatsachen, die für sich selbst sprechen, C.J.], die Dinge also seelenlos sind, aber zugleich sprechen und Streitfragen entscheiden können, weil sie unbestreitbar sind. Wenn man all das zusammenzählt, was unbelebte Dinge tun können, dann sind sie voller interessanter Handlungsvermögen, voller Lebendigkeit. […] Man wird ein bisschen verrückt im Kopf, wenn man

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Vor diesem Hintergrund ist innerhalb der Moderne exklusiv die Sphäre der Kunst derjenige Ort, an dem Animismus eine Rolle spielen darf.13 Das Kunstwerk, dem Existenzaussagen14 über die Realität versagt sind, kann, solange es seine Gültigkeit nur im Rahmen der Fiktion beansprucht, frei mit alternativen Ontologien experimentieren.15 Der Animismus bedeutet einen Skandal, eine Herausforderung des modernen, rationalen Weltverständnisses. Er fordert das ontologische Paradigma der aufgeklärten Moderne heraus, die sich über naturwissenschaftlichen

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glaubt, die anderen seien Animisten und man selbst nicht, obwohl man aus seinem Handlungsvermögen die bizarrsten Ensembles von Fähigkeiten extrapoliert.« Franke, Anselm/Bruno Latour: »Engel ohne Flügel. Ein Gespräch«, in: Irene Albers/ders. (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012, S. 97-109, hier S. 100 und S. 105. Und dies vor allem dann, wenn es als autonomes gesellschaftlich folgenlos bleibt, wie Bruno Latour im Gespräch mit Anselm Franke herausstellt, Franke/Latour: »Engel ohne Flügel« (Anm. 12), S. 98. Der Kunst werden zwar allerhöchste Freiheiten zugesprochen, allerdings auf Kosten der Realisierung. Dies lässt sich spätestens mit Schillers konziser Formulierung des »Dichterrechts« nachvollziehen. Im 26. Brief Über die ästhetische Erziehung (1795) heißt es, daß der »Mensch ein souveränes Recht nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft [besitzt], und nur, solange er sich im theoretischen gewissenhaft enthält, Existenz davon auszusagen, und solange er im praktischen darauf Verzicht tut, Existenz dadurch zu erteilen. Sie sehen hieraus, daß der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beilegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn beides kann er nicht anders zu Stande bringen, als indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift, und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Dasein zu bestimmen sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgibt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen läßt, und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.« Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a.M. 1992, S. 556-676, hier S. 663f. Kunst, so bemerkt der Technikphilosoph Gilbert Simondon, ist in der Lage, die in der Moderne verlorengegangene »magische Einheit [in sich selbst] wieder zusammen [zu fügen] und ergibt [so] diese Einheit nach einer langen Auftrennung erneut. Die ästhetische Modalität ist also der Zusammenschluss aller Modalitäten nach deren Differenzierung und getrennter Entwicklung: Sie ist es, die sich funktional durch ihr Vermögen zur Einheit am meisten dem ursprünglichen magischen Denken annähert.« Simondon, Gilbert: Die Existenzweise der technischen Objekte, aus dem Französischen von Michael Cuntz, Zürich 2012, S. 182. Hervorhebung C.J. Nach der Aufspaltung hält das ästhetische Denken die Erinnerung an die magische Einheit wach und erhält die Ganzheitsfunktion in der Welt aufrecht.

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Fortschritt und Berechenbarkeit toter Materie definiert. Von einem Animismus in der Moderne zu sprechen, ist daher höchst prekär, scheinen derartige Aussagen doch immer einen Rückschritt in eine evolutionär längst überwundene Entwicklungsstufe zu bedeuten: Animismus gilt gegenüber modernem Denken als epistemologischer Irrtum, als Überproduktion der Phantasie, die sich der Disziplinierung durch einen modernen Rationalismus entzieht. Eben deshalb muss seitens der ›Modernen‹ auf etwaige Grenzüberschreitungen mit grenzbildenden Manövern geantwortet werden, wie etwa mit der Einhegung animistischer Phänomene in den Bereich von Populärkultur (bspw. Animationsfilm) und Kunst,16 über die diese jedoch beständig hinausdrängen. Dennoch: In der Fiktion ist Animismus erlaubt.17 Möglichkeiten zum Experimentieren räumt allerdings nicht allein die spezifische Verwendung der Sprache ein, auch die Formseite – im Fokus des Beitrags wird die Linie stehen – birgt ein immenses Potential.18 Die ästhetische Auseinandersetzung mit Linien ab dem 19. Jahrhundert unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen des 18. Jahrhunderts, wo die Ästhetik der Linie einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte: Hogarth, Burke, Diderot, Lessing, Lavater, Moritz oder etwa Schiller sind nur einige bekannte Namen derer, die sich ästhetiktheoretisch mit der Frage der Schönheit von Linien befasst haben. Hatte bereits Diderot die Linie als »symbole du movement et de la vie«19 begriffen, geht es in der Diskussion über die Kontur- und Be-

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Vgl. Albers, Irene/Anselm Franke: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Animismus (Anm. 12), S. 7-15, hier S. 12. »Während die anderen Animisten sind,« stellt Irene Albers fest, »konsumiert man Animismus als literarisches Genre.« Irene Albers: »Was wollen die Worte?«, in: dies./Anselm Franke (Hg.): Animismus (Anm. 12), S. 243-261, hier S. 246. Die Linie behauptet ihre Relevanz nicht nur in der bildenden Kunst, sondern findet sich ebenso in der Literatur, wie Moritz in Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste (1789) bemerkt: »die Poesie beschreibt das Schöne der bildenden Künste, indem sie dieselben Verhältnisse mit Worten umfaßt, welche in der bildenden Kunst durch Umrisse [sic!] bezeichnet werden.« Moritz, Carl Philipp: »Grundlinien zu einer künftigen Theorie der schönen Künste«, in: ders.: Launen und Phantasien, hg. von Karl Friedrich Klischnig, Berlin 1796, S. 283-286, hier S. 284. Diderot, Denis : »Pensées détachées sur la peinture, la sculpture, l´architecture et la poésie pour servir de suite aux salons« [1777], in : ders. : Œuvres complètes, hg. von Jules Assezat und Maurice Tourneux, Bd. 12, Paris 1876, S. 73-133, S. 98f.

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wegungslinie des 18. Jahrhunderts grundsätzlich um die Suche nach einem objektiven Prinzip des Schönen.20 Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und mit dem Entstehen der Volkskunde sowie der Psychologisierung der Ästhetik im 19. Jahrhundert ändert sich die ästhetiktheoretische Fragestellung die Linie betreffend fundamental: Man beginnt, die Beobachtung von bewegten, dynamischen Linien auf ihre psychophysischen Effekte hin zu untersuchen und stößt dabei auf die Verknüpfung von Bewegung und Belebung der Linie im Sinne eines modernen, d.h. ›durchschauten‹ Animismus. Eben dieser Kopplung möchte ich im Beitrag anhand von literarischen und ästhetischen Texten sowie dem Medium, in dem der moderne Animismus zu sich finden kann und der den Animismus bereits im Begriff assoziiert, nämlich dem Animationsfilm, nachgehen. Ich möchte exemplarisch in drei Schritten die semantische Entwicklung des Animismus der Linie in Kunst und Ästhetik nachzeichnen. Sind es in Karl Immermanns Roman Die Epigonen21 (I) die Bewegungslinien, die sich in der Performanz des nächtlichen Tanzes einer Animistin zu einem ›lebendigen Kunstwerk‹ fügen, tritt der literarischen Beobachtung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Schriften des Ästhetikers und Schriftstellers Friedrich Theodor Vischer (II) eine theoretische Fundierung zur Seite, die anhand des Begriffes des Seelenleihung (später: Einfühlung) einen vorbegrifflichen Animismus durch die Fokussierung von (bewegten) Konturlinien impliziert. Mit den Möglichkeiten des Trickfilms wird, so lässt sich Sergej Eisensteins Fragment Disney22 (III) entnehmen, dem Animismus eine ganz neue Sphäre der Verwirklichung eröffnet, die neuartige Aus20

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In diesem Sinne bestimmt Schiller, der hier exemplarisch für den komplexeren Diskurs im 18. Jahrhundert einstehen soll, im Rückgriff auf Hogarths Ausführungen bekanntlich die Schlangenlinie als Ideal: »Sinnlich vollkommen« (Schiller, Friedrich: »Kallias oder über die Schönheit«, in: ders.: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, hg. von Klaus L. Berghahn, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2010, S. 565, hier S. 53) ist sie, weil sie Mannigfaltigkeit mit Einheit zu verbinden vermag und zugleich den Inbegriff der Freiheit bedeutet. Immermann, Karl: Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern 1823-1835, nach der Erstausgabe von 1836 mit Dokumenten zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, Textvariationen, Kommentar, Zeittafel und Nachwort, hg. von Peter Hasubek, München 1981. Der Roman wird im Folgenden direkt im Fließtext mit der Sigle DE und der Seitenzahl angegeben. Eisenstein, Sergej: Disney, hg. und übers. von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Berlin 2011. Das Fragment wird im Folgenden direkt im Fließtext mit der Sigle DIS und der Seitenzahl angegeben.

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drucksformen für sich beanspruchen kann. Er wird zum Hort der nichtmodernen Ontologie des Animismus erklärt, weil er das Verlangen nach fluiden animistischen Formen, die Sehnsucht nach einer ganzheitlichen, vorindustriellen Welt, für einen kurzen Moment stillen kann, was in der – titelgebenden – ›formalen Ekstase‹ kulminiert.

I. Fiametta oder das »lebendige Kunstwerk« Bestimmte Schiller die geschickten und gleichzeitig kunstlosen Bewegungen des englischen Tanzes als Idealtypus schöner linearer Bewegungen,23 erfährt die lineare Bewegung des Tanzes in Karl Immermanns Die Epigonen (1836) demgegenüber eine Umcodierung, die die Beschäftigung mit der Linie im 19. Jahrhundert prägen wird: hier geht es nicht mehr um die philosophische Aufwertung der populären (Schönheits-)Linie im Rahmen des Versuchs, idealistisch konzipierte Freiheit und Natur zu harmonisieren. Hier geht es um die Möglichkeit, anhand von bewegten Linien archaische Denkfiguren zu reaktivieren und deren Magie in der Moderne aufscheinen zu lassen. »[N]irgends«, schreibt der Literaturgeschichtsprofessor mit einem Faible für Volkskunde, Oskar Ludwig Bernhard Wolff an Immermann, habe er »unsere Zeit« mit solch »magischer Gewalt beschworen«24 gefunden, als in dessen Roman Die Epigonen. Folgt man der magischen Spur, die Wolff legt, führt dies direkt zu einem rätselhaften Wesen namens Fiametta bzw. Flämmchen, einer jungen Animistin. Der Name ist im Hinblick auf die Frage der Form aussagekräftig, denn durch diesen ist Flämmchen die Möglichkeit der Verwandlung in alle erdenklichen Formen bereits eingeschrieben, wie sich mit Bezug auf Eisenstein zeigen lässt, der das unbeschränkte Potential von Flammen

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Der Tanz ist im 18. Jahrhundert ein verbreiteter Topos zur Illustration der Schönheitslinie in der Ästhetik, etwa bei Hogarths Beschreibung eines country dance. Hogarth, William: The Analysis of Beauty, London 1753, S. 135. Wie Sabine Mainberger an Schillers Gedicht Der Tanz und dessen Kallias-Briefen herausstellt, tritt nach der Schönheitslinie mit dem Tanz »wieder ein populäres Beispiel von Schönheit in den Dienst seiner Theorie [des Schönen]«. Mainberger, Sabine: »Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ›Linienästhetik‹. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty«, in: DVjs 79/2 (2005), S. 196-252, hier S. 218. Oskar Ludwig Bernhard Wolff an Karl Immermann Juli 1836, zit.n. DE, Dokumente zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, S. 678.

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für Formexperimente in seinem Fragment Disney hervorhebt:25 Das Feuer ist »in der Lage, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Traum von der fließenden, unendlichen Vielfalt der Form zu verwirklichen« (DIS, 18). Zugleich werden in dem »wilde[n] Mädchen« (DE, 45) die Diskurse der Moderne um den – hier noch latenten – Animismus, so die These, in ihrer Verwandlung in ein Formkunstwerk gebündelt: Sie gilt als Kind, Wahnsinnige und ›Primitive‹ einerseits und führt, andererseits, im nächtlichen Tanz – als Kunstwerk – die nostalgische Sehnsucht nach einer Rückkehr in eine Zeit der Einheit von Natur und Kultur vor.26 Flämmchen konfrontiert das moderne, rationale Denken mit seinem Gegenteil, darauf lässt ihre Charakterisierung seitens der Figuren des Romans schließen: Eingeführt wird sie als »Dryas« (DE, 11), ein Baumgeist, der, so der Sergej Eisenstein bestens bekannte Edward Burnett Tylor, die »ursprünglichste animistische Naturanschauung des Menschen dar[stellt].«27 Sie ist von einem »anmutigen Zauber« (DE, 12) umgeben und soll »zehntausend böse Geister im Leibe« (DE, 47) haben – die eigentümliche Außenseiterin ist den anderen Figuren nicht ganz geheuer, ja unheimlich.28 Der Text macht zudem, 25

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Die Engführung von Flamme und Form ist fester Bestandteil der ästhetischen Diskussion. Bereits Moses Mendelssohn hat entschieden auf die Beziehung zwischen menschlicher Bewegung und der Flamme als dynamischer Form verwiesen: Bei »reitzenden« Gesten, Mienen oder Wendungen »findet die Linie der Schönheit statt, nicht wie sie auf einmal im Raume da steht; sondern wie sie nach und nach durch die Bewegung gezeichnet wird. Die Maler drucken den Reitz durch eine flammigte [sic!] Linie aus, mit welcher unsere Einbildungskraft allezeit den Begriff von einer Bewegung verbindet«. Mendelssohn, Moses: »Über die Empfindungen« [1755], in: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl, hg. von Otto F. Best, Darmstadt 1974, S. 25-110, hier S. 97, Hervorhebung C.J. So etwa bei Tzvetan Todorov: Phantastische Texte zeigten die Welt des »Drogenberauschten, des Psychotikers oder die eines Kleinkindes«. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 108. Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur: Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Bd. 2, o.O. 2001, S. 216. Der Arzt innerhalb des Figuren-Ensembles, dem qua Amt die Deutungshoheit über Flämmchen zukommt, fährt das typische Begriffsarsenal aus Kind, Wahnsinniger und Primitiver – bis auf den Bereich der Kunst, und dies ist für den Verlauf der Erzählung relevant – auf, um Flämmchens Charakter als abweichenden zu stigmatisieren: »Sie ist […] durchaus und bis in die letzte Faser ihrer Natur Aberglauben, und nie habe ich diese geistige Krankheitsform so rein auftreten sehen. […] Sie thut keinen Schritt, ohne irgend ein willkürliches Orakel zu fragen, sie hat Visionen, sie führt im Mondschein sonderbare Gespräche mit ihrem Schatten, dabei ist sie durchaus nicht heimlich und verschlossen, nein, man kann ihre ganze Verkehrtheit in jedem Augenblicke von ihr

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wenn Flämmchen als Schamanin und Fetischistin (DE, 238; 109) bezeichnet wird, ›völkerkundliches‹ Wissen der Zeit für die literarische Gestaltung produktiv. Die unmittelbarste Evidenz ihrer animistischen Einstellung zeigt sich, als sie in einer Hütte im Wald – und damit in der Natur – zu leben beginnt. Dort fängt sie an, mit Bäumen und Steinen zu sprechen und entwickelt, und darum wird es im Folgenden gehen, »eine unwiderstehliche Notwendigkeit, zu tanzen.« (DE, 240) Dieser Tanz verdient gesonderte Betrachtung, weil in ihm die Bewegungslinie einen ästhetischen Eigenwert behauptet und er – in der Beobachtung als kunstförmige Kommunikation, denn Flämmchen wandelt sich zu »einem lebendigen Kunstwerke« (DE, 242) – die Möglichkeit einrichtet, Flämmchen nicht als Bedrohung moderner Rationalität zu betrachten, sondern als Schönheit zu genießen. Dieser Tanz ist, »als habe ihr Organismus alle Schrecken abschütteln, und zugleich ein geheimes Gesetz der Schönheit, welches lange in dem armen verlaßnen Kinde geschlummert, entfalten wollen.« (DE, 241) Das geheime Gesetz der Schönheit wird durch Bewegungslinien beschrieben – der Blick der Zuschauenden, des Arztes und des Domherrn, folgt der Bahn oder Linie: Flämmchen beschreibt mit ihrem Körper zunächst einen Kreis, sie schreitet »gemessen, fast feierlich, erst rund um die Felsenplatte, als vollziehe sie die Weihe des Orts.« Sie »neigte […] sich ihm [dem Mond, C.J.] mit zärtlicher Gebärde entgegen, bald schien sie vor ihm verstellterweise zu fliehn, jetzt hob sie den einen, dann den andern Kranz lockend empor, darauf ließ sie beide sinken, verwechselte sie, warf sie in die Luft, daß sie dort Bogen beschrieben« (DE, 241). Um noch einmal auf ihren eigentümlichen Namen zurückzukommen: Eisenstein zufolge liegt die »Attraktivität des Feuers«, das ein weit verbreitetes Bild für die Seele ist (DIS, 60), und »ein Geheimnis der Feueranbetung« gerade darin, dass das Feuer »alle denkbaren Formen annimmt« (DIS, 43). Vor diesem Hintergrund ist die Beschreibung signifikant, wenn der Domherr die Beobachtung von Flämmchens Tanz in die Worte: »[h]ier entbrennt eine Seele [sic!], deren Drange nichts Geringeres kennt als das Ganze« (DE, 242), fasst.

erfahren, weil die abenteuerlichsten Dinge ihrem Geiste so gemein erscheinen, wie uns der Wechsel der Tageszeiten. […] Sie hat sich eine Art von Fetischismus gebildet, und es ist mir oft merkwürdig gewesen, an ihr dasselbe wahrzunehmen, was man uns von den Völkern erzählt, die sich noch auf der Stufe der Kindheit befinden.« DE, 107-109, Hervorhebung C.J.

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Das ›Ganze‹ von Flämmchens Tanz besteht, wie sich in der Schilderung des Domherrn zeigt, in der Formseite des ›lebendigen Kunstwerks‹: Obwohl ihr Tanz ein »ein liebliches Gedicht« ist,29 in dem »der Mond zur Erde herabgezogen« (DE, 241) werden sollte, um so die mythische Zeit vor der Trennung des Mondes von der Erde zu restituieren, werden allein die physischen Aspekte des ästhetischen Ereignisses, »Fuß, Hand, Leib, Stimme« detailliert geschildert – diese »genügen […] zu einem lebendigen Kunstwerke« (DE, 242). In dem Tanz, dem »anmutige[n] Spiel« (DE, 241)30 erscheint es, so der Domherr, als sei »die alte Fabel wieder jung geworden und schaue den Spätlinge mit entzückenden Kindesaugen an« (DE, 242), wobei Fabel an dieser Stelle, so informiert der Kommentar, nicht auf eine Erzählung verweist, sondern »de[n] Tanz der Elfen oder Grazien im Mondlicht« (DE, 764) meint. Flämmchen verwandelt sich vor den Augen des Domherrn und des Arztes, mit einem Begriff Eisensteins, in eine »feurige Fabel[]« (DIS, 22). Flämmchen, die Gartenstatuen, Steine und Weidenbäume als lebendige Wesen betrachtet (DE, 240), kann als Repräsentantin einer untergegangenen Weltsicht in einer über diese Stufe hinaus geschrittenen Umwelt gelten – in ihrer Weigerung, Lebendiges von Unlebendigem zu trennen, scheint ein vorbegrifflicher Animismus auf.31 Sie wird zu einer Verlängerung der Natur, indem sie mit den Bewegungslinien ihres Körpers – und damit gerade nicht den Bedingungen einer Schriftkultur folgend32 – dasjenige vermittelt, »wozu der armen, stummen, gefesselten Natur ewig die Organe mangeln« (DE,

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Zwar werden ihre Bewegungen von wenigen »abgebrochenen Worten, deren Verbindung die Zuhörenden ergänzen mußten« (DE, 241) flankiert – in der Darstellung des Kunstwerks werden diese Bruchstücke dem Leser allerdings vorenthalten, was Rückschlüsse auf deren mangelnde Relevanz zulässt. Im Begriff der Anmut, mit dem der Tanz als auch Flämmchen gekennzeichnet wird, zeigt sich bereits die Möglichkeit des Aufbrechens von erstarrten Formen, liegt für Schiller doch die Anmut in der Freiheit der willkürlichen Bewegungen. In diesem Sinne wird Flämmchens Tanz vom Domherrn in Stellung gebracht gegen die normierten Bewegungen des Balletts (DE, 242). In diesem wie auch im Fall von Vischers ästhetischen Schriften kann man von einem »preadaptive advance[]« sprechen, d.h. der »Emergenz evolutionärer Errungenschaften durch Vorentwicklung[]«. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 512. Vgl. Hahn, Torsten: »Aktenstaub/Blumenstaub: Die Form und das ästhetische Verfahren der Epigonalität«, in: Daniela Gretz/Nicolas Pethes (Hg.): Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg 2016, S. 149-171, hier S. 161.

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242).33 Als Mittlerin zwischen Natur und Kultur restituiert Flämmchen eine in der modernen Welt anderswo nicht mehr zugängliche – nichtsprachliche, sondern als Linie beobachtbare und als Form beschreibbare – ›Poesie‹, die außerhalb der Sphäre der Kunst nicht wiederbelebt werden kann.34 Fiammetta öffnet durch ihre grazilen Bewegungen die magischen Kanäle, was zu einer Wiederbelebung überkommener Weltanschauungen führt. Als nichtmoderne Figur lässt sie die animistische Welt wieder auferstehen, die mit der Moderne untergegangen ist, als ›lebendiges Kunstwerk‹ gelingt ihr die Einheit von Natur und Kultur. Und dies ist der einzige Bereich, in dem sie als Figur innerhalb der modernen Gesellschaft zumindest zeitweise eine Existenzberechtigung hat: Was sonst als geisteskrank gekennzeichnet wird, kann im und als Kunstwerk als Schönheit konsumiert werden. So zeigt sich bei Immermann eines derjenigen Phänomene, die Vischer seit seiner Ästhetik umtreiben: Nämlich die Beseelung der Natur.

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Flämmchen bringt ein verschüttetes, der Moderne verloren gegangenes Wissen zurück. Verschüttet wurde dieses, folgt man der Argumentation Tylors, durch den Aufstieg der Naturwissenschaften. Denn »Physik, Chemie und Biologie«, haben »ganze Gebiete des alten Animismus in Angriff genommen […] und für das Leben die Kraft, für den Willen das Gesetz eingeführt […].« (Tylor: Die Anfänge der Cultur [Anm. 27], S. 184) Nicht ohne Melancholie und in elegischem Ton beschreibt Tylor den Verlust, den die Moderne zugunsten der Inthronisierung der Naturwissenschaften in Kauf genommen hat: »Jetzt waltet keine inwohnende Gottheit mehr über dem Leben, der glühenden Sonne, kein Schutzengel lenkt die Sterne über das gewölbte Firmament, der heilige Ganges ist nichts weiter als Wasser, das hinabfließt ins Meer, um dort zu verdampfen, Wolken zu bilden und im Regen wieder herabzuströmen. Keine Gottheit kocht mehr in dem siedenden Topfe, keine mächtigen Geister hausen mehr in den Tiefen des Vulkans, keine heulenden Dämonen schreien aus dem Munde des Mondsüchtigen. Die Periode der menschlichen Entwicklung ist vorüber, wo das gesammte Universum durch das Leben einer Geisterwelt in Thätigkeit gehalten wurde […].« Ebd., S. 184. Ebd., S. 222.

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II. Vischers Formsymbolik der Linie Mit der um den Symbolbegriff35 zentrierten Einfühlungsästhetik von Friedrich Theodor Vischer und seinem Sohn Robert – den Gründungsvätern der Einfühlungsästhetik – erfährt das ›völkerkundlich‹ geprägte literarische Interesse für alternative Ontologien wie dem Animismus eine – weiterhin vorbegriffliche – theoretische Fundierung. Der Begriff der Einfühlung bezeichnet ein ästhetisches Verhältnis des Subjekts zur Natur wie zu den Dingen, die in einem Akt der Seelenleihung – mit dem die Entwicklung eines modernen Animismus’ als Leitfigur ästhetischer Auseinandersetzung mit Kunst ihren Anfang nimmt – im ästhetischen Modus belebt werden. Indem der ästhetische Wahrnehmungsvorgang in das Zentrum des Interesses rückt, erfolgt eine sukzessive Annäherung an Psychologie und Physiologie, die die ästhetische Debatte der folgenden Jahrzehnte prägen soll.36 Von Interesse ist an 35

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Der Symbolbegriff ist in der die drei Stadien Mythos, Symbol und Allegorie umfassenden Typologie der Einfühlung als Mittlerin zwischen Mythos und Logos, Natur und Kultur, der eigentliche Bereich des zeitgenössisch Ästhetischen. Das Symbol operiert im Modus des der ästhetischen Betrachtung zugeordneten »ästhetischen Glauben[]« (Vischer, Friedrich Theodor: »Kritik meiner Ästhetik«, in: ders.: Kritische Gänge, Bd. 4, hg. von Robert Vischer, München 2 1922, S. 222-419, hier S. 325), »die Einfühlung« so schreibt Perpeet, »als ästhetische ist ja nur möglich in dem ausdrücklichen Bewußtsein der ontischen Differenz von Natur und Geist einerseits und andererseits der ›herrlichen Lüge‹ ihrer Indifferenz durch die aus Freiheit vorgenommene Belebung und Beseelung des Unbelebten und Unbeseelten« (Perpeet, Wilhelm: »Historisches und Systematisches zur Einfühlungsästhetik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 11/2 [1966], S. 193-216, hier S. 211). Das Symbol verkörpert die Zentralstellung innerhalb der Typologie: »Die Mitte -: auch ein eigenthümliches Zwielicht kann man nennen, wovon es jetzt sich handelt. Es ist die unwillkürliche und dennoch freie, unbewußte und in gewissem Sinne doch bewußte Naturbeseelung, der leihende Akt, wodurch wir dem Unbeseelten unsere Seele und ihre Stimmungen unterlegen.« (Vischer, Friedrich Theodor: »Das Symbol«, in: ders.: Kritische Gänge, Bd. 4, hg. von Robert Vischer, München 21 922, S. 420-456, hier S. 431) In dieser suspension of disbelief wird im Modus der »ästhetischen Stimmung« aus dem nur »schwebenden Ernst« (ebd.) sonstiger Wahrnehmung zeitweise tatsächlicher Ernst, Fiktionales also vorübergehend wie eine historische Erzählung rezipiert. Der Begriff der Einfühlung wird Ende des 19. Jahrhunderts zum Schlüsselbegriff einer Ästhetik, die sich grundsätzlich als Psychologie versteht. Vgl. zu einem Überblick über Positionen und maßgebliche Autoren der Einfühlungsästhetik Curtis, Robin: »Einführung in die Einfühlung«, in: Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2008, S. 11-30; Fontius, Martin: »Einfühlung/Empathie/Identifikation«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Äs-

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diesem Bereich der Ästhetik, dass der Begriff der Einfühlung nicht zwischen Lebewesen und Dingen differenziert – beide können gleichermaßen beseelt werden. Die ästhetischen Schriften des Professors für Ästhetik und Verfassers literarischer Texte Friedrich Theodor Vischer sind prima facie sicherlich nicht einschlägig im Sinne einer Ästhetik der Form. Im Gegenteil positionierte er sich im prominenten, dreißig Jahre langen Streit mit dem Formalisten Robert Zimmermann um die Frage, ob das Wie oder das Was der Kunst entscheidend sei, eindeutig auf der Seite des Gehalts.37 Denn sofern es sich bei der Seelenleihung um einen notwendigen Akt ästhetischer Wahrnehmung handelt, kann die von den Formalisten postulierte ›reine Form‹ nicht existieren. Dennoch, so möchte ich zeigen, sind Teilaspekte seiner ästhetiktheoretischen Publikationen einschlägig im Sinne der hier verfolgten Fragestellung, denn hervorgehend aus der Auseinandersetzung mit Fragen der Form – etwa Farbe, Linie oder Ton –, sollte mit der Einfühlung eine Erklärung für die die Betrachtung und Wahrnehmung begleitenden emotionalen Erregungen ermöglicht werden. Die Schriften kreisen um die Frage, wie die Kunst in einem spezifischen Seelenakt das Schöne hervorbringt, indem sie einer an sich sinnleeren Gegenständlichkeit eine bedeutungsvolle Seelenstimmung unterlegt, was Vischer im Rückgriff auf die Dissertation seines Sohnes Robert als Einfühlung bezeichnet – das »Einfühlen der Seele in unbeseelte Formen ist es, um was es sich in der Aesthetik ganz wesentlich handelt.«38

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thetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 121-142 sowie Perpeet, Wilhelm: »Historisches und Systematisches zur Einfühlungsästhetik« (Anm. 35). Vgl. ausführlich zum Streit zwischen Vischer und Zimmerman Schneider, Lothar: »Realismus und formale Ästhetik. Die Auseinandersetzung zwischen Robert Zimmermann und Friedrich Theodor Vischer als poetologische Leitdifferenz im späten neunzehnten Jahrhundert«, in: Andreas Hoeschen/ders. (Hg.): Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 259-281. Vischer, Friedrich Theodor: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Aesthetik: Vorträge, Erste Reihe, hg. von Robert Zimmermann, Berlin/Stuttgart 3 1907, S. 70. Der Kunsthistoriker Richard Hamann fasst 1907 die hier im Zentrum stehenden Aspekte der Einfühlungsästhetik – mit deutlich kritischem Impetus, möglicherweise eben darum besonders pointiert – zusammen: »Die Einfühlungstheorie sieht […] die Erklärung des Kunstwerks darin, von jeder Linie, jeder Helligkeit, jedem Raum und jedem Ding so zu sprechen, als stecke ein ganzer Mensch darin. Die Linien fangen an zu hüpfen und zu springen, die Schatten und Lichter sich zu fliehen oder zu liebkosen, die Flä-

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Das Heraufbeschwören einer animistisch geprägten Wahrnehmung kann als Reflex gelesen werden auf die im Zuge der Industrialisierung sich verändernde Lebenswelt, die Vischer schon während der Niederschrift der Ästhetik (1846-1857) aufmerksam beobachtet. Seine Diagnose lässt sich als im Rahmen rationalistischer Erklärungen verbleibender Versuch der Restitution verloren gegangener Beziehungen zur Natur wie zur Welt der Dinge interpretieren. Anders als Immermann interessieren Vischer nicht die Bewegungsbahnen, die die Anmut des Tanzes begleiten. Bei Vischer rückt ein anderer Aspekt in den Fokus, der in der Auseinandersetzung mit Linien genuin verankert ist: die Konturlinien. Neben Farben interessieren Vischer in seinem Aufsatz Das Symbol ganz entschieden – und dieses Interesse wird Eisenstein in seinen Ausführungen zum Animationsfilm ein halbes Jahrhundert später teilen – die Formen, genauer die Umrisse der Objekte, die sich im Schauen zu dynamischen, in Bewegung begriffenen Linien wandeln; das Objekt wird animiert: »[D]ie Umrisse, Grenzen des Objekts scheinen zu rinnen, zu laufen, sich zu winden und krümmen und ich mit ihnen.«39 Im Rückgriff auf die Dissertation seines Sohnes Robert kommen dabei psychophysische Ansätze zum Tragen:40 Das Auge genießt die rhythmische Anordnung von Linien, das »Runde hat einen angenehmen Effekt, weil es dem Runde des Auges entspricht« – ein, wie Vischer selbst konzediert, »kühner Satz« –, »adäquate Nervenfunktionen« ergeben sich ebenfalls »bei horizontaler Flächenlinie, weil unser Augenpaar eine horizontale Lage hat.«41 Darüberhinaus beobachtet Vischer die Versetzung in bewegte Gegenstände wie dem »Vogel«, mit dem »wir uns [schwingen], stürzen, steigen, springen und

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chen haben ihr Leben, behagliche Räume fangen an zu spinnen.« Hamann, Richard: Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907, S. 141. Vischer: »Das Symbol« (Anm. 35), S. 446. Das moderne Bedürfnis nach Naturbeseelung wird anhand von psychophysischem Vokabular auf »messbare Nervenschwingungen zurückgeführt« und die animistisch-magische Beseelung der Welt »zum Effekt von Nervenmodifikationen und Muskelspannung entzaubert.« (Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004, S. 223) Die Einfühlungsästhetik als naturwissenschaftliche Bloßlegung der phantastischen und allein subjektiven Beseelung der Natur, die laut Vischer dem Bereich des (vorbehaltenen) Mythos angehört, kann so – aufgeladen mit Anleihen bei der Psychophysik – die alltägliche Beobachtung mit vielschichtigen psychischen Geschehen verbinden. Vgl. ebd. Vischer: »Das Symbol« (Anm. 35), S. 441.

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fliegen.«42 Auch bei diesem Akt der Einfühlung steht die Form im Zentrum des Interesses, und zwar als Vehikel der Beseelung, wie Vischer als Gesetz der Animation formuliert: Wir finden draußen in den Dingen eine Mimik, wie wir sie haben; wir legen sie hinein in die Formen. So kommt uns von da draußen der Mensch entgegen. Wir lassen uns von den äußeren Erscheinungen unsere eigene Seele darbringen.43 Wie bereits die oben aufgeführten Ausführungen zur Linie im Aufsatz Das Symbol eher auf den Animationsfilm verweisen, als die Wahrnehmung von Landschaften oder Werke der bildenden Kunst zu beschreiben, zeigt sich eine ganz ähnliche Vorwegnahme des animierten Films in Vischers literarischen Schriften: Bereits in seinem Roman Auch Einer findet sich eine signifikante Beschreibung der ›Mimik‹ unbelebter Dinge, die wohl als literarische Urszene des Animationsfilms gelten kann. Dort werden Bewegungen, die sich zu Linien, nämlich Gesichtszügen formen, aufgewertet – und formulieren zugleich literarisch, was später im Animationsfilm auf die Leinwand gebracht werden wird.44 Beim Mittagessen widerfährt dem Erzähler des Romans ein »psychologisches Ereignis«, als ein auf dem Tisch befindlicher Krug permanent im Weg zu stehen scheint: Was kann gleichgültiger, nennensunwerter sein [als ein Krug, C.J.]? Aber – auf unbewußten Stufen vorbereitet – sprang plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewisse Art von zweitem Gesicht, oder wie soll ich es nennen? Der Krug war mir kein Krug mehr, sondern ein beseeltes, unverschämtes Wesen, ein Geisterlümmel oder Lümmelgeist; – seine Schnauze war ein unverschämtes Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Gesicht, der Griff ein trotzig eingestemmter Arm, dieses Wesen kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für uns unbequem stand.45

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Ebd., S. 446. Vischer: Das Schöne und die Kunst (Anm. 38), S. 81. Vgl. zu den Linien der Physiognomie Lavaters Börnchen: Poetik der Linie (Anm. 1), S. 17. Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, mit einem Nachwort von Otto Borst, Frankfurt a.M. 1987, S. 79. Ein ähnliches Erlebnis hat der Erzähler bei der Ansicht des Portraits einer Frau, bei dem sich die Linien des Haares beleben: »Ein ganzer Wald von glänzenden Locken umgab wie eine Löwenmähne das wohlgebildete Haupt; ich konnte es nicht bloß auf die Lichtwirkung schieben, daß mir dieses Haar wie metallisch erschien. Warum wollte mir, wenn mein Auge von der Betrachtung des Gesichts

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Diese Art der Metamorphose von Formen (die unweigerlich die Erinnerung an das lebendige Service aus dem Disney-Film The Beauty and the Beast hervorruft) gehört später zum Repertoire von Disneys Animationsfilmen. Eisenstein, dessen animistische Filmästhetik im Folgenden im Zentrum stehen wird, erläutert den Grund der Faszination für das Formspiel: Unwillkürlich kommt einem der Gedanke, dass all diesen Beispielen eine gemeinsame Ursache der Attraktivität zugrunde liegt: Der Verzicht auf die Bindung an eine ein für allemal festgelegte Form, die Freiheit von Erstarrung, die Fähigkeit, dynamisch jedwede Form anzunehmen. [Absatz] Eine Fähigkeit, die ich als plasmatische Eigenschaft bezeichnen würde, denn hier bewegt sich ein gezeichnetes Wesen, das eine bestimmte Form und ein bestimmtes Antlitz erlangt hat, wie Protoplasma, das noch keine stabile Form besitzt und Jede, ja alle Formen der animalischen Existenz auf der Stufenleiter der Entwicklung annehmen kann. (DIS, 15) Gerade im Hinblick auf den Film bzw. auf eine besondere Form: den Animationsfilm, ist die Einfühlung Vischer’scher Provenienz ein fruchtbarer Begriff für folgende Diskussionen. So wird evident, wie stark die Emphase des Vischers – der selbst passionierter Karikaturist war – für Umrisse und Linien und die sich daraus ergebenden Bewegungen auf den Animationsfilm vorausweist, was deren Anschlussfähigkeit sinnfällig werden lässt.

III. »Animated cartoon, the highest form of animism«46 Sergej Eisensteins Fragment Disney, in dem er sich – mit Unterbrechungen – von 1940 bis 1946 mit Walt Disneys Animationsfilmen auseinandersetzt, ist Teil seines ebenso unvollendet gebliebenen Buches Methode, das der Analyse des Verhältnisses von nichtmodernem Denken und künstlerischer Praxis gewidmet ist. Das Fragment besteht aus Zitaten, Kommentaren, Assoziationen, Aphorismen, Notizen und längeren argumentativen Passagen in verschiedenen Sprachen, mit ästhetiktheoretischer und deutlich anthropologischer Aus-

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zu dieser reichen Umkränzung zurückkehrte, mehr und mehr scheinen, als bewegten sich diese Ringel, als zischelten Schlangen aus ihren Spitzen?« Ebd., S. 314. DIS, 34.

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richtung – Eisenstein geht den formalen Aspekten ›primitiven‹ Denkens als Material des künstlerischen Ausdrucks nach.47 Handelt es sich bei animistischen Denkweisen – wie bereits für Vischer – prinzipiell um eine anthropologische Konstante, wie etwa »die momentane Belebung und Beseelung eines toten Gegenstandes, die wir rudimentär bewahren, wenn wir über einen Stuhl stolpern und ihn ausschimpfen wie ein lebendiges Wesen« (DIS, 34),48 basiert die Studie auf der Diagnose, dass das Bedürfnis nach animistischen Formen der Wahrnehmung innerhalb der Fiktion korrespondierend der fortschreitenden Industrialisierung ansteigt: Die animistische Perspektive ist »charakteristisch für viele Epochen, in deren Gesellschaftssystem oder in deren Philosophie besonders wenig Menschlichkeit zu spüren ist«, z.B. »das amerikanische Maschinenzeitalter in seiner Wirkung auf Lebensweise, Existenz und Moral« (DIS, 29).49 Der Weg zurück »in jene 47 48

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Vgl. Bulgakowa, Oksana: »Disney als utopischer Träumer«, in: Irene Albers/Anselm Franke (Hg.): Animismus (Anm. 12), S. 211-213, hier S. 211. Eisensteins Argumentation ist über weite Strecken analog zu derjenigen der Einfühlungsästhetiker: Ist dasjenige, »[w]as sich bewegt, […] also beseelt, das heißt angetrieben von einem inneren, selbständigen Willensimpuls« (DIS, 54), findet sich ebenso eine »›Animisierung‹ von unbeweglichen natürlichen Objekten, Gebrauchsgegenständen, Landschaftslinien usw.« (DIS, 54) So bewegt sich etwa »das Subjekt (Auge), den Umrissen des Objekts (Gegenstand) folgend […], das Objekt selbst (der Gegenstand) sich im Raum jedoch nicht bewegt.« (DIS, 54) Wie bereits Vischer und sein Sohn Robert führt Eisenstein dieses Phänomen auf psychophysische Gründe zurück: Im Animismus, der nicht zwischen Subjekt und Objekt trennt, kann die »Bewegung des Auges, das die Linie eines Gebirgskamms überfliegt, […] ebenso als Flug dieser Linie selbst wahrgenommen werden.« (DIS, 55) Während bei Vischers Ausführungen zur Einfühlung wie bei den auf ihn folgenden Einfühlungsästhetikern die Verbindung von Animismus und Linie latent und vorbegrifflich adressiert wurde, ist sie in Eisensteins anthropologischmedienästhetischer Auseinandersetzung mit der Thematik an Eindeutigkeit nicht zu überbieten. Eisenstein definiert Animismus recht konventionell: »Animism L anima soul … the belief that all objects possess natural life or vitality or that they are endowed with indwelling souls. The term is usually employed to denote the most primitive and superstitious forms of religion…« (DIS, 35) Ähnlich wie Tylor und auch Vischer verwendet Eisenstein ein evolutionäres Entwicklungsstufenmodell die Frage des Bewusstseins betreffend. Im Animismus schlummere, so Eisenstein, »die Vorstellung und das Empfinden einer inneren Verbundenheit aller Elemente und Bereiche der Natur […], lange bevor die Wissenschaft die Anordnung dieser Beziehungen in ihrer Abfolge und stufenweisen Entwicklung enträtselt hat. Parallel dazu verlief die objektive Erkenntnis der Natur, die uns umgibt.« (DIS, 31) Vor deren naturwissenschaftlicher Erschließung – und dies deckt sich einmal mehr mit den Ausführungen Vischers – »kannte die Menschheit keinen

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Epoche […], die nicht [die Trennung von Natur und Kultur] kannte« (DIS, 34; Einschub im Original) führt über Fiktion im Allgemeinen, über Disneys Animationen im Besonderen: Für Eisenstein, wie zuvor für den Begründer des Animismus Tylor, ist der Ort für animistische Denkweisen innerhalb der Moderne die Sphäre der Fiktion: »Disney […] bedeutet eine vollständige Rückkehr in das Reich uneingeschränkter Freiheit – einer nicht zufällig fiktiven Freiheit, die an ihrem anderen, ursprünglichen Ende frei von jeder Notwendigkeit ist.« (DIS, 39) Eisenstein betrachtet Disneys Filme nicht schlicht als Medium der populärkulturellen amerikanischen Unterhaltungsindustrie, vielmehr betrachtet er sie als »Kunst, eine fröhliche und wunderschöne Kunst, die von erlesenen Formen in strahlender Vollendung nur so sprüht.« (DIS, 11) Es stellt sich die Frage: Was macht ausgerechnet »Walt Disneys World« für Eisenstein zur »most appealing I’ve ever met« (DIS, 42)? Der Text liefert einerseits eine soziologische und andererseits eine ästhetische Begründung für die Attraktivität, wobei beide auf die Form der Linien zurückrechenbar sind, die in ihrer Fluidität den Zerfall (zu) rigider Ordnung dokumentieren. Eisenstein versteht Disneys Werk dezidiert nicht als ideologiekritisch,50 Disney stehe »jenseits von gut und böse« (DIS, 11), seine Filme schenkten aber »für einen Augenblick,

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anderen Weg, als der Umgebung die eigene Seele zu verleihen und über sie – analog zur eigenen Seele – zu urteilen.« (DIS, 31) Auf dieser ersten Stufe gibt es noch keinen »›Vergleich‹«, weil »es noch keine Differenzierung in Subjektives und Objektives gibt. Hierher rührt auch die ›Beseelung‹ der Natur: Ich und die Natur sind ein und dasselbe, später identisch, noch später einander ähnlich. Bis zum Stadium des Empfindens der Verschiedenheit wirkt all das auf die Beseelung der Natur, auf den Animismus hin.« (DIS, 53) Disney liefert Träume, es sind allerdings »nicht jene Träume, die in ihrer Häufung eine Tat hervorbringen und zur Verwirklichung des Traums anspornen.« Es handelt sich um eine »eine lyrische Rebellion, eine Rebellion im Traum, frucht- und folgenlos.« (DIS, 40) Man muss allerdings Eisensteins Konturierung von Animismus als eine Art ›Sowjet-Animismus‹ verstehen, als Kampfbegriff, der gegen die amerikanische Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Disneys Animationsfilme, mit denen er sich primär beschäftigt, funktionierten seines Erachtens als eine Form von Revolte gegen die rigide, kapitalistische amerikanische Gesellschaft – sie erlaubten ihm zufolge ein temporäres Ausbrechen aus der starren Struktur des amerikanischen Alltags. Wenn so die Äußerungen teilweise überspitzt sind, gründen sie dennoch ganz grundsätzlich in der Beobachtung einer signifikanten Relation zwischen moderner Kunst und archaischen Strukturen, die Eisenstein analysieren will.

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für den Bruchteil einer Sekunde, […] jedem von ihnen [der amerikanischen Proletarier, C.J.] das Wertvollste in ihrer Lage: das Vergessen.« (DIS, 9)51 Neben diesem soziologischen Moment sind vor allem ästhetische Merkmale von Disneys Filmen entscheidend.52 Kunstwerke bestehen, so erläutert Eisenstein 1935 in einer Rede auf der Allunionskonferenz sowjetischer Filmschaffender, in ihrer Dialektik aus einem Streben zu höheren geistigen Bewusstseinsstufen einerseits sowie – hier zeigt sich sein ab den 1930er Jahren wachsendes Interesse an der »culture of form«53 – dem durch die Form geleiteten Eindringen in die tiefsten Schichten des sinnlichen Denkens.54 Bei

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Dieses Vergessen wird von Eisenstein überaus positiv verortet: So gebe es Filme, »die den Zuschauer die Lebensrealität vergessen« machen mit dem Zweck, »die Aufmerksamkeit des ›Mannes von der Straße‹ von den wahren und ernsten Problemen des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital ab- und auf solch alberne Pseudoprobleme wie das Treiben gegen die Prohibition hingelenkt wird. Hier […] ist das Vergessen ein Übel. Vergessen ist ein Mittel, um einzuschläfern; […] ein Instrument zur Entwaffnung im Kampf. Doch das, was Disney uns gibt, ist etwas anderes.« (DIS, 10f.) Disney macht sich so im Gegensatz zu anderen nicht eines realitätsflüchtigen Eskapismus schuldig; das Vergessen, das er evoziert, ist keine Ablenkung von den gesellschaftlichen Problemen, keine Vertröstung auf bessere Zeiten, kein Versprechen eines zukünftigen Wohlstands – Disneys Filme und Figuren sind frei von den ›Fesseln‹ des Industrialismus und der Great Depression, und das Vergessen ist die notwendige Atempause, die die Energie für die Kontinuation des ›Kampfes‹ liefert. Eisenstein verweist in diesem Sinne auf die beiden Bedeutungsdimensionen des Animationsfilms: »Disneys bewegliche Zeichnung heißt im Englischen … animated cartoon. In dieser Bezeichnung vereinten sich zwei Begriffe ›Beseelung‹ (anima – Seele) und ›Bewegung‹ (animation – Belebung, Munterkeit). Und tatsächlich: die Zeichnung wird ›durch Bewegung belebt, beseelt‹. [Absatz] Sogar dieser Grundsatz der Untrennbarkeit von Beseelung und Bewegung ist zutiefst ›atavistisch‹ und entspricht ganz dem sinnlichen Denken.« (DIS, 53) Eisenstein, Sergej: »Film Form: New Problems«, in: ders.: Selected Works, Bd. 3, hg. von Richard Taylor, übers. von William Powell, London 1996, S. 16-46, hier, S. 40. Das gesamte Zitat aus seiner Rede auf der Allunionskonferenz sowjetischer Filmschaffender 1935 über die Dialektik des Kunstwerks (genauer: Films) lautet: »The dialectic of a work of art is constructed upon a most interesting ›dyad‹. The effect of a work of art is built upon the fact that two processes are taking place within it simultaneously. There is a determined progressive ascent towards ideas at the highest peaks of consciousness and at the same time there is a penetration through the structure of form into the deepest layer of emotional thinking. The polarity between these two tendencies creates the remarkable tension of the unity of form and content that distinguishes genuine works. All genuine works possess it.« Eisenstein: »Film Form: New Problems« (Anm. 53), S. 38.

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Disney finden sich »alle unfehlbar wirkenden Merkmale eines Kunstwerks« und zwar »in der reinsten Form« (DIS, 48) vereint – eben deshalb erscheint die Beschäftigung mit dem Werk des »Künstler[s] und Meister[s]« (DIS, 47)55 Disney als produktiv für eine allgemeine Theorie der Kunst – Kunst als Manifestation der Simultaneität von Ratio und Sinnlichkeit. Die grundlegende Dialektik wird anhand des Animationsfilms – dem Medium der Kunst par excellence – in Bezug auf sein spezifisch animistisches Potential im medienästhetischen Vergleich mit anderen Künsten weiter ausdifferenziert, was den Grund von Eisensteins überschwängliche Euphorie ob des Werks Disneys sinnfällig werden lässt: Der Animationsfilm stellt die Synthese aus einer Verzeitlichung der Höhlenmalerei – dem statischen Ursprung des Animationsfilms – einerseits wie der visuellen Verräumlichung der Literatur andererseits dar,56 was über die doppelte Belebung von ›toten‹ Objekten und gezeichneten Linien zur konkretesten, »unmittelbarste[n] Realisierung des … Animismus« (DIS, 45) innerhalb der Moderne führt. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Linien als Begrenzung der Form, Linien, die beständig in 55

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Eisenstein überlegte, seinen Text mit folgendem Satz zu beginnen: »›Das Schaffen dieses Künstlers ist the greatest contribution of the American people to art – der größte Beitrag der Amerikaner zur Weltkultur.‹« (DIS, 37) Das wesentliche Feld, dies lässt sich Eisensteins Fragment unschwer ablesen, auf dem die Reflexion lebendiger Dinge stattfindet, bildet – vor Hinzutreten technischer Medien – für lange Zeit die Literatur. Neben Fabeln und Tierepos – Disneys Filme stellen die »Urenkel des Tierepos« (DIS, 29) dar – wendet sich Eisenstein der Lyrik zu. Die animistische Wahrnehmung findet Eisenstein insbesondere in Metaphern, die, wie Wellbery bemerkt, »als Reklassifikation ihres Gegenstandes auf die Tatsache aufmerksam mach[en], daß andere Weltauslegungen als die kanonisierte unserer Alltagserfahrung möglich sind.« (Wellbery, David A.: »Übertragen: Metapher und Metonymie«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft – Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 139-155, hier S. 152). Eisenstein bezieht sich insbesondere auf die Verbmetapher. Als »Handlungsmetapher, Prozessmetapher«, sucht sie nicht, einen Vergleich darzustellen, sie ist »subjektiv spürbar par excellence« (DIS, 56) in der lyrischen Landschaftsdarstellung realisiert. Er führt verschiedene Beispiele auf (DIS, 55) u.a. Mörike und Hölderlin. Es ist die nichtmoderne Wahrnehmung der Umwelt, die eine Identität von Subjekt und Objekt behauptet, aus der sich diese Verbmetaphern speisen. Sie ermöglicht, dass »alle Bewegungen und Handlungen der Landschaft, einem Hügel, einem Dörflein, einem Gebirge zugeschrieben« (DIS, 56) werden. Der Animationsfilm ist zudem die Potenzierung der Fluidität von Lewis Carrols Figuren in Alice in Wonderland (DIS, 13). Vgl. demgegenüber zum Verhältnis von Tierepos, Totemismus und Animationsfilm Endres, Johannes: »Totemismus und Gesellschaft. Eisenstein über Disney«, in: Scienta Poetica 22/1 (2018), S. 83-110.

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Bewegung begriffen sind. Das formale Potential der Animationen liegt darin, dass die ›tote‹ Zeichnung belebt wird. Grundsätzlich zielt der Animationsfilm auf die Überwindung von feststehenden Formen innerhalb der Form57 – über diese Paradoxie wird die alogische, sinnliche Denkweise wieder disponibel; es geht um nichts weniger als um die »Befreiung der Form von den Kanons der Logik und einer ein für allemal festgelegten Stabilität« (DIS, 16).58 Eben deshalb »schenkt« Disney, durch die Magie seiner Filme – und wohl so intensiv wie kein anderer – den Zuschauern [das] Vergessen. Eben jenen Augenblick der völligen Loslösung von allen Qualen, wie sie die gesellschaftlichen Bedingungen der sozialen Ordnung in einem großen kapitalistischen Staat hervorbringen. (DIS, 9)59 Dieses Vergessen erfolgt – abgekoppelt vom Gegenstand, der eine untergeordnete Rolle spielt – über die Form.60 Der Animismus ist nicht als Gehalt oder Sujet zu verstehen, er ist ein Spezifikum der Form – Disneys »prehistoric practice« stattet »nicht die Natur, sondern einen fragmentarischen Umriss mit Affekten aus« (DIS, 34). Denn im Animationsfilm, dies betont Eisenstein, ist die »Zeichnung an sich […] – unabhängig vom Gegenstand der Abbildung! – zum Leben erweckt worden.« (DIS, 45) Was Disneys Filme so attraktiv macht,

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Vgl. Bulgakowa, Oksana: »Nachwort«, in: Sergej Eisenstein: Disney, hg. und übersetzt von ders. und Dietmar Hochmuth, Berlin/San Francisco 2011, S. 135-154, hier S. 139f. Der Formvorrat findet sich bereits in der Literatur, etwa in Andersens Märchen oder den fluiden Formen in Lewis Carrols Alice in Wonderland, der »Antithese des industriellen, positivistischen Englands«. Disney ist allerdings »noch weiter von der Ratio entfernt als Carrol« (DIS, 67), was nicht zuletzt am Medienwechsel liegt – die Überwindung der starren Form »konnte nur gezeichnet werden« (DIS, 40), was nicht nur auf das Potential des Animationsfilms gegenüber der Literatur, sondern auch dem realistischen Film bezieht. Zum anderen werden Dinge, Flora und Fauna beseelt – sprechende Pflanzen und Tiere, agierende Gegenstände sind »belebt – animiert – animated.« (DIS, 45). Auch bei Eisenstein – wie zuvor bei Vischer – führt der Weg in der Moderne nicht zurück zum ursprünglichen Animismus, auch hier ist es ein Animismus zweiter Ordnung, ein – mit dem Begriff Vischers – ästhetischer Glaube: »Wir wissen doch,« dass die Disney´schen Figuren »keine lebendigen Wesen« sind. »Und davon untrennbar empfinden wir sie als lebendige, […] handelnde, […] existierende und sogar denkende Wesen!« (DIS, 54). Wenn Eisenstein auch die Einheit von Inhalt und Form als »unbestritten[]« (DIS, 65) betrachtet, zielen seine Ausführungen den Animationsfilm betreffend entschieden auf die Formseite des Kunstwerks ab.

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ist deren Formseite – essentiell ist das Wie und damit die Frage des ästhetischen Verfahrens und der Form. Disneys Filme beschwören die Gegenseite der Moderne, ihre Linien sind keine begradigten (Signum der Moderne),61 sondern dynamische, bewegte, sich windende Linien, die qua Belebung die Stabilität jeglicher Form infrage stellen. Eben deshalb bedeuten Disneys belebte Zeichnungen eine notwendige, ästhetisch-kulturelle Aktualisierung alternativer Ontologien: »Amerika und die formale Logik der Standardisierung mussten einfach Disney hervorbringen – als natürliche Reaktion [Rückkehr] zum Prälogischen« (DIS, 44). Sie stellen die Antithese zum »seelenlosen Geometrismus« dar,62 der – im Verbund mit der Metaphysik – die »überraschende Renaissance des allgemeinen Animismus hervor[gebracht hat].« (DIS, 31) Insbesondere der Animationsfilm beschwört in der Moderne eine ›primitiv‹-animistische Wahrnehmung herauf, die sich in einer Konjunktur des »mythologisch Monströse[n] der Moderne, [dem] nicht überwundene[n] Archaische[n] offenbart«,63 wie die Übersetzerin und Herausgeberin von Eisensteins Fragment Disney, Oksana Bulgakova, bemerkt. Disneys Filme bergen in den fließenden, stetig im Prozess begriffenen Linien das Versprechen eines Auswegs aus den erstarrten Formen der industrialisierten Gesellschaft, einen Ausblick auf eine Welt, in der der Mensch nicht der Maschine unterworfen ist. Eine solche Wiederkehr ist im Hinblick auf Disneys Werk allerdings nicht ohne Komik – dem archimedischen Punkt der Ästhetik – denkbar: Während im realen Leben die »Unmöglichkeit« einer Rückkehr zum Stadium des früheren Denkens durchaus »tragisch« ist, wirkt sie »[d]argestellt als realisiert […] komisch – wie ein Greis in Windeln.« (DIS, 35) Disneys Filme stellen so eine Wirkungseinheit des Animismus der Linie mit einer Ästhetik des Komischen her – erst die Verknüpfung von Animismus und Komik macht die Provokation einer künstlerischen Wiederkehr des Prälogischen ästhetisch produktiv,

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Vgl. Ingold: A Brief History (Anm. 3), S. 167. Den größtmöglichen Kontrast zum Animationsfilm bildet die im 17. Jahrhundert entstandene technische Zeichnung. Es ist, so Latour, »die zeichnerische Darstellung von etwas Zusammengefügtem, wobei […] das Handlungsvermögen der zusammengefügten Akteure aus der Zeichnung entfernt wurde und darin nirgends zu sehen ist. Wenn man dies feststellt und sagt, ihr habt das Handlungsvermögen vollständig herausgelassen, und sich dann die äußere Welt aus solchen Zeichnungen zusammengesetzt vorstellt, dann hat man eine ungefähre Annäherung an eine ›unbelebte‹ Welt.« Franke/Latour: »Engel ohne Flügel« (Anm. 12), S. 105. Bulgakova: »Disney als utopischer Träumer« (Anm. 47), S. 212.

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indem sie auf komische (und oberflächliche, denn Disney, so betont Eisenstein, »geht den Dingen nicht auf den Grund« [DIS, 17]) Weise eine alternative Lebensweise »ohne festgeschriebene Normen der Form und des Verhaltens« (DIS, 12) aufzeigen – die Formel lautet: »Nur wer die Fesseln der Stabilität abwirft, kann Vitalität erlangen« (DIS, 16). In der dem Disney’schen Werk innewohnenden Komik eröffnet sich eine spezifische Dialektik aus Form und Inhalt: der »Mechanismus des Komischen ist […]: Wesen und Form sind auseinandergerissen. Die Wirkung rührt daher, dass wir beide als unzertrennlich und zusammengehörig erkennen.« (DIS, 58) Darstellbar ist die Einheit dieses Gegensatzes allein im Animationsfilm, da hier die Form in Bewegung begriffen ist: »es entsteht ein Bild, das formal-mechanisch in der Statik den dialektischen Grundsatz von der Einheit der Gegensätze reproduziert, in welcher jeder Gegensatz an und für sich und doch in einer Einheit existiert, was nur im Prozess, in der Bewegung, in der Dynamik möglich ist.« (DIS, 57) Eisensteins gesteigertes Interesse gilt – im Sinne einer ekstatischen Überwindung der Stabilität – dem proteischen Element der Möglichkeit zur spontanen, polymorphen Gestaltverwandlung, dem plastischen Spiel mit Konturen, den fluiden Formen, etwa sich dehnende Hälse, sich streckende Beine oder zitternde Umrisse. In dieser permanenten Verwandlung der Form »entdecken wir dieselben Merkmale einer verwandelten Welt, einer Welt, die außer sich geraten ist.« (DIS, 12) Die Formseite des Animationsfilms referiert auf die – gerade durch den Exzess ihrer statischen, geraden Linien, die eine strikte Ordnung vorgeben – aus den Fugen geratene Moderne. Zugleich trifft man hier auf den Kern der animistischen Formästhetik: die Ekstase. Denn nichts anderes als ›Außer-sich-geraten‹ meint ja der griechische Begriff Ekstasis in seiner wörtlichen Bedeutung – man tritt in eine buchstäblich ekstatische Welt.64 Ist die Einheit der Gegensätze immer schon ekstatisch (DIS, 130), geht es hier um den Moment, in dem aus »dem sinnlichen Denken […] das logische Denken [erwächst], die im Akt gegenseitiger Durchdringung, revolutionärer Simultaneität (und nicht passiv konsekutiv), ein dialektisches Bild hervorbringen.« (DIS, 130) Diese Form von Ekstase ist gerade

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Vgl. zum Begriff der Ekstase bei Eisenstein, den er häufig synonym zu seinem bekannten Pathos-Konzept verwendet, das im Fragment auch des Öfteren angesprochen wird, allerdings im Sinne der Argumentation vernachlässigt werden kann Sasse, Sylvia: »Pathos und Antipathos. Pathosformeln bei Sergej Ėjzenštejn und Aby Warburg«, in: Cornelia Zumbusch (Hg.): Pathos: Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, Berlin 2010, S. 171-190, hier: S. 173.

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nicht an den Stoff gebunden, Eisenstein definiert sie als ein »gestaltlos[es], gegenstandslos[es]« »Gefühl und Erleben der ursprünglichen ›Omnipotenz‹ des Elements des ›Entstehens‹, des ›Plasmacharakters‹ des Seins« (DIS, 61). Signifikant ist das beigefügte Epitheton ›formal‹ – es handelt sich um eine »formale Ekstase« (DIS, 44), ein Außer-sich-Geraten des künstlerischen Materials Linie. Wenn die animierte Linie in diesem Anderssein, in dieser sinnlich-rationalen Kunstgestalt ihren formadäquaten Ausdruck findet, dann ist es das reine Kunstwerk – dieses wird so eindeutig formästhetisch bestimmt. Disneys Animationsfilme eröffnen die Möglichkeit einer höheren Vollendung der Kunst und enthüllen ihre genuine Leistung. In diesem Sinne legt Disneys Welt der fluiden Formen, der belebten Linien, die außerhalb ihrer ausgeschalteten Possibilitäten einer Rückkehr in nichtmoderne Ontologien frei – sie sind die gestaltlose, fröhliche Form ohne Bezüge zu Politik oder Ideologiekritik, aus der zukünftig »alles hervorgehen kann.« (DIS, 61)

Das Prosagedicht Ilse Aichingers Arbeit an der literarischen Form Armin Schäfer

Seit dem 19. Jahrhundert nehmen Texte, die als poème en prose, Prosagedicht, poetische Prosa1 oder Gedicht in Prosa bezeichnet werden, eine Sonderstellung in der Literatur ein. Auch wenn die Bezeichnung »poetische Prosa« bereits im 18. Jahrhundert verwendet wurde, ist das Prosagedicht eine »paradigmatische Gattung der Moderne«.2 Es ist zumeist als Mischform oder »Hybrid aus mehreren, auf gleicher systematischer Ebene angesiedelten Gattungen«3 bestimmt worden. Oder aber die Forschung hat es auf die Transformation des Gattungssystems selbst bezogen. Sie konnte zeigen, dass es eine herausragende Funktion für die Entwicklung und Ausdifferenzierung des literarischen Feldes ausübt: Das Prosagedicht ist »Katalysator innerliterarischer Entwicklung«4 , »Reflexionsmodus von Generizität«5 und privilegierter Ort literarischer Innovation. Der Vorzug solcher Bestimmungen auf höherer Stufe liegt auf der Hand. Sie zielen nicht auf Definitionen, die ein Wesen des Prosagedichts zu fassen oder aus seinem vermeintlichen Ursprung herzuleiten suchen. Es geht mir im Folgenden weder um einen Beitrag zur Gattungstheorie noch darum, eine 1

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Vgl. Barck, Karlheinz: »Prosaisch – poetisch«, in: ders. u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bände, Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar 2003, S. 87-112. Hauck, Johannes: Typen des französischen Prosagedichts. Zum Zusammenhang von moderner Poetik und Erfahrung, Tübingen 1994, S. 11. Siehe auch Ortlieb, Cornelia: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Baudelaire bis Georg Trakl, Stuttgart/Weimar 2001. Baßler, Moritz: »Gattungsmischung, Gattungsübergänge, Unbestimmbarkeit«, in: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar 2010, S. 52−54, hier S. 52. Bunzel, Wolfgang: Das deutschsprachige Prosagedicht. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung der Moderne, Tübingen 2005, S. 7. Ebd., S. 40.

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»Idee der Prosa« zu rekonstruieren.6 Stattdessen soll der Terminus Prosagedicht in generischer Weise verwendet und eine formtheoretische Perspektive erprobt werden. Die Lektüre setzt an konkreten Texten an, die von Francis Ponge und Ilse Aichinger stammen, und sucht in den Arten und Weisen, wie sie verfahren, nach Anhaltspunkten für eine Beschreibung in Formbegriffen, die vor den gattungstheoretischen Kompaktbegriffen Lyrik, Prosa und Prosagedicht angesiedelt sind.

1. Francis Ponge (1899-1988) hat in seinem Band Le parti pris des choses (1942) – die deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1973 stammt von Gerd Henninger und trägt den Titel Im Namen der Dinge – dem Wasser einen Text gewidmet. Die Tradition, dass Prosagedichte ihr eigenes Formproblem an den Objekten und Themen, die sie wählen, verhandeln, reicht zurück bis Baudelaire, der etwa dem Haar oder der Rispe sowohl Gedichte in Versen als auch Prosagedichte widmete.7 Ponge wählt mit dem Wasser einen Stoff, in den keine spezifischen Formoptionen eingebaut sind. Er ist formlos, verharrt gänzlich in seiner Passivität und nimmt Formen an, wenn ein Bündel von Faktoren auf ihn einwirken, unter denen die Schwerkraft die allgemeinste Bedingung ist. Vom Wasser Weiter unten als ich, viel weiter unten als ich befindet sich das Wasser. Stets betrachte ich es mit gesenkten Augen. Wie den Boden, wie den Teil des Bodens, wie eine Verwandlung des Bodens. Es ist weiß und glänzend, formlos und frisch, passiv und auf sein einziges Laster versessen; die Schwerkraft. Über außergewöhnliche Mittel verfügt es, um diesem Laster zu frönen: Umfließen, Durchdringen, Aushöhlen, Durchsickern.

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Weder besitze ich eine Theorie des Prosagedichts, noch suche ich nach ihr. Ebenso wenig ziele ich auf eine »Idee« der Prosa oder des Prosagedichts. Siehe hierzu Agamben, Giorgio: Idee der Prosa, aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle, München/Wien 1987; Simon, Ralf: Die Idee der Prosa. Zur Ästhetikgeschichte von Baumgarten bis Hegel mit einem Schwerpunkt bei Jean Paul, Paderborn 2013. Johnson, Barbara : Défigurations du langage poétique. La Seconde révolution baudelairienne, Paris 1979.

Das Prosagedicht

Auch in ihm selbst wirkt dies Laster: unablässig sackt es zusammen, entwindet sich augenblicks jedweder Formen, strebt nur nach Erniedrigung. Legt sich flach auf den Boden, fast ein Kadaver, wie die Mönche bestimmter Orden. Stets weiter unten; dies scheint sein Wahlspruch zu sein: das Gegenteil von excelsior.8 Das Ich bemerkt die Formlosigkeit des Wassers, die so rätselhaft ist, dass sie ihm wie eine eigensinnige Aktivität erscheint. Das Ich scheint in seiner Position von der Schwerkraft unbeeinträchtigt, als ob sie zwar auf das Wasser, nicht aber auf es einwirke. Das Wasser selbst erscheint ihm wie ein passiver Akteur, der der Schwerkraft unterliegt wie ein Sklave dem fremden Willen. Es besitzt keine Form, sondern nimmt einen bevorzugten Aggregatszustand an. Ponge schreibt: FLÜSSIG heißt definitionsgemäß, was lieber der Schwerkraft gehorcht als seine Form behauptet, was jedwede Form abweist, um seiner Schwerkraft nachzukommen. Und was alle Haltung verliert wegen dieser Zwangsvorstellung, diesem krankhaften Skrupel. Wegen dieses Lasters, das es reißend macht, überstürzt oder still; gestaltlos und wild, durchbohrend wild zum Beispiel; verschlagen, durchsickernd, außen herum fließend; und das so sehr, daß man aus ihm machen kann, was man will, und das Wasser in Röhren leiten kann, um es sodann senkrecht in die Höhe springen zu lassen dergestalt, daß man sich daran ergötze, wie es als Regen wieder herabfällt: wirklich ein Sklave.9 Ponge exponiert am Wasser ein Formproblem, das drei Aspekte oder Komponenten umfasst: Erstens hängt die Formbildung von einem Bedingungsgefüge ab, das den Beobachter einschließt. Das Ich stößt auf die allgemeinste Bedingung der Formbildung, die zwar leichthin anzugeben, aber deren Beobachtung selbst schwierig ist, insofern sie den Beobachter selbst betrifft: »Weiter unten als ich, viel weiter unten als ich befindet sich das Wasser.«10 Wenn die Schwerkraft auf das Wasser wirkt, bestimmt sie nicht nur den Ort, an dem es sich befindet, sondern bedingt auch die Lagebeziehung zwischen Subjekt und Objekt. Zweitens tritt die Formbildung als eine eigentümliche Mischung von Aktivität und Passivität auf. Das Prosagedicht präsentiert nicht 8 9 10

Ponge, Francis: Im Namen der Dinge. Le parti pris des choses, übersetzt von Gerd Henninger, Berlin 2017, S. 41. Ebd., S. 41 u. 43. Ebd., S. 41.

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die gewordenen Formen des Wassers (z.B. als Pfütze, Strudel, See, Teich oder Fleck), sondern die Prozesse, die dem Wasser seine Form verleihen. Die Verben und substantivierten Verben, die Ponge verwendet, definieren die semantische Rolle des Wassers als Mittelstellung zwischen Agens und Patiens. Das Wasser, das umfließt, durchdringt, aushöhlt, durchsickert, ist Agens und übt formbildende Kräfte aus. Das Wasser ist aber auch ein Patiens, auf das Kräfte wirken und dem eine spezifische Form verliehen wird. Der Sprecher fasst diese Mittelstellung des Wassers zwischen Agens und Patiens in Metaphern des unbewussten Triebs (das Wasser strebt nach Erniedrigung, hat ein Laster) und des fremdbestimmten Willens (es ist ein »Sklave«). Ausgedrückt wird die Mittelstellung aber auch in einer Syntax, in der die Stellplätze von Subjekt und Objekt überkreuzt sind: »Weiter unten als ich, viel weiter unten als ich befindet sich das Wasser.« Das grammatische Subjekt des Satzes – das Wasser – ist das Objekt der Beobachtung, aber das Objekt des Satzes – das Ich – das Subjekt der Beobachtung. Drittens ist das Ich, das die Rolle des Beobachters einnimmt, mit seinem eingeschränkten Blickfeld konfrontiert. Es weiß, dass es etwas nicht sieht: »Stets betrachte ich es [das Wasser; A.S.] mit gesenkten Augen.«11 Der blinde Fleck der Beobachtung persistiert im Unsichtbaren und findet seinen sprachlichen Ausdruck, und zwar als eine Art Animismus des Objekts, dessen Passivität in eine rätselhafte Aktivität umschlägt. Der Beobachter setzt rhetorische Figuren ein, die sein Beobachtungsschema der Formbildung anleiten und letztlich eine heuristische Zweiteilung installieren: Einerseits beobachtet das Ich die Formbildungen unter zwei unhintergehbaren Bedingungen, denen es selbst unterliegt: der Schwerkraft und der Sprache. Andererseits vollzieht das Ich seine Beobachtung mittels sprachlicher Formen, die auf das Objekt ein Ensemble von Anthropomorphismen projizieren. Der Text bildet seine eigene Form aus, indem er Gesetzmäßigkeiten, die an den Formen des Wassers zu beobachten sind, in seine Darstellung als Anthropomorphismen und rhetorische Figuren einarbeitet. Anthropomorphisierung und Figuration des Wassers wirken auf den Sprecher zurück, der nicht so sehr durch die Subjektivität seines individuellen, persönlichen Ausdrucks als vielmehr durch eine Grenze der Erkenntnis definiert ist. Der Text nimmt eine strukturelle Kopplung von Formbeobachtung und sprachlichen Operationen vor, und zwar unter der Bedingung eines kleinen

11

Ebd., S. 41.

Das Prosagedicht

Umfangs. Es geht offensichtlich nicht um die Anzahl von Wörtern und Seiten, sondern um eine gewisse Begrenzung der Form, die von jedem Moment ihres Prozessierens aus mitbeobachtet werden kann. Erstens wird das Formproblem in einer den distinktiven Merkmalen der Gattungen Lyrik und Prosa vorgelagerten Unterscheidung zwischen Formlosigkeit und Formbildung aufgesucht, die ihrerseits an Bedingungen geknüpft wird, die auf der Ebene sowohl des Referenten als auch der Darstellungsmittel liegen. Der Text knüpft seine Formbildung, zweitens, an ein Subjekt, das als grammatisches Subjekt, als epistemologische Funktion (welche Bedingungen sind mit der Schwerkraft überhaupt gegeben?) und als semantische Rolle (Agens und Patiens) auftritt. Diese Instanz ist kein lyrisches Ich, sondern bezeichnet einen Stellplatz, an dem eine larvenhafte Differenzierung zwischen Aussagesubjekt und ausgesagtem Subjekt aufscheint. Das Ich ist in erster Linie eine linguistische Funktion, die noch keine Person bezeichnet, aber die Merkmale und Kennzeichen einer Person aufnehmen kann. Drittens schließlich vollzieht der Text seine Formbildung im Medium der Sprache, indem er die Beobachtungen einer ersten Ordnung (die Formen des Wassers) in eine zweite Ordnung (in die Prosa) einarbeitet.

2. Im Folgenden sollen am Prosagedicht drei Aspekte – die Verhandlung des eigenen Formproblems, die Subjektivität der Äußerung und die strukturelle Kopplung einer Beobachtung von Formaspekten mit dem Vollzug der Formbildung – weiterverfolgt und Beispiele diskutiert werden, die von Ilse Aichinger (1921-2016) stammen. Aichinger hat an dem Motiv des Wassers die Frage verhandelt, welche Formen das Schreiben ausbilden kann.12 Sie kündigt in ihrem Prosastück »Das Erzählen in dieser Zeit« (1952) eine »Vorstellung des Behagens«13 auf, die vielfach mit dem Erzählen verbunden und in wechselnden Bildern, Vergleichen und Metaphern ausgedrückt wurde. Die Leute nehmen 12

13

Vgl. Pelz, Annegret: »Hochsee und Sediment. Wasserzeichen im Werk Ilse Aichingers«, in: Klaus Kastberger (Hg.): Wassersprachen. Flüssigtexte aus Österreich. Eine Ausstellung des StifterHauses Linz in Kooperation mit dem Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien/Linz 2006, S. 58-69. Aichinger, Ilse: »Das Erzählen in dieser Zeit« [1952], in: dies.: Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948-1952). Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. von Richard Reichensperger, 6. Auflage, Frankfurt a.M. 2005, S. 9-11, hier S. 9.

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die Konnotationen, die im Vergleich des Erzählens mit einem Fluss stecken, als eine Bestätigung ihrer Erwartungen, was das Erzählen sei. »Oder sie sprechen vom Fluß der Erzählung und meinen damit den Fluß, der trägt, der links und rechts freundliche Ufer hat, an die sie so oft sie wollen, zurückkehren können, um ihn dann ruhig an sich vorbeigleiten zu lassen.«14 Zwar sei der Vergleich des Erzählens mit einem Fluss »noch immer richtig«15 , aber suggeriere dennoch eine Beschaulichkeit, die missverständlich sei. Die Formsemantik, die im Vergleich des Erzählens mit dem Fluss steckt, verfehle jedenfalls, wie die Formen im Schreiben tatsächlich entstehen: »Alle Flüsse drängen zum Meer, auch wenn die es vielleicht nicht immer sagen, die daran lagen. Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden, sondern immer im Angesicht des Endes.«16 So wenig das Erzählen in den fünfziger Jahren zur Behaglichkeit zurückfinden kann, so fraglich sind überlieferte Erzählstrategien und die Formbegriffe, die am Erzählen hängen, geworden. Auch wenn Aichinger das Formproblem zunächst auf dem Gebiet des Erzählens aufwirft, treibt die Metaphorik des Fließens, in der es landläufig artikuliert wird, es über die Frage nach dem Erzählen hinaus: Sie evoziert die Definition der Prosa als eine Textsorte, die zwar ihre Form nicht mittels des Erzählens ausbildet, aber dennoch eine Progression vollzieht, die hauptsächlich nach einer Richtung hin – geradeaus, vorwärts – läuft. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Vers – als vermeintlich notwendiges Merkmal des Gedichts – in ständigem Wandel begriffen und nicht mehr fraglos an ein Metrum gebunden, wie nicht zuletzt die Heraufkunft des Terminus »Zeile« belegt. »Vers« bezeichnet einen Sachverhalt, der nur mehr historisch in seiner Abgrenzung von der Prosa zu erschließen ist.17 Insofern führt jeder Definitionsversuch zunächst auf die asymmetrische Unterscheidung von Vers und Prosa. Deren Unterschied liege, wie Friedrich Georg Jünger erläutert, »vor allem darin, daß die Prosa nur mit dem Satz beschäftigt ist. Daher schon der Name Prosa, der vom lateinischen prorsa kommt. Prosa ist die Rede, die geradeaus geht. Sie geht deshalb geradeaus, weil sie auf den Vers keine Rücksicht nimmt. Sie ist ungebundene Rede, weil sie sich nicht an den Vers bindet. Sie ist ungebunden, nicht ungeordnet, denn sie folgt der Ordnung

14 15 16 17

Ebd., 9. Ebd. Ebd., S. 10. Vgl. Homan, Renate: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoesie als Paradigma der Moderne, Frankfurt a.M. 1999, S. 398-407.

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des Satzes.«18 Giorgio Agamben gelangt zu einer vergleichbaren Definition. Er unterstreicht, »dass es keine befriedigende Definition des Verses gibt, außer der, die ihn durch die Möglichkeit des Enjambements, das der Prosa ermangelt, bestimmt.«19 Der Prosasatz hingegen ist durch ein fehlendes oder Null-Enjambement gekennzeichnet. Allerdings laufen Bestimmungen, die diese Kriterien auf stumpfsinnige Weise auf die Empirie applizieren, ins Leere. Vielmehr sind Gattungen oder Textsorten wie Diskurse, die mittels ihrer Regeln festlegen, was gesagt und was eben nicht gesagt werden kann. For what is enjambement, if not the opposition of a metrical limit to a syntactical limit, of a prosodic pause to a semantic pause? ›Poetry‹ will then be the name given to the discourse in which this opposition is, at least virtually, possible; ›prose‹ will be the name for the discourse in which this opposition cannot take place.20 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert »Vers« als eine segmentierte Redeeinheit, deren Ende durch eine Pause markiert wird.21 In diese Definition sind historische und systematische Aspekte eingegangen, die unter anderen das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die Geschichte von Buchdruck und Typographie sowie die Versgeschichte selbst betreffen. Während in der Prosa die Zeile nicht mit einer Pause endet, sondern Grammatik und Semantik vorgeben, wann pausiert wird, nimmt der Vers eine Segmentierung der Rede vor, die zu ihrer syntaktischen Gliederung hinzutritt. Schrift ist jedoch keine getreue Wiedergabe mündlicher Rede, und nicht alle Merkmale mündlicher Rede werden in der Schrift codiert. Jedenfalls reicht der linksbündige Flattersatz nicht hin, um Verse von Prosazeilen zu unterscheiden. Der freie Vers hat die Frage zugespitzt, was Verse und Prosasätze unterscheidet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts konnten Psychologie und Leseforschung zeigen, dass in segmentierten Spracheinheiten stets ein Rhythmus zu beobachten ist. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Die Unterscheidung zwischen der antiken, auf Silbenlängen beruhenden quantitativen Metrik und 18 19 20 21

Jünger, Friedrich Georg: Rhythmus und Sprache im Gedicht [1952], Stuttgart 3 1987, S. 11. Agamben: Idee der Prosa (Anm. 6), S. 18. Agamben, Giorgio: The End of the Poem. Studies in Poetics, übers. von Daniel HellerRoazen, Stanford 1999, S. 109. Vgl. Lamping, Dieter: »Freier Vers«, in: Klaus Weimar u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1: A -G, Berlin/New York 1997, S. 631f.; siehe auch ders.: »Gedicht«, in: Reallexikon, Bd. 1, S. 669-671.

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moderner Metrik, die auf Hebungen und Senkungen bzw. Akzentverteilungen beruht, ist ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie die Unterscheidung der Parameter Lautstärke, Länge, Klangfarbe und Rhythmus.22 Formale Merkmale des Textes entscheiden über die Vortragsweise. For unsuspecting and naïve thought, the arrangement of words into verses and stanzas serves as an important prop for differentiating the rhythms of prose and poetry. The removal of this support tends in the majority of the cases to convert the rhythm of poetry into the rhythm of prose, and vice versa.23 Zum einen folgen die Versuchspersonen beim Sprechen den typographischen Konventionen, die wiederum ihre Vortragsweise prägen: Sie sprechen die gleichen Texte verschieden, wenn sie als Fließtext im Blocksatz gesetzt sind oder zu Versen umgebrochen werden. Zum andern wird, falls Verszeilen vorliegen, im Sprechen ein gesteigertes Maß an Rhythmisierung verwirklicht.24 Die Experimente demonstrieren, dass das Sprechen von Versen keine bloße Decodierung von Schrift ist, wie auch umgekehrt gilt, dass der Vortrag eines Gedichts durch eine Reihe von Faktoren geprägt wird, die nicht in der Schrift codiert sind.25 Zweifellos verfügt auch der Prosasatz über eine rhythmische Organisation, die nicht aus ihrem Bezug auf ein Schema, wie es Verse oder Zeilen ausbilden können, zu erklären ist. Die Experimente zeigen einerseits,

22

23 24

25

Vgl. Wallin, J.E. Wallace: »Researches on the rhythm of speech«, in: Studies from the Yale Pychological Laboratory 9 (1901), S. 1-142. Siehe auch Stevens, Kenneth N.: Acoustic Phonetics, Cambridge, MA/London 1998, S. 243-255, 557-581. Wallin: »Researches on the rhythm of speech« (Anm. 22), S. 64. Vgl. Huey, Edmund Burke: The Psychology and Pedagogy of Reading. With a Review of the History of Reading and Writing and of Methods, Texts, and Hygiene in Reading [1908], Reprint Cambridge/London 1972, S. 136f. Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen Versinstanz und Vortragsinstanz. »Die Absicht«, so erklärt Roman Jakobson, »›eine Verszeile zu beschreiben, wie sie tatsächlich gesprochen worden ist‹, hat für die synchrone und historische Analyse der Dichtung eine geringere Bedeutung als für das Studium des Vortrags in Gegenwart und Vergangenheit.« (Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 83-121, hier S. 104. Jakobson zitiert W.K. Wimsatt Jr./Monroe C. Beardsley: »The Concept of Meter: an Exercise in Abstraction«, in: Publications of the Modern Language Association of America 74 (1959), S. 585-598, hier S. 587.) Auch wenn sich die Literaturwissenschaft auf die Versinstanz zurückziehen kann, ist weiterhin noch die Frage zu klären, wie Versinstanz und Vortragsinstanz zusammenhängen.

Das Prosagedicht

wie tief solche Schemata in den allgemeinen Lesegewohnheiten verankert sind. Andererseits veranschaulichen sie ein Konzept des Rhythmus, das in wiederkehrenden Elementen und Mustern sein wesentliches Merkmal besitzt. Émile Benveniste ist in seinen linguistischen Forschungen auf einen Begriff von Rhythmus gestoßen, der sein eigenes Werden bezeichnet. In seiner Untersuchung zur Entstehung des Begriffs des Rhythmus legt er eine verschüttete Bedeutung des griechischen Substantivs frei. Die klassische Auffassung, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, besagt, dass der Begriff als das Abstraktum zu dem Verb »rhein«, d.h. »fließen«, gebildet wurde. Während die morphologische Ableitung des Abstraktums aus dem Verb sich zweifelsfrei rekonstruieren lässt, ist der semantische Zusammenhang nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Das Abstraktum, so geht die These, ist zur Bezeichnung der regelmäßigen Bewegung der Meereswellen gebildet worden. Wenn aber das Verb und die abgeleiteten Substantive sämtlich Phänomene bezeichnen, die fließen oder strömen, bleibt unverständlich, weshalb das Abstraktum rhythmos ein so andersgeartetes Phänomen bezeichnet: Das Meer »fließt« nicht, wie auch umgekehrt das Fließen und Strömen des Flusses, Baches oder Wasserlaufs keine periodische Hin-und-Her-Bewegung hervorbringt. Unter Rückgriff auf bei Aristoteles überlieferte Stellen der ionischen Naturphilosophie rekonstruiert Benveniste, dass Rhythmus als Synonym zu Schema gebraucht wurde und die Bedeutung von Form besitzt. »Wenn die griechischen Autoren ρυθμός mit σχη̃μα wiedergeben, wenn wir selbst es mit ›Form‹ übersetzen, dann ist es in beiden Fällen nur eine Annäherung. Zwischen σχη̃μα und ρυθμός gibt es einen Unterschied: σχη̃μα […] wird als eine ›Form‹ definiert, die fest und verwirklicht ist und in gewisser Weise als ein Gegenstand hingestellt wird. Dagegen bezeichnet ρυθμός gemäß den Kontexten, in denen das Wort auftritt, die Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt: es paßt zu dem pattern eines flüssigen Elements, zu einem willkürlich gebildeten Buchstaben, zu einem Peplos, den man nach seinem Belieben zurechtlegt, zur besonderen Veranlagung des Charakters oder der Laune. Es ist die improvisierte, momentane und veränderliche Form.«26

26

Benveniste, Émile: »Der Begriff des ›Rhythmus‹ und sein sprachlicher Ausdruck«, in: ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363-374, hier S. 370f.

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Während das griechische »Schema« die feste und verwirklichte Form bezeichnet, die in gewisser Weise als ein Gegenstand hingestellt wird, erfasst rhythmos ein zeitkritisches Moment an der Form bzw. die Formbildung selbst. Hingegen bezeichnet rhythmos »nach den Kontexten, in denen das Wort auftritt, die Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt«.27 Den Wandel von der älteren Bedeutung von rhythmos als einer im Entstehen begriffenen Form zu der neuen Bedeutung als Schema macht Benveniste an Platons Dialogen fest. Sokrates verwendet Rhythmus bereits in der Bedeutung von messbaren Bewegungen, die der Zahl unterworfen sind, und, in den Gesetzen, als Ordnung in einer Bewegung, die vom Menschen hervorgebracht wird: »Diese Ordnung in der Bewegung hat gerade den Namen Rhythmus erhalten, während man Harmonie die Disposition der Stimme nennt, in der der hohe und der tiefe Ton miteinander verschmelzen, und die Vereinigung der beiden nennt man Choralkunst.«28 Die neue Bedeutung des Rhythmus erfasst an der körperlichen Bewegung dasjenige, was sich mit einem Metrum verbindet und dem Gesetz der Zahlen unterworfen ist: »diese ›Form‹ wird von nun an durch ein ›Maß‹ bestimmt und einer Ordnung unterworfen. Dies ist die neue Bedeutung von rhythmos: die ›Disposition‹ (im eigentliche Sinne des Wortes) wird bei Platon von einer geordneten Abfolge von langsamen und schnellen Bewegungen gebildet, ebenso wie die ›Harmonie‹ das Ergebnis eines Wechsel von hohen und tiefen Tönen ist.«29 Vor dem Hintergrund der empirischen Forschungen und der wortgeschichtlichen Untersuchungen soll eine provisorische Arbeitsdefinition vorgeschlagen werden: Der Rhythmus der Prosa leistet eine Formbildung, die dem festen, wiederkehren Schema der metrisch gebundenen Sprache des Verses fernsteht.

3. Aichingers Prosagedicht »Schnee« (1975) aus dem Band Kleist, Moos, Fasane (1987) beginnt wie folgt: Schnee Schnee ist ein Wort und Heu ist auch eins. Schnee ist ein Wort. Es gibt nicht 27 28 29

Ebd., S. 371. Ebd., S. 372. Benveniste zitiert Platon: Nomoi, 665a. Ebd., S. 373.

Das Prosagedicht

viele Wörter. Es gibt nicht viele, die nicht bezeichnen, womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen. Die nicht eins sind mit dem, was sie nicht bezeichnen, weil sie damit eins sind. Aber Schnee ist ein Wort. Ob er ausbleibt, zögernd zu fallen beginnt oder in Wirbeln herumjagt, er kann sich nicht wehren. Er ist ein Wort. In den Fäusten der Kinder, auf den Dächern, auf den Kämmen der Gebirgsflüsse, mit denen er rasch eins wird, wo er ist, ist er ein Wort. Schnee! Rufen die Kinder und manchmal rufen sie auch: Der Schnee! Aber das ist ungenau. Das führt zu mein Schnee, dein Schnee, unser Schnee, zu diesen vielen besitzanzeigenden Ungenauigkeiten, die einem die Lust nehmen, den Mund aufzumachen. Es führt auch zu kein Schnee. Dann kommt wieder der lange Sommer. Ein Glück, daß wir Heu haben, denn Heu ist auch ein Wort. Und viele Wörter gibt es nicht. Aber bleiben wir beim Schnee.30 Der Leser muss die Information, dass »Schnee« ein Wort sei, das etwas bezeichne, von der Mitteilung, dass die Fähigkeit des Worts zur Bezeichnung keineswegs selbstverständlich sei, unterscheiden und verstehen, welches Formproblem mit dieser Unterscheidung eröffnet wird. Das Ich macht an der Form des Objekts die Entdeckung, dass sich das Zeichen vom Referenten unterscheidet.31 So wenig das Singularetantum Schnee eine Pluralbildung er30 31

Aichinger, Ilse: »Schnee« [1975], in: dies.: Kleist, Moos, Fasane [1987], Frankfurt a.M. 3 2007, S. 113. Meine Formulierung paraphrasiert Philippe Lejeune, der in seiner Analyse der Spielregel von Michel Leiris gezeigt hat, wie der Autor seine »Wiederaneignung der Sprache« (S. 302) inszeniert. Siehe Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, übersetzt von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1994, S. 302f. Es geht um folgende Szene aus Streichungen, dem ersten Band der Spielregel: Der Autor erinnert sich, wie eins seiner Spielzeuge von einem Tisch gefallen war. »Rasch bückte ich mich, hob den reglosen Soldaten auf, betastete und betrachtete ihn. Er war heil geblieben. Und lebhaft war meine Freude. Und diese äußerte sich in dem Ausruf: ›… Reusement! ‹« Das Kind wird belehrt: »Man sagt nicht ›… reusement!‹, sondern ›heureusement!‹. Dieses Wort, von mir bisher ohne das leiseste Bewusstsein wie ein reiner Ausruf verwendet, verbindet sich mit ›heureux‹ und fügt sich plötzlich kraft der Magie einer solchen Annäherung in eine ganze Sequenz präziser Bedeutungen. Dieses Wort, das ich bis dahin stets verstümmelt hatte, mit einem Schlag in seiner Unversehrtheit zu erfassen, wird zu einer Entdeckung und ist wie das brüske Zerreißen eines Schleiers oder das Zersplittern einer Wahrheit. Damit ist also diese vage Vokabel – die bisher völlig zu meiner Person gehörte und versiegelt blieb – durch einen Zufall in die Rolle eines Kettenglieds für einen ganzen semantischen Zyklus erhoben. Nicht länger ist sie mein Eigentum: sie nimmt teil an jener Wirklichkeit, welche die Sprache meiner Brüder, meiner Schwester und meiner Eltern ist. Etwas mir Angehörendes wird etwas Öffentliches und Ge-

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laubt, so wenig erfasst es die spezifischen Formen, die das Objekt annimmt. »Schnee« ist ein Wort, dem eine Vielzahl von Formbildungen gegenübersteht. Das Wort erfasst eben nicht die Formoptionen, die in dem von ihm bezeichnete Material vorhanden sind. Der Einheit des Signifikanten steht eine enorme Differenzierung in den Formen des Bezeichneten gegenüber. Die Sprecherin evoziert mit der Unterscheidung zwischen Signifikat, Signifikant und Referenten die kindliche oder poetische Vorstellung, dass es einen primären Kratylismus gebe, der in der prosaischen Welt zugunsten besitzanzeigender Ungenauigkeiten überwunden ist. Die Possessivpronomina differenzieren am Objekt weder Formen, noch bezeichnen sie Formunterschiede am Stoff, sondern identifizieren den Schnee als Besitz. Aichinger beginnt das Prosastück »Dover« mit der geringfügigen Veränderung eines Signifikanten: »Wult wäre besser als Welt.«32 Zweifellos tritt die Transposition als ein Vorschlag auf, der im Konjunktiv II um seine eigene Vergeblichkeit weiß. Der Vorschlag sattelt auf einem primären Kratylismus auf, der gegen die Arbitrarität des Zeichens auf einer spezifischen Motivation des Signifikanten beharrt: Es gibt ausgewählte Wörter, die über einen inneren und analogen Bezug zu ihrem Referenten verfügen. Der Satz drückt trotzdem keinen naiven Kratylismus aus, sondern artikuliert mit seinem Konjunktiv II einen unerfüllten Wunsch, als ob man den Wörtern eine irgendwie bessere Gestalt verleihen könnte. Auch wenn der Skopus der Transposition nur auf das eine konkrete Wort »Welt« gerichtet ist, scheint der Effekt keineswegs auf es begrenzt, sondern auf eigentümliche Weise auf den Referenten überzugreifen. Die Änderung des Signifikanten »Welt« ist von der Totalität, die er bezeichnet, nicht abzulösen. Die Transposition operiert an einer Nahtstelle zwischen dem Wort und seinem Referenten, der seinerseits nicht als Sache,

32

öffnetes. Und in einem einzigen Aufblitzen wird diese Vokabel geteilt oder – wenn man so will – sozialisiert.« [Leiris, Michel: Die Spielregel. Band 1: Streichungen, übersetzt von Hans Therre, mit einem Essay von Maurice Blanchot, München 1982, S. 10f.] Lejeune kommentiert wie folgt: »Das Kind, das ›… Reusement!‹ [›…Lück!‹] ausruft, macht die verblüffende Entdeckung, daß sich der Signifikant vom Signifikat unterscheidet (Verlust des ›primären Kratylismus‹) und daß es fremd in der Sprache ist. Gleichzeitig erschließt sich ihm aber der ›sekundäre‹ Kratylismus und damit das, was Mallarmé zufolge ›den Mangel der Sprache vergütet‹ und die Möglichkeit bietet, sich innerhalb der Gemeinsprache eine eigene Sprache zu bilden und ihr bei den anderen Anerkennung zu verschaffen.« (S. 302f.) Aichinger, Ilse: »Dover«, in: dies.: Schlechte Wörter, Frankfurt a.M. 1997, S. 41-44, hier S. 41.

Das Prosagedicht

Objekt, Ding zu fassen, sondern als ein Inbegriff oder eine Idee der Wirklichkeit zu verstehen wäre. Man kann nicht angeben oder eingrenzen, wie weit der Effekt der Änderung am Signifikanten reicht. Man kann aber vermuten, dass der Effekt jede empirische Bestimmung übersteigt und seinerseits nur mehr als eine Idee zu fassen ist. Rückhalt findet diese Lesart in einer Wiederholung, Variation und Fortsetzung des Eingangssatzes, der das Prinzip der Aussage, die Logik der Veränderung und des Effekts überbietet. Wenn das Prinzip der ersten Aussage darin besteht, eine Differenz zwischen Signifikat und Signifikant an einem konkreten Wort zu eröffnen, das seinerseits etwas bezeichnet, das nur mehr als eine Idee (»Welt«) gefasst werden kann, zieht die zweite Aussage die Differenz auf das Gebiet allgemeinster Bedingungen: die Erde. Den Kunstgriff, den Aichinger anwendet, erläutert Robert Musil im 62. Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften. Die Überschrift des Kapitels lautet: »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus«.33 Musil sieht im Essayismus die Chance angelegt, dass das selbstverständliche und größte Bedingungssystem – die Erde – hinterfragt werden kann. Und dennoch ist Ulrich dem Bedingungsgefüge »Erde« in freiwilliger Weise (»huldigt«) unterworfen. Wenn Aichinger an den Wörtern eine Transposition des Signifikanten ausführt, verknüpft sie zwei Kreisläufe: den kleinsten Kreislauf, der zwischen den Signifikanten »Wult« und »Welt« oszilliert, und den größten Kreislauf (Welt, Erde), in dem die Effekte der geringfügigen Änderungen statthaben. Aichingers Kunstgriff besteht darin, dass ihre Prosagedichte das, was sie mitteilen, auch tun: Sie bilden an ihren Themen keine spezifischen Formen, sondern die allgemeine Form der Prosa aus. Sie markieren diese Formbildung als eine Entscheidung, die eben nicht als Unvermögen oder Üblichkeit der Formverwendung zu verstehen ist, sondern als eine spezifische Formsetzung im vermeintlich Ungeformten der Prosa. Das Prosagedicht »Schlechte Wörter« (1976) beginnt wie folgt: Schlechte Wörter Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Das reicht. Ich hatte übrigens gerade noch einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht 33

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und zweites Buch, hg. von Adolf Frisé, neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 247257, hier S. 247.

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nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen die Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. Ich bin nicht sehr neugierig, was mir beim nächsten Regen einfallen wird, beim nächstsanfteren, nächstheftigeren, aber ich vermute, daß mir eine Wendung für alle Regensorten reichen wird. Ich werde mich nicht darum kümmern, ob man stürzen sagen kann, wenn er nur schwach die Schreiben berührt, oder es dann nicht zuviel gesagt ist. Oder zuwenig, wenn er im Begriff ist, die Scheiben einzudrücken. Ich lasse es jetzt dabei, ich bleibe bei stürzen, um den Rest sollen sich andere kümmern.34 Wer Regen sagt, sagt nicht Nebel oder Sturzbach, und wer am Formbegriff die Bewegung unterscheidet und stürzen sagt, sagt nicht prasseln, tröpfeln, schlagen oder rinnen. Zwar scheint mit der Formulierung »Der Regen, der gegen die Fenster stürzt« der Sachverhalt hinreichend bezeichnet. Die Sprecherin möchte nicht aus »der Phalanx der Benenner herausgehoben werden« und ihren »Zuschauerposten verlieren«. Der Leser muss die Information, dass Aichinger die besseren Wörter nicht mehr verwendet, von der spezifischen Form der Mitteilung unterscheiden und als Gleichgültigkeit des Ich gegenüber einer Spezifikation von Formbegriffen verstehen. Sie ist offensichtlich mit der Position der Beobachterin zufrieden. Jedenfalls sind weitere Differenzierungen der Formbegriffe am Objekt Regen möglich. Diese möglichen Formbegriffe erfahren ihre besondere Wertschätzung als »bessere Wörter« und haben an der Formbildung des Prosastücks auf eigentümliche Weise teil: Sie sind in die Formbildung als das Objekt einer Beobachtung eingeschlossen, aber leiten die Formbildung des Prosatexts nur insofern an, als sie ein Schema bereitstellen, das ungenutzt bleibt und auch explizit zurückgewiesen wird. Der Text vollzieht seine Formbildung als Prosa auf der Innenseite der ausgeschlossenen Formen (»besserer Wörter«). Wer sagt, dass er bestimmte Wörter nicht mehr verwendet, versucht nicht nur Anführung und Gebrauch zu unterscheiden, sondern verleiht seinem Gebrauch einen historischen Index. In Aichingers sprachskeptische Position, wie sie in der Forschung ja vielfach diskutiert worden ist, ist eine eigentümliche Zeitlichkeit eingelassen, die ihrerseits die Diskussion der Formbegriffe erfasst. Das konkrete Beispiel »Der Regen, der gegen die Fenster stürzt«

34

Aichinger, Ilse: »Schlechte Wörter« [1976], in: dies.: Schlechte Wörter [1976], Frankfurt a.M. 1997, S. 11-14, hier S. 11.

Das Prosagedicht

führt an eine Systemstelle, an der Gattungsbegriffe und Literaturgeschichte einander überlagern. Die Literaturgeschichte hat einige Gedichte überliefert, die am Motiv des Regens die Begriffe der lyrischen Form und der Gattung infrage stellten. In Apollinaires (1880-1918) Gedicht »Il pleut des voix des femmes« (1916) sind die typographische Konventionen der Lyrik zugunsten einer mimetischen Darstellungsweise ausgesetzt worden.

Abb. 1: Guillaume Apollinaire: »Il Pleut«, in: SIC, Nr. 12, Dezember 1916, o.p.

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In Ponges Prosagedicht »De la pluie« werden am Regen spezifische Formen differenziert, die als »Vorhang (oder Netz)« [»rideau (ou résau)]«35 , »Tropfen« (»des gouttes«) oder Wasserfaden (»un filet«) erscheinen: Die phonologischen Ähnlichkeiten und Differenzen der Wörter sollen unmittelbar die Ähnlichkeit und Differenz der Formen bezeichnen. Joris Ivens hat in seinem Stummfilm Regen (NL, 1929) das Formproblem, das der Regen stellt, als eine Art Hieroglyphenschrift ins Bild gesetzt, die ihrer Entzifferung und Übersetzung harrt.36 Hanns Eislers Komposition Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben, op. 70 (1941), die als Musik zu Ivens Film aufgeführt oder gehört werden kann, evoziert und unterscheidet an dieser Hieroglyphenschrift gar vierzehn primäre Semantiken.37 In Günter Eichs (1907-1972) Gedicht »Botschaften des Regens« (1955) wird im Klang des Regens ein Zweitcode entziffert. Der Sprecher vermeint, in der akustisch unterbestimmten Form des Regens sogar konkrete Botschaften zu erkennen, die eine Antwort erheischen, die seinerseits das Gedicht in Aussicht stellt. Botschaften des Regens Nachrichten, die für mich bestimmt sind,  weitergetrommelt von Regen zu Regen,  von Schiefer- zu Ziegeldach,  eingeschleppt wie eine Krankheit,  Schmuggelgut, dem überbracht,  der es nicht haben will – Jenseits der Wand schallt das Fensterblech,  rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen,  und der Regen redet in der Sprache, von welcher ich glaubte,  niemand kenne sie außer mir –

35 36

37

Ponge: Im Namen der Dinge. / Le parti pris des choses (Anm. 8), S. 7 und 6. Vgl. auch Ivens, Joris: Die Kamera und ich. Autobiographie eines Filmers [1969/70], übersetzt von Teja Schwaner und Annelotte Piper, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 25-30 und 199. Vgl. Adorno, Theodor W./Eisler, Hanns: Komposition für den Film, mit einem Nachwort von Johannes C. Gall und DVD »Hanns Eislers Rockefeller-Filmmusik-Projekt 19401942«, im Auftrag der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft, hg. von Johannes C. Fall, Frankfurt a.M. 2006, S. 109-112 u. S. 141-146.

Das Prosagedicht

  Bestürzt vernehme ich die Botschaften der Verzweiflung, die Botschaften der Armut und die Botschaften des Vorwurfs. Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind, denn ich fühle mich ohne Schuld.   Ich spreche es laut aus, daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen und den nicht, der sie mir zuschickte, daß ich zu guter Stunde hinausgehen und ihm antworten will.38

Aichingers vermeintlich unmarkierte Form der Prosa gewinnt nicht zuletzt vor diesem Hintergrund eben keine beliebige, sondern eine spezifisch historische Form, insofern sie von einem Repertoire überlieferter Formbildungen der Lyrik am Motiv des Regens unterschieden ist. Man kann die Form, die der Text ausbildet, als ein Gedicht lesen, das, wie die genannten literaturgeschichtlichen Beispiele, die Formbildung des Gedichts von der gebundenen Sprache des Verses entkoppelt: Apollinaire löst in seinem Gedicht die Stimmen der Frauen von der Form des Verses ab, um die Formbildung in einer neuartigen Unterscheidung von gesehener Form und Schrift, die ihrerseits von dem Hintergrund der Seite unterschieden sind, zu begründen. Ponge knüpft die Unterscheidung der Formbegriffe an klangliche Ähnlichkeiten und Differenzen, die vor oder unterhalb der Ordnung des Verses liegen, aber dennoch an der Prosodie teilhaben. Eich schreibt Verse, die nur mehr typographisch von Prosazeilen unterschieden sind. Diese Form der Verse reizt ein »lyrical reading«39 an, das die klanglichen und rhythmischen Eigenschaften und Merkmale, die solchen Zeilen durch ihre Präsentation zwangsläufig verliehen werden, mit einer Botschaft, die in der Akustik des Regens decodiert 38 39

Eich, Günter: »Botschaften des Regens«, in: ders.: Botschaften des Regens [1955], Frankfurt a.M. 1963, S. 15. Zum Begriff des »lyrical reading« siehe Culler, Jonathan: Theory of the Lyric, Cambridge/London 2017; de Man, Paul: »Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik«, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 179-204, hier S. 194 u. 202; Jackson, Virginia: Dickinson’s Misery. A Theory of Lyric Reading, Princeton 2005.

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wird, kurzschließt. Die Literaturgeschichte stellt für die Bearbeitung des Themas Regen also mehrere Modelle bereit, die Aichinger allerdings nicht zum Einsatz bringt. Auch wenn das Motiv des Regens ein Formproblem in der Lyrik aufwirft, ist das Problem nicht mehr mittels einer Ausdifferenzierung der Formbegriffe oder der Semantisierung einer spezifischen Form zu lösen. Man muss es auf ein anderes Niveau stellen: »Ich lasse es jetzt dabei, ich bleibe bei stürzen, um den Rest sollen sich andere kümmern.«

4. Aichinger präsentiert in »Alt-Aussee, 1930«40 ein Prosastück, dessen Form scheinbar durch einen autobiographischen Pakt, den sie ihren Lesern anbietet, motiviert wird. Autobiographisches Schreiben betreibt zumeist eine narrative Rückwendung, und auch Aichingers Prosastück setzt damit ein, dass es eine Erinnerung präsentiert: »Die Sommer meiner frühen Kindheit verbrachten meine Schwester und ich häufig in Alt-Aussee, einem Ort, der für uns nicht zu leisten gewesen wäre.«41 Jedes Element im ersten Abschnitt trägt eine Bedeutung; keines kann weggelassen werden. Die Sätze lassen sich nicht in einen propositionalen Kern und dessen Amplifikation auseinanderlegen, sondern ihre spezifische Aussageform blockiert Variation und Paraphrase. »Um uns aber diese Feriensommer leisten zu können, übernahm unsere Mutter die ärztliche Betreuung eines Kinderheims.«42 Die präzisen Denotationen sind aus den jeweiligen Paradigmen dergestalt gewählt, dass ihre Substitutionen den Sinn verändern. »Feriensommer« meint weder »Ferien« noch »Sommer«, »leisten« nicht »bezahlen«, und »die ärztliche Betreuung übernehmen« heißt nicht »beschäftigt sein als Arzt«. So drückt das reflexive Verb »sich leisten« nicht zuletzt aus, dass das Subjekt der Aussage – nennen wir es provisorisch »die Aichingers« – sein Tun als eine Aktivität begreift, die ein Selbstverhältnis konstituiert. Der Akt des Bezahlens oder Tauschens wird also zugunsten eines Selbstverhältnisses, das im Verb ausgedrückt wird, abgeschattet. Die Lexikalisierung des Tauschverhältnisses mit dem reflexiven Verb, das ein Selbstverhältnis etabliert und eine larvenhafte Subjektivität

40 41 42

Aichinger, Ilse: »Alt-Aussee, 1930«, in: dies.: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, Frankfurt a.M. 2001, S. 25f., hier S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25.

Das Prosagedicht

hinstellt, eröffnet sodann eine Kaskade von Negationen, Selbstbehauptungen und Abgrenzungen, die dem kindlichen Ich nach und nach eine Kontur verleiht. »Wir lernten Kreisspiele und Steirerlieder, die keiner wollte. Ich wollte andere, weniger langweilige und jungenhaftere Spiele und auch keine Steirerlieder, am liebsten gar keine Lieder, ich sang nicht gern, und vor allem sang ich nicht gerne mit. So blieben wir auch im Sommer noch evidenter als im Winter Außenseiter.«43 Wenn also die Prosa eine Subjektivität hinstellt, die dem Leser einen autobiographischen Pakt anbietet und die Verfasserin sich erzählend auf eine historische Situation zurückwendet, scheint der Chiasmus von Prosa und Rückwendung weder mit der narratologischen Kategorie der Rückwendung noch dem Gattungsbegriff des autobiographischen Erzählens hinreichend erfasst. Die sprachliche Kunst der Negation besteht darin, dass das grammatische Subjekt sich vom Prädikat einer Aussage entkoppelt und zugleich mit ihm verknüpft. Insbesondere an der Formulierung »ich sang nicht gern, und vor allem sang ich nicht gerne mit« tritt deutlich hervor, dass die Negation eben nicht am ausgesagten Objekt ansetzt. Es ist für eine Entkoppelung und Verkopplung von Subjekt und Prädikat eben nicht ausschlaggebend, was Aichinger nicht gerne und mit wem sie nicht gerne gesungen hat. Zwar ist nicht jede Erinnerung eine Negation, aber die Negation senkt in die Erinnerung eine eigentümliche affektive Dimension ein: Aichinger drückt offensichtlich ihren Widerwillen gegen die Situation am Aussee aus. Die Subjektivität des kleinen Mädchens am Aussee ist durch die Kraft zur Negation bestimmt. Das Präteritum storniert nicht die negierende Funktion des sprachlichen Akts, der eine Rückwendung ist, so wie auch die Erinnerung kein bloßes Hervorholen eines Inhalts aus seinem Behältnis des Gedächtnisses ist. Die sprachliche Negation, so erläutert Paolo Virno deren Leistung, etabliert eine Naht zwischen der inneren Welt des Subjekts und der Sprache, die ihrerseits in der Sprache bezeichnet wird. Die Negation ist, wie Virno formuliert, »a border area where heterogeneous systems contaminate one another«.44 Die reflexive Tätigkeit der Negation entkoppelt insbesondere den Affekt von der Aussageinstanz, um ihn im Akt des Aussagens und mit seinem Ausgesagtsein zu modifizieren. Die Negation ist in logischer Hinsicht eine Rückwendung, und hinsichtlich dieser strukturellen Bestimmung ist sie mit 43 44

Ebd., S. 25. Virno, Paolo: An Essay on Negation. Towards a Linguistic Anthropology, übersetzt von Lorenzo Chiesa, Calcutta/London/New York 2018, S. 185.

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der Erinnerung verwandt. Die willentliche Erinnerung erfordert nämlich eine Rückwendung, die ihrerseits eine wesentliche Komponente der Negation ist. Der sprachliche Akt der Negation leistet also anderes und mehr als eine bloße Repräsentation des einstigen Affekts, den womöglich auch schon damals das Kind verbalisierte. Aichinger setzt vielmehr die Negation als ein Verfahren ein, das ein Ich konstituiert, das lyrische Züge annimmt, obwohl es nicht gerne sing und mitsingt. Aichinger hat die Etymologie des Worts Prosa beim Wort genommen. Sie appliziert in ihrem Prosastück Thomas Bernhard die landläufige Definition der Prosa als einer Rede, die geradeaus geht, auf die Person des vor Kurzem verstorbenen Autors Thomas Bernhard und seine Texte: »Im [sic!] Frieden vorangegangen ist Thomas Bernhard keinem von uns.«45 Das Verb »vorangehen« ist ein Euphemismus für »sterben« und korrespondiert mit einer Haltung, die zwar den »Wunsch, ihn [Bernhard; A.S.] zurückzuholen«46 , hegt, aber dadurch verfehlt, was Bernhards Prosa tut. Aichinger unterscheidet ein Lesen, das bei Bernhard »zwischen die Zeilen dringen« will, und ein Lesen, das »bei den Zeilen, den Worten, den Haupt- und Nebensätzen, den Satzzeichen, bei allem in seiner unnachgiebigen Reihenfolge« bleibt.47 Zwar kann man Bernhards Texte wie Gedichte und seine Sätze womöglich sogar als Verse lesen, die ihrerseits in der Rückwendung ihr Definiens besitzen. Man kann den Vers als die Möglichkeit des Enjambements, als das Zurückspringen in der Zeile, definieren: Der Vers legt dem Satz eine von ihm zu unterscheidende Ordnung auf. Andererseits kann man Bernhards Sätzen aber auch als eine konsequente Verwirklichung des Prinzips der Prosa lesen. Die Prosa vollzieht keine Rückwendung, sondern setzt, indem sie voranschreitet, einen Affekt gegen das Einverständnis frei: »Indem er geht und rasch geht, holt er den Zorn wieder herauf, gibt er den Schmerz zurück, der fehlte, bewahrt er uns davor, zu erstarren.«48 Wenn Bernhards literarische Figuren die Tätigkeit des Gehens ausüben, fallen semantischer und formaler Aspekt zusammen: Die Analogie von Gehen und Prosarhythmus verschmilzt ihrerseits nahezu mit der Definition von Prosa. Aichinger markiert in ihrer Prosa nicht nur die Formentscheidung, sondern unterscheidet die Form des Satzes, von dem, was er vollzieht.

45 46 47 48

Aichinger, Ilse: »Thomas Bernhard« [1990], in: dies.: Kleist, Moos, Fasane (Anm. 30), S. 109. Ebd. Ebd. Ebd.

Das Prosagedicht

Auch wenn die Form des Prosasatzes voranschreitet, kann er trotzdem eine sachliche und thematische Rückwendung vollziehen. Diese Rückwendung scheint der Rückwendung des Erzählens und der Rückwendung des Verses verwandt. Jedoch bringt sie in der Prosa eben auch nur eine larvenhafte Subjektivität hervor, die weder als Erzählstimme noch als lyrisches Ich auftritt. Aichinger hat das Formproblem, das im Prosagedicht steckt, in »Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter« zugespitzt: Wodurch wird die Einzigartigkeit einer Prosa bestimmt? Ausgehend von dem Verdacht, dass Adalbert Stifter ein »ins Pathologische vorstoßender Erzähler sei«49 , und der Ergebenheit seiner literarischen Figuren gegenüber dem, was ihnen widerfährt, bemerkt sie eine derart große Zumutung bei der Lektüre, dass die Frage unabweislich wird, warum »man« überhaupt weiterliest: »Wie begegnet man seinem [Stifters; A.S.] unbedingtem Einverständnis mit der Natur, die wir im Stich gelassen haben und die uns im Stich gelassen hat? Wir können uns kaum mehr als Beerensucher verkleiden. Und sicherlich kann uns keiner mehr in die Stifterschen Gestalten einreihen.«50 Ungeachtet ihrer Erinnerungen an das Beerensuchen auf dem Lande, von der sie an anderer Stelle erzählt hat, bieten Stifters Figuren, Themen und Motive keine Anhaltspunkte, die einen Zugang eröffnen und erklären, was an seiner Prosa einzigartig ist. Der Umweg, den Aichinger einschlägt, führt über folgende Anekdote: »An einem Julitag vor zwölf oder vierzehn Jahren mähte ein Bauer nicht weit von uns im Salzburgischen ein abschüssiges Stück Wiese. Als ich an ihm vorbeikam, wir uns gegrüßt hatten und ich mit der Bemerkung, daß es heiß sei, an ihm vorbeiwollte, erwiderte er, ja und heute sei eine Hitze, wie sie der Adalbert Stifter hätte hervorbringen können. ›Der?‹ sagte ich. ›Ja, der‹ sagte der Bauer und das sei gar nicht so oft.«51 Es geht in der kleinen Szene um einen spezifischen Hitzegrad, »der nicht mit der Substanz oder dem Subjekt, das ihr ausgesetzt ist, verwechselt werden darf«.52 Die Individualität der Szene wäre nicht zu bezeichnen mittels exakter Angaben, wer die Akteure sind, wo die Begegnung stattfand und wie heiß es war. Der Bauer kann ebenso namenlos bleiben wie der Ort im Vagen und der Zeitpunkt im Ungefähren. Vielmehr sind diese Faktoren nur so weit bestimmt, dass sie in ihrem Zusammenspiel eine Individualität bilden, 49 50 51 52

Aichinger, Ilse: »Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter« [1979], in: dies.: Kleist, Moos, Fasane (Anm. 30), S. 93-97, hier S. 93. Aichinger zitiert Urban Roedl, der Thomas Mann zitiert. Ebd., S. 95. Ebd., S. 95. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 345.

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die ihrerseits dem Eigennamen Stifter attribuiert werden kann. Eine »stifterische Hitze«53 ist von anderen Zuständen nicht schon dadurch unterschieden, dass sie größere Hitzegrade aufweist, sondern sie ist ein Zustand, in dem eine Gesamtheit von Elementen zu einer Individualität verknüpft ist. Diese Individualität lexikalisiert der Bauer in seiner Bemerkung dergestalt, dass unbestimmter Artikel und Zahlwort zusammenfallen: »eine Hitze«. Der unbestimmte Artikel bezeichnet sowohl eine unterbestimmte oder eingeschränkte Definitheit des Zustands als auch dessen Einzigartigkeit. »Es gibt einen Modus der Individuation, der sich sehr stark von dem einer Person, eines Subjektes, eines Dinges oder einer Substanz unterscheidet. Wir haben dafür den Namen Haecceïtas, Diesheit reserviert. Eine Jahreszeit, ein Winter, ein Sommer, eine Stunde oder ein Datum haben eine vollkommene Individualität, der es an nichts fehlt, auch wenn sie nicht mit der eines Dinges oder eines Subjektes zu verwechseln ist.«54 Die Individuation, wie sie an der Hitze fasslich wird, ist ein Modell, das auf das Prosagedicht zu übertragen wäre: »Und was heißt Definition anderes, als etwas an seiner äußersten Grenze genau abzustecken und zugleich ganz offen zu lassen?«55 Aichingers Prosagedichte treten in ein reflexives Verhältnis zu den Gattungsbegriffen, indem sie ihre eigenen Formprobleme verhandeln: Wie geht Formlosigkeit in Form über? Welche Unterscheidungen stecken in der vermeintlich formlosen Form der Prosa? Wie kann im Inneren der Prosa eine Form angesiedelt werden? Und welche Rolle und Funktion hat die Subjektivität bei der Formbildung inne? Die Antworten, die Aichinger gibt, sind niemals einfach, sondern stecken in ihrer Arbeit an der literarischen Form.

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Aichinger: »Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter« (Anm. 49), S. 95. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 52), S. 354f. Aichinger, Ilse: »Über Adalbert Stifter. Rundfunkfeuilleton 1957«, in: text + kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 175: Ilse Aichinger, Redaktion: Roland Berbig, München 2007, S. 42-48, hier S. 47.

Die skulpturale Form der Literatur Das Buch als ästhetisches Artefakt mit paradoxer Tiefe (Übersetzungsketten) Torsten Hahn ich finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und daß sie nichts bedeuten ist ihre Tiefe – je weniger »etwas« Bedeutung hat, desto mehr ist es »es selbst« und damit Oberfläche, und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind »tief«! Es ist eine Tiefe, für die bisher geltende literarische Kategorien nicht mehr zutreffen. Rolf Dieter Brinkmann: Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille« (1969)

I Anekdote und Theorie In Dietmar Daths Zukunftsroman Feldeváye. Roman der letzten Künste (2014) findet sich eine kurze Anekdote, die in lakonischem Ton von Bemerkenswertem berichtet. Erzählt wird sie von einer Figur namens Nastja Ngwethu, scheinbar um eine kurze Wartezeit zu überbrücken. In einer weit entfernten Vergangenheit – vermutlich irgendwann zwischen dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderst und unserer Gegenwart – verschob ein »Mann, der erst Gedichte gemacht hat, Wortfolgen«,1 sein buchförmiges Werk aus dem ästhetischen Register Zeitkunst in das der Raumkunst. Aus dem Medium für Wortfolgen 1

Dietmar Dath: Feldeváye. Roman der letzten Künste, Berlin 2014 (mit einem aufwendig gestalteten Umschlag mit Ausstanzung, was, wie das Folgende zeigen soll, kaum verwunderlich ist), S. 309.

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›Buch‹ wird ein dreidimensionales, gestaltetes Artefakt, dessen opake Oberfläche seine ästhetische Tiefe ist – eine »Skulptur«2 . »So, also der nahm ein Buch«, berichtet die Erzählerin, »eins von seinen, die keiner wollte, und hat gesagt, Medienwechsel, bitte schön […]: Das ist jetzt ›ne Skulptur‹.«3 Was zuvor Schrift war, d.h. alle paratextuellen Elemente, die zur Außenwelt (Klaus Detjen) des Buches gehören, wird in diesem plötzlichen Umschlag zum ornamentalen Formspiel einer gestalteten Oberfläche. Die Differenz von Schrift und visueller Kunst (im Sinne der sogenannten bildenden Kunst) wird überbrückt bzw. negiert. In einer bestimmten (und offenbar, blickt man auf den zweiten Teil des Romantitels, späten Phase) der Kunst haben sich Schrift und visuelle ästhetische Formen wieder angenähert, ihre Differenz verwischt.4 So erfährt eine ›nicht-moderne‹ Ästhetik der Schrift eine Aktualisierung.5 Unter 2 3 4

5

Ebd., S. 310 Ebd, S. 310. Die Schätzung, es müsse sich um das frühe zwanzigste Jahrhundert handeln (zumindest was die Möglichkeit dieser Handlung betrifft), gründet sich auf den konstruktivistischen Manifesten zur Buchgestaltung. So verkündet El Lissitzky in Unser Buch (1926/27): »Wir haben heute für das Wort zwei Dimensionen. Als Laut ist es eine Funktion der Zeit, und als Darstellung ist es eine Funktion des Raumes. Das kommende Buch muß beides sein. Dadurch wird der Automatismus des heutigen Buches überwunden. […] Die energetische Leistung der Kunst ist es, die Leere in Raum zu verwandeln […].« El Lissitzky: »Unser Buch«, in: Lothar Lang: Konstruktivismus und Buchkunst, Leipzig 1990, S. 181-184, hier S. 183. Die heutige, neue Aufmerksamkeit auf das Buch als gestaltetes Artefakt und die Betonung der Wahrnehmung ist, wie mittelbar auch immer, ein Echo dieser avantgardistischen Hoffnung auf neue Formen der Gestaltung und die Erschließung neuer Formen der Wahrnehmung. Vgl. zur konstruktivistischen Buchgestaltung insgesamt den einschlägigen Band von Lang. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 32: »Zu den historisch wichtigsten Veränderungen der Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation gehören die Evolution von Schriften und die Erfindung der Druckpresse. […] [V]or der Erfindung der Druckpresse und der Gewöhnung an ihre Erzeugnisse lagen Schrift und Kunst viel näher beieinander als heute. […] Die Schriftkultur des Mittelalters wäre unter dieser Voraussetzung nicht zu begreifen. Textherstellung und Bildherstellung waren weniger stark unterschieden als heute. Beide hatten ornamentale und taktile Komponenten – zu zeigen.« Vgl. auch Assmann, Aleida: »Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 237-251, hier S. 241, zum historischen Muster der Unterbrechung, die mit dem Ende der ›modernen‹ Form von Lesen und der Buchhandhabung einhergeht: »Der flüssige und behende Duktus [des Schrift-Lesens] wird gehemmt, ja u.U. ganz zum Stillstand gebracht, wenn die Buchstaben eine resistente Materialität annehmen. Dies geschieht etwa […] in den illumi-

Die skulpturale Form der Literatur

technischen Bedingungen wird die Differenz von den Medien der Literatur, also: Schrift und Buch, sowie visueller Kunst überbrückbar. Dies mag, denkt man zunächst an Faktoren in der Umwelt des Kommunikationssystems ›Literatur‹, dem Umstand geschuldet sein, daß der Buchdruck und das materielle Buch unter der Bedingung von Datenbank und Bildschirm eine spezifische und eigene Funktion übernehmen können – analog zur Handschrift unter technischen Bedingungen. Das Buch wird in dem Maße zum Sondermedium ästhetischer Kommunikation, wie es unsinnig wird, auf ständige Aktualisierung angewiesenes bloßes Lehr- und Lernmaterial zu drucken (oder: materiale Gestalt gewinnen zu lassen), statt sie elektronisch und damit letztlich: immateriell verfüg- und durch neuere Auflagen problemlos ersetzbar zu machen. Dieser Prozeß ist gegenwärtig kaum zu übersehen, wobei das Problem darin besteht, die historischen und literarischen Bestände (und: deren Funktion sowie mediale Eigenheit) vor dem zu schützen, was als ökonomische und räumliche Optimierung gilt. Der Verlust würde in der ›Form der Literatur‹ bestehen.6 Es ist gerade die Herausforderung des Buches durch technische Kommunikations- und Speichermedien, die die Freisetzung der visuellen Qualitäten des Mediums ›Buch‹ möglich macht. Dies ist eine dialektische Wende, die eine Entsprechung im Inneren des Buches hat, was buchtheoretisch seit den 1920er Jahren bekannt ist. Es war Paul Valéry, der in seinem Aufsatz Die beiden Tugenden des Buches (Les deux vertus d’un livre) von 1926 jene Qualität des Buches hervorgehoben hat, die nicht (notwendig) den Vorgaben von Sinn und Bedeutung folgt. Dies ist das Bild, das jede Buchseite auch ist, also das, was sie zu ›sehen‹ und dann eben nicht: zu ›lesen‹, gibt. Ausgehend von der Differenz ›sehen/lesen‹ hat Valéry in seinem nach wie vor hellsichtig zu nennenden Aufsatz jene Qualität hervorgehoben, die in der von Ngwethu erzählten Anekdote dafür sorgt, daß im dialektischen Umschlag vom ästhetischen Register der Zeit- in das der Raumkunst

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nierten Codices klösterlicher Skriptorien. Der Text wird selbst zu einem Bild, das den Betrachter in den Bann schlägt und ihm nicht gestattet, kurzerhand zur Sache zu kommen. Durch Farben und Formen, Ornament und Illustration […] wird der Weg zum immateriellen Inhalt unterbrochen.« Insofern werden Bücher unter den Bedingungen der Immaterialisierung des Wissens in Datenbanken zu potentiell ›nicht-modernen‹ (sensu Latour) Dingen – was selbstverständlich keine Wiederholung des historischen Musters bedeutet, sondern über dieses hinausgeht (insofern darin die ›moderne‹ Differenz des Buchdrucks und damit die Negation aufgehoben wird). Vgl. dazu und zum Literaturbegriff auch Vf.: »Drucksache. Medium und Funktion der Literatur«, in: LiLi 49 (2019), Heft 3, S. 435-449.

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die energetische Leistung der Kunst 7 zu einem, wenn auch zunächst unter dem Radar bleibenden, Ereignis wurde. Valéry geht zunächst von zwei Möglichkeiten der Rezeption eines Textes aus, wobei Lesen die »Zerstörung [des Textes, T.H.] durch den Geist, die Verwandlung in geistige Ereignisse«8 – also seine Immaterialisierung – bedeutet. Die Alternative dazu ist das ›Sehen‹: »Der gesehene Text, der gelesene Text sind durchaus zweierlei, weil die Aufmerksamkeit, die man dem einen widmet, jene auf den anderen ausschließt.«9 Es geht beim sichtbaren Text genau nicht um die Unterstützung einer störungsfreien, schnellen Lektüre durch ein Druckbild, das, um seinem eigentlichen, ihm externen Zweck zu dienen, möglichst unsichtbar bleiben soll, zugunsten der schnellen Erfassung von Bedeutung. Vielmehr negieren sich die beiden Tugenden vexierbildartig wechselseitig. Der gesehene Text unterläuft das ›Lesen‹ zugunsten der Wahrnehmung seiner bildhaften Qualität.10 Zu sehen gibt es mitunter »schöne Massen sehr reiner Schwärze auf sehr reiner Fläche«11 : Die Seite wird zum zweidimensionalen Bild. Zum ›Sehen‹ führt Valéry weiter aus: »Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Ganzes oder ein Gefüge von größeren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weißen Leerräumen […]. Diese zweite Art zu sehen, nicht mehr sukzessiv und linear fortschreitend 7 8

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Vgl. dazu das Zitat in Fußnote 4. Valéry, Paul: »Die beiden Tugenden eines Buches«, in: ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M./Leipzig 1995, S. 467-470, hier S. 467. Der Text ist mit der gesteigerten Aufmerksamkeit, die dem Buch inzwischen zukommt, wieder populär geworden, vgl. z.B. Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum: Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy), Göttingen 2016. Valéry: »Die beiden Tugenden« (Anm. 8), S. 468. Vgl. auch Luhmann: Die Kunst (Anm. 5), S. 46, zu »Textkunst«, die darauf angelegt ist, »Automatismen zu unterbrechen«: »Wie immer man sich dann die Beteiligung des Bewußtseins vorzustellen hat: es wäre sehr irreführend, sie unter den Begriff des Lesens zu subsumieren.« Und weiter (ebd., S. 47): »Die Einheit von Fremdreferenz und Selbstreferenz liegt in der Wahrnehmbarkeit der Worte.« Vgl. dazu und zur Möglichkeit der Übertragung der Ausführungen Luhmanns auf das visuelle Register Vf.: »Schwarze Flächen und weiße Leerräume. Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik (Eine Buchseite von Thomas Meinecke)«, in: Text + Kritik, Autorenheft Thomas Meinecke, hg. von Charlotte Jaekel (im Druck). Valéry: »Die beiden Tugenden« (Anm. 8), S. 468. Luhmann: Die Kunst (Anm. 8), S. 46, hat zu diesem Zusammenhang bemerkt, daß »Textkunst« sich von »normaler Textgestaltung« eben dadurch unterscheide, daß ihr Ziel nicht optimierte Lesbarkeit sei. Ebenso wenig ziele sie darauf ab, dem »Leser […] die passive Rolle des Verstehens« zuzuweisen.

Die skulpturale Form der Literatur

wie bei der Lektüre, sondern als eine Zusammenschau auf den ersten Blick, gestattet uns, die Typographie in die Nähe der Architektur zu rücken, wie man vorher bei der Lektüre darauf verfallen konnte, sie mit der melodischen Musik zu vergleichen, und überhaupt mit allen Künsten, die sich in der Zeit vollziehen.«12 Und dies macht den (dialektischen) Umschlag vom Buch in die Skulptur möglich. Dieses Umschlagen ist auch Mitteilung davon, daß der Faden, der Dinge und Zeichen verbindet, nicht gerissen ist. Der vorliegende Text faltet Vorgänge wie diesen weiter aus. Aus Zeitkunst (Literatur, Musik) wird Raumkunst (Skulptur, Architektur). Vermittelt wird dies über das Bild, das jede Seite auch ist. So ist die dialektische Wende als energetische Leistung der Kunst im Buch bereits angelegt. Aus dem Buch macht die Energie der Kunst eine Skulptur. Während die Dialektik in der Seite angelegt ist, wird der Umschlag mediatisiert durch die Außenseite des Buches, die auf der Grenze von Bild und Text angesiedelt ist: dem Umschlag im buchästhetischen Sinn, d.i. die Hülle/der Rahmen des Textes. Aus Peritext wird Ornament. Letztes Medium dieser Wende von Zeit- in Raumkunst ist damit die »Form« des »Text[es]«13 selbst – also die peritextuelle Außenwelt ›Umschlag‹. Diese Umschläge und damit die energetische Leistung der Kunst scheinen eine ihrer Konstanten durch die Jahrhunderte zu sein. Ngwethu zumindest, die von einer solchen dialektischen Wende in unserer (erweiterten) Gegenwart, d.h. aus ihrer Sicht: einer weitentfernten Vergangenheit, berichtet, erzählt die Anekdote durchaus in unterweisender Absicht – Gegenstand der Unterweisung ist die Kunst. Die Erzählerin führt ihrem Zuhörer vor, daß das energetische Wunder der Kunst, nämlich: Zeit- in Raumkunst umschlagen zu lassen, sich noch vollzieht, auch nach dem Dogma vom scheinbaren Ende der Kunst, um das der Roman kreist. Der Adressat der Erzählung soll verstehen, daß seine eigene Praxis, die in der Komposition von ›werdenden Räumen‹ besteht, ebenfalls eine Zeitkunst (Musik) im dialektischen Sinn in Raumkunst (Architektur) ›aufhebt‹. In diesem Sinne macht Ngwethu die Vergangenheit zur Leinwand, auf der ein Tun ihrer Gegenwart als spezifische Praxis, nämlich: als Kunst, Kontur gewinnt, die von deren ureigenster energetischer Leistung angetrieben wird. Sie fährt in der Geschichte vom Lyriker,

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Valéry: »Die beiden Tugenden« (Anm. 8), S. 468. Detjen, Klaus: Außenwelten. Zur Formensprache von Buchumschlägen, Göttingen 2018, S. 80.

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der sein Buch per Dekret zur Skulptur macht, fort: »[U]nd hat gesagt, Medienwechsel, bitte schön […]: Das ist jetzt ’ne Skulptur. So wie du mit dem Lochstreifen komponierst und sagst: Das ist jetzt ’ne Halle, das ist jetzt ’ne Rampe, das ist jetzt ein Tunnel.‹«14 Dem Umschlag von Zeitkunst in Raumkunst, von Literatur in eine Skulptur, oder, wie der vorliegende Text zeigen möchte, erweitert: eine Installation, sind die folgenden Ausführungen gewidmet.15 Es geht dabei um den Umschlag der Kunstformen, der sich auf der Oberfläche vollzieht, sowie um Referenz, die Materie und Immaterielles oder reine Differenzen verbindet. Der im Folgenden verwendete Form-Begriff ist damit am Konzept ›Oberfläche‹ orientiert. Die Ausfaltung der These vom Wunder der Kunst ist in zwei Kapitel aufgeteilt: Das erste (II) fragt nach der Skulptur am Ende der Kunst und schließt so an den Roman an. Erörtert werden dabei auch die Gründe dafür, dieses Ende im Anschluß an Hegel im zwanzigsten Jahrhundert erneut auszurufen – und als Beginn ihrer Autonomie zu verstehen. Im Anschluß daran (III) möchte ich dem Verlauf des Fadens folgen, der sich durch das Wunder der Verwandlung von Sinn in Materialität zieht – einem weiteren Umschlag also. Es wird zu zeigen sein, wie aus einem Buch eine Skulptur und diese dann wiederum Teil einer Installation wird. Es geht mir um die Schnittstelle von sogenannter bildender Kunst und Literatur. Ebenfalls wird zu diskutieren sein, was dies für die Ästhetik bedeutet. Diese wird, soviel sei vorausgeschickt, im Zeichen von Form, Oberfläche und Ornament stehen. Die Objekte, um die es geht, reichen in die Sphäre des Konsums und sind scheinbar wenig geeignet, das Wunder der Kunst vorzuführen. Aber dieser Eindruck täuscht: Es ist gerade die Autonomie der Kunst, die es dieser möglich macht, ihr Wunder an Gegenständen ihrer Wahl Ereignis werden zu lassen.

II Ästhetik und Skulptur (Artefakt I) Im Roman von den letzten Künsten ist es offenbar das Ende der Kunst, das die Erzählung vom sich in eine Skulptur transformierenden Buch mittelbar 14 15

Dath: Feldeváye (Anm. 1), S. 310. Vgl. zur Installation Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M. 2003, insbesondere das Kapitel »Raumkunst und Zeitkunst« (S. 146-231). Vgl. dazu auch die Rezension von Dath, Dietmar: »Schnauf, schnauf, Theatralik muß sein«, in: FAZ, 15.12.2003 (einsehbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/schnauf-schnauf-theatralik-muss-sein-1135284.html)

Die skulpturale Form der Literatur

motiviert. Daß es nach dem Ende der Kunst noch (oder: erst recht!) Künste gibt, folgt aus dem Zusammenhang, in dem die These steht. G.W.F. Hegel, der dieses Ende in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, gehalten 1820-1829 an der Humboldt-Universität zu Berlin und dann postum 1835-1838 nach Mitschriften publiziert, proklamiert hat, meinte ja keineswegs, die Maler hörten auf zu malen, die Dichter zu dichten usw. Vielmehr geht er davon aus, daß Kunst in der Moderne nicht länger die Weise der Selbsterfassung des absoluten Geistes ist. Hegels Ästhetik steht im Zeichen des Klassizismus: Nach der griechischen Kunst hört die Kunst auf, Medium des Göttlichen und seiner Selbsterkenntnis zu sein – diese Aufgabe übernehmen dann die (christliche) Religion und schließlich und schlußendlich die Philosophie, die die Religion überwindet. Der schöne Schein der Kunst, zuvor Medium des ›Wesens‹ (des Göttlichen, des Geistes), wird in deren romantischer Phase entleert. Der evakuierte Schein ist nicht länger Medium des höchsten Geistes. Das Göttliche ist nicht länger im Schein der Kunst anwesend: »Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.«16 Hinsichtlich des Göttlichen wird der Schein funktionslos bzw. leer, da die »Kunst noch in sich selbst eine Schranke« hat, weshalb das »Absolute« notwendig »in höhere Formen des Bewußtseins über[geht].«17 Diese höheren Formen münden schließlich in die »reinste Form des Wissens«, nämlich das »freie Denken«.18 Kunst gilt dagegen als ›bloß‹ »sinnliches Wissen«19 . Aus Sicht der nun nicht mehr heteronom bestimmten Kunst wird der ästhetische Schein hingegen frei. ›Frei‹ meint in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, nun eine zentrale kunstspezifische Funktion zu übernehmen – und dies heißt und heißt vor allem: Medium autonomer Formen zu sein.20 Das Ende der Kunst bedeutet also, daß sie mit Blick auf ihre »höchste Bestimmung« im Sinne Hegels »für uns ein Vergangenes«21 ist. Damit einher geht keineswegs, daß die

16 17 18 19 20

21

Hegel, G.W.F.:Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke, Bd. 13. Frankfurt a.M. 1970, S. 142. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. Ebd., S. 139. Medium und Form sind dabei nicht als qualitativ verschieden anzusehen, sondern unterschiedene Aggregatzustände. Vgl. dazu Niklas Luhmanns Ausführungen zu Medium und Form im Anschluß an Fritz Heider in Luhmann: Die Kunst (Anm. 5), S. 165-214. Hegel: Ästhetik I (Anm. 16), S. 25.

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»Wissenschaft der Kunst«22 überflüssig würde – im Gegenteil. Deren Aufgabe ist, so Hegel, »was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.«23 Daran läßt sich problemlos anschließen. Spätestens gut einhundertfünfzig Jahre später, ungefähr zu der Zeit, in der aus einem Buch plötzlich eine Skulptur werden konnte, wird die These vom Ende der Kunst dann in der Kunstwissenschaft populär. Arthur C. Danto versteht ausgerechnet die Pop-Art als späte Phase der Kunstgeschichte, in der sich der Übergang der Kunst in Reflexion in Form einer Frage – und damit, in seinem Anschluß an Hegel: das Ende der Kunst – vollziehe. In Approaching the End of Art heißt es: »Pop Art was a response to a philosophical question as to the nature of art […]. […] Pop Art put the question […] in its true philosophical form: Why is this art, it asked, when something just like this – an ordinary Brillo box, a commonplace soup can – is not, especially when the art work and the real thing so exactly resemble each other as not to be told apart?«24 Pop Art als Ende der Kunst ist auch das Ende der Gültigkeit eines ästhetischen Platonismus, der für Danto die Reflexion der Kunstwerke bis zur Pop Art bestimmt hatte. Letztere entzieht sich der Unterscheidung von Realität und bloßem Simulakrum bzw. Wahrheit und Lüge. Damit machen die »Pop-Künstler […] mit einem Schlag alles, was Philosophen zur Kunst geschrieben hatten, wertlos, oder beschränkten den Wert auf eine rein lokale Bedeutung.«25 Der analytische Philosoph fährt fort: »Für mich zeigte die Kunst durch die Pop Art, wie die eigentliche philosophische Frage über die Kunst selbst zu lauten hatte, nämlich: Worin besteht der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und etwas, das kein Kunstwerk ist, wenn beide genau gleich aussehen?«26 Und dies führt ihn weiter zur Idee vom Ende der (Kunst)Geschichte: »Mir wollte scheinen, daß nun, da das philosophische Problem der Kunst aus der Kunstgeschichte selbst heraus geklärt worden war, diese Geschichte damit an ihr Ende gelangt war.«27 Das Ende des Narrativs ›Kunstgeschichte‹ soll zugleich das Ende der »philosophischen Identität« der Kunst

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Ebd. Ebd., S. 26. Vgl. Danto, Arthur C.: The State of the Art, New York 1987, 202-218, hier: S. 208. Vgl. auch ders.: Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 159-178. Danto, Arthur C.: »Pop Art und vergangene Zukunft«, in: ders.: Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 159-178, hier S. 168. Ebd. Ebd., S. 168f.

Die skulpturale Form der Literatur

im Sinne einer ihr »vorgeschriebene[n] Seinsweise«28 sein. Kunst kann demnach alles sein – und jeder ist, wie Joseph Beuys behauptete, ein Künstler.29 Oder: Die neue Kunst kann sich, so eine weitere für Danto denkmögliche Option, »in die direkten Dienste der Menschheit stellen«30 . Dies wäre zwar maximal demokratisch und/oder eine Erweiterung des Reichs der nützlichen Dinge, sorgte aber zugleich für das Verschwinden der Kommunikationsform ›Kunst‹, da diese sich nicht mehr von ihrer Umwelt abgrenzen ließe. Für diese Abgrenzbarkeit sorgte ja nicht zuletzt seit der klassischen Kunsttheorie die zweiwertige Unterscheidung nützlich/nutzlos – man denke etwa an Karl Philipp Moritz’ Ausführungen zur Kunstautonomie. Dies kann man, da dies offenbar eine klassische (bürgerliche) Codierung der Kunst ist, für verschmerzbar oder gar wünschenswert halten. So ist Feldeváye die Erzählung davon, wie Kunst direkt politisch wird – aber Kunst (im Sinne einer Negation) bleibt.31 Will man allerdings die Möglichkeit systemischer Differenzierung auch nach dem Ende der Kunst nicht aufgeben – oder: dieses genau als Voraussetzung jener verstehen und damit näher bei der These bleiben als Danto dies tut – ist es sinnvoll, hervorzuheben, daß es sich um das Ende der, in den eigenen Worten des analytischen Philosophen, philosophischen Identität der Kunst handelt. Daraus zu folgern, alles sei Kunst bzw. diese verliere ihre Widerständigkeit gegen gesellschaftlich ›dienstbare‹ Kommunikation, ist zumindest nicht zwangsläufig. Stattdessen läßt sich das Ende der Kunst als Beginn ihrer Autonomie verstehen. Dies umgeht die nur scheinbare Notwendigkeit,

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Ebd. S. 169. Vgl. ebd. Danto: Das Fortleben (Anm. 24), S. 175. Vgl. dazu Daths Anschluß an Hegels These vom Ende der Kunst im Kapitel »Das ewige Ende der Kunst«, in: Dietmar Dath: Hegel. 100 Seiten, Ditzingen 2020, S. 75-83. Dath schlägt vor, das Ende nicht als Zeitpunkt zu verstehen, sondern als Ergebnis von »Haltungen« (ebd., S. 82): »Sieht man Kunst als Spiel mit dem Ziel der Nachricht über Haltungen der Erkenntnis und der Praxis, so hat sie ihr Ende da, wo sie Haltungen behauptet, die Erkenntnis und Praxis nicht bewähren können, Haltungen, mit denen sich nichts Menschliches machen lässt, und Haltungen, die Erkenntnis und Praxis für inkommensurabel erklären.« In vorliegendem Beitrag wird das Ende als Zustand verstanden, der solange andauert, wie Kunst ihre eigene Reflexionstheorie liefern kann. Ich verstehe die Rede vom Ende der Kunst also im Sinne der Hegel’schen Ästhetik. Aus Sicht der Kunst ist dieses Ende die Grenze zum Reich der Freiheit. Vgl. zu Daths Konzept von Haltung und Kunst auch ders.: »Fiktion und Corona-Realität. Macht Euch nützlich!« (einsehbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/corona-mit-welchen-geschichten-beschaeftigen-wir-uns-jetzt-16702053.html).

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einen Zeitpunkt für das Ende der Kunst (im Sinne ihrer Verpflichtung auf externe Präskripte) festzulegen, sondern erlaubt, dieses als Ereignis zu definieren. Dieses Ereignis muß das Kunstwerk selbst sein. Die Kunstdinge, mit denen Pop-Art die Welt bereichert, taugen in diesem Zusammenhang bestens zur Untermauerung der These. Zugleich informieren sie über Ornamente und Oberflächen am Ende der Kunst. Dies führt ein typisches Produkt der Pop Art bestens vor, nämlich Jasper Johns Painted Bronze von 1960. Statt um einen griechischen Gott bereichert Johns die Realität um zwei ebenso imaginäre Dosen Bier der Marke Ballantine Ale. Genaugenommen handelt es sich bei Painted Bronze (1960) um ein Element des Werkkomplexes Ale Cans, bestehend aus zwei Skulpturen, zwei Gemälden, zehn Zeichnungen sowie zwölf Drucken und Abzügen.32 Für meine Zwecke ist die isolierte Betrachtung eines Werkausschnitts angezeigt, wobei der gesamte Komplex sicherlich Erweiterungen ermöglichen würde. Painted Bronze eröffnete die Serie Ale Cans. Ihr Entstehen verdankt die Skulptur einer Provokation, die mit der für Danto das Ende der Kunst markierenden Frage auf das Engste verwandt ist: Warum ist das eine Artefakt Kunst und das andere, obwohl gleichaussehend, eben nicht, sondern ›bloßer‹ Konsumartikel. Dies, transformiert in eine einigermaßen – mit Blick auf die Kunst und ihr Publikum – zynische Vermutung, war laut eines von Johns verbreiteten Gerüchts der Impuls zur Serie Ale Cans: »Somebody told me that Bill de Kooning said that you could give that son-of-a-bitch [d.i. der für die Pop Art zentrale Gallerist Leo Castelli, der die Bronzeplastik dann 1961 auch ausstellt; T. H.] two beer cans and he could sell them. I thought, what a wonderful idea for a sculpture«.33 Die Vermutung ist zynisch, da sie Kunst auf Vermarktung und einen gerissenen Galeristen reduziert. Die Skulptur selbst ist dies nicht. Im Kontext der These von Pop Art als Ende der Kunst ist sie Medium der Frage, die die Kunst im Übergang zur (Selbst-)Reflexion stellt und nun selbst beantworten muß. Wenn es darum geht, die für das Kunstwerk konstitutive Differenz zu 32

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Vgl. zum Werkkomplex und zur Einordnung den informativen Beitrag von Weitman, Wendy: »Jasper Johns: Ale Cans and Art«, in: James Leggio/John Elderfield/Susan Weiley (Hg.): American Art of the 1960s, New York 1991, S. 39-63. Vgl. ebd., S. 41 zur dadaistischen Vorgeschichte solcher Artefakte, besonders die Arbeiten von René Magritte und Marcel Duchamp. Vgl. für eine Abbildung die entsprechende Seite von Bildindex mit weiteren Informationen zur Skulptur: https://www.bildindex.de/document/ obj05020408. Jasper Johns, zit. in: Richard Francis: Jasper Johns, New York 1984, S. 11.

Die skulpturale Form der Literatur

benennen, kann Kunst nicht mehr auf die Philosophie als zuständige Kommunikationsform verweisen. Das Kunstsystem muß, wenn der Anspruch auf Autonomie aufrechterhalten werden soll, Werke und deren Reflexionstheorie zugleich liefern. Da Kunst ein System ist, für das kein Code widerspruchsfrei bestimmt werden kann (im Gegensatz zu den Systemen in ihrer Umwelt), muß das Kunstwerk als Ereignis die Differenz zu nicht-kunstförmiger (nicht-werkförmiger) Kommunikation stiften und diese beobachtbar machen.34 Natalie Binczek hat dies in Zur Funktion des Ornaments folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Die Besonderheit des Kunstsystems liegt […] darin, daß die Asymmetrierung Kunst/Nicht-Kunst dem einzelnen Kunstwerk obliegt.«35 Painted Bronze löst diese Aufgabe auf eine gewissermaßen parasitäre Art: Die Skulptur dramatisiert die Kunstphilosophien vorsteuernde Entscheidung für entweder eine Präferenz des Gehalts – wie Hegels Ästhetik – oder eine Präferenz der reinen Form – wie Kants Kunstphilosophie –, mit den Mitteln der Kunst, d.h. indem sie sie in die Operationen des Kunstsystems einbezieht. Kants Theorie der Kunst wurde bekanntlich für ihre Thematisierung von Gegenständen aus der Welt des Konsums, wie z.B. Tapeten, kritisiert.36 Dies darf zumindest als Indiz dafür gewertet werden, daß dieser Typ von Ästhetik für die Artefakte der Pop Art höchst anschlußfähig ist. Painted Bronze führt die Präferenz der Form und die damit einhergehende Depotenzierung des Gehalts auf ironische Art und Weise vor – und stellt mit der Betonung der Form Selbstreferenz als Präferenz-Thema der nach-heteronomen Kunst aus.37 34

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Vgl. dazu Luhmann, der im Anschluß an seinen an ›paßt/paßt-nicht‹ orientierten Vorschlag »Gelingen oder Mißlingen« formuliert: »Die Antwort könnte deshalb darin liegen, daß jedes Kunstwerk sein eigenes Programm ist und sich, wenn genau das gezeigt werden kann, als gelungen und eben damit als neu erweist. Die Programmatik durchdringt […] das Einzelwerk. Und erlaubt dann kein zweites derselben Ausführung mehr.« (Luhmann: Die Kunst [Anm. 5], S. 315) Binczek, Natalie: »Zur Funktion des Ornaments in Luhmanns Kunst-Buch. Mit einem Supplement zum Bild des Ornaments in »L’année dernière à Marienbad«, in: Gregor Schwering/Carsten Zelle (Hg.): Ästhetische Positionen nach Adorno, München 2002, S. 103-122, hier S. 105. Vgl. die Ausführungen zur freien Schönheit (pulchritudo vaga): Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werke, Bd X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1957, S. 146. Vgl. auch den Beitrag von Heinz Drügh in diesem Band. Vgl. dazu Luhmann, Niklas: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«, in: ders.: Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a.M. 2008, S. 139-188, hier S. 150: »Form ist unausgesprochene Selbstreferenz.«

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Die für die Philosophie der Kunst zentrale Differenz von Form und Gehalt wird so mit den Mitteln der Kunst (und in der Sprache der Zeit um 1800 meint dies: ›heiter‹) in Szene gesetzt. Die beiden Ale Cans von denen eine intakt und die andere perforiert ist, inszenieren die Differenz von leerer und gefüllter Form als Ableitung von geöffnet/intakt. Dabei verhält sich das visuelle Formspiel neutral gegenüber jedwedem realen Inhalt: Ballantine – XXX – Ale macht die Skulptur zur Ale Can. Die Bedeutung ist ein reiner Effekt der Oberfläche auf reproduzierten Bierdosen. Die punktierte leere Dose ist zugleich reicher an Oberflächeneffekten, da ihre Oberseite im Gegensatz zu der intakten ›Dose‹ durch das Logo der drei ineinander verschlungenen Kreise geziert wird. Es ist damit die Leere, die das Mehr an Form und Ornament hervorbringt. Damit nicht genug: Tatsächlich ist die intakte Dose solide und die andere hohl. Damit dies wahrnehmbar würde, müßten die Dosen aber angehoben werden, was durch die Regeln der Präsentation von Kunst aber ausgeschlossen ist. Die Differenz zu realen Bierdosen im Supermarktregal wird so ins Abstrakte verschoben.38 Dieser Unterschied bleibt virtuell, da er dem auf der Oberfläche haftenden Blick entzogen ist. Für die Betrachtung und damit die Primärfunktion der Skulptur ist er unerheblich. Ob Johns selbst nun die Inszenierung von Kunstphilosophie im Kunstwerk oder ein Scherz auf Kosten Leo Castellis ihn inspiriert hat (beides ist wenig wahrscheinlich), ist hier unerheblich, da das Werk in seinem Bezug zum Kunstsystem und nicht: zum individuellen Künstler, seinen Stimmungen, Launen und Vorlieben von Interesse ist. Die Ernsthaftigkeit der grundsätzlichen Frage der Kunst und die zumindest scheinbar gegenläufige – da dieser unangemessenen – Formwahl produzieren die Differenz, die als Ironie das Kennzeichen der romantischen, d.h. nach-klassischen und autonomen Kunst ist. Die Frage nach der Prävalenz von entweder Form oder Gehalt, mit der die Philosophie der Kunst erstens zum Thema des Kunstwerks, zweitens zum Teil der kunsteigenen Reflexionstheorie und schließlich zum Instrument der

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Das Spiel mit ›unsichtbarem‹ Gewicht zitiert Duchamps Arbeit Why Not Sneeze Rose Sélavy (1921). Vgl. Weitman: »Jasper Johns« (Anm. 32), S. 41. Die Verwandtschaft mit Dada bzw. die Nähe zu einer Form der Ästhetik, die das Alltägliche werkförmig macht (mit Betonung der Form) ist selbstverständlich nicht auf Johns beschränkt, sondern typisch für Pop Art, die aus eben diesem Grund in einer frühen Phase auch unter der Bezeichnung Neo Dada geführt wurde.

Die skulpturale Form der Literatur

Unterscheidung des Kunstwerks von seiner Umwelt wird, artikuliert die Plastik von Johns in populärer Form. Zugleich beantwortet die Skulptur sie aber auch aus der Tiefe der ›freien‹ Oberfläche. Die Freiheit der Oberfläche ist Produkt der Leere bzw. der Virtualisierung des Gehalts. Diese Antwort kann dann aus Sicht der Philosophie, gemäß ihrer Vorgaben, wiederum als Wahrheitsgeschehen beobachtet werden. So entspricht das, was die Plastik produziert, der paradoxen, da ornamentalen ›Tiefe‹ der Kunst, wie sie Gianni Vattimo im Rahmen des pensiero debole skizziert. Mit der Idee der ›ornamentalen Tiefe‹ läßt sich ein weiterer dialektischer Umschlag beschreiben – nämlich eine paradoxe Wahrheit der Form, die wohl am ehesten die Wahrheit des Kunstwerks ist. Das, so Vattimo, »Kunstwerk als Geschehen der ›schwachen‹ Wahrheit« ist »Geschehen einer Form, die keinen Kern enthüllt oder wieder zudeckt, sondern in seinem Sichüberlagern mit anderen ›Ornamenten‹ die ontologische Dichte des Wahrheitsgeschehens konstituiert.«39 Versucht man Vattimos Theorie einer »›ornamentale[n]‹ und monumentale[n] Auffassung des Kunstwerks«40 auf die Literatur zu übertragen, führt dies zum Punkt des Umschlags von Wortkunst in Materialität (also letztlich zur eingangs zitierten Anekdote). An diesem Punkt vollzieht sich die Dekonstruktion der, in den Worten Vattimos, »heuristische[n], kritische[n] Funktion des Unterschiedes zwischen dem Dekorativen als Überschuß und dem ›Eigenen‹ des Dinges und des Werkes«, die »heute ganz und gar verbraucht [scheint]«41 . Für die Beschreibung braucht es dann eine Theorie, die den Punkt des Umschlags hervorhebt bzw. davon ausgeht, daß der Faden zwischen Dingen und Zeichen nicht gerissen ist. Dann müßten Aussagen darüber möglich sein, wie aus dem Buch eine Skulptur wird – jenseits eines bloß performativen Aktes. Für die Klärung der Frage nach diesem entscheidenden Umschlagspunkt ist es fruchtbar, auf die Überwindung des Gegensatzes von Überschuß und Eigentlichem – und das heißt im Fall der Literatur: die Unterscheidung von Text bzw. Inhalt und Bedeutung auf der einen und paratextuellen Elementen auf der anderen Seite – zurückzukommen. Dies führt über das Buchcover und damit dem Ornamentalen des Werks zur Materialität und zum dialektischen Umschlag des Zeichens in Materialität und d.h.: dem Umschlag von Zeit- in Raumkunst.

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Vattimo, Gianni: »Ornament (als) Denkmal«, in: ders.: Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 86-97, hier S. 95. Ebd. Ebd., S. 96.

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III Übersetzungsketten und Buch (Artefakt II) Auch das zweite Artefakt gehört im weitesten Sinne zum ornamentalen und damit: ›schwachen‹ Verweisgeflecht ›Pop‹: Rafael Horzons Das weisse Buch (2010) führt paradigmatisch vor, daß der dialektische Umschlag von Wortkunst zur Skulptur und damit die Energie des Kunstwerks durch »Übersetzungsketten«42 läuft. Mit diesem Begriff aus Bruno Latours Die Hoffnung der Pandora werden im folgenden die Verschiebungen bezeichnet, die »an die Stelle einer starren Opposition zwischen Kontext und Inhalt«43 treten. Die Übersetzungsketten überbrücken den von Vattimo angesprochenen verbrauchten Unterschied zwischen Dekorativem und Eigentlichem, was letztlich auf die ›parergonale Dimension‹ des Werks hinausläuft.44 Das weisse Buch ist die Erzählung der unternehmerischen Abenteuer des umtriebigen Helden Rafael Horzon, von seinen Taten, Reisen und ebenso einzigartigen wie erfolgreichen Geschäftsideen. Zu verorten ist der Roman irgendwo zwischen Thomas Manns Felix Krull und Christian Reuters Schellmuffsky. Bei den Geschäftsideen handelt es sich zumeist um die Wiederholung der Erfindung von Best-Selling Products: So z.B. wenn über die Bereicherung der Welt um eine Kette von Schnellrestaurants, die »Spezial-Hähnchen, gebacken in einer Spezial-Panade nach einer geheim gehaltenen Rezeptur«45 , nachgedacht wird. Die Geschäftsideen gipfeln im Vertrieb eines weißen Regals mit der Typbezeichnung ›MODERN‹, das von dem Ikea-Klassiker Billy nicht zu unterscheiden ist. Dies ist nun kein exklusiv der fiktiven Realität verpflichtetes Element, sondern auch Teil der realen Realität: »MOEBEL HORZON REGALWÄNDE«46 können in Berlin erworben werden, es gibt eine Homepage, eine Adresse – sogar einen »Flagstore«47 . 42

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Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 381; vgl auch das Kapitel zu »Zirkulierende Referenz«, ebd., S. 36-95. Ebd., S. 381. Vgl. dazu, der Frage nach der Funktion des Rahmens und dem Widerstand eines materialen Restes gegen die reine Anschauung: Derrida, Jacques: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992 und zur Rahmung des Buches durch den Umschlag Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. für eine daran orientierte Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur die Arbeit von Hintze, Lena: Werk ist Weltform. Rainald Goetz’ Buchkomplex HEUTE MORGEN, Bielefeld 2020. Horzon, Rafael: Das weisse Buch, Berlin 2010, S. 145. https://modocom.de/m_horzon/regalwaende.htm Ebd.

Die skulpturale Form der Literatur

Zwischen Regal und Buch spinnen sich nun – und so wird dies im vorliegenden Kontext interessant – Übersetzungsketten, in denen sich das Wunder des dialektischen Umschlags ereignet. Die »Kette der Transformationen«48 verwandelt Literatur in den Bestandteil einer Installation, die als Neo-Dada oder eben, mit einem späteren Namen für dasselbe ästhetische Verfahren, als Pop gelten kann, insofern sie das Vorhandene neu erfindet. Das Buch selbst ist komplett weiß; Titel, Autor, Verlag sowie Reihe sind eingestanzt – analog zu den Regallöchern für die Steckdübel im Klassiker des Regalsortiments der schwedischen Möbelkette. Das populäre Regal Billy wird über das Horzon’sche Modell MODERN zum Referenzrahmen des Buches. Das an sich bedeutungslose Ding ›Regal‹ und der Text sind durch eine Kette von Übersetzungen und Referenzen über/durch den Buchumschlag zum Text – und umgekehrt – verbunden. Diese Kette ermöglicht das Umschlagen von Lesen in Sehen (Valéry) bzw. Zeitkunst in Raumkunst. Die Kette verläuft durch den Umschlag des Buches– und damit die Form des Textes. Dieser ist auf intrikate Weise mit dem Inhalt verbunden: Horzon nutzt bereits die Titelei, um seinen Roman – und damit das Selbstlob des Helden (eben der gewiefte Entrepreneur namens Horzon) – beginnen zu lassen. Das Impressum geht nach den üblichen und erforderlichen Angaben zu Verlag, Copyright und weiteren rechtlichen Hinweisen in Folgendes über: »Der Autor dankt: Seinen Mitarbeitern und Partnern,/die ihm ein vollkommen sorgenfreies Leben ermöglichen./Ausserdem: Julius Caesar, Giacomo Casanova, Arnolf E. Horaz, Christian Kracht, Novalis/und Arthur Rimbaud.« Darauf folgt dann wiederum ganz sachlich: »Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm«.49 Der fröhliche Größenwahn, der die technische Seite des Buches und den literarischen Inhalt verschaltet und im Anagramm des Autornamens gipfelt, führt zu den ›ikeaesken‹ Stanzungen auf der Rückseite des Umschlags: Hier feiert ein weiteres Anagramm, »FLORENA HORAZ«, das Buch als »VERBLUEFFEND«.50 So wird der Umschlag zum Vermittler von Materialität und Bedeutung bzw. der Peritext zur äußerlichen Instanz, die in das Innere eingeflochten und von diesem nicht trennbar ist. Die qualitative ›Symmetrie‹ von Ding (Materialität) und Zeichen (Bedeutung) steht am Ende einer Übersetzung, die durch den Umschlag führt, der so

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Latour: Die Hoffnung der Pandora (Anm. 42), S. 380. Horzon: Das weisse Buch (Anm. 45), S. 4. Ebd., Umschlag.

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zur Oberfläche und Medium von Ornamenten wird. Durch die Inkonsequenz und die damit einhergehende visuelle Irritation fällt zudem die Schreibung von MOEBEL HORZON REGALWÄNDE als Teil der Übersetzungskette auf. Daß es auch hier um Symmetrie geht, verrät der Erzähler in Das weisse Buch: Währenddessen dachte ich sehr intensiv über den Namen nach, den mein Möbelhaus tragen sollte. Möbel Horzon lag nah. Aber ich wusste, dass jeder Mensch instinktiv alles liebt, was symmetrisch ist. Weil der Mensch ja selbst symmetrisch ist. Also beschloss ich, auch in der Anzahl der Buchstaben strengste Symmetrie zu wahren. Darum schrieb ich das Wort ›Möbel‹ mit ›oe‹, weil es genauso viele Buchstaben haben sollte wie ›Horzon‹.51 Die angeblich ›schöne‹ Symmetrie von Möbel und Name, die ein asymmetrisches Wortgebilde schafft, stiftet primär die von Ding und Sinn. Das weisse Buch ist zunächst, vor allen hermeneutischen Operationen, ein ästhetisches Artefakt, das mit dem ebenso ontologisch wie philologisch nicht eindeutigen Status des Umschlags spielt. Dies treibt es durch die Aufforderung, einen Teil des Schutzumschlages (wobei diese Bezeichnung hinsichtlich der Funktion des Umschlags natürlich eine bodenlose Untertreibung ist), also des unterschätzten Beiwerks des Buches, abzutrennen, auf die Spitze. Als Schutzumschlag würde der Umschlag unbrauchbar (und als ästhetisches Artefakt: zerstört), aber dies mindert natürlich nicht das Gelingen der ästhetischen Operation, die die Aufforderung selbst ist. Durch die freundliche Anweisung: »Bitte hier abtrennen und sorgfältig aufbewahren«52 über einer vertikalen Perforation tritt die Unterscheidung von Gegenstand und Beiwerk wieder in das Unterschiedene ein. Ergebnis ist die Produktion eines Beiwerks des Beiwerks, oder, wenn man der Spur der Dekonstruktion folgen möchte: eines Supplements des Supplements. Auf dem Beiwerk zweiter Stufe findet sich der Hinweis, »Rafael Horzon« sei es gelungen, »mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter fast vollständig vom Markt zu verdrängen«.53 Die Ummantelung ist hier, wie im Fall der Painted Bronze, das primäre Objekt, das zu einem Spiel mit Codes und Referenzen führt. Diese Referenzen gehen über das Regal hinaus und laufen durch einen frühen Knotenpunkt der Geschichte von Pop-Musik, Pop-Art und Popliteratur. Das weisse Buch zitiert eines der wohl berühmtesten und durch seine

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Horzon: Das weisse Buch (Anm. 45), S. 90. Ebd. Schutzumschlag, Innenseite. Ebd.

Die skulpturale Form der Literatur

Reduktion spektakulärsten Plattencover der Musikgeschichte, nämlich das neunte Album der Beatles, das seinen in Großbuchstaben gehaltenen Titel: THE BEATLES auf einer perfekten weißen Fläche präsentierte: das sogenannte The White Album. Gestaltet wurde das Cover ausgerechnet von Richard Hamilton, dessen Collage Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing? (1956) als ein Ursprung der (englischen) Pop Art gelistet ist. In ihrem Zentrum steht ein Vertreter der Körperkulturistik, der statt einer Hantel einen Dauerlutscher auf Hüfthöhe trägt. Der Lollipop präsentiert auf seiner knallroten Verpackung das Wörtchen ›Pop‹.54 In die Buchform übersetzt wurde diese Covergestaltung dann durch Joan Didions Bestandsaufnahme der kalifornischen Kultur The White Album (1979). Von hier aus führt die Kette der Referenzen dann zu Bret Easton Ellis’ Buch White (2019) und so zu einem Autor und seinem Best-Selling-Product American Psycho, einem Roman, der, aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung mit Marken und Lifstyles sowie seiner Nähe zu Massenmedien (wie dem Magazin GQ), häufig genug als Prototyp popliterarischen Schreibens bezeichnet wurde und wird. Die Frage, ob dies sinnvoll ist, kann hier übergangen werden, da nur die Übersetzungen interessieren. In diese Kette aus Verweisen bringt Horzon sich durch eine Art Schleife ein, die den Ausgangspunkt wieder aufnimmt. Im Regal findet sich ein LPCoverförmiges Objekt, das analog zum Umschlag des weissen Buchs gestaltet ist. Die Ausstanzungen sind hier in folgender Form angeordnet: LUDWIG AMADEUS HORZON FEAT. PEACHES ME MY SHELF AND I55 Die Tatsache, daß dies ein weiteres Gemisch aus literarischer Hochstapelei (insofern ist das Regal, mit Blick auf den eigentlichen Wortsinn, ein äußerst passendes Objekt) und, mit Blick auf die Variation des Titels von De La Souls Hit Me, Myself and I (1989), Humor an der Grenze zum Kalauer ist, sagt nichts 54 55

Vgl. https://artsandculture.google.com/asset/just-what-is-it-that-makes-today-shome-so-different-and-so-appealing/WQGp_dXaX9kjnQ?hl=de. https://modocom.de/m_horzon/regalwaende.htm.

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über das ästhetische Potential des Objekts aus. Denn dieses bemißt sich an der energetischen Leistung bzw. dem Potential, den dialektischen Umschlag zu bewirken, von dem die Anekdote aus der Zukunft berichtet. Horzons Buch transformiert Zeitkunst in Raumkunst. Aus immaterieller Bedeutung wird eine Skulptur (das Buch), die sich zu einer Installation (das Regal mit seinen buch- und plattencoverförmigen Elementen) erweitert. Das weisse Buch ist dabei zum White Album geworden – eine Inversion, die zurück zum Anfang der weißen Cover und Umschläge führt. Diese haben, um mit der Anfangsanekdote auch zu schließen, einen festen Platz unter den letzten Künsten.

Die skulpturale Form der Literatur

Abb.1: Rafael Horzon: »Das weisse Buch« (2010), Umschlag; mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Bickenbach, Matthias, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Brokoff, Jürgen, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin. Drügh, Heinz, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Gretz, Daniela, Dr. phil., ist Akademische Rätin a.Z. am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Hahn, Torsten, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Hecken, Thomas , Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Hohlweck, Patrick, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Hottner, Wolfgang, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Jaekel, Charlotte, Dr. phil., ist Akademische Rätin a.Z. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Dortmund.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Krause, Marcus, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFGForschungsgruppe »Journalliteratur « an der Universität zu Köln. Lemke, Anja, Dr. phil., ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Neumann, Peter, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Pethes, Nicolas, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Schäfer, Armin, Dr. phil., ist Professor für Neugermanistik, insbesondere Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, an der Ruhr-Universität Bochum. Schlüter, Bettina, Dr. phil., ist Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Bonn.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3

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