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German Pages 384 [389] Year 2006
ANNA CZAJKA Poetik und Ästhetik des Augenblicks
Schriften zur Literaturwissenschaft I m Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 27
• ·
Poetik und Ästhetik des Augenblicks Studien zu einer neuen Literaturauffassung auf der Grundlage von Ernst Blochs literarischem und literaturästhetischem Werk Anhang mit unveröffentlichten oder verschollenen Texten von Ernst Bloch
Von Anna Czajka
Duncker & Humblot · Berlin
Diese Veröffentlichung wird gefördert von der Stiftung Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorf! GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-11936-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meiner Tochter Maria Haiina
Inhaltsverzeichnis Einleitung
I.
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1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
11
2. Problemstellung und Aufbau der Arbeit
27
Das rhetorisch-poetische Anliegen der Sinnbildung im Werk von Ernst Bloch
35
1. Musik, Poesie, Essay und System in der Entwicklung des Werkes
35
a) Grunderfahrung des Dunkels des gelebten Augenblicks und ästhetische Erfahrung (Geist der Utopie) b) Geschichte, Gegenwart und Ungleichzeitigkeit (Thomas Durch die Wüste, Erbschaft dieser Zeit)
35
Münzer,
c) Literarische Aufsätze
47 56
d) Bilder im System und in der Enzyklopädie (Logos der Materie, Das Prinzip Hoffnung) 63 2. Probleme und Perspektiven der Rezeption II.
Spuren - das Buch des „narrativen Denkens"
70 79
1. Das Erzählbuch und die Schwierigkeiten seiner Zuordnung
79
2. „Fabelnd denken" und die Dialektik: Bin-Selbst
83
3. Charakteristik des Buches
85
4. Erste Annäherung an die Poetik von Spuren: die Reise des unruhigen Bin durch die „noch unfertige Welt" 5. Entstehungs- und Textgeschichte
92 96
6. Zur Rezeption: zwei Kreise der Spuren-Forschung
100
7. Der neue Ansatz
111
III. Begegnungen mit den Texten und ihrer Sache
115
1. Das Kleine
115
2. Schein und Wiedererkennen, Blendwerk und Glanz
125
3. Das Leben in fieri und sein Sinn
143
4. Die Natur als Andersheit und als Bild
161
5. Probleme der Identität: Denken oder Tun und die Weisheit der Musen Gegenwärtigsein und Glück im Bild 177 IV. Poetik des Augenblicks am Werk 1. „Abfall" und „komisches System" - Das Material des Erzählens
190 190
Inhaltsverzeichnis
a) Peripheres zentral: vom Geheimnis des Grashalms zu Schmutz und Märchen 190 b) „Schwebende Stoffe", „fahrende Leute" 192 c) „Abseits geht's auf: Intertextualität 195 d) Komische Formen - Formen des Glücks 197 e) Gegen die Kahlheit der modernen Kunst 206 2. „Das Spiel der Blicke" - Die Konstruktion des Erzählens 211 a) Das Selbe im Anderen - Die Kraft der Verfremdung 211 b) „Flüchtig" und „wie am Sockel": Rhetorik der Nacherzählung 215 c) Der sich verändernde Blick - Jeweilige Fügung um das Bin 226 d) Architektonik des Gelungenseins 236 3. Das „Unerhörte" des Menschseins - Funken des Wesens a) Das Wiedererkennen und der tönende Augenblick b) „Der lange Blick" in der Wortkunst - Rückkehr ins Jetzt und Augenblick der Konkordanz c) Kombinatorik des Humanum - Das „Durchtönen des Staunens und des Endzustands" d) Augenblick als Höchstes Gut - Bruch und Wunder e) Die „Moral" des Erzählens im Wesensbild (ästhetische Vernunft) Blochs Poetik im Streit der literaturwissenschaftlichen Augenblickskonzepte 1. Augenblick und Dichtung: ein Problem der Literaturwissenschaft 2. Still belebende Augenblicke: Jahrhundertwende bei Hofmannsthal (1902) 3. Ohnmacht des Augenblicks in Lukâcs' Theorie des Romans (1920) 4. Lichtung des Augenblicksdunkels bei Bloch a) Sinnschichten und -richtungen des Augenblicksbegriffs b) Dunkel, Triebe, Affekte und Träume; Hoffnungsbilder c) Lichtung in Erzählung und Bildern 5. Augenblickskonzepte in der Literaturforschung und -theorie a) Epiphanie in der Immanenz bei Joyce und in der neueren Literatur (Ziolkowski 1961, Höllerer 1961, Erzgräber 1980, Zaiser 1995) b) Plötzlichkeit und absolutes Präsens (Bohrer 1978, 1981, 1994) c) Ekstatische Seinspräsenz (Wohlfart 1983, 1986) d) Mystischer Spiegel der Präsenz bei Rilke (Wagner-Egelhaaf 1989) .. e) Selbstauflösung und -begegnung bei Celan (Ledanff 1981, Vollbrecht 1989) f) Ewiger und prägnanter Augenblick bei Goethe (Anglet 1991) g) Front der Mobilmachung bei D'Annunzio (Gumbrecht 1996) h) Momente innerweltlicher Transzendenz bei Richardson (Kilian 1997) i) Ekstatisches Ewigkeitserlebnis bei Benn (Hillebrand 1999)
238 238 239 243 246 250 252 252 253 257 261 261 263 271 282 282 286 290 295 299 306 315 318 320
Inhaltsverzeichnis
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6. Vielfalt und Dialektik der Augenblicksbilder bei Bloch: Konfrontation und Fazit 322 VI. Zusammenfassung und Schluß 1. Ein Philosoph erzählt 2. Erzählen und Augenblick, Rehabilitierung des Subjekts 3. Rettung des Erzählens und der Philosophie 4. Emanzipation des Bildes 5. Zum Schluß: Für eine Poetik des Menschseins
329 329 330 334 338 340
Anhang
344
Literatur
358
Bildtafeln
nach 374
Namensregister
375
Einleitung 1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht Die vorliegende Arbeit entspringt der Sehnsucht nach einer wahrhaftigen und wesenhaften Selbst- und Wirklichkeitsauffassung. Auf der Suche danach blieb ich immer vom Werk von Ernst Bloch gefesselt, vom „adäquaten Ton", den ich daran spürte, vom „Geheimnis" seiner Sprache und Schreibweise, die weder in den philosophischen Teilen des Werkes noch in dessen Rezeption eine zufriedenstellende reflexive Darstellung gefunden haben. Die Anziehung durch das „Geheimnis" Blochs ist noch größer angesichts der Ästhetisierung unserer Wirklichkeit und angesichts der Bedrohung ihrer Existenz, in der die Frage nach der Bewahrung des Menschseins, auf die Bloch eine poetisch-ästhetische qualitative Antwort gibt, eigentlich die einzige geblieben ist. Das Interesse für Blochs poetisches Wort blickt auf vertrocknende Äste der Blochforschung zurück. 1 Die poetisch-sprachliche Seite an Blochs Werk brachte sie überhaupt meistens in Verlegenheit. Die namhaften Philosophen erkannten an ihr Symptome von Unwissenschaftlichkeit und Methodenmangel; nur selten nahm man ihre außerordentliche Wahr-sagung zur Kenntnis, denn selten ist die Verbindung von ästhetischer Sensibilität und philosophischem Scharfsinn, die dem Werk von Bloch in dieser seiner Doppelheit gerecht werden kann.
1 Zu den Ursachen dieser Lage habe ich mich mehrmals geäußert, s. Ein kleines Athen der Humanität, in: Schwäbisches Tagblatt, 15.9.1994, und: Die Topik des Menschseins. Ernst Blochs poetisch-rhetorische Bilder, in: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, hg. von Thomas Schirren und Gert Ueding, Tübingen 2000, 467, Anm. 2. Zu diesen Ursachen gehört die politische Vereinnahmung des Werkes von Bloch und infolgedessen die Desavouierung seiner Philosophie nach dem Zusammensturz des realen Sozialismus. Eine weitere Ursache ist die Proklamierung des posthistorischen Zeitalters und die Verbreitung der postmodernen Ideologie der endgültigen Auflösung des Subjekts, der Unmöglichkeit von Sinn und Systemhaftigkeit. Die interne Ursache für die Vertrocknung der Blochforschung (die sich mit der der unzufriedenstellenden externen Rezeption verbindet, s. u. in der Einleitung) ist u. a. die erstaunlich lange - im Vergleich etwa zu Heidegger oder Walter Benjamin - ausbleibende philologisch-kritische Arbeit an Blochs Texten; ein Umstand, der zu unwiederbringlichen Verlusten geführt hat. Diesem Mißstand versucht man mit Veröffentlichungen wie Logos der Materie (LM) entgegenzuwirken. - Die Literaturangaben erfolgen, wenn möglich, mit Verweis auf entsprechende Verzeichnisse und Siglen im Literaturteil der Arbeit.
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Einleitung
Von den Aussagen zur Sprache und Poetizität von Bloch sind diejenigen am adäquatesten, die selbst poetisch sind und die charakteristischerweise schon ziemlich weit in der Vergangenheit zurückliegen. Margarete Susman, die Mitgestalterin der Sprache von Bloch, konnte sie, wissend und genial, eine des „bildlich-ontologischen Denkens" nennen.2 Walter Jens schrieb 1959 in einer der ersten Besprechungen von Das Prinzip Hoffnung von Blochs Hauptwerk als von einem „Dokument geheimnisvoller Poesie".3 Hans Mayer sprach von Blochs „poetischer Sendung".4 George Steiner rechnete Blochs Schreibkunst dem „pythagoreischen", mit magischem Gestus das Chaos beschwörenden, musikalisch-mathematischen Genre zu. Im Urteil über seine literarische Qualität stellte Steiner Bloch neben die größten Meister der deutschen Sprache: Bloch's earlier prosa has its own abrupt lyric insistence. In Bloch's mature style, there are pages we can set beside Hölderlin and Nietzsche for their subtle brightness.5 Dem Geheimnis der Sprache Blochs versuchte man über die Herstellung einer Entsprechung zu Elementen seiner Philosophie nachzugehen. Max Bense erklärte Blochs Sprache für die „kühnste Konzeption dialektischer Kunst- und Denkprosa unserer Epoche" und definierte sie als Prosa der neuen Seinsthematik, die sich, bei Bloch wie bei Heidegger gemeinsam, im „Horizont der Zeitlichkeit des Daseins" abspielt, im Modus der Möglichkeit und Zukünftigkeit. Sogleich aber weist Bense, in der Situation der in den fünfziger Jahren regen Diskussion um Heidegger, auf den für Sprache und Poetik entscheidenden Unterschied zwischen beiden Möglichkeitsauffassungen hin. Während für Bloch die Möglichkeit den Horizont des „Machens", der Verwirklichung, der Positivität des - von sprachlich ausgedrückten Antizipation geleiteten - Erfüllens, den Horizont also der Realzeit gibt, ist der Zeitlichkeitshorizont bei Heidegger leer, er ist einer des Seins-zum-Tode, der bloß explizierten Idealzeit.6 Früh verband auch Hans Heinz Holz Blochs Sprache mit dem Möglichkeitscharakter der Philosophie der Hoffnung. 1955 schrieb er über die Bedeutung des metaphorischen Sprechens, daß dessen Hauptaufgabe die „Herstellung eines Bildes für ein Un2
Margarete Susman: Rezension Geist der Utopie (1919), EBE, 390; zu Margarete Susmans Einfluß auf Blochs Stilbildung siehe Briefe an Johann Wilhelm Muehlon, Br 243. 3 Walter Jens: Auch Philosophie gehört zur Literatur (1959), LitL. 4 Hans Mayer: Ernst Blochs poetische Sendung, LitS. 5 George Steiner: The Pythagorean Genre, 342, LitL. Später relativiert Steiner dieses Urteil, indem er seinen Aussagen über Bloch eine Prise von Boshaftigkeit beimischt. Zu der vom Expressionismus beeinflußten Schreibart Blochs heißt es, daß deren Stilmittel „heute gleichermaßen berühmt und veraltet" sind. Blochs Bücher „gehören geradeso zur Geschichte der Rhetorik wie zur Geschichte der Philosophie oder der Polemik", Steiner: Träume nach vorwärts, 199, LitL. 6 Max Bense: Ernst Blochs Prosa, LitL. Blochs Sprache wurde später Gegenstand einer semiotischen Untersuchung nach der Methode, die Bense entwickelt und verbreitet hat, s. Renate Kübler: Metapher als Argument, LitL.
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
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anschauliches" sowie die Leistung der dichterischen Worte sei, die in der „Verflüssigung" des Begriffs besteht.7 In Logos spermatikos betont Holz die Wichtigkeit der Sprache für „jede originale Philosophie" und analysiert einige Charakteristika von Blochs Sprache. Die Funktion der kurzen einleitenden Sätze bestimmt er als eine dialektische: „eingefahrene Begriffe werden darin entlarvt und schlagen in ihr Gegenteil um". Die sprachliche Fassung des Umschlagens regt durch ihr Ungewöhnliches zum Denken an; die knappen Sätze bringen „eine schwer überschaubare Vielheit auf die Einheit eines Sinnes".8 Dieselbe Funktion hat Blochs Syntax, die Holz „exakte Phänomenologie auf engstem Raum" nennt.9 Blochs Bilder betrachtend definiert er sie als „Bedeutungen von Möglichkeiten" und damit als den „eigentlichen Gegenstand" dieser Philosophie; ihrem Darstellungsmodus nach seien sie der Verkündigung als Gestus der Religion zuzurechnen. 10 Mit Gert Ueding verdeutlichte sich das Interesse für Blochs „Literaturtheorie" und ihre Entwicklung. Ueding untersucht einige wichtige Momente von Blochs Literaturauffassung, die sich in auseinandergehenden Literaturzweigen „profiliert" haben, wie etwa Mündlichkeit und Montagecharakter vorwiegend in der Kolportageliteratur und das Traumbild vornehmlich im Bereich der großen Romane. Aus Uedings Arbeit zur Kolportage reicht in die literaturwissenschaftliche Gegenwart die These vom Überdauern des Menschendrangs zur Erfüllung im „Niedrigen" (des Stoffs und des Aufbaus) herüber. 11 Seine Studie zur Traumliteratur enthält wegweisende Bestimmungen für eine anthropologischphilosophisch fundierte Poetik, in der die zentrale Stellung und Bedeutung dem rhetorisch-poetischen Bild zukommen: Der Traum ist die Projektion eines Bildes, das den Träumer eine bislang verborgene Seite seiner selber handelnd erfahren läßt, und er gewinnt daraus seine Überzeugungskraft. Von ihr lebte die Rhetorik. Nicht Überredung war ihr Ziel, sondern die sprachlich und charakterlich vollkommene Vorstellung eines gewünschten Zustandes im Bewußtsein der Zuhörer, die Erzeugung einer zwingenden psychischen Realität, die schließlich ihre Praxis bestimmt.12 Die Suche nach philosophischer Grundlegung der Kunsttheorie aus der Erfahrungsweise des Traums führte Ueding zur Beschäftigung mit Blochs Ästhetik. 7 Hans Heinz Holz: Das Wesen metaphorischen Sprechens, 103, 119; ders.: Der Philosoph Ernst Bloch und sein Werk „Das Prinzip Hoffnung" (1955), beide LitL. 8 Hans Heinz Holz: Logos spermatikos (1975), 42, 43, EBA11. 9 Ib., 46. 10 Ib., 47 f. 11 Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage (1973), LitL. 12 Gert Ueding: Traumliteratur. Über literarische Erfahrung und ihre Wirkung, 255. s. Hans Holländer: Der Vorbildcharakter des „Vor-Scheins", auch in der Sprache (1975), beide LitL.
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Einleitung
Die Zeiten waren vorbei, wo man Bloch seine Ästhetik (manchmal treffend erkannt in ihrem metaphysischen Zug) beinahe als Laster angerechnet hatte. 13 Blochs ästhetische Ansichten wurden gerade in einem neomarxistischen Kontext interessant. Gianni Vattimo in Turin las über Blochs frühe Ästhetik von einem ontologisch-hermeneutischen Standpunkt aus. 14 Heinz Paetzold rang zwischen den „reduktionistischen" Polen von Marxismus und Hermeneutik um eine Ästhetik, die den „Geist der emanzipatorischen Gesellschaftskritik" kritisch-utopisch reflektierte. Paetzold rekonstruierte die Etappen der Selbstbegründung der Utopie in Blochs Werk und faßte sie in ontologisch-geschichtsphilosophischen Rahmendefinitionen, die übrigens nach seiner Ansicht Blochs philosophisch überholte Beziehungen u.a. zur Romantik bloßlegten. Die wichtigste Schwäche Blochscher Ästhetik sei, Paetzold zufolge, die mangelnde Legitimation des Erkenntnis- und Wahrheitsanspruchs der Kunst und der ästhetischen Erfahrung gegenüber der empirisch vorhandenen Gesellschaft. 15 1974, im Jahr des Durchbruchs zur Ästhetik, erschien Ästhetik des Vorscheins, ein „Kanon" (in zwei Bänden) von Blochs ästhetischen Schriften, herausgegeben von Gert Ueding. 16 Die Ästhetik bedurfte im Zeitalter des „Endes der Kunst" der Legitimierung, und Ueding übernahm - in der Einführung zum ersten Band - die nicht leichte Aufgabe, ihre Wege vorzubereiten. 17 Er präsentiert zunächst Blochs Ästhetik als spezifische Reflexion des Kernproblems seiner utopischen Philosophie. Utopie übt hauptsächlich im Bereich der Ästhetik ihre kritisch-antizipatorische und verwesentlichende Funktion aus, indem sie „verschiedene Weisen des Scheinens" entwickelt. Ueding weist den objektiven Charakter der utopischen Funktion auf und unterstreicht gleichzeitig die Unverzichtbarkeit der Subjektivität, des individuellen Schaffensprozesses. Auf den Werkprozeß konzentriert sich der zweite Band der Ausgabe.18 In der Einleitung rekonstruiert Ueding Blochs Traumtheorie und analysiert sie in Abgrenzung von Freud. 19 Er behandelt die von Bloch erkannten Phasen künstlerischer Produktivität und geht - Vergleiche mit Proust, mit dem Surrealismus herstellend - auf den Werkprozeß ein: auf die Stoffwahl, den Aufbau (Verfremdung und Montage) als „durchgängige Bestimmungen ästhetischer Aktivität" in verschiedenen Kunstarten, die in der Hervorbringung von Vor-Schein als „Begriff der ästheti-
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So noch nach den DDR-Philosophen bei Otto Karl Werckmeister, LitL. Gianni Vattimo: Arte e utopia. Corso di estetica dell'anno 1971-72, LitL; Una teoria utopica della letteratura (1971), LitL. 15 Heinz Paetzold: Neomarxistische Ästhetik (1974), LitL. 16 Ernst Bloch: Ästhetik des Vor-Scheins, Frankfurt a. M. 1974. 17 Gert Ueding: Blochs Ästhetik des Vor-Scheins, LitL. 18 Gert Ueding: Tagtraum, künstlerische Produktivität und der Werkprozeß, LitL. 19 Diesen Ansatz entwickelt später Marianne Wurth: Antizipierendes Denken: Ernst Blochs Philosophie und Ästhetik des Noch-Nicht-Bewußten im Zusammenhang seiner Freud-Kritik (1986), LitL. 14
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
15
sehen Gestalt des ungewordenen Möglichen in einem prozeßhaft bewegten Wirklichen" bestehen.20 Uedings Beschäftigung mit Blochs Literaturauffassung hat die gattungsspezifischen Interessen für das Märchen, für die Trivialliteratur, für das Fragment aufgefangen und entwickelt. 21 Jack Zipes erkannte in Bloch einen der wenigen Philosophen, die die Bedeutung der „populären Kultur" - als Bewahrungsort des „elastischen utopischen Kerns" - erfaßt haben. Er behandelt Blochs Ansichten im Kontext der vielsträngigen, meist historisch-empirisch verfahrenden angelsächsischen und deutschen Forschung zur Populär- und Massenkultur. Durch diese Art der Behandlung wird der historisch-empirischen Forschung ein politisch-philosophischer Rahmen verliehen und gleichzeitig die Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit von Blochs Thesen bewiesen.22 Ins Zentrum seiner Rekonstruktion von Blochs Ästhetik (die die englischsprachige Ausgabe einer Auswahl von Blochs Schriften einleitet) stellt Zipes, Ueding folgend, den Vor-Schein (anticipatory illumination) und präsentiert seine Problematik in Anlehnung an Kant und Hegel. Dem Vor-Schein wird die Funktion einer Vermittlung zwischen „populärer" und „hoher" Kunst zuerkannt, die eine Zusammensetzung von verschiedenen Gattungen und ein Ineinandergehen der Formen ermöglicht. Als Folge der gattungsspezifischen Beschäftigung mit dem Literarischen bei Bloch entwickelte sich das Interesse für dessen Verwandtschaften mit verschiedenen Kunstrichtungen. Roland Bothner (1983) 23 verfolgte die Parallelität von Blochs kunsttheoretischen Gedanken in Geist der Utopie mit denjenigen des Expressionismus (Paul Klee, Vasilij Kandinskij, Franz Marc). Er stellt eine Übereinstimmung der utopischen Philosophie mit dem Programm des malerischen Expressionismus fest; als Ergänzung zu der den Expressionismus früh vertiefenden Philosophie Blochs werden seine Beziehungen zum Surrealismus und Bertolt Brecht betrachtet. Blochs Übereinstimmung mit dem Expressionismus wird als eine Konstante in seinem Werk von Geist der Utopie bis Experimentum Mundi festgestellt (Bothner geht wie die meisten Forscher von der falschen Prämisse aus, daß Experimentum Mundi insgesamt Blochs spätestes Werk sei). Die Linie des Expressionismus in Blochs Philosophie wurde danach weiter
20
Ueding, Tagtraum, 21, LitL. Hermann Bausinger: Möglichkeiten des Märchens in der Gegenwart, in: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens, München 1963, 15-30; Jack Zipes, LitL (siehe unten); Gert Ueding: Das Fragment als literarische Form der Utopie (1986), LitL. 22 Jack Zipes: Populäre Kultur, Ernst Bloch und Vor-schein; ders.: Introduction: Toward a Realization of Anticipatory Illumination (1988), LitL. 23 Roland Bothner: Kunst im System. Die konstruktive Funktion der Kunst für Ernst Blochs Philosophie (1983), LitL. 21
16
Einleitung
fortgesetzt (Simons, Haslinger, Ujma). 24 Von dieser in der Blochforschung stark betonten Affinität scheint allerdings die Forschung zum Expressionismus kaum Kenntnis genommen zu haben. Es ist eines der zu lösenden Paradoxe an der Bloch-Rezeption, daß ganze Komplexe seines Werks, die wie die kunstphilosophische und ästhetische Grundlegung des Expressionismus [siehe Kapitel I. 1. a)] von höchstem Wert sind, nicht in umfassendere Zusammenhänge und Diskussionen (die sie fruchtbar wenden könnten) gelangten. Deshalb ist eine der Hauptaufgaben der Blochforschung, Blochs Beitrag zu den wichtigsten Problemdiskussionen unserer Zeit darzustellen. (Wobei es natürlich wichtig wäre, Blochs Schriften selbst zuerst zu erschließen.) In der Absicht, die von Ueding innerhalb von Blochs Ästhetik rekonstruierte Literaturauffassung zu präzisieren, nahm sich Hermann Wiegmann vor, Blochs ästhetische Kriterien wie konkrete Utopie, Fragment, Novum in ihrer interpretativen Funktion in den Literarischen Aufsätzen zu untersuchen. 25 Aber an dieser Arbeit - wie auch der darauffolgenden, eine ähnliche Absicht verfolgenden Arbeit von Günter Witschel 26 - zeichnet sich ein verhängnisvolles Merkmal der späteren Bloch-Forschung ab: das Auseinandergehen des werkimmanenten Anliegens Blochs und jenes seiner Interpreten. Die Formeln, die von Bloch um die Zeit von Das Prinzip Hoffnung mit der Intention, die utopische Philosophie dem Marxismus anzunähern, verwendet wurden, werden von Wiegmann ohne Bezug auf ihren werkgeschichtlichen, darunter auch poetischen und ästhetischen Hintergrund übernommen. Sie erweisen sich als zu weitmaschig und zu steif, um den Ansätzen der Literarischen Aufsätze zu genügen, ihrer (bis heute verkannten oder negierten) vielfachen Anstrengung, eine neue „Literaturtheorie" zu artikulieren. Uedings intensive Auseinandersetzung mit Blochs literarischer Produktion und Ästhetik wurde in zwei Richtungen fortgesetzt. Vor allem leitete er die Untersuchung des Literarischen und der Ästhetik Blochs als eines Vor-Scheins, als Utopie ein. Der Band Literatur ist Utopie aus dem Jahre 1978 stellte sich keine geringen Aufgaben: die Auseinandersetzung mit der damals noch wirksamen abbildzentrierten marxistischen Realismusauffassung und auf anderer Seite mit der hegeltreuen Auffassung der Literatur als sinnlicher Darstellung der Ideen. 27 Er setzte sich für eine Auffassung der Literatur als Utopie ein, d.h. als einer Darstellung und Antizipation der vernünftigen Ordnung des menschlichen Le24 Zum Expressionismus in Blochs Philosophie siehe auch Holz: Logos, LitL. Zum Expressionismus mit Akzent auf der Gnosis-Rezeption siehe Hermann Pauen: Dithyrambiker des Untergangs (1994), LitL. 25 Hermann Wiegmann: Ernst Blochs ästhetische Kriterien und ihre interpretative Funktion in seinen Literarischen Aufsätzen (1976), LitL. 26 Günter Witschel: Ernst Bloch Literatur und Sprache: Theorie und Leistung (1978), LitL. 27 Literatur ist Utopie, hg. von Gert Ueding, Frankfurt a.M. 1978.
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
17
bens, die sich als solche der Realität entgegensetzt. Eine so verstandene Utopie sah Ueding in Ciceros rhetorischem Ideal am Werk, er erblickte in ihr das Fundament der humanistischen Kultur Europas. Er hielt sie schließlich für das Zentrum einer ästhetisch bestimmten Menschenauffassung, die in Friedrich Schiller ihren Anfang hatte und derzufolge die Utopie als „besondere ästhetische Erfahrung den Menschen in jenen Zustand spielerischer Harmonie mit sich selber [versetzt], den ihm die soziale Wirklichkeit noch vorenthält". 28 In einer gründlichen Studie in seinem Utopieband behandelt Gert Ueding die Quellen und Entfaltung der Ästhetik und stellt es als die „Einzigartigkeit" der Entwicklung der deutschen Kultur dar, daß in ihr die Aufklärung im „ästhetischen Vollzug ihrer Gedanken gipfelt". 29 Ueding analysiert die erste ausgesprochene, sich selbst so nennende „Ästhetik", wie sie von Alexander Gottlieb Baumgarten in Konkurrenz zur Logik und Wissenschaft der Vernunft als Wissenschaft der Empfindung und Anschauung und in engem Zusammenhang (Begierden, Zukunftssehen) mit dem Problem der Bildung der Humanität artikuliert wurde. Dabei wird auf den Zusammenhang hingewiesen zwischen der Möglichkeitsauffassung von Leibniz und der Ästhetik Baumgartens, die die ästhetische Vorstellung (Einbildungskraft) wie das Korrelat der Möglichkeit und der Zukunft behandelt und somit die Vermittlung des Menschen mit dem Prozeß der eigenen Entwicklung initiiert, die Konzeption der „Erziehung des Menschengeschlechts", die im Deutschland des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde. Bei Schiller wird die Konzeption - über die Entdeckung der besonderen Wirkung der Kunst als Scheins der Wahrheit - zum Programm der ästhetischen Erziehung des Menschen. In ihrem Zentrum steht der ästhetische Zustand, in dem sich die Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer vereinigen, und in dem man sich wie aus der Zeit gerissen fühlt: rein und integer. Die Darstellung der Genese der Ästhetik des Vor-Scheins konnte für die Forschung eine enorme Anregung sein; sie ist es noch. Sie stellt implizit die Frage nach dem Zusammenhang von Blochs Ästhetik mit dem Erbe der deutschen klassischen Periode; 30 anders gesagt: die Frage nach der Vergegenwärtigung der unverwirklichten humanistischen Tradition Deutschlands, Hölderlins Frage nach ihrer Einlösung („Leben die Bücher noch?"), Blochs Frage nach der „Kunst, heute Schiller zu sprechen". 31 Sie erlaubt auch jetzt - beim vorgerückten Stand 28
Gert Ueding: Vorwort, 12, LitL. Gert Ueding: Die Wahrheit lebt in der Täuschung fort, 81, LitL. 30 Der Frage gingen unter jeweils spezifischen Aspekten Heinz Kimmerle: Schein im Vor-Schein der Kunst, EBPar und Wilhelm Vosskamp: „Höchstes Exemplar des utopischen Menschen": Ernst Blochs und Goethes Faust (1985), LitL, und indirekt Hans-Ernst Schiller: Die Sprache der realen Freiheit. Sprache und Sozialphilosophie bei Wilhelm von Humboldt, Würzburg 1998 nach. Die Frage taucht in der unten besprochenen Arbeit von Hansen wieder auf. 31 Siehe Blochs Aufsatz Die Kunst, Schiller zu sprechen, in: Neue Zürcher Zeitung, 2.4.1933, LA 91-96. Zur Aktualität der Frage siehe Blochs Beitrag u.d.T.: Die Ver29
2 Czajka
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Einleitung
der Forschung - die Frage nach den Gründen des Zusammentreffens der deutschen Kulturentwicklung mit der des Judentums.32 Das Thema von Bloch als Erben der deutschen klassischen Periode in ihrer Vielfalt könnte als eine der wichtigsten Problematisierungen der Blochforschung hervorgehoben werden; sie ist zudem eine, die gute Chancen hat, in eine intensive Diskussion zwischen Germanistik und Philosophie einzuführen. In demselben Band trennt Burghart Schmidt die Bindung der Utopie an die Literaturgattung des Staatsromans und erweitert ihr Verständnis zu einem der utopischen Funktion, der „Intentionalität des Bewußtseins, die über das bloße Abbilden des Wirklichen hinausdrängt", die der kulturellen Tätigkeit des Menschen, wenn auch oft verschüttet oder entstellt, zugrunde liegt, die intersubjektiv und objektiv sein kann. 33 Schmidt unterstreicht das „gestalterisch-qualitative Moment" der utopischen Funktion, das sie von den Entwicklungstheorien und vom Pragmatismus unterscheidet. Die ästhetische „Figuration der Zukunft" im utopischen Vor-Schein erschöpft sich aber nicht in der Realisierungsabsicht (sonst würde sie sich auf das Schema des zweckrationalen Denkens reduzieren), sondern das Entscheidende an ihr ist, „Zieldiskussion in Gang zu bringen, Kampf um wirklich neue Perspektiven einzuleiten". 34 Die intensive Anregung, die vom Band Literatur ist Utopie ausging, mündete in eine allgemeine Diskussion der Utopie ein. Man versuchte sie in einem großangelegten interdisziplinären Forschungsprogramm zu erfassen; dessen Resultate stellt eine dreibändige Veröffentlichung Utopieforschung aus dem Jahr 1982 dar. In den Beiträgen dieser Bände wird die Auffassung der Utopie als utopischer Funktion allgemein angenommen und produktiv eingesetzt. Der Akzent wird auf die Verzeitlichung der Utopien im 18. Jahrhundert, auf die Notwendigkeit der Utopiekritik, auf das Thema der negativen Utopien gelegt. Es wird eine Fülle von Erkenntnissen präsentiert, aber der Präsentation fehlt jede Selbstsicherheit; sie erfolgt unter dem Rückblick auf den „hoffnungsfreudigen Aufbruch der sechziger und beginnenden siebziger Jahre" und der Konstatie-
wechslung von Gleichgültigkeit und Toleranz zum Band Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker, Reinbek 1964, 31-38. Die Frage der Erbschaft der deutschen Klassik ist in Uedings Arbeiten seit den 70er bis zu den 80er Jahre präsent, siehe u.a.: Schillers Rhetorik: idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971; Klassik und Romantik: deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815, München 1987. Siehe auch das Buch von Gerardo Cunico: Da Lessing a Kant. La storia in prospettiva escatologica (1992), LitAll. 32 Ansätze dazu sind u.a. in einem Aufsatz von Erich von Kahler zu finden: Deutsche und Juden, in: Auf gespaltenem Pfad. Für Margarete Susman, Darmstadt 1964, 159-185. Siehe auch Anna Czajka: Das „Gespräch" der Religionen und der Messianismus. Margarete Susman und Ernst Bloch, VOR 22-23, 2002, 98-116. 33 Burghart Schmidt: Utopie ist keine Literaturgattung, in: Literatur ist Utopie, 32, LitL. 34 Ib., 35.
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
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rung der gegenwärtigen „melancholiereichen Ratlosigkeit" angesichts „lebensbedrohender globaler Konstellationen".35 Man spricht von „frostigen Zeiten" für die Utopie (Ueding); 36 und die kommen dann auch unaufhaltsam. Die Utopie ist im Untergang. Der Faden der Utopieforschung wurde noch eine Zeitlang fortgesetzt. So von Klaus L. Berghahn in seinem Aufsatz „L'art pour l'espoir Literatur als ästhetische Utopie (1985), 37 in dem die Kunst in Blochs Auffassung als der „reinste Ausdruck des utopischen Bewußtseins" betont und die schon von Frederic Jameson erhobene Vernachlässigung Blochs in der Literaturwissenschaft beklagt wurde. 38 Er wollte diesem Desinteresse mit einer Zusammenstellung von Blochs Ansichten zur ästhetischen Bedeutung der Literatur entgegenwirken. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der „geisteswissenschaftlichen Geschicke", daß die so rege Utopiediskussion der 70er Jahre keine Kontinuität aufgewiesen hat, daß sie in der darauffolgenden posthistorischen Epoche wie weggewischt wirkte und daß man heute, wo die Bestimmung der Werthorizonte dringend nötig ist, auf sie gar nicht zurückgreift. Noch zu einem interdisziplinären Forschungsplan der Utopie, als sein logisches Resumé, könnte die Arbeit von Heinz-Gerd Schmitz Wie kann man sagen, was nicht ist? Zur Logik des Utopischen (1989) gerechnet werden. 39 Das Utopische ist nach Schmitz „ein hermeneutisch zu interpretierendes Symbol, das seine Wirkung der Sprache verdankt, ihrer Fähigkeit, Abwesendes anwesend zu machen". 40 Er untersucht die Herausbildung der Logik des Utopischen anhand ihrer verschiedenen Topoi, ihrer Paradoxien und bei verschiedenen Autoren der Philosophie (vornehmlich dem Kant der Kritik der Urteilskraft, aus der Schmitz die Logik des Symbols rekonstruiert). Die Wirkung der Logik des Utopischen wird in den Sprachbildungen festgestellt, in Anlehnung vor allem an die Sprachauffassung von Wilhelm von Humboldt, der zufolge die Sprache „zugleich dem Einzelnen und dem Allgemeinen Rechnung trägt, i.e. den Wörtern eine verbindliche Bedeutung verschafft und dennoch nicht der Unhintergehbarkeit der Sprache widerstreitet". 41 Die Sprache bildet in der Auffassung 35
Utopieforschung, hg. von Wilhelm Voßkamp, Frankfurt a.M. 1985 (1982), 1. Gert Ueding: Ernst Blochs Philosophie der Utopie, ib., 293. 37 Klaus L. Berghahn: „L'art pour l'espoir". Literatur als ästhetische Utopie bei Ernst Bloch, LitL. 38 Frederic Jameson: Die Ontologie des Noch-Nicht-Seins im Übergang zum allegorisch-symbolischen Antizipieren: Kunst als Organon kritisch-utopischer Philosophie (1971), LitL. 39 Heinz-Gerd Schmitz: Wie kann man sagen, was nicht ist? Zur Logik des Utopischen (1989), LitL. Es lassen sich hier Berührungspunkte zwischen dieser Linie der Utopieforschung und dem erkenntnistheoretischen Interesse bei Horst Hansen finden, siehe unten. 40 Ib., 24. 41 Ib., 394. 36
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Humboldts nicht einfach ab, sondern schafft eine eigene Welt, ist dialogisch und somit pluriperspektivisch und hat vor allem einen energeia-Chaiakter. Sie ist „kein Werk (Ergon), sondern Thätigkeit (Energeia) [...]. Sie ist [...] die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen". 42 Sie vollzieht die Einheit eines „objectiv einwirkenden]" und ihres „subjectiv gewirkt[en] und abhängig[en]" Charakters. 43 Die Arbeit von Schmitz verbindet die Linie der Untersuchung des Utopischen mit der des in Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft aufgefaßten Ästhetischen und beide mit der Humboldtschen Sprachauffassung. Sie bestätigt somit in der Produktivität solcher Verbindungen - die Notwendigkeit des Rückgriffs auf die deutsche Klassik. 44 Es wird durch sie auch ein blinder Fleck der Forschung sichtbar; denn obwohl man auch die Bedeutung der Kunst als des Utopischen bei Bloch unterstrichen hat, so ist noch niemand der Frage auf den Grund gegangen, wie dieses Utopische künstlerisch bei Bloch beschaffen ist. 45 Oder: wie wird es „gemacht?" 46 Eine Frage, die lange auf ihre Zeit warten
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Zitiert nach Schmitz, ib., 406-407. Ib., 407. 44 In ihrem Bezug auf Kant verweist die Untersuchung von Schmitz auf die Arbeit von Hansen und im Rückgriff auf Humboldt auf die oben erwähnte Arbeit von H.-E. Schiller (der in Humboldts Sprachauffassung wie Schmitz die Rettung für Bloch vor den Problemen des Identitätsdenkens suchte). Schmitz behandelt auch das noch zu lösende Problem der Utopie zwischen dem Sein und Sollen oder der Poesie und der Ethik, auf welches in dieser Arbeit wiederholt eingegangen wird, z.B.: V. 5. e), V. 6., VI. 5. 45 Hartnäckig wirkte die einmal gefaßte Überzeugung, daß Bloch „keine spezifische Literaturtheorie entwickelt hat", Wiegmann, 12, LitL und Berghahn 7, LitL; sie könnte in diesem buchstäblichen Sinne nur stimmen, wenn man bei Bloch nach Texten unter diesem Titel suchte. Manche sprechen auch von Abwesenheit einer Ästhetiktheorie (Zipes: Introduction, VIII, LitL). Bislang wurden in der Blochforschung manche Aussagen des Philosophen trotz ihrer evidenten Präsenz übersehen. So stand Blochs Werk wie ein Riesenschiff in der Kultur des vergangenen Jahrhunderts und man holte sich von ihm, in kleinen Schaluppen, jeweil andere Teile, die benötigt wurden, dabei die genuinen Zusammenhänge übersehend. 46 Versuche in dieser Richtung unternahm Hans Mayer in seiner Bestimmung von Blochs literarischem Vorgehen als einer Verbindung der Stile des Detektiv- und Künstlerromans, Hans Mayer: Ernst Blochs poetische Sendung (1965), LitS. Eine Annäherung an den von Martin Walser apostrophierten „Bloch-Ton" (Martin Walser/Wolfgang Harich: Ernst Bloch - nie war ein Linker weniger borniert gewesen, 1978, EBÜ) unternimmt Peter Zudeick. Im Stil eines sich auf das sprachlich Gebildete beziehenden Denkens stellt er einige Konstanten fest: Anschaulichkeit, Praxisbezug, Dialektik, Spontaneität und Witz. Das rekonstruierte Kompositionsschema in Blochs Texten ist der Ausgang von einem kleinem Kernsatz und seine Einholung am Schluß. Die Hauptaufgabe von Blochs Stil formuliert Zudeick als die Artikulation des noch nicht Gedachten. Dank der Priorität der sprachlichen Exploration kann Blochs Philosophie eine des „Hautnahen, Irdisch-Realen des Möglichen" sein, Peter Zudeick: Im eigenen Saft (1981), LitL. 43
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
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mußte. Denn die Blochforschung ging Wege, die sie im Endeffekt von Blochs Werk als solchem entfernten. An der Sekundärliteratur zu Bloch in der „nachutopischen" Periode ist auffallend, daß in ihr Bloch selbst sekundär behandelt wird, daß sein Werk, bevor es noch erschlossen ist, herangezogen wird, um andere Gedankenhaltungen zu erweitern, zu korrigieren, anzuregen oder zu legitimieren. Gérard Raulet legte die Philosophie von Bloch zunächst als eine objektivreale Hermeneutik aus, die als solche das „Aktivierungsprinzip der Dialektik" der marxistischen Geschichtsphilosophie darstellen sollte. 47 In der Situation der „gehemmten Zukunft" sollte allerdings die Geschichtsphilosophie, die nach Raulet Benjaminisch in die Naturgeschichte zurückfällt, durch eine postontologische „Philosophie der symbolischen Formen", der Realallegorien, ersetzt werden. 48 Die Realallegorien sind für Raulet „Kristallisierungen der Ungleichzeitigkeit" mitten in der zeitlosen, verräumlichten Wirklichkeit. Ihnen nachzugehen bietet noch die Möglichkeit, der Suche nach der Heimat innezuwerden und sich damit den „Strategien des Vergessens" und der „erpreßten Versöhnung", die die Postmoderne entwickelt, zu stellen. Raulet befaßt sich mit den Realallegorien in den Naturbildern und im Ornament der bildenden Kunst, vornehmlich der Architektur. Naturbild, Landschaft, Darstellungen der Vermittlung zwischen dem menschlichen Subjekt und der Natur, bieten eine doppelte Ungleichzeitigkeit: diejenige des Subjekts in bezug auf die Natur und die der „absoluten Ungleichzeitigkeit" der zeitentrückten Versöhnung. Als Vermittlungsbilder zwischen Subjekt und Natur und auf die Geschichtsphilosophie bezogen sind sie „Chiffren unserer Praxis" und enthalten in sich das in der Geschichte sehr differenzierte Spannungsverhältnis zwischen Tiefe und Breite, Ferne und Nähe. In den Versöhnungsbildern des Menschen und der Natur, wie sie vornehmlich die Gartenkunst bietet, wird nach Raulet der Versuch vollzogen, die Ästhetik und die Praxis, die Kant auseinanderhält, synthetisch, Rousseau folgend, zu erfassen. An einem anderen versuchten „Wohlklang mit der Außenwelt", der Architektur, kommt die Bedeutung des Verhältnisses von beiden Tätigkeitsarten des Subjektes in Sicht: Technik und Ornament. Raulet überlegt, wie dieses Verhältnis positiv wirken könnte in der Situation der Postmoderne. Diese Situation charakterisiert er als eine der fortgesetzten Entwicklung der Technik und der Handhabung der ornamental artikulierten emanzipatorischen Ansprüche der Geschichte zum Zweck der Herstellung des Zustands einer „erpreßten Versöhnung". Er schlägt in Anknüpfung an den von Bloch in Geist der Utopie rezipierten „wilden" Zug 47 Gérard Raulet: Hermeneutik im Prinzip der Dialektik (1975), LitL; ders.: Der dritte Hiob. Zu Ernst Blochs dialektisch-materialistischer Hermeneutik (1978); beide LitL. 48 Ders.: „Blochs Ontologie des Noch-Nicht-Seins". Postontologische Hermeneutik als Philosophie der symbolischen Formen (1986); ders.: Gehemmte Zukunft (1986); beide LitL.
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Einleitung
im Expressionismus (Wiederbelebung der Kunst der Primitiven, der Kinder, des Handwerks) eine ästhetische „positive Barbarei" vor, mit deren „neuer Unruhe" aus der Leere einer abstrakten Verstandesrationalität ein Neubeginn gewonnen werden könnte. Diese von Raulet nicht näher bestimmte „neue Barbarei" sollte - eher im Sinne Adornos - dem ästhetischen Objekt den Vorrang zuerkennen und es in den technisch bedingten Prozeß und dessen „erhabene Flucht nach vorne" kritisch einschreiben. Aber der Widerstand der zu ästhetischen Objekten uminterpretierten Blochschen Realallegorien wird nicht überzeugend dargestellt: Diese Position bleibt beim „ausgelöschten Subjekt", bei der Deontologisierung (gleichbedeutend mit der Beziehungslosigkeit) stehen. Sie verkennt damit die Hauptmomente von Blochs Philosophie: die Selbstbildung des Subjekts, die Sammlung und vernunftmäßige Ordnung der zerstreuten Wirklichkeit, das verwesentlichende Erbe der Vergangenheit, die Konzentration der Zeitlichkeit auf ihre in den ästhetischen Gebilden vorscheinende Substanz. Sichtbar werden dafür die mit der Postmoderne scheinbar kongruierenden Züge, z.B. die bloß disseminative, ausstreuende Funktion der Allegorien, während sie bei Bloch ausstreuend sind, um zu konzentrieren. Die von Raulet vorgeschlagene Lektüre der Postmoderne mit Hilfe von Blochs Realallegorien (die doch systematisch-praktisch verankert sind), würde das negativ-dekonstruktive Programm der Postmoderne auflösen; stattdessen wird Bloch, von der Postmoderne her gelesen, um sein Hauptanliegen gebracht. Und die Hermeneutik der Geschichtsphilosophie hebt sich in Raulets „Philosophie der symbolischen Formen" auf. Vom Standpunkt der noch zu „rettenden" Moderne bezog Christina Ujma in ihrem Buch Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus und Marxismus Blochs literarisch-essayistische Produktion aus den Jahren 1928— 1935 auf den in dieser Zeit unternommenen Versuch der linken Denker jüdischer Herkunft, ein neues philosophisches Projekt zu konstruieren. 49 Das Projekt sollte nicht mehr auf dem Totalitätsgedanken basieren, wie noch in der Auffassung von Lukâcs' Geschichte und Klassenbewußtsein, sondern auf der Abwendung davon, durch die Reflexion seines Zusammenbruchs und die Konzentrierung auf Unterbrechung, Vielfalt und Alinearität der Entwicklung. Beim Aufbau des Projekts bemerkt Ujma eine „wohl größte Nähe zwischen Intellekt, Poesie und Marxismus" und konkret Beziehungen der Philosophen zum Expressionismus, Surrealismus und Avantgardebewegung überhaupt. An die Ergründung dieser Beziehungen bei Bloch geht die Autorin mit der aus der Diskussion um den Marxismus der 80er Jahre gewonnenen These von der ästhetischen Erweiterung der Moderne heran. 50 Das Vorverständnis der Modi dieser Erweiterung stützt sich auf Erkenntnisse aus dem Werk von Walter Benjamin und wird 49 Christina Ujma: Ernst Blochs Konstruktion der Moderne aus Messianismus und Marxismus (1995), LitL. 50 Vgl die Arbeit von Gudrun Klatt: Vom Umgang mit der Moderne. Ästhetische Konzepte der dreißiger Jahre, Berlin 1984, LitL.
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
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auf andere Autoren übertragen. Aber ein solcher Zugang zu Blochs Schriften verstellt den Blick auf deren eigentliches Anliegen. So konnte es in Ujmas Untersuchung, auch aufgrund Lücken in der Forschung, zu vielen Fehleinschätzungen in der Werkgeschichte Blochs kommen, wie zum Beispiel Behauptungen, Blochs literarisches Interesse sei erst in den 20er Jahren erwacht, eine Rückkehr zum System sei für ihn nach den 20er Jahren unmöglich, die literarischen Aufsätze seien ein Ausdruck der Hingabe an das Asystematische. Gerade der Vergleich der früheren Versionen der Aufsätze, auf die die Autorin zurückgreift, und die Einsicht in den sie kommentierenden Briefwechsel Blochs mit Kracauer, zeigt, daß Bloch, gegen die Tendenz seiner Zeitgenossen, auf einem Ordnen der Vielfalt der Erscheinungen im „offenen", der sich ausbreitenden Beliebigkeit entgegengesetzten System besteht. Es gelingt Ujma nicht, trotz des angesammelten attraktiven Materials und mancher glücklichen Beobachtungen (z.B. zur Wechselwirkung von Erbschaft dieser Zeit und Passagen-Werk), den Dialog und die Unterschiede zwischen Bloch und Benjamin treffend zu identifizieren (u. a. an dem literarischen Wettbewerb zwischen beiden Autoren). Bloch ist in Benjamins Kleidern, als „Lumpensammler", nicht wiederzuerkennen. Zu viel Aufmerksamkeit wird auch oberflächlichen Betrachtungen (z.B. über die Entlehnungsaffären zwischen den Autoren) gewidmet. Zu dem so wichtigen Bezug Kunst-Philosophie wird zwar die Behauptung Sandor Radnótis angeführt, wonach Bloch der erste Denker gewesen sei, der die künstlerische Avantgarde philosophisch fundierte, 51 aber die Beziehung des Philosophen der Hoffnung zum Expressionismus wird lediglich in der „brachialen Rhetorik, der unbedingten Rechthaberei und dem unerbittlichen Sendungsbewußtsein"52 erkannt (es verwundert dann, wieso Bloch überhaupt „Denker" genannt wurde). Ohne die Absicht, Inhalte und Geschichte des Werkes eines Autors zu erkennen, lassen sich schwer Vergleiche anstellen. Der Standpunkt des Buches von Günther K. Lehmann Ästhetik der Utopie wurde aus der deutschen Zeitgeschichte gewonnen und der in ihrem Wendepunkt im Jahre 1989 akut gewordenen Frage nach der deutschen Identität. 53 Diese Frage lenkte die Aufmerksamkeit des Verfassers auf die Werke einiger Autoren der nachhegelschen Zeit: Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, Georg Simmel, Max Weber und Ernst Bloch im Hinblick auf ihren Bezug auf etwas Unfaßbares, Unbegreifliches im Nirgendwo, das Lehmann für Utopie hält und das über diesen Bezug die Geschichte zum Fortschritt anregt. Der Bezug zum Unfaßbaren vollziehe sich im Ästhetischen; seine Mittel seien Mythos, Märchen und Erzählung: er bedeute eine Absage an herkömmliche Begrifflichkeit und jeden Ordnungszusammenhang. Von diesem Standpunkt aus werden 51
Sandor Radnóti: Bloch und Lukâcs: Zwei radikale Kritiker in der gottverlassenen Welt, in: Die Seele und das Leben, hg. von Agnes Heller u.a., Frankfurt a.M. 1977. 52 Ujma, 288, LitL. 53 Günther K. Lehmann: Ästhetik der Utopie (1995), LitL.
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zentrale ästhetische Figuren und biographisch festgemachte Grunderlebnisse der behandelten Philosophienwelten evoziert. Bloch erscheint als „kleiner Junge, der sich nach Hause wünscht". Er geht entsprechend der bei der Lösung der Alternative Mythos oder Logos „geopferten Freundschaft" (mit Lukâcs) „in die weite Welt hinaus" und kann, dem Merkwürdigen, Verqueren folgend, auf das Mütterliche fixiert und ins Märchen verliebt, nicht mehr heimkommen. Die gutgemeinte Nacherzählung der Begebenheiten des „hoffnungsfrohen Weltabenteurers Ernst Bloch" enthält leider viele oberflächliche und unstimmige Feststellungen sowie stets wiederkehrende Gemeinplätze über utopische Philosophie (u.a. „phantastische Ordnung" im System, kein Anspruch auf Logik und Realisierung). Francesca Vidal erfaßt die Ästhetik von Bloch als die die Welterfahrung vermittelnde Instanz des utopisch-praktischen Denkens.54 Sie rekonstruiert die Funktionen dieser Instanz mit Hilfe des von Hans Robert Jauss herausgearbeiteten Konzeptes der ästhetischen Erfahrung mit dessen produktiver, kommunikativer und rezeptiver Seite. Dieser Ansatz hätte dadurch eine Erweiterung der Ästhetik der 80er Jahre, die hauptsächlich auf Gadamers Hermeneutik und auf die Kommunikationstheorie rekurrierte, erreichen können, aber die Charakteristik von Bloch bleibt unter Überspringung von vielen unumgänglichen Etappen bei solcher Bezugsnahme nicht deutlich genug. Die Forschungslinie, die sich bislang am wenigsten von Anpassungsansprüchen leiten ließ und zuverlässige Ergebnisse hervorbrachte, ist die Quellenforschung zu Bloch und zur Rezeption anderer Philosophien in seinem Werk. 55 Zu dieser Linie, in der Identifizierung nicht nur der Abhängigkeiten eines „marxistischen Schelling", 56 sondern auch des im „Gespräch" zustandekommenden Neuen über sie hinausgehend, gehört die Arbeit Die kopernikanische Wende in der Ästhetik: Ernst Bloch und der Geist der Zeit von Horst Hansen (1998). 57 Hansen erkennt treffend die bei Bloch umgesetzte Tendenz von Anfang des vergangenen Jahrhunderts zur Fusion der dichotomisch entgegengesetzten philosophischen Einstellungen (z.B. Leib-Geist, Materialismus-Mystik). Diese Fusionstendenz manifestierte sich nach Hansen in der Erscheinung von „Bewußtseinsformen des einheitlich als Verwirklichung des Lebens Gemeinten": zu ih-
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Francesca Vidal: Kunst als Vermittlung von Welterfahrung (1994), LitL. s. die Arbeiten von Friedrich Hartl: Der Begriff des Schöpferischen. Deutungsversuche der Dialektik durch Ernst Bloch und Franz von Baader (1979), LitL und Axel Wüstenhube: Das Denken aus dem Grund. Zur Bedeutung der Spätphilosophie Schellings für die Ontologie Ernst Blochs (1989), LitL. 56 Vgl. den einflußreichen Aufsatz von Jürgen Habermas: Ein marxistischer Schelling. Zu Blochs spekulativem Materialismus, in ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1971, 147-167. 57 Horst Hansen: Die kopernikanische Wende in die Ästhetik: Ernst Bloch und der Geist der Zeit (1998), LitL. 55
1. Ausgangsfrage und Forschungsbericht
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nen gehören vor allem Symbole. Hansen stellt sich die Aufgabe, diese Fusion im Symbol als eine „kopernikanische Wende" in der Ästhetik, eine Wende zum Qualitativen, zum Ästhetischen als Normativen, aufzufassen und sie in ihrer politischen Wirksamkeit zu untersuchen. 58 Zentraler Teil der Arbeit ist die Rückbeziehung des festgestellten philosophischen Novums auf dessen noch verborgene Voraussetzungen in der die Moderne prägenden Philosophie von Kant, und konkret die Untersuchung der Erkenntnislehre des symbolisch „einheitlich Gemeinten", in der sich die Wende zum qualitativen Denken vollzieht. Daran läßt sich die durchlaufene philosophische Entwicklung „abmessen". Hansen geht auf die Problematik des Dings an sich und die Frage nach einer gemeinsamen Wurzel der Erkenntnis ein. Er fängt beim transzendentalen Schein der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand bei Kant an, welche spontan, durch die Wirkung der Einbildungskraft zustande kommt. Diese erzeugt in der Synthesis a priori „Bilder" der Gegenstände. Das Verständnis der die Synthesis ermöglichenden Wurzel erklärt Kant - auf die Beantwortung der Frage nach dem letzten Grund vorausblickend - für ein sich den Lösungsmöglichkeiten eines vernünftigen Bewußtseins entziehendes. Hansen versucht Blochs Lösungsversuch zu folgen. Zunächst erklärt er, daß für Bloch die Wurzel noch nicht wie für Heidegger - Sein bedeutet, sondern daß das Sein erst in der Praxis zur Entwicklung und „Krone" kommen wird. 5 9 Erkenntnis erfolgt nicht im Vorhandenem, sondern im „lebendigen Eros". Die Erkenntnis fängt an mit der Überwindung der passiven Uhrzeit der äußeren Welt (einer Zeit, die nach Kant, als transzendentale Anschauungsform vom Menschen selbst erzeugt, unwandelbar ist) und in der Anlehnung an das in bedeutenden Kunstwerken erkannte konkrete Zeitanliegen. Blochs Verständnis der Wurzel basiert auf dem wahrgenommenen Drängen auf die Erfüllung des Daseins und bezieht sich auf Qualitatives in Raum und Zeit, wie es sich in den dem Mangel entspringenden Gestalten des künstlerischen Tuns äußert. Diese gestalthafte Qualität sei das real-intensiv Logische. Die „qualitativen menschlichen Quanten als Selbsterfassungen der Wirklichkeit in utopischer Evidenz" können so als Manifestationen von „dem Einen Prinzip", „als die Wurzel" verstanden werden. 60 In GU stellt Bloch dem Formalismus und Schematismus Kants die „sich lebendig entwickelnde Gestalt" als sich erzeugenden Inhalt entgegen. Die Erkenntnis fange - anstatt mit Reflexion - mit Intention an, mit dem Meinen als Akt des Bewußtseins, der auf etwas 58
Ib., 14. Zum Vergleich der Bedeutung der Poesie in Werken von Heidegger und Bloch vgl. oben die Besprechung des Aufsatzes von Bense und im letzten Teil dieser Arbeit der Abschnitt über die auf Heidegger basierende Augenblicksauffassung von Günter Wohlfart. Siehe auch das Buch von Natalie Knapp: Herz-Raum-Geschehen im Augenblick (2001), LitAug. Zum philosophischen Vergleich Bloch-Heidegger siehe Gerardo Cunico: Conoscenza dell'essere e della storia. L'ontologia processuale e il problema escatologico, in: Hermeneutica, 10, 1990/1991, 55-84. 60 Hansen, 130, LitL. 59
Einleitung
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gerichtet ist, mit der Symbolintention also, die für Bloch im Kunstwerk und in den ästhetischen Phänomenen vollzogen werden. Damit entsteht ein anderer Bezug zu Kant: zu der Kritik der Urteilskraft. Es kommt vor allem auf das Geschmacksurteil an, welches - durch Beziehung der Vorstellungen auf das Subjekt das Gefühl der Lust oder Unlust entstehen lassend - ästhetisch ist. Die apriorischen Prinzipien der Urteilskraft sind zweierlei: subjektiv-formale Zweckmäßigkeit und materiell-objektive Zweckmäßigkeit beim Lebendigen und Organischen der Natur oder entsprechend: ästhetische und teleologische Zweckmäßigkeit. Das Gefühl der Lust ist eines der Angemessenheit, der „Übereinstimmung" von Einbildungskraft und Verstand. Nicht aus dem Gefühl kann sich das moralische Tun ergeben, sondern allein aus der Achtung vor dem Sittengesetz, die selbstverständlich nicht sinnlich ist, heißt es bei Kant. Bei Bloch verhält es sich, nach Hansens Ansicht, umgekehrt: die Achtung vor dem Gesetz ergebe sich aus dem Affiziertsein vom moralischen Ding an sich. 61 Wenn für Kant die Bezugsgröße die Vernunft ist, ist es bei Bloch das Gefühl gegenüber dem mysteriösen, Triebkräfte und Sehnsucht anziehenden Ding an sich. Das ästhetische Geschmacksurteil über das Schöne (subjektive Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand) beruht bei Kant auf einem „reinen uninteressierten Wohlgefallen" und ist von der Existenz des Gegenstands unabhängig. Die Urteilskraft muß aber für ihren subjektiven Gebrauch annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen Naturgesetzen eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare genetische Einheit enthalte. Die „Teleologie" bei Kant hat freilich nur heuristische Bedeutung; die Zweckmäßigkeit „entspringt" der reflektierenden Urteilskraft, nicht der Vernunft. Was hiermit den Schlußstein von Kants Philosophie ist, bildet in umgekehrter Weise den Anfang von Blochs Philosophieren. Da der Mensch ein qualitatives Wesen ist, sind die menschlichen Kategorien ebenfalls qualitativ zu bestimmen: Der Mensch ist von Anbeginn an der Grund der subjektiven Dialektik, die sich im Widerspruch zu den Objekten der Natur oder des Nicht-Ich befindet und sich qualitativ zu einem eigenen Gesicht herausbilden will. Damit ist der Mensch zugleich mit dem richtigen Abbilden der Objekte und dem wahren Fortbilden nach seinem qualitativen Vermögen beschäftigt. Der Grund des Menschen zeigt sich in den utopischen Vermittlungen, die von fester Notwendigkeit befreit sind.62 Dieses qualitativ-utopische Bewußtsein Blochs nimmt die Stelle der Kritik der reinen Vernunft ein, meint Hansen. Die Zeit ist nicht mehr wie bei Kant die Form des inneren Sinns, sondern die Weise des Intensiven, wie es genuin in der Musik und der Kunst ausgedrückt ist. Die gemeinsame Wurzel des Sinnlichen und des Verstandes, nach Kant unerschließbar, ist für Bloch die Utopie des
61 62
Ib., 132. Ib., 135.
2. Problemstellung und Aufbau der Arbeit
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Dings an sich: sie findet ihre Gestalt auf dialektischem Wege (Empfindung, Gedanke, Praxis) in der „Krone" des Prozesses als Ganzheit.63 Diese Thesen von Hansen am Schluß der hiermit skizzierten Forschungslage zu Blochs Sprache und Ästhetik bieten einen Übergang zur Exposition der Absicht und des Verfahrens der vorliegenden Untersuchung.
2. Problemstellung und Aufbau der Arbeit Die erste Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es, die bis jetzt vernachlässigte literarische (rhetorische und poetische) Seite an Blochs Werk darzulegen und sie im Hinblick auf eine ihr hypothetisch zugrundeliegende organische Konzeption der literarischen Produktion, Rezeption und Wirkung zu erfassen. Das schafft die Vorbedingungen für die beabsichtigte Rekonstruktion einer Poetik und ihre Darlegung in ästhetisch-philosophischen Zusammenhängen des ganzen Werkes sowie der verwandten literaturwissenschaftlichen Versuche. Die Hauptthese ist, daß Blochs Poetik in der Erfassung des Augenblicks durch das sprachliche wesensdeutende Bild kulminiert, welches ein Erkenntnis und Handlung anleitendes Apriori konstituiert; eine Problematik zu Ende führend, die in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts mehrfach, aber nur punktuell und ohne Auslegung der komplexen künstlerischen und ästhetisch-philosophischen Zusammenhänge behandelt wurde. Im ersten Teil der Arbeit wird das künstlerisch-literarische und präziser: rhetorisch-poetische Anliegen in Blochs Werk und Rezeption verfolgt. Zunächst wird dabei auf dem Hintergrund der allgemeinen Krisensituation am Anfang des vergangenen Jahrhunderts anhand des Werkes Geist der Utopie (1918) die Grunderfahrung des Dunkels des gelebten Augenblicks und die Verschiebung der Sinnsuche ins Ästhetische als Manifestationsfeld des spezifischen Zusammenklangs von Sinnlichem, Verstand und Vernunft, als Feld der subjektiv zu regierenden Zeitlichkeit (seitens eines seine Wahrheit, sein Selbst suchenden Subjektes) dargestellt. Als eine ästhetische Erfahrung der Selbstbegegnung legt Bloch die Malerei des Expressionismus aus. Vor allem aber wird die Musik als genuines Medium des Selbstseins verstanden: als Berührung des Dings an sich und als Artikulation des Je-ne-sais-quoi des Menschseins. An der Musik wird u.a. ihr Jungsein, ein stetes Sich-Erneuern im Anspruch auf Gegenwartsadäquatheit und im Ausgerichtetsein aufs Wesen betont sowie das Moment des Sich-Hörens und Zuhörens, das ihren subjektiv-intersubjektiven, allumgreifenden, das Nahe mit dem Fremden vermittelnden, „spontanen, spekulativen" Charakter ausmacht und das Anliegen ermöglicht, im „dauernd Prozessualen" die „undeutlich-fordernde Ahnung" als Hinweis auf den Augenblick der „adäquaten
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Ib., 137.
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Einleitung
Erfüllung" zu bestimmen. Im Übergang zur Musiktheorie grenzt Bloch seine transzendental-reale, die binäre Opposition zum Inhalt überwindende Formauffassung gegen den sich um die Jahrhundertwende verstärkenden abstrakten Formalismus ab. Blochs Theorie der Musik besteht aus drei Teilen: Sie behandelt zum ersten den Ton, der gleichzeitig „schwebend und sprechend" ist, als „Stoff 4 , zum zweiten den Rhythmus, der die innere Intensität in äußere, verräumlichte Abfolge überträgt, und zwar als Konstruktionsformel, und schließlich, zum dritten, den Kontrapunkt, in dem die Realisation der Konsonanz der zeitlichen Verhältnisse zu der geahnten Fülle versucht wird, als „Ereignisform" der Musik. Die Grundbewegung der Musik bis zur Erlangung des Gegenwärtigseins als „zweite", nicht mehr gegenständlich-tatsachenhafte, sondern subjektivobjektive und transzendental-transzendierend erfahrbare Wahrheit, meint Bloch in den Tendenzen der Literatur von Goethe zu Döblin wiederzuerkennen. Er sucht nach dem neuen Wort, das das Geschehen des „realen Symbols" des Menschseins in sich und den Übergang zur „zweiten" Logik ermöglichen könnte. In Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921), Durch die Wüste (1923) und Erbschaft dieser Zeit (1935) wird die Auffassung der Geschichte als Reihe von wiederholten, von der Gegenwart her gesehenen Versuchen, das Existere zu fassen, behandelt, das Dunkel des gelebten Augenblicks zu bewältigen; Versuchen, von denen her uneingelöste, unrealisierte Gestalten dieser Bewältigung, samt ihrer „radikalen Erlösungsdimension" in die Gegenwart einbrechen. Die Gegenwart selbst, in ihrer Unmittelbarkeit und Zerstreutheit dunkel und Durchgangsort zwischen dem Vergangenen und Zukünftigen, gilt es, Bloch zufolge, auf ihren Sinn hin zu ordnen, aber nicht nur in einem „formal-philosophischen Gericht", sondern in einem essayistischen „poetisch-ästhetischen Erhellen", in dem die Zeitintensität eines in der Gegenwartsmitte lebenden, eingedenkenden und sich suchenden Subjekts sich in die Gestalten veräußert, welche den Sinn und Wesen „apriorisch vorausahnen." Erbschaft dieser Zeit ist so verstanden eine Sichtung der Gegenwart, die nicht nur kritisch deren Verfallenszeichen aufspürt, sondern auch den vielschichtigen Boden aufdeckt, dem eine in ihrer Intensität differenzierte - „ungleichzeitige" - Sinnbildung entspringt. Der „Geist der Zeit" erweist sich als in einem rätselhaften Montagebild erfaßbar, in dessen „Substanzschein" die Deutung zu vollziehen und Bedeutungen festzustellen sind. Diese „lichtende" Funktion des Bildes, vornehmlich des poetischen Sprachbildes, wird von Bloch konkret erprobt und in zahlreichen Aufsätzen aus den 20er bis zu den 40er Jahren analysiert, die - parallel zu der literarischen Produktion in Spuren - seine Literaturtheorie enthalten. Anschließend wird gezeigt, wie Bloch mitten in der intensiven literarischen und literaturwissenschaftlichen Produktion zu dem früh gefaßten Vorsatz der Systemhaftigkeit zurückkehrt und ihn in den 30er Jahren stellenweise - indem er zunächst seine Gedanken zur poetischen Sprache systematisch erfaßt - realisiert. Die Arbeit geht außerdem auf Blochs intensive literarische Kritik (vornehmlich als Bildkritik)
2. Problemstellung und Aufbau der Arbeit
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ein und auf die nachträgliche enzyklopädische Erfassung des angesammelten und reflektierten Materials in den Kapiteln von Das Prinzip Hoffnung. Im Anschluß an den werkgeschichtlichen Überblick werden die Schwierigkeiten in der Rezeption des rhetorischen Anliegens als eines die Redesituation des Nachdenkens, Eingedenkens und „Gesprächs" stimulierenden Anliegens und des poetischen als sinnproduzierenden Anliegens dargelegt sowie die Perspektiven einer neuen Aufnahme dieser Thematik erörtert. Hervorgehoben wird der Stellenwert des rhetorisch-poetischen Anliegens der Sinnbildung in dem zu vollendenden Projekt der Aufklärung, das sich an der Frage: „was der Mensch sei" zu messen hätte. Die Suche nach dem neuen Wort, nach der poetischen Form des Menschseins wird anschließend anhand von Blochs literarischem Werk par excellence, Spuren, rekonstruiert. Dabei erfolgt die Annäherung an das Erzählwerk Blochs schrittweise. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Ansätze der Forschung zur allgemeinen Problematik des Verhältnisses von Literatur und Philosophie und zum Erzählen im 20. Jahrhundert vergegenwärtigt und die Kreise der Forschung zu Spuren selbst abgeschritten. Eine anleitende Charakteristik des Buches, die auf die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes zur Auffassung dieses Erzählens hinweist, umrahmt beides. Dieser Ansatz erweist sich als eine an charakteristischen Merkmalen abzulesende, oft unausgesprochen und unreflektiert in der Literatur des 20. Jahrhunderts wirkende Poetik des Augenblicks. Bevor ich aber mit diesem Ansatz an die Formulierung der Poetik von Spuren herantrete, um die in der Literaturwissenschaft häufigen Entstellungen durch verfrühte Theoretisierung zu vermeiden und reichhaltiges Material für eine Poetik bereitzustellen, entwerfe ich im dritten Teil der Arbeit eine Art von Phänomenologie der Textbewegungen in Spuren, unternehme ich einen Gang durch das Erzählwerk, der den in den Texten am stärksten hervortretenden Momenten der Selbstreflexion folgt. Diese Momente sind: das Kleine in seiner Funktion und Bedeutung, das Problem des Scheins und Vor-Scheins, das Problem des Sinns des Lebens im vorscheinenden Bild, das Problem des Verhältnisses zur Natur im Bin und im Bild, schließlich das Problem der Identität als eines augenblickhaft im Bild erlangten (quasi-musikalischen) Gegenwärtigseins. Der (Quer)Gang durch die Erzähltexte ist um Verweise auf Textgeschichte, Fassungsvergleiche, Quellen und Verwandtschaften zu parallelen Erzählversuchen (wie z.B. von Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer) erweitert, was es ermöglicht, die „Literazität" der Blochschen Prosa deutlich abzugrenzen und zu identifizieren. In konkreten literarischen Situationen werden die Zusammenhänge erschlossen bzw. Unterschiede festgestellt in bezug auf poetisch-philosophische Problematisierungen in den im fünften Teil der Arbeit herangezogenen literaturwissenschaftlichen Augenblickskonzepten wie denjenigen der verschiedentlich ausgelegten Mystik (bei Rilke und Richardson durch Wagner-Egelhaaf und Wohlfart), des Grauens (Benjamin, Bohrer), der „Epiphanien" (Joyce), der Seinsekstase (Benn, Heidegger).
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Einleitung
In Entsprechung zu den Momenten von Blochs Musiktheorie und unter Zugriff auf Blochs literarische (und philosophische) Aufsätze werden sodann im vierten Teil des Buches die literaturwissenschaftlich relevanten Momente, die Stoffe, Konstruktion und das „Zentralereignis" seiner Erzähltheorie, rekonstruiert. Die Stoffe des Erzählens sind bei Bloch gering: „niedrig", unscheinbar, „schwebend" und steigerungsfähig; sie sind oft - Blochs Überwindung des Inhalt-Form-Dualismus entsprechend - mit den komischen Formen verwachsen, die eine aufsteigende Linie vom Paradox bis zum Märchen bilden können und deren sehnsuchtsvolle und Glück suchende, staunende, unruhige Gestalten („fahrende Leute") ihren intensivsten Vertreter in Don Quijote haben, der von Glücksahnung ergriffen quer zur bestehenden erstarrenden Wirklichkeit steht. Die Konstruktion des Erzählens beruht auf der Zusammenfügung der über die Begegnung der sich verändernden Blicke im Selbst zusammengeführten literarischen Abfolgen als Extensionen der subjektiven Intensität. Das Erzählen gipfelt im „Sprung", der sich in der durch die Selbstsuche vor-geformten Wirklichkeit als der „Funken" des Wesens „ereignet", in der „unerhörten Begebenheit" des Menschseins. Blochs Poetik wird zum Schluß als eine des Augenblicks erkannt, deren verschiedene Momente, das dunkle Pochen im Fluß des unmittelbaren Existierens, die jähe Unterbrechung der abgründigen Leere, das glückliche und das grauenvolle Staunen, sich im poetischen Augenblicks-Bild zusammenfinden, welches im stets zu vollziehenden Akt des Erzählens zustande kommt und - die Konsistenz des in den Sand geschriebenen Zeichens aufweisend, zugleich das festeste Band zwischen Flüchtigkeit und Erfüllung herstellend - der einzige, stets hervorzubringende, zu überprüfende, zu realisierende Halt des Menschseins ist. Im fünften Teil der Arbeit wird Blochs Augenblickspoetik auf dem Hintergrund eines Panoramas von verschiedenen literaturwissenschaftlichen Konzepten dargestellt, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, meistens ohne sich aufeinander zu beziehen. Eine solche Darstellung sollte die einzelnen Positionen in ihren Hauptmomenten charakterisieren und - wo immer möglich - die Zusammenhänge bzw. Differenzen herausstellen. Vor allem aber beabsichtigt sie die Konturierung der zentralen Hauptmomente der Augenblickspoetik von Bloch und ihrer ästhetisch-philosophischen Implikationen: des vielschichtigen anthropo-ontologischen Gefüges, in dem sie sich vollzieht und somit ihre sachlich-objektive Relevanz zeigt. Der Ausgangspunkt der chronologisch verfahrenden Präsentation ist die nach meiner Ansicht erste Aufzeichnung der Poetik des Augenblicks in Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos, in der die Relation zwischen dem „Bin" und den Phänomenen, die für die Poesie des 20. Jahrhunderts fundamental ist, festgelegt wird. An Georg Lukâcs' bahnbrechenden, tiefen und (etwa für Thomas Manns Zauberberg) folgenreichen Erkenntnissen zum Zusammenhang von Zeitlichkeit und Epik wird auch die Feststellung der Ohnmacht der Kunst in der entfremdeten Welt und die epo-
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chencharakteristische Wendung zur Sachlichkeit und „Wissenschaftlichkeit" des Handelns deutlich gemacht. Im Kapitel über Bloch wird die rekonstruierte Augenblickspoetik in ihrer charakteristischen Zuordnung zum anthropologisch-ontologischen Gefüge dargestellt, was mit einem kursorischen Durchgang durch das Werk von Bloch belegt wird. Das Kapitel über die „Epiphanien" [Kap. V. 5. a)] behandelt eine Kette von Augenblicksauffassungen, die sich auf die Erscheinung des Wesens konzentrieren und ihren Anfang in James Joyces so betitelten Prosaskizzen haben. Anschließend werden die Übertragung der „Epiphanie" auf den Boden der deutschen Literaturwissenschaft und die Stationen der langen Karriere dieser stets modifizierten Kategorie behandelt: von Theodor Ziolkowsky, Walter Höllerer, Willy Erzgräber bis zu den späteren, den Übergang zum Dekonstruktivismus reflektierenden Untersuchungen von Martina Wagner-Egelhaaf und Eveline Kilian. Unter dem Namen „Kairos" treten zwei verschiedene Augenblicksauffassungen auf: in der einen [Bohrer, V. 5. b)] steht die Plötzlichkeit des Grauens im Zentrum, in der anderen [Wohlfart, Kap. V. 5. c)] diejenige des Strahlens des Seins; philosophisch beziehen sie sich auf Nietzsche und Heidegger. Einen wichtigen Platz in der Panoramadarstellung nimmt die Diskussion des Werkes von Paul Celan ein, in dem die Problematik des Augenblicks zentral angesprochen ist. Die bisherigen Augenblicksinterpretationen von Celan gehen von seiner eigentümlichen Sprachlichkeit aus, die zwei Forscher jeweils unterschiedlich auslegen. Susanne Ledanff exponiert die spontane, autodeterminierte Sprachbewegung in den Texten von Celan. Peter Vollbrecht leitet von der sprachlichen Absenz von Wahrheit in Celans poetischen Texten ihre Orientiertheit auf Wahrheit hin ab und erkennt in der Poetizität ein Organon vernünftiger Selbstverständigung. Im Hinblick auf Celan werden zwei Momente der Augenblicksauffassung und gleichzeitig zwei Hauptprobleme der „Geisteswissenschaften" deutlich: Es handelt sich erstens um das Problem des Verhältnisses zwischen Wort und Begriff (Poesie und Philosophie), das Bloch der Humboldtschen Tradition zufolge nicht als Problem des Identischseins betrachtet, sondern als eines des Übergangs vom sprachlich Genannten, als Merkwelt Festgerahmten zum Sachdenken. Zweitens geht es um das Problem des Verhältnisses von Poesie und Ethik, die ebenfalls nicht zusammenfallen; das poetische Wort fordert auf, ihm gerecht zu werden und solche Bedingungen der zwischenmenschlichen Beziehungen zu schaffen, die seine Artikulation nicht entstellten. Das Panorama der literaturwissenschaftlichen Augenblicksauffassungen enthält ferner einen Rückblick auf Goethe, wie er erst in den 90er Jahren in einer Rekonstruktion von Andreas Anglet möglich war und wie er in seiner synthetisierenden Darstellung fast wie ein Vorausblick wirken könnte [Kap. V. 5.]. In Goethes Werk bildeten sich sukzessiv die Aspekte der Augenblicksauffassung heraus, die wir bei Bloch synchron zusammenwirkend finden, allerdings nicht mehr in einer organisch sich selbst steigernden, sondern in einer von der Negativität tief gezeichneten, zerfallenen, verkrusteten Wirklichkeit, de-
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Einleitung
ren „Rettung" über den praktisch-systematischen Einsatz für das im funkenartig erscheinenden Liebesbild vorausgeahnte Wesen möglich ist. Auf dem Hintergrund des dargestellten Panoramas erweist sich die Augenblicksauffassung von Bloch als eine alle historisch sich manifestierenden Aspekte vereinigende und damit umfassendste; alle Aspekte des Augenblicks ergeben - zusammengehalten vom Kairos des Bezugs aufs Augenblicksbild des Guten - ein (so Blochs Ausdruck) „Kombinat". Der Augenblicksauffassung entspricht Blochs Poetik mit dem Reichtum ihrer Formen, die in einer ihre Entfaltung begünstigenden Syntax herumkreisen, sich überschneiden und versammeln. Die Bilder dieser Poetik reichen von denen der Inkonsistenz und des Bruchs, der Unruhe und Spannung bis zu denjenigen des Grauens und „unserer Herrlichkeit", die vom „brennenden Funken der Hoffnung" getragen wird. Sie sind von der Festigkeit des Brechtschen „kleinen Windes", des gerade erblickten „roten Fensters". Diese aspektreiche Poetik ist nicht nur im unübersehbar Ästhetischen unserer Zeit ein anthropo-logisch und systematisch fundierter Halt und Orientierungspunkt. Sie kann auch ein Maß werden, indem andere Augenblickskonzepte zum Vergleich mit ihr herangezogen werden, wie das die angeführten poetischen, poetologischen und ästhetischen Beispiele demonstrieren, und ihre innere Disposition zutage treten lassen. Die nicht geringe Aufgabe dieser Konfrontation und der ganzen Arbeit ist allgemein ästhetischer Natur und besteht in der Demonstration der radikal veränderten Position der Problematik des Bildes im bezug auf die Philosophie: aus der Position des Ausgeschlossenseins bzw. der Subordination gegenüber der Wahrheit und Begrifflichkeit des Seins steigt das spezifisch beschaffene Bild Blochs (das sich auf „apokryphe" ästhetische bzw. rhetorische Tendenzen in der Philosophiegeschichte stützt) zu der Position der Sinnstiftung und Vernunfterweiterung auf. Die Arbeit schließt mit einem Projekt der auf Bloch gründenden und die geschichtlich-kulturelle Erfahrungen unserer Zeit sammelnden, anthropologischontologisch geborgenen Poetik als eines gegenwärtigen Garanten des Menschseins. Aus einzelnen Studien, die für sich stehen könnten, zusammengesetzt, ist die Arbeit nicht frei von den, wie wir glaubten, manchmal nicht unnützen Wiederholungen. Die Arbeit ist von der Lage der Blochforschung geprägt, die eine starke Spannung kennzeichnet: Einerseits erfordert sie systematische Problematisierungen in weiten Zusammenhängen, andererseits braucht sie dringend werkimmanente Detailarbeit und historisch-philologische und kritische Arbeit an den Texten. Diese Spannung ist vor allem am Teil über Spuren sichtbar. Sein Aufbau ist das Resultat der schwierigen Lage, aus der heraus ich mich daran heranmachte, Blochs Erzählwerk zu behandeln. Es war eine Lage, in der dem Erzählen beinahe das Existenzrecht verweigert worden war, das Subjekt für auf-
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gelöst erklärt wurde und die Blochforschung sich den Inhalten seines Werkes zugunsten oberflächlicher Urteile verschloß. In dieser Lage suchte ich die Stütze für meine Gegenthesen in sorgfältigsten Textanalysen und -recherchen; nur ein Teil ihrer Ergebnisse konnte schließlich in diese Arbeit aufgenommen werden. Die Probleme von Blochs Werk sind oft interdisziplinär zu behandeln, oft werden sie in einer schockierenden Verschränkung der Perspektiven getroffen, wie z.B. in der Zusammenführung der philosophischen Anthropologie mit der Poesie oder der Doppelbeziehung der Affektenlehre auf Politik und Poesie. Aus den Spannungen in der Blochforschung ergeben sich manchmal unerwartete Ausblicke. So führte das werkimmanente (von historischen Recherchen unterstützte) Interesse zur Erschließung des bisher kaum erörterten und in der Arbeit lediglich am Rande oder in Anmerkungen gefaßten Themas des deutsch-jüdischen Gesprächs, das im Werk von Ernst Bloch geführt wird: der fruchtbaren Begegnung Blochs mit Margarete Susman, der Verschränkung der biblischen mit den faustischen Zügen in Spuren, des möglichen Dialogs mit Paul Celan, der Auseinandersetzung und Abgrenzung, wie in bezug auf Walter Benjamin oder Hans Jonas. Die kulturgeschichtliche Vertiefung der Problematik ließ als Ausblick das Werk von Goethe in einer neuen Optik erscheinen und die deutsch-jüdische Begegnung im Wirkungskreis seines Werks, die in einer produktiven Rezeption (Rahel von Varnhagen, Georg Simmel, Walter Benjamin, Bloch) weitergetragen wurde; wie nebenbei war in dieser Arbeit nicht nur der interdisziplinäre, sondern auch der interkulturelle Ansatz am Werk. Aber nicht nur auf die Erschließung der werkimmanenten Problematik bei Bloch, nicht nur auf die Vorbeugung der Kontinuitätsunterbrechung in der Blochforschung, deren Lücken mühsam zu bewältigen waren, nicht auf Sicherung der sich zerstreuenden und mittlerweile verlierenden Daten und Quellen kam es in dieser Arbeit an. In einer gewissenhaften Annäherung an dieses Werk ergeben sich seine übergreifenden humanistischen Perspektiven, die der gegenwärtigen Ästhetikentwicklung, aus der Bloch - sachlich beurteilt ungerechterund bedauernswerterweise - ausgeschlossen blieb, unschätzbare Horizonte und Fundamente bieten könnte. Blochs vulgäre politische Rezeption zeigt, wie gefährlich die primitive Handhabung nicht nur der technischen Entdeckungen, sondern auch der „geisteswissenschaftlichen" Erschließungen sein kann; Nietzsches politische Vereinnahmung ist dafür das berühmteste Beispiel. Das Werk Blochs, wirklich gelesen und aufgenommen, lehnt sich gegen solche Instrumentalisierungen, Kurzsichtigkeit und Zusammenhangslosigkeit auf. Auf eine besondere Art ist es übrigens „unzeitgemäß": nicht nur weil es vor Jahrzehnten entstanden ist und vom Lauf der Dinge und Leute weggedrängt worden ist. Es wirkt anachronistisch, weil es den zersplitterten Eintagskonzepten eine humanistische umfassende Perspektive entgegenstellt und weil es radikal ist: in seiner Bezogenheit auf Vernunft, Wesen und Menschsein. 3 Czajka
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Einleitung
Die Arbeit ist in einer zwar erkenntnismäßig höchst einsichtsreichen, aber im realen Leben wenig bequemen Situation eines Spagats zwischen drei Ländern (Polen, Deutschland, Italien) in einem kulturell dafür kaum geeinigten Europa entstanden. Die Defizite der Vereinigung in Gestalt von bürokratischen Hürden, kulturellen Klischees, Mißverständnissen in bezug auf die Einstellung zur Frauenforschung und die Familienfreundlichkeit bekam die Autorin an der eigenen Haut zu spüren. Umso nachdrücklicher mein Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, dank deren Habilitandenstipendium und Verständnis ich mich in meiner humanistischen Selbstbestimmung erhalten konnte. Mein Dank gilt weiterhin den Personen, die mich in meinem Unternehmen am stärksten ermutigt und unterstützt haben: Frau Prof. Doris Knab und Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, sowie den inzwischen verstorbenen Frau Prof. Dr. Brigitte Schlieben-Lange und Prof. Dr. Eugenio Coseriu. Ich bin außerdem den Teilnehmern meiner Bloch-Seminare (zu den literarischen Aufsätzen, Spuren, dem Erbe der deutschen Klassik, der Bildproblematik u.a.), die ich in den 90er Jahren im Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen veranstaltete, verpflichtet; der gemeinsamen Arbeit an Blochs literarischem work-in-progress verdanke ich viele Anregungen und Motivation. Die inhaltliche Arbeit am Text ist 2002 abgeschlossen worden; die danach eingeführten Änderungen sind lediglich formaler Art. Die Hinweise auf die später erschienene Literatur konnten daher nur in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis vorgenommen werden. Im Anhang werden einige von Blochs unveröffentlichten bzw. verschollenen literarischen Texten gebracht. Die Veröffentlichung der Texte im Anhang erfolgt mit freundlicher Genehmigung vom Suhrkamp Verlag und Jan Robert Bloch. Der Untersuchung sind einige Bilder angeschlossen, auf die sich Bloch in seinem Werk bezieht.
I. Das rhetorisch-poetische Anliegen der Sinnbildung im Werk von Ernst Bloch 1. Musik, Poesie, Essay und System in der Entwicklung des Werkes Wenige andere Denker des vergangenen Jahrhunderts haben es vermocht, ein vergleichweise vielfältiges, komplexes und gleichzeitig einheitlich inspiriertes, dazu einen unübertroffenen kulturellen Reichtum enthaltendes und ausstrahlendes Werk zu schaffen wie Ernst Bloch. Ernst Bloch, geboren in Ludwigshafen am Rhein 1885, gestorben 1977 in Tübingen, ist mit seinem Werk in der Zwischenkriegszeit aufgetreten. Nach dem Studium von Philosophie, Germanistik, Physik und Musik promovierte er 1908 mit einer Arbeit über Heinrich Rickert. 1 Hörer bei Georg Simmel, befreundet mit Georg Lukâcs, Margarete Susman, Max Scheler, verblieb er mit ihnen im Verhältnis eines regen intellektuellen Austausches, und selbst eine starke individuelle Personalität, ließ er sein Bewußtsein zum gefühlt-reflektierten Begegnungsort werden sowohl der zu Jahrhundertanfang sich reichlich ausschüttenden künstlerisch-philosophisch-wissenschaftlichen Versuche (Expressionismus, Phänomenologie, Bergson, neue Physik, Marxismus) als auch der Erbschaft der alten Meister, zu denen er sich, trotz der trennenden Jahrhunderte, als Schüler bekannte: Aristoteles, Thomas von Aquin, Eckhart, Jakob Böhme, Kant, Fichte, Hegel und Goethe. Kaum ein anderer Denker unserer Zeit hat solchen kulturellen Reichtum verarbeitet und in ein so vielfältiges, umfassendes, mehrschichtiges Werk einfließen lassen. a) Grunderfahrung des Dunkels des gelebten Augenblicks und ästhetische Erfahrung (Geist der Utopie) Das erste Buch Geist der Utopie (1918) sollte eine Proklamation der neuen Philosophie sein. Es entstand mitten in der Atmosphäre des Jahrhundertanfangs: des Zerfalls, der Todesbedrohung, der Vermischung der bisher getrennten Sphären der Wirklichkeit, der Ahnungen des Endes der Welt und des Neuanfangs, künstlerischer Selbstsuchen, und beabsichtigte, eine neue Metaphysik zu gründen, in der von der Grunderfahrung des Dunkels des jeweils als Augenblick
1 Ernst Bloch: Kritische Erörterungen über Rickert und das Problem der modernen Erkenntnistheorie (1909), KER.
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I. Das rhetorisch-poetische Anliegen im Werk von Ernst Bloch
Gelebten ausgehend über dessen künstlerisch-kulturelle Vermittlungen und Weltprozesse sein Adäquates, das Selbst der Menschen und somit das Wesen der Welt im Akt der Selbstbegegnung faßbar wären. Das Buch stellt somit als erstes im vergangenen Jahrhundert die ästhetische Erfahrung ins Zentrum des philosophischen Vorgehens. Angesichts der metaphysischen und intellektuellen Krise 2 erwies sich die ästhetische Erfahrung, die Bloch anhand einer Betrachtung des alten Krugs, die den Geist der Utopie eröffnet, darstellt, als einzig übriggebliebene Wahr-nehmung.3 In der Betrachtung eines alten Krugs, der vor Jahren in der rheinfränkischen Gegend „liebevoll und notwendig" gemacht wurde, erfährt sich der Betrachtende als „reicher, gegenwärtiger, zu sich selbst erzogen" (GU 14). Er erfährt den Zustand der Adäquation zwischen der eigenen Identitätssuche (Unruhe der unmittelbaren Existenz) und derjenigen, die einmal im künstlerischen Gebilde momentan gestillt und gefasst wurde, und nun überliefert, mit seiner Form als einer noch nicht eingelösten Intensität den jetzt Lebenden den Weg lichtet; er hat das Gefühl, „in einen langen sonnenbeschienenen Gang mir einer Tür am Ende hineinzusehen" (GU 14 f.). In der ästhetischen Erfahrung des alten Krugs vollzieht sich der Akt der Selbstbegegnung, in dem das Dunkle der uneigentlichen (unmittelbaren) Existenz gelichtet wird, dessen Nichtigkeit Bloch folgendermaßen beschreibt: Also das ist zu leben? so sieht das von innen aus, wenn man es selbst ist, was man als Kind und Jüngling vor sich ziehen sah; so sieht das als ich selber aus, wenn man dreißig, vierzig, fünfzig Jahre alt wird, so alt wie damals die Mutter war, die fremden Gäste, alle die objektiv gesehenen Erwachsenen? Nie dabei zu sein, halb und ganz verschlafen, auch nicht bei stärksten Erschütterungen, die sich vergebens bemühen, den Alltag des Fließens und Dunkels zu brechen, das also ist das wirkliche Leben dieser Frau, dieses Mannes, noch zwanzig Jahre und es war die gesamte Verwirklichung gewesen? Wann lebt man eigentlich, wann ist man selber in der Gegend seiner Augenblicke oder Verwirklichungen, Wirklichkeiten bewußt anwesend? Aber, so eindringlich das auch zu fühlen ist, es entgleitet immer wieder, dieses Schattenhafte, wie das, was es meint (GU 363-364). Für das „verlassene" und „gottferne", aus allen Ordnungen herausgelöste Existierende gibt es besondere Haltepunkte, die sich „völlig beliebig, ja unangemessen", oft bei unscheinbaren Anlässen anbieten: 2
In bezug auf ihren geistigen Aspekt ist die Krise von Edmund Husserl und später, im Hinblick auf die Geisteswissenschaften von Hans-Georg Gadamer charakterisiert worden, s. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), Den Haag 1962, und Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 3 Zu dem Buch sowie einer Position im Opus von Bloch s. Anna Czajka: „Wann lebt man eigentlich?" Die Suche nach der „zweiten" Wahrheit und die ästhetische Erfahrung (Musik und Poesie). Anfänge von Blochs ästhetischer Theorie des Gegenwärtigseins, B1A 19, 2000, 103-157; dies.: „Geist der Utopie", in: Przewodnik po literaturze filozoficznej XX wieku, hg. von Barbara Skarga, Bd. 2, Warszawa 1994, 50-53.
1. Musik, Poesie, Essay und System in der Entwicklung des Werkes
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Ein Tropfen fällt und es ist da; eine Hütte, das Kind weint, eine alte Frau in der Hütte, draußen Wind, Heide, Herbstabend, und es ist wieder da, genau so, dasselbe; oder wir lesen, daß sich Dmitri Karamasow im Traum verwundert, wie der Bauer immer „Kindichen" sagt, und wir ahnen, hier wäre es zu finden; „die Ratte, die raschle so lange sie mag! Ja wenn sie ein Bröselein hätte!", und wir fühlen, bei diesem kleinen, schnöden Vers aus Goethes Hochzeitslied, hier, in dieser Richtung liegt das Unsagbare, das, was der Knabe liegen ließ, als er wieder aus dem Berg herauskam, „vergiß das Beste nicht!" hatte der Alte zu ihm gesagt, aber noch keiner konnte dieses Unscheinbare, tief Versteckte, Ungeheure jemals im Begriff entdecken (GU 364). In solchen Momenten der „für den Verstand dauernd inkommensurablen Produktion" (GU 365) zeigt sich die in Anknüpfung an Kant und Husserl so genannte „Symbolintention" als Akt und Gegenstand der Intention des Existere zur Erlangung des wesenhaften Einen. Man ist dabei Bloch zufolge auf eine besondere Weise affiziert: als ob man mit „in die Ferne genommen wäre, sinnlich, symbolisch und nicht minder direkt erhöht" (GU 365). Die Selbstbegegnung kommt vornehmlich in ästhetischer, künstlerischer Erfahrung zustande. Ihr nämlich erkennt Bloch die größte Adäquatheit zur Problematik des Dunkels des gelebten Augenblicks zu. 4 Die Nichtigkeit und Dunkelheit des Lebens besteht nämlich in der Unfaßbarkeit seines Kerns: des Augenblicks des Lebens. Was gewöhnlich erfasst wird, ist das schon Gewordene und Vergangene. Was einzig dem unmittelbaren Puls gemäß sein könnte, ist die Antizipation seiner Erfüllung, wie sie sich in künstlerischer Gestaltung vollzieht. Die Kunst und die Ästhetik erweisen sich demzufolge als am geeignetsten, um dem Problem des menschlichen „Wesens", des „Namens", der „Identität", die in der Einstellung zur Zeitlichkeit besteht, beizukommen. Diese These entfaltet Bloch vor dem Hintergrund nicht nur der sich zu Jahrhundertanfang intensiv entwickelnden Ästhetiken und Kunstwissenschaften, 5 sondern auch der Künste, die sich oft - wie in den zu dieser Zeit intensiv (von Joseph Conrad, dem „Blauen Reiter", Arnold Schönberg u.a. 6 ) verfassten Programmen - die metaphysischen (von der Philosophie und Religion nicht 4 Die Theorie des Dunkels des gelebten Augenblicks betrachtet Gerardo Cunico als „das Lehrstück [...], aus dem und in dem Bloch seit seinen philosophischen Anfängen durch alle Phasen seines Denkens hindurch seine Grundthese entwickelt hat", Gerardo Cunico: Grundbestimmungen der utopischen Ontologie, EBDub, 100. Zur Auffassung der Grunderfahrung bei Bloch s. Czajka: Doswiadczenie podstawowe: ciemnosc chwili, ktôrç zyjemy; beide LitAugB. 5 Zu dieser Situation bemerkt Wladyslaw Tatarkiewicz: „Es gab im 19. Jahrhundert mehr ästhetische Theorien als zu jedem anderen Zeitpunkt", Tatarkiewicz: Dzieje szesciu pojçc 167, LitAll. Einen Überblick über die Ästhetiken des ausgehenden 19. Jahrhunderts bietet Vattimo: Arte e utopia, 107-139, LitL. 6 Als Beispiele seien genannt: Joseph Conrad: The Nigger of „The Narcissus" (Preface), in: New Review, 1897; Der Blaue Reiter. Hg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit, München/Zürich 1984 (1965), Arnold Schönberg: Harmonielehre (1911), Wien 1922.
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I. Das rhetorisch-poetische Anliegen im Werk von Ernst Bloch
mehr eingelösten) Kompetenzen aneigneten. Man könnte sagen, daß Geist der Utopie, abgesehen von anderen Konstellationen,7 eine Philosophie dieser Programme darstellt. So deutet Bloch den Expressionismus in der Malerei als Abschied von der Kunst, welche noch als eine verstanden war, die das Wesen des Menschen als ein geschlossenes suchte und es in einer geordneten, durch ein festes Transcendens regierten Welt bestimmte. Worauf es in der Kunst des Expressionismus allein ankommt, ist, Bloch zufolge, das darzustellen, „was ich fühle, wenn ich ein Ding ansehe und als gesehenes zeichne, wobei entschieden das innere Gesicht und sein Umriß das Prius [der Darstellung] sind" (GU 44). Mittel und Formeln haben dies zu bewerkstelligen, dienen dazu, „das Flüchtige des Gefühls zu verankern und in [...] fester Raumbeziehung [...] zu verkörperlichen". Die Formen sind die Hilfsmittel, die Dinge in eine eigene Räumlichkeit zu überführen, die „selbsttätig schwingt" (GU 46). Eigentliche Aufgabe der Arbeit an der Form und der Formexperimente ist die Herstellung einer neuen Art von Ornament, dessen Auffassung Bloch in Abgrenzung von den zeitgenössischen Standpunkten (Adolf Loos) reformuliert und es nicht mehr für leere Dekoration hält, sondern Raum für „Ichgestaltungen und Ichprojektionen", die dynamisch sind und von „alldurchströmender Zeitlichkeit" (GU 46). In einem solchen Raum fallen die Grenzen zwischen den Wirklichkeitsebenen und -bereichern „der neue Blick knetet unkenntlich um und fährt wie ein Schwimmer, wie ein Zyklon durch das Gegebene" (GU 50); es entwickelt sich das „gleichsam werklose Dasein einer ekstatischen Gesamtanschauung" (GU 47). Es ist in dieser Kunst, als ob sich Urbilder um den Zeitstrom im menschlichen Bin reihten und als würde es augenblicklich, wie in einem Spiegel, seine Zukunft, die „Selbstgegenwart des ewig Gemeinten", seine „adäquate Erfüllung", erblicken. 8 In der Kunst wird das geahnte, ersehnte unsichtbare Wesen bildhaft wahrnehmbar, und sie ist in der Epoche der „Verlassenheit und Gottferne" (GU 361), wie Bloch die Neuzeit bestimmt, eigentlich keine Kunst mehr, 9 sondern
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Dazu Czajka, „Wann lebt man ...", loc. cit. Es ist eine der Eigenarten der Bloch-Rezeption (worauf schon im Kapitel 1 der Einleitung I Anm. 23 f., hingewiesen worden ist), daß seine Ästhetik kaum von der Expressionismus-Forschung wahrgenommen wird, während sie und das Werk überhaupt von der Blochforschung oft als expressionistisch klassifiziert wird, freilich nicht im Blochschen Verständnis der Sinnsuche im Ästhetischen, sondern in dem banalen des Übergewichts des Ausdrucks über dem Signifikat, das Adorno für Bloch in seiner Spuren-Besprechung geprägt hat. s. Theodor W. Adorno: Große Blochmusik, vor allem 144-145, LitS; s. weiter Eberhard Simons: Das expressive Denken Ernst Blochs, LitL. Zum Thema Bloch-Expressionismus s. Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 1982, 181-197; Ujma 163-242, LitL; zu dem erwähnten charakteristischen Zug an der Bloch-Rezeption: Münster, op. cit., 181-182; Ujma 232, LitL. 9 Vergleiche die (auch sprachliche) Nähe der Bemerkung Blochs zu Lukâcs' Behauptung: „Dostojewskis Romane sind keine mehr", Georg Lukâcs: Die Theorie des Romans (1920), 137, LitAug. Vgl. Br 178. 8
1. Musik, Poesie, Essay und System in der Entwicklung des W e r k e s 3 9
die „Unruhe und Aktivität im Begriff der unvollendeten, menschlich zu vollendenden Welt" (GU 49). Das Subjekt der Wahrheitssuche ist wiederum kein „bürgerliches", kein in sich eingeschlossenes, sozial determiniertes, monolithisch (und monologisch) auftretendes, innerlich vollartikuliertes Individuum; diese negative Bestimmung nimmt viele Kritikpunkte (etwa von Brecht oder Kracauer) am bürgerlichen Subjekt vorweg. 10 Das menschliche Subjekt ist bei Bloch eines, das auf keinen Fall in einer soziologischen, ökonomischen geschichtlichen Nomenklatur aufgeht: es ist eines, das sich selbst erst sucht. Dieses Subjekt geht nicht konform mit seiner Umgebung, ebensowenig mit festen Normen oder fertigen Ideen. Es ist noch nicht einmal benennbar, zu nichts fest zugeordnet, sondern eines, welches permanent anders ist. Es ist veränderlich in bezug auf seine Umwelt und seine Mitmenschen und manifestiert das in ständig wechselnden Gesichtern. Bloch nennt sein Subjekt ein „komisches". Seine Reihe fängt bei den armen Kerlen, Sonderlingen, Träumern an, die von der festgerahmten Welt ausgestoßen werden und doch versuchen, sich darin einen Raum zu schaffen, die an der festen Ordnung kratzen und sie so oft, im Spiel, in Frage stellen, außer Kraft setzen, oder die es versuchen, die Wirklichkeit für ihre Träume biegsam zu machen. Von solchen Gestalten - „verquerenden Flaneurs" (S 168), „Helden, die keine sind" (LA 171) - sind Blochs Erzähltexte voll. In den Literarischen Aufsätzen wird Bloch explizit auf die „lumpigen" Gestalten und auf die „fahrenden Leute" hinweisen, deren „Gassenhauer [...], ganz wider gute Stube in Schrift, [etwas] sangen, was bleiben dürfte, gerade wenn der verhockte Spießer nachlassen sollte" (LA 199). 11 Der Held der komischen Reihe ist für Bloch Don Quijote; in dem auf seine Gestalt bezogenen Oxymoron („der komische Held") enthält sich Blochs dialektische Subjektauffassung. 12 Don Quijote zeichnen die Unruhe, der Traum und vor allem die Gewißheit des Guten, der Unbedingtheit des Guten aus, welches ihn durch alles Verkanntsein durchhalten läßt - es ist der von Bloch hervorgehobene unbedingt utopische Grundzug am traurigen Ritter, welcher ihn dessen Figur über alle anderen schätzen läßt. 13 Die Behandlung 10
s. Formulierungen wie „unser häßliches geschwürübersätes Ich" (GU 348). Ein persönliches Zeugnis von Blochs Ablehnung des bürgerlich „Subjektiven" gibt Margarete Susman ab: „Wenn Sie mich jetzt nicht einladen, komme ich einfach und reiße so lange an Ihrer Klingel, bis sie zerbricht". Margarete Susmans Begegnungen mit Ernst Bloch, in dies.: „Das Nah- und Fernsein des Fremden": Essays und Briefe, Frankfurt a.M. 1992, 99. 11 s. Kapitel IV. 1. b). 12 „Weshalb hast Du mir nie gesagt, wie sehr ich ihm ähnlich war?" war Blochs Reaktion am 6. Mai 1913 auf das ihm von Lukâcs zugeschickte Manuskript über Don Quijote aus dem Komplex der kunstphilosophisch-ästhetischen Arbeiten, die später in das Buch Die Theorie des Romans, LitAug, eingegangen sind. Über Don Quijote in Blochs Werk s. Czajka, „Wann lebt man ...", loc. cit.; Gert Ueding, Don Quijote, LitL. 13 GU 64, PH 1235.
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I. Das rhetorisch-poetische Anliegen im Werk von Ernst Bloch
der Figur des Don Quijote lässt Bloch darüber hinaus zu dem am Anfang des 20. Jahrhunderts vieldiskutierten Problem des Tragischen Stellung nehmen. Bloch meldet Zweifel an dem affirmativen Ton seiner Zeitgenossen Leopold Ziegler, Max Scheler und vor allem seines Freundes Lukâcs dem Tragischen gegenüber, an, an dem Ja zum Tod, an der Betrachtung des Todes als Moment, welches das Wesen des Menschen erst sichtbar macht, 14 als eines, welches das Leben durch eine strenge, statuarische, geschlossene Form richtet. Bloch zufolge ist die Selbstvollendung des Helden in der immanenten, noch unfertigen Welt eigentlich nicht möglich. Wäre eine Selbstvollendung im Handeln, eine moralisch konkrete - und nicht nur eine künstlerisch symbolische - möglich, so wäre auch, wie Bloch sagt, die ganze Welt am Ziel. Lukâcs' Ethik, die auf dem Tragischen basiert, stellt Bloch seine „Ästhetik der Idee", dem sittlichen den schöpferischen Menschen entgegen, der auch nicht ethisch zu „führen", sondern ein „verborgenes Menschengesicht auszumalen" hat. 15 Die Tragödie ist Bloch zufolge im Gegensatz zur übrigen Kunst nicht eine Ichbegegnung, Selbstbegegnung, sondern eine „Hemmnisbegegnung", „Satansbegegnung" (GU 71); als solche ist sie allerdings ein unverzichtbares Moment der poetischen Darstellung. Bloch schlägt für die unfertige Wirklichkeit, die ihre Selbstverwirklichung sucht, ein gattungsübergreifendes literarisches Projekt vor, dessen „offenes Spiel" sich in „unvollendet-vollendeten" Zusammenhängen (GU 77) zu vollziehen hat. In diesem Projekt hat der Humor das Primat, der aus dem „Wissen unserer unsterblichen Seele", aus dem „unbegreiflichen sich Freuen an sich" stammt, und als solcher der Wahrheit und Realität näher steht als „all das Drükkende, Belegbare, Unzweifelhafte der faktischen Umstände" (GU 75-76). In den „ernsthaften Spielen" des literarischen Projekts soll sich splitterhaft und momentan das Gedichtete als das Zeichen der „Selbstinvention, Selbstvollendung", als das Zeichen der wirkenden, verborgenen und zu erlangenden Wahrheit „ereignen". Daher die zentrale Bedeutung des poetischen Menschen: „Was gedichtet ist, ist wirklich, die poetischen Menschen sind wir, im Abstand des Gestaltetseins, Herausgeführtseins zu sehen" (GU 77). Die genuinste Selbstsuche erfolgt aber in der Musik, der - Bloch zufolge zentralen Kunst des Zeitalters der Gottesferne, aus dem nicht nur die Transzen14
Leopold Ziegler: Zur Metaphysik des Tragischen, Leipzig 1902; Max Scheler: Zum Phänomen des Tragischen, in ders: Abhandlungen und Aufsätze I, Leipzig 1915. Bloch diskutiert vor allem mit dem Aufsatz von Georg Lukâcs: Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst, der in das Buch Die Seele und die Formen, Berlin 1911, aufgenommen wurde. S. Br 40. 15 Der Text Über den sittlichen und geistigen Führer oder die doppelte Weise des Menschengesichts schließt folgendermaßen: „[...] es kann im menschlichen Miteinander [...] überhaupt keinen Führer geben. Der eine ist zu nahe, der andere zu fern dazu, der Bruder ist zu arm, der Schöpfer zu reich, zu seltsam reich [...] Die Ehrfurcht also, ein höchster Affekt, gilt nie einem einzelnen Menschen, sondern stetig nur dem darin verborgenen Menschengesicht, wie ihm das Ich in jeder Kreatur und auch in aller Evidenz der Produktion allein zu begegnen sucht", PA 210.
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denz verschwunden ist, sondern in dem auch die äußere Welt, von den Wissenschaften und Technik beherrscht, anfing, unüberschaubar und unsichtbar zu werden. Mit seiner Musikbetrachtung beabsichtigt Bloch, den in der Musik wirksamen Akt der Selbstadäquation mit dem Problem des Dunkels des gelebten Augenblicks zu verschränken und dadurch aus dem Musikalischen eine solche Einstellung zum Dunkel des Augenblicks zu gewinnen, die er das „Hellsehen des Hellhörens" nennt. Mit anderen Worten: Gemäß Blochs Auffassung der Kunst als transzendentaler enthält die Musik in sich die „Formen der Erkenntnis der Erscheinungswelt nach Raum und Zeit" (GU 213), das (sich bildende) Apriori der Zeit des Selbstwerdens, Menschwerdens. Bloch stellt sich zur Aufgabe, eine solche Auffassung der Musik zu vermitteln, und er vergleicht den Rang seines Vorhabens mit dem Winckelmanns, die Kunst der Antike an der Schwelle der großen kulturellen Entwicklungen in Deutschland als Ideal der Humanität vorzustellen (GU 157). In Geist der Utopie werden Geschichte, Ästhetik und Theorie der Musik behandelt. Die Musikgeschichte definiert Bloch als subjektiv-kanonisch, ungleichzeitig-exzentrisch und vom „Jungsein" ausgezeichnet; er präsentiert sie in Form von Begegnungen mit den Werken. Die Ästhetik Blochs faßt die Kunst als den Akt der Wahr-nehmung, eines besonderen Sich-Erfahrens, einer adäquaten Erfüllung als jeweiliger Vermehrung und Bereicherung auf; die Grundsätze dieser Ästhetik, die Bloch als „spontan, spekulativ" (GU 187) bestimmt, sollen für alle Künste gültig sein. Ein wichtiger Punkt dieser Ästhetik ist Blochs Formauffassung. „Aber nur das, was geformt ist, besteht" (GU 185), behauptet Bloch; in seiner Wendung zur Form jedoch beabsichtigt er gleichzeitig, die Interpretationsansprüche des Formalismus aufzuheben. Damit wendet er sich gegen den in der Musikkritik seiner Zeit häufig vertretenen Formalismus (Eduard Hanslick) sowie generell gegen die seit der Jahrhundertwende verbreitete Rückkehr zur Form in ihrer ältesten, auf die Pythagoreer und Plato zurückgehenden Bedeutung des harmonischen, proportionierten Gefüges. 16 Bloch befürchtete in dieser Renaissance der festen Form mit ihren kosmischen Entsprechungen in der postmetaphysischen, durch den starken Einfluß der Ästhetik charakterisierten Periode nicht nur eine Festigung des verwissenschaftlichten Denkens, sondern auch eine anamnestische Regression. 17 Gleichzeitig wurden von den Neukantianern Ver16
Ich stütze mich auf die Klassifikation und Geschichte der Formbegriffe von Tatarkiewicz, Geschichte, 317-355, LitAll. 17 Diese Rückkehr ist in Deutschland durch die Philosophie von Johann Fr. Herbart vorbereitet worden und in der Ästhetik als der „Form-Wissenschaft" von Robert Zimmermann gefestigt worden. Der Triumph der abstrakten Form im 20. Jahrhundert erwies sich als unaufhaltsam: er bekundete sich sowohl in den Kunstrichtungen (sogenannte abstrakte Malerei, Formismus in Polen) als auch in der Forschung (Formalismus, Strukturalismus).
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suche unternommen, eine andere, die apriorische Formauffassung weiter zu entwickeln und für die Ästhetik festzulegen; daran knüpften in der Kunstgeschichte und -theorie vor allem die Arbeiten von Konrad Fiedler und Adolf von Hildebrand und zum Teil auch diejenigen von Alois Riegl und Wilhelm Worringer an. 18 Auf die feste, zum Abstrakten tendierende Form wurde in Blochs nächster Umgebung zurückgegriffen. Georg Simmel, Blochs und Lukâcs' Lehrer, führte einen solchen Formbegriff als „Mehr-als-Leben" (mit einer wertenden Funktion dem Leben gegenüber) in die Lebensphilosophie ein. 19 Eine solche Form entsteht augenblickhaft, und gerade den unfaßbaren Augenblick des Übergangs des Lebens in die Form hält Simmel für das asylum ignorantiae seiner Philosophie; bei Bloch wird er zum Ansatz des Philosophierens. Die Form in der pythagoreisch abstrahierenden und lebensrichtenden Bedeutung hat eine zentrale Stelle in Georg Lukâcs' Schriften Die Seele und die Formen (1911) und Die Theorie des Romans (1920). Bloch lehnt eine solche Auffassung der Relation Leben-Form ab: nicht das Gericht über das Leben ist für ihn die Funktion der Form, sondern „seine poetische Vertiefung", die im „farbigen Kampf der Bewegung" zustandekommt und dem Begriff vorausgeht (Br 40 f.). Anstelle von Lukâcs' starrem Wesen sucht Bloch „ein eigenes halb irrationales Prinzip, das als bitteres, zusammenziehendes, vereinsamendes Prinzip neben dem süßen, versammelnden, versöhnenden Prinzip, der gütigen, obersten Idee im topos noetos vorkommt" (Br 40). Blochs Ausgangspunkt bei der Formauffassung ist ein phänomenologischer; 20 er wird - über Kants Transzendentalund Hegels real-dialektische Philosophie - verbunden mit derjenigen Linie in der Formauffassung, die sich von Aristoteles herleitet und über Plotin und den Pseudo-Dionysios zu Nikolaus von Kues führt und weiter von Jakob Böhme, Kepler und Goethe fortgesetzt wird und in Vicos poetischen Grundsätzen die Konzeption der Künste als „reale Dichtungen" erreicht. 21 Es handelt sich um die Form in ihrer substanziellen Auffassung, Form als die sich entwickelnde Entelechie, Form als Akt, Energie, Zweck und immanent wirkende Ursache, als aktives Element des Seins, schließlich, in Blochs Auffassung, um den materiellen Abdruck der Zeitintensität, um die transzendental-reale Form, die sich jeweils prägt und gelebt wird. 2 2
18 Mit apriorischen Formen des Urteils befaßte sich Emil Lask, auf den sich Bloch oft beruft. 19 Georg Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1918. 20 Bloch ist wohl der erste, der die phänomenologische Analyse dem Kunstakt zuwendet, selbstverständlich mit anderen Resultaten als diejenigen der phänomenologischen Schule von Roman Ingarden. Vgl. Kommentar zur Stelle aus Blochs Brief an Ernst Mach im Kapitel IV. 1. 21 Tatarkiewicz hält diesen Begriff der Form in der Kunst und Ästhetik des 19. Jahrhunderts für abwesend, schließt aber seine Rückkehr im 20. Jahrhundert nicht aus, s. Tatarkiewicz, Geschichte, 330-332 und 353-355, LitAll.
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Der Darstellung der ästhetischen Grundsätze folgt Blochs Musiktheorie, die, wie schon erwähnt, als Grundlage für andere Kunsttheorien (darunter auch die Erzähltheorie) betrachtet werden kann. Die Musiktheorie hat das Material, die Konstruktion und die „Ereignisform" der musikalischen Gebilde begrifflich zu bestimmen. Der „Stoff 4 der Musik ist der Ton. Seine natürliche Basis bildet ein „hinüber Schweben und Sprechen" (GU 188), die Fähigkeit also, sich zu übertragen und zu wirken. Am Ton ist entscheidend, daß er in der Musik „ausgewählt" ist und als solcher „zu weiteren unnatürlichen Bezügen veranlaßt"; dieses Moment war das erste Mittel, aus dem gegeben Natürlichen des Menschen auszubrechen und sich eigenständig auszudrücken. Die „unnatürlichen Bezüge" des Tons wurden durch feste handwerkliche Regeln und Harmonielehren streng geordnet, aber im Laufe der Geschichte wurde der Druck des Sichbezeichnens stärker, und er durchbrach zunehmend die festen Regeln der Tonalität, den „schwebenden" oder „vagierenden" (Schönberg), d.h. tonartfremden Akkorden den Weg bereitend. Der Kern einer Komposition befindet sich demnach in einem neuen Klang, der jeweils erst zu entstehen hat, in einer Tonika, die rhythmisch-kontrapunktisch zu fassen ist. Und der neue Klang entsteht nur dann, „wenn es dem Tondichter darauf ankommt, ein Neues und Unerhörtes, das ihn bewegt, auszudrücken" (GU 193). Mit dem Rhythmus als einem neuen, Harmonie herstellenden, also konstruktiven Vorgehen wird in das Natürliche der Töne das menschliche Maß hineingebracht. Der Rhythmus überträgt das Gespanntsein des inneren Antriebs auf das Äußere, die innere Intensität auf die Raumverhältnisse. Er ergibt sich nach Blochs Auffassung aus der Durchdringung des „inneren Müssens" mit der äußeren Welt und ihren Abläufen, und es wird darin das „zufällige Nacheinander" des Gegebenen in das „begriffene Nebeneinander", also in das Wirkungsschema des gegenwärtigen Menschendaseins überführt. Die Zeiten eines solchen Wirkungsschemas sind nicht nur „diesseitig", d.h. sie bedeuten nicht nur die Abläufe des Gegebenen, sondern es ist darin auch eine andere Zeit hörbar, „selbsttätig schwingend", ohne plastische Vermittlung: die „zweite Musik" als das „sich Selbstzählen der Seele" (GU 197), also das unverstellte Menschsein. Als drittes Moment der Theorie wird der Kontrapunkt, die Form des Ereignisses, behandelt. Im Kontrapunkt ereignet sich das Neue als der „Menschenname", wie er „aus uns für uns und die Welt" wird, der Name, welcher die Konsonanz der Zeit mit der geahnten Fülle - als den Kontrapunkt eben - herzustellen versucht. Diese Form des Ereignisses, sieht Bloch durch konkrete Entwicklungen der Musik vorbereitet. Sie tritt in der Situation der überreifen Entwicklung der Sonate, der Kunst der Akkorde, des musikalischen Überdenkens auf. Die Stimmen und ihre Dissonanzen befreien sich und treten in akkordisch22 Zur Überwindung des Dualismus von Inhalts- und Formästhetik in Blochs Musikphilosophie s. Wolfgang Matz, 14, LitM.
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kontrapunktische Spannungen ein; eingefaßt sind sie von einem durch das Nacheinander und die thematische Zweiheit gekennzeichneten sonatenhaften Aufbau. Der sonatenhafte Verlauf ihrer beiden Themen ist durch Zäsuren unterbrochen, Bruchstücke der Themen werden kombiniert, und aus ihrem Widerstreit werden packende Steigerungen (Zeitintensitäten) geschaffen. In seiner Auffassung der Musik verbindet Bloch die literarische Inspiration der Romantik (Jean Paul, Ε. T. A. Hoffmann) und die philosophische von Schopenhauer und Nietzsche, die Anregung durch Wagner und Schönberg sowie die der Musikkritik und -theoriebildung. 23 Weniger bekannt sind wohl die Parallelen von Blochs Musikauffassung mit der von Franz Rosenzweig in Stern der Erlösung (1921) dargelegten Auffassung der Musik als der Kunstform, die der geschichtlichen Struktur der Offenbarung und der für sie zentralen Problematik der Zeit zugeordnet ist. 24 Auffallend ist, daß Blochs Musikauffassung zugleich ein Begegnungsort des abendländischen, in die Musik einmündenden, und des jüdischen, um die Jahrhundertwende aufsteigenden und die Musik gerade als wichtigste Perzeptionsform hervorhebenden Denkens ist. 25 23
Zur Musikkritik und Musiktheorien dieser Zeit s. Czajka: „Wann lebt man ...", loc. cit. 24 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Haag 1976, 217. 25 Blochs Musikauffassung hat trotzdem keine angemessene Aufnahme erlangt. Sie stieß bei den zeitgenössichen Musikkritikern auf Ablehnung, mit denen Bloch dann im Kapitel Einige Kritiker in Durch die Wüste abrechnete. Eine Ausnahme bildete die Besprechung von Max Martersteig, der, freilich Bloch dem neokatholisch-mystischen Kontext zuschreibend, den zentralen Stellenwert von Musik in einem Philosophiebuch wie Geist der Utopie und die Bedeutung der Musik als Mediums der Utopie erkannte: Martersteig: Geist der Utopie, in: Zeitschrift für Bücherfreunde, April/Mai 1919. Ebenfalls positiv wurde der Musikteil von Geist der Utopie von Otto Klemperer aufgenommen, der das Manuskript für den Verlag Duncker & Humblot empfehlend begutachtete und dem das erste Buch von Bloch, wie sich derselbe dankbar erinnerte, sein Erscheinen verdankt: Gedenkrede von Ernst Bloch zum Tode Otto Klemperers, Manuskript, EBAT, Mappe 113. Auch bei der marxistischen Kritik hat Blochs Musikauffassung anfangs keine positive Aufnahme gefunden; die „kunstfeindliche Linke" (Münster, LitM) ist kritisch vor allem gegenüber der romantischen Erbschaft des Genie-Begriffs und wirft Bloch im allgemeinen vor, wenn man sich auf die Musikphilosophie bezieht, den Hang zum „elitären Irrationalismus", s. Otto K. Werckmeister: Ernst Blochs Theorie der Kunst, in: Neue Rundschau, 79, 1968, Nr. 2, 233 f.; Renate Damus, op. cit., 6, 310. Das ändert sich in der neomarxistischen, „nicht-reduktionistischen" Rezeption von Heinz Paetzold, der die Momente von Blochs Musikästhetik in bezug auf ihre gesellschaftskritische und -transzendierende Bedeutung wie auch „eine von der Gegenwart erst noch praktisch einzuholende Rationalität" rekonstruiert: Paetzold, 125-126, LitL. Für die Arbeiten der 80er Jahre (Matz, Gerhard Tüns, LitM) ist charakteristisch, daß sie Blochs Musikphilosophie aus den bei Bloch später in den Vordergrund geratenen Aspekten der gesellschaftskritischen utopischen Philosophie heraus und mit Hilfe von ihren Termini erfassen, wobei die kontextbezogene, interdisziplinäre und zugleich philosophische, originäre „Mühe" des frühen Werkes verdeckt bleibt. In der italienischen Forschung zeichnen sich Stationen einer Annäherung an das genuine Anliegen Blochs ab: Michela Garda betont die ethisch-dynamische Kraft der Musik in Blochs Auffassung und deren Begründung im Symbol als Representation
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Das musikalische Verfahren als Muster der Lichtung der gelebten Aktualität ist für Bloch das Muster eines systematischen Denkens der geahnten, noch nicht daseienden, zu entscheidenden und zu praktizierenden Wahrheit (GU 337). Das Verfahrensmuster der zweiten, ontologischen Musik, derjenigen des „realen Symbols" (GU 232) ist das eines „Entelechien bestellenden" Denkens (GU 337), des Denkens einer „zweiten Wahrheit", das heißt dessen, was die „Dinge, Menschen und Werke in Wahrheit seien, nach dem Stern ihres utopischen Schicksals, ihrer utopischen Wirklichkeit gesehen" (GU 339). Ein solches Denken erfordert ein System, und Bloch skizziert es in Geist der Utopie als das System des „theoretischen Messianismus" (GU 336-337). Es erfordert auch eine „zweite Logik", eine Logik nicht mehr der Tatsachen, sondern des subjektiv-transzendierenden, das Jetzt einlösenden Begriffs: Wie aber wirkt das ein, wo ich „jetzt" stehe? Wann und wieso kann das, was ich fordere nach dem, was ich bin, wahr sein, wieweit reichen die Kräfte des gesetzgebenden Denkens in das Leben hinein? Wir werden doch nicht nur geboren, um hinzunehmen oder aufzuschreiben, was war und wie es war, als wir noch nicht waren, sondern alles wartet auf uns, die Dinge suchen ihren Dichter und wollen auf uns bezogen sein.f...] sollte also der jeweils gegenwärtig gewesene Zustand in der Geschichte von uns unabhängig und unbeweglich weiterbrennen? (GU 334 f.) Es gilt einen Begriff zu finden, der sich müht, alles Vergangene neu zu betreiben und das Zukünftige neu zu beraten, von dem Einen den Druck des ungesühnten Vergehens, von dem Anderen den Charakter des friedlosen, unbeherrschten Abenteuers abhebend, ein motorischer und danach erst kontemplativer Begriff, der dazu hilft, ans Ende zu sehen, überall in allen Teilen und Sphären der Welt die Pforten Christi zu öffnen, das Ende der Geschichte zu entdecken, Gott zu rufen, wie er am
vom Kairos; Stefano Migliaccio macht aufmerksam auf die Reformulierung der Grundfragen der Philosophie in Blochs Musiktexten durch ihren Bezug auf die Problematik der Zeit und der Subjektivität; Elio Matassi stellt Blochs Musikphilosophie in den Kontext der die Erneuerung der Philosophie beanspruchenden Musikkonzepte von jüdischen Autoren (die Arbeiten der erwähnten Autoren in LitM). Die Wirkung von Blochs Musikphilosophie ist durch die von ihr selbst angeregte Musikphilosophie Adornos zugedeckt worden, die sich in die Musikentwicklung nach den 20er Jahren eingefügt und sie stark mitbestimmt hat. Es muß aber nicht so sein, daß die in ihrer Wirksamkeit verschüttete Musikphilosophie Blochs mit ihren Merkmalen von Subjektbildung, Transzendierung, Systemanspruch damit auch für widerlegt gehalten werden soll; sie könnte in der neuen Not der Produktions- und Theoriedefizite wiederaufgenommen werden, und vielleicht gerade vornehmlich in ihren bisher abgelehnten Aspekten. Dabei wäre eine Konfrontation der Grundlinien von Blochs und Adornos Musikphilosophien unumgänglich. Die Musikphilosophie von Adorno verdankt Bloch viele ihrer Elemente: die Auffassung des Werkes als eines den Sachen innewohnenden, die Auffassung des Materials der Musik und ihrer Konstruktion. Völlig auseinander gehen dagegen die beiden Autoren bei der Auffassung des Subjekts in der Musik. Bei Bloch kommt es zentral auf die jeweilige geschichtliche Subjektwerdung als Gegenwärtigsein der Person an, auf ein konzentrierend aufsteigendes Sammeln, Berichtigen und Neusetzen, ein wertbildendes und Geschichte leitendes Verfahren, gerichtet auf die Erlangung von Wahrheit und Wesen, s. Garda, Migliaccio, Matassi LitM.
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Ende der Geschichte sein wird, hinter dem ungeheuren Problem einer Kategorienlehre der unfertigen Welt (GU 388). Die Logik erfordert an erster Stelle das Wort und dieses, wie in Geist der Utopie mehrmals demonstriert wurde, kommt dem Ton kaum nach. Die Sprache der Poesie erweist allzuoft ihre „untergeordnete, ja erschlagene Potenz" (GU 155). Deutlich ist dieses Untergeordnetsein, wenn das Wort mit dem Ton zusammenzuspielen hat: „hier zieht der Ton, wachsend im Flug, während das Wort nur fällt" (GU 171). Das Einzelne des Wortes stimmt nur ungefähr mit dem Ton zusammen, der das Einzelne eben überschreitet in der Ausrichtung auf seinen Zusammenhang; der Ton überholt das Wort und trifft ins Schwarze, das „über dem Ganzen der Dichtung hinausliegt" (GU 172). So wird in Geist der Utopie die Suche nach einem neuen Wort angekündigt, das fähig wäre, den in der Musik am besten erreichbaren „Symbolwert des Menschenlebens geschehen zu lassen" (GU 72) und zum Wort der Logik und Philosophie der zweiten, utopischen Wahrheit zu werden: Und wenn auch das Wort dem Letzten des Ausdrucks nicht benachbarter ist als der Klang, so kann es doch vielleicht verständlicher als die Musik eine Brücke zur anderen Gegenstandsreihe der Philosophie und vielleicht sogar der wiedergeborenen Mystik bilden (GU 73).26 Die Suche nach dem neuen Wort scheint in den Sprachtendenzen, die sich bis zu der Zeit von Geist der Utopie entwickelten, im Gang zu sein. Die gleichnisreiche Sprache von Goethe, Jean Paul, Gottfried Keller, Joseph Conrad, Alfred Döblin betrachtet Bloch, wie vorhin die Musiktendenzen für seine Musiktheorie, als eine Garantie für die Legitimität seines Sprachprojektes für die ungesagten, transzendierenden Inhalte. 26 Den Zusammenhang Wort-Logik formuliert Bloch an verschiedenen Stellen seines Werkes: „Das Wort steht [...] vor der Anschauung und ist ein Mittel, sich Anschauung zu kaufen", Poesie im Hohlraum, LA 117; „Sprache ist poetisch ein Mittel, um Anschauung zu kaufen, und wissenschaftlich ist sie das stellvertretende Zeichen logisch abgespiegelter Tendenz- und Gestaltbeziehungen. Mehr als jedes andere Ausdrucksmittel ist Sprache Vermittlungsinstrument zwischen Subjekt und Objekt; sie begründet nicht, aber sie bildet und erhält die Kulturwelt dieser Vermittlung", Zerstörte Sprache - zerstörte Kultur, PM 291-292. Ähnlich LA 362, PM 277, 281, 283, 291. S. auch Ernst Bloch, Über den deutschen Schulaufsatz, in: Tagebuch, 1933, H. 10. Blochs Interesse für die Sprache äußert sich in den Briefen an Georg Lukâcs. So schreibt Bloch am 12.12. 1917 vom Vorhaben, „die ganze menschliche Sprache auf ihre Bedeutungen durchzumustern, um das andere vorzubereiten, die transzendentallogischen Bedeutungen", Br 188. Zu den Problemen der Sprache und der literarischen Gestaltung, die Bloch um die Entstehungszeit von Geist der Utopie stark beschäftigten, s. auch Br 67, 146, 178. Wichtigste weitere Schriften zur Problematik von Sprache und Logik sind das im folgenden zu besprechende Manuskript Gleichnis, Allegorie, Symbol (s. Anm. 72), das Kapitel Hegels Sprache in SO, der Text Gesprochene und geschriebene Syntax: das Anakoluth, in LA. Endgültige Formulierungen zum Problemfeld Wort-Begriff sind im Kapitel Die logische Aussage als Erkenntnis präformierend in EM enthalten. S. die folgenden Teile dieser Arbeit, u.a. das Kapitel zu Celan V. 5. e).
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Dafür kommt aber eine gleichnishafte Sprache herauf, in ihren Bildern, in dem Tropus unserer selbst, nur weiter nach oben, wahrhaft über das menschenhafte Ich hinaus geschoben, als das, was in uns verborgen treibt, als echtes ontologisches „Symbol" (GU 382-383). Daher ist die zweite, veränderte Ausgabe von Geist der Utopie (1923) in einer gleichnishaft aufgelockerten Sprache verfaßt und von der Aufmerksamkeit für die Stellen in der Wirklichkeit durchsetzt, wo „offenes Wasser und Durchfahrt liegt, ein dauerndes Fragen, Schäumen, Unabgeschlossensein, in dem der sonderbare Erwartungszustand eines Heraufkommens und verwirklicht Unwirklichen wohnt" (GU 214). Sie enthält kurze Erzähltexte, die später in Spuren (1930, 1969) eingehen werden.
b) Geschichte, Gegenwart und Ungleichzeitigkeit (Thomas Münzer, Durch die Wüste, Erbschaft dieser Zeit) 1921 veröffentlicht Bloch sein zweites Buch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, eine Monographie in der Funktion der Vergegenwärtigung eines vergangenen Lebenslaufs als Versuchs des Wahrseins. Blochs Monographie von Münzer als einem „deutschen Helden" hat aber nichts mit einer von Nietzsche verurteilten „monumentalischen Historie" und auch nichts mit einer „wissenschaftlichen" Katalogisierung und Einordnung der Fakten einer gleichgültigen Vergangenheit zu tun, sondern sie ist als Vergegenwärtigung ein Begegnungsort des als dunkel gefühlten gerade Gelebten mit dem vergangenen, aber nicht realisierten Versuch, dieses Dunkel zu bewältigen. Ausgangspunkt ist das gerade gelebte Jetzt des Bin, in dessen Dunkel das erinnerte Bild des Vergangenen auftaucht, auflebt; von diesem Standpunkt aus wird die Situation des historisch Versuchten betrachtet, die Modi, wie es artikuliert wurde und die Modi der Realisierung: Wir wollen immer nur bei uns sein. So blicken wir auch hier keineswegs zurück. Sondern uns selber mischen wir lebendig ein. Und auch die anderen kehren darin verwandelt wieder, die Toten kommen wieder, ihr Tun will mit uns nochmals werden (TM 9). Die Absicht der Monographie ist es also, Münzer lebendig erscheinen zu lassen, in einer Reihe von bewegten Lebensbildern, unterbrochen von seinen Predigten und Aufrufen, in denen, die selbst Vergegenwärtigungen sind, sich das „Prinzip" des Buches spiegelt. Münzers Rede wird erinnert: lebendige, unruhige, realiengesättigte und substanzbenennende Rede, kraftvolle Rede, die auf Mündlichkeit setzt, auf die Mühe, in dem gerade Gelebten Worte der Wahrheit, Worte Christi wiederzufinden, um sie zu leben. Gegen die Macht des „toten Wortes" der Schrift bei Luther wendet sich Münzer, „Prediger des lebendigen" (TM 22), das in „gegenwärtiger Zeit" mit „anders aufgetane[r] Vernunft" wie „Brot den Kindern aus dem Laib" aus der Schrift „gebrochen" werden soll
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(TM 23, 22). Die Rede, die im Jetzt der Gegenwart die Wahrheit Gottes, das wahre Leben, benennt, versetzt das Aktuelle in den radikalen Bezug der Verwirklichung, in die höchste Intensität der Verwesentlichung. Das ist der Sinn von Münzers Ungeduld („Dran, dran, dran! Es ist Zeit", TM 68), das ist die radikale Erlösungsdimension, die Bloch mit Erinnerung an Münzer in die „undeutlichen Zeiten" seiner Gegenwart einbrechen läßt, um sie auf die Wahrheit und Wesen hin zu orientieren. Das Münzer-Buch artikuliert zum ersten Mal deutlich Blochs Auffassung der Geschichte als einer sprunghaft, diskontinuierlich verlaufenden, von Wesensbildern stärker noch als von der äußeren Not geleiteten, immer wieder aufzunehmenden, gegen Vergänglichkeit und Tod kämpfenden, stets gefährdeten Selbstsuche. Es betont die Kraft des lebendigen, eingedenkenden und tätigen Subjekts und, die Grundsätze der „Belehrung mit Belebung" von Goethe und Nietzsche oder noch von Plutarch einsetzend, die Bedeutung der Vergegenwärtigung der Geschichte fürs Selbstwerden, der Vergegenwärtigung im lebendigen Wort, „um uns zu verpflichten, zu begeistern" (TM 9). Gleichzeitig mit der zweiten Ausgabe von Geist der Utopie, erschien 1923 das Buch Durch die Wüste mit dem Untertitel Kritische Essays. Das Buch hat in der Tat in der Gesamtdisposition des ganzen Opus die Funktion des Essays,27 die in Anlehnung an Lukâcs' 1910 formulierte Auffassung ein Neuordnen des Lebens auf seine Transparenz hin ist, „fern von der eisig-gleichgültigen Vollkommenheit der Philosophie",28 ihre eigentliche Form darstellt, welche auf den Augenblick der Vereinigung der „Seele" und der Dinge konzentriert ist, auf das - momentane - „lebensrichtende" Sinnurteil. 29 Bilder und Bedeutung vermischend, „Zufällig- und Notwendig-Sein", 30 ist der Essay Ort von Humor und Ernst. Vom wesensahnenden Apriori des Essayisten aus wird in Durch die Wüste die aktuelle Lebenswirklichkeit auf ihren politischem und kulturell-philosophischem Gebieten intuitiv, phänomenologisch erfaßt, „gesehen". Der Blick des Essayisten erfaßt die Lebensdinge in anschaulichen, vergleichsreichen, beweglichen, paradoxen Sprachgebilden. Die sich auf diesen Gebieten aufspreizenden Gestalten werden unter dem Blick der „Seele" komisch, grotesk bis zum Zerplatzen; sie werden in ihrer Nichtigkeit zunichte gemacht. Die „Destructio destructions " ist unerbittlich und die Sprache des Gerichts über die „vollendete Sündhaftigkeit" peitschend. So heißt es in Die Tätigen: 31 27 Zur Entsprechung des Essays zur „Theorie des Lebens" und zum „aktuellen Teil" in Blochs philosophischem System s. GU 336, 338 und Br 71, 190. 28 Georg Lukâcs: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper, in ders.: Die Seele und die Formen, Berlin 1911, wiederabgedruckt Neuwied und Berlin, 1971, 7. 29 Ib., 17. 30 Ib., 18. 31 Es handelt sich um die Gruppe der Intellektuellen und Dichter um Kurt Hiller, „Die Aktion" (1911-1932).
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Diese aber sind und werden nichts. Als man nach ihnen sah, war keiner recht zu haben. Später sprachen sie lauter nach, was ohnehin jeder wußte, und ein Hiller führte die frechen Schreier an. Sie paßten wie ein Schießhund auf den gerade gangbaren Pfiff, die aktiven Hudler, die großlippigen Helden des sich Anbiedern, als sonst nichts mehr übrig blieb. Aber wo ernsthaft der Stoß geschah, spürte sie keiner, wußte niemand Rechtes von ihnen, den neuen Spiegelbergs, oder nahm sie ernst [...]. So liegen sie am Boden, die Wilden und die Klaren, außer Betrieb, Knechte auf dem Markt, die niemand braucht, die niemand dingt, Nichtse insgesamt, denen zum tätigen Geist beides fehlt (DW 56). Aber am Schluß dieses richtenden Neuordnens des aktuellen Lebens zeigt sich doch, vom „neuen Ton" in Nietzsches Werk angekündigt,32 die „Landesgrenze des Nihilismus", und hier trennen sich die Wege der Essayisten Lukâcs und Bloch. 33 Denn wo Lukâcs' richtender Essay in der Verkündigung der Ethik der Brüderlichkeit aufhört, fängt Blochs „vollendeter" Essay an, mit seinem Doppelblick (Janusgesicht) des Richtens und Erhellens. An dieser Grenze geht man auf das menschliche Apriori zurück, auf das Subjekt in seiner doppelten „motorisch-geschichtsphilosophischen" Bestimmung und der ihm eigenen Umsetzung des Willens (Zeitintensität) in die Vorstellung (Raum). Von hier aus gibt es einen begründeten Übergang zu dem erzählerischen Anhang des Buches in seiner ersten Ausgabe,34 der „einige philosophische Anekdoten und Studien" enthält, zum Gebiet, wo man sich dem „Einzelnen, Unabgeschlossenen, dem erlebenden und auffassenden Subjekt zutiefst Verwandten im Werk" zuwendet (DW 111), dem „Fügen des geheimen Namenszugs als einem dunklen Vorangehen, als Überholen der Zeit". 3 5 Die bestehende Welt ist nicht wahr, aber sie will durch den Menschen zur Heimkehr gelangen; das ist ihr Prozeß (DW 115). Es wird in der Domäne des produktiven Subjekts, d.h. vornehmlich in der Kunst, den Dingen „ihr Bild, ihre Kategorie, ihr Anblick in eigentlicher Wahrheit vorgehalten, und sie strömen in diesen Spiegel [...] ein" (DW 118); die 32 Der Kritik des kulturell-philosophischen Lebens der Gegenwart folgt im Aufbau des Buches das Kapitel Der Impuls Nietzsches. 33 Durch die Wüste ist eine Version des immer wieder unternommenen Dialogs Blochs mit Lukâcs, s. Br 114. Dieser Dialog wird in mehreren Passagen von Geist der Utopie, im Aufsatz Aktualität und Utopie. Zu Lukâcs' „Geschichte und Klassenbewußtsein", in: Der neue Merkur, 7, 1923/24 (PA 598-621), in S (Anhang: Das Niemandsland), in den Goethe-Kapiteln von PH und MP geführt. Zu den Dialogen mit Benjamin, Kracauer, Brecht s. Teil III. dieser Arbeit. 34 Man hat diesen Konstruktionszusammenhang übersehen. Zudeick urteilt, daß „philosophische Anekdoten" im Anhang zu Durch die Wüste (1923) „ersichtlich keinen rechten Ort haben", Zudeick, 100, EBA11. Boella spricht von Blochs „Unsicherheit" über den Stellenort des Erzählerischen in seinem Werk, Laura Boella, Pensare e narrare, vii, LitS. 35 DW 102: diese Stelle entstammt dem in der Erstausgabe 1923 nicht enthaltenen Kapitel Über den sittlichen und geistigen Führer, der auch in PA 204-210 abgedruckt ist. 4 Czajka
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leere Zeit kann verlassen werden im Gegenwärtigsein des Selbstbildes. Das schöpferische Subjekt wird „kanonisch" im „allgemeinsamen Sinn" als „Statthalter einer verhüllten Identität" (DW 103). Die Bestimmung eines „vollendeten" Essayisten, eines Philosophen, der „nicht wie Münchhausen [reist], von dessen Anwesenheit keines der beschriebenen Länder etwas verspürt, sondern [der] dazu gehalten [ist], Baaders tiefster Forderung zu genügen: gleich einer Sonne über allen Kreaturen aufzugehen, damit er ihnen zur Manifestation Gottes', das ist des in der Christförmigkeit aller Welt Gedachten, verhelfe" (DW 121-122), könnte man für den Ausgangspunkt zu Blochs späterem Buch Erbschaft dieser Zeit (1935) halten. Der Blick des Essayisten sucht in der gegenwärtigen Wirklichkeit nicht nur die Verfallszeichen (Lukâcs), sondern auch einen Boden für das apriorisch geahnte Wesen, er bereitet dafür, damit es geschehen kann, in den Rissen, Nischen und Überschüssen „der Zeit", einen möglichst weiten Raum: Hier wird breit gesehen. Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend und niederträchtig, der Weg heraus krumm (EZ 15). Die Sichtung der Wirklichkeit erfolgt freilich im Buch über die goldenen 20er Jahre auf eine differenziertere und systematischere Weise als in Durch die Wüste, eine Tendenz zum Enzyklopädischen, eine Ähnlichkeit mit Walter Benjamins „mikrologischem" und Siegfried Kracauers „soziologischem" Blick aufweisend: auf der Stufe des Alltagslebens, der sozio-kulturellen Erscheinungen und schließlich in den sinnstiftenden Institutionen der Kunst, Wissenschaft und Philosophie. In der „orientierenden Mitte" des Buches steht Blochs Ungleichzeitigkeitstheorie, die nicht nur die Entdeckung eines neuen revolutionären Potentials in den sozialen Schichten der Bauern und Kleinbürger enthält, sondern auch eine Dialektik der ungleichzeitigen Bewußtseinsformen, die in den sich immer wieder augenblickhaft konfigurierenden Montagen solcher Formen besteht. „Gleichzeitig" mit der aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit ist das Denken der „freien revolutionären Tat" (EZ 122), aber es hat, nach der erfolgten Kritik ihrer ideologischen Funktion, die anderen Gegensätze zur kapitalistisch-bürgerlichen Wirklichkeit in sich aufzunehmen, die sich auf „trübe", „faule", „nebelfleckartige" Weise in den Bewußtstseinsformen der Bauern, Kleinbürger und sogar des großbürgerlichen kulturellen Überbaus artikulieren. Vom Denken der verändernden Tat aufgenommen können sie ins „heutige Feld" gebracht werden, zu gleichzeitigen Bewußtseinsformen ummontiert werden, der verändernden Tat Kraft verleihend. Als Attribute, Vorstellungen des Menschseins (Farbe Rot und Gold der alten deutschen Fahne, das chiliastische Dritte Reich), die die emanzipatorischen Bewegungen der Vergangenheit geleitet haben, sollen sie aus der faschistischen Besitznahme zurückgewonnen werden. Bloch kämpft um jedes Wort, jede Farbe und Zahl, in tiefer Einsicht in die Lebenswichtigkeit der Rhetorik und ihre
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onto-metaphysische Bedeutung. „Nebelflecken" der Träume, Bilder, Zeichen, die die menschliche Irratio zudecken, sollen nicht verscheucht werden, sondern als Beiträge zur Bezeichnung des unruhig-phantasievollen Selbstwerdenden des Menschseins behandelt werden, das „nie aus einem Guß" ist (EZ 228). Die Forderung der Gleichzeitigkeit in Erbschaft dieser Zeit ist „janusköpfig". Zunächst wird die Aufnahme der ungleichzeitigen „Vermissungen" am gegenwärtigen Leben in den Kampf gegen den Faschismus und zur Aufhebung der ökonomischpolitischen Widersprüche gefordert, aber es geht im gleichen Zug um die Erweiterung der Zielvorstellung dieses Kampfes, damit er nicht blind wird. Stark wird in diesem Buch, das gleichzeitig zu den untersuchten Zeiten entstand (EZ 18), die überprüfend-wertsetzende Dimension der marxistischen verändernden Praxis gefordert; man könnte darin hinter der Priorität des antifaschistischen Kampfes das Primat der Menschenerfüllung heraushören. In der Entstehung des Montagebildes der Gleichzeitigkeit ist sowohl die „Analyse des Betrugs" (und somit die Emanzipation nicht nur „erniedrigter, geknechteter, verlassener, verächtlicher" Wesen, sondern auch „betrogener und berauschter") als auch die „Herausführung des Substanzscheins" (EZ 160) enthalten, d.h. die Bestimmung des guten Ziels, seit je das Amt der von den Musen übertragenen Weisheit. Es geht also im Buch um die Forderung der Aufnahme verschiedener sich nebeneinander artikulierender Kulturinhalte in ein gleichzeitiges Montagebild, um die Aufgabe der Übertragung der Kultursubstanz der Geschichte in dieses die verändernde Praxis leitende Bild, generell um die Erweiterung des wissenschaftlichen „Deutens" um das „Bedeuten" (EZ 66) 3 6 und um die Befreiung zur Weisheit, zur (musischen) Selbstbestimmung des Guten (EZ 155 f.). 3 7 Die ratio wird „echt und voll, konkret", wenn sie von der „Wirtschaft" befreit wird (EZ 153). Marxismus ist nach Bloch „gerade der Hebel, um die beherrschte Wirtschaft an die Peripherie zu stellen und den Menschen erstmals in die Mitte" (EZ 153-154). Marxismus sollte das Denken dieser „Mitte", dieser auch von Brecht apostrophierten „Normalität" (EZ 156) sein: So wird es ein konkretes Amt, das vermittelte Transzendieren (aber: Transzendieren) im Marxismus urbi et orbi auch zu zeigen; es wird Pflicht, sein Ultraviolett, die im dialektischen Materialismus vermittelte Zukunfts-„Transzendenz", welche der Marxismus implizite enthält, zum Zweck der Besetzung und Rationalisierung der irrationalen Bewegungen und Gehalte auch publik, explizit zu machen. Denn die marxistische Welt, worin konkret gedacht und gehandelt werden kann, ist am wenigsten mechanistisch, im Sinn des bürgerlichen Bornements, am wenigsten tatsachen- und gesetzeshaft im Sinn des mechanischen Materialismus. Sondern sie ist eine Bewegung, worin menschliche Arbeit eingezahlt werden kann, ein Prozeß helfender Widersprüche sodann und zu einem dämmernden, erzmenschlichen Ziel: sie
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4*
Vgl. den Spuren-Text Störende Grille. Vgl. PH 982 f.
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ist arbeitend, dialektisch, hoffend, erbend schlechthin. Nichts zu vergessen, alles zu verwandeln, beide Kräfte sind dieses Orts fällig (EZ 157). Für das Gebot der Stunde hält Bloch „sprachliche und propagandistische Reform" (EZ 153), in der es grundsätzlich um die aktive, augenblickhafte Sinnbildung geht, um die „schiffartige" Kraft des Eingedenkens und der Phantasie daran gegen „monolithische Langeweile" (EZ 21). Dem Anliegen seines Buches entsprechend arbeitet Bloch in Erbschaft dieser Zeit mit der Kraft der Sprache. 38 Kritisch-vernichtend wirkt die sprachliche Erfassung mancher Zustände: Die leeren Straßen, nicht einmal der Wind fühlt sich darin wohl. Eine alte Tram klappert vom Bahnhof zum Marktplatz; ihr inneres Licht beleuchtet müde Gesichter, die nicht heiterer werden, weil sie sich alle kennen (EZ 32). Die Sprache kann auch präzis treffend sein in der Benennung der situationskonstituierenden Momente, bis heute „gleichzeitig", wie in der folgenden Passage: Der Tag ist leer. Die Arbeit fehlt. Der Dienst ist hart. Das Volk braucht Reize. Der Nazi malt sie in die Stickluft, wie das „Volk" es wünscht, das Kapital befiehlt (EZ 403). Phänomena mimetisierend gelangt die sprachliche Darstellung zu ihren prägnanten Charakteristiken und darüber hinaus auf ihr Unvollendetes wie in der plastischen Darstellung von Joyce: Ein Mund ohne Ich ist hier mitten im fließendem Trieb, ja, darunter, trinkt ihn, lallt ihn, packt ihn aus. Völlig folgt die Sprache diesem Zerfall nach, sie ist nicht fertig und schon gebildet, gar geformt, sondern offen und verwirrt [...]. Die Worte sind arbeitslos geworden, aus ihrem Sinnverhältnis entlassen, bald geht die Sprache wie ein zerschnittener Wurm, bald schießt sie zusammen wie bewegtes Trickbild, bald hängt sie wie Schnürboden in die Handlung hinein (EZ 243). Solche sprachliche Erfassung kann auch das Ungewußte, nicht anders artikulierbare an einem Phänomen benennen, wie in der Darstellung von Brecht, in der dessen erstaunliche paradoxe Charakteristik zutage kommt: Ein träumender Kopf bleibt das auch dort, wo er gänzlich kalt verschwinden will. Wo er nicht Lust hat, zu betrachten, wie so viele der Art vorher, nicht schöne Worte setzt, gar besonders „eigene". Sondern tätig eingreift, mit geschultem Satz reizt, in Szenen wirkliche Handlungen vorprobt; wie Brecht (EZ 246). Erbschaft dieser Zeit ist in der Situation einer vielfachen Zersplitterung entstanden und mußte demzufolge ein differenziertes Anliegen verfolgen, 39 das auf 38
Zu der Sprache in EZ mit Akzent auf dem Problem des Erbes und Übergangs s. Florian Vaßen, LitL. 39 Es reicht, die Zeitungen vom Anfang der 30er Jahre durchzuschauen, um festzustellen, wie zersprengt und unentschieden die politische Situation Deutschlands war. Man kann auf diesem Hintergrund deutlicher die Dimension und Methoden des „eini-
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verschiedene Weise rezipiert wurde ist. Erbschaft dieser Zeit wurde in erster Linie in der Situation des Kampfes mit dem Faschismus gelesen, als die Kritik einer spätbürgerlichen, auf „Zerstörung der Vernunft" basierenden Entwicklung. Sie wurde im Zusammenhang der marxistischen Klassenkampftheorie gelesen: als Entdeckung des revolutionären Potentials der Bauern und Kleinbürger. 40 Ein weiterer Kontext für Erbschaft war die Diskussion um die Problematik des kulturellen Erbes des Marxismus, und insbesondere um die Einstellung zur Kunst der Moderne 41 wie auch um die Konzeption der Literatur der Revolution. 42 Später diskutierte man Erbschaft dieser Zeit vom Standpunkt der Möglichkeiten, die Doktrinen des „real existierenden Sozialismus" zu berichtigen, 43 und schließlich als eine Theorie der Pluralität und Irratio in der Geschichte.44 Diese in den ersten Punkten genannte, seinerzeit „heiße" Problematik, ist nun antiquiert, und lebendig bleibt an Erbschaft die darin lange vor der Dialektik der Aufklärung betonte Problematik der Rationalität, die Bloch als das Problem der Fähigkeit der Vernunft stellt, das Gute über die „Dialektik der Bilder" zu bestimmen. Als zentrales Anliegen von Erbschaft dieser Zeit erweist sich die Bemühung um die Sinnbildung, um die Bestimmung der Ziele der verändernden Praxis. In der deutschen Wirklichkeit der 20er Jahre identifiziert Bloch verschiedene, „ungleichzeitige" Modi der Selbstartikulation von verschiedenen gesellschaftlichen Schichten (Bauern, Angestellte, Intelligenz) als „Vermissungen am gegenwärtigen Leben" und „Sehnsüchte nach einem undeutlich anderen" (EZ 16), die einen „antikapitalistischen ,Trieb'" (EZ 15) gemeinsam haben. Bloch will sie nicht wie Lukâcs unterbinden, sondern verbinden, „montieren". Verbunden werden sollten die Vorstellungen, Extensionen des subjekthaften Im-
genden", sich der propagandistischen und ästhetischen Mittel bedienenden faschistischen Eingriffs und auf der anderen Seite Blochs Scharfsinn und die Dimensionen seines Gegenentwurfs einschätzen. 40 Zu diesem Punkt s. die Diskussion mit Hans Günther: Erbschaft dieser Zeit? in: Internationale Literatur, 6, 1936, Nr. 3, 85-101, der das Buch scharf kritisierte. Bloch reagierte mit einer Antwort, Bemerkungen zu Erbschaft dieser Zeit, ib., Nr. 6, 122— 135 (PA 31-53), der die Replik von Günther: Antwort auf Ernst Bloch, ib., Nr. 8, 112-124, folgte. 41 EZ erschien im Moment der sich vorbereitenden Auseinandersetzung des Marxismus mit der Kunst der Moderne: Avantgarde, Surrealismus, Expressionismus. Zu Blochs Teilnahme an dieser Auseinandersetzung sowie zur marxistischen Aufnahme von EZ s. Burghart Lindner: Der Begriff der Verdinglichung und der Spielraum der Realismuskontroverse (1978); Schmitt 19-21; Klatt 141-178; alle LitL. 42 Dazu s. Blochs Vortrag Dichtung und kommunistische Gegenstände auf dem Schrifstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, abgedruckt in: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente, hg. von Wolfgang Klein, Berlin 1982, 324; erweiterte Version u.d.T.: Marxismus und Dichtung, LA 135-143. 43 Reinhard Baumgart: Ernst Blochs „Erbschaft dieser Zeit", EBAr, 50-56. 44 Zu diesem Aspekt s. vor allem Remo Bodei: Multiversum (1979); Beat Dietschy: Gebrochene Gegenwart (1988); beide LitAugB.
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puises des Anders- als des Menschseins, damit sie einen Raum herstellen für das Zustandekommen eines sie alle einbeziehenden Sinnbildes. Nicht vernichtend (wie Lukâcs) gegenüber den Selbstartikulationen außerhalb der Arbeiterklasse geht hier Bloch vor, nicht isolierend (wie Benjamin), sondern der sozialen Zerstreuung wie der ästhetischen Dispersion durch eine gleichsam „katholische", verbindende und umorientierende Einstellung entgegenwirkend. 45 Die ästhetische Sinnbildung soll sich nach Bloch in einem systematischen philosophisch-politischen Gefüge vollziehen, sich durch diese reflektierende Bindung vor der Gefahr der manipulierbaren Beliebigkeit hütend. Die ästhetische Sinnbildung in ihrem augenblickhaften Vollzug sei, wie gesagt, „schiffartig", d.h. sie hat ins Jetzt des Lebens - „Schon morgen ist jedes Jetzt anders da" (EZ 152) - die Traditionen des Menschenhaften (von den ehrwürdigsten zu den flüchtigsten der Alltagsbeobachtungen) als seine Substanz unermüdlich zu übertragen, ohne sich mit fertigen Lösungen zu begnügen. Der besondere Charakter von Blochs Sinnbildung ist verkannt worden. Immer wenn er nach einem Menschenausdruck sucht, wurde das in der Sekundärliteratur nicht als ein Akt erkannt, sondern mit gewohnter wissenschaftlich-statischer Haltung in Tatsachen oder fertige Kategorien des Klassenkampfes, Realismus, Materialismus übersetzt. 46 Es war das Drama Blochs, daß gerade das Hauptanliegen seines Buches - und eines der Hauptprobleme unserer Gegenwart - gar nicht bemerkt wurde, daß das auf die Artikulation und Mitteilung konzentrierte Buch mißverstanden wurde und daß gerade die kritisch-poetische Tätigkeit seiner Sprache auf Ablehnung sogar seitens der ihm nahestehenden Denker und Dichter gestoßen ist, darunter Bertolt Brecht. 47 Der sachlich-wissenschaftliche 45 Blochs Mühe um die verbindende Sinnbildung ist also nur in beschränktem Maße mit der „Volksfrontpolitik" gegen den Faschismus zu assoziieren. 46 Als völlig verfehlt erweist sich die Wirkung des Buches auf Lukâcs. Seine unveröffentlichte Rezension von EZ erfolgt in einem politisch-taktischen Code, ist eine sozusagen politische Rechtfertigung des künstlerisch-philosophischen Charakters des Buches: Georg Lukâcs: Die Erbschaft dieser Zeit, Maschinenschrift, EBAT, Mappe 202 (entstanden 1935 in Moskau), Kopie aus Lukâcs-Archi ν Budapest, LAK 11/103.20. Lukâcs bezeugt Bloch u.a. „gesunden plebejischen Instinkt" und „Verurteilung der bürgerlichen Kultur weit hinter die imperialistische Periode zurück" (10). Er kritisiert den „Idealismus" an Blochs Vorgehensweise und gleichzeitig stellt er an ihr eine unbeabsichtigte kritisch-vernichtende Wirkung fest: „Diese widerspruchsvolle Selbstaufhebung seiner Methode durch ihre Anwendung auf konkretes Material gibt dem Leser eine Hoffnung, daß diese idealistisch-mystische Methode nicht die letzte Phase von Blochs Entwicklung sein muß, daß seine ehrliche und tapfere Mitarbeit am Kampfe gegen den Faschismus ihm dazu helfen wird, den heute vorhandenen schroffen Widerspruch zwischen seiner klaren politischen Stellungnahme gegen den Faschismus und seinen philosophischen Konzessionen an die idealistisch reaktionären Strömungen zu überwinden" (20). Auf Blochs Darstellung von Brecht bezogen heißt es: „Der Fall Brecht würde eine sehr ernsthafte Untersuchung erfordern" (15). 47 Mit seiner Problematik der ratio der augenblickhaft-poetischen Sinnbildung konnte Bloch kaum wissenschaftlich-pragmatistisch ausgerichtete Marxisten und über-
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Bann war stark, und in dessen Namen verurteilte - in einem der Paradoxe „undeutlicher Zeiten" - einer ihrer bedeutendsten, und dazu das Nachdenken betonenden Dichter, die poetische Sinnsuche eines Philosophen:48 Eure Eulenspiegeleien eines großen Herrn. Ich muß Ihnen unbedingt meine Indignation ausdrücken über Ihr, ich muß es schon sagen, regelwidriges Benehmen als Philosoph. Ich verlange keinen Bratenrock, wenigstens nicht unbedingt, d.h. warum eigentlich nicht einen Bratenrock verlangen? [...] Es gibt da solche gewisse Grundregeln, und wenn der Mast auch bricht. Sie werden lachen, es muß systematisch vorgegangen werden. [...] Übrigens, gerade Nachlaßverwalter müssen sich, kurz, befleißigen. Nur da keine Nonchalance bei den Nullen! Die maßgebenden Leute begehen ihre letzten Fälschungen, alles bereitet sich auf den entscheidenden Mißgriff vor, und sie ziehen den Bratenrock aus, sind Sie besoffen, Herr? [...] Glauben Sie mir, der allertrockenste Ton ist der richtige. [...] Es könnte eine große Sache sein, wenn Sie sich die Philosophie vornähmen und untersuchten, wo das abendländische Berufsdenken absackt, weil es auf Anpassung an nicht mehr haltbare ökonomische, politische Zustände ausgeht. Es muß da ganz große, verödete Felder geben,
haupt Zeitgenossen erreichen. Das geschah sogar bei den ihm nahestehenden Personen wie Joachim Schumacher, Schriftsteller und Musikologen, der mit Bloch das Problem seiner „schwierigen Sprache" diskutierte, s. Br 466 f., 478 f., 483 f. Schumacher plädierte im Namen „der ohnmächtigen, ja namenlosen Majorität" für das „gemeinverbindliche Was und Damit", für die „Mitteilung entdeckter Dinge, die unser aller werden sollen", in einfachen Formulierungen, ohne „Virtuosität" und „montierten Glanz". „Die Avantgarde allein siegt nicht", Br 485-486. Die Diskussion ist wegen „grundsätzlicher verschiedener Meinung", Br 489, unterbrochen worden. Ähnlich unverstanden blieb Blochs sprachliche Arbeit seitens Hermann Brochs: „[...] und jetzt habe ich das neue Buch von Ernst Bloch »Erbschaft dieser Zeit' (Oprecht, Zürich) gelesen, eine durchaus amüsante, durchaus geistreiche Kritik dieser Zeit vom marxistischen Standpunkt aus. Wenn es gelänge, in der Übersetzung die Härten des sehr eigenwilligen Bloch'sehen Stils zu glätten, so meine ich, daß sich für diese außerordentlich lebendige Buch in Amerika ein Leserkreis finden müßte", Broch, Brief an Ruth Norden, 16.2.1935, in: Hermann Broch: Briefe, Bd.l, Frankfurt a.M. 1981, 335. In der Bemühung, seine Zeitgenossen zu erreichen, verständlich, homogen mit dem gebräuchlichen Begriffsapparat zu werden, wird Blochs Sprache stellenweise beschwörend, donnernd und erschwert durch den marxistischen Wortschatz. 48 Noch vor Brecht äußerte Walter Benjamin seine Kritik an Blochs angeblich überholtem humanistischem Aufwand; s. dazu den Brief Benjamins an Alfred Cohn vom 6. 2. 1935: „Der schwere Vorwurf, den ich dem Buch mache (wenn auch nicht dem Verfasser machen werde) ist, daß es den Umständen, unter denen es erscheint, in gar keiner Weise entspricht, sondern so deplaziert auftritt wie ein großer Herr, der, zur Inspektion einer vom Erdbeben verwüsteten Gegend eingetroffen, zunächst nichts eiligeres zu tun hätte als von seinen Dienern die mitgebrachten - übrigens teils schon etwas vermotteten - Perserteppiche ausbreiten, die - teils schon etwas angelaufnen Gold- und Silbergefäße aufstellen, die - teils schon etwas verschossenen - Brokatund Damastgewänder sich umlegen zu lassen. Selbstverständlich hat Bloch ausgezeichnete Intentionen und erhebliche Einsichten. Aber er versteht es nicht, sie denkend ins Werk zu setzen. Seine übertriebenen Ansprüche hindern ihn daran. In solcher Lage - in einem Elendsgebiet - bleibt einem großen Herrn nichts übrig als seine Brokatstoffe zu Mänteln zu verschneiden und seine Prachtgefäße einschmelzen zu lassen", Walter Benjamin: Briefe, hg. von Gerschom Scholem, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 2, 648-649.
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höchst interessante Problemschrumpfungen. Worauf dann dieses erstaunliche taedium philosophiae ausbricht, von dem auch Ihr Buch Zeugnis ablegt, ja, auch Ihr Buch. [...] Aber Sie müssen das Buch, dieses Buch unter allen Umständen im akademisch-philosophischen Jargon schreiben, ja, in diesem Gaunerwelsch, Sie verstehen: in wissenschaftlichem Ton. 49 Es wäre eine Untersuchung darüber nötig, inwieweit folgende Antwort Blochs in Brechts Poetik nachgewirkt hat: Unterscheidender antworte ich: wenn ein bedeutender Dichter sich heutzutage, aus guten Gründen „literarisiert" oder „theoretisiert", vielleicht hat es dann auch seinen überlegten Sinn, wenn umgekehrt Philosophen den Bratenrock ausziehen, gelegentlich, und das treiben, was leicht wie Allotria (allerdings niemals wie Eulenspiegelei) aussieht. Es wachsen dadurch der Erkenntnis neue Formen zum Zweck der Durchdringung oder auch nur Beachtung kleiner, abseitiger, irritierender Gegenstände zu, deren Gewicht bei durchgehends würdiger Methode gar nicht wägbar ist. [...] Mein nächstes Buch rückt dem „Dunkel" spezifisch auf den Leib und lehrt zu sprechen [...]. Aber mit alten Anschlägen, mit den Stil- und Denkmitteln unserer Oberlehrer auf den Universitäten geht das eben nicht. [...] Zum (höchst erwünschten) Lehrbuch mit Paragraphen ist noch nicht die Zeit und auch noch nicht der Stoff. Auch Experiment im Vielen, mit einheitlich festgehaltenem Ziel, bereitet ihn vor. 50 c) Literarische Aufsätze Erbschaft dieser Zeit als Sammlung von essayhaften Kapiteln und Aufsätzen ist aber nur die Spitze des Eisberges von Blochs Produktivität dieser Zeit. In der Periode seit Mitte der 20er bis Anfang der 40er Jahre 51 hat Bloch ca. 150 Artikel und Aufsätze von (in Blochs Sinn, d.h. in bezug auf Inhalt und Form) literarischem Charakter verfaßt, und in Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in der „Frankfurter Zeitung", aber auch im „Berliner Tageblatt", dem „TageBuch", der „Neuen Rundschau", den „Weissen Blättern", der „Vossischen Zeitung", dem „Neuen Merkur", der „Literarischen Welt", der „Sammlung", der „Weltbühne" und der „Neuen Weltbühne", dem „Querschnitt", dem „Anbruch", der „Neuen Zürcher Zeitung" u.a. veröffentlicht; viele Texte blieben unpubliziert und wurden erst nach dem Krieg bearbeitet. Der Band Literarische Auf-
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Bert Brecht: Brief an Bloch von Anfang-Mitte Juli 1935, in ders.: Briefe I, Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (weiter als GKBFA zitiert), hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a.M. 1988 ff., Bd. 28, 511-512. Zu dem Briefwechsel Brecht-Bloch s. Erdmut Wizisla: Ernst Bloch und Bertolt Brecht: Neue Dokumente ihrer Beziehung, B1A 10, (1990), 87-105. S. auch Anna Czajka: Rettung Brechts durch Bloch? in: The Brecht Yearbook - das Brecht-Jahrbuch, 17, 1993, 121-137. 50 Ernst Bloch: Brief an Brecht vom 16.7.1935; zit. nach Wizisla, op. cit., 93. 51 Den Anfang seiner literarischen Produktivität datiert Bloch auf 1907; so in: Zeitgenossen. Eine Sendung des SWF vom 7.4.1974, Tonbandabschrift, EBAT, unkatalogisiert.
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sätze aus dem Jahre 1965 enthält einen sehr differenzierteren Komplex von Texten, sowohl ihrem Entstehungszusammenhang als auch formalen Merkmalen nach. Es gehören dazu Texte von unterschiedlicher Form und Charakter: von kurzen Notizen, Berichten über ausführliche Betrachtungen der Ereignisse, methodischen Auseinandersetzungen mit den literarischen, künstlerischen, ästhetischen Positionen der Gegenwart bis zu Versuchen zu Blochs eigener Poetik. Die literarischen Aufsätze sind in den bewegten Zeiten der Wohnortswechsel zwischen Berlin, Schweiz, Italien, Wien und Paris geschrieben. Sie sind alle „im Handgemenge" (EZ 18) entstanden, mitten in einer von Splittergruppen und Unruhe geprägten Situation, in sie phänomenologisch-poetisch eingreifend und sie dadurch „auflösend". In diesen Aufsätzen wird nicht mit fertigen Begriffen und Kategorien operiert, sondern zentral ist dort das lebendige Verhältnis zwischen dem Bin und den Phänomenen, in dessen Vollzug, der eine Konfrontation des gerade Wahrgenommenen mit dem Erinnerten und ein reflexives Nachdenken in sich enthält, momentan das „treffende" Bild gefunden wird. Das Spezifische an diesen Aufsätzen besteht nicht nur in besonderer momentaner Sinnfindung, sondern auch in der Stiftung einer stets neu ansetzenden Wahrheitssuche, eines sozusagen „offenen Essayismus". Die „Literazität" von Blochs Texten läßt sich freilich in vollem Maße erst im Rückbezug auf ihre Entstehungssituation und Text- und Wirkungsgeschichte einschätzen. So wird der literarische Aufsatz als „Erkenntnisinstrument des Wahren, Konkreten, wirklich damals Geschehenden"52 erst sichtbar, wenn man seinen Ursprung und sein Fortwirken bedenkt. Man versuche sich zum Beispiel in Grundzügen den inzwischen entlegenen historischen Zusammenhang, in dem Blochs Text Marxismus und Dichtung entstanden ist, zu vergegenwärtigen. Die Konstellation der Literaturdiskussion bildete damals die auf der „I. Allunionskonferenz der sowjetischen Schriftsteller" (an der sich auch viele ausländische Schriftsteller beteiligt haben) verkündete dogmatische Lehre Alexander Zdanows von einem „Realismus", der sich von der jeder Art von „Romantik" und experimentierender Avantgarde distanzierte; auf derselben Konferenz ist u.a. das Werk von James Joyce verurteilt worden. Ein weiteres verwandtes Element der Konstellation war Lukâcs' Offensive gegen die Kunst der Avantgarde und sein immer stärker propagiertes Programm des Realismus als der Kunst des Typischen, der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Tendenzen.53 Weitere „Arme" der Konstellation bildeten die sich wissenschaftlich-sachlicher, tatsachentreuer, photographischer Techniken bedienenden Autoren (Brecht, Egon Er52 Die Formulierung stammt aus dem Briefwechsel mit Siegfried Kracauer, der Hauptquelle der Informationen über die Entstehung und Veröffentlichung von Blochs literarischen Aufsätzen, Br 291 (Brief an Kracauer, 15.1.1928). Eine andere Quelle sind Blochs Briefe an seine spätere Frau: Ernst Bloch: Das Abenteuer der Treue. Briefe an Karola 1928-1949, AT. 53 s. Die Expressionismusdebatte, 7-28; Klatt; beide LitL.
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win Kisch, John Roderigo Dos Passos) und der in ästhetischer Produktivität auf geschichtsphilosophische Reflexion verzichtende, Bloch damals nahestehende Siegfried Kracauer. Wenn man nun diese Konstellation bedenkt, unter der 1935 der Schriftstellerkongreß in Paris stattfand, bekommt der Auftritt Blochs einen konkreten und tiefen Erkenntnisweit. Angesichts des sozialpolitisch-wissenschaftlichen Verzichts auf die Dichtung (die, vereinfachend gesagt, mal gesellschaftlichen, mal technischen Zwecken zugeordnet oder überhaupt zusammen mit der Philosophie aufgehoben werden sollte) ist Bloch auf dem Kongreß wohl der einzige, der an der freien Wahrheitssuche der Kunst festhält und auf sie gerade in der Situation der Gefahr, des Kampfes und Übergangs nicht verzichten will. Im Namen der Kunst widersetzt sich Bloch der Verurteilung der „Untergangs-Poeten" wie Green, Proust, Joyce. Seine Einschätzung der Politisierungstendenzen in der Literatur ist eindeutig negativ: Wie ein Heinrich IV., der dem Papst recht gibt, stehen solche durch den Marxismus sich verhindert glaubende Dichter im Hof des russischen Canossa, und vom Himmel scheint ihnen nichts übrig zu bleiben als der schmale Weg zu ihm. 54 Wie ein Don Quijote hält Bloch in der verödeten Welt die Flagge der Poesie hoch. 55 Als Philosoph erklärt er den Schriftstellern ihre Bedeutung; entsprechend dem „Gebot der Stunde" erfolgt der Übergang zum marxistisch verstehbaren Vokabular: Alles „bedeutend" Dichterische ist per se eine eigne Produktionskraft und eine eigne Weltverarbeitung; denn es bringt einen Strom von Handlung, einen Wachtraum von Bedeutung ins Bewußtsein der Welt, welche in dieser nur potentiell enthalten sind (LA 326). Indem Bloch den Vortrag für die Ausgabe bei Suhrkamp 1965 (gleichzeitig erscheinen Adornos Noten zur Literatur) vorbereitet, versucht er nochmals in die nun auf andere Art und Weise negative Situation einzugreifen, in den nachgetragenen Stellen diesmal nicht so sehr auf ideologische als auf verwissenschaftlichende Tendenzen des Denkens eingehend, wobei er auf eine Erneuerung der Dichtung hofft und auf einer menschenorientierten Erneuerung der Sinnproblematik insistiert: Die Zeiten gehen vorüber, wo jede Kunst des Ausfabeins verdächtig war und ein Kopf mit Einfällen sich fast bemühte, keine mehr zu haben. [...] Sogenannter dichterischer Journalismus, sogenannte Literatur des Faktums, wie von 1921-29 geprie54
Aus Ernst Bloch, Dichtung und kommunistische Gegenstände, loc. cit., 324, LA 129. Zu diesem Vortrag s. Ujma, 201-204, LitL. 55 In dem auf 1931 datierten Aufsatz Poesie im Hohlraum heißt es: „»Poesie4 stehe hier für den ganzen Kreis subjektiv zutreffender, das heißt auch objektiv antreffender Imagination [...], also auch - mutatis mutandis - für Malerei, Musik, sogar für Philosophie, sofern sie sich auf Humanisierung der Welt versteht" (LA 119).
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sen, treten nun zurück. [...] die Wahrheit ist nicht Abbildung von Fakten, sondern von Prozessen, sie ist letzthin die Aufzeigung der Tendenz und Latenz dessen, was noch nicht geworden ist und seinen Täter braucht. Da ist die Kindheit oder das Märchen als Stoff, der sich stets erfrischt. [...] Da ist eine Natur, auf die seit Rimbaud noch keine Antwort erfolgt ist, und auf die ohne erweckende qualitative Latenzsprache poetisch überhaupt keine Antwort mehr gegeben werden kann. [...] Die Lehrer durch Dichtung fanden selten Stoffe, die vortrefflicher sein könnten als unsere kühn-bewegten, latent-wartenden, und - niemals realere (LA 138, 141, 143). Und noch ein Beispiel solcher „selber in der Zeit gehenden",56 die Situationen verbindenden und gegenseitig beleuchtenden Aufsätze. Die Idee des Aufsatzes über den Detektivroman ist in Geist der Utopie gefaßt worden, im Nachdenken über eine Metaphysik, die über Indizien zum vorausliegenden Ursprung der Welt zurückkehren läßt. Dieser abstrakten, logistischen Metaphysik des Gewesenen setzt Bloch die Metaphysik des noch nicht daseienden, mit der Kraft des Subjekts, seines Fragens, Suchens und Umgestaltens herauszubringenden Grundes entgegen.57 Die Idee des Detektivromans, die sich natürlich nicht auf das Literarische beschränkte, sondern auf die vorherrschende kulturelle Formation (Recht, Geschichte, Metaphysik, Theologie) überhaupt bezog, erweiterte und präzisierte Bloch in der Periode der Freundschaft mit Siegfried Kracauer (1926-1929), nachdem dieser an seinem Manuskript zum Detektivroman gearbeitet hatte, mit der Haupthese von der Homogenisierung der Detektivarbeit mit derjenigen des Verbrechers. 58 Bloch überprüfte seine „Idee" in den Diskussionen mit Walter Benjamin über die Vergangenheitsbezogenheit seiner Bilder, 59 und konfrontierte sie mit der durch den Detektivroman inspirierten Prosa von Bertolt Brecht. 60 Über Jahrzehnte hinweg trug Bloch den vielfach geprüften Kern des Aufsatzes mit sich, um, als man sich in den 60er Jahren - im geteilten Deutschland - um die deutsche, von der Verdammnis des zweiten Weltkriegs befreite Kultur bemühte, die Frage nach dem Grund des Übels zu wiederholen und von ihr aus die künstlerisch-philosophische Lichtung dieses Ungrundes sowie die (aus der Analyse des Künstlerromans gewonnene) des guten Grundes wieder einzuführen. 1960 während eines Sommerkurses für ausländische Germanisten stellte Bloch seinen verschiedene Zeiten „auflesenden" Vor-
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Ich knüpfe an Blochs Titel Das Märchen geht selber in der Zeit an, LA 196-199, wo gerade der „freibleibende, durch die Zeiten schwebende Charakter" der für Bloch zentralen literarischen Form, des Märchens, herausgestellt wird. 57 GU 367. 58 Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman, in ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1971. 59 Ein Dokument davon ist der auf September 1924 zu datierende Text Bilder des Déjà vu, LA 232-242. 60 s. Bertolt Brecht: Kehren wir zu den Kriminalromanen zurück!, GKBFA, Bd. 21, 128-132.
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trag über den Detektivroman vor, der dann in Literarische Aufsätze eingegangen ist61 Im historischen Kontext gesehen zeigen die literarischen Aufsätze ihre besondere „zart-zwingende" Verweisstruktur, ein Netz von Verbindungen, das der Literaturwissenschaft unbekannt war. Der zentrale literarische Ausdruck entsteht in jedem dieser Aufsätze aus einer aktuellen Situation, aber seine Wirksamkeit reicht über das gerade Gelebte hinaus: sie schlägt einen Bogen von dem seinerzeit nicht Eingelösten in die erhoffte Zukunft der einmal möglichen Verwirklichung. Von diesem Gesichtspunkt aus erschließt sich an den Aufsätzen das sich gegen den üblichen Zeitlauf sträubende Gedichtete als die genuine Dimension des Menschlichen. Nur durch die Zeiten gelesen, als die Texte, die die Zeiten im poetisch-philosophischen Ausdruck aufnehmen und konzentrieren, zeigen die Aufsätze den vollen Glanz ihrer „Funken". Die Aufsätze bedürfen eines Kommentars, in philologischer Terminologie gesprochen: eines historisch-textkritischen Kommentars, und sie bedürfen ebenfalls einer ständigen poetisch-philosophischen Überprüfung. Diese Forderung ist Blochs „fabelndem Denken" inhärent, sowie seiner Literaturauffassung, die das Verhältnis des Produzenten und des Werkes in ihrer aktuellen und noch möglichen Wirkung in den Mittelpunkt stellt. 62 Um ein anderes Spezifikum seiner „Literazität", die Verknüpfung des Ästhetischen mit dessen philosophischer Reflexion, rang Bloch in den Auseinandersetzungen der 30er Jahre; man kann darin eine Stellungnahme zu der die „Geisteswissenschaften" gegenwärtig beschäftigenden (und überwiegend negativ beantworteten) Frage finden, ob das Ästhetische des Nachdenkens bedarf. In der Diskussion mit Kracauer angesichts dessen Interesses (und dem der „Frankfurter Zeitung") für „das Vielhafte, Disparate, Telos-Fremde" 63 und der ihn auch als Widerpart von Brecht 64 definierenden Ablehnung des geschichtsphilosophisch-politischen Nachdenkens, ist Blochs Position klar: [...] ohne fortdauernde Selbstinformation unseres aktuellen Instinkts (dies Wort gerade im tiefsten Sinn gemeint) werden wir aktuell leicht schief greifen oder uns bestenfalls - in Wiederholungen ergehen.65 61
An den zu jener Zeit in Tübingen organisierten Sommerkursen für die Germanisten beteiligten sich u. a. Paul Celan, Hans Mayer, Benno von Wiese, Peter Wapnewski. Blochs Vortrag über den Detektivroman folgte im nächsten Jahr der über den Künstlerroman. 62 s. Vidal, LitL. 63 Bloch im Brief an Kracauer vom 20.2.1928, Br 297. 64 An Kracauer vom 25.5.1932, Br 357 f. 65 An Kracauer im März-April 1928, Br 302. Das Hauptproblem bei den Veröffentlichungen Blochs in der „Frankfurter Zeitung" war ihr unerwünschter Kommentarteil, s. die Diskussion über die Publizierung von Zeittechnik, Br 297, 299 f. Das kann einer der Gründe dafür sein, daß die Erstfassungen der literarischen Aufsätze oder Spuren-Texte, die in der Zeitung (weiter als FZ angegeben) erschienen sind, sich von den endgültigen Fassungen um den kommentierenden Teil unterscheiden.
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Bloch hat mehrmals versucht, seine literarischen Aufsätze in ein Buch zu fassen: zunächst in der in der DDR 1956 zum Druck vorbereiteten und dann verhinderten Sammlung unter dem auf die Vielfalt des Suchens anspielenden Titel Die hundert Tore Thebens, sodann in den beiden Bänden von Verfremdungen: Janusbilder 1962 und Geographica 1964, die schließlich in einen Band der Gesamtausgabe 1965 eingingen;66 die letztere Sammlung trägt, sich der vereinheitlichenden Tendenz der Überschriften der Gesamtausgabe anpassend, den schlichten Titel Literarische Aufsätze. Es ist ein merkwürdiges Buch, welches verschiedene Zeiten mit ihren Unruhen und Mühen zu einem Wiedersehen versammelt. Bemerkenswert ist, daß Bloch in der Ausgabe letzter Hand seine literarischen Texte ohne jeglichen Kommentar läßt. Es mag sein, daß seine Absicht dabei war, die Aufmerksamkeit zunächst auf die „Literazität", auf die besondere Form der Aufsätze zu lenken. Es mag sein, daß Bloch die Bindung seiner Texte an Situationen und Positionen („-ismen") meiden wollte und nach den negativen Erfahrungen der Kunstdebatten der 30er Jahre eine adäquate Aufnahme seines Werkes von einem faktenkundigen oder literaturwissenschaftlich spezialisierten Leserpublikums nicht erwartete. Daher ließ er seine literarischen Aufsätze wie ein „öffentliches Geheimnis" wirken, das anzieht und sich verschließt. Fest steht, daß die Aufsätze eine Art von angewandter, essayistischer Literaturtheorie in sich enthalten, die, nachdem im Teil Die Kunst, Schiller zu sprechen die Wesenszüge der Literatur identifiziert worden sind, mit dem Teil Trikot und Staatsrock zunehmend systematisch konstruktiv wird und sich auf Stoffe, Aufbau und Aussageinhalt bezieht: 67 in der Rekonstruktion der Poetik von Spuren im Teil IV dieses Buches werden wir oft auf sie zurückgreifen. Mitten in der vielfältigen und bewegten essaystischen Arbeit verläßt Bloch aber niemals der Gedanke an sein systematisches Werk, dessen „Idee" er ganz früh gefaßt hatte und in wiederholten korrigierten Entwürfen entfaltete. 68 Mehr66
Ein Teil der unveröffentlichten Texte und der Erstfassungen der gedruckten Aufsätze von Ernst Bloch ist in einer wenig durchschaubaren Anordnung im Band: Viele Kammern im Welthaus (1994), VW, und chronologisch geordnet in der Auswahl: Fabelnd denken (1997), FD, abgedruckt worden. 67 Eine dreifache Aufgabe hätte die kommentierende Arbeit an den Aufsätzen: 1. die „kulturkritischen" Aufsätze der beiden ersten Teile der Buchausgabe 1965 (mitsamt der außerhalb der Ausgabe gebliebenen Texte wie z.B. Über den deutschen Schulaufsatz) in bezug auf ihre Gegenstände in ihrem kritischen Wert zu konkretisieren; 2. die konzeptuellen Beiträge Blochs zu den weitverzweigten Auseinandersetzungen seiner Zeit (Psychoanalyse, Gestalttheorie, Neufassungen der Epik) auszuwerten; 3. die Elemente seiner eigenen immanenten Methodik zu rekonstruieren. Die Kommentararbeit sollte auch die Werkgeschichte erschließen: die Fluktuation von Blochs Interessen feststellen und datieren. Im Fall der literarischen Aufsätze läßt sich z.B. anhand von mehreren nicht in die GA aufgenommenen Texten die Arbeit Blochs an interkulturellen Themen und danach an einer Art „philosophischer Geographie" (Br 378) feststellen. 68 Angesichts Blochs intensiver Arbeit am System, wovon die Materialien im Nachlaß zeugen, verwundert die These von Christina Ujma über den Gang des Werkes in den 30er Jahren: „Eine Wende zum Systemdenken kam jedoch auch nicht in Frage
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fach unternommene Versuche, die „Idee" des Gesamtwerkes zu realisieren, scheiterten allerdings; sie schienen insgesamt verfrüht, 69 nicht genug durch die essayistische Verarbeitung der Stoffe des Gelebten sowie die innere Reflexionsreife des Autors vorbereitet zu sein. 70 Aber Mitte der 30er Jahre sieht man, daß Bloch gerade im Apogäum seiner essayistischen Arbeit auf sein systematisches Vorhaben zurückkommt und es diesmal konsequent durchführt. 71 Es sieht so aus, als ob Bloch in der Mitte seines Lebens den eigenen Büchern, in denen es hauptsächlich auf die poetische Benennung des gerade Gelebten, auf die augenblickhafte vergegenwärtigende und integrierende Artikulation seines Sinns ankommt, das System beigeben wollte, eine Konstruktion, die fähig wäre, einer pulshaften, beweglichen, vielfältigen Wirklichkeit einen geordneten Hintergrund und eine postulativ einheitliche Richtung zu verschaffen: ein paradox offenes System von der „Konstruktion des Unkonstruierbaren". Der Schritt der Arbeit am System, der uns vor allem interessiert, ist das erste essayistische Ordnen, Benennen, Mitteilen, die rhetorisch-poetische Artikulation des Meinens (im Lotzeschen Sinne der Intention) und ihr Übergang in die des Beziehens und der Logik einer unverdinglichten, offenen und immanenten Selbstsuche.
[...]", Ujma, 114, LitL. Es ist übrigens eines der seltsamen Leitmotive der Bloch-Forschung, sein Systemdenken trotz Tausender darüber geschriebener Seiten zu übersehen. 69 Bloch spricht von der Nachreife seiner Werke. Dazu eine Stelle aus seinem Brief an Karola: „Ich glaube, dass die meisten meiner Schriften erst in dieser Nachreife erscheinen werden. Hauptsächlich, weil jetzt ja keine Klasse (nicht mehr und noch nicht) lebt, die sie aufnehmen und tragen kann. Sodann, weil den Aufnehmenden erst in diesem Abstand der riesige Sachzusammenhang aufgeht. (Der Respekt tut dann auch das Seine)", Brief vom 27.8.1932, AT 128. S. auch den Aufsatz von Bloch Müssen Bücher Schicksale haben?, LA 556-560. 70 Zum „Lehrbuch mit Paragraphen" s. die oben zitierte Antwort an Brecht. 71 Die äußeren Lebensbedingungen durften in bezug auf das Werk nicht entscheidend sein. Zwar ist die Verwirrung in Blochs 30er Jahren bekannt: ständiger Wohnortswechsel, wechselnde persönliche Beziehungen, ungeordneter Tagesablauf. Bloch klagt darüber im Brief an Karola: „Schlimm an Berlin ist, dass ich zu nichts komme (Drittes Reich ist zwar geschrieben, Kepler unter der Maschine). Wo nichts ist, bin ich auch »menschlich* sehr viel; eine bezaubernde Persönlichkeit. Und da ich nachts besonders gern lebe, wird es meist vier Uhr, bis ich nachhause [sie] komme. Dann lese oder schreibe ich noch etwas, um zu mir zu kommen. Den nächsten Morgen kann man sich vorstellen; so geht es nicht weiter. Grosse Dinge kann man nur auf dem Land schaffen. Der kleine Wall des Häuschens und eine Frau als der anmutigste Weltgeist", Brief vom etwa 23.-25.10.1930, AT 60. Die Emigration hat Blochs Leben nicht erleichtert, der äußere Zwang scheint es freilich auf die Rettung des Werkes diszipliniert zu haben.
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d) Bilder im System und in der Enzyklopädie (Logos der Materie, Das Prinzip Hoffnung) Im Jahre 1934 entsteht in Zürich-Zollikon Blochs Manuskript Gleichnis, Allegorie, Symbol, 12 in dem Bloch, deutlich vor allem durch Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) herausgefordert (aber auch durch die Literaturdiskussion, die Lukâcs in den 30er Jahren anleitete), seine Auffassung von der Beschaffenheit der poetischen Sprache formuliert. Die poetische, gleichnishafte Sprache hält Bloch für ein Zeugnis einer noch mangelnden und gesuchten Bedeutung und Realität, Zeugnis der Unfertigkeit der Dinge und ihrer noch ausstehenden Verwirklichung, die sich gegen eine empirische und instrumentelle Behandlung sträubt: Die pure Möglichkeit des Gleichnisses notiert ein Stück Widerspruch des Objekts zu seinem stummen, stillen, sozusagen prosaischen Faktum. Die so erscheinenden Bilder können selber gärende sein oder Figuren der Gärung; als solche entstehen sie grade im Wettstreit zweier Sehfelder und haben daher ihren „Glanz". Die Objekte werden einander Symbole für den Widerspruch des in ihnen gärenden Tendierens zu dem Status, worin sie noch faktisch erscheinen. Das Programm einer „Dialektik der Bilder", wie es Benjamin und Wiesengrund vertreten, hat, wenn irgendwo, so hier seinen Ort. Es nimmt die Bewegung des Bildblitzes, der gleichnishaft beleuchteten Bedeutung, um auch hier Dialektik zu entbinden, eine noch sehr ästhetische, sehr kontemplative, doch brauchbare. Die Bildbewegung ergänzt insofern, möglicherweise, eine Naturdialektik, welche nicht nur aus Darwin und Hegel lernt, sondern auch aus tausend merkwürdigen „Schönheiten" der Poesie (LM 375). Bloch analysiert die Gleichnisse und unterscheidet unter ihnen die besondere Art der „vagierenden" Gleichnisse, deren tertium comparationis sich oft auf weite Fahrt sich begeben muß „oder in so unerwartete Sphären, daß deutliche Montage erscheint und fruchtbarstes Ineinander des Anderssein im Gegebenen". 73 Es wird die objektiv-reale Bestimmtheit solcher „kühn-gegenständlichen" Figuren unterstrichen und - in deutlicher Absetzung von Benjamin - ihre ontologische Implikationen. Das tertium comparationis der „vagierenden" Gleichnisse besteht nämlich nicht im Transzendieren eines „fertigen Inhalts" in die Welt der Dinge, sondern es ist „bildlich und zwar durch das Bild eines gemeinsamen Bedeutungsinhalts, das dem einen Glied des Gleichnisses tendenzhaft und latent, dem andern Glied manifest und spiegelfähig eigen ist" (LM 388). Gegen den starken Gebrauch und die Auslegung der Bilder im 20. Jahrhundert (von Autoren wie Gottfried Benn oder Thomas Mann und Theoretikern wie Klages oder C. G. Jung) betont Bloch, daß der „Nimbus" bzw. die „Aura" der Bilder nicht in ihrer „Archaik" und „Ewigkeit" besteht, sondern er ist „allemal gärend oder der Zukunft seines Kerns zugeordnet" (LM 389). 72 73
Aufgenommen in LM 373-394. LM 547, frühere, gestrichene Fassung einer Passage aus LM 377.
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Immer aber ist der Bild-Nimbus einer Wolke vergleichbar, die vom Widerschein eines Tendenzfeuers gerötet wird, eines Unge wordenen, das im Bild seine Erscheinung hat und eine solche, worin noch keinerlei Sein, lauter Noch-Nicht-Sein steht (LM 388-389). Das Bild „spiegelt, auf betroffen-treffende Weise, den Widerspruch der Objekte gegen ihren dinghaften Status, es empfängt und malt die objektive Ahnung eines adäquaten Endzustands oder Noch-Nicht-Seins" (LM 389). Bilder sind die Daseinsformen der Vorwirklichkeit ihres Inhalts [...] (LM 394). Die Gleichnisse „leben" vom „überschießenden und gespiegelt verlegtem Bedeuten eines Gegenstands" (LM 390). Sie sind also von jeder Mythologie fernzuhalten. Dafür ist ihr Problem philosophisch enthalten „in der Verwunderung, daß überhaupt etwas ist, auch in den Fragen der Zufälligkeit des Soseins und der Kontingenz, im Anstoß des individuum ineffabile, kurz, in der vom Allgemeinen, gar Kalkül jedes bisherigen Begriffs undurchdrungenen ,Materie 4 ". Ihr vermeintlich „mystischer" Charakter - als Ahnung des „Selbst- und Kerngeheimnisses der Welt" (LM 392) - wird vergehen, wenn endlich der Versuch eines Denkens des Tuns, eines Tuns des Denkens angestellt wird: des Denkens der Wahrheit im Bild. Von den Bildern gibt es freilich keine „Inventur", sondern eine „nicht planbare Fülle": Denn sie sind nicht nur „Anlässe" (mit großem Wechsel der jeweiligen subjektiven Betroffenheit), sie sind auch „Unterwegs-Gestalten" (mit großer Breite ihrer jeweiligen Betreffendheit); sie sind vor allem in bloß Wollenhaften um die Dinge, im Dampf, welches die Gärung des objekthaften Tendierens entwickelt, und als Reflex der Tendenzfeuer in diesem Dampf (LM 393-394). Vor dem 2. Weltkrieg, in den Jahren 1934-1938, entstehen 2 umfangreiche systematische Manuskripte von Bloch: Aufklärung und rotes Geheimnis und Theorie-Praxis der Materie. Das erste vertieft die schon in Erbschaft dieser Zeit behandelte Problematik des Irrationalen und der Bilder und verbindet sie mit der Theorie des Vorbewußten und Noch-Nicht-Bewußten, die dann in Das Prinzip Hoffnung eingeht. Das zweite Buch, in Zürich, Paris, Wien und hauptsächlich in Prag 1937 ausgearbeitet, ist eine globale Reformulierung der Logik (als Bewußtseinstheorie und Kategorienlehre) vom Standpunkt des utopisch-dialektischen Materialismus, der sich im kritischen Durchgang durch die eigene Geschichte entwickelt und gründet. Der historische Teil des Manuskriptes wird ohne bedeutende Änderungen im Band 7 der Gesamtausgabe als Das Materialismusproblem veröffentlicht, einige Stücke der streng theoretischen Teile gehen stark überarbeitet in zwei philosophisch-systematische Werke der Gesamtausgabe ein, die Tübinger Einleitung in die Philosophie und das Experimentum Mundi. Die Manuskripte der 30er Jahre waren eine Vorbereitung hin zum „offenen System". 74 In Abgrenzung von Lukâcs betont Bloch auch für den „dialektischen Materialismus" die Unverzichtbarkeit und „relative Autonomie" der Lo-
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gik und Metaphysik dessen, was „abbildhaft wahrgenommen wird". Das Abbild ist selbstverständlich weder statisch, noch an fertigen Sachverhalten zu bemessen, sondern an den immanenten Tendenzen und Zielen des Wirklichkeitsprozesses: Die wahre Erkenntnis ist überall ein Abbild erster Ordnung und sie ist es, weil sie „nachfolgend dem Weg" des Prozesses geht. Ja, das Erkenntnisabbild wird nicht nur von seinem Original beleuchtet, sondern leuchtet selber, mit seinem logischen Bewußtsein ins immer genauere Praktiziertwerden des Originals hinein (LM 230). Bloch unterstreicht den besonderen Charakter seiner Logik: ihr „mitten-hinein-Versetztsein", und die Verbindung der formalen Logik (des Richtigsein) mit der materialen (Methodik als Denken des Wahren). Die Offenheit der Logik gegenüber der Metaphysik kann die Aufgabe ermöglichen, „das Ganze der Mannigfaltigkeit abgekürzt zu fassen, auf einer ,inneren Linie 4 übersichtlich zu machen" (LM 37). Die erkenntnistheoretische und ontologische Bedeutung der Kategorienlehre geben anschaulich folgende zwei Zitate wieder: Die Kategorienlehre ist die Anweisung, Landkarte zu lesen, nämlich auf dem Marsch zum Ziel. Sie ist daher das genaueste Mittel, sich unterwegs und im Haus zurechtzufinden (LM 252). Kategorienlehre ist kein abstraktes Schlendrian, sondern immer neue Mühe, den Schuß angemessen aufs Ziel zu richten, auf viele und wechselnde Ziele. Sie ist logisch Winkelbestimmung des Visiers und materiell ein hinreichend differenziertes Inhaltsverzeichnis der Realphilosophie, als des Buchs von der Welt (LM 254). An systematischen Manuskripten wird weiter während der Emigration in den USA gearbeitet, trotz völlig unstabiler Lebensverhältnisse: in Merrywood, Lewiston, Cambridge. 75 Es entstehen Manuskripte zum enzyklopädischen Buch der Hoffnungen, das verschiedene provisorische Titel trug (Träume vom besseren Leben,16 Enzyklopädie der Hoffnungen, Die Hoffnung. Ihre Funktion und ihre Inhalte), das Naturrechtsbuch, 77 Manuskripte zur Religionsphilosophie,78