Phänomenologie der Compassion: Pathos des Mitseins mit den Anderen 9783495817322, 9783495489475


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Inhalt
Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion«
Erster Teil: Grundlegung zur Phänomenologie der Compassion
Erstes Kapitel: Die »Fernnähe« der Anderen
1. Die Dreiheit Andere, Ich und Welt
2. Der phänomenologische Vorrang der »Anderen«
3. Die Anderen in der zweiten Person (Du, Sie, Ihr)
4. Terminologische Bemerkung zum Wort »Fernnähe«
5. Die Anderen in der dritten Person (er, sie in Singular und Plural)
6. Die impersonalen Anderen (die Dinge)
7. Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl
8. Das hyper-personale Andere (das Göttliche)
Zweites Kapitel: Die »Höhentiefe« der Anderen
1. Terminologische Bemerkung zur »Höhentiefe«
2. Beispiel: »Die Heimat«
3. Erneut zu den Anderen in der zweiten Person. Einige Bemerkungen zu Levinas
4. Erneut zu den Anderen in der dritten Person
5. Erneut zu den impersonalen Anderen
6. Erneut zum non-personalen Anderen
7. Erneut zum hyper-personalen Anderen
Drittes Kapitel: Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema: Die »Sinnesvergessenheit«
1. Die Sinnesvergessenheit
2. »In-Berührung-mit-der-Welt-sein«
3. Der Unterschied zwischen der »Sinnesvergessenheit« und der »Seinsvergessenheit«
4. Eine Annährung zur »Leere«. Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty
Viertes Kapitel: Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)
1. Die Seinskategorien bei Aristoteles
2. Die Erkenntniskategorie bei Kant
3 Die logischen Kategorien bei Hegel
4. Die »Existenzialien« bei Heidegger
5. Die »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) und die Weltkategorien« (Mundana). Anregungen aus der Phänomenologie der neueren Zeit
6. Der Denkhorizont »Von der Welt her sehen«
7. Der Denkhorizont »Von den Anderen her sehen«
Fünftes Kapitel: Der Welt-Ort
1. Der »Ort«, in dem das Phänomen »Welt« besteht
2. Der »Welt-Ort« und die »Sein-Zeit« bei Dôgen
(a) Der Unterschied zwischen der religiösen Predigt und dem philosophischen Text
(b) Die »Sein-Zeit« bei Dôgen
(c) Augenblickscharakter des »Welt-Ortes«
3. Der »Welt-Ort« und der »Augenblick« bei Kierkegaard
(a) Kurzer Überblick über die verschiedenen Fassungen des »Augenblicks«
(b) Prekäres Verhältnis zwischen »Augenblick« und »Natur« bei Kierkegaard
4. Ethische Perspektive des Welt-Ortes
(a) In Rücksicht auf die »Ethik des Platzes« bei I. Takayama, einem Schüler K. Nishidas
(b) In Rücksicht auf das »Zwischen« der Ethik bei T. Watsuji, und wieder zum »Augenblick« Kierkegaards
5. Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst
Zweiter Teil: Die Entfaltung der Phänomenologie der Compassion
1. Kapitel: Phänomenologie der Fünfsinne. Zu den Tiefenschichten der Sinne
1. Ist die Lehre der »Fünfsinne« überholt?
2. Die Tragweite des Tastsinnes
3. Die Tragweite des Geschmackssinnes
4. Die Tragweite des Geruchssinnes
5. Die Tragweite des Gehörsinnes
6. Die Tragweite des Gesichtssinnes
Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere«
1. Jesus im Zwischenzustand zwischen der Auferstehung und dem Tod
2. Der Sinn des »tangere«
3. Die Interpretationen J.-L. Nancys und G. Mosts
4. Die »Leere« des »Berührens«
5. Anhang: Anmerkungen von Johannes Brachtendorf
2. Kapitel: Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)
1. Gemeinsinn und Common Sense
2. Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding
3. Der Gemeinsinn zwischen Herrn und Knecht
4. »Der un-gemeinsame Gemeinsinn« und der »Welt-Ort«
5. Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen
(a) Der Fall des/der Anderen in der zweiten Person
(b) Der Fall des/der Anderen in der dritten Person
(c) Der Fall des/der impersonalen Anderen
(d) Der Fall des non-personalen Anderen
(e) Der Fall des hyper-personalen Anderen
Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« und das »Gemeingefühl« beim Nô-Schauspieler Zeami
1. Blumenspiegel als die Lehre über den »Anderen«
2. Die Phänomenologie der »Maske«
3. »Bewege den Körper sieben Zehntel«
4. Der Sinn des »Versteckens«
5. Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz
6. Das »un-gemeinsame Gemeingefühl«
3. Kapitel: Un-geselliges Gesellschaftspathos
1. Einige Bemerkungen zu Michel Henry (i): Zu »pathos-avec«
2. Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique«
3. Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere
4. Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes
5. Staatspathos und Staatssouveränität
Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik
1. Der ewige Frieden und die ewige Gewalt
2. Einige Bemerkungen zu W. Benjamin
3. Die Gewalt am / vom »Anderen«
(a) Gewalt am / vom Anderen in der zweiten Person
(b) Gewalt am / vom Anderen in der dritten Person
(c) Gewaltsubjekt als das impersonale Andere: Ding
(d) Gewaltsubjekt als das non-personale Andere: Der Tod
(e) Gewaltsubjekt als das hyper-personale Andere: Göttliches
4. Das die Gewalt entsühnende Pathos
4. Kapitel: Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«
1. Weltpathos und eine andere »Umwertung aller Werte«
2. Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht. Über den »Anfang der Welt«
3. Die Ungründigkeit des »Welt-Ortes«
4. Ethische Weltanschauung. Einige Bemerkungen zu Hans Jonas
5. Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere«
Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere? Levinas und Nishitani über die Kenosis
1. Der Kenosis-Gedanke als Schnittpunkt
2. Die Fernnähe und die Höhentiefe bei Nishitani und Levinas
3. Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis
4. Die Kenosis und die »Compassion«
Nachtrag: Was dargestellt wurde und was noch darzustellen ist
1.
2.
3.
Nachwort
Literaturverzeichnis
Namenregister / Sachregister
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Phänomenologie der Compassion: Pathos des Mitseins mit den Anderen
 9783495817322, 9783495489475

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Ryôsuke Ohashi

Phänomenologie der Compassion Pathos des Mitseins mit den Anderen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817322

.

B

Ryôsuke Ohashi Phänomenologie der Compassion

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Ryôsuke Ohashi

Phänomenologie der Compassion Pathos des Mitseins mit den Anderen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Ryôsuke Ohashi Phenomenology of Compassion The Pathos of Being-with-others Ohashi’s new book frees Christian »compassion,« as well as the Buddhist notion of »karuna« (»affect« or feeling-with-others) and the Islamic concept of »rahman rahim« from their religious contexts and establishes compassion as a name of the basic phenomenon occurring between human and human, human and thing, human and nature, human and state. The book understands and unfolds compassion phenomenologically as the »pathos of being-with others.« In the first part, the »Groundwork of a Phenomenology of Compassion« the problem of the »Other(s)« is approached and thematised in a radically new way in light of current discourses within phenomenology as well as in light of the Mahayana-Buddhist »Heart-Sutra.« Ohashi here crucially takes into consideration not only human others (»autrui«), but also non-human others (»l’autre«). In the second part, entitled »Unfolding of a Phenomenology of Compassion« the concept of compassion is researched phenomenologically on the individualaesthetic, the communal-societal, and the political-ethical level as well as the level of the philosophy of religion. Prevalent topics like violence and justice are considered as concrete approaches. The book offers a new, extendable contribution for the intercultural dialogue among humans across diverse cultures. The Author: Ryôsuke Ohashi was born in 1944 in Kyôto, Japan. He studied philosophy at the University of Kyoto. In 1974 he received his PhD at the University of Munich, in 1983 he was the first Japanese scholar to be habilitated in Germany, at the University of Würzburg. In 1990 he received the Philipp-Franz-von-Siebold-Award. He was professor of philosophy at the Technical University of Kyoto, the University of Osaka and the Buddhist Ryukoku-University. He was a visiting professor at the Universities and Institutes of Cologne, Vienna, Hannover, Hildesheim, Tübingen. Since 2015 he has been the Director of the Japanese-German Cultural Institute in Kyoto.

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Ryôsuke Ohashi Phänomenologie der Compassion Pathos des Mitseins mit den Anderen Die »Compassion«, christlich verstanden das Mitleiden, aber auch die stehende Übersetzung des buddhistischen Begriffs »karuna« (»Mitleidenschaft«) und weiterhin eine Entsprechung zum islamischen Begriff »rahman rahim«, wird hier vom Rahmen der religiösen Dogmen abgelöst und als die Bezeichnung für das Grundphänomen zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Ding, Mensch und Natur, Mensch und Staat, als »Pathos des Mitseins mit den Anderen«, phänomenologisch aufgefasst und entfaltet. Im ersten Teil, »Grundlegung zur Phänomenologie der Compassion«, wird das Problem des/der »Anderen« im Hinblick auf die bisherigen Diskurse innerhalb der Phänomenologie, aber auch im Lichte des mahayana-buddhistischen »Herz-Sutra«, neu thematisiert, wobei unter dem/den »Anderen« nicht nur die anderen Menschen (»autrui«), sondern auch die nicht-menschlichen Anderen (»l’autre«) in den Blick kommen. Im zweiten Teil, »Entfaltung der Phänomenologie der Compassion«, wird der Begriff der Compassion auf der individuell-ästhetischen, gemeinschaftlich-gesellschaftlichen, politisch-ethischen und religionsphilosophischen Ebene im Gespräch mit der christlichen, buddhistischen, islamischen und jüdischen Religion phänomenologisch bearbeitet. Dabei werden aktuelle Themen wie Gewalt, Gerechtigkeit usw. als konkrete Ansätze aufgenommen. Das Buch bietet einen neuen, anschlussfähigen Beitrag für den interkulturellen Dialog der Menschen und Kulturen. Der Autor: Ryôsuke Ohashi, geb. 1944 in Kyôto, Japan. Studium der Philosophie an der Universität Kyôto. 1974 Promotion an der Universität München, 1983 Habilitation an der Universität Würzburg als erster Japaner. 1990 Philipp Franz von Siebold-Preis. Professor an der Technischen Universität Kyôto, der Universität Osaka und der buddhistischen Ryūkoku-Universität. Gastprofessuren an Universitäten und Instituten in Köln, Wien, Hannover, Hildesheim, Tübingen. Seit 2015 Direktor des Japanisch- Deutschen Kulturinstituts in Kyôto.

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Abbildung auf Seite 187: Noli me tangere, Entwurf Edward BurneJones, Ausführung William Morris, 1874, Trinity Church, Saugerties, New York. Abbildung Umschlag: Zen-Bilder und Kalligraphien des Meister Hakuin, hg. v. Katsuhiro Yoshizawa und Hanazono Zen-Institut, Kyôto 2009, Bd. 1: Zen-Bilder, S. 497. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48947-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81732-2

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Inhalt

Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion«

. . . . . . . . .

13

Erster Teil: Grundlegung zur Phänomenologie der Compassion Erstes Kapitel: Die »Fernnähe« der Anderen . . . . . . . . . . 1. Die Dreiheit Andere, Ich und Welt . . . . . . . . . . . . 2. Der phänomenologische Vorrang der »Anderen« . . . . 3. Die Anderen in der zweiten Person (Du, Sie, Ihr) . . . . 4. Terminologische Bemerkung zum Wort »Fernnähe« . . . 5. Die Anderen in der dritten Person (er, sie in Singular und Plural) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die impersonalen Anderen (die Dinge) . . . . . . . . . 7. Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl . . . . . . . . . . . . . 8. Das hyper-personale Andere (das Göttliche) . . . . . . .

23 23 24 30 32

Zweites Kapitel: Die »Höhentiefe« der Anderen . . . 1. Terminologische Bemerkung zur »Höhentiefe« 2. Beispiel: »Die Heimat« . . . . . . . . . . . . . 3. Erneut zu den Anderen in der zweiten Person. Einige Bemerkungen zu Levinas . . . . . . . . 4. Erneut zu den Anderen in der dritten Person . 5. Erneut zu den impersonalen Anderen . . . . . 6. Erneut zum non-personalen Anderen . . . . . 7. Erneut zum hyper-personalen Anderen . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

53 53 55

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58 62 65 72 77

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. . . . .

37 39 43 50

7 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Inhalt

Drittes Kapitel: Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema: Die »Sinnesvergessenheit« . . . . . . . . . 1. Die Sinnesvergessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »In-Berührung-mit-der-Welt-sein« . . . . . . . . . . . 3. Der Unterschied zwischen der »Sinnesvergessenheit« und der »Seinsvergessenheit« . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine Annährung zur »Leere«. Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel: Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Seinskategorien bei Aristoteles . . . . . . . . 2. Die Erkenntniskategorien bei Kant . . . . . . . . . 3. Die logischen Kategorien bei Hegel . . . . . . . . 4. Die »Existenzialien« bei Heidegger . . . . . . . . 5. Die »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) und die Weltkategorien« (Mundana). Anregungen aus der Phänomenologie der neueren Zeit . . . . . . . . . 6. Der Denkhorizont »Von der Welt her sehen« . . . 7. Der Denkhorizont »Von den Anderen her sehen« .

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. . . . .

81 81 92 100 102 107 107 109 111 113

. . . 117 . . . 120 . . . 124

Fünftes Kapitel: Der Welt-Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der »Ort«, in dem das Phänomen »Welt« besteht . . . . 2. Der »Welt-Ort« und die »Sein-Zeit« bei Dôgen . . . . . (a) Der Unterschied zwischen der religiösen Predigt und dem philosophischen Text . . . . . . . . . . . . . . (b) Die »Sein-Zeit« bei Dôgen . . . . . . . . . . . . . (c) Augenblickscharakter des »Welt-Ortes« . . . . . . 3. Der »Welt-Ort« und der »Augenblick« bei Kierkegaard . (a) Kurzer Überblick über die verschiedenen Fassungen des »Augenblicks« . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Prekäres Verhältnis zwischen »Augenblick« und »Natur« bei Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . 4. Ethische Perspektive des Welt-Ortes . . . . . . . . . . . (a) In Rücksicht auf die »Ethik des Platzes« bei I. Takayama, einem Schüler K. Nishidas . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

128 129 131 131 133 135 138 138 140 143 144

Inhalt

5.

(b) In Rücksicht auf das »Zwischen« der Ethik bei T. Watsuji, und wieder zum »Augenblick« Kierkegaards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 148

Zweiter Teil: Die Entfaltung der Phänomenologie der Compassion 1. Kapitel: Phänomenologie der Fünfsinne. Zu den Tiefenschichten der Sinne . . . . . . 1. Ist die Lehre der »Fünfsinne« überholt? 2. Die Tragweite des Tastsinnes . . . . . . 3. Die Tragweite des Geschmackssinnes . 4. Die Tragweite des Geruchssinnes . . . 5. Die Tragweite des Gehörsinnes . . . . 6. Die Tragweite des Gesichtssinnes . . .

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere« . . . . . . . . . 1. Jesus im Zwischenzustand zwischen der Auferstehung und dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Sinn des »tangere« . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Interpretationen J.-L. Nancys und G. Mosts . . . 4. Die »Leere« des »Berührens« . . . . . . . . . . . . 5. Anhang: Anmerkungen von Johannes Brachtendorf .

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157 157 160 165 169 174 179

. . 184 . . . . .

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184 188 191 195 200

2. Kapitel: Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis) . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinsinn und Common Sense . . . . . . . . . . . 2. Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding . . . . . 3. Der Gemeinsinn zwischen Herrn und Knecht . . . . . 4. »Der un-gemeinsame Gemeinsinn« und der »Welt-Ort« 5. Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen . (a) Der Fall des/der Anderen in der zweiten Person . . (b) Der Fall des/der Anderen in der dritten Person . . (c) Der Fall des/der impersonalen Anderen . . . . . .

. . . . . . . . .

204 204 207 212 214 218 220 221 222

9 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Inhalt

(d) Der Fall des non-personalen Anderen . . . . . . . . (e) Der Fall des hyper-personalen Anderen . . . . . . .

224 227

Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« und das »Gemeingefühl« beim Nô-Schauspieler Zeami . . . . . . . 1. Blumenspiegel als die Lehre über den »Anderen« . . . . 2. Die Phänomenologie der »Maske« . . . . . . . . . . . . 3. »Bewege den Körper sieben Zehntel« . . . . . . . . . . 4. Der Sinn des »Versteckens« . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz . 6. Das »un-gemeinsame Gemeingefühl« . . . . . . . . . .

232 232 235 241 247 250 256

3. Kapitel: Un-geselliges Gesellschaftspathos . . . . . . . . . 1. Einige Bemerkungen zu Michel Henry (i): Zu »pathos-avec« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique« . . . . . . . . 3. Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere . . . 4. Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Staatspathos und Staatssouveränität . . . . . . . . . . Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik . . . . . . . . . . 1. Der ewige Frieden und die ewige Gewalt . . . . . . . 2. Einige Bemerkungen zu W. Benjamin . . . . . . . . 3. Die Gewalt am / vom »Anderen« . . . . . . . . . . (a) Gewalt am / vom Anderen in der zweiten Person (b) Gewalt am / vom Anderen in der dritten Person (c) Gewaltsubjekt als das impersonale Andere: Ding (d) Gewaltsubjekt als das non-personale Andere: Der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Gewaltsubjekt als das hyper-personale Andere: Göttliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das die Gewalt entsühnende Pathos . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

. . . . . . .

. 260 . 260 . 264 . 271 . 276 . 285 . . . . . . .

291 292 294 299 301 302 302

. . 305 . . 308 . . 311

Inhalt

4. Kapitel: Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine andere »Umwertung aller Werte« . . . . . . . 2. Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht. Über den »Anfang der Welt« . . . . . . . . . . . . 3. Die Ungründigkeit des »Welt-Ortes« . . . . . . . 4. Ethische Weltanschauung. Einige Bemerkungen zu Hans Jonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere« . . . . . . . .

. . . 318 . . . 318 . . . 322 . . . 330 . . . 332 . . . 337

Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere? Levinas und Nishitani über die Kenosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kenosis-Gedanke als Schnittpunkt . . . . . . . . 2. Die Fernnähe und die Höhentiefe bei Nishitani und Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kenosis und die »Compassion« . . . . . . . . . .

. 342 . 342 . 345 . 347 . 354

Nachtrag: Was dargestellt wurde und was noch darzustellen ist .

359

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namenregister / Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . 391

11 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion«

Die im vorliegenden Buch gemeinte »Compassion« ist zwar zunächst ein bekannter Begriff in der christlichen Geistestradition. Wenn man aber eigens nach dem Sinn dieses Wortes fragt, so werden meistens Antworten vorgeschlagen, in denen das Wort schlichtweg durch andere Wörter ersetzt wird, etwa mit »Sympathie«, »Mitleid«, »Erbarmen«, »Barmherzigkeit«, »Empathie« usw. Gelegentlich wird auch »Liebe« vorgeschlagen. Diese Wörter wären für eine verweisende Erklärung mehr oder weniger richtig, aber wenn man nach dem differenzierten Sinn der »Compassion« fragt, wird man verlegen. Dies hängt damit zusammen, dass die »Compassion« bisher kaum in der Philosophie betrachtet wurde, was ein großer Unterschied zur »Liebe« ist. Die Liebe im Sinne des »Eros« war ein Hauptthema der platonischen Philosophie 1 und die Liebe als die christliche »agapê« war ein Grundbegriff der mittelalterlich-neuzeitlichen Philosophie. Unter dem Einfluss der europäischen Wendung dieses Wortes hat sich seit der Modernisierung Japans, d. h. seit der Meiji-Ära, auch der Sinn des japanischen Wortes »Liebe« (jap: ai) stark verwandelt. Dieser ursprünglich buddhistische Begriff war negativ; er bedeutete die egoistische Selbstliebe und die Begierde. Heute ist er fast synonym mit dem christlich-europäischen Begriff der Liebe. Der Sachverhalt »Compassion« wurde aber, wie wir im Hauptteil des vorliegenden Buchs sehen werden, in der Philosophiegeschichte kaum betrachtet. Eine Ausnahme war die Philosophie der KyôtoSchule, da sie unter einem Einfluss des Mahayana-Buddhismus stand und ihr der Begriff »Compassion« von vornherein vertraut war. Wenn auch nicht thematisch, behält sie hie und da diesen Begriff im Auge. 2 Die Breite und Weite des Themenbereichs der »Compassion« 1 Es dürfte nicht nötig sein, auszuführen, dass Platon z. B. im Dialog Symposion durchgehend den »Eros« in dessen verschiedenen Dimensionen erörtert. 2 So erwähnt Kitarô Nishida diese »Große Compassion« z. B. in seiner letzten und reifen Abhandlung »Die Ortlogik und die religiöse Weltanschauung«, Kitarô Nishida

13 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

wird leichter vorstellbar, wenn gesehen wird, dass das Wort »Compassion« die stehende englische Übersetzung für den mahayanabuddhistischen Terminus »karuṇā« ist, das ein Wort im Begriffspaar »mahā prajñā – mahā karuṇā« (Große Weisheit – Große Compassion) ist. Das Wort »Compassion« meint sowohl die christliche Grundgesinnung wie auch die buddhistische »karuṇā«. Wenn man dieses in Kenntnis nimmt, so kann man voraussehen, dass das Wort ein neues Sinngebiet sein kann, in dem das Gespräch zwischen Christentum und Buddhismus gründlich vorbereitet werden kann. Wie steht es um den Islam? Im »Koran« (Qur’an) beginnt jedes Kapitel mit dem Wort »Im Namen Gottes, des Allerbarmenden und Barmherzigen«. 3 Der Ausdruck in diesem Satz: »des Allerbarmenden und Barmherzigen« (im Arabischen: »rahman rahim«) verweist auf »rahma«, was wohl ohne großen Einspruch mit »Compassion« übersetzt werden kann. 4 Jedoch, wenn ich so schreibe wie oben, mag der Leser meinen, es Gesamtausgabe, alte Ausgabe (im Folgenden verkürzt: Nishida, Alte Ausgabe), 19 Bde., 3. Auflage, Tôkyô 1978–1980, 3. Auflage, Bd. 11, S. 445; Nishida Kitarô Gesamtausgabe, neue Ausgabe (verkürzt: Nishida, Neue Ausgabe), 24 Bde., Tôkyô 2003–2009. Neue Ausgabe) Bd. 10, S. 352. (Im Folgenden werden bei Zitaten aus Nishidas Text die Band- und Seitzahlen der Alten und Neuen Ausgabe angegeben.). Keiji Nishitani redet in seiner Spätphilosophie vom sinnlich-pathetischem Aspekt der Leere (vgl. Keiji Nishitani, Gesammelte Schriften, jap., Bd. 13, Tôkyô 1987, S. 117 f.). Dieser Aspekt kann zwar schon mit dem Begriff der »Compassion« ausgedrückt werden, und seine Philosophie der »Leere« hat auch den Aspekt der Philosophie der »Compassion«, die aber Nishitani nicht thematisiert hat. Daisetsu Suzuki redet zwar hie und da extensiv von der »Großen Compassion«, die er als »die Wirkung des nichtunterscheidenden Wissens« (jap. Mufunbetsu-chi) versteht (Daisetsu Suzuki-Gesamtausgabe, jap., Bd. 6, Tôkyô 1968: Abhandlungen über die Philosophie des Reinen Landes, S. 191). Er thematisiert die »Große Compassion« in der zweiten Vorlesung »Der Grundgedanke des Buddhismus« (jap.) im Bd. 7. derselben Gesamtausgabe. Seine Vorlesung ist kenntnisreich. Allerdings gelten seine Schriften als erbauliche Reden, die nicht im Stil des »philosophischen Diskurses« ausgeführt werden. 3 Vgl. Der Koran, übersetzt von Hans Zirken, WBG, Darmstadt 2003. 4 Als ich vom 10. bis 16. Dezember 2016 eingeladen wurde, Vorträge zu halten jeweils an drei Universitäten in Teheran (Allameh-Tabatabaie Universität, Teheran Universität, Institut für Geisteswissenschaften und geistesgeschichtlich-kulturelle Studien) und mit den dortigen Geisteswissenschaftlern sowie auch mit Herrn Rev. Reza Davari, dem Präsidenten der Iranischen Akademie der Wissenschaften, viele Dialoge führen durfte, habe ich das Wort »Compassion« öfters verwendet. Der ausgezeichnete Übersetzer Ahmad Rajabi schrieb mir auf meine Frage die Erklärung: »Beide Adjektive, die aus dem Wort ›Rahma‹ abgeleitet werden, also ›rahman‹ und ›rahim‹, bedeuten als Eigenschaften Gottes beide soviel wie ›Rahma (Barmherzigkeit) habend‹.«

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Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

geht im vorliegenden Buch um eine vergleichende Betrachtung zu den Religionen. Das ist aber gerade nicht der Fall. Es geht hier eher darum, das Wort »Compassion« vom Rahmen der etablierten religiösen Dogmen zu befreien und als ein neues Schlüsselwort der Geisteswissenschaften der Gegenwart zu entfalten. Dabei gilt, dass die von alters her durch dieses Wort überlieferte, tiefe religiöse Erfahrung das Licht ist, das den Gedankenweg beleuchtet. Aber die hermeneutischexegetische Erklärung dieses Wortes ist hier nicht die Aufgabe. Die Aufgabe ist vielmehr, den in diesem Wort implizierten Inhalt frei und phänomenologisch zu entfalten und als den Begriff zu bilden, mit dem die Probleme der Gegenwart neu belichtet werden können. Im Hauptteil des vorliegenden Buchs wird durch die Entfaltung der in diesem Wort geborgenen Sinnschichten ein neuer Gesichtsort eröffnet werden, aus dem die Ethik, Logik, Ästhetik, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft usw. neu gesehen werden könnten. Dabei ist als Koordinatenursprung dieses Gesichtsortes das »Pathos des Miteinanders« bzw. das »Pathos des Mitseins mit den Anderen« zu nennen, wie der Untertitel des Buchs lautet. Worauf es ankommt, ist nicht eine begriffliche Definition oder Interpretation des Wortes »Compassion«, sondern diesen Koordinatenursprung quasi phänomenologisch anhand der Sachen in den oben genannten Gebieten zu einem neuen Gesichtsort, einem Denkhorizont für die Probleme der Gegenwart, zu bilden. Der Name dieses Koordinatenursprungs kommt hier übrigens nicht als ein Einfall des Verfassers. Sie ist von vornherein im Wort »Compassion« enthalten. Das Präfix »con-« im Wort »Compassion« verweist nämlich auf die Existenz der »Anderen«, und die letzte Hälfte des Wortes, »-passion«, kommt von »Pathos«, das die Gesinnung und den Willen des Menschen meint. Das Pathos gehört nicht nur den Individuen, sondern es wurzelt auch in der Sitte und der Gewohnheit des »Wohnortes« (»ethos«) des Menschen, und gehört also zum Gebiet der »Ethik«, die ebenfalls »ethos« heißt. Das Gesagte gilt auch vom buddhistischen Wort »karuṇā«, die ein Pathos ist, das von der Existenz der Anderen und deren Handlungen erweckt wird und diesen Anderen gilt. Hier ist ein Blick zu werfen auf die aktuelle Situation der gegenwärtigen Welt, die von verschiedenen Arten der Trennung, der Spaltung, des Streites usw. geprägt wird. Dabei wird nicht immer bemerkt, dass der Versuch einer Lösung oft die Ursache der neuen Art der Trennung, der Spaltung und des Streites herbeiführt. Auch wenn 15 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

man dieses Phänomen bemerkt, mag man es nicht gern thematisieren, weil diese Thematisierung die Bemühung um die Versöhnung zu einer Fratze machen kann. Aber es scheint auch, dass sich hinter diesem Phänomen ein Dunkel erstreckt. So versteckt sich etwa im reinen religiösen Bewusstsein oft die Tendenz der fundamentalistischen Rechtfertigung der eigenen Glaubenshaltung, die von der Haltung am entferntesten ist, die Anderen zu verstehen und anzuerkennen. Die »Compassion« ist zunächst für die Religion selbst, in der es eben um sie geht, die Kernaufgabe. Nicht nur für die »Religion«, sondern auch für die »Politik« ist das Pathos des Miteinanders ein wichtiges Thema geworden. Wenn man den platonischen Dialog Politeia davon ausgehend sieht, dass das Problem der Gerechtigkeit der Individuen an der Gerechtigkeit des Staates deutlicher beobachtet werden kann, so bemerkt man auch und eben heute, dass die Problematik der individuellen Ichheit an der Staatssouveränität in vergrößerter und härterer Weise zu beobachten ist. Das Pathos des Miteinanders als Ethik zwischen den Individuen zeigt sich in der vergrößerten und gesteigerten Weise als die politische Spannungsdynamik zwischen den souveränen Staaten. Die Frage, inwieweit »die Technologie« und die »Natur« sich miteinander versöhnen, steht im Zentrum der Diskussionen über die globale Natur und Umwelt. Philosophisch wird dabei auch die gründliche Reflexion über die Naturauffassung benötigt. Dieses Bedürfnis wird schon darin angedeutet, dass der in der langen und vielschichtigen Geistesgeschichte der Menschheit gebildete Begriff der »Natur« im griechischen »physis«, in der lateinischen »natura«, im sino-japanischen »shizen« usw. einen je anderen Sinn haben. Die jeweilige Auffassung der Natur verbindet sich mit der jeweiligen Selbstauffassung der Menschennatur und der Kultur. Wie das Miteinander des Menschen als des technischen Wesens mit den Lebewesen im Ganzen im 21. Jahrhundert sein wird, ist keine uferlose Frage, sondern eine ganz lebensnahe. Die genannten Aufgaben fordern, den Begriff der »Anderen« nicht nur im Sinne der anderen Menschen (frz.: »autrui«), sondern auch der anderen »Dinge« (frz. »l’autres«) zu verstehen, und somit eine weitere und tiefer greifende Perspektive der »Phänomenologie der Anderen«. Im vorliegenden Buch werden deshalb die Anderen nicht nur als die »personalen Anderen« (die anderen Menschen), sondern je nach Kontext auch als die »impersonalen Anderen« (die Dinge), das »non-personale Andere« (der Tod), das »hyper-personale An16 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

dere« (das Göttliche), die »umweltlich umfassenden Anderen« (die Staaten, die Institutionen, usw.) betrachtet. Es wird versucht, ihre wesentlichen Charaktere in einer phänomenologischen Betrachtungsweise herauszustellen. Mit der Erweiterung des Wortes »die Anderen« werden politische Probleme wie »Demokratie«, »Gerechtigkeit«, »Terror«, »Krieg«, »Flüchtlinge«, ethische Probleme wie »Verantwortung« oder »Pflege«, Themen der philosophischen Erkenntnislehre wie die »Wahrnehmung« oder der »Leib«, Umweltprobleme wie die »Erwärmung der Erde« oder die »Ressourcenerschöpfung« usw. alle als Probleme der »Anderen« betrachtet werden. Zum besseren Vorverständnis der Compassion als des »Pathos des Miteinanders« kann das englische Wort »conviviality« als ein Sinn dieses Begriffs herangezogen werden. 5 Wer die »Compassion« als das Gefühl des Leidens bzw. des Mitleidens auffasst oder von der heutigen japanischen Wendung des Wortes »hi« (»karuṇā«), d. h. der Trauer, ausgehend versteht, sollte ins Auge fassen, dass »karuṇā« eigentlich die Gesinnung der große »Leere« ist. Diese ist mit dem leeren, wolkenlosen Himmel zu vergleichen. Die Gesinnung der Leere ist die restlose Heiterkeit. Einen Einklang mit dieser Heiterkeit hat das lateinische Wort »convivo«, wörtlich: das Zusammenleben. Das aus diesem stammende Wort »convivor« ist das Trinken und Essen im Gelage. Das englische Wort »convivial« verweist auf die heitere Stimmung des Gelages (convivum). Die »Compassion« ist einerseits die Teilhabe an der Trauer der in der Welt der Misere leidenden Lebe-

5 Im Hinblick auf diese zwei Wörter ist das Buch von Tatsuo Inoue, Conviviality – Die Gerechtigkeit des Dialogs (jap.), Tôkyô 1986, zu den Vorläufern des vorliegenden Buchs zu zählen. Inoue fasst den scharfen Gegensatz zwischen der islamischen Welt einerseits und der jüdisch-christlichen Welt andererseits ins Auge, und denkt zwei Zugänge zu diesem Problemfeld. Der eine ist die vergleichende Betrachtung der Religionen sowie deren Eigenheiten, und der andere ist die Erläuterung des Miteinanders mit den Anderen selbst. Vgl. Tatsuo Inoue, Anstand des Miteinanders (jap.), www. jdzb.de/fileadmin/.../PDF/.../05-pdf-p992-j%20Inoue.pdf, und Anstand des Miteinanders – die Gerechtigkeit als die Conversation (jap.), Tôkyô 1986. Er setzt der Idee J. Rawls’, »Justice as Fairness«, seine eigene Idee der »Gerechtigkeit als Conversation« entgegen, wobei die »Conversation« in seinem Sinne im Einklang mit der »Compassion« im vorliegenden Buch steht. Denn die »Conversation« bedeutet für Inoue »die fundamentale Form, in der die zueinander fremden Individuen sich miteinander verbinden, indem sie ihre Fremdheit füreinander beibehalten.« (A. a. O., S. 255, übersetzt vom Verfasser.)

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Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

wesen, aber zugleich auch die große Heiterkeit der Entleerung dieser Trauer, so widersprüchlich dies auch klingen mag. 6 Zum Schluss ist noch in Aussicht zu stellen, dass die Schürfung des Sachverhaltes »Compassion« zu einer Umwendung des »Denkens« führt. Die Ausführung sollte dem Hauptteil überlassen werden. Jetzt ist der Einfachheit halber ein Wort Daisetsu Suzukis zu zitieren, das lautet: »Die Liebe geht vom eigenen Ich aus, die Compassion hingegen von den Anderen.« 7 In diesem Wort wird auf eine Sachlage hingewiesen, die Daisetsu nicht eigens zu thematisieren vorhatte (obwohl er auch nicht dagegen wäre), d. h. die »Umwendung der Denkungsart«. Es wäre für den Menschen, der sein eigenes Ich hat, selbstverständlich, vom eigenen Ich ausgehend zu denken. Das Denken, das »von den Anderen ausgeht«, wäre unsinnig bzw. die unsinnige Umwendung des »Ich denke«. Denn man kann nicht leben ohne das eigene Ich und den eigenen Willen. Aber gerade das anscheinend Unsinnige, dieses eigene Ich und den eigenen Willen aufzugeben, findet faktisch in einem unbewussten alltäglichen Mitsein mit den Anderen fast immer statt. Dies deutet an, dass die Umwendung des »Ich denke«, das sonst für selbstverständlich genommen wird, de facto vollzogen wird, ohne dass das Denken sich dessen bewusst wird. Es kommt öfters vor, dass das Faktum weit vorne vorausgeht, während das ichliche Denken weit hinten bleibt. In diesem Fall wird nur benötigt, dass das Denken das Faktum direkt sieht. Das vorliegende Buch ist ein kleiner Versuch, der von der obigen Aussicht geleitet wird. Der Verfasser glaubt mit diesem Buch endlich am »Ausgangspunkt« zu stehen, von dem aus er auf die verschiedenen Problemgebiete weiter eingehen kann. Dabei findet er, dass in diesem Ausgangspunkt eigentlich nichts wesentlich Neues da ist. Alles, was im vorliegenden Buch dargestellt wird, wurde seit alters her bereits irgendwo in irgendeiner Form von irgendjemandem schon

Es könnte gefragt werden, wie das Einssein der »Trauer« und der »Heiterkeit« ohne unsinnige Rhetorik gedacht werden kann. Ein Gedicht Kitarô Nishidas ist dazu zu zitieren: »Mein Herz ist von einer bodenlosen Tiefe; keine Welle der Trauer noch Freude erreicht sie« (Gedicht, datiert: 20. Feb. 1923). Die »bodenlose Tiefe« der Freude bzw. der Trauer ist so zu verstehen, dass die Freude oder die Trauer sich unendlich weiter vertiefen können, so dass in dieser sich unendlich weiter vertiefenden Freude oder Trauer diese selbst »entleert« werden. 7 Daisetsu Suzuki, Die buddhistische Moral (jap.), Daisetsu Suzuki Gesamtausgabe, Bd. 7, Tôkyô 1968, S. 97. 6

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Einleitung: Der Vorbegriff der »Compassion

gesagt. 8 Es kann allerdings sein, dass das Altüberlieferte neu beleuchtet wird. Mit einem etwas übertriebenen Beispiel gesagt, gab es den amerikanischen Kontinent, bevor Kolumbus diesen entdeckte. Viele hätten früher gewusst, wie man ein Ei auf dem Tisch aufstellt, bevor Kolumbus es tat. Dennoch ist es für jeden jedes Mal neu, der, wie einst Kolumbus, ein Ei auf dem Tisch aufzustellen versucht. Jeder/ jede kann ein Kolumbus sein. Ob das vorliegende Buch eine Art Ei des Kolumbus sei, ist die Frage, auf die zu antworten den Lesern überlassen wird.

Ein Anliegen der fast zu vielen historischen Anmerkungen in diesem Buch ist, dass die Spuren der Gedanken der Vorläufer dieses Buches möglichst klar kennzeichnet werden sollen, um den Gedankengang möglichst sichtbar zu verorten.

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Erster Teil: Grundlegung zur Phänomenologie der Compassion

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Erstes Kapitel: Die »Fernnähe« der Anderen

1.

Die Dreiheit Andere, Ich und Welt

Wie das Präfix »Co-« bzw. »Com-« der »Compassion« zeigt, weist dieses Wort auf das Miteinander mit den Anderen hin. Nicht nur der Mensch, sondern auch alles, was ist, existiert zusammen mit den Anderen. Dabei bedeutet dieses Miteinander nicht immer eine friedliche Co-Existenz. Sowohl in der Naturwelt wie auch in der Geschichtswelt gibt es in diesem Miteinander mehr oder weniger Konflikte und Gegensätze. Der »Andere« (frz. autrui) bzw. das »Andere« (frz. l’autre), mit dem ich bin, drängt sich mir in irgendeiner Weise auf, solange er bzw. es in seiner »Andersheit« mir gegenüber auftaucht und sich als das zeigt, was nicht mein Ich ist. In der Richtung der Negativität dieses Nicht-Ichs wird die Andersheit der Anderen die Dimension der »Fremdheit« entlarven, die nicht überbrückt werden kann. Dadurch befinde ich mich, indem ich mit allen Dingen zusammen bin, dennoch in einer absolut einsamen Isolation. Allerdings sind diese absolut fremden Anderen andererseits auch das, was meine Existenz unterstützt und umschließt. Ohne die Anderen kann ich in keinem Augenblick sein. Insofern muss die absolute Negativität der Anderen für mich zugleich auch die absolute Positivität sein. Das »Miteinander« mit den Anderen setzt einerseits mein absolutes Geschieden-sein von den Anderen voraus, aber andererseits auch die untrennbare Bindung und Verbindung mit diesen Anderen. Die Gleichzeitigkeit der zusammenhängenden Verbindung-miteinander und der Trennung-von-einander ist bei allen Phänomenen der zeitlichen Welt als wesentliches Merkmal festzustellen. Sowohl die Verbindung miteinander auch die Trennung voneinander geschieht in und mit der Zeit. Dies heißt, dass mein Ich, das sich mit den Anderen verbindet, durch die Endlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit, somit durch die Zeitlichkeit im weiten Sinne, geprägt wird. Dieses Sein des Ich mit den Anderen, die vermutlich ebenfalls endlich und vergänglich, unter Umständen auch sterblich (im Fall der 23 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Fernnähe« der Anderen

menschlichen Anderen) sind, dieses »Miteinander« bedeutet das Gefüge der Dreiheit von »Anderen-Ich-Welt«. An jedem Glied dieses dreieinigen Sachverhaltes wird man den Zugang zu den anderen beiden Gliedern finden. Jedoch werden im vorliegenden Buch, von einem methodologischen Gesichtspunkt her, die »Anderen« als die genannte dreieinige Gesamtheit thematisiert. Der Grund dafür muss zuallererst erörtert werden.

2.

Der phänomenologische Vorrang der »Anderen«

Bei der Betrachtung der Entstehung des menschlichen Ich-Bewusstseins ist daran zu erinnern, dass ein Säugling, erst indem es von seiner Mutter umarmt und gekost wird und Milch bekommt, sich seiner selbst bewusst zu werden beginnt, wenn auch am Anfang in einem Eins-sein mit der Mutter. Mit dem Akt des »Weinens« werden alle seine Bedürfnisse ausgedrückt, womit eben auch seine Selbstbehauptung keimt. Für Kleinkinder sind die »Anderen« die Puppen oder die Haustiere in ihrer Umgebung, in die sie sich projizieren. Die in der Psychologie bedachte und danach auch in der Phänomenologie viel berücksichtigte »Einfühlung« wird in diesem Verhältnis ständig vollzogen. Säuglinge und Kleinkinder beginnen, sich selbst bewusst zu werden, indem sie mit den »Anderen« umgehen. Zwar kann man dabei, um die aristotelische Unterscheidung zwischen dem »für uns früher« und dem »an sich früher« heranziehen, 9 den Einwand erheben, dass es »von uns her gesehen« so ist, dass ein Säugling durch die Existenz seiner Mutter und seiner Spielzeuge sich seiner selbst bewusst wird, aber »an sich« muss der Keim seines Selbstbewusstseins instinktiv von Anfang an da und früher sein als seine Wahrnehmung der Anderen. Dieser Einwand kann so belassen werden, da dadurch das Problem des Zugangs zur Dreiheit von »den Anderen, dem Ich und der Welt« nicht beeinflusst wird. Husserl, der immer das »reine Subjekt« bzw. das »reine Ich« thematisiert hat als das, was sich weder dem Werden noch dem Vergehen unterwirft, sagt dennoch: »Zur Auffassung des Menschen (im geistigen Sinn) komme ich in Beziehung auf

9 Diese Unterscheidung macht bekannterweise Aristoteles öfters in seiner Metaphysik. Eine exemplarische Stelle wäre Metaphysik, 993 b 10 f.

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Der phänomenologische Vorrang der »Anderen«

mich selbst durch Komprehension der Anderen«. 10 Dieses Wort lässt sich umschreiben: Wenn das »Ich« als die transzendentale Subjektivität sich als den »Menschen« begreifen will, so geht das Erkennen der Anderen phänomenal der Ich-Erkenntnis voran. Levinas, der von Husserl die Phänomenologie auf seine Weise erlernt hat, sagt auch: »Der Andere (autrui) sind die zu allererst Verständlichen«. 11 Es wird im vorliegenden Buch von Kapitel zu Kapitel immer deutlicher, dass die Thematisierung der »Anderen« nicht nur im Hinblick auf die phänomenologische Theorie, sondern auch in praktischethischer Hinsicht von zentraler Bedeutung ist. Der Zugang zur genannten Dreiheit der Anderen enthält nämlich einen Ansatz zu den ethisch-sozialen Problemfeldern. Die Gegensätze der Religionen, der Völker, die Konflikte in der Politik, der Ökonomie, im Militär, und selbst die Probleme der Wissenschafts- und Technologie-Politik (man bedenke die Umweltprobleme bezüglich der Atom-Energie) usw. haben alle zu tun mit den Problemen der »Anderen«. Der Ansatz bei den »Anderen« verbindet sich mit den dringlichsten Problemen unserer Welt. Um vorsichtshalber eine Bemerkung hinzufügen, so ist das Erkennen der Anderen doch auch eine Leistung des Ich, so dass dieses Erkennen eine Erfahrung mit dem Ich enthalten muss, was Husserl mit seiner Idee des transzendentalen und reinen Ich unterstützt. Aber auch unabhängig davon muss das Erkennen der Anderen in sich selbst das Erkennen des eigenen Ich enthalten. Die dabei gemeinten »Anderen« müssen weiterhin nicht unbedingt die »anderen Menschen« sein. Für Kleinkinder sind ihre Spielzeuge die impersonalen »Anderen« bzw. die »Dinge«. Auch der »Tod«, der von den Lebenden Vgl. Husserliana (im Folgenden verkürzt mit HUA), Bd. III/2: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, zweites Buch, Den Haag 1952, S. 242. Wenn man die Ansicht Husserls über die »Anderen« mit diesem Zitat vertritt, erheben Husserl-Forscher gewiss Einwand. Denn es ist die fünfte Meditation in Cartesianische Meditationen (erschienen in der französischen Fassung 1931, jetzt als HUA I: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, herausgegeben und eingeleitet von Stephan Strasser, Nachdruck der 2. verb. Auflage, 1991, § 42–62), in der Husserl seine transzendentale Phänomenologie der Anderen thematisch entwickelt. Auch im »Krisis«-Buch ist die reifere Ansicht des späten Husserl zu finden (vgl. z. B. HUA VI, S. 186 f.). Das obige Zitat wird nur im Hinblick auf den Kontext angegeben. Zur Ansicht Husserls zu den Anderen vgl. die Paragraphen (1) und (2) des dritten Kapitels des zweiten Teils des vorliegenden Buchs »Einige Bemerkungen zu Michel Henry«. 11 Emmanuel Levinas, Totalité et Infinit, La Haye 1965, S. 270. 10

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Die »Fernnähe« der Anderen

oft als das fremde Jenseits vorgestellt wird, und »Gott« bzw. das »Göttliche« als das, was alle menschlichen Maßstäbe transzendiert, können als die »Anderen« aufgefasst werden. Im Französisch werden »autrui« und »l’autre« voneinander unterschieden, und auch im Deutschen wird mit »der Andere« oder »die Andere« der männliche oder der weibliche »Mensch« gemeint, während »das Andere« das »andere Ding« im weiten Sinne bedeutet. Allerdings wird im Allgemeinen in der phänomenologischen Lehre der Anderen das Problem der »Anderen« im Sinne der »Dinge« kaum behandelt. 12 Im vorliegenden Buch werden die »Dinge« allerdings als wichtige Kategorie der »Anderen« behandelt. Im vorliegenden Kapitel werden diese mehrdeutigen »Anderen« zunächst als die »Anderen in der zweiten Person« (Du, Ihr), dann als die »Anderen in der dritten Person« (er, sie im Singular, sie im Plural), als die impersonalen Anderen (Dinge), weiterhin als das nonpersonale Andere (der Tod), und letztlich als das hyper-personale Andere (das Göttliche im weitesten Sinne) betrachtet. Der Grund dafür, dass hier kein »Anderer in der ersten Person« angegeben wird, liegt weder darin, dass dieser Ausdruck widersprüchlich ist, noch darin, dass die erste Person nur mein »Ich« und nicht die Anderen bezeichnet. Es kann durchaus vorkommen, dass mein Ich von mir selbst als fremd empfunden wird. Die Erfahrung der »Entfremdung« besagt, dass mein Ich als »der Andere in mir selbst« empfunden wird, was in existenzieller, psychischer und auch religiöser Hinsicht ein wichtiges Problemfeld ist. B. Waldenfels weist darauf hin, dass das Ich in der ersten Person (engl.: »I«, fr: »je«) ein Bei Bernhard Waldenfels, der in der Lehre der Anderen offensichtlich bemerkenswerte Schritte geleistet hat, wurde zwar das »Fremde« als die zugespitzte Andersheit der Anderen herausgestellt, aber die »Dinge« werden nicht in dieser Perspektive betrachtet (vgl. B. Waldenfels, Topographie des Fremden, Frankfurt am Main 1997). Seine Phänomenologie, die er selber als »Xenologie« bezeichnet (a. a. O., S. 85 ff.), ermöglicht, alle Arten der anderen Menschen in der Lebens- und der Kulturwelt ins Auge zu fassen. Allerdings könnte und sollte auch ins Auge gefasst werden, dass die »Dinge«, die nie wir selber sind, insofern für uns die »Anderen« sind, und die unter Umständen fremd sein können, diese Kultur- und Lebenswelt ausmachen. In seiner ebenfalls ausgezeichneten Schrift Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, vermisst man diesen Gesichtspunkt. Wie später dargestellt, sind die »Dinge« nicht bloß material, sondern können in eine spirituell-religiöse und auch unheimliche Richtung hinweisen. Eine Betrachtung in dieser Richtung könnte vielleicht auch in der Phänomenologie der Anderen bei Waldenfels noch nachgeholt werden.

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Der phänomenologische Vorrang der »Anderen«

verdoppeltes Wesen ist und zum »Mich« (engl.: »me«, frz.: »moi«) werden kann – ein für uns ausschlaggebender Sachverhalt. 13 Jedoch soll hier die Ausführung des »Anderen in der ersten Person« um der Darstellungsordnung willen zunächst noch zurückgestellt werden. 14 Allerdings ist hier die Unterscheidung zwischen dem »Selbst« und dem »Ich« nicht zu übergehen. Das »Ich« ist die erste Person, das Subjekt, das sich selbst bewusst ist und meistens glaubt, bei sich selbst zu sein. Es wurde in der neuzeitlichen Philosophie, vor allem seit Kant, als das »Bewusstsein überhaupt«, als das erkennende Subjekt, thematisiert. Aber umso exakter die thematische Analyse des Ich-Bewusstseins wurde, desto unsichtbarer wurde das »Selbst« dieses Ichs. Dies wird begreifbar, wenn man sieht, dass das »Selbst« eigentlich das »Ich vor dem Ich«, das »Diesseits des Bewusstseins«, ist. Es liegt diesseits einer präzisen Analyse des Ich-Bewusstseins und wird im Versuch der präzisen Erörterung der Bewusstseinsstruktur eher verdeckt. Das »Selbst« wird meistens vergessen. Allerdings kann dieses »Ich vor dem Ich« bzw. das »Diesseits des Bewusstseins« auch nicht ganz in Vergessenheit geraten. Denn es wird ständig in einer unthematischen Weise erlebt. Da besteht die Sachlage der »Erlebensvergessenheit« – eine »Vergessenheit«, die hier in einem späteren Kapitel aufgegriffen wird. Hier ist nur daran zu erinnern, dass diese »Vergessenheit« nie zum »Verschwinden« führt, so dass der vergessene Sachverhalt oft und unversehens als der anfängliche wieder zum Ich-Bewusstsein kommt und dieses zu ihm zurückführt. Der im Athener Tempel Sokrates gegebene Spruch »gnôthi sauton«, der Ausgangspunkt der abendländischen Philosophie, erinnert ständig an die Frage nach dem sonst vergessenen »Selbst«. Weiterhin gilt dieses »Selbst« nicht nur am »Ich« als der ersten Person, sondern auch am »Du« als der zweiten Person und dem »Er« als der dritten Person sowie am impersonalen »Ding« und dem non-personalen »Tod« als ihre jeweilige Wesensnatur. Dies wird, wenn man will, an den banalen Ausdrücken wie »Du selbst«, er selbst«, »das Ding an sich selbst«, »der Tod als solcher« usw. bereits sprachlich sichtbar. Vgl. B. Waldenfels, Topographie des Fremden, S. 30. In dieser Hinsicht hat Lambert Wiesing einen weiteren Schritt getan, indem er darauf aufmerksam macht, dass in der Wahrnehmung das »Ich nehme wahr« auch »das Mich der Wahrnehmung« impliziert ist. Lambert Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2015, besonders S. 119 ff. 14 Vgl. das nächste Kapitel »Höhentiefe«, 6. Abschnitt, in dem dieses Problem des »Anderen in der ersten Person« behandelt wird. 13

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Die »Fernnähe« der Anderen

Wenn im Alten Testament der Gottesname erklärt wird: »Ich bin, der ich bin«, oder »Ich werde sein, der ich sein werde«, 15 so wird in dieser tautologischen Erklärung eben das »tauton«, das Selbe, als das Selbst Gottes ausgedrückt, das von dem vom Menschen gerufenen bzw. vor dem Menschen erscheinenden Gott unterschieden wird. Meister Eckhart nennt diesen Gott selbst die »Gottheit« im Unterschied vom »Gott«. »Gott und Gottheit sind so verschieden wie Himmel und Erde«. 16 So gesehen gilt das »Selbst« auch bei allen fünf angegebenen Seinsweisen. Das Gesagte bedeutet auch, dass das »Selbst« nicht mit dem substanziellen »Mit-sich-Identischen« zu ersetzen ist. Wird das »Selbst« in solcher substanziellen Selbstidentität begriffen, so wird auch die Andersheit des Anderen selbst im substanzialistischen Identitätsdenken aufgefasst werden, so dass sich diese Andersheit des Anderen wiederum dem Denken entziehen wird. Der Hinweis auf dieses Problem des »Selbst« ist auch der Wegweiser der Richtung, in der dieses in einer völlig anderen Ideenkonzeption als jene des Identitätsdenken gelöst wird, in der dieses »Selbst« als Nichts oder Leere aufgefasst wird. Es ist dabei auch klar, dass zwar das »Selbst« und das »Ich« voneinander dimensional unterschieden werden, aber nicht wie im Nebeneinander der verschiedenen Dinge vor uns. Die Untersuchung zum »Selbst« und die zum »Ich« sind voneinander untrennbar. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn das »Ich« als die zeitliche Existenz in dessen Zeitlichkeit untersucht wird, so dass das »Selbst« als das Vor-Ichliche bzw. Über-Ichliche auftaucht. Der »animus« in der augustinschen Untersuchung zur Zeit, 17 das »Dasein« in der heideggerschen Untersuchung zur »Zeitlichkeit«, 18 sind nur zwei Beispiele dafür. Der Longseller Bin Kimuras Die Zeit und das Selbst ist auch als eine psychiatrische Annährung zum vor- und über-ichlichen Selbst 15 Exodus, 3, 14. Nach der Neuen Jerusalemer Bibel (Einheitsübersetzung): Ich bin der »Ich-bin-da«. Nach der Übersetzung Luthers: »Ich werde sein, der ich sein werde«. 16 Vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, München 1963, 26. Predigt, S. 272. 17 Vgl. Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München 1955, Kap. XXVI ff. 18 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, jetzt in: Martin Heidegger-Gesamtausgabe (Im Folgenden HGA), Frankfurt am Main, Bd. 2, S. 55. Der Titel des Ersten Teils des Buchs lautet: »Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein«.

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Der phänomenologische Vorrang der »Anderen«

vom »Ich« aus anzusehen. 19 Der Blick auf dieses »Selbst schlechthin« begleitet die ganze Untersuchung des vorliegenden Buchs. Von hier aus gehen wir zurück zur Erörterung der »Anderen«. Die Einteilung der fünf Weisen der Anderen wird nach der »personalen Bezeichnung« gemacht. Dass diese Einteilung keine Übernahme der »anthropo-zentrischen« Ansicht bedeutet, sondern eher auf das Verlassen derselben ausgeht, muss klar sein. Denn die Betrachtung der »Dinge«, des »Todes« und des »Göttlichen« sind nicht mehr personal. Der Blick auf diese impersonalen, non-personalen und hyperpersonalen Anderen deckt sich übrigens im Grunde mit dem Gesichtspunkt K. Nishidas, der die »Dinge«, »Du« und »das transzendente Ich« als das betrachtete, was »in drei Richtungen über das Ich hinausgeht«. 20 Diese Übereinstimmung wird hier zwar nicht mit Absicht erzielt, obwohl sie kein reiner Zufall wäre. Denn der Gedanke im vorliegenden Buch stimmt im Grundton überein mit jenem Nishidas, obwohl der Darstellungsstill in keiner Weise jenem Nishidas ähnlich ist. Von der Seite, in der die »Natur« nicht nur im physikalischen, sondern auch im geistigen und philosophischen Sinne thematisiert und erforscht wird, könnte kritisch gefragt werden, in welcher Weise die »Natur« aus der obigen Einteilung der Anderen in fünf bzw. drei Vgl. Bin Kimura, Die Zeit und das Selbst (jap.), 1982. Da dieses Buch ein Longseller ist, ist es zwar heute noch leicht zu besorgen. Um aber die Stelle des Buchs im Gesamtkontext der Arbeit Kimuras zu sehen, ist es günstig, die Fassung zu sehen, die in den Gesammelten Werken Kimuras (Kimura Bin chosaku-shû, Bd. 2, Tôkyô 2001, S. 129–268) aufgenommen wurde. Das von Kimura erörterte »Selbst« ist bald das »Ich« eines psychiatrischen Patienten, bald das »Selbst« dieses Ich. Er nimmt aber auch das Selbst, wie es im Zen-Buddhismus aufgefasst wird, auf: »Das Selbst (Dein), das ist, bevor (Dein) Vater und (Deine) Mutter geboren wurden«. Kimura meint: »Solches Selbst vor dem Selbst lässt sich nicht als das Selbst bezeichnen« (a. a. O., S. 259). Dieses Selbst wird sich auch dem Bereich »Zeit und Selbst« entziehen und letztlich den Namen »Leere« erhalten, wie sie im vorliegenden Buch als Grundthema bedacht wird. 20 K. Nishida, Ich und Du (1931, jap.) Nishida, Alte Ausgabe Bd. 6, S. 408, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5, S. 318. Nishida beginnt danach in seiner Schrift »Das dialektische Allgemeine« (1934, jap.), neben »Ich« und »Du« auch die unzähligen »er’s« zu betrachten. Das non-personale Andere, d. h. der »Tod«, wird zwar bei Nishida nicht als das »Andere« betrachtet, aber wenn er davon redet, »In der Tiefe des (unseres) Selbst das absolut Andere sehen«, so kann dieses absolut Andere auch in Form des »Todes« gedacht werden. Vgl. dazu Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 6, S. 378, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5, S. 318; Ders. Die Ortlogik und die religiöse Weltanschauung, Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 11, S. 396; Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 10, S. 315. 19

29 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Fernnähe« der Anderen

Weisen herausfällt. Um eine vorläufige Antwort auf diese Frage vorzulegen: Die »Natur« gilt hier genau so wie das »Selbst« von allen obigen fünf bzw. drei Seinsweisen der »Anderen«, indem allen diesen je die Natur im Sinne der »Wesensnatur« zugeschrieben werden kann und soll. Diese »Wesensnatur« ist synonym mit dem »Selbst« und gilt sowohl für die Außennatur wie auch für die Innennatur. Die »Natur« wird in der gesamten Darstellung des vorliegenden Buchs ein immer wichtigeres Thema, je weiter die Analyse der fünf Weisen der Anderen geht. Das im letzten Kapitel des ersten Teils erörterte Thema, die »Anti-Natur in der Natur selbst«, wird das am Ende belegen. Dem Verfasser ist es dabei bewusst, dass in der christlichen Theologie natura naturans ein Name für »Gott« und im Buddhismus des Reinen Landes die »Natur« ein anderer Name für die »BuddhaNatur« ist. Es kann aber erst am Ende der Entfaltung der Lehre der Anderen gerechtfertigt werden, dass und wie die Natur als das »Andere« in diesem umfassenden Sinne betrachtet wird.

3.

Die Anderen in der zweiten Person (Du, Sie, Ihr)

Die Anderen, die vor uns und für uns erscheinen, uns entgegenkommen, uns ansprechen, sich auf uns beziehen, diese Anderen sind bestimmte in der Weise der »zweiten Person«. Dieses mag als Einstieg in die Betrachtung der Anderen zuerst als etwas beschränkt und eng aussehen. Betritt man aber diesen Einstieg, so erkennt man sofort, dass der Innenraum desselben weit und mehrschichtig ist. Zwar gibt es im Englischen nur einen Ausdruck für die zweite Person, »you«, abgesehen vom literarischen Wort »thou«. 21 Im Deutschen hat man aber »Du« und »Ihr«. Bei M. Buber ist das »Du«, wie man weiß, nicht nur der Ruf zu den dem Rufenden vertrauten nahen Menschen, sondern auch der Ruf zum unendlich hohen und in diesem Sinne fernen Gott. Dieser ist, wie noch später darzustellen ist, das »hyper-personale Andere«, aber dennoch auch der Andere in der zweiten Person, der Allerdings gibt es im Dialekt und in der Mundsprache den Plural der zweiten Person, wie z. B. »you guys /’jugaız/ im Westen Amerikas, oder y’all /ycl/ im Süden Amerikas sowie im Englisch der Afroamerikaner, youse /juz/ in Irland usw. (vgl. Webseite: ja.wikipedia.org/wiki/Personale Pronomen im Englischen). Aber diese Ausdrücke sind alle eine quantitative Erweiterung des Bereichs, der mit »you« gekennzeichnet wird, und enthält keine qualitative Differenzierung, wie sie im Deutschen oder Japanischen zu finden ist, was im Folgenden dargestellt wird.

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Die Anderen in der zweiten Person (Du, Sie, Ihr)

vom Jenseits der Menschenwelt in der umgekehrten Transzendenz den Menschen anspricht. 22 Wir beschränken uns jetzt auf die Anderen in der zweiten Person im gewöhnlichen Sinne. Aber auch in diesem Fall ist seine Mannigfaltigkeit vor allem im Japanischen bemerkenswert. In der alltäglichen Wendung gibt es: »kimi« (»Du« im Allgemeinen), »omae« (»Du« im vertrauten Verhältnis), »anata« (verehrendes Wort für »Sie«), »anta« (vertraut-höfliches Wort für »Sie«), »anata-sama« (formal-höfliches, etwas künstliches Wort für »Sie«), »kisama« (»Sie« in schimpfend-herausfordernden Wendungen), »onore« (»Dein Ich«, die Wendung für »Du« im aggressiven Konfliktfall). Dazu kommen noch die literarischen Wendungen wie: »nanji« (»Du« im vornehmen Ton), »kidai« (»Sie« im etwas distanzierenden Ton), »kiden« (»Sie«, früher ein verehrendes Wort, heute eher der Ausdruck für den, der jünger oder niedriger (kleiner) ist), »taikei« (»großer älterer Bruder«, verehrendes Wort für einen meistens jüngeren Kollegen), »gakkei« (»der ältere Bruder im Lernen«, kollegiales Wort für einen Kollegen) usw. Jeder dieser Ausdrücke verbindet sich mit dem sozialen und standesgemäßen Seinscharakter des jeweiligen Anderen. Es ist hinzufügen, dass im Gespräch im Japanischen die Tendenz deutlich ist, den Gesprächspartner/die Gesprächspartnerin ohne Benennung mit dem jeweiligen personalen Pronomen zu nennen. Wenn auf Deutsch gefragt wird: »Gehst Du zum Essen?«, und zwar mit dem Subjekt »Du«, wird eigens gefragt ob »Du« zum Essen gehst. Die Zur Erfahrung des »Rufs« von Seiten des hyper-personalen Anderen kommen wir später nochmals zurück. Hier ist nur auf eine Darstellung hinzuweisen, die im Band Gyô (Übungspraxis) in Kyôgyôshinshô von Shinran, einem Gründer des japanischen Buddhismus (1173–1263) aufgenommen ist. Im Gleichnis »Zwei Flüsse, ein weißer Weg« hört der Mensch, der sich zwischen dem Fluss aus Feuer und jenem aus Wasser befindet und in keine Richtung vorangehen kann, eine Stimme, die in deutscher Übersetzung lautet: »Komm gleich auf dem weißen Weg in der Mitte, indem Du den aufrichtigen Glauben hältst«. (Shinran, Kyôgyôshinshô, jap., herausgegeben von Daiei Kaneko, Tôkyô 1976, S. 144/5.) Für eine englische Übersetzung siehe: Shinran, Kyôgyôshinshô (engl., The True Teaching, Practice and Realization of the Pure Land Way), in: The Collected Works of SHINRAN, Vol. 1, translated, with introductions, glossaries, and reading aids, by Dennis Hirota, Hisao Inagaki, Michio Tokunaga, and Ryushin Uryuzu. Kyôto 1997, S. 90: »(…) he suddenly hears the encouraging voice of someone on the eastern bank, ›O traveler, just resolve to follow this path forward! You will certainly not encounter the grief of death. But if you stay where you are, you will surely die.‹ Further, some on the western bank calls to him: ›O traveler, with mind that is single, with right-mindedness, come at once! I will protect you. Have no fear of plunging to grief in the water or fire‹.«

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Die »Fernnähe« der Anderen

japanische Frageform »Gehen zum Essen?« ist eher neutral und üblich. Die Bestimmtheit eines Anderen in der zweiten Person wird im Gespräch der Tendenz nach mit einem dünnen Kleid der Anonymität bedeckt. Dieser Deckung entsprechend wird auch das Ich ohne ausdrückliche Nennung im Gespräch ausgedrückt. Statt »Ich gehe zum Essen« wird meistens gesagt: »Gehe zum Essen«. Dies gilt zwar auch vom Altgriechischen. Aber im Japanischen hat dieses nicht ausgesprochene »Ich«, wenn es eigens ausgedrückt wird, viele Namen: »watashi« (»Ich« im Allgemeinen), »watakushi« (höfliche Wendung in einer offiziellen Situation bzw. in Anwesenheit gesellschaftlich höher gestellter Leute), »atashi« oder »atai« (eine kokette bzw. sich erniedrigende Wendung), »ore« (eine lockere Wendung), »oira« oder »ora« (eine noch lockerere Wendung), »sessha« (ursprünglich die IchBezeichnung von Samurai), »wagahai« (die sich selbst vergrößernde, daher etwas lustige Wendung) usw. Wenn sowohl die erste Person wie auch die zweite Person in ihrem Seinscharakter vag werden, so werden diese zwei Personen sozusagen »austauschbar«. So wird, wenn gefragt wird: »Wie denkt ›jibun‹ denn?«, mit »jibun«, das sonst immer mein Ich bedeutet, eindeutig das »Du« gemeint. Die Frage soll also heißen: »Wie denkst Du denn?« In dieser bezüglich der Wendung von »Ich« und »Du« lockeren Frageformulierung im Japanischen verrät sich wohl eine andere Gesinnung als die, in der das Ich sich immer klar ausdrücken will und sich mit den Anderen auseinandersetzt. Auf dem gegenwärtigen Stadium der Darstellung mag es ein Gedankensprung sein, wenn ich wie folgt sage: Es gibt eine Richtung, in der man Gott in der zweiten Person mit »Du« anruft und mit diesem einen Vertrag schließt – die christliche Geistigkeit –, und es gibt eine andere Richtung, die buddhistische Gesinnung, in der die Gläubigen den Namen des Großen Buddhas einfach rezitieren, um in der ausschließlichen Hingabe im Schoß dieses Buddhas zu ruhen. In beiden Fällen schlägt die »Ferne« in eine »Nähe«, und diese in jene, je anders um.

4.

Terminologische Bemerkung zum Wort »Fernnähe«

Hier ist eine terminologische Bemerkung zu den Termini »Ferne« und »Nähe zu machen, da diese zu den fundamentalen Kategorien des Denkens im vorliegenden Buch gehören. Die »Entfernung« als Abstand im physikalischen Sinne lässt sich mit neutralen Zahlenwer32 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Terminologische Bemerkung zum Wort »Fernnähe«

ten ausdrücken und hat keinen Charakter von »Nähe« und »Ferne« als Ausdruck eines Raumgefühls, während die Entfernung als dieses Raumgefühl immer das Zusammengehören von »Nähe« und »Ferne« ist. Die Anderen, die uns in diesem Ort begegnen, erscheinen in der Seinsweise der »Vis-a-vis-ität«, »Interessiertheit«, »Bezüglichkeit«, »Bestimmtheit der Personalität«, somit der Personalität im weiten Sinne. Diese personale »Nähe« und »Ferne« sind nicht bloß psychologisch oder subjektiv, da sie in sich jeweils die menschliche Beziehung, das soziale Verhältnis, den Lebenslauf usw. von den einander Begegnenden abspiegeln. Diese entwickeln sich ihrerseits auch mit der Zeit sowohl innerlich wie auch äußerlich, so dass sich auch die Nähe und die Ferne zwischen ihnen ständig verändert, auch wenn sich eine gewisse Selbstidentität bzw. Kontinuität hält. Die Nähe und die Ferne lassen sich zwar zunächst als Ausdrücke für das räumlich-äußerliche Verhältnis auffassen, sie können aber auch Ausdrücke für die innerlichen Gefühle sein. Im Fall der Abreise eines mir wichtigen Menschen tritt dieser in eine »Ferne« zurück, indem er meinem Gefühl nach unverändert in der »Nähe« zu mir steht. Diese Ferne bringt eben auch die Nähe, in der ich an diesen Menschen denke. In den menschlichen Beziehungen wie die der Liebe, der Freundschaft, aber auch der Feindseligkeit und des Hasses, sind Ferne und Nähe erfahrbar. Die alt-griechische Erzählung der Freundschaft zwischen Damon und Phintias, wie sie von Cicero oder Schiller, aber auch von Osamu Dazai zum Motiv gemacht wurde, kann auch, abgesehen vom Dramatischen in der Darstellung, in unserem Alltag nachempfunden werden. Dabei werden die Ferne und die Nähe nie dichotomisch voneinander getrennt. In der Ferne ist die Nähe, und in der letzteren die erstere. Dieser Sachverhalt ist mit einem Wort auszudrücken: »Fernnähe«. Das Wort »Fernnähe« steht zwar nicht im deutschen Wörterbuch, aber es ist in der deutschen Wikipedia zu finden, was zwar keine linguistische Rechtfertigung bedeutet, aber als Parameter der verbreiteten Wortwendung gilt. Es mag beim Hören im ersten Augenblick etwas fremd klingen, aber es würde dennoch ohne weiteres verstanden werden. 23 So dichtete Goethe z. B. zur lebendigen Tätigkeit der Dieses Wort wurde dem Verfasser von Anna Berres an der Universität Hildesheim vorgeschlagen, als er ihr seine Gedanken zu erklären versucht hatte. Das gilt auch vom Terminus »Höhentiefe«, wie er im nächsten Kapitel als das zweite Schlüsselwort entwickelt wird, der selbst in der deutschen Wikipedia noch nicht zu finden ist. Die

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Die »Fernnähe« der Anderen

Natur wie folgt: »Alles nach der eignen Art. / Immer wechselnd, fest sich haltend, / Nah und fern und fern und nah«. 24 Im Grunde kann diese »Fernnähe« auch von der Feindseligkeit und dem Hass als Gegenpole zur Liebe und der Freundschaft gesagt werden. Zwar wäre im gewöhnlichen Alltag relativ selten, dass jemand mir gegenüber eine Mordabsicht hegt, aber es kann vorkommen, aus einem Missverständnis oder mit einem gewissen Grund, dass jemand mich hasst und sich zu mir feindselig verhält. In der Steigerung dieses Hasses liegt der geheime Wunsch, mich zu ermorden. Der Mensch, der mir gegenüber eine mörderische Absicht hat, befindet sich in einer extremen »Ferne« von mir, da eine Sympathie mit ihm versagt. Aber zugleich wirkt er in der Weise des Hasses in meine Existenz hinein und ist insofern viel »näher« zu mir als die Nachbarn. Dasselbe gilt auch für ihn, da ich ihm gegenüber fern und nah bin. Jedenfalls bin ich ihm näher und zugleich ferner als seine Nachbarn. In dieser Zusammengehörigkeit der Ferne und der Nähe werden manchmal Hass und Liebe austauschbar. Im Fall eines Stalkers, der eine Frau verfolgt und am Ende ermordet, weiß er selber vielleicht nicht, ob er diese Frau liebt oder hasst. Um der leichteren Verständlichkeit willen wurden hier nur die extremen Fälle angegeben. Aber auch in allgemeinen Fällen der menschlichen Beziehungen werden dieselben Faktoren herausgestellt werden können. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass es weder die »Ferne an sich« noch die »Nähe an sich« gibt. Jede Ferne ist ein Modus der Nähe, und jede Nähe ist eine Art der Ferne. So sind sie die »Höhentiefe« dürfte allerdings, wie auch die Fernnähe, beim Hören trotz des ersten Eindrucks einer gewissen Fremdheit von jedem verstanden werden. Dies wurde belegt, als der Verfasser bei zwei öffentlichen Vorträgen diese Wörter genutzt hat. Vgl. dazu die Anm. 58 im nächsten Kapitel. Dem gegenüber ist die japanische Übersetzung dieser Termini nicht ohne Probleme. Da diese Termini Ecksteine der Darstellung des Buchs sind, mussten aber die japanischen Termini künstlich gebildet werden: »Tô-chikasa« (jap. tôsa = Ferne, jap. chikasa = Nähe) für die Fernnähe, und »Taka-fukasa« (jap. takasa =Höhe, jap. fukasa =Tiefe) für die Höhentiefe. Keines der beiden steht zwar im japanischen Wörterbuch, aber jeder versteht die ungefähre Bedeutung derselben. Diese japanischen Termini wurden übrigens bei einer philosophischen Unterhaltung von Rolf Elberfeld an der Universität Hildesheim dem Verfasser vorgeschlagen. 24 Aus dem Gedicht Goethes »Parabase«: Ein Vers lautet: »Und es ist das ewig Eine, / Das sich vielfach offenbart; / Klein das Große, groß das Kleine, / Alles nach der eignen Art. / Immer wechselnd, fest sich haltend, / Nah und fern und fern und nah; / So gestaltend, umgestaltend – / Zum Erstaunen bin ich da.« (Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke, Bd. 1, Berlin 1960, S. 542/3)

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Terminologische Bemerkung zum Wort »Fernnähe«

zwei Seiten ein und desselben Sachverhaltes, der »Fernnähe« genannt wird. Im vorliegenden Buch gilt dieser Terminus als ein Schlüsselwort, das alle Seinsweisen der »Anderen« prägt. Die »Anderen in der zweiten Person« gelten nur als Einzelfall dieser Fernnähe. Vorhin wurde zur Erläuterung dieses Ausdrucks ein Wort Goethes zitiert. Das dichterische Wort sagt direkt das Wesentliche und ruht in sich. Vom Denken her bedarf es aber einer denkenden Entfaltung. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die Wendung »Ent-Fernung«, die Heidegger in »Sein und Zeit« als Ausdruck für die Räumlichkeit des menschlichen Daseins nutzte. 25 Das ist ein Vorläufer des Terminus »Fernnähe« in der Phänomenologie. Mit der »Ent-Fernung« wird die Zwei-seitigkeit des Phänomens der Entfernung sichtbar gemacht. Die Entfernung ist einerseits eine Ferne, aber andererseits auch die »Ent-»Fernung, d. h. die Ent-hebung der »Ferne«, wodurch die »Näherung« erreicht wird. Dies kann sowohl sprachlich wie auch phänomenal ohne große Mühe festgestellt werden. Der späte Heidegger redet oft von der Nähe und Ferne, wobei er auch an die »ἀγχιβασίη« Heraklits erinnert. Diese heißt wörtlich: Herangehen, und nach der sachtreuen Übersetzung Heideggers: »In-die-Nähe-gehen«. 26 Auf einige weitere vorläuferische Wendungen der »Fernnähe« ist hinzuweisen. Zuerst die »Weite« bzw. »Weitung« und »Enge« bzw. »Engung«, wie sie H. Schmitz in seiner Leiblichkeitsanalyse entwickelt. 27 Den Sachverhalt der »Fernnähe« nicht nur im äußerlichräumlichen, sondern auch im innerlichen Sinne erwähnt E. Levinas eindrucksvoll. Er fasst den »Anderen« bzw. das »Andere« als die absolute Exteriorität (l’extériorité) für das Denken und für mich auf, da er/es nach Levinas das »Unendliche« (l’infini) ist, das über das Denken, das ihn/es begreifen will, hinaus geht. Er/es wird deshalb auch der »Fremde« (l’Etranger) genannt. Der/das Andere steht mir gegenüber im Verhältnis der »unendlichen Distanz« (la distance infinie), »Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Nährung, in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand haben. Aber auch bestimmte Arten des rein erkennenden Entdeckens von Seiendem haben den Charakter der Näherung. Im Dasein liegt eine wesentliche Tendenz auf Nähe.« (M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, 1977, S. 141) 26 Vgl. ders., Feldweg-Gespräche, HGA, Bd. 77, 1955, S. 151 ff. 27 Hermann Schmitz, Der Leib, Bonn 1964. In dieser Schrift betrachtet Schmitz in 7 Kapiteln den »Leib« präzis und phänomenologisch, wie z. B. mittels der Perspektive von »Weitung« und »Engung«. 25

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Die »Fernnähe« der Anderen

somit in der »Ferne«, obwohl es sich mir in der Weise des »Antlitz« (la visage) zeigt. Als die Anwesenheit vor dem Antlitz (la présence en face d’un visage) steht er/es in der »Nähe« zu mir. So redet Levinas von der »unendlichen Distanz trotz der Nähe, geleistet von der Idee der Unendlichkeit« (la distance infinie de l’Etranger, malgré la proximité accomplie par l’idée). 28 Bei Levinas bestehen die Nähe und die Ferne des Unendlichen bzw. des Anderen gleichzeitig als eine Sache. Ferner aufschlussreich ist auch die »Fernnähe« in der Kunsterfahrung. Zunächst ist da das »Gespür«, wie G. Boehm dieses als das Gleichzeitige von »Nahsinn« und »Fernsinn« herausstellt. 29 Wenn man die Spur der Hand eines Malers in dessen Zeichnung aufmerksam verfolgt, so betätigt sich das »Gespür« in der Aktivität von Nahsinn und Fernsinn. Das ist die Erfahrung des Beobachters. Aber auch beim Künstler selbst, der Kunst schafft, wird die »Fernnähe« in verschiedener Weise erfahren. Paul Klee sagt z. B.: »[…] Denn ich wohne gerade so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug.« 30 Für Klee ist das Kunstschaffen in der Weise der Malerei die Teilnahme an der Schöpfung, wodurch er näher dem Herzen der Schöpfung als üblich steht, was aber auch besagt, dass er noch lange nicht nahe genug daran ist, d. h. sich noch in der Ferne zu ihr befindet. Er kannte die »Fernnähe« als Sachverhalt des Verhältnisses zur Schöpfung in der Weise des Kunstschaffens. Die »Fernnähe« besagt, als Begriff, dass die »Ferne« und die »Nähe«, indem sie nicht an sich bestehen, sich in ihrem Kontrast zueinander haltend, dennoch ineinander übergehen und das Andere als das Element des Eigenen haben. Sie gehören zusammen. Es ist auch im Allgemeinen leicht zu sehen, dass die konträren Phänomene als die beiden Seiten desselben Sachverhaltes zueinander gehören. So sagt Hegel, indem er die Beispiele Südpol und Nordpol, Endlichkeit und Unendlichkeit, Subjektivität und Objektivität, das unmittelbare und das mittelbare Wissen usw. angibt: »(Man kann den Himmel

Eine exemplarische Textstelle Levinas’, wo der genannte Gedanke konzentriert dargestellt ist, Totalité et Infinit, S. 21. 29 Gottfried Boehm, »Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung«, in: Öffnungen: Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, herausgegeben von Friedrich Teja Bach und Wolfram Pichler, München 2009. 30 Paul Klee, Gedichte, herausgegeben von Felix Klee, 1920, 3. Auflage, Zürich 2001, S. 7. 28

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Die Anderen in der dritten Person (er, sie in Singular und Plural)

ohne Erde nicht zeigen, und auch umgekehrt)«. 31 Der Begriff der »Dialektik« ist hier noch gar nicht notwendig. Um zu den Anderen in der zweiten Person zurückzukommen: diese lassen sich in verschiedenen Modi der »Fernnähe« erblicken. Man sieht sofort, dass alle die vorhin angegebenen Bezeichnungen der zweiten Person im Japanischen (kimi, omae, anata, anta, anatasama, kisama, onore, nanji, kidai, kiden, taikei, gakkei usw.) zugleich Ausdrücke für verschiedene »Fernnähe« sind. Mit dieser Feststellung können wir zur Darstellung der Anderen in der dritten Person übergehen.

5.

Die Anderen in der dritten Person (er, sie in Singular und Plural)

Anders als im Fall der Anderen in der zweiten Person sind diejenigen in der dritten Person generell im indirekten Verhältnis wie der »Visa-vis-ität«. Dem entsprechend wird die direkt orientierte »Interessiertheit«, »Bezüglichkeit«, »bestimmte Individualität« usw. diffus. Statt in einer direkt-linearen Attraktion oder Repulsion kommen die Anderen leicht in einer »Non-Vis-a-vis-ität«, Desinteressiertheit, Bezuglosigkeit, unbestimmter Individualität usw. in den Vordergrund. Den Anderen wird tendenziell in einer Entfremdung, Distanz, Kälte, Anonymität usw. begegnet. Sie können allerdings auch als »bekannte und freundliche Anderen« auftauchen, aber auch in diesem Fall entsteht latenterweise die Tendenz, dass sie in einem »Abstand«, somit in einer gewissen Kälte begegnen, und in der Weise der Vermischung von Nähe und Ferne. Die Charaktere der Anderen in der zweiten und dritten Person mischen sich dabei oft miteinander, so dass z. B., wenn ein Politiker vor der Masse eine Rede hält und mit dem Ruf der zweiten Person, so etwa »Ihr«, die Masse anspricht, so wird die »Vis-a-vis-ität«, die »Interessiertheit«, die »Bezüglichkeit«, die »bestimmte Individualität« der Masse entweder nicht mehr so intensiv wie im direkten Dialog, oder aber im aufgeregten Enthusiasmus gesteigert, was kaum bei den einzelnen Individuen geschieht. Jedenfalls erscheinen diese Anderen in der Massenhaftigkeit, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, Einleitung in die Philosophie der Religion, neu herausgegeben von Walter Jaeschke, Hamburg 1993, S. 81.

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Die »Fernnähe« der Anderen

tendieren danach, als »Menschen ohne Eigenschaften« aufzutreten bzw. zu verschwinden. Der Ruf dieser Anderen in der dritten Person ist »er, sie (Singular und Plural)«. K. Nishida nennt diese Anderen in seinem Aufsatz »Ich und Du« die »unzähligen er’s«. 32 Vor Nishida hat schon Cassirer diesen Begriff »er« vorgelegt. 33 Die unzähligen und unbekannten »er’s« oder »sie’s« bilden die gesellschaftliche Breite und die Weltlichkeit der »Welt«, die über die Individuen erhaben ist und alle diese in sich zulässt. Die Seinsanalyse dieser Anderen in der dritten Person führt deshalb zur Gesellschafts- und Weltanalyse. Im Zusammenhang mit der Nennung der dritten Person ist auf ein Wort Levinas’ aufmerksam zu machen. Er hat, wie vorhin dargestellt, in seiner eigentümlichen Lehre der Anderen diese als das »Antlitz« der »Unendlichkeit« aufgefasst und die Spur dieser Unendlichkeit als das bezeichnet, das sich als »Jenseits des Seins« (l’au delà de l’être) findet. Das, was in diesem Jenseits ist, sind nicht die mir gegenüber direkt daseienden Anderen wie »Du« oder »Sie«, sondern »Er« (Il). Die Seinsweise dieser Anderen wird deshalb bezeichnet mit »Er-heit« (l’illeité). 34 Dieses Wort deutet an, dass bei Levinas der Andere in der dritten Person in der »Ferne« des Jenseits, aber auch in der »Nähe« von Er (Sie) ist und deshalb in dieser »Fernnähe« den Charakter des hyper-personalen Anderen haben kann, der nachher zu erörtern ist. Jedoch sind die Anderen in der dritten Person zuerst und zumeist die sozialen, die sich in der jeweiligen Kulturwelt und Geschichtswelt befinden. Dasselbe kann zwar auch von den Anderen in der zweiten Person prinzipiell gesagt werden, aber diese können in ihrem lineardirekten Verhältnis zueinander, wenn dieses Verhältnis sehr intim und intensiv ist, auch danach tendieren, die soziale Breite oder die Welthaftigkeit auszuschließen. Diesen gegenüber sind die Anderen in der dritten Person der Tendenz nach anonym und massenhaft.

Bei Nishida ist es die Vorrede zu Grundprobleme der Philosophie. Fortsetzung (Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 7, S. 210, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 6, S. 164), in der der Blick auf »unzählige er’s« zum ersten Mal geworfen wird. Mit diesem Blickwinkel beginnt Nishidas Philosophie eine Wende zu vollziehen, die Wende vom existenziellen Verhältnis der zweiten Person »Ich und Du« zum weiten Offenen der »Welt«. 33 Zum Gedanken von »er’s« bei E. Cassirer vgl. Ders. Philosophie der symbolischen Formen (Berlin 1923–1929), Bd. II (1925), S. 209 f. 34 A. a. O., S. 619. 32

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Die impersonalen Anderen (die Dinge)

6.

Die impersonalen Anderen (die Dinge)

Die Entfremdung, die Kälte, die Distanziertheit, die Anonymität usw. sind nach wie vor von einer Menschenhaftigkeit begleitet. In der Richtung, in der diese Menschenhaftigkeit gelöscht wird, treten die »gefühllosen« Dinge auf. Gewöhnlich stellt man sich mit den »Dingen« den bloß materiellen Klumpen vor, der nichts Besonderes zu sein scheint. Aber schon in der modernsten Festkörperphysik, in der die Spitzenforschung die immer noch dunkle Körperlichkeit konzentriert erforscht, bieten diese materiellen Dinge das wichtigste Problemfeld. Im Hinblick auf unser Thema »Fernnähe« zeigen sich die Dinge, gerade weil sie schweigende und gefühllose Klumpen sind, im Charakter der »Anderen« (»l’autre«, und nicht »autrui«). Ist es nicht erstaunlich, dass wir in dieser Welt und in unserem Alltag von unzähligen »Dingen« lückenlos umgeben und berührt sind? Es gibt keinen Raum, in dem kein Ding ist. Die Dinge sind einerseits total fremde Nicht-Ichs, aber andererseits tragen sie uns an jeglichem Ort und in allem Tun. Sie sind die Anderen, die uns zugleich entfremden und halten, uns zugleich bejahen und verneinen. Gewöhnlich vergessen wir dies völlig. Aber wenn wir es bemerken, sehen wir, wie die Dinge durchaus unheimlich und vertraut zugleich sind. Wir bemerken weiterhin, dass die »Dinge« als die uns nahen Dinge den Charakter der »Anderen« in der zweiten und der dritten Person zeigen können. Was den ersteren Fall betrifft, so ist die Bemerkung K. Nishidas heranzuziehen: »Alles, was mir gegenüber steht, Berge, Flüsse, Bäume, Steine, hat die Bedeutung von Du«. 35 Sie tauchen in der »Neugier«, der »Interessiertheit«, der »Bezüglichkeit«, der »bestimmten Individualität« auf. Sie können zum Gegenstand der Vorliebe oder der Abneigung, somit im Großen und Ganzen »personal« werden. Jedoch erscheinen sie andererseits doch in einem anderen Charakter als dem der personalen Anderen. Darin ist schon zu sehen, dass es gar nicht leicht ist, den Seinscharakter der Dinge als impersonale Andere zu begreifen. Ein Ansatz zu diesem Begreifen liegt wiederum in der »Fernnähe«. Zum Thema »Fernnähe« der Dinge gibt der Vortrag Heideggers »Das Ding« wohl die am weitesten reichenden Hinweise. Er beginnt

K. Nishida, »Vorrede zur Metaphysik«, Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 7, S. 59; Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 6, S. 46.

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Die »Fernnähe« der Anderen

den Vortrag mit der Frage »Wie steht es mit der Nähe?« 36 Da dieser Vortrag aber nicht nur die Einsicht in die »Fernnähe der Dinge«, sondern auch und mehr die Einsicht in die »Höhentiefe der Dinge« gibt, ist er erst im nächsten Kapitel aufzunehmen. Hier ist noch vorher auf seinen für uns genauso wichtigen Vortrag hinzuweisen, den er ein Jahr später (1951) hielt: »Bauen Wohnen Denken«. Dort wird gesagt, dass »die fernen Dinge« einen gewissen Ortscharakter haben und diese Ferne des Ortes erst im Denken erschlossen wird. »[…] vielmehr gehört es zum Wesen unseres Denkens an die genannte Brücke, daß dieses Denken in sich die Ferne zu diesem Ort durchsteht.« 37 In diesem Denken ist die sonst von mir weit entfernte Brücke dem an sie Denkenden näher als den Menschen, die im Alltag an dieser Brücke ohne Interesse vorbeifahren. Die Brücke selbst ist ein Ding, das die Nähe und die Ferne zugleich, somit die Fernnähe, ist, was eben bei den personalen Anderen der Fall ist. Das oben Gesagte im Kopf behaltend betrachten wir diejenigen Dinge, die in einer ähnlichen Nähe zu uns erscheinen, wie sie bei den personalen Anderen gesehen wurde. Endlose Beispiele können angegeben werden; jene täglichen Bedarfs, die Häuser in der Stadt, die Verkehrsmitteln zur Fahrt zum Dienst, die für die Arbeit genutzten technischen Produkte usw. sind allesamt Beispiele dafür. Diese Dinge stehen zu uns vis-à-vis und begegnen uns in unserem Interesse und Bezug, mit einem gewissen Individuumscharakter, wie die bestimmte Brille oder Tasse, das geliebte Schmuckstück usw. Sie können unter Umständen sogar den Charakter des »Du« aufweisen. Von hier aus ergibt sich auch als notwendig, dass das Blickfeld der Betrachtung der Dinge auf die soziale Dimension der Industriegesellschaft oder der Kulturwelt zu weiten ist. Es gibt kein Gebiet in Religion, Gesellschaft, Staat, Geschichte, in dem diese »Dinge« nicht mitbestimmend sind. Die »entfremdete« Arbeit«, wie sie Marx in seinen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« herausstellte, 38

M. Heidegger, »Das Ding«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, HGA, Bd. 7, S. 165– 188. 37 Ders., »Bauen Wohnen Denken«, HGA, Bd. 7, S. 159. 38 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Karl Marx, Texte zu Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte 1844, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 1968, S. 55 ff. Nach Marx entfremdet die Arbeit (1) die Außennatur des Menschen, (2) den eigenen Leib des Menschen, (3) das geistige Wesen des Menschen, (4) den Menschen selbst. (Ebd. S. 58) 36

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Die impersonalen Anderen (die Dinge)

ist ein Verhältnis des Menschen mit den Dingen, die in einer Fabrik hergestellt werden, und dieses Verhältnis ist heute gar nicht vergangen, sondern eher in der Steigerung der Komplexe gegenwärtig, wenn z. B. diese Arbeit heute in der elektronisierten und menschenleeren Fabrik durch Roboter geleistet wird. Die entfremdete Arbeit wird dort nicht nur in hohem Maße organisiert, sondern auch technologisiert. Die Dinge in Form der Kunstwerke zeigen auch oft direkt, in welchem veränderten Verhältnis die Menschen zu den Dingen stehen. Um nur ein exemplarisches Beispiel anzugeben, so werden im sogenannten abstrakten Expressionismus als Kunstbewegung nach dem II. Weltkrieg in den USA die industriellen Produkte in den Kontext der »Kunst« versetzt, 39 wodurch plötzlich gezeigt wird, dass und wie die technischen Dinge uns und unsere Welt prägen und was die »Kunst« im Zeitalter der Reproduzierbarkeit sein kann, wie einst W. Benjamin thematisch herausgestellt hat, aber heute noch dringender zu fragen ist. Ich schreibe dieses Kapitel jetzt in Tübingen, in der Stadt, die von schönen Wäldern und Feldern umgegeben wird. Die Wälder sind aufgrund der Forstwissenschaft gepflegt. Die zunächst als Urwald aussehenden Gebiete sind als »Bannwald«, d. h. als Waldgebiet eigens aufbewahrt, d. h. »gepflegt«, damit niemand zum Zweck der Jagd oder des Holzfällens eintritt. Wenn der Wald zum Gegenstand des Naturschutzes wird, ist er keine »Naturlandschaft« mehr, sondern »Kulturlandschaft«, wie einst Adorno bemerkt hat. 40 Es gibt keine »Natur an Vgl. dazu Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther, 2 Bde., Köln 2005. Diese Kunstbewegung geht allerdings noch weit zurück auf das bekannte Werk Marcel Duchamps »Fountain«. Ob er das so beabsichtigt hat oder nicht, jedenfalls wird der Sinn industrieller Produkte und auch der Kunst unversehens von Grund aus in Frage gestellt, indem ein »Ding«, d. h. ein Pissoir, als industrielles Produkt eigens als »Kunstwerk« in einer Kunstausstellung gezeigt wird. 40 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main, 1980, S. 101. Adorno stellt von hier aus dar, dass das »Naturschöne« in Wirklichkeit immer ein »Vermitteltes« und nie geschichtslos ist, sondern einen geschichtlichen »Kern« hat, an dem die Kunst als »Nachahmung des Naturschönen« (im Unterschied von der »Nachahmung der Natur«) den Charakter der Antithese zur Wirklichkeit erhält. Einige Bemerkungen zu diesem Gedanken hat der Verfasser in seinem Aufsatz, »Die Naturschönheit als Schein. Zur Ästhetik bei Kant, Hegel und Adorno aus fernöstlicher Sicht des ›Kunstwegs‹«, in: Verf., Schnittpunkte. Essays zum ost-westlichen Gespräch. Erster Band: Dimensionen des Ästhetischen, Nordhausen 2013, versucht. Kurz gesagt, scheinen den Betrachtungen Adornos trotz ihrer gewissen Feinsinnigkeit und Schärfe das konventionell-platonische (nicht von Platon selbst, sondern von Platonikern verbreitete) Zwei-Welten-Schema zugrunde zu lie39

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Die »Fernnähe« der Anderen

sich«, wie es auch keine »Dinge an sich« gibt. Wie oft festgestellt, können die »Dinge« sogar in der physikalischen Betrachtung nicht ohne »Beobachtungsapparat« erfahren werden. 41 Jedoch, auch wenn die »Dinge« in ihrer Erscheinungsweise mit einem Personalitätselement verbunden bleiben, kann das keine Personifikation der Dinge bedeuten. Die Dinge sind gefühllos und sprechen nichts, so sehr der Besitzer sie auch mit Vorliebe sorgsam pflegt. Da sind die Kennzeichen der Anderen in der dritten Person in extremer Weise an den Dingen zu finden: Die Non-vis-a-vis-ität, die Desinteressiertheit, die Unbezüglichkeit, die Unbestimmtheit der Personalität. Es ist dann zu beachten, dass die Dinge, gerade indem sie den Charakter dieser »Gefühllosigkeit« haben, auch die Kraft haben, die von den Anderen in der personalen Beschaffenheit nicht besessen wird, und gerade deshalb die Menschenwelt näher bestimmen. gen. Deshalb wird seinem »Naturschönen« nur eine idealistisch-utopische Stellung eingeräumt und nicht die Wirkungskraft in der Wirklichkeit selbst. 41 Im vorliegenden Buch werden quasi »wissenschaftstheoretische« Betrachtungen vorgelegt, die den Charakter des Dialogs zwischen Physik und Philosophie tragen wird. Zu diesem Thema gibt es wiederum verschiedene Vorläufer. M. Heideggers »Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg«, in: HGA, Bd. 77, Feldweg-Gespräche (1944/ 45), S. 1–159, bleibt nach wie vor in seiner denkerisch tiefen Einsicht unvergleichbar. Aber zunächst noch sind die allgemein zugänglichen und zuverlässigen Ausarbeitungen der Wissenschaftstheorie anzugeben. Auf Japanisch: (1) Keiichi Noe, Philosophie der Wissenschaft (jap.), Tôkyô 2003, Neuauflage 2015; (2) Jun-ichirô Hashimoto, Wo entsteht die Zeit?, Tôkyô 2006. In europäischen Sprachen sind nach wie vor zu empfehlen: (1) Hans Reichenbach, The Philosophy of Space & Time, New York 1958; (2) Wolfgang Büchel, Philosophische Probleme der Physik, Freiburg – Basel – Wien 1965. Zwar ist der Fortschritt der Naturwissenschaft und Physik seit dem Erscheinen dieser Bücher enorm groß, so dass die neuesten Ergebnisse der Forschung in diesen beiden Büchern nicht erwähnt werden. Aber was die »philosophischen Probleme der Physik« im 20. Jahrhundert betrifft, so hat sich die Lage im Wesentlich nicht geändert. Für das vorliegende Buch war die Darstellung Büchels über die spezielle Relativitätstheorie, S. 157–236, sowie über die Quantenphysik und Naturerkenntnis, S. 294–425, besonders hilfreich; (3) Carl-Friedrich von Weizsäcker, »Das Problem der Zeit als philosophisches Problem«. Erkenntnis und Glaube, Bd. 28; ders.: Die Einheit der Natur; (4) Die Schriften Herbert Pietschmanns, vor allem: Zum Begriff des »Aporon«. Raum-Zeit-Gravitation in physikalischer und philosophischer Sicht, in: H. Hashi (Hg.), Interdisziplinäre Philosophie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2009, S. 119–130. Vgl. auch ders., Phänomenologie der Naturwissenschaft (überarbeitete Neuauflage, Wien 2007.) Pietschmann versucht in Zusammenarbeit mit Erich Hamberger in Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation, Freiburg i. Br., 2015, die allgemeine Theorie der Kommunikation zu betrachten. Zu Pietschmann vgl. auch Anm. 101 im 3. Kapitel des vorliegenden Teils.

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Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl

Bis jetzt haben wir die »Dinge« als die Anderen eher in ihrer Äußerlichkeit schnell beobachtet. Das Äußere aber ist immer der Ausdruck des Inneren. Der gesunde Menschenverstand mag fragen, ob ein Ding überhaupt eine Innerlichkeit hat. Zu dieser Frage sei vorläufig daran erinnert, dass Hegel die Innerlichkeit der Dinge als »Gesetz« und dessen Erscheinung als »Kraft« begriffen hat. Da dies aber zum Gebiet der »Höhentiefe« gehört, die im nächsten Kapitel in Betracht gezogen wird, sei die weitere Betrachtung diesem nächsten Kapitel überlassen. Vorläufig genügt es festzustellen, dass wir mit der Kategorie der »Fernnähe« noch am Eingang der Betrachtung der »Dinge« stehen. Aber es genügt im Moment zu erblicken, wie mannigfaltig und mehrdimensional die »Fernnähe der Dinge« als der impersonalen Anderen sein kann. Unsere Betrachtung befindet sich erst in ihrem Anfangsstadium.

7.

Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl

Zwischen den gefühllosen »Dingen« und den mit Gefühl lebenden personalen Anderen finden sich die Anderen in Form der »Lebewesen«. Diese sind die organisch lebendige Natur im Unterschied von der anorganischen, leblosen Natur. Aber wie schon angedeutet, ist das Gebiet der »Natur« tiefer, breiter und umfassender als das der organischen Natur. Wir betrachten es nicht im Problemzusammenhang der fünf Arten der Anderen, sondern erst später. Jetzt sehen wir ein Anderes, das dort auftaucht, wo die Gefühllosigkeit, Kälte, Härte und Kompromisslosigkeit der Dinge bis zum Äußersten getrieben wird: der Tod. Dieser ist das non-personale Andere. In der Lehre der Anderen gibt es bisher kaum Beispiele dafür, dass der »Tod« als »Anderes« aufgefasst wird. Dies lässt sich einigermaßen rechtfertigen. Denn das »Andere« ist nach der gewöhnlichen Vorstellung immer etwas, das »ist« und existiert. Mit den Anderen werden entweder andere Menschen oder andere Dinge gemeint. Es ist zunächst unsinnig zu sagen: Der Tod ist und existiert. Nur die Todesphänomene oder die Toten sind und existieren. Der Tod ist das Nichts des Lebens; er ist nirgendwo als Gegenstand einer Analyse, etwa wie das »Sein selbst« im Unterschied vom »Seienden«. So hat z. B. Jankélévitch bei seiner Thematisierung des »Todes in der ersten Person«, des »Todes in der zweiten Person« und des »Todes in der 43 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Fernnähe« der Anderen

dritten Person« die Todesphänomene bei der ersten, zweiten und dritten Person betrachtet, nicht aber den Tod als solchen. Die Auffassung des Todes als des »non-personalen Anderen« war auch ihm fremd. 42 Allerdings ist die feinsinnige Betrachtung Jankélévitchs hier auch zu berücksichtigen. Seine Betrachtung, dass der Tod in drei Arten des personalen Pronomens drei verschiedene »Zeitcharaktere« hat, gibt uns einen Hinweis. Sie lässt sich wie folgt paraphrasieren: Der Tod in der ersten Person erscheint in einer Zukunftsform als der »nahekommende Tod«; der Tod in der dritten Person erscheint in der Vergangenheitsform als der »an ihm/ihr/ihnen geschehen habende Tod«, und der Tod in der zweiten Person in allen drei Zeitlichkeiten, als »der Dir nahekommende, zukünftige Tod«, als »der an Dir geschehen habende, vergangene Tod«, als »der an Dir in Gang gehende Tod in der Gegenwart«. 43 Die Betrachtung Jankélévitchs erweckt in uns das Bedürfnis, diese Zeitmodi der Todesphänomene zu verinnerlichen und als die Zeitlichkeitsstruktur unserer menschlichen Existenz aufzufassen, was Heidegger teilweise schon in seiner Daseinsanalytik gezeigt hat. Ein weiteres Bedürfnis ist dann, den Tod selbst als das non-personale Andere in unserem Selbst, als das unser Selbst bestimmende Nichts aufzufassen, womit ausgeschlossen werden wird, den Tod wie etwas von außen her Kommendes aufzufassen. 44 Der Tod ist, auch wenn seine kausale Ursache den Toten von außen her überfällt – wie der Verkehrsunfall, der Mord, der Krieg, usw. –, immer »der eigene Tod vom Toten selbst«, somit die Anwesenheit des absolut Anderen im Selbst. Der Tod als dieses absolut non-personale Andere ist zuerst als die »radikale Verneinung der Personalität« zu bezeichnen. Aber wie die Dinge die zwei Charakterrichtungen der Anderen in der dritten Person, d. h. einerseits die Richtung der Vis-a-vis-ität, der Interessiertheit, der Bezüglichkeit, der Bestimmtheit, und andererseits die Nonvis-a-vis-sität, die desinteressierte Kälte, die Unbezüglichkeit, die unbestimmte Individualität, weiter verlängerten, so zeigt sich der Tod so, dass er einerseits die Dimension der Personalität radikal verneint, Vladimir Jankélévitch, La Mort, Paris 1966. Er redet von: »la mort à la première (deuxième, troisième) personne«. 43 A. a. O., S. 29 ff. 44 Der französische Ausdruck »à« in der Bezeichnung des Todes bei Jankélévitch bedeutet zwar kein rein externes Verhältnis, aber auch nicht die ganz innere Zugehörigkeit. 42

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Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl

aber andererseits diese Personalität radikal bejaht. Besitzen die »Dinge« eine unheimliche Weite und Tiefe, so wird sich der Tod, wie im Folgenden dargestellt wird, im Äußersten dieser Weite und Tiefe zeigen. Was die genannte negative Seite betrifft, so steht das non-personale Andere, der Tod, in Wahrheit nicht im Verhältnis der »Auseinandersetzung«. Zwar sagt man oft, ich setze mich mit dem Problem des Todes auseinander. Aber der Lebende kann sich nur mit dem auseinandersetzen, das »vor ihm« steht. Der Tod steht nicht »vor« dem Lebenden wie ein Ding. Sich mit dem Tod auseinandersetzen heißt, sich mit nichts auseinandersetzen. Der Tod steht in einer unendlichen »Ferne«, die über jegliche Vis-a-vis-ität, Interessiertheit, Bezüglichkeit, bestimmte Individualität hinausgeht. Allerdings weiß man, dass und wie dieser Tod trotz solcher Ferne unversehens den Lebenden überfällt, diesen vernichtet und insofern ins Verhältnis von Vis-a-vis tritt, uns interessiert und den Lebenden in einen Bezug hineinzieht. Die bestimmte Individualität zeigt sich für den Lebenden als dessen eigener Tod. Er tritt auf in der Nähe, die dem Leben näher ist als es selbst. Indem wir diese »Fernnähe« des Todes ins Auge fassen, erreichen wir eine neue Dimension der Lehre der »Anderen«. Der »Tod« ist, indem er den Lebenden von Grund auf als ein Verneinendes zeigt, eben das, was dem Leben selbst innewohnt als dessen mögliches Ende. Als derart innigst immanentes Ende des Lebens ist der Tod dem Leben näher als die Geschehnisse in der äußerlichen Lebenswelt, die es entwirft. Dennoch ist er das dieses Leben von Grund auf Verneinende und ist insofern in der weitesten »Ferne« zum Leben. Dieses vom Leben absolut weit entfernte Ende wird aber in jedem Schritt der Lebenstätigkeit selbst vorbereitet und wohnt dieser inne. Es ist in der nächsten »Nähe« zum Leben. Der Tod erscheint in dieser in sich widersprüchlichen »Fernnähe«, die ein anderer Ausdruck für das »absolut Andere im eigenen Selbst« des Lebens ist. 45 In Den Ausdruck »das absolute Andere im eigenen Selbst« gebraucht K. Nishida oft. Allerdings ist bei Nishida keine Stelle zu finden, an der der »Tod« als dieses absolute Andere angesehen wird. Übrigens wird auch bei Waldenfels dieser Ausdruck gebraucht (B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a. a. O., S. 27 ff.), wobei er bei dieser Wendung auf Julia Kristeva, Maurice Merleau-Ponty, Edmund Husserl, Ernst Mach, Bin Kimura, und den Dichter Bashô verweist. Unter diesen Autoren ist es B. Kimura, der diesen Ausdruck verwendet, wobei er diesen Ausdruck eben von K. Nishida leiht. Übrigens bemerkt Waldenfels, dass unsere Zeiterfahrung auf unsere Ur-Vergangenheit, d. h. auf unsere »Geburt«, zurückdeutet. Diese Ur-Vergangenheit

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Die »Fernnähe« der Anderen

der Erscheinungsweise der »Fernnähe« des Todes gibt es verschiedene Schichten bzw. Ebenen. Zuerst erscheint sie an der Leiche des Toten. Diese ist das »Antlitz des Todes«, wenn sie auch nicht dieser selbst ist. Weil man nicht sehen kann, was hinter diesem Antlitz steht, ist dieses unheimlich. Aber die Leiche eines Familienmitglieds oder eines mit dem Lebenden eng verbundenen Freundes ist, solange er noch eine Spur der einstigen Lebendigkeit bewahrt, ein »nahes« und vertrautes Wesen, auch wenn er ein zum unendlich »fernen« Jenseits gegangenes Wesen ist. Die Leiche wird als das Materiale durch die Verbrennung oder die Verwesung aufgelöst, aber als der Tote erhält er seinen Namen und wird mit diesem Namen gerufen, er lebt weiter als der »Andere in der zweiten Person«, als das bestimmte Individuum im Gedächtnis der Lebenden. Die Opfer des Kriegs oder der Naturkatastrophe leben als die »Anderen in der dritten Person« im Gedächtnis der Menschen weiter, die selbst die Anderen in der dritten Person sind. 46 Die Toten leben oft nicht nur im Gedächtnis, sondern auch in der realen Existenz der Lebenden und bilden ein Element des Daseins derselben. Dies gilt nicht nur von den Verstorbenen in einer engen Gemeinschaft, sondern auch von den Toten in der religiösen Erfahrung. Wenn Paulus sagt: »Darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!« (Galater, 2. 20), so ist Christus der Andere in Paulus’ Selbst, und zwar als der, der nie stirbt. Der Tote, der im Dasein des Lebenden fortlebt, ist ein »unsichtbarer Anderer«. Um den Sinn der Unsichtbarkeit des Toten und des Todes hinter ihm klarer zu machen, betrachten wir das tiefe Dunkel der Nacht. Wenn das Fenster des Zimmers nachts geöffnet wird, ist das Dunkel als das Dunkel in dessen Unsichtbarkeit sichtbar. In diesem Dunkel ist nichts sichtbar, aber wenn der Himmel nicht bewölkt ist, sind sicher die Sterne zu sehen, die am Tag nicht zu sehen waren. Durch diese Sterne wird das Dunkel des Nachthimmels eher sichtbar. ist nach ihm die Vergangenheit, die nie Gegenwart war und die schon gar nicht meine Gegenwart ist (a. a. O., S. 30). Er hat recht. Allerdings, wenn es sich so verhält, könnte auch unsere »Ur-Zukunft«, d. h. der »Tod«, als die Zukunft ins Auge gefasst werden, die nie zu unserer Gegenwart wird. Diese Ur-Zukunft wäre aber unserer Gegenwart dennoch in einer bestimmten Weise »immanent«, wie im Folgenden dargestellt wird. 46 Der Verfasser hat einst den »Toten« im grundsätzlichen Unterschied vom »toten Körper«, d. h. von der Leiche, betrachtet. (jap., in: Bukkyô; Bd. 22, 1993.1., S. 47–55), allerdings noch nicht in der Perspektive der phänomenalen Kategorie »Fernnähe« wie im vorliegenden Buch.

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Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl

Mit diesen Sternenlichtern wären die Toten mit Namen und Personalität vergleichbar. An den Toten ist das Dunkel des Todes wie das Nachtdunkel an den Sternenlichtern, als das Dunkel sichtbar. Dass diese Toten in uns als die Anderen in unserem Selbst fortleben, heißt, dass wir den »Tod«, ohne diesen kennenlernen zu können, »empfinden«. Man bräuchte sich dabei nicht eigens auf das Gefühl der »Angst« zu berufen. Denn diese Empfindungsfähigkeit ist bereits auf einer viel primitiveren und instinktiveren Ebene festzustellen. Ein kleines Würmchen flieht sofort, wenn es eine ihm nahekommende Gefahr spürt. Es weiß, dass die Gefahr sein Leben auszulöschen droht. Diese Empfindungsfähigkeit und unsere Vorsicht, bei der roten Ampel die Straße nicht zu überqueren, ist dieselbe. Zwischen solcher instinktiven Empfindungs- bzw. Bemerkungsfähigkeit einerseits und dem bewussten Gefasstsein auf den Tod andererseits liegen allerdings verschiedene Stufen. So hat Heidegger z. B. einmal darauf hingewiesen, dass man den Tod meistens im »auch einmal, aber vorläufig noch nicht« auffasst, und dies als das »alltägliche Sein zum Tode« zu nennen ist, wobei dieses »Sein zum Tode« von der »vorlaufenden Entschlossenheit« zum Tode unterschieden wurde 47. Hier ist erneut festzustellen, dass der Sinn der Betrachtung des »Todes« mit der Kategorie der »Fernnähe« darin liegt, wie im Fall der »Dinge«, dass der Tod durchaus als das radikale »Andere« bzw. als das »Fremde« aufgefasst wird. Es handelt sich dabei um das Andere in der Dreiheit von »den Anderen, dem Ich und der Welt«. Die Notwendigkeit dieser Auffassung kommt daher, dass die »Compassion« als das Thema des vorliegenden Buchs die Grundgesinnung des »Miteinanders mit den Anderen« ist. Das Miteinander-mit-dem-Tod als dem Anderen erhebt, weil dieses durch die radikalste Andersheit bezeichnet wird, eine Frage für uns, inwieweit es sachgerecht für die »Phänomenologie« ist, den »Tod« zu behandeln. Es ist die Grundhaltung der Phänomenologie, alle Vorurteile, Prämissen und Spekulationen auszuschließen, und zu den Sachen ausschließlich durch die Bewusstseinsanalyse und die

Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 52, HGA, Bd. 2, S. 339 f. Heidegger setzt fort, um den »Tod« als die »äußerste Seinsmöglichkeit« bzw. als die »Möglichkeit der Unmöglichkeit der Existenz«, als das Existenzial, aufzufassen, das in der menschlichen Existenz vorlaufend vorweggenommen wird. Der Tod wird dadurch als jene Möglichkeit aufgefasst, die dem Leben näher ist als alle alltäglichen Lebensmöglichkeiten.

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Die »Fernnähe« der Anderen

Reflexion der Konstituiertheit der Phänomene zu kommen. Aber der Tod gilt als ein Phänomen des Unzugänglichen. Bei Heidegger war der »Tod« das wichtigste Thema seiner Daseinsanalytik. 48 Dem gegenüber wurde bei Husserl, Merleau-Ponty, Waldenfels, Schmitz usw. der Tod kaum thematisiert. 49 Dieser Kontrast unter den Phänomenologen ist schon ein merkwürdiges Phänomen, das einer phänomenologischen Reflexion bedarf. Man könnte sagen, es sei eine phänomenologisch sachgerechte und methodentreue Askese, den Tod nicht zum Gegenstand der phänomenologischen Analyse zu machen. Nur das Sterben als Lebensphänomen, nicht aber der Tod selbst, kann zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Aber es ist doch auch ein phänomenologisches Problem, dass das Miteinander-mit-demTod, solange es eine Komponente des menschlichen Seins ausmacht, nicht behandelt wird. So sind im Folgenden einige Bemerkungen zu Husserl zu machen, da er als Gründer der Phänomenologie gilt und durch die Kommentierung seiner Auffassungen das genannte Problem in exemplarischer Weise sichtbar gemacht werden kann. Das Problem des »Todes« bei Husserl ist im Problemzusammenhang mit der von ihm bedachten »lebendigen Gegenwart« am weitesten zu sehen. Für ihn gilt, dass zwar das transzendentale Ich nicht stirbt, aber der lebende Phänomenologe sterben muss. 50 Wenn der lebende Phänomenologe die transzendentale Reduktion vollzieht Allerdings wird beim späten Heidegger der »Tod« nicht im Kontext der Daseinsanalytik als Vorbereitung und Bearbeitung der »Seinsfrage«, sondern als eine Form dieser »Seinserfahrung« gedacht. Hier sei nur auf die Schriften hinzuweisen, die in diesem Zusammenhang wichtig sind: Wozu Dichter, in: Holzwege, HGA Bd. 5, S. 269–320; Hölderlins Erde und Himmel, in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, HGA, Bd. 4, S. 152–181; Unterwegs zur Sprache, HGA, Bd. 12. 49 Zu Merleau-Ponty vgl. hier 1. Teil, 3. Kap., letzter Abschnitt. Zu Waldenfels vgl. hier die Anm. 45. Zu Schmitz vgl. die Anm. 27. Bei Schmitz taucht trotz aller seiner präzisen phänomenologischen Analysen des Leibes der »Tod« nicht als Thema auf. 50 Vgl. das Wort Husserls »ein Widersinn, den Tod als Tod erfahren zu wollen« (Manuskript C 17 V – 85 b). Vgl. auch HUA XI, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926, herausgegeben von Margot Fleischer, Den Haag 1966, S. 377 ff. Die Unsterblichkeit des transzendentalen Ich wird dort dargestellt. Dass der Mensch stirbt, ist zwar dabei die Voraussetzung. »Aber jedes Menschen-Ich birgt in sich in gewisser Weise sein transzendentales Ich, und das stirbt nicht und entsteht nicht, es ist ein ewiges Sein im Werden« (S. 381). Rein phänomenologisch interessiert uns konkret zu verstehen, was das hier gemeinte »in sich« genauer bedeutet. Ich danke Prof. Dieter Lohmar, Direktor des Husserl-Archivs in Köln, für den Zugang zu den Manuskripten Husserls während meines Forschungsaufenthalts in Köln 2010/2011. 48

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Das non-personale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl

und die Bewusstseinsphänomene auf das transzendentale Ich als das Bewusstsein selbst reduziert, begegnet er der »lebendigen Gegenwart« seiner selbst. Dahinter kann er nicht gehen. Aber sein Leben ist endlich, und die Grenze dieses Lebens ist der »Tod«, wo sein Bewusstseinsstrom, somit auch seine lebendige Gegenwart desselben, aufhört. Die Frage ist, ob dieser Tod als die äußerste Grenze des Bewusstseins als Komponente des Lebens zum Gegenstand der transzendentalen Bewusstseinsanalytik gemacht werden kann oder nicht. 51 In einer vereinfachten Weise ist zu sagen: Husserls Phänomenologie der transzendentalen Reduktion war durchaus eine »Phänomenologie des Lebens«, in der die Struktur des Bewusstseins, und vor allem des Zeitbewusstseins, durch und durch analytisch erörtert wird. Aber gerade dadurch wurde der »Tod« als das Andere zum Leben in einer Dichotomie von Leben und Tod und nicht im Hinblick auf das Mit-dem-Tod-sein (-in-der-Welt), sondern als ein Grenzbegriff betrachtet. Die »lebendige Gegenwart« gilt als diese Grenze. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Husserl in seinen Nachlassmanuskripten, wie die »C-Manuskripte«, den »Tod« in eins mit der »Geburt« für das phänomenologische Bewusstsein, im Kontext der Zeitanalyse, Die mir bisher kostbarste Bemerkung zum Todesproblem bei Husserl stammt von meinem verehrten Kollgen Hans Rainer Sepp, aus seiner Korrespondenz mit mir. Sie darf mit seiner Genehmigung angegeben werden: »Das Interessante ist, dass Husserl, indem er bei dieser Dichotomie stehen bleibt, also Endlichkeit (Tod in der Welt) und Unendlichkeit zugleich denkt – wobei das eine prinzipiell nicht auf das andere zurückgeführt werden kann –, eine starke Differenz zum Ausdruck bringt (in diesem Sinn ist er ein Vordenker der französischen ›Differenz‹-Philosophen, zum Teil vermittelt durch E. Fink und seine VI. Cartesianische Meditation). Interessant ist auch, dass der (somit immer wieder neu zu unternehmende) Übergang von einem (natürliche Existenz) zum anderen (transzendentalphänomenologische Existenz), Sterben und Wiedergeburt, in einem ist. Dies weitergedacht würde besagen, dass es die Endlichkeit des Menschen ausmacht, bis zu dem Punkt zu kommen (via Existenzumwandlung durch Epoché), wo der Mensch permanent im Leben stirbt und permanent neu geboren wird – permanent, d. h., ohne sein Geborenwerden wirklich festhalten zu können; sein Sterblichsein wäre also gerade dadurch zu einem radikalen Ausdruck gebracht, dass er das ›Ewige‹ nur verkosten kann, oder umgekehrt: Gerade die Nur-Verkostung, das Nur-Rühren-an … bringt radikal das Verständnis zum Ausdruck, dem Tode geweiht zu sein. Ich denke, dass das Resultat davon auch eine Form der ›Gelassenheit‹ sein könnte: Befreit von der Angewiesenheit auf die Dinge als Objekte des Begehrens und bereichert um die Einsicht, dass (im Sinne Levinas’) der ›heile‹ Zustand eines ›Paradieses‹ kein substanzhaftes Etwas ist, das stets hinter der nächsten Wegbiegung lauert, erkennt man gelassen, dass die Bewegung selbst (d. h. das Alternieren zwischen Differentem) ›alles‹ ist.« Meine von Sepp angeregte Ansicht dürfte im Folgenden klarer werden.

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Die »Fernnähe« der Anderen

betrachtete. 52 Es wäre sogar möglich, von dort aus den Standpunkt Husserls auch im Hinblick auf das Todesproblem weiter zu entwickeln. 53 In der eigenen Ansicht des Verfassers scheint diese Weiterentwicklung in einem Zusammenhang mit dem Problem des »letzten und wahren Absoluten« durchführbar zu sein. 54 Der »Tod« kann von der Helle des »Lebens« her gesehen mit demjenigen »Dunkel« verglichen werden, das nicht bloß im Gegensatz zur Helle steht, sondern als das »Dunkel in der Helle selbst« bleibt. Das helle Licht beleuchtet in der Tat zwar die Anderen außerhalb seiner, sich selbst aber nie. Es ist, indem es eben darin, die Anderen zu beleuchten, seine Natur hat, in sich selbst das nicht zu beleuchtende Dunkel. Es ist die Anti-Natur in der Natur des Lichtes selbst. So ist auch der Tod das Andere im Leben selbst. Der alte, buddhistisch geprägte Spruch: »Leben ist in eins mit dem Tod« lässt sich in einer phänomenologischen Perspektive neu verstehen.

8.

Das hyper-personale Andere (das Göttliche)

Der Tod zeigt sich in der bisherigen Darstellung einerseits als das vom Leben her gesehen unendlich weit »entfernte«, aber andererseits auch als das im Leben selbst immanente und insofern diesem »nahe« Andere. Diese zwei Aspekte, die Nähe und die Ferne, die auch an den gefühllos-kalten und dennoch vertraut-nahen »Dingen« eigentlich

HUA XV, die kurze Beilage VIII, S. 171 (»Generativität – Geburt und Tod als Wesensvorkommnisse für die Weltkonstitution«), A V 20, S. 27 (»Transzendentalität der Rückfrage von der seienden Welt führt zu Tod und Geburt«); B I 21 IV, S. 9 (»Tod – Leben – Selbstmord«); E III 4, S. 8 (Tod, Kampf ums Dasein, Selbstmord) und S. 20 (»Problem des Todes, des Schicksals«). 53 Eben diesen Ansatz findet man auch in Sepps Bemerkung oben in Anm. 51. 54 Es gibt eine einzige Stelle bei Husserl, wo das »letzte und wahre Absolute« im Unterschied vom »transzendentalen Absoluten« erwähnt wird (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, HUA III/1, S. 182). Husserl sagt nicht klar, was das sei. Dazu versuchte der Verfasser, im Ausgang von und in Auseinandersetzung mit den Auslegungen der Vorgänger, einige Interpretationen zu bieten, siehe dazu den Verfasser: »Zum ›Absoluten‹ in der Phänomenologie Husserls. Ausgehend von den Fichte-Vorlesungen Husserls aus den Jahren 1917/18«, in: Schnittpunkte II: Deutsch-Japanische Denkwege, Nordhausen 2014, S. 129–153. Auch hier danke ich Herrn Sepp für den mir kostbaren Gedankenaustausch. 52

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Das hyper-personale Andere (das Göttliche)

schon zu erblicken waren, treten am »Tod« in der äußersten Form hervor. Das »Äußerste« ist immer wesentlich Zweiseitiges. Es ist einerseits der Ort, wo die kontinuierliche Fortsetzung aufhört, und andererseits der Ort, wo in der Diskontinuität des Bisherigen ein dieses Bisherige transzendierendes, anderes Gebiet beginnt. Was dort herrscht, ist unsichtbar, aber als Unsichtbares wurde es von den Menschen als das Andere vorgestellt, das in seiner Unsichtbarkeit auch das Diesseits beherrscht. In der Geistesgeschichte hat es den Namen »Gott« bekommen. In der Terminologie des vorliegenden Buchs wird es nicht »Gott«, sondern um der allgemeinen, allen Religion einigermaßen zugänglichen Verwendbarkeit willen das »Göttliche« genannt. Ist der Tod das »non-personale Andere«, so ist das Göttliche das »hyper-personale Andere«. Es ist für den phänomenologischen Entwurf der Lehre des Anderen prekär, in dieses Gebiet einzutreten. Denn wenn das »Göttliche« nur im Glauben erfahren werden soll und nicht durch die Beschreibung der Erfahrung zugänglich gemacht werden kann, so ist dieses Gebiet für die Phänomenologie und die Wissenschaft ein Sperrbezirk. Allerdings wird von der Position des Glaubens her gesagt, dass eben dieser Glaube die Erfahrung im ausgezeichneten Sinne sein muss. Wenn Meister Eckhart einerseits mit dem Wort Augustinus’ sagt: »Gott ist der Seele näher, als sie sich selbst ist«, 55 und andererseits: »Gott sei kein Sein und sei über dem Sein«, 56 so sind seine Aussagen zunächst widersprüchlich, aber man spürt in der Lebendigkeit seiner Predigt etwas, was hinter dieser formalen Widersprüchlichkeit als Sinnvolles liegt. Da er zum Dominikanerorden gehörte, lag zwar seinen mystischen Formulierungen seine intellektuelle Bildung in der Theologie zugrunde. Aber in der Predigt, in der er die eigene Erfahrung in der Seele ausspricht, redet er mit der Sprache seiner eigenen Erfahrung. Der wahre »Gott«, der mit der theologischen Sprache nicht sagbar ist, wird etwa in der Weise der negativen Theologie als »Gottheit«, als Ausdruck des eigentlich nicht Sagbaren, ausgesprochen. Oft erzählten Zeugen der religiösen Erfahrung, dass das unsagbare Göttliche im »Hören« der Ansprache von Seiten des an sich unMeister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, S. 201. Eckhart zeigt allerdings nicht, wo dieses Zitat aus Augustinus zu finden ist. 56 A. a. O., S. 205. 55

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Die »Fernnähe« der Anderen

sagbaren Göttlichen vernommen wird. Die sinnliche Erfahrung des »Hörens« wird zum Zugang zum übersinnlich Göttlichen. Auch das »Sehen« dieses Göttlichen kann zu diesem Zugang werden. Dieser Zugang ist das Geschehen der »umgekehrten Transzendenz« des Göttlichen als des hyper-personalen Anderen. Dies bedeutet die Umkehrung des intellektualistischen Zugangs von »Ich denke«. Jedoch ändert diese Berufung auf die »mystische« religiöse Erfahrung nichts daran, dass die Erfahrung des »Göttlichen« für die Phänomenologie als strenge Wissenschaft etwas Prekäres bedeutet. Denn die Erfahrung dieses Göttlichen ist nicht nachweisbar und kann nicht zum Gegenstand der analytischen Beschreibung werden. Allerdings wird auch nicht entschieden, dass die analytisch-wissenschaftliche Beschreibbarkeit der Erfahrung das Kriterium der Wahrheit ist. Vielmehr wird die Tragweite und das Recht dieser Beschreibungssprache selbst dort in Frage gestellt werden. Aber andererseits ist es die Frage der Verantwortung der Wissenschaft, wenn sie nur im Elfenbeinturm asketisch sitzenbleibt, während draußen der fanatisch gewordene verrückte Glauben die ernsten Probleme der gegenwärtigen Welt herbeiführt. Es mag sein, dass in dieser Problemlage eine gewisse phänomenologische Mühe diese Problemlage durchbrechen kann. Aber diese Darstellung ist hier zu stoppen. Denn das Ziel des vorliegenden Kapitels ist nur dies, an den verschiedenen Weisen der »Anderen« den Sachverhalt der »Fernnähe« und diese Fernnähe an den Seinsweisen der Anderen zu beleuchten. Da dieses Ziel in Form einer ersten Runde vorläufig erreicht wurde, ist dieses Kapitel jetzt abzuschließen.

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Zweites Kapitel: Die »Höhentiefe« der Anderen

1.

Terminologische Bemerkung zur »Höhentiefe«

Die »Fernnähe«, die bis jetzt erörtert wurde, hat im Großen und Ganzen die eher räumlich-extensive Weite, wenn auch nicht die physikalische, zu ihrem Bereich. Aber die in verschiedener Weise der Fernnähe vorkommenden Anderen sind auch zeitlich und intensiv bestimmte Wesen. Dies kann an allen bisher gezeigten Fällen der »Fernnähe«, wenn man will, gesehen werden. Die dargestellte Fernnähe der Freunde Damon und Phintias setzt z. B. schon die innerliche Gesinnung der lange gepflegten »Freundschaft« voraus. Es wurde auch eingesehen, dass sogar die gefühllosen Dinge unter Umständen den Charakter des »Du« haben können. Wir werden sehen, dass auch und eben in den Dingen die Sphäre des »Inneren« erkannt wird. Das Verhältnis der räumlich-extensiven »Fernnähe« hat in den beiden Polen dieses Verhältnisses jeweils die zeitlich-innerliche »Höhe« und »Tiefe« im positiven sowohl wie auch im negativen Sinne. Wenn die »Höhe« eine »Erhabenheit« oder die »Hochherzigkeit« bedeutet, ist die genannte Höhe natürlich positiv, wenn sie aber vom Stil des »Hochmuts« oder der »Überheblichkeit« geprägt wird, ist sie eindeutig negativ. Wenn die »Tiefe« den »Tiefstand« oder den »Niederfall« bedeutet, ist sie ebenfalls negativ, aber dann positiv, wenn vom »Tiefsinn« oder von der »Tiefgründigkeit« die Rede ist. Allerdings ist es noch offen, was mit dem Ausdruck »positiv« oder »negativ« sachlich gemeint ist, und es ist auch weiterhin zu fragen, ob diese eine vom Menschen her gesehene subjektive sei. Der Gründer des japanischen Sôtô-Zenbuddhismus, Dôgen, schreibt: »Der Hungergeist sieht das Wasser als wildes Feuer und als eitriges Blut. Drachen und Fische sehen es als Palast und als Pavillon. Oder (sie) sehen es als Edelstein aus sieben feinen Stoffen oder als Wälder und Mauern oder als dharma-Natur der reinlichen Loslösung (jap. gedatsu) oder als wahrhaften Menschenleib, oder (sie) sehen es als Leibgestalt und

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Die »Höhentiefe« der Anderen

Herznatur; Menschen sehen es als Wasser.« 57 Sein Wort ist keine allegorische Beschreibung, sondern die Vorbereitung für die Behandlung der »Buddha-Natur«, des »wahren Menschenleibes« und der »Sein=Zeit«, die im 5. Kapitel des vorliegenden Buchs behandelt werden wird. Aber hier bräuchte das nicht ausgeführt zu werden. Generell sind weder die »Ferne« noch die »Nähe«, weder die »Höhe« noch die »Tiefe« physikalisch-objektive Begriffe. Wenn ein Berg dreitausend Meter hoch ist, so ist er im Vergleich mit einem Fünftausender niedrig, und im Vergleich zu den Hügeln auf den Feldern hoch. Für einen Bergsteiger ist die Berghöhe von dreitausend Meter je nach seiner Erfahrung und seiner Kondition bald hoch, bald niedrig. Das Kriterium für die Beurteilung von »hoch« oder »tief« (»niedrig«), d. h. seine Erfahrenheit und seine Kondition, ist weder bloß subjektiv noch bloß objektiv. Das Kriterium ist ein leibliches Faktum, das die beiden Elemente in sich enthält. Als die verschiedenen Seinsweisen dieses leiblichen Faktums wurden bisher die verschiedenen Weisen der »Fernnähe« an verschiedenen Anderen herausgestellt. Jetzt ist zu versuchen, die »Höhe« und die »Tiefe« (die Niedrigkeit) in ein Wort »Höhentiefe« zu setzen und als eine Kategorie zu entwickeln, die mit der »Fernnähe« ein Begriffspaar bildet. Dieses Wort steht zwar nicht im deutschen Wörterbuch, aber es wird dennoch für muttersprachliche deutsche Ohren nicht sehr fremd klingen. 58 Allerdings klingt jede japanische Übersetzung dieses Wortes »Höhentiefe« noch ungeschickt und künstlich, wie das Wort »Fernnähe«. Ich hoffe aber, dass ein Wort wachsen und inhaltsreicher werden kann, indem es einen realen Sachverhalt bezeichnet. Vgl. Dôgen, Shôbôgenzô, Ausgewählte Schriften. Anders Philosophieren aus dem Zen, zweisprachige Ausgabe, übersetzt, erläutert und herausgegeben von Ryôsuke Ôhashi und Rolf Elberfeld, Tôkyô / Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, insbesondere das Buch »Sansui-kyô« (Berg-Wasser-Sutra), S. 134. 58 Der Verfasser hat bisher diese zwei Termini »Fernnähe« und »Höhentiefe« in zwei seiner Vorträge genutzt: Im Plenarvortrag am 4. Tag des XXIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, veranstaltet in Münster im Oktober 2014, »Ja und Nein zur Frage: Gibt es in der Philosophie »West« und »Ost«?«, und im Vortrag »Gott und Leere. Die Religionsphilosophie E. Levinas’ und Keiji Nishitanis«, gehalten in der Theologischen Fakultät der Baseler Universität am 22. September 2015. Im ersteren wurde das Begriffspaar nur am Ende ad hoc gebraucht, aber im zweiten wurde es zum Schlüsselwort. Ich danke Herrn Prof. Gunnar Hindrichs, der mir anschließend sein Buch Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 2011, mit der sinnprägnanten Widmung »in Fern-nähe zum Ungrund« geschenkt hat. Der »Ungrund« war das Thema meines Vortrags. 57

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Beispiel: »Die Heimat«

In Hinsicht auf die Terminologie scheint zuerst, dass die Höhe und das Niedere, statt Höhe und Tiefe, auch ein mögliches Begriffspaar ist und als Terminus hier zu verwenden berechtigt ist, zumal da vorhin die Tiefe unter Umständen mit dem Niederen gleichgesetzt wurde. Ebenfalls könnte gesagt werden, dass der Gegensatz zur Tiefe die Seichtheit ist, so dass auch das Begriffspaar »Tiefe=Seichtheit« gleichberechtigt sein soll. In sino-japanischen Schriftzeichen ist es leicht und gewöhnlich, zwei konträre Adjektive in ein Wort zusammenzustellen wie: »hell/dunkel«, »groß/klein«, »lang/kurz«, »langsam/schnell«, »präzis/grob«, »kalt/warm«, »hart/weich«, »schön/ hässlich« usw. Wie man leicht sieht, verweist keines dieser Adjektive auf die physikalisch existierenden Größen. Hell und dunkel, groß und klein usw. bezeichnen Zustände, die nirgendwo objektiv existieren, und insofern »nichts« sind, aber dennoch »sind« sie als Inhalte der alltäglichen Lebenserfahrung. Sie gehören zur Welt der Adjektive, die »zwar nichts sind, aber dennoch existieren«. Die »Fernnähe« und die »Höhentiefe« sind nur zwei Beispiele dieser Welt der Adjektive, die in sich konträr-widersprüchliche Gegensätze enthalten. So können prinzipiell alle oben angegebenen Begriffspaare für die terminologische Bildung in diesem Buch verwendet werden. Nur ist die sinn-bildende Kraft einer Sprache auch zu berücksichtigen, als eine Eignung. Der Grund dafür, dass in diesem Buch die Wörter »Fernnähe« und »Höhentiefe« als Termini aufgenommen werden, ist, dass diese, außer dass sie wesentlich auch die anderen Begriffspaare vertreten können, sowohl im Deutschen wie auch im Japanischen einigermaßen sprachlich geeignet sind. Terminologie ist wie eine Leiter zum Sachgebiet. Ist man auf ihr hochgeklettert, braucht man sie nicht mehr. Es ist vorherzusagen, dass das auch im vorliegenden Buch gelten wird.

2.

Beispiel: »Die Heimat«

Um eine phänomenologische Beschreibung der »Höhentiefe« vorzubereiten, ist in Erfahrung zu bringen, wie und welche Sache mit diesem Terminus beschreibbar wird. Ein Gedicht des japanischen Schriftstellers und Dichters Saisei Muroo bietet hierfür einen guten Ansatz. Mit ihm beginnt seine Gedichtsammlung Kleine lyrische Stücke (Jojô shôkyoku-shû). Das Gedicht lautet: »Die Heimat ist das, woran man in der Ferne zu denken hat.« 55 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Höhentiefe« der Anderen

Dieses Gedicht enthält drei Schlüsselwörter: »Heimat«, »Ferne«, und »andenken«. Das erste Wort »Heimat« ist eigentlich der Ort der »Nähe«, da jeder/jede seine Heimat hat, von wo er/sie stammt, und alles, was dort ist, ist beruhigend und vertraut, somit nah. Aber der Dichter meint trotzdem, dass sie der Ort ist, an den man nur in der Ferne denkt. Es könnte sich in Wirklichkeit so verhalten. Nach einem Zeitungsbericht gibt es sechs Jahre nach dem großen Erdbeben in Ost-Japan und der Katastrophe des Atommeilers immer noch ca. hundertzwanzigtausend Menschen, die nicht an ihre Heimatorte zurückgehen können. Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien betrug nach dem Bericht der UN vom Juni 2017 (http://unhcr.org/jp/global_ trends_2017 6,3 Millionen, jene aus Afghanistan 2,6 Millionen, und jene aus Sudan 2,4 Millionen. Die »Diaspora« verschiedener Arten, entstanden aus unterschiedlichsten historisch-politischen Hintergründen, besteht aus Menschen, die das Wort »Die Heimat ist das, woran man in der Ferne zu denken hat« meistens mit großer Sympathie hören werden. Es könnte aber auch sein, dass ihr Heimatbild mit äußerster Verwüstung und Grausamkeit verbunden wird, so dass sie an ihre Heimat nicht denken wollen. Auch für den Dichter Saisei war der Gedanke keine literarischdichterische Idee. Er hat dieses Gedicht nicht in einer fernen und fremden Gegend, sondern in seiner eigenen Heimat Kanazawa geschrieben. Das Gedicht war der Ausdruck eines Paradoxes. In seiner Heimat wurde er nämlich als Sohn einer Konkubine geboren und von den Leuten in der Umgebung diskriminiert. Niemand wollte ihm ehrlich helfen. Für ihn war die schöne Heimat das, woran man erst in einer Ferne denkt, da in der realen Heimat alles bitter ist. Trotz dieser Bitterkeit schrieb Saisei aber Gedichte über die Heimat. Sein Andenken an die Heimat ist »tief«, und dieses tiefe Andenken wird zu einem »hohen« dichterischen Werk sublimiert. Als welcher Ort lässt sich die »Heimat« überhaupt bestimmen? Die Heimat findet man am Gebäude der Schule, am Haus der Eltern, am Fischladen, an den Feldern und Hügeln in der Umgebung. Ist dann die Heimat die Gesamtheit all dieser? Wo ist aber diese Gesamtheit? Man sieht nur die einzelnen Dinge, die sich in der Heimat befinden, aber die Gesamtheit dieser Dinge ist nirgendwo außer an diesen einzelnen Dingen. Man könnte hier die mathematische Mengenlehre heranziehen, wonach gesagt werden kann, dass »die Gesamtheit in einzelnen Teilen ist«. Dies gilt von der »unendlichen Menge«, wie z. B. der Menge der geraden Zahlen. In jedem »Element« dieser Men56 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Beispiel: »Die Heimat«

ge, d. h. im Fall der Menge der geraden Zahlen in der einzelnen geraden Zahl, spiegelt sich die Ganzheit der unendlichen Menge dieser geraden Zahl ab, was man Abbildung (engl.: »mapping«) nennt. 59 »Die Heimat ist am Fischladen der Fischladen, am Schulgebäude das Schulgebäude.« 60 Allerdings gibt es in dieser Formel eine wesentlichere Schwierigkeit, nämlich, dass bei dieser mengentheoretischen Formel der Mathematiker selber, der diese Formel betrachtet, nicht gesehen werden kann. Er selber steht als Beobachter außerhalb der erblickten Gesamtheit der Menge, so dass diese keine wirkliche Gesamtheit ist. Aber der Dichter sieht seine Heimat nicht mit dem mengentheoretischen Auge. Die verfehlte Gesamtheit der Heimat kommt mit dem dritten Schlüsselwort »andenken« zum Ausdruck. Die Heimat ist nicht nur räumlich zu bestimmendes Externes. Zu ihrer »Gesamtheit« gehören auch das Wiedertreffen mit den Eltern, die Erinnerungen an die Gebäude, das einstige Spielen mit den Kindheitsfreunden usw. Wenn man an etwas/jemanden »denkt«, so ist dieses Etwas oder dieser Jemand meistens nicht unmittelbar anwesend. Es oder er/sie befindet sich in einer Ferne. Aber wenn man an es oder an ihn/sie denkt, ist es oder er/sie im Modus der Abwesenheit da. Man »rührt« direkt an eine Person in der Ferne und steht somit in ihrer »Nähe«. Im Andenken an die Heimat in der Ferne verwandelt sich diese Ferne in eine Nähe. Je intensiver man an die Heimat in der Ferne denkt, desto näher ist sie, und das Herz dieses Andenkens kann als tief und hoch bezeichnet werden. Die Fernnähe und die Höhentiefe spielen zusammen in diesem Andenken. Man mag kritisch bemerken, dass die oben gemeinte »Fernnähe« und »Höhentiefe« literarisch bzw. psychologisch ist und sentimentaK. Nishida versuchte bei seinem Entwurf des »Selbst-Gewahrnehmens des Ortes« zeitweise eine mathematische Begründung durch die Mengentheorie. Auch der Terminus beim späten Nishida, die »umgekehrte Entsprechung« (engl. inverse correspondence), die bei Nishida für die Bezeichnung des Verhältnisses Buddhas mit den erleidenden Wesen verwendet wird, ist ursprünglich ein mathematischer Begriff aus der Mengenlehre. Zur mengentheoretischen Struktur des »Selbsterwachens« bei Nishida vgl. der Verfasser, Welt der Philosophie Nishidas – oder eine Wende der Philosophie (jap.), Tôkyô 1995, S. 55 ff., 85 ff. 60 Diese Formel ist, wie leicht zu erkennen ist, eine Modifikation der Formel von Nicolaus Cusans: »Unde universum, licet non sit nec sol nec luna, est tamen in sole sol et in luna luna.« Vgl. Nicolaus Cusanus, Docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, herausgegeben von Hans G. Senger und Paul Wilert, Philosophische Bibliothek, Bd. 264 b, 1. Auflage, Hamburg 1967; 2. Auflage, Hamburg 1977, S. 34. 59

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Die »Höhentiefe« der Anderen

lisiert subjektiv die reale bzw. objektiv existierende Heimat. Es ist dann zu sehen, wohin diese kritische Bemerkung selbst führt. Es ist zu fragen, wo die in der Kritik gemeinte »reale bzw. objektiv existierende Heimat« ist. Der Kritiker muss darauf verzichten, die Heimat selbst zu sehen, da solch reale bzw. objektiv existierende »Heimat selbst« nie als »hier seiend« bezeichnen werden kann, ebenso wenig wie die »Ganzheit der Heimat«. Aber eben dieser Kritiker selber sieht seine Heimat mit einem Heimatgefühl oder mit Interesselosigkeit, und dieses Gefühl selbst ist ein Faktum, das weder bloß subjektiv noch bloß objektiv ist. Die »Fernnähe« und die »Höhentiefe« der Heimat sind Kategorien solcher faktischen Phänomene.

3.

Erneut zu den Anderen in der zweiten Person. Einige Bemerkungen zu Levinas

Im Folgenden wird versucht, anhand der verschiedenen Arten der Anderen (der Anderen in der zweiten Person, in der dritten Person, der impersonalen Anderen, des non-personalen Anderen, des hyperpersonalen Anderen) die Kategorie der »Höhentiefe« zu entwickeln. Dadurch werden umgekehrt die genannten verschiedenen Arten der Anderen ihrerseits in ihren Sinnschichten und Seinscharakteren sichtbarer werden. Die Anderen in der zweiten Person wurden bisher vor allem durch ihre verschiedenen Rufwendungen, besonders im Japanischen, in ihren verborgenen Sinnschichten gezeigt. Um diese zu wiederholen: »kimi« (»Du« im Allgemeinen), »omae« (»Du« im vertrauten Verhältnis), »anata« (verehrendes Wort für »Sie«), »anta« (vertrauthöfliches Wort für »Sie«), »anata-sama« (formal-höfliches, etwas künstliches Wort für »Sie«), »kisama« (»Sie« in der schimpfendherausfordernden Wendung), »onore« (»Dein Ich«, die Wendung für »Du« im aggressiven Konfliktfall). Dazu kommen noch die literarischen Wendungen wie: »nanji« (»Du« mit dem vornehmen Ton), »kidai« (»Sie« im etwas distanzierenden Ton), »kiden« (»Sie«, früher ein verehrendes Wort, heute eher der Ausdruck für den, der jünger oder niedriger ist), »taikei« (»großer älterer Bruder«, das verehrende Wort für meistens jüngeren Kollege), »gakkei« (»der ältere Bruder im Lernen«, eine Anrede für Kollege) usw. Diese Wendungen lassen die »Vis-a-vis-ität«, die »Interessiertheit«, die »Bezüglichkeit«, die »bestimmte Individualität« usw. dieser Anderen hervortreten. Diese 58 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Erneut zu den Anderen in der zweiten Person. Einige Bemerkungen zu Levinas

lassen sich alle als Zweige der Kategorien »Fernnähe« auffassen, was in einer anderen Weise auch von der »Höhentiefe« gesagt werden wird. Als Anlauf zur Betrachtung ist zunächst der Gedanke der »Anderen« bei Levinas heranzuziehen. »Der Andere« (bei Levinas ist das Wort meistens im Singular) ist die zweite Person, solange er in seinem »Antlitz« (visage) sich uns zeigt, wobei er nicht als dessen Interioritätsgebiet begriffen wird. Das Antlitz bleibt durchaus als Exteriorität des Denkens und ist das »Unendliche« (l’infini). Insofern muss es, während es der Andere in der zweiten Person bleibt, zugleich auch hyper-personal sein, obwohl Levinas das nicht sagt. Das Unendliche als der hyper-personale Andere spricht den Menschen an, dass dieser den Anderen gegenüber »verantwortlich« ist. Bei Levinas bedeutet die »Verantwortung« (responsabilité) das, zu dem der Mensch angesichts der Befragung des Anderen (l’interrogation d’Autrui) und in der Dringlichkeit der Antwort (urgence de la réponse) veranlasst ist. 61 Das ist die Pflicht, die dem Menschen dem Anderen gegenüber aufgegeben wird. »Das Antlitz eröffnet den eigentlichen Diskurs (le discours originel), dessen erstes Wort die Pflicht ist«. 62 Die Verantwortung bedeutet, so könnte man im Allgemeinen sagen, dass die Folge dessen übernommen wird, was man in der Vergangenheit den Anderen angetan hat, und die Kompensation dieser Folge zu vollziehen verpflichtend ist – wobei die Verpflichtung oft soziale Aufgaben umfasst, die in der Zukunft erfüllt werden sollen. Die Handlung, für die man verantwortlich ist, ist immer die Handlung den Anderen gegenüber, die in der jeweiligen Fernnähe stehen. Das Gefühl der Verantwortung ist der Selbstausdruck des Handelnden, der in seinem Inneren weiß, was er getan hat, wobei dieses Innere die Sphäre ist, die je nachdem bald hoch und erhaben, bald tief E. Levinas, Totalité et Infinit, S. 153: »dans le discours je m’expose à l’interrogation d’Autrui de cette urgence de la réponse – point aigüe du présent – m’engendre pour la responsabilité«. Im Übrigen wird in den hiernach folgenden Zitaten aus Levinas das Wort »der Andere« im originalen Text bald »l’Autre«, bald »Autrui« geschrieben. Streng genommen sollte das erstere mit »der (die) Andere« und das letztere mit »das Andere« übersetzt werden. Aber bei Levinas werden die zwei Wörter allzu oft ohne genaue Unterscheidung gemischt genutzt. Wenn die zwei Wörter jedes Mal in der Unterscheidung voneinander streng übersetzt werden, so kommt diese Unterscheidung selber in unnötiger Weise in den Vordergrund. So wird im Folgenden das Wort »der Andere« durchgehend als Übersetzung verwendet, und das originale Wort wird dann in Klammern angegeben, wenn diese hinweisende Angabe sinnvoll scheint. 62 A. a. O., S. 175. 61

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Die »Höhentiefe« der Anderen

und niedrig sein kann und somit eine jeweilige »Höhentiefe« hat. Die »Anderen« werden bald in der Nähe, bald in der Ferne, bald in der Vergangenheit, bald in der Zukunft, in der jeweiligen »Fernnähe« begegnen. Levinas sagt, indem er von der »eigentlichen Nähe des Anderen« (la proximité même de l’Autre) redet, dass »die Distanz (la distance) dieser Exteriorität sich gleich zu einer Höhe (l’hauteur) weitet«. 63 Denn für ihn ist der Andere »das sehr Hohe« (le Tres Haut). 64 Es ist im Kontext der »Höhe und Erniedrigung des Anderen« (la Hauteur et l’Humilité d’Autrui), dass bei Levinas von diesem sehr Hohen gesprochen wird. 65 »Der Andere als der Andere wird auf die Dimension der Höhe und der Niedrigkeit (une dimension de la hauteur et de l’abaissement), der gloriosen Niedrigkeit (glorieux abaissement) gesetzt. Der Andere hat das Antlitz des Armen, des Fremden, der Witwe, des Waisen (la face du pauvre, de l’étranger, de la veuve et de l’orphelin)«. 66 Den obigen Zitaten ist leicht zu entnehmen, dass die »Dimension der Niedrigkeit« bei Levinas keine Gemeinheit bedeutet. Diese Dimension weist auf die Seinsweise derjenigen, die in der Gesellschaft diskriminiert sind, wie die Armen, die Fremden, die Witwen, die Waisen. Die gloriose Niedrigkeit (glorieux abaissement) drückt paradoxerweise die Würde aus als die Hoheit der Tiefe, die der Andere wesentlich in sich trägt. 67 So ist die »Tiefe« der Niedrigkeit auch die »Höhe«. Bei Levinas begenet der Andere als das »Antlitz«, das sich in solcher »Höhentiefe« zeigt. Verfolgen wir den Gedankengang Levinas’ noch ein Stück weiter. Bei ihm ist der Andere das, was das Denken, das ihn denkt, überfließt, aber dennoch das, was sich dem Denken mit seinem Antlitz zuwendet. Das Antlitz als solches ist allerdings nicht das Unendliche selbst. 68 Dies erinnert an eine Stelle im Alten Testament, auch wenn A. a. O., S. 273. A. a. O., S. 276. 65 A. a. O., S. 174. 66 A. a. O., S, 229. 67 Oft wird gesagt, dass die Ansicht Levinas’, wenn er von der »Witwe« redet, und überhaupt wenn er in der »Phänomenologie des Eros« in Totalité et Infini« die »feminicité« durchaus als Seinsweise der »Geliebten« (l’Aimée), in »Sanftheit« (tendresse), »Fragilität« (fragilité) und »Schutzbedürftigkeit« (vulnérablilité) usw. findet, dem männlichen Blick entspricht. Bekannterweise werden diesbezüglich viele Einwände erhoben. 68 Zum Antlitz vgl. auch hier die Anm. 254 im zweiten Teil, 1. Kap., 4. Abschnitt, wo ausgeführt wird, dass Aljoscha in Fjodor M. Dostojewskis Die Brüder Karamasow den Starez Sossima bedingungslos respektiert hatte, wobei sein Respekt vom »Antlitz« des 63 64

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Erneut zu den Anderen in der zweiten Person. Einige Bemerkungen zu Levinas

Levinas sich dieser Stelle nicht bewusst war. Sie könnte als ein gemeinsamer jüdisch-christlicher Hintergrund seines Gedankens aufgefasst werden. Jacob, der Sohn Isaacs und Enkelkind Abrahams, kämpfte mit einem Unbekannten durch die Nacht hindurch bis zur Dämmerung. Jacob nahm Oberhand, aber ihm wurde mitgeteilt, dass der Andere Gott ist. Jacob fragte ihn nach seinem Gottesnamen, aber Gott verriet ihm seinen Namen nicht. Stattdessen nannte er Jacob »Israel«, denn dieser habe mit Gott gekämpft. Wer einem Anderen dessen Namen gibt, ist der Herr dieses Anderen. So sagt Jakob: »Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen.« Er gab dem Ort den Namen Penuel (Gottesgesicht). 69 Das Antlitz Gottes als Gott der Gerechtigkeit im AT und das des Gottes der Liebe im NT werden verschieden benannt, gemeinsam aber ist, dass sie je ein eigenes Gesicht haben und personal sind. Dass in der Lehre des Anderen bei Levinas die impersonalen »Dinge« trotz seiner Wendung des Wortes »l’autre« nicht thematisiert werden, könnten darauf zurückgehen, dass in der jüdisch-christlichen Tradition die »Personalität« als das geistige Wesen von entscheidender Bedeutung ist, so dass das, was »impersonell« ist, der Rangordnung nach niedriger ist. In diesem Zusammenhang könnte es sinnvoll sein, die »Höhe des Anderen« bei Levinas mit der von der »Person« getragenen »Menschenwürde« bei Kant zu vergleichen. Denn die »Würde« ist immer als etwas Hohes zu verstehen. Bei Kant ist die Person wie bekannt nicht als das Mittel, sondern als der Zweck, als das »Reich der Zwecke«, anzusehen. Deshalb wird ihr die »Würde« zugeschrieben. Levinas würde aber ablehnen, den Anderen als das »Reich der Zwecke« wie bei Kant zu betrachten. Denn dadurch würde der Andere im Bereich der Interiorität des ichlichen Denkens aufgefasst werden, durch das höchstens die »Spur des Anderen«, 70 nicht aber der Andere Starez Sossima bewirkt worden war. Dieses Antlitz war immer erfüllt von der unendlichen Liebe. Als der Starez Sossima starb und sein Leichnam übel zu riechen begann, wurde also der Glaube Aljoschas auf der sinnlichen Ebene von Grund aus erschüttert. Das Antlitz als Ausdruck der Persönlichkeit und diese Persönlichkeit selbst, die Aljoscha so sehr geliebt und respektiert hatte, mussten voneinander unterschieden werden. Die Seelenwanderung Aljoschas zum echten Glauben beginnt mit diesem Erlebnis. 69 Gen. 32,31. 70 Vgl. dazu E. Levinas, La trace de l’autre (1963). Die deutsche Übersetzung: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie,

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Die »Höhentiefe« der Anderen

selbst, erfahren wird. Aber wir gehen nicht weiter auf Levinas’ KantInterpretation ein, da diese nicht zu unserer eigentlichen Aufgabe gehört. 71

4.

Erneut zu den Anderen in der dritten Person

Beim folgenden Versuch, die Anderen in der dritten Person unter der Kategorie der »Höhentiefe« erneut zu betrachten, gelten die im vorigen Kapitel gefundenen vier Tendenzen dieser Anderen als vorläufiger Ausgangspunkt: die Non-vis-a-vis-ität, die Desinteressiertheit, die Bezugslosigkeit, die anonyme Individualität. Diese im Ganzen gelten als Zeichen der »Masse«, die den »Weltlauf« bildet. Die aus zahllosen Menschen bestehende anonyme Masse bewegt den Weltlauf und bildet die Strömungen der Geschichte. Zwar treten aus dieser Masse die Helden und die Stars, die sich zur Masse »vis-a-vis« verhalten, und zwar auch im »Interesse« dieser Masse, hervor. Die Helden und die Stars nehmen einen engen Bezug zur Masse, entweder durch ihren Populismus oder durch die Unterdrückung der Sprache und der Menschenrechte, und gelten insofern als die »namenhaften Individuen«. Aber sie selber werden ständig der Möglichkeit ausgesetzt, wieder in die anonyme Masse als die Anderen in der dritten Person zurückgebracht zu werden. Welche »Höhentiefe« zeigt sich an diesen zwei-seitigen Anderen in der dritten Person? Die Non-vis-a-vis-ität, die Interesselosigkeit, die Bezuglosigkeit, die Anonymität der Indivudualität sind die Seinsweise der Masse, die von der Strömung des Weltlaufs bestimmt wird und diesem ausgeliefert ist und die ihrerseits ohne klares Selbstbewusstsein diesen Weltlauf als dessen Element bildet. Alle genialen und großen Künstler, Denker, religiösen Führer und auch Machthaber unterwerfen sich

übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br. / München 41999 (Studienausgabe). 71 Levinas’ Kant-Interpretation ist am übersichtlichsten in seiner Schrift: »Kant et l’ideal transcendantal«, in: Dieu, la mort et le temps, 2. édition, Paris 1986, S. 177– 181. Die Kernansicht dort ist im folgenden Wort zu finden: »Il y a malgré tout un retour à l’onto-théo-logie dans la pensée kantiennne, dans la façon dont elle détermine l’idee de Dieu.« (A. a. O., S. 179). Für Levinas ist die Onto-Theo-logie nichts anderes als der philosophische Entwurf, Gott in der Interiorität des ichlichen Denkens zu sehen, womit das »Unendliche« bzw. der »Andere« in seinen Augen verfehlt wird.

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Erneut zu den Anderen in der dritten Person

dem »Urteil der Geschichte«, das von dieser Masse gefällt wird. Auch wenn die genannten großen Figuren mit diesem Urteil nicht einverstanden sind, gibt es kein Berufungsgericht, in dem sie ihre Unzufriedenheit beklagen können. Es gibt nirgendwo den Inquisitor. Aber gerade wegen dieser Anonymität des Inquisitors bzw. dessen Abwesenheit kann das Urteil der Masse als jenes der Geschichte angesehen werden, das unwillkürlich, streng, fair und gerecht ist. Insofern drückt es eine gewisse »Höhe« aus. Allerdings kommt es auch vor, dass diese Eigenschaften des Urteils der Masse, unwillkürlich, streng, fair und gerecht zu sein, eine potenzierte Subjektivität ist. Dies zeigt sich vor allem in der politischen Welt. Wenn ein völkisches Ego z. B. in der Rassenfrage mit einem anderen völkischen Ego zusammenstößt, ein Staatsego in der territorialen Frage mit einem anderen Staatsego zusammenstößt, wenn der tyrannische Diktator sein Volk mit Gewalt unterdrückt, kann die Dimension der grausamen Niedrigkeit entstehen, die nicht direkt unter den Individuen als Anderen in der zweiten Person vorkommt. Es kommt auch nicht selten vor, dass ein einst gefälltes Urteil der Geschichte im Laufe der Zeit korrigiert bzw. verworfen wird. Da es ursprünglich keine an sich seiende »Höhe« oder »Tiefe« gibt, ist es sogar normal, wenn das Urteil der Geschichte selbst einem Urteil der Geschichte der späteren Epoche unterworfen wird. Das letztere Urteil gilt als dasselbe, das der anonyme Inquisitor gegen sich selbst fällt. Wir können mit dieser Feststellung schnell weitergehen. Aber es wäre auch sinnvoll, wenn wir eine Weile bei den geschichtlichen Beispielen stehenbleiben. Da diese selber unzählig sind, werfen wir einen Blick auf nur ein Geschehen, das Geschehnis, dass Luther 1517 an der Tür der Wittenberger Schlosskirche die 95 Thesen angeschlagen hat. Damit begann die mittelalterliche Welt Europas, das bis dahin von Rom gefällte Geschichtsurteil zu korrigieren, woran ganz Europa als die unzähligen Anderen in der dritten Person teilnahm. Dank der damals schon weit angewandten Drucktechnik, erfunden von Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts, verbreiteten sich die 95 Thesen innerhalb einiger Wochen in ganz Europa. In der Zeit, in der die Drucktechnik noch nicht existierte, wurde Johannes Hus als Folge seiner Kritik am Papst 1415 zum Scheiterhaufen verurteilt. Im Fall Luthers standen aber die Bauern »vis-a-vis« zu Luther, deren »Interesse« er erweckt hatte. Sie wurden sich der Bedeutung ihres »Bezugs« zu ihm bewusst, so dass Luther für sie das ganz bestimmte, namhafte Individuum wurde. Auf Grund der Unterstützung dieses Volkes konnte er 63 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Höhentiefe« der Anderen

dem Papsttum die Stirn bieten. 72 In diesem geschichtlichen Ereignis verwandelte sich die »Höhe« des Papsttums zur »Niedrigkeit«, und der »Tiefsinn »des Ablassbriefs entlarvte sich als niedrige und gemeine Lüge. Die Reformation Luthers wird hier deshalb eigens erwähnt, weil das »Urteil der Geschichte« in diesem Fall zunächst im hohen Zenit der damaligen geistigen Welt, des Papsttums, gefällt, aber nachher kraft der wenig aufgeklärten Bauerklasse umgeworfen wurde. Diese Höhe verwandelte sich zur Niedrigkeit. Das Urteil der Geschichte wäre nicht dem blinden Schicksal zuzuschreiben, wie die antiken Griechen geglaubt hatten. Es wäre eher das Resultat einer bestimmten Kombination verschiedener Elemente der Geschichtswelt. Darum kann das dieses Urteil tragende Subjekt nicht eindeutig identifiziert werden. Luther selbst hatte am Anfang gar nicht mit einer solch epochalen Bewegung der Geschichte gerechnet. Denn er hatte nur als rein theologische Argumentation seine 95 Thesen vorgelegt. Und die Bauern, die ihn unterstützten, waren nicht gebildeten Theologen, die über diese Argumentation zu diskutieren imstande wären. Aber es ist mit Sicherheit zu sagen, dass die Triebkraft dieser Bewegung ohne Zweifel die Kraft der Bauern als der Anderen in der dritten Person war, wobei die Bauern selber sich dieser eigenen Macht bewusst waren. Die »List der Vernunft«, die nach Hegel über die Gedanken der Individuellen hinaus in der Weltgeschichte wirkt, sollte die unsichtbare, jedoch notwendige und nur durch die Weltvernunft beherrschte Kausalität sein. Wenn diese Idee angenommen werden soll, so ist darauf aufmerksam zu machen, dass diese Weltvernunft eben wegen ihres Welt-Charakters in der ungebildeten Masse der Anderen in der dritten Person ihre Wurzeln schlägt. Der Weltlauf, den sie bilden, oder ihre Säkularität, hat, auch wenn sie die vulgäre Niedrigkeit in sich enthält, dennoch die »Tiefe« und die »Höhe«, der sogar der Zenit der geistigen Welt unterliegt. Im Hinblick auf diese »Höhentiefe« der Anderen als den dritten Anderen ist wieder der Gedanke Levinas’ zu erwähnen, wie er ihn in Der historische Zusammenhang zwischen der lutherischen Reformation und der Verbreitung der Drucktechnik wird in überzeugender und frischer Darstellung sichtbar gemacht in: Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, erste Ausgabe in drei Bänden 1927–1931, jetzt in Sonderausgabe in einem Band, München 1969, 6. Kapitel »Reformation«, S. 268 ff.

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Erneut zu den impersonalen Anderen

seiner Schrift »La Trace de l’Autre« (»Die Spur des Anderen«) entwickelte. Der »Andere« (»das Andere«) bei Levinas ist, wie gesagt, das, was nur als »Antlitz« sich zeigt. Levinas behauptet, dass das Jenseits (l’au-delà), von dem her das Antlitz kommt, weil es das des Unendlichen ist, nie vom endlichen Denken des Menschen begriffen werden kann. Es zeigt sich diesem Denken nur als »Spur« (la trace) des »Abwesenden« (l’Absent), das schon vorbei ist, wenn das Denken es begreifen will. »Das Antlitz ist in der Spur des Abwesenden, das absolut hochgeflogen, absolut vergangen ist.« 73 Dem ist abzulesen, dass die Andersheit des Anderen mit dem Problem der Zeit verbunden ist. Hier sei nur ohne weitere Entfaltung auf dieses Problem hingewiesen.

5.

Erneut zu den impersonalen Anderen

Wenn die Anderen in der dritten Person in ihrer Ganzheit das Subjekt des Urteils der Geschichte bilden und dieses von den einzelnen Individuen her gesehen das Aussehen der Unwillkürlichkeit, der Strenge, der Fairness, der Gerechtigkeit usw. hat, so verweist ihre Seinsweise schon auf den Übergang vom Charakter der Personalität zum Charakter der Impersonalität der Anderen, und diese Anderen zeigen sich als »Dinge«. Für den Menschen, vielleicht auch für alle Lebewesen, ist zu leben zugleich Erfahrung mit den Dingen zu sammeln. Wie schon im vorigen Kapitel bemerkt, hat der Mensch seit Beginn seiner Geschichte Erfahrungen mit den Dingen gesammelt, bearbeitet und bedacht. Die im vorliegenden Abschnitt zu unternehmende Darstellung der Erfahrung mit der Höhentiefe der Dinge ist deshalb kein Alleingang, der keine Vorgänger hat. In ihr werden also wieder die an sich schon bekannten Erfahrungen überblickt und im neuen Licht »Höhentiefe der Dinge« zusammengefasst. Die »Dinge« werden hier als die »Anderen« im Sinne der anderen Seienden (fr: »l’autre«), differenziert von den »anderen Menschen« (fr: »autrui«) betrachtet. Sie sind »impersonal«. Wie wir im Folgenden sehen werden, werden diese impersonalen Anderen genauso wie bzw. noch weiter, tiefer, höher als die personalen Anderen 73 E. Levinas, La trace de l’autre, in: Tijdschrift voor Filosofie 25, 1963/9, S. 620: »Le visage est dans la trace de l’Absent absolument révolu, absolument passé.«

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Die »Höhentiefe« der Anderen

die »Andersheit« der Anderen zeigen. Levinas’ vorhin erwähnte »Er-heit« (»l’illeité«) könnte hier, wenn man will, mit der »Dingheit« (la choseité) ersetzt werden, die von Levinas allerdings nicht gebraucht wird. Sie könnte aber als Terminus mit demselben Recht zugelassen werden wie das Wort »l’illeité«. Es ist Hegel, der zum ersten Mal eingesehen hat, dass sich die »Dinge« nicht nur in der »Fernnähe«, die eher räumlichen und externen Charakter hat, sondern auch in der »Höhentiefe« befinden, so dass auch vom »Inneren des Dinges« gesprochen werden kann. Das von Hegel in der »Phänomenologie des Geistes«, im Abschnitt »Verstand« im Kapitel »Bewusstsein«, gesehene »Innere des Dinges« ist als ein Wink auf die »Höhentiefe« des Dinges zu verstehen. Dass das Ding ein inneres Gebiet hat, wäre vom gesunden Menschenverstand her gesehen eine merkwürdige Ansicht, da er das Ding bloß als ein materielles und unorganisches Wesen sieht. Aber Hegel sah, dass das Ding vom »Gesetz« durchzogen wird. Die Naturwelt hat keinen Sprung, da sie in allen Hinsichten die Welt der gesetzlichen Kausalität ist. Nichts ist außerhalb dieses Gesetzes. Da dieses Gesetz sich auch durch das ganze Bewusstsein hindurch zieht, so lange dieses ein organisches Naturwesen ist, ist die Erkenntnis der Wesensnatur des Gegenstandes (des Dinges) zugleich die Erkenntnis des Selbst des Bewusstseins. Dies ist der Standpunkt des »Selbstbewusstseins« im hegelschen Sinne. 74 Wenn auf diese Weise die Wesensnatur der »Dinge« dasselbe ist mit der Wesensnatur des Bewusstseins, so wird die »Welt der Dinge« dieselbe Höhentiefe wie die der »Welt des Bewusstseins« haben. Um ein Stück weiter bei der hegelschen Betrachtung der Wesensnatur des Dinges zu bleiben, so zeigt sie sich erneut und in gesteigerter Weise auch im Kapitel »Aufklärung« in der »Phänomenologie des Geistes«. Hegel weist darauf hin, dass die »Aufklärung« den Gegenstand des Glaubens als Stein und Holz herabzieht und lacht. Zwar ist in der Tat die Statue an der Säule in der Kirche ein Stein, und das Altarbild ist aus Holz. 75 Hegel weist aber weiter darauf hin, dass nachdem der Gegenstand des glaubenden Bewusstseins durch den Angriff der Aufklärung beseitigt wird, die inhaltslose »Leere« 76 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1970, S. 137 ff. 75 Vgl. a. a. O., S. 409. 76 A. a. O., S. 413. 74

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Erneut zu den impersonalen Anderen

zurückbleibt, die nicht von der Aufklärung selbst erfüllt werden kann. Die Aufklärung verwirft zwar die Dunkelheit des Glaubens, aber sie kann nicht an die Stelle des Glaubens treten, um dessen eigentliche Höhentiefe für sich selber zu übernehmen. Dies heißt, dass die Aufklärung nicht verstehen kann, wieso die Dinge als Gegenstände des Glaubens nicht mehr bloß sinnlich-materiell sind. Wie im vorigen Kapitel gesehen, sind die »Dinge«, wenn sie als die »Anderen« erscheinen, nicht mehr bloße materielle Klumpen. Indem sie als stumme und gefühllose Klumpen erscheinen, drücken sie die fremde »Andersheit« aus. Aber gerade diese Dinge können auf der anderen Seite auf uns bezogen werden, wodurch sie als die von uns untrennbaren und uns unentbehrlichen Dinge erscheinen. Wenn sie als Phänomene der Naturwelt erscheinen, wirken sie tief auf uns als die geistigen Wesen. Die geistigen Formen der Literatur, der Religion, der Kunst usw. sind alle Explikationen dieser Wirkung. Der Höhe und der Tiefe der Selbstheit des Geistes je und je entsprechend erscheint auch die Andersheit der »Dinge« in ihrer jeweiligen Höhe und Tiefe. Am Ende ist die Frage immer noch nicht erschöpft, was ein »Ding« sei. Dies hat Heidegger eindrucksvoll in seinem Vortrag »Das Ding« gezeigt. Als Beispiel für das Ding nimmt er den »Krug« und stellt phänomenologisch dessen Entstehung, die Erscheinungsweise, die Gebrauchsweise usw. dar. Am Ende weist er darauf hin, dass im Geschenk des Gusses aus dem Krug Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen weilen. »Das Wesen des Kruges ist die reine schenkende Versammlung des einfältigen Geviertes in eine Weile. Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug als ein Ding. Wie aber west das Ding? Das Ding dingt.« 77 Die Betrachtung des Dinges bei Heidegger wurde am Beispiel des »Krugs« gemacht, der den leeren Teil hat, womit ein »Geschenk des Gusses« ermöglicht wird. Wie würde es dann stehen um die unauffälligen Dinge wie Brille, Bleistift, Kies, usw., die keinen solchen leeren Teil haben? Wenn diese auch als die Dinge im Geviert gezeigt werden sollten, so sollte die phänomenologische Beschreibung sicherlich sehr anders als die eines Krugs sein. Gäbe es nicht eine noch »allgemeinere«, sach-nähere Betrachtungsweise? Hierzu eine kleine Anekdote: Als der weltbekannte Cellist Steven Isserlis bei einer Aufführung 78 zum Dank für das Beifallklatschen 77 78

M. Heidegger, Das Ding, HGA, Bd. 7, S. 175. Das war die Aufführung des Cellisten Steven Isserlis (1958–), Joseph Haydn, Kon-

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Die »Höhentiefe« der Anderen

aller begeisterten Zuhörer sich vor diesen verbeugte, ließ er spontan auch sein Cello sich verbeugen. Das war eine ganz kleine, fast unauffällige Geste, so dass wohl nicht alle Zuschauer sie bemerkt haben dürften. Aber gerade deshalb sah sie ganz natürlich aus. Das »Ding« als Musikinstrument ist immer eine Komponente der Musikaufführung. Die Aufführung ist zwar dem Musiker zuzuschreiben, aber auch dem Musikinstrument, das er spielt. Deshalb wollen die Musiker ein bestmögliches Instrument haben. Dies gilt übrigens nicht nur für den Cellisten vom ersten Rang wie Isserlis, sondern von jedem Musiker. Die »Höhentiefe« der Dinge beschränkt sich nicht nur auf die Musikinstrumente. In Cézannes »Stillleben« werden Apfel, Birne, Teller, Tücher usw. dargestellt, wie sie in unserem Alltag zu sehen sind. Jeder Beobachter seiner Werke sieht dabei, dass die von Cézanne gemalten Dinge in einer »Tiefe« der Stille und der Stabilität erscheinen. Einiges von Cézanne hat der italienische Maler Giorgio Morandi geerbt, wenn er immer wieder die »Flaschen« malte. Die Flaschen, die sonst jeder in seinem Alltag ohne besonderen Eindruck sieht, ändern in seinem Bild die Räumlichkeit des Ortes, an dem sie sich befinden, und umgekehrt, der Raum, wie ihn Morandi sieht, verändert die Seinsweise der Flaschen, die sonst als materielle Dinge vorhanden zu sein scheinen, wodurch auch die Betrachter selber in die real surreale Welt gezogen werden. Sie fühlen sich selbst als real und surreal. 79 In der Weiterführung dieser Empfindung wären die unheimlichen surrealen »Dinge« zu finden, wie sie von Malern wie Salvador Dalí oder Max Ernst dargestellt werden. Für sie handelt es sich nicht um die Surréalité, sondern um die Réalité in ihrem Sinne. Für sie sind die Dinge in ihrer Realität so, wie die anderen Menschen sie für surreal befinden. Diese reale Surréalité bildet bei diesen Malern das Gebiet der »Höhentiefe der Dinge«. Da wir ins Kunstgebiet eingetreten sind, werfen wir auch einen Blick auf die Bildhauerei, in der die »Höhentiefe der Dinge« durch den Tastsinn zum Vorschein kommt. Hören wir Rilke zu, der zu den Werken Rodins sagt: »Ein Un-Antastbares / ein Nächst-Höheres: /

zert für Violincello und Orchester. Violoncello: Steven Isserlis. Kölner Kammerorchester, dirigiert von C. Poppen am 22. Nov. 2015. 79 Im Morandi-Museum in Bologna, das früher die Arbeitsstätte von Morandi war, werden die »Flaschen«, die er gemalt hat, so ausgestellt, wie sie einst in der Arbeitsstätte lagen oder standen.

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Erneut zu den impersonalen Anderen

Ein Ding«. 80 Denken wir an die reale Eitelkeit der »Drei Schatten« auf dem »Höllentor«, die besinnliche Geistigkeit von »Der Denker«, die sinnliche Leiblichkeit von »Der Kuss«, die lebensechte Figur von »Balzac«, »Hanako«, usw. Das sind »Dinge«, die dem Betrachtenden »am nächsten« stehen, so dass man sie antasten kann. Dennoch sind sie ein unberührbares »Höheres«. In Rilkes Bezeichnung der Statue als einem Ding: »Ein Un-Antastbares / ein Nächst-Höheres« sieht man den Ausdruck für das untrennbare Ineinander von »Fernnähe« und »Höhentiefe«. Die tiefe Geistigkeit hat Höhe und Ferne, und die sinnliche Leiblichkeit in der Nähe hat die Ziehkraft in die abgründige Tiefe, die keine Vernunft erreicht. Hier dürfte man sich an den Gedanken des »Erhabenen« bei Kant erinnern. Es handelt sich um die »Höhe« der Naturwelt. »Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl.« sind erhaben, weil sie »die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen«. 81 Die besagte Seelenstärke bedeutet, dass die Erhabenheit der Naturphänomene keine physikalische Beschaffenheit, sondern das Gefühl dessen ist, der sie betrachtet. Das »Erhabene« bei Kant ist also auch ein Ausdruck für die existenzielle Kategorie der »Höhentiefe der Dinge«. Im Grunde wurde alles oben Gesagte von vielen Menschen seit alters her bemerkt. Unter diesen sind die deutschen Mystiker wohl als diejenige zu bezeichnen, die am tiefsten diese Erfahrung auf bemerkenswerte Weise berichteten. Sie sahen an den sinnlichen Dingen die adversative Verbindung der spirituellen »Gottheit« mit ihnen. Ziehen wir die Theosophie Jacob Böhmes heran. In seiner Erstlingsschrift »Morgenröthe« nennt er sieben göttliche Qualitäten, die gewöhnlich als die physikalischen verstanden werden: die Herbe bzw. die Herbigkeit, die Süße, das Bittere, die Hitze, die Liebe, der Ton, der Corpus, der auch die Natur genannt wird. 82 Da diese physikalisch sinnlichen Rainer Maria Rilke, Auguste Rodin. Mit sechsundneunzig Abbildungen. Frankfurt am Main 1984, S. 125. 81 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von Karl Vorländer, unveränderter Nachdruck der sechsten Auflage von 1924, Hamburg 1968, § 28, S. 107. 82 Diese sieben Qualitäten führt J. Böhme in Morgenröthe an, in: Jacob Böhme Sämtliche Schriften, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu heraus80

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Die »Höhentiefe« der Anderen

Qualitäten zugleich Ausdrücke des Göttlichen sind, nannte Böhme sie auch »die Geister«. 83 Als Böhme 25 Jahre alt war, sah er, dass ein Gerät aus Zinn, wohl durch die Reflexion des Sonnenlichtes, als »ein gählicher Anblick« sich aufzeigt. Böhme fühlte sich, »gleichsam in das Hertz und in die innerste Natur hinein sehen« zu können. 84 Dieser Anblick führte ihn zur entscheidenden Bekehrung. Zwar hat Hegel die Darstellungsweise Böhmes als »gewaltsam« bezeichnet. Dieser habe, so Hegel, »die Wirklichkeit als Begriff, – statt Begriffsbestimmungen gewaltsam natürliche Dinge und sinnliche Eigenschaften, um seine Ideen darzustellen« gebraucht. 85 Allerdings hätte Böhme selbst seine eigene Rede nie als »gewaltsam« empfunden, da er seine Erlebnisse einfach erzählte. Die zitierte Erfahrung Böhmes erinnert an ein Thema, das im vorigen Kapitel kurz angedeutet wurde: die »Natur«. Diese kann sowohl die Außennatur wie auch die innere Wesensnatur bedeuten. Letztere kann von allen Weisen der »Anderen«, d. h. den Anderen in der zweiten und dritten Person, den impersonalen Anderen sowie dem non-personalen und hyper-personalen Anderen geltend gemacht werden. Es ist die Außennatur, in der diese innere Wesensnatur sich in der sichtbaren Weise realisiert. Für Böhme war die Natur sowohl die Außennatur wie auch die innere Wesensnatur, und insgesamt die göttliche Natur, die in der Gestalt der »Dinge« erscheint. Eine japanische Natur-Erfahrung darf hier kurz vorgestellt werden: der Stein oder der Sand im japanischen Trockengarten, oder die Blumen oder die Zweige in der japanischen Kunst des Blumensteckens usw. sind Ausdrücke der Dinge, deren Feinsinn auch mit der mystischen Naturansicht Böhmes nicht erschöpft werden kann. In der religiösen Ansicht wird das japanische Wort »Natur« (»jinen«) als der gegeben von Will-Erich Peuckert, Frommans Verlag Günther Holzboog 1961, Bd. 1. Vgl. vor allem Kap. 8, 13, 19, 23. 83 Böhme erörtert diese »sieben Qualitäten« nicht nur in seiner Erstlingsschrft »Morgenröthe«, sondern auch in seiner mittleren Schrift Sex puncta theosophica, oder, Von sechs theosophischen Punkten hohe und tiefe Gründung und auch in seiner späten Schrift De electione gratiae (Von der Gnaden-Wahl). 84 Will-Erich Peukert, Das Leben Jacob Böhmes, Stuttgart 1957, in: Jacob Böhme Sämtliche Schriften, Bd. 10, S. 10. 85 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 20, S. 94.

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Erneut zu den impersonalen Anderen

höchste und tiefste Begriff für die Buddha-Natur, was weder im indischen noch im chinesischen Buddhismus zu sehen ist, aufgefasst. 86 In der Sprachwendung verbindet sich die japanische Natur-Erfahrung mit der Ding-Erfahrung. Ausdrücke wie »mono-mono-shii« (wörtlich: Ding-Ding-ähnlich, meint: zum-Ausfall-bereit) oder »monowabishii« (wörtlich: etwas vereinsamt-öde) bedeuten, dass »mono« (Dinge) in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Gefühl dessen steht, der sie sieht. Die »Höhentiefe« der Dinge drückt sich dort mit japanischer Nuance aus. Da die Sprache den Aspekt der Gliederung der Sache selbst hat und diese ausdrückt, sollten wir noch eine Weile beim sprachlichen Ausdruck bleiben. Die deutschen Leser werden hier an die Wendung des deutschen Wortes »Ding« denken wie »bedingen«, das Bedingte, das »Unbedingte«. So ist in der Kritik der reinen Vernunft, in der es um die drei »Ideen« (Seele, Welt, Gott) geht, das »Ding« als das verborgene Hauptthema auszumachen. 87 Die sinnlichen »Dinge« und die übersinnlichen »Ideen« sind dort voneinander untrennbar. Teilweise wie das deutsche Wort »Ding« ist das lateinische Wort »res« fast unbestimmt, und kann vieles bedeuten, was in der Theologie Thomas von Aquins belegt wird. 88 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Wort »Realität« von »res« kommt. Als Faktum und nicht als Interpretation ist festzustellen, dass ein Wort im Sanskrit, das der Natur im Sinne der »Außennatur« entspricht, weder im Wörterbuch (z. B. in: Monier Williams, Sanskrit Dictionary) noch in den Sutras (vgl. die Datei: www.midc. cn/sanskritweb/resour/etext/abhk1.htm, oder die Text Database SAT, Universität Tôkyô) zu finden ist. Diese Kenntnis schuldet der Verfasser dem Buddhologen Shôryû Katsura, Prof. em. der buddhistischen Universität Ryûkoku: Herr Katsura hat auf meine Frage hin auch auf einem Kongress des Buddhismus bei den Forschern dieses Faktum zur Debatte gestellt. Dass es im indischen Buddhismus keinen Sammelbegriff der »Natur« gibt, der sowohl die Außennatur wie auch die innere Wesensnatur bedeutet, und dass im chinesischen Buddhismus zwar dieser Begriff wohl unter dem Einfluss des Taoismus verwendet wird, aber keinen zentralen Schlüsselbegriff des Buddhismus darstellt, scheint ein bedeutender Hinweis zu sein, wenn das Charakteristische des japanischen Buddhismus eigens bedacht werden soll. Weiterhin wird dieser Hinweis auch zu einem wichtigen Ansatzpunkt nicht nur zur vergleichenden Betrachtung der »Buddha-Natur« im Buddhismus und dem Schöpfungsgedanken im Christentum, sondern auch zur Betrachtung der »Anti-Natur in der Natur selbst«, die bisher einige Male ins Auge gefasst wurde und die im Gedanken der »Compassion« (karuṇā) hervorgetreten ist. Das Nähere sei allerdings nicht im vorliegenden Buch zu behandeln. 87 Zu dieser Kant-Interpretation vgl. M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, jetzt HGA, Bd. 41. 88 Vgl. dazu das fast tausendseitige, aber wegen der japanischen Sprache in Europa bis 86

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Die »Höhentiefe« der Anderen

Als ein solches »res« bzw. »Ding« kann auch die Sprache selbst aufgefasst werden. Die »Höhentiefe« der Sprache selbst muss die wesentlichste sein unter den verschiedenen Weisen der Höhentiefe der Dinge. Heidegger spricht direkt von dieser Höhentiefe der Sprache. Er schreibt: »Die Sprache spricht. Wenn wir uns in den Abgrund, den dieser Satz nennt, fallen lassen, stürzen wir nicht ins Leere weg. Wir fallen in die Höhe. Deren Hoheit öffnet eine Tiefe.« 89 Ohne Scheu vor Langeweile habe ich die Beispiele der »Höhentiefe der Dinge« auf verschiedenen Ebenen und Gebieten angegeben, wodurch klar gemacht geworden wäre, dass die Höhentiefe der Dinge keine neue, sondern eine den Menschen seit alters her bekannte Erfahrung ist. Aber es wurde trotzdem bisher niemals versucht, den Sachverhalt dieser Erfahrung zu bearbeiten und zu entwickeln. Der flüchtige Überblick über diese Erfahrungen lässt deutlicher ersehen, dass und wie die Dinge als die impersonalen Anderen in ihrer »Höhentiefe« und der »Fernnähe« erscheinen, die ihrerseits als die Kategorien der Anderen gelten. Dies kann weiter ausgeführt werden, indem das non-personale Andere, der »Tod« thematisiert wird.

6.

Erneut zum non-personalen Anderen

Was im vorigen Kapitel zum non-personalen Anderen erörtert wurde, wird der Ausgangspunkt des vorliegenden Abschnittes werden, nämlich, dass der »Tod« zwar einerseits die radikale Negativität des Lebens bedeutet, aber als solche Negativität dem Leben selbst innewohnt als das Andere seiner selbst. Insofern ist der Tod dem Leben »näher« als dessen äußerliche Möglichkeiten, die es für sich selbst in seiner Umwelt draußen entwirft. Aber zugleich ist der Tod als die radikale Negativität des Lebens diesem unendlich weit entfernt, vor allem wenn das Lebende sich seiner starken Lebenskraft in sich bewusst wird und an diese Kraft glaubt. Allerdings zeigt sich diese Ferne des Todes eben als die Nähe der Immanenz des Todes, der in jedem Schritt der Lebenstätigkeit vorbereitet wird. Der Tod erscheint uns in jetzt unbekannt gebliebene Werk von Akira Yamada, Die Untersuchung zur »res« bei Thomas von Aquin (jap), Tôkyô 1986. Yamada erörtert den Begriff »res« bei Thomas, indem er auf den Begriff »pragma« bei Aristoteles zurückgeht und von dort aus die philosophische Linie von Augustinus bis zur neuzeitlichen Philosophie von Descartes, Kant, Husserl usw. verfolgt. 89 M. Heidegger, »Sprache«, in: Unterwegs zur Sprache, HGA, Bd. 12, S. 11.

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Erneut zum non-personalen Anderen

der »Fernnähe« zum Leben. Jedoch handelt es sich jetzt in diesem Kapitel um die »Höhentiefe«. Welche Art der Höhentiefe zeigt sich am Tod als dem non-personalen Anderen, und welche Perspektive zeigt dann umgekehrt die Höhe? Um in der Betrachtung voranzukommen, vergleichen wir nochmals den fernnahen Tod mit dem unsichtbaren Dunkel. Es wurde nämlich auf folgenden Umstand hingewiesen: Wenn man in der tiefen Nacht das Fenster des hellen Wohnzimmers öffnet, wird das unsichtbare Dunkel als das Dunkel sichtbar. Man sieht in ihm nichts. Wenn das »Wissen« mit dem »Sehen« im Raum verglichen wird, wie es seit dem platonischen Höhlengleichnis immer wieder gemacht wird, so ist der Versuch, vom Tod etwas zu wissen, dem Versuch ähnlich, das Licht im Dunkel anzumachen, um dieses Dunkel zu sehen. Im Licht verschwindet das Dunkel. Es ist aber möglich, statt das Licht anzumachen, das Dunkel als das Dunkel vorkommen zu lassen. Dies heißt, im Dunkel stehend vom Dunkel her die Helle zu sehen. In diesem Augenblick geschieht eine Umkehrung. Der helle Raum im Zimmer wird unversehens als der Raum erfahren, der vom Dunkel umgegeben wird. Wenn erfahren wird, dass der Tod als das unsichtbare Dunkel das helle Leben umspannt, das vom lebenden Bewusstsein durchgesehen werden kann, so wird diese Erfahrung zur Anschauung der »Sterblichkeit« des Lebens selbst führen. In dieser Anschauung wird der Tod als das Andere des Lebens in diesem selbst »gefühlt« werden. »Fühlen« ist sowohl das Tasten im physikalischen Sinne wie auch die Bewegung des Gefühls. Als räumliches Phänomen ist es der physikalisch direkte Kontakt, und als innerliches ist es die emotionale Berührung. Diese Berührung hat als die innerliche Bewegung ihre »Tiefe« und »Höhe«. Das »Sehen« setzt der Tendenz nach eine Distanz zu dem zu Sehenden, wodurch das Gesehene zu einem Objekt vergegenständlicht wird. Dagegen bestehen das »Fühlen« und das »Gefühl« dadurch, dass diese »Distanz« verschwindet, wodurch eine Einheit vom Fühlenden und dem Gefühlten zustande kommt. Das Fühlen im Sinne der äußerlichen Empfindung von Wärme und Kälte, Härte und Weiche, Schmecken, Riechen sowohl wie auch das innerliche Gefühl von Freude und Trauer, Hoffnung und Enttäuschung usw. belegt diese Einheit. Auch das Dunkle ist nicht nur als das Unsichtbare zu sehen, sondern auch das, in das man eintreten und das man fühlen kann. Geht man nachts auf einem Waldweg, so erfährt man dies. Hinter 73 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Höhentiefe« der Anderen

dem Gästehaus der Universität Tübingen, wo ich einst wohnte, erstreckte sich in der Nähe hinter dem Haus ein großes Waldgebiet. Jedes Mal, als ich von einer langen Wanderung spät am Abend zurückkam, ging ich im Dunkel auf dem Waldweg, auf dem ich von diesem Dunkel umspannt, berührt und insofern quasi ›gefühlt‹ wurde, wodurch ich dieses Dunkel fühlte. Allerdings bedeutet das Fühlen des Todes etwas anderes als das Fühlen des Dunkels des Waldes, weil das genannte Fühlen von Seiten des Lebens aus gemacht wird. Je nach Sinnkontext bedeutet das Fühlen des Todes das Sterben, womit das Leben verneint und beendet wird. Dennoch kommt es bei jedem vor, dass er diesen nie ins Leben übergreifenden Tod in irgendeiner Weise fühlt. Insofern weiß jeder, was der Tod für ihn bedeutet, obwohl dieser selbst ein unberührbares, somit nicht zu fühlendes Geheimnis bleibt. In dieser Mischung von Wissen und Nicht-Wissen, weiß nicht nur der Mensch, sondern auch jedes Lebewesen, dass sein Leben sterblich ist. An das, was im Kontext der »Fernnähe« bereits dargestellt wurde, ist hier zu erinnern: Ein kleines Würmchen flieht, wenn es eine nahende Gefahr spürt. Die Reaktion der Menschen, die direkt dem Tod ausgesetzt werden, kann zwar verschieden sein: Der eine ist gefasst aufs Sterben, der andere gerät in Panik. Aber eines ist allen gemeinsam: Jeder weiß, dass mit dem Tod sein Leben endet. Dieses Ende des Lebens ist für das Lebende in weiter Ferne, aber dennoch als das Sein-zum-Ende hautnah. Diese Fernnähe des Todes verbindet sich mit der Höhe und Tiefe des Selbstbewusstseins des Lebenden. Die von Heidegger in seiner Daseinsanalytik herausgestellte Grundstimmung »Angst« 90 kann als das »Gefühl« verstanden werden, das von daher kommt, dass man den Tod zwar »fühlt«, aber im Moment vergisst, wobei diese Vergessenheit nie voll in Vergessenheit bleiben kann, sondern als die Vergessenheit irgendwann unversehens aufkommt. Der Sachverhalt, dass die Vergessenheit nicht selber voll vergessen bleiben kann, diese Doppelheit der Vergessenheit, ist selber der Hinweis auf eine gewisse Weise der »Tiefe«. Denn bei dem z. B., was einen doppelten Boden hat, gibt es den seichteren und tieferen Boden. Da der Sachverhalt dieser »Vergessenheit« das Thema des nächsVgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, § 40 Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins; § 68 Zeitlichkeit der Erschlossenheit überhaupt.

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Erneut zum non-personalen Anderen

ten Kapitels »Sinnesvergessenheit« ist, ist die Ausführung desselben für dieses nächste Kapitel vorbehalten. Hier ist nur auf eines aufmerksam zu machen: Die »Vergessenheit« ist immer das, was in meinem »Ich« geschieht. Wenn man auf dieses aufmerksam wird, wird es klar, dass die Vergessenheit des »Todes« zugleich die Vergessenheit meines eigenen »Selbst« ist. Oft bemerkt man, wenn man etwas vergessen hat, die Tatsache dieser Vergessenheit mit dem Gefühl einer gewissen Unsicherheit, etwa so, dass man irgend etwas nicht findet, was man eigentlich mit sich tragen sollte, oder mit dem Gefühl, dass etwas fehlt, obwohl man nicht sieht, was fehlt. In ähnlicher Weise verhält es sich mit der Vergessenheit des Todes. Zunächst vergisst man den Tod, aber das Faktum dieser Vergessenheit bringt in eins mit der Vergessenheit des eigenen Selbst die Stimmung mit sich, dass etwas noch aussteht. Das ist ähnlich mit dem Umstand, dass der Flussboden vom fließenden Wasser verdeckt wird, aber dennoch ab und zu an den Furten, wo die Felsen von unten ragen und das Wasser diese Felsen nicht ganz überdeckt, kurz erblickt wird. Hier liegt ein weiterer Ansatzpunkt für unsere Betrachtung über den Tod als das non-personale Andere. Dieses wirft als das Andere im Leben selbst den Lebenden auf dessen »Selbst« zurück. Um an das vorhin genannte Gleichnis anzuknüpfen, hört das Dunkel auf, bloß ein Anderes der Helle zu sein, um in die Helle selbst hineinzukommen und um dessen Mitte zu besetzen. Der Tod, der nichts ausspricht, befragt mich dennoch über den Sinn des Lebens und wirft mich auf die feierliche Strenge des Lebens zurück. Dabei bin ich der Werfende und zugleich der Geworfene, so dass ich mir selbst gegenüber als das Andere in meinem Ich erscheine. Das »Andere« in mir, das mich auf mein eigenes »Selbst« zurückwirft, d. h. der »Tod«, ist übrigens kein Etwas, sondern das nonpersonale Nichts. Dadurch wird entlarvt, dass meine Existenzbasis von dem durchdrungen wird, was kein »Seiendes« ist. Meine Existenzbasis wird vom Nichts überspannt, was ein anderer, vielleicht radikalerer Ausdruck für die Sterblichkeit ist. Dieses Nichts geht auf als der Abgrund meines eigenen Selbst. Jedoch kann sich dieser Abgrund auch als die unendliche Höhe zeigen. Denn indem der Tod den Lebenden auf dessen Selbst zurückwirft, wird der Lebende sich der Strenge, der Einmaligkeit und der Einzigartigkeit seines Lebens bewusst. Was streng, einmalig und einzig ist, ist würdig, und was würdig ist, ist hoch. Diese Höhe ist nicht die eines hohen Wesens, sondern die des leeren Nichts, als welches der Tod ist. Die Höhe und die Tiefe als eine 75 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Höhentiefe« der Anderen

Sache kann man mit dem hohen und leeren Himmel, der tief blau ist, vergleichen. Er ist aber gerade in meinem alltäglichen Leben, wo ich esse, trinke, lache, weine usw., immer da. Ich bin, indem ich diese meine alltägliche Realität vollziehe, diese hohe und abgründig tiefe Leere. Dies ist wiederum keine Rhetorik, sondern die Beschreibung dessen, was eigentlich jedem Menschen bekannt ist. Als ich einmal in Hildesheim, in einer Wohnung in der Ottostraße, wohnte, war in der Nähe ein Friedhof. Am Eingang dieses Friedhofs stand ein Plakat: »Jeder Besucher hat sich auf dem Friedhof der Würde des Ortes entsprechend zu verhalten.« Jeder versteht diese Sätze, da sie kein wesentlich Neues oder Fremdes besagen. Aber sie lassen uns fragen, woher man auf einem Friedhof das Gefühl der Würde bekommt. Die Würde des Ortes Friedhof ist der Würde der Toten zuzuschreiben, und die Würde der Toten ist auf die Würde des Todes selbst zurückzuführen. Um das obige Gleichnis zu wiederholen, sie ist wie der tiefblaue Himmel hoch und tief. Wenn, wie oben gesehen, die Höhentiefe des Todes die unseres eigenen Selbst ist, so zeichnet sich der Tod als das non-personale Andere mit der Gestalt des Anderen in mir als der ersten Person aus. Dies ist wiederum seit alters her dem Menschen bekannt. Das vorhin zitierte Wort des Paulus ist ein Beispiel: »Darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!« (Galater, 2. 20). Christus, der am Kreuz gestorben ist, lebt in mir. Lässt man aus diesem Satz den christlichen Klang zur Seite und stellt nur den Sachverhalt heraus, so würde das heißen, dass der Tod zum Anderen in der ersten Person, d. h. zum Anderen in mir, wird. Das »Ich« ist dabei ich-los. Mein Ich ist wie der tief blaue hohe Himmel, und so ist auch mein »Selbst«. Hier ist eine harte und wichtige Kritik bzw. Frage vorwegzunehmen: Ist das Gesagte nicht allzu sehr die »Sublimierung« oder »Verschönerung« des Todes? Denn in der gegenwärtigen Welt gibt es so viele Fälle des grausamen Todes, des fürchterlichen Mordes, der Opfer der gefühllosen und schonungslosen Krieges oder des verrückten Terrors, des erbärmlichen Todes als Folge des Verhungerns oder der Katastrophe, der Suizide aus Armut, wegen einer Erkrankung usw. Wie kann man diesen Tod mit dem tief-blauen und hohen Himmel vergleichen und angesichts der genannten Fälle von der unendlichen »Höhentiefe« des Todes reden? Zu diesen Fragen ist hier schlicht zu sagen, dass das »Sterben« und der »Tod« nicht verwechselt werden dürfen. Das »Sterben« ist bis 76 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Erneut zum hyper-personalen Anderen

zum letzten Augenblick ein »Lebensphänomen«, nicht aber der »Tod«. Dieser ist das schlechthin Andere des Lebens, das von keiner Bewertung, Sublimierung, Verschönerung usw. antastbar ist. Die Strenge dieser schlechthinnigen Andersheit des Todes verbindet sich mit dessen unendlich hoher und tiefer »Höhentiefe«. Ob und wie ein »Sterben« natürlich oder unnatürlich, ehrwürdig oder fürchterlich ist, hängt davon ab, wie es in sich die »Höhentiefe« der Unantastbarkeit des »Todes« spiegelt. Diese Strenge der Höhentiefe des »Todes« kann dann als die ewige »Ruhe« vorgestellt werden, wenn die unendliche Höhe und Tiefe des »leeren Himmels« bzw. der »Leere« als die Seinsweise des menschlichen Seins selbst vorgestellt wird.

7.

Erneut zum hyper-personalen Anderen

Die wie oben beschriebene Höhentiefe des Todes ist die Sache der Erfahrung und nicht die der Mythologie oder des erbaulichen Glaubens. Aber es muss möglich und sinnvoll sein, die mythologisch oder erbaulich erzählte Erfahrung als die Sache der Erfahrung zu beleuchten. So ist im Folgenden kurz exemplarisch diese Arbeit am mythologisch vorgestellten hyper-persönlichen Anderen zu versuchen. Antigone hat ihren verstorbenen Bruder begraben, obwohl sie wusste, dass das gegen das Verbot des Machtinhabers Kreon, ihres Onkels, verstößt. In Hegels »Phänomenologie des Geistes« wird Antigone als die Behüterin des »göttlichen Gesetzes« und der Machthaber Kreon als Verwalter des »menschlichen Gesetzes« dargestellt. 91 Einen Toten begraben heißt, dass dieser an dem Ort hingelegt wird, wo das menschliche und das göttliche Gesetz einander begegnen. Dies heißt auch, dass der Tod als das »non-personale Andere« einerseits im alltäglichen Gesellschaftsleben im Verhältnis zu den »sozialen Anderen« gesetzt wird, sich aber andererseits in der Nähe des Göttlichen als des »hyper-personalen Anderen« befindet und der dieser alltäglichen Gesellschaft fremden Dimension zugehört. In der Klemme zwischen diesen zwei Dimensionen wurde Antigone in eine Grotte eingesperrt, und Kreon musste danach untergehen. Fokussieren wir jetzt auf das »Göttliche« als das »hyper-personale Andere«. Das Göttliche wird sich in seiner erhabenen Höhe 91

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 344 f.

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Die »Höhentiefe« der Anderen

offenbaren, wenn es auf die Welt verweist, in der die säkularen Begierden, die vulgären Bosheiten und irrigen Gedanken geheiligt werden. Aber in der wirklichen Geschichtswelt kommt es oft vor, dass das Göttliche als das Symbol der Autorität der säkularen Macht von dieser hochgehoben wird und sich dadurch zu einer dunklen Macht verwandelt. In einem gewöhnlichen Streit in der säkularen Welt kommt eine solche dunkle Macht nicht so ausdrücklich zum Vorschein. Das ist die Macht, die, wie sie in der Verfolgung der Heiden zu sehen war, wegen ihrer Grausamkeit und Härte keine Höhe oder »Tiefe« mehr hat, sondern von der hochnäsigen und eitlen »Niederträchtigkeit« geprägt wird. Der Wechsel von Göttlichem und Säkularem geschieht nicht akzidentell. Sie hat tiefe Wurzeln in jenem Boden, der nach der Formulierung Hegels wie folgt zu bezeichnen ist: »Dieselbigkeit des göttlichen Wesens und der Natur überhaupt und der menschlichen insbesondere«. 92 Diese in der hegelschen »Phänomenologie des Geistes« dargelegte Dieselbigkeit kommt in der christlichen Dogmatik durch »die Menschwerdung des göttlichen Wesens«, d. h. durch die »Inkarnation«, zustande. Da diese Einigung keine substanzielle Selbstidentität ist, enthält sie in sich auch die Möglichkeit der Spaltung oder der Trennung. Im christlichen Kontext kann diese Spaltung oder Trennung im mythologischen Vorstellungsbild des gefallenen Engels Luzifer erblickt werden. Diese Spaltung und Trennung kann auch zwischen einem zum Säkularen herabgesetzten Göttlichen und dem anderen Göttlichen geschehen. Wenn nämlich der Gott einer Religion dem Gott der anderen entgegengesetzt wird, und zwar zum Zweck der Heiligung des ökonomischen und politischen Interesses dahinter, entsteht der Krieg, der härter ist als jeder Krieg. Die Verfolgung der Heiden kann auch im 21. Jahrhundert bis hin zu längst überwunden geglaubten Enthauptungen mit dem Schwert oder zur Verbrennung reichen, wobei sogar eine quasi theologische Rechtfertigung dieser Morde vorgelegt wird. 93 Dadurch kommt die äußerste Niedrigkeit in den Vordergrund.

A. a. O., S. 558. Der fürchterliche Anblick einer grausamen Hinrichtung wurde vom IS ganz mit Absicht im Internet übertragen. (Vgl: niyaniyahome.com/news/news-sokuho/1459/), wobei dies nach der Angabe der IS nach dem islamischen Gesetz gerechtfertigt wird. Allerdings wird diese Ansicht von allen ernstzunehmenden Islam-Gelehrten zurück-

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Erneut zum hyper-personalen Anderen

Es ist nicht zu übersehen, dass solche Grausamkeit allzu oft eben von fanatisch-religiösen Menschen verübt wird. Nicht nur Genie und Wahnsinn, sondern auch Glauben und Wahnsinn stehen nahe beieinander. 94 Die vier Arten des Wahns, wie sie Platon in »Phaidros« darstellt, 95 sind allesamt göttliche und gute Wahnphänomene. Der von einer fanatischen Religiosität geprägte, dunkle Wahn kann nicht mit der platonischen Darstellung des Wahns erklärt werden. In diesen Problembereich gehört auch die Frage der »Herkunft des Bösen« im christlichen Denken, 96 die Herkunft von »Avidyā (Sanskrit; Pāli: avijjā«, das Dunkel der Unwissenheit und der Irre). 97 Die vorhin kurz in Frage gestellte und später noch zu thematisierende »Anti-Natur in der Natur selbst« ist im Grunde die gleiche Frage, die seit alters her als die Frage nach der Herkunft des Bösen oder der Unwissenheit bekannt ist. Sie soll aber jetzt möglichst phänomenologisch als die Sache der Erfahrung erforscht werden. Hier ist nur ein gewiesen. Vgl. dazu: girlsbook.net/archives/20150204061313; matome.naver.jp/odai/ 2142298482996722401, etc. 94 Der »Wahn« ist als ein psychiatrisches Phänomen, so weit ich die Forschungslage durchschaue, gar nicht leicht zu bestimmen. Phänomene wie Schizophrenie, Epilepsie, Melancholie, Borderline, Hypochondrie, Besessenheit, Dissoziation usw. könnten alle in den Augen der Laien als »Wahn« aufgefasst werden, aber sie sind verschiedene Krankheiten. Bei den folgenden Erwähnungen zum »Wahn« bei Platon wird von diesen fach-psychiatrischen Befunden abgesehen. 95 Platon, Phaidros, 249c-250d. 96 Die bisher tiefsinnigste Spekulation zu diesem Problem ist wohl der Gedanke des »Ungrundes« in der Abhandlung Schellings über das Wesen der menschlichen Freiheit (Schelling, F. W. J.: Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Schellings sämtliche Werke, Bd. 1–14, (im Folgenden: Originalausgabe) herausgegeben von K. F. A. Schelling, Bd. 7, Stuttgart 1856–1861). Der Verfasser hat bisher drei Aufsätze über diese Abhandlung veröffentlicht: (1) »Der Ungrund und das System«, in: F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, herausgegeben von O. Höffe u. A. Pieper, Akademie Verlag, Berlin 1995, S. 235–252; (2) »Der Ungrund und die Leere«, in: Welten der Gründe, herausgegeben von Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen, Hamburg 2012, S. 1081–1093; (3) »Der ›Ungrund‹ in phänomenologischer Perspektive – immanent, aber interkulturell, in: Ungründe. Potenziale prekärer Fundierung, herausgegeben von Markus Rautzenberg und Juliane Schiffers, Paderborn 2016, S. 77–87. Jetzt denkt er, dass er dieses Problem eher in einer phänomenologischen Richtung unter dem Schlüsselwort »Compassion« einen Schritt weiter entwickeln könnte. 97 Zur Frage nach der Herkunft dieser »Unwissenheit« bzw. der »Irre« enthält die mahayana-buddhistische Abhandlung Daijô kishin-ron (The Awakening of Faith in the Mahayana), herausgegeben von Akira Hirakawa, 1. Auflage, Tôkyô 1973 viele Ansatzpunkte bzw. Hinweise. Der englische Titel dieser Schrift stammt von Daisetsu Suzuki aus dem Jahr 1900.

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Die »Höhentiefe« der Anderen

minimaler Ansatz dazu vorzulegen, und zwar im Problemzusammenhang mit dem »Göttlichen«. Die »Inkarnation«, durch die das Göttliche zu Menschen wird, kann als mythologische Vorstellung der äußersten Höhe und Tiefe der menschlichen Natur verstanden werden. Sie kann als das aufgefasst werden, was nur von den Gläubigen bedingungslos geglaubt wird. Aber wenn sie einen echt religiösen Sachverhalt haben soll, so muss sie irgendwo einen Anknüpfungspunkt mit der fundamentalen Erfahrung des Menschen haben. Philosophisch könnte diese Erfahrung mit Hegel wie folgt formuliert werden: »Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste.« 98 Die Erfahrung, dass das Höchste sich an der Oberfläche offenbart, geschieht, wie von vielen Zeugen berichtet werden, oft als »Hören« des Rufs des Göttlichen in dessen »umgekehrter Transzendenz«, die vorhin erwähnt wurde. Diese Erfahrung kann eine tiefe mystische sein, aber sie ist auch in einem primitiven und säkularisiert-religiösen Tun wie dem rituellen Klatschen zu sehen, das die Menschen im japanischen Shintô-Schrein tun, um den Gott herbeizurufen. Hegel schreibt in der »Phänomenologie des Geistes« im Zusammenhang mit dem »Ritus«: »In ihm (dem Kultus) gibt sich das Selbst das Bewußtsein des Herabsteigens des göttlichen Wesens aus seiner Jenseitigkeit zu ihm«. 99 Was Hegel schreibt, ist im Wesentlichen das, was beim rituellen Klatschen im japanischen Schrein zu beobachten ist. Das Niedrigste ist zugleich das Höchste, und das ganz an die Oberfläche Herausgetretene ist das Tiefste. Diese in sich widersprüchliche Identität ist in Wirklichkeit in den uns vertrauten, alltäglichen Erfahrungen real zu erblicken, und darin liegt der Ansatzpunkt, die Höhentiefe des Göttlichen weiter in Betracht zu ziehen.

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G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 552/3. A. a. O., S. 521.

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Drittes Kapitel: Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema: Die »Sinnesvergessenheit«

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Die Sinnesvergessenheit

Die »Fernnähe« und »Höhentiefe« sind die Kategorien für das überhaupt, was zwar »nirgendwo ist«, aber dennoch »ist«, für die »Anderen«. Es wurde in den vorangehenden Kapiteln anhand der fünf Arten der »Anderen« betrachtet, dass die im Alltag sinnlich oder innerlich erfahrenen Phänomene im Ganzen in diesen Kategorien erscheinen. Umgekehrt wurden diese Kategorien anhand der fünf Arten der »Anderen« beleuchtet. Diese Phänomene der Anderen bleiben, weil sie allzu nahe und zugleich fern sind, oft unbemerkt. Wir beschäftigen uns zwar ständig mit bestimmten Menschen, Dingen, oder Geschehnissen. Aber das sind eben »bestimmte« Menschen, Dinge, Geschehnisse und nicht die Welt im Ganzen, die uns umgibt. Wenn wir uns der Ganzheit dieser Welt anzunähern versuchen und uns an die anderen Menschen, Dinge, Geschehnisse wenden, entfliehen die noch weiter liegenden Menschen, Dinge, Geschehnisse aus unserem Gesichtsfeld. Dabei sind wir in Analogie mit Menschen, Dingen, Geschehnissen, an die wir uns gewendet haben und von deren Existenz wir überzeugt sind, auch davon überzeugt, dass diese aus unserem Gesichtsfeld entflohenen Menschen, Dinge, Geschehnisse real existieren. Bisher wurde in diesem Punkt der Skeptizismus angesetzt. Aber dieser Skeptizismus ist eher an die Formallogik gebunden, die dichotomisch das »Sein« und das »Nichtsein« voneinander unterscheidet. Die Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« postulieren einen anderen Gesichtsort als jenen der Formallogik. Denn was in diesen Kategorien erscheint, »ist« zwar »nirgends«, aber dennoch »ist« es. Die »Lebenserfahrung« kann von der Logik nicht begriffen werden, die vom Entweder-oder von Sein und Nichts ausgeht. Es sei dem nächsten Kapitel überlassen, zu erklären, welcher Gesichtsort dann in Frage kommt. Hier ist teilweise auch für die Vorbereitung dieser Erklärung ein Vorplatz dieses Gesichtsortes zu si81 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

chern. Der Ansatzpunkt liegt im Faktum, dass was in der »Fernnähe« und »Höhentiefe« erscheint, sich nie in dessen Ganzheit zeigt, sondern immer teilweise vergessen bzw. verdeckt bleibt. Dieser Sachverhalt lässt sich die »Sinnesvergessenheit« nennen. Was in den Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« erscheint, tritt aus dem Nebel dieser Sinnesvergessenheit heraus. In der langen Geschichte der Sinneslehre wurde diese Sachlage kaum problematisiert. Aber sie ist auch nicht ganz unbeachtet geblieben. Zwei »Ausnahmen« sind anzugeben. Die eine ist bei Husserl zu finden. Er legt in seinem Krisis-Buch einen Abschnitt vor: »Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft«. Damit meint er, dass in der Naturwissenschaft die Sinneswelt als deren Fundament vergessen und verborgen bleibt. 100 Das von Husserl gemeinte »Sinnesfundament« wird dann vergessen, wenn das von der Naturwissenschaft gewebte, mathematisch formulierte »Ideenkleid« für die sinnlich gelebte Welt genommen wird. Das Fundament der Erfahrung der gelebten Welt ist sinnlich. Die auf diesem Fundament sinnlich erlebte Welt wird zwar oft mit ihrer idealisierten Form identifiziert, aber zwischen den beiden gibt es einen wesentlichen Unterschied. Um dieses in einer Paraphrase mit dem Beispiel des Dreiecks zu sagen, ist die Definition, dass »das Dreieck die von drei geraden Linien umgebene Form ist«, ein Ideenkleid. Aber bei der exakten Messung eines real vorhandenen Dreiecks stellt sich die dieses Dreieck umgebende Linie bestimmt als mehr oder weniger krumm, uneben und eine Breite aufweisend heraus. Weiterhin ist die sogenannte »direkte Linie«, wenn sie in der nicht-euklidischen Geometrie aufgefasst wird, »die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten im krummen Raum«, so dass im Fall des kugelförmigen Raums es nicht eine Gerade, sondern unzählige gibt, die als direkte Linie gelten können. Auch die Innenwinkel des Dreiecks, die aus drei Schenkel bestehen, sind immer kleiner, nach Null hin tendierend, Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, HUA VI, herausgegeben von Walter Biemel. 2. Auflage, Den Haag 1962, S. 48 f.: »Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft«. (Hervorhebung des Verfassers). Vor dem Abschnitt, der mit diesem Wort betitelt wird, steht ein Abschnitt mit dem Titel: »Die Sinnentleerung der mathematischen Naturwissenschaft in der ›Technisierung‹« (a. a. O., S. 45). Der hier gemeinte »Sinn« ist das, was in der sinnlichen Lebenswelt erfüllt wird, so dass er als die »Sinnbedeutung« wie auch als der »Sinnverhalt« verstanden werden kann.

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Die Sinnesvergessenheit

wenn diese Schenkel auf der konkaven Kugelfläche gezogen werden, und wenn sie der konvexen Fläche entlang genommen werden, immer größer, bis zu 180º. 101 Das Ideenkleid der »von drei Geraden umgebenen Form« ist einem sinnlich wahrgenommenen Dreieck nur ähnlich. Wenn das Ideenkleid nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Lebenswelt zum Kriterium gemacht wird, so muss die sinnliche Wirklichkeit entweder gewaltsam verformt oder in Vergessenheit bleiben. Dies ist die Gefährdung der Lebenswelt, was auch als die »Krisis der europäischen Wissenschaft« gilt. Die andere »Ausnahme« ist bei Michel Henry zu finden. In zwei Kapiteln seiner Schrift Inkarnation. Philosophie des Fleisches behandelt er die »Vergessenheit des Lebens« (l’oubli de la vie). 102 Im ersteren Kapitel weist er darauf hin, dass unsere mannigfaltigen Tätigkeiten im Alltag wie Aufstehen und Gehen in der Früh, ein Objekt greifen, den Blick in die Richtung werfen, aus der sich ein Geräusch hören lässt, die Luft am Morgen einatmen, zur Arbeit und zum Essen gehen usw. ohne weiteres gemacht werden, instinktiv vollzogen und Zeichen der Gesundheit sind, wobei »die Gesundheit leicht vergessen wird, so leicht wie das Leben«. 103 Weiterhin: »Das Leben badet in der radikalen Vergessenheit, was seinem Wesen selbst entstammt.« 104 Was Henry sagt, kann beinahe eine Einleitung zu dem sein, was im Folgenden dargestellt wird. Allerdings geht Henry auf diese »Vergessenheit« nicht näher ein, als hätte er dieses Thema vergessen. Auch im danach folgenden Kapitel behandelt er nur das im Titel angegebene Phänomen der »Angst« und nicht mehr die »Vergessenheit«. Das ganze Kapitel wird der Interpretation der Angst bei Kierkegaard gewidmet. Warum bei Henry das am Anfang angesetzte Thema »Vergessenheit« vergessen wird, ist mir nicht verständlich, zumal seine Darstellungsweise immer klar und eindringlich ist.

101 Dazu, dass diese »Gerade als Kurve« in der nichteuklidischen Geometrie keine bloß in der Mathematik entworfene reine Theorie ist, sondern real existiert, beispielsweise als Lichtstrahlen, gibt H. Pietschmann eine treffende Erklärung in »›Aporon‹. Raum-Zeit-Gravitation in physikalischer und philosophischer Sicht«, Vortrag am Symposium »Intellectus Universalis« Univ. Wien, 18. Mai 2006, S. 4. (Das Manuskript befindet sich bei mir in Form einer Datei, die der Autor mir geschenkt hat.) 102 Michel Henry, Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris 2000, § 36 : L’oubli de la vie et son rappel dans le pathos de la praxis quotidienne; § 37 : L’oubli de la vie et son rappel pathétique dans l’angoisse. 103 A. a. O., S. 264: »La santé est oublieuse, aussi oublieuse que la vie.« 104 A. a. O., S. 267: »La Vie baigne dans un Oubli radical, tenant à son essence même.«

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

Im Folgenden wird die »Vergessenheit« durchaus als »Sinnesvergessenheit« thematisiert, d. h. in der Perspektive des »Sinnes«, während es bei Henry darum geht, »dass das Leben nur im Hinblick aufs Denken als ›vergessen‹ bezeichnet wird.« 105 Hier wird aber darauf geachtet, dass nicht nur im Denken, sondern auch und gerade in der sinnlichen Wahrnehmung die Sachlage »Sinnesvergessenheit« als unvermeidliche herrscht. Wir berühren physisch und psychisch ständig etwas und werden von diesem Etwas berührt. Wenn wir zuhause sind, berühren wir den Boden, das Kleid, die Sandale, den Stuhl, die Wand usw., die ihrerseits uns berühren. Diesseits von Aktiv und Passiv besteht immer irgendeine »Berührung«. Wenn wir ausgehen, entsteht diese Berührung an den Dingen wie der Straße, dem Verkehrsmittel, den Waren, dem Portemonnaie, den Schlüsseln usw. Obwohl diese »Berührung« am ganzen Körper ständig gegenwärtig ist, können wir uns ihrer nur teilweise bewusst werden. Der zum Bewusstsein gebrachte Tastsinn deckt jeweils nur einen Teil des ganzen Leibes. Dies lässt sich die »Tastvergessenheit« nennen, in der das Sein dessen, was getastet wird, unbemerkt bzw. vergessen bleibt. Die Tastvergessenheit kann nicht überwunden werden, auch wenn man darauf aufmerksam wird. Ich versuche mir dessen bewusst zu werden, dass die Hose, die ich anhabe, mich berührt. In diesem Augenblick kommt mir nicht zum Bewusstsein, dass das Hemd meinen Rücken berührt. Ich kann dann eigens versuchen, dass sowohl die Beine wie auch der Rücken die Kleidung berühren bzw. von dieser berührt werden. In diesem Augenblick vergesse ich, dass ich meine rechte Hand auf den Tisch gelegt habe und sie von diesem berührt wird. Wird eine »Berührung« an einem Körperteil, wie etwa der rechten Hand, erfahren, treten die durch den Tastsinn berührbaren anderen Körperteile in den Hintergrund. Dies kann an komplexen Situationen ferner expliziert werden. Beim Essen sehen wir gerne die Farbe und die Form der Teller und der Löffel. In diesem Augenblick tritt der Geschmackssinn für den Kuchen auf dem Teller in den Hintergrund. Wenn wir umgekehrt den Geschmack des Kuchens genießen, wird der Gesichtssinn für die Farbe und die Form des Geschirrs unterbrochen. Wenn wir beim Bergsteigen im Winter frierend von einem Brot abbeißen und heißen 105 A. a. O., S. 266: »Ce n’est qu’au regard de la pensée que la vie peut être dite ›oubli‹«.

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Die Sinnesvergessenheit

Kaffee aus der Thermosflasche trinken, spüren wir zwar zusammen mit der Wärme des Kaffees die Kälte am ganzen Körper. Aber auch in diesem Moment vergessen wir vielleicht, dass wir Bergschuhe tragen. Wenn wir mit dem ganzen Körper die angenehme Wärme des Frühlingsnachmittags, die Frische des Frühsommers, die kühle Luft im Herbst, die entspannende Zimmerheizung im Winter fühlen, werden wir gerade in diesem ganzkörperlichen Berührungssinn sehen, dass die anderen Empfindungen wie die Farbe des Löwenzahns, der Duft des Laubs, der Geschmack des gepflückten Apfels, die Melodie der Musik im Wohnzimmer und die entsprechenden einzelnen Sinne in den Hintergrund zurücktreten. Beschränken wir uns auf die Sinnesempfindung des Berührens. Es wurde schon gezeigt, dass das Phänomen der Berührung durch etwas an einem bestimmten Körperteil zwar von diesem empfunden, aber die am ganzen Körper ständig geschehende Berührung nicht gänzlich zum Empfindungsbewusstsein gebracht werden kann. Dies ist noch eingehender zu betrachten. Wenn an einem Körperteil wegen der Berührung von etwas der Tastsinn sich betätigt, so doppelt sich die Empfindung in »Berühren« und »Berührt-werden«. Dies ist das Phänomen der »Doppelempfindung«, auf das bereits Husserl aufmerksam machte. 106 Merleau-Ponty setzte die konkrete Körperlichkeitsanalyse fort. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung zeigte er, dass wenn die linke Hand von der rechten Hand »berührt wird«, sie dann aufhört, die die rechte Hand »berührende Hand« zu sein. 107 Merleau-Ponty hob bei der Analyse der »Doppelempfindung« etwas noch Wichtigeres hervor, nämlich dass der »Körper« nie im Ganzen zum Wahrnehmungsgegenstand wird. Mit unserem Terminus gesagt: Der berührende Körper bleibt in der Körperwahrnehmung selbst »vergessen«. Die Untersuchungen Husserls und Merleau-Pontys können in diesem Punkt um einen Schritt weitergeführt werden, indem wir die zwei Aspekte der Sinnesvergessenheit, den »noematischen« und den »noetischen«, betrachten. Dass der wahrnehmende Körper nicht in dessen Ganzheit zum Gegenstand der Wahrnehmung werden kann 106 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass, dritter Teil: Texte aus dem Zusammenhang der Zweiten Neubearbeitung der »Cartesianischen Meditationen«, (1929–1935) Juli 1931 bis Februar 1932, HUA XV, Beilage XVIII, herausgegeben von Iso Kern, Den Haag 1973. 107 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 24; Phénoménologie de la Perception, Paris 1945, S. 109 f.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

und im Wahrnehmungsbewusstsein in den Hintergrund tritt und somit vergessen bleibt, ist die nach wie vor »noematisch« betrachtete Sachlage. Denn hier wird das berührende Subjekt in der Reflexion vergegenständlicht. Was im wesentlicheren Sinne vergessen und im Berührungsbewusstsein überhaupt als dessen Mitte versteckt bleibt, ist die noetische Wirkung des Berührens selbst. Diese kann nicht wiederum zum Gegenstand der Berührung werden. Obwohl sie im Fall der Doppelempfindung sowohl an der berührenden rechten Hand wie auch an der berührten linken Hand gegenwärtig ist, kann sie selber nie noematisch berührt werden, ohne dabei als noetische Wirkung verloren zu gehen. So bleibt sie im Akt der Berührung verborgen und vergessen. Weder Merleau-Ponty noch Husserl haben bei ihren Betrachtungen der Doppelempfindung das Problem dieses noetischen Aspektes thematisiert. Die noetische Sinnesvergessenheit ist für die Analytik der Sinne im vorliegenden Buch von gewichtigerer Bedeutung. Denn die Aktivität des Berührens (Fühlens) als einer äußerlichen Empfindung schließt sich an das innerliche Gebiet des »Gefühls« an, und dieses innerliche Gebiet ist ausschließlich noetisch in der Weise des leiblich gelebten Erlebnisses. Das Gefühl des Schmerzens kann nur vom diesen Schmerz fühlenden Subjekt erfahren werden, und der von außen, vom Standpunkt der »Anderen« beobachtete, noematisierte Schmerz ist ein anderer als der an der leidenden Person geschehene Schmerz selbst. Damit wird allerdings nicht behauptet, dass der bei den Anderen entstandene »andere« Schmerz bedeutungslos ist. Der Zusammenhang und die Zusammenhanglosigkeit zwischen dem Schmerz bei einer Person und dem dadurch verursachten Schmerz bei Anderen ist das Problem des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes«, der »un-gemeinschaftlichen Mitleidenschaft«, wie sie später im vorliegenden Buch zu erörtern sind. Aber wir bleiben jetzt beim Problem des noetischen Aspektes der »Sinnesvergessenheit« stehen. Beim genannten Stehenbleiben geht es um die Richtung, zu der hin sich der Stehenbleibende wendet. Hier handelt es sich um die Richtung zur Mittelachse im Inneren hin, diese nur noetisch erlebte und nicht reflektierbare Wirkung selbst. Die Wirkung der Sinnesempfindung kommt, obwohl sie die Affektion von außen benötigt, nicht ohne die spontane Tätigkeit des Inneren zustande. Was »Noema« betrifft, so gibt zwar Husserl als »die übliche äquivoke Rede« den Inhalt, den Gegenstand, den Gehalt, den Sinn usw. an und erklärt die 86 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Sinnesvergessenheit

detaillierte Differenz zwischen diesen. 108 Die Angabe dieser Differenzierung darf hier erspart werden. Hier ist nur darauf zu achten, dass Husserl, der wie oben zum »Noema« viel erklärt, zur »Noesis« kaum etwas sagt, außer dass die beiden Korrelata sind. In den »Ideen« legt Husserl das Gewicht der Erklärung offensichtlich auf die Seite des »Noema«. Dies lässt sich im Hinblick auf die allgemeine Tendenz der Philosophiegeschichte einigermaßen verteidigen. Dort wird erkannt, dass die direkte analytische Betrachtung einer noetischen Wirkung die Noematisierung der Noesis ist, wodurch die Noesis nicht mehr als Noesis selbst begriffen wird. So wurde die »noêsis noêseôs« seit Aristoteles als die Aufgabe vorbehalten und die Erklärung derselben außerhalb der reflexiven Analytik gesetzt. Außerdem könnte der Inhalt der Noesis, wenn sie als das Korrelatum des Noema bestimmt wird, als analogisch zum Inhalt der Noemata bestimmbar aufgefasst werden. Wenn ein etwas positiverer Ausdruck gesucht werden sollte, so sagt Husserl, dass Noesis »ein lebendiges cogito« ist. 109 Damit wird angedeutet, dass die Noesis sich zwar dem reflexiven bzw. vergegenständlichenden Wissen entzieht, aber als das gelebte Faktum des Bewusstseinsvollzugs evident ist. Als solche Evidenz liegt sie vor jeglicher sekundären Erklärung. Insofern ist es verständlich, dass Husserl den noetischen Aspekt des Bewusstseins wenig erklärt. Jedoch ist es die Richtung der folgenden Betrachtung, eigens auf die Mitte der noetischen Wirkung hin die »Sinnesvergessenheit« zu untersuchen. Leser könnten nun kritisch bemerken, dass dieser Versuch im Grunde doch nichts anderes als die Noematisierung der Sinnesvergessenheit bleiben wird, sobald diese »betrachtet« wird. Aber in der phänomenologischen Beschreibung muss es eine Richtung geben, in der das eigentlich nie zu noematisierende und insofern Unbeschreibbare sich in der Beschreibung selbst spiegelt und sich ausdrückt als Ausdruck des Unausdrückbaren. Dies wäre in der Dichtung nicht neu. Aber, wie Heidegger vermerkt, »Der Dichtungscharakter des Denkens ist noch verhüllt.« 110 Die »Dichtung« kommt – jetzt als E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, HUA Bd. III/1, S. 297–303. Das Wort »übliche« wird im Text der HUA geschrieben: »üblische« (S. 297), und in den »Textkritischen Anmerkungen« (S. 475 ff.) wird dazu nichts angemerkt. Ich erlaubte mir, dieses Wort im Zitat wie oben zu ›korrigieren‹. 109 A. a. O., 300. 110 M. Heidegger, »Aus der Erfahrung des Denkens«, in: Aus der Erfahrung des Denkens, HGA, Bd. 13, S. 84. 108

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

eine der vielen möglichen Wesensdefinitionen gesagt – dadurch zustande, dass die Dinge durch die Sprache des Dichters hindurch sich aus-sprechen. Ob und wie dies aber auch als streng wissenschaftliche Sprache möglich sei, die von der Reflexion begleitet wird, bleibt eine Frage, die der Erforschung bedarf. Aber in der phänomenologischen Beschreibung, und gerade in dieser, in der »zu den Sachen selbst« zu gehen bestrebt wird, soll eine solche Richtung eben die exemplarische sein. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das »Innere« oder die »Tiefe« der Empfindungstätigkeit sich selbst sprachlich zum Ausdruck bringen soll. Das Gesagte ist im Folgenden etwas konkreter zu zeigen. Es sei zuerst darauf hinzuweisen, dass das »Fühlen« als die äußerliche Tastempfindung sich zur inneren Wahrnehmung von »warm«, »kalt«, »weh«, »angenehm« usw., ferner zum innerlichen Gefühl von »glücklich«, »bange«, weiterhin zum ästhetischen Urteil von »hässlich«, »schön« und auch zum ethischen Gefühl von »gut« und »böse« usw. verinnerlicht werden kann. Die Achse des Prozesses der Vertiefung ist zwar das, was nicht anders als nur durchs Erleben gelebt wird und nicht noematisiert werden kann. Aber das Erkennen und Anerkennen dieser Achse ist maßgebend für die Betrachtung selbst. Dass die äußere Sinnempfindung sich in den inneren Sinn vertieft, hat auch zu tun mit der Frage nach dem Verhältnis vom äußerlichen Körper und der innerlichen »Seele«. Das war bekannterweise auch die Frage, die Descartes viele Mühe gekostet hat. Er hat die »esprits animaux« angenommen, 111 die von »la glande pinéale« ausgeschüttet und in alle Körperteile transportiert werden, um den Leib sowie den Geist zu animieren. 112 Da auch in der Gegenwart die Verbindungsstruktur von Körper und Geist nicht gänzlich erklärt werden kann, ist der moderne Mensch nicht qualifiziert, den cartesianischen Gedanken von »esprits animaux«, die er auch »nerf« nennt, als primitiv zu belächeln. Man findet in seinen Gedanken vielmehr den Blick auf die Aufgabe, die in der Medizin und der Physiologie bis heute noch nicht gelöst wurde. Wenn in der Betrachtung des nie zu noematisierenden Empfindungsaktes die noetische Richtung rückwärts genommen wird, ergibt 111 René Descartes, Les Passions de l’âme, Vrin, Paris 1994 (1ère édition 1649), Art. XXI, S. 89 f. 112 A. a. O. Art. XXXI, S. 89 f. Descartes nutzt zwar in diesem Paragraphen das Wort »la glande pinéale« nicht, obwohl eben diese dort gemeint wird.

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Die Sinnesvergessenheit

sich immer deutlicher, dass die Achse der Noesis im wesentlichen Sinne der »vergessen« bleiben müssende Bereich ist. Die dabei genannte »Vergessenheit« bedeutet keineswegs einen Zustand des Defizits, sondern eher einen normal-gesunden Naturzustand. Ein typisches Beispiel dafür ist das Atmen. Ausgenommen der Fall, dass man bewusst das Atmen trainiert, ist sich normalerweise niemand seines Atmens bewusst. Man vergisst, dass man atmet, und das ist der ganz normale Zustand. So befindet sich mein Ich dort, wo es voll tätig ist, im Zustand der Selbstvergessenheit. 113 So muss es auch durchaus denkbar sein, dass im Gegensatz zur Richtung der sogenannten Bewusstseinsphilosophie der Zustand des »Diesseits des Ich« oder der »Selbstvergessenheit« sich als ein noch nicht betretener Bereich öffnet, der philosophisch verinnerlicht und vertieft werden kann. Letztlich wird in dieser Richtung die »Vergessenheit« als ein spirituell-religiöser Seelenzustand auftreten. Das ist der Zustand, den man in Richtung des Zunichtemachens des Ego-Bewusstseins durch gewisse Praktiken oder Übungen erreicht. 114 Worum es hier geht, ist, dass dieser Zustand auf die Höhe der Übungstechnik verweist, aber zugleich die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand als Standort ist, der in der Weise der »Sinnesvergessenheit« bei jedem je und je vorhanden ist, und insofern nichts anderes ist als das Gewahr-werden dieses Standortes. Ein Einwand würde lauten: Die Praxis oder die Übung ist schon sehr willentlich, somit ich-lich, so dass das Gewahr-werden der Ichvergessenheit bzw. der Sinnesvergessenheit ein widersprüchlicher Ausdruck ist. Aber auch im Rahmen der ich-lichen Reflexion kann man eine bewusst vollzogene Übung vorstellig machen, wie man das ich-liche Bewusstsein zunichte gehen lässt. Ein typisches Beispiel ist 113 Es ist anzunehmen, dass in dieser primären Selbstvergessenheit die im Buddhismus gesprochene »Ich-losigkeit« bzw. »Kein-Ich« ohne Gewahrnehmen enthalten ist. In diesem Zusammenhang sei an eine These K. Nishitanis zu erinnern: »Ich bin, indem ich ohne Ich bin«. Damit meint er: »Der letzte Grund des ›Ich bin‹ ist grund-los.« (K. Nishitani, Die Philosophie der ursprünglichen Subjektivität« (jap.), Gesammelte Schriften Keiji Nishitanis (jap.), Bd. 1, Tôkyô 1986, S. 3. 114 Es ist nach wie vor der Zen-Meister Dôgen, der von der »Vergessenheit« im tiefen Sinne schlicht und deutlich redet. Einer seiner bekannten Sätze sei zitiert: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst (jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden.« (Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders Philosophieren aus dem Zen, S. 38/39.) Heute würde ich diese Übersetzung leicht korrigieren, indem ich die Worte »von selbst« streiche.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

die von Husserl vorgelegte »Epoché«, das Verfahren, durch die Einstellung des Urteils jegliches beurteilende Bewusstsein einzuklammern und das Residuum in dieser Epoché als das Bewusstsein als solches, als den transzendentalen Bewusstseinsstrom, auftauchen zu lassen als den eigentlichen Gegenstand der Bewusstseinsanalytik. Das Verfahren der Epoché bedarf einer gewissen Erfahrung. Denn es ist in Wirklichkeit nicht einfach, den Bewusstseinsakt einzuklammern und den Bewusstseinszustand zu erreichen, »nichts zu denken und sich nichts vorzustellen«. Sobald man diese Epoché zu praktizieren beginnt, bemerkt man, dass der Vollzug derselben gar nicht einfach ist, da man meistens gleich während des Versuchs, nichts zu denken, klar sieht, dass der versuchte Vollzug in Wahrheit ganz anders ist, als diesen Prozess nur intellektuell zur Kenntnis zu nehmen. Zwischen dem intellektuellen Verstehen der »Epoché« und dem Vollziehen derselben im phänomenologischen Denken gibt es eine große Kluft. Das ist sozusagen die klein aussehende tiefe Kluft zwischen der noematischen Erkenntnis und dem noetisch sich vollziehenden Erlebnis. Das oben Gesagte wird wohl verständlicher, wenn ein Beispiel angegeben wird, das zunächst mit dem Tun der »Doppelempfindung« ähnlich ist: das Zusammenlegen der beiden Handflächen. Man sieht sofort, dass es sich anders als bei der Doppelempfindung verhält, d. h. nicht so, dass man mit einer Hand die andere berührt. Keine bewusste Pointierung des Empfindungsbewusstseins geschieht dort. Man sieht bald, dass die Unterscheidung zwischen der aktiv »berührenden« Hand und der passiv »berührten« Hand einfach verschwindet. Bald danach beginnt die Wärme an der Kontaktfläche der Hände zu entstehen, die in den ganzen Körper zurückfließt. Das Empfindungsbewusstsein, das bei einer Doppelempfindung pointiert und verschärft wird, wird hier eher diffus. Bei Husserl und Merleau-Ponty ging es um die methodologische Pointierung und Verschärfung des Empfindungsbewusstseins, und das war ohne Zweifel eine interessante Stufe der Empfindungsanalyse. Aber es war zugleich die Bedingtheit ihrer Betrachtung, die dort zurückbleibende »Subjektivität« der Empfindung und Wahrnehmung nicht in Frage zu stellen. In dieser Hinsicht gibt die spirituell-religiöse Leiberfahrung einige Hinweise. Wie oben gesehen, geschieht im Zusammenlegen der Handflächen als einer Betform keine Schärfung des Ich-Bewusstseins, sondern vielmehr die Verdünnung desselben. In der spirituellreligiösen Leiberfahrung geschieht auch der vorhin erwähnte Selbstausdruck des nicht zu noematisierenden Inneren. Die verschiedenen 90 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Sinnesvergessenheit

Formen der Handgesten, »Mudra« (Siegel), die an den Buddha-Figuren zu sehen sind, sind Beispiele hierfür. Die Handgesten sind nicht die dem Bildhauer eingefallenen, äußerlichen Formen, sondern die Formen des Aus-drucks des inneren Seelenzustandes, der den Buddhafiguren verschiedenen Rangs zugeschrieben werden können. Umgekehrt können sie für die Übenden zu Einstiegsformen werden, durch die sie den jeweiligen inneren Seelenzustand erreichen. Dasselbe könnte wohl auch vom Tanz gesagt werden. Aber die Untersuchung in diesem Gebiet sei den Fachforschern zu überlassen. 115 Die spirituell-religiöse Leiberfahrung könnte der Tendenz nach den Phänomenologie-Forschern, die »akademisch« sein wollen, eher fremd bleiben. Aber diese Erfahrung enthält etwas, das auch in phänomenologischer Hinsicht bedeutsam ist: Die innerliche Höhe und die Tiefe der Erfahrung, die nicht in der Verschärfung der subjektiven Leibwahrnehmung, sondern in deren Vergessenheit liegt. Sowohl das Subjekt wie auch dessen Gegenstand verschwinden hier. Beim Beten der Buddhafigur ist zwar am Anfang noch das Bewusstsein vorhanden, Buddha oder Bodhisattva als einen Gegenstand zu verehren, aber bald wird das betende Ich verschwinden. Der Sinn dieser Vergessenheit liegt letztlich nicht in der Art und Weise der äußerlich-körperlichen Wahrnehmung, wie das in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung der Fall ist, sondern in der Erhöhung und Vertiefung des geistigen Inneren, das nie noematisch zu begreifen ist. 116 Dies ist das Phänomen, das im noetischen Aspekt der Sinnesvergessenheit hervorgeht. Wenn man auf diesen Aspekt eingeht, wird das Korrelatsschema »Noesis – Noema« selbst verschwinden.

115 Zur phänomenologischen Untersuchung zu den Sinnen und Leiberfahrungen beim Tanz vgl. Shigeto Nuki, »Zur Phänomenologie des Tanzes« (jap.), in: Sinnlichkeit – Leib – Gemeinschaft, herausgegeben vom Institut für Ästhetik und Kunstwissenschaft der Universität Tôkyô, Tôkyô 1996, S. 226–234. 116 Die Schrift Merleau-Pontys, Das Auge und der Geist (L’Oeil et l’Esprit, Paris 1964), hat den »Geist«, wie er im Buchtitel enthalten wird, nicht als Thema ins Auge gefasst, sondern, so könnte man sagen, die bisher der Tätigkeit des Geistes zugeschriebenen Phänomene auf die Wahrnehmung zurückgeführt. Dies hat die Bedeutung, die traditionelle »Metaphysik« umzuwenden, wie es die Philosophie im 20. Jahrhundert in verschiedener Weise gewagt hat. Die Anerkennung dieser seiner Leistung schließt aber die Frage nicht aus, wohin dann der »Geist« entschwunden sei und ob die innerlich ernsten Fragen des Menschen wie das Problem des »Todes« in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung behandelt werden kann. Dazu vgl. den 4. Abschnitt in diesem Kapitel.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

2.

»In-Berührung-mit-der-Welt-sein«

Es wurde dargelegt, dass die Sinnesvergessenheit nicht nur ein Phänomen auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung bleibt, sondern an die ästhetische, ethische und religiöse Geistigkeit anschließt. Auch wird es im Alltag immer wieder erfahren, dass wir angesichts eines Phänomens Verschiedenes wahrnehmen und zugleich über dieses nachdenken. Dass die äußerliche Wahrnehmung und das innerliche Denken miteinander untrennbar zusammenhängen, ist kein Wunder, sondern dem gesunden Menschenverstand einleuchtend. Aber die innere Struktur dieses Zusammenhangs ist damit noch nicht klar. Wenn die geistigen Tiefenschichten und die alltäglichen Wahrnehmungen untrennbar miteinander zusammenhängen, so wird die Phänomenologie der Wahrnehmung aufgefordert, noch einen Schritt zu tun. So sollen die bisher ins Auge gefassten Phänomene der Sinnesvergessenheit noch ein Stück weiter in Betracht gezogen werden. Denn diese Vergessenheit erweist sich als selbig mit der noetischen Achse der geistigen Wirkungen. Gehen wir von einem banalen Beispiel aus. Wenn ich an einem Sommerabend im Garten sitze und von einer Mücke in die rechte Hand gestochen werde, so empfinde ich diesen Stich durch den Tastsinn derselben Hand. Ich bemerke, dass ich mir bis dahin meiner rechten Hand nicht bewusst war. Ich kann unter Umständen bemerken, dass nicht nur meine rechte Hand, sondern auch der Empfindungssinn meines ganzen Körpers sich in einer Vergessenheit befand. Wenn ich das bemerke, kann es mir einfallen, dass ich eigentlich immer ständig in Berührung mit der Welt bin, aber dieses Faktum vergessen hatte. Auch wenn ich die Tatsache dieser Vergessenheit bemerke, werde ich dieses »in-Berührung-mit-der-Welt-sein« im Ganzen nicht noetisch auf einmal erleben können. Auch noematisch nehme ich die Aktivität der Berührung-mit-der-Welt im Ganzen nicht wahr. Die Sachlage der »Vergessenheit« ändert sich nicht. In der Phänomenologie war es Landgrebe, der die Sinnempfindung als einen Modus des »In-der-Welt-seins« Heideggers betrachtete, indem er die Sinnesanalyse Husserls um ein Stück weiter brachte. Er wurde allerdings nicht auf das Phänomen der Sinnesvergessenheit aufmerksam, geschweige denn darauf, dass der Tatbestand dieser Sinnesvergessenheit gewöhnlich vergessen bleibt. 117 Aber wenn man 117

Zu Landgrebes Analyse der Sinne in Bezug auf das »In-der-Welt-sein« vgl. Lud-

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»In-Berührung-mit-der-Welt-sein«

einmal diese gedoppelte Vergessenheit bemerkt, kann es sein, dass das »Bemerken« in Form eines existenziell-innerlichen Erwachens geschieht, so dass das reflexive Denken überhaupt von innen her gewendet wird. 118 Herder sagt: »Wir sind Ein denkendes sensorium commune, nur von verschiedenen Seiten berührt – da liegt die Erklärung«. 119 Diese »Aussage« muss die Versprachlichung eines direkten Erlebnisses sein und nicht die bloße Beschreibung des Gegenstandes. Wie man das direkte Erlebnis des Selbst-Gewahrwerdens zur Sprache bringt und logisch formuliert, war die Frage, die Kitarô Nishida in Atem gehalten hat. Er ging in der Studie über das Gute von der »reinen Erfahrung« aus, aber es gelang ihm in seinem Selbstverständnis nicht, diese reine Erfahrung logisch und reflexiv zu entfalten. Er kämpfte in der danach folgenden Schrift Anschauung und Reflexion im Selbst-Gewahrwerden um die Aufgabe, wie die direkte Erfahrung, ohne diese Unmittelbarkeit der Erfahrung zur Reflexivität zu degradieren, im und als das »reflexive Denken« entwickelt werden kann. Die unmittelbare Erfahrung des »in-Berührung-seins-mit-derWelt« ist die positive Seite der negativ formulierten »Sinnesvergessenheit«. Dass ein Phänomen eine positive und eine negative Seite hat, ist in einer phänomenologischen Betrachtung immer wesentlich. Das Phänomen ist, was sich verbirgt, indem es sich zeigt, wie Heidegger einmal ausführlich herausgestellt hat, 120 was aber in der abendländischen Philosophie schon früher, wenn auch nicht thematisch, in einer bestimmten Weise bemerkt worden war. wig Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, 4. Aufl. 1978. Landgrebe hält fest, dass zum Empfinden von etwas das Sich-selbst-Empfinden gehört (S. 116 f). Er fasst aber nicht ins Auge, dass der Mensch zunächst und zumeist vergisst, dass man sich selbst empfindet, und diese Vergessenheit kein bloßes Desiderat, sondern vielmehr das den Sinn der Leiblichkeit erschließende Faktum ist. 118 Ein im Zen-Buddhismus überliefertes Beispiel sei zu zitieren. Eines Tages, als der damals noch nicht erwachte Meister Kyôgen Chikan mit dem Besen den Garten pflegte und einen Kieselstein in den Bambus-Hain warf, traf der Kies einen Bambus, der ein Geräusch von sich gab. Mit diesem Geräusch erwachte Kyôgen. Der heute leicht zugängliche Text ist: Shûmon Kattô-shû mit einem Kommentar von Sônin Kajitani, publiziert vom Shôkoku Tempel, 1982, 28. Beispiel, S. 64. 119 Johann Gottfried Herder, Über den Ursprung der Sprache (1722), in: Sämtliche Werke, Bd. V., herausgegeben von B. Suphan, Neudruck der Ausgabe von 1891, Hildesheim u. New York 1891, S. 61. 120 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 7 (A). Der Begriff des Phänomens, HGA, Bd. 2., S. 38–43.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

Um die »Sinnesvergessenheit« und die unmittelbare Erfahrung des »in-Berührung-seins-mit-der-Welt« als den Sachverhalt der Verbergung und Entbergung phänomenologisch zu verstehen, stützen wir uns auf das »Höhlengleichnis« Platons. Der in der Höhle mit dem Joch festgelegte, somit nur nach der Wand in der Höhle gewendete Gefangene wird vom Joch befreit und geht auf der Treppe aufwärts zur Erde. Er kann nichts sehen, weil die Sonne so hell ist, aber seine Augen gewöhnen sich allmählich, so dass er zuerst die im Wasser gespiegelten Dinge und letztlich die Sonne selbst sieht. Dazu wird zum Bestehen des Anblicks (ophsis) neben den zwei Bedingungen, d. h. dem Gesichtssinn und der Farbe, die dritte Art (genos triton idia) als Bedingung benötigt: »im sichtbaren Ort« (en tô horatô topô) zu sein, d. h. das »Licht« (phôs). 121 Aber im »Höhlengleichnis« gibt es keine eindeutige Stelle, wo dieses »Licht« als solches gesehen wird. Genauer gesagt, gibt es eine Stelle, wo, wenn man will, verstanden werden kann, dass der Gefangene letztlich mit der »Sonne« auch »das Licht der Sonne« sieht, aber auch eine Stelle, wo deutlich gesagt wird, dass das Licht nicht die Sonne selbst ist. 122 Diese Zweideutigkeit ist im Grunde dieselbe Zweideutigkeit, von der Heidegger in seiner ausführlichen Interpretation des »Höhlengleichnisses« redet. Nach Heidegger verwandelt sich im »Höhlengleichnis« die »Wahrheit« im griechischen Sinne, d. h. die »alêtheia«, die »Lichtung der Unverborgenheit« zur »Richtigkeit im Sehen«. 123 121 Platon, Politeia, 507 c3. Im Text Platons kommt das hier in Nominativ-Form angegebene Wort »to horatos topos« in der Dativform: »en tô oratô topô« vor. 122 Zwei Stellen im Text Platons sind anzugeben, an denen die genannte Zweideutigkeit ausdrücklich gemacht wird. Die eine lautet: »so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht« (nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Politeia, Rohwolt Taschenbuch, Hamburg 1958, S. 221, 509 a 1/2). Die andere lautet: »Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten (prosblepô) und in das Mondund Sternenlicht (selênês phôs) sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht« (516b1/2. Die Übersetzung von Schleiermacher, a. a. O., S. 225; Hervorhebung des Verfasser). Die »Sonne« und das »Sonnenlicht« werden also im »Höhlengleichnis« bald als gleichwertig, bald als voneinander verschieden betrachtet. Als Schnittpunkt dieser Zweideutigkeit kann der folgende Satz verstanden werden: »Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen (augê) hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.« (516 a 2) 123 Heideggers Interpretation zum »Höhlengleichnis« ist in seinem Aufsatz »Platons Lehre von der Wahrheit« (1930), in: Wegmarken, HGA, Bd. 9, S. 203–238, zu finden. Der Kernpunkt seiner Interpretation ist im folgenden Satz zu finden: »Deshalb liegt in Platons Lehre eine notwendige Zweideutigkeit. Gerade sie bezeugt den vormals

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»In-Berührung-mit-der-Welt-sein«

Ein Beispiel: Im platonischen Höhlengleichnis ist die mit dem Licht geschaffene Helle die unentbehrliche Bedingung für ein Anblicken der Dinge, aber gerade in diesem Anblicken wird sie als solche verborgen, d. h. »vergessen«. 124 Dies stellen wir leicht fest, wenn wir im Tageslicht etwas sehen: Versuchen wir die Helle des Lichts zu »sehen«, oder zumindest bewusst zu »empfinden«, werden die Dinge, die bisher in dieser Helle sichtbar waren, vag und treten in den Hintergrund zurück. Dies ist ähnlich mit dem optischen Tatbestand, dass wir die in der Ferne liegenden Dinge und die in der Nähe liegenden nicht gleichzeitig sehen können. Übrigens ist nicht nur die Helle des »Lichts«, sondern auch das »Dunkel« das, was den Sachverhalt der Sinnesvergessenheit, d. h. die Gesichtsvergessenheit ausmacht. Im platonischen Höhlengleichnis taucht zwar das Dunkel kaum als wichtiges Problem auf. Der Gefangene z. B., der auf die Erde geht, bemüht sich, die Augen zunächst im dunklen Himmel sich gewöhnen zu lassen, um den Mond und die Sterne sehen zu können. Es ist schon darin zu sehen, dass in der philosophischen Übung bei Platon die »Helle« den Vorrang vor dem »Dunkel« hat. Aber hier kann man »mit Platon gegen Platon« einen Einwand erheben, dass das Dunkel unter Umständen optisch den Vorungesagten und jetzt zu sagenden Wandel des Wesens der Wahrheit. Die Zweideutigkeit offenbart sich in aller Schärfe dadurch, daß von der ἀλήθεια gehandelt und gesagt und gleichwohl die ὀρθότης gemeint und als maßgebend gesetzt wird, und dies alles in demselben Gedankengang.« (S. 231) Die »Zweideutigkeit«, von der bei Heidegger die Rede ist, kommt daher, dass die »Idee des Guten« als die »Idee der Ideen«, die mit der Sonne verglichen wird, auf das »Sehen« bezogen wird und sich dadurch von der ursprünglichen »Unverborgenheit« als der Lichtung zu der »Richtigkeit des Vernehmens« verwandelt. Diese »Zweideutigkeit« der Sonne entspricht der in der vorliegenden Darstellung aufgezeigten »Zweideutigkeit«, dass die Sonne einerseits mit dem Licht selbst als der Helle bzw. der Lichtung gleichgesetzt wird, aber andererseits letztlich die höchste Idee, das »Gesehene«, und somit das höchste Objektive bedeutet. 124 In der heideggerschen Interpretation, die er in einer Vorlesung gemacht hat, wird diese »Helle« als die »Durchsichtigkeit« in der »Waldlichtung« verglichen. In dieser Lichtung gilt: »Das Licht lichtet, macht frei. Gibt Durchlaß. Das Dunkel versperrt, – läßt die Dinge sich nicht zeigen, verhüllt sie. Das Dunkel wird gelichtet – heißt: es geht ins Licht über, und meint: das Dunkel wird frei-gebend gemacht.« (M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, HGA, Bd. 34, S. 59) Die Ansicht Heideggers und die hier von uns vorgelegte Ansicht der »Gesichtssinnvergessenheit« stehen zwar nicht im Gegensatz zueinander. Allerdings ist die Tragweite und die Richtung der hier gemeinten »Vergessenheit« nicht dieselbe mit derjenige der »Seinsfrage« Heideggers, was hier im späteren fünften Kapitel »Der Welt-Ort« deutlich wird. Aber auch in diesem Fall werden die beiden Ansichten nicht im Gegensatz zueinander, sondern im Verhältnis einer »Fernnähe« zueinander stehen.

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rang vor der Helle haben kann. Die Sichtweite nämlich, die man am Tag unter der Sonne beim Sehen von etwas hat, ist nur etwa zwischen ca. 5 km und ca. 80 km, während die Himmelskörper, die man in der Nacht sieht, mehrere zehntausende bis mehrere hundert Millionen Lichtjahre entfernt sind. Im Vergleich mit diesen Sternen ist sogar die Sonne uns ganz nah. Das »Dunkel« ist ebenfalls ein »Ort des Sichtbaren«, in dem die blinkenden Glühwürmer oder die strahlenden Sterne sichtbar werden. Diese sind Dinge, die nicht in der Helle des Lichtes gesehen werden können. Dabei bleibt das Dunkel selber vergessen, wenn man das Blinken oder Strahlen der Dinge in ihm sieht. Zwar lässt sich, wie im vorigen Kapitel bemerkt, das Dunkel der Nacht, wenn man das Fenster nachts öffnet, als das Unsichtbare »sehen«, aber nicht als ein sichtbarer Gegenstand. Es lässt sich, wohl genauer gesagt, »fühlen« bzw. »erleben« als das Unsichtbare, das im Sehen wirksam wird. Auch das Dunkel ist nur im Modus der »Sinnesvergessenheit« gegenwärtig. Hier ist unbedingt zu bemerken, dass das »Vergessene« im obigen Sinne das »Noematische« bleibt. Es gibt noch grundsätzlichere Vergessenheit, nämlich dass wir bei unserem Sehakt diesen Akt selbst nicht sehen. Diese Vergessenheit ist die Bedingung dafür, dass überhaupt das Sehen selbst besteht. Dies ist die »noetische« Vergessenheit des Gesichtssinnes, was eigentlich seit alters her mit dem Wort ausgesagt wird: »Das Auge sieht das Auge nicht«. In der Philosophie war das, wie schon erwähnt, als das Problem der »noêsis noêseôs« bekannt, aber so, dass diesem als philosophischem Thema eher ausgewichen wurde. Kommen wir zum »In-Berührung-sein-mit-der-Welt« zurück. Dieses ist sowohl beim »Geschmackssinn« wie auch beim »Geruchssinn« und »Gehörsinn« die ontologische Basis. Wir sehen, dass auch diese in der »Sinnesvergessenheit« gegenwärtig werden. Der »Geschmack« ist der »Tastsinn«, der zwischen der Zunge und der Speise besteht. Ein Unterschied zwischen den beiden Sinnen ist nur, dass der erstere im Unterschied zum »Tastsinn« auf einen bestimmten Körperteil, d. h. auf die Zunge, beschränkt wird. Dafür entsteht aber die Konzentration und Pointierung des Tastsinnes, so dass es zunächst scheint, dass es keine »Vergessenheit« des Tastsinnes bzw. des Geschmackssinnes geben kann. Ob das stimmt, ist eben zu überprüfen. Denn gerade wegen dieser Konzentration und Pointierung entsteht die prozesshafte Vergessenheit. Die im Mund gebliebene Süßigkeit des Kuchens macht den Kontrast zur Bitterkeit des Tees, 96 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

»In-Berührung-mit-der-Welt-sein«

den man vorhin getrunken hat, wobei diese Bitterkeit beim Genuss des süßen Kuchens verschwunden sein muss. Allerdings gibt es das »Gedächtnis der Zunge«, so dass eine Mischung von süß und bitter zurückbleibt. Aber gerade diese Mischung besagt, dass das Bittere des Tees, den man vorhin getrunken hat, nicht gänzlich zurückbleibt. Wenn der vorhin wahrgenommene Geschmack vollständig auf der Zunge stehen bleibt, kann der gegenwärtige andere Geschmack nicht vernommen werden. Im jeweiligen Geschmackssinn bleibt der Geschmackssinn im Ganzen verborgen. Das ist eine »Geschmacksvergessenheit«, die der Zeitachse der Prozesshaftigkeit entlang geschieht. Die Vergessenheit von dieser Art ist die »noematische«, der gegenüber auch die »noetische« Vergessenheit im Auge zu behalten ist. Sie besagt einfach, dass der Geschmackssinn selber kein Gegenstand des Geschmackssinns wird. Um aber den Inhalt dieses Einfachen zu entfalten, so ist darauf hinzuweisen, dass, wenn ich ein Stück Kuchen in den Mund stecke und dessen Süßigkeit vernehme, ich als das Subjekt des Schmeckenden und der Kuchen, der süß schmeckt, in eins sind. Dies besagt das, was eigentlich selbstverständlich ist, nämlich, dass »Ich schmecke« nicht durch mich allein besteht. »Dieser Kuchen ist süß« ist zwar mein Geschmackssinn, der aber ohne die Affizierung von Seiten des Kuchens nicht besteht, und eben im Augenblick der Empfindung dieser Affizierung vergesse ich die Aktivität meines Geschmackssinnes. Diese noetische Sinnesvergessenheit des Geschmackssinnes ist die Grundbedingung für den Geschmackssinn überhaupt. Sie ist nicht der Art, dass sie überwunden werden kann, wenn man auf sich achtet. Prinzipiell kann dasselbe auch vom Geruchssinn gesagt werden. Was den noematischen Aspekt betrifft, so muss beim Riechen des »Duftes« der Rose der Gestank der Mülltonne, der mich soeben überfallen hatte, verschwunden sein. Das Verschwinden und Vergessen des vorhin empfundenen Geruchs ist die Bedingung des Empfindens des aktuellen Geruchs. Auch in dem Fall, dass zwei Gerüche sich mischen, müssen die gemischten Gerüche von vorhin verschwunden sein, damit die gemischten Gerüche jetzt vernommen werden können. Bei der Aktivität des Geruchssinnes zu einem Zeitpunkt muss der Geruchssinn im Ganzen in den Hintergrund zurücktreten und vergessen werden. Weiterhin ist auch von der noetischen Geruchsvergessenheit zu reden. Diese besagt, dass der Geruchssinn selbst nicht zum Gegenstand des Geruchssinnes wird, und dies heißt, dass beim Riechen des Duftes der Rose der Geruchssinn von der Rose 97 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

affiziert wird, die duftet. Ich als der Riechende und die Rose, die duftet, sind im Geschehen des Riechens in eins. Man erlebt unthematisch dieses Geschehen des Geruchssinnes eben in diesem Geschehen. Man riecht den Duft der Rose, indem man weiß, dass man ihn riecht. Und dies heißt, dass man in thematischer Weise vergisst, dass man riecht. Diese Vergessenheit kann nicht durch den vergeblichen Versuch behoben werden, das Riechen selbst zu riechen. Da auch im Fall des Gehörsinnes dieselbe Struktur gilt, bräuchte zwar keine Erklärung mehr gemacht werden. Aber um eines gewissen Abrundens der Darstellung willen ist doch eine kurze Erklärung hinzufügen. Noematisch betrachtet, muss der Ton vorhin verschwunden und vergessen sein, damit der Ton jetzt vernommen werden kann. Allerdings gibt es das Phänomen des Nachklingens. Bei einem Konzert klingen die Töne vorhin in den Ohren nach, damit die Töne, die man jetzt vernimmt, mit ihnen verschmelzen, wodurch der Eindruck des gespielten Stücks im Ganzen nach und nach gebildet wird. Man sieht aber gleich, dass dieser gesamte Eindruck nicht die quantitative Summe der Töne, sondern ein verinnerlichtes Gefühl, somit von qualitativem Wesen ist. Das quantitative Ganze muss in den Hintergrund gehen, d. h. in die Vergessenheit verschwinden. Dies ist die beim Musikhören notwendige noematische Vergessenheit der Töne, die man gehört hat. Und die noetische Vergessenheit des Hörens selbst auf der anderen Seite ist, dass beim »Klingen der Töne« diese Töne gehört werden, ohne dass das Hören selbst vernommen wird. Allerdings wird das Hören selbst in unthematischer Weise erlebt, wobei dieses Erlebnis nicht dem Bereich des Gegenstandes des Hörens zugehört. Es ist sozusagen in der Vergessenheit im Bewusstsein gegenwärtig. Hier ist mit der Frage zu rechnen, wie es sich verhalte bei den Menschen, die im Hören und Sehen behindert sind. Strukturell wird sich nichts ändern. Gegebenenfalls bleibt der Verdacht, dass die Fragestellung in einem an sich sehr fraglichen Dichotomie-schema von »normal und anomal« verfangen ist. Denn ohne an das cartesianische Gleichnis des »Stocks des Blinden« zu erinnern, 125 betätigen sie die 125 Vgl. René Descartes, La Dioptrique, in : Œuvres de Descartes, Adame et Tannery, Tome VI, Paris 1897–1963, neu gedruckt 1973, p. 81. Descartes erörtert, dass Blinde die Bäume von den anderen Dingen wie den Steinen, dem Wasser usw. unterscheiden können durch den Gebrauch des Stocks »baton«, noch genauer gesagt, durch das Gefühl des Widerstandes, das durch diesen Stock bis zur Hand weiterleitet wird. Merleau-Ponty hat diese Betrachtung mit der Formel »Der Blinde sieht mit den Händen«

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»In-Berührung-mit-der-Welt-sein«

nicht behinderten Sinnorgane, um den Gehör- oder Gesichtssinn zu ergänzen, so dass sie letztlich ganz »normal« sind. 126 Sie vernehmen oft sogar feinsinniger das »In-Berührung-mit-der-Welt-sein« als die Leute, die mit ihren fünf Sinnen einfach zufrieden bleiben. Allerdings ist es noch zu früh, dieses Thema zureichend zu behandeln. Zwischen mir und Dir, mir und ihm/ihr/ihnen liegt der Abgrund der Ungemeinsamkeit, die der Andersheit der Anderen geschuldet ist. Wenn ich ohne Achtsamkeit auf diesen Abgrund glaube, die Anderen verstanden zu haben, wird das nichts anderes als ein Anspruch auf die gewaltsame Integration der Anderen in mein Selbst, wodurch die Anderen ihrer Einzigkeit und Selbständigkeit beraubt werden. Das Gleiche geschieht, wenn jemand Anderes erklärt, dass er/sie mich vollständig verstanden hat. Die Anderen zu verstehen mit der Achtsamkeit auf den Abgrund zwischen mir und ihnen, darin besteht der Kern der »Compassion« im vorliegenden Buch, aber die Durchleuchtung dieser Struktur hat erst jetzt begonnen und ist noch nicht sehr weit gebracht.

übernommen, und darauf aufmerksam gemacht, dass Descartes den Gesichtssinn von der Bestimmung befreit, ihn als die Wirkung in der Entfernung oder in der Omnipräsenz aufzufassen, um den Gesichtssinn auf den Tastsinn zurückzuführen. Vgl. M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 36 f. Das war eine bemerkenswerte Interpretation, aber man darf einen weiteren Aspekt der cartesianischen Betrachtung nicht vergessen, dass der Tastsinn des Blinden keine Farben wie Rot, Gelb, Violett usw. erreicht, und weiterhin, dass im cartesianischen Kontext, wie der Titel »La Dioptrique« besagt, »Licht« das Thema war und nicht die Wahrnehmungstheorie. 126 Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür sind die Fotos in Nationale Ausstellung mit Fotos von Blinden: Die unsichtbare Kraft (jap. Mienai chikara), Tôkyô 2000. Die aufgenommenen Fotografien werden unsere gewöhnlichen Vorstellungen über die Blinden von Grund auf ändern, da Menschen mit Gesichtssinnschwierigkeiten ihre Fotoapparate genau und trefflich den Objekten zuwenden und diese in künstlerischer Weise fotografieren. Die dazu benötigten Fotoapparate sind allerdings zum leichteren Handhaben für Blinde erdacht, und die entstandenen Fotos werden so aufgenommen, dass die Blinden zumindest die Konstitution des Bildes mit den Fingern betasten können. Was allerdings eine noch wichtigere Bedingung zu sein scheint, ist, dass die Menschen, die ihr Vermögen des Gesichtssinnes eingebüßt haben, dennoch mit ihrem »ganzkörperlichen Gesichtssinn« die Dinge »sehen«. Dazu hat der Verfasser in: Geschichte als das Gehörte. Betrachtung zum Geschichtssinn (jap.), Nagoya 2005, S. 6 f., einige Betrachtungen geschrieben.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

3.

Der Unterschied zwischen der »Sinnesvergessenheit« und der »Seinsvergessenheit«

Die hellsichtigen Leser haben vermutlich bereits bemerkt, dass die hier gemeinte »Sinnesvergessenheit« mit dem Begriff der »Seinsvergessenheit« Heideggers verwandt ist. Grob und kurz gesagt, meint die »Seinsvergessenheit« bei Heidegger in Sein und Zeit den Tatbestand, dass in der abendländischen Metaphysik, in der das Wesen des Seienden untersucht wurde, das Sein als selbstverständlich bzw. inhaltslos aufgefasst und somit nicht problematisiert wurde. Unter dem Wort »Sein« wurde eher das Seiende verstanden, was auch ein Aspekt der »Seinsvergessenheit« ist. Bald danach kam Heidegger zu der Ansicht, dass diese »Seinsvergessenheit« nicht die Folge des Versäumnisses der Philosophen, sondern das Problem der »Seinsgeschichte« ist, 127 die durchs »Seinsgeschick« bzw. das »Ereignis« des Seins bestimmt wird. Aber in seinem Hauptwerk Sein und Zeit wird diese »Seinsvergessenheit« stillschweigend dem menschlichen »Dasein« als dem Seinsverständnis zugeschrieben. Denn das »Dasein« ist dort die Bezeichnung des Menschen, bevor dieser im Schema »Subjekt (Ich) – Objekt (Gegenstand)« aufgefasst wird. »Dieses Seiende (den Menschen) fassen wir terminologisch als Dasein.« 128 Die »Seinsfrage« stellen, und zwar im Ausgang vom »Seinsverständnis«, heißt diese Frage aus der »Seinsvergessenheit« herauszuholen, und dies heißt, dass die Seinsvergessenheit in ontologischer Hinsicht der »Verfall« ist. Dieser meint zwar keineswegs eine schlechte und beklagenswerte Eigenschaft, sondern ist eine wertfreie, existenziale Bezeichnung. 129 Aber dies ändert nichts daran, dass in Sein und Zeit die »Seinsvergessenheit«, wenn auch in der existenzialen Hinsicht, etwas »zu Überwindendes« ist. Die »Sinnesvergessenheit« im vorliegenden Buch dagegen ist in keinem Sinne »Verfall«. Sie ist auch kein zu Überwindendes, sondern eher der originäre Ort, zu dem zurückgegangen werden soll. Dieser Ort bleibt »ohne Gewahrwerden«. Dabei ist zu bemerken, dass diese »Sinnesvergessenheit« nicht das ist, was überwunden wird und als

127 An ganz wenigen Stellen bezeichnet Heidegger allerdings die Seinsvergessenheit als Folge des »Versäumnisses« des Denkens. (Vgl. z. B. Was heißt Denken?, HGA, Bd. 8, S. 156.) 128 M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, S. 16. 129 A. a. O., S. 233 f.

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Der Unterschied zwischen »Sinnesvergessenheit« und »Seinsvergessenheit«

solche verschwindet, wenn man ihrer gewahr wird. Vielmehr ist diese »Vergessenheit« selbst der Inhalt des Selbst-Gewahrwerdens. Es mag Verständnisschwierigkeiten verursachen, wenn gesagt wird, dass die »Vergessenheit« die eigentliche Weise des Selbst-Gewahrwerdens sei. Ein Wort Dôgens, des Gründers der japanischen Sôtô-Schule des Zen-Buddhismus, kann hier Licht in das Dunkel bringen. Das Wort ist am Anfang seiner Schrift Shôbôgenzô zu finden und sei hier nochmals zitiert: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst (jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen.« 130 Auch die Selbstvergessenheit bei Dôgen ist kein Defizit des intellektuellen Verständnisses, sondern vielmehr der letzte Standort des »Erlernens des Buddha-Wegs«, somit die eigentliche Existenzweise. Dies ist nicht nur die Erfahrung des ostasiatischen »Zen«. Die Erfahrung, dass was man gesucht hatte, das ist, was man längt besessen, aber vergessen hatte, wird beispielsweise auch in Maurice Maeterlincks Märchen L’oiseau bleu erzählt. 131 Die im vorliegenden Kapitel gemeinte »Sinnesvergessenheit« ist letztlich der Verweis auf den Ort dieses originäre Besitzes. So ist zu sehen, dass die »Vergessenheit« doppelschichtig ist. Die eine Schicht, die Noesis des Bewusstseinsaktes, ist der Zustand, dass das Selbst strukturell verborgen bleibt. Er ist mit der guten Gesundheit zu vergleichen, in der vergessen wird, dass man sich in guter Gesundheit befindet. Das ist sozusagen die natürliche Vergessenheit. Allerdings empfindet man vielleicht doch irgendwie, dass diese Gesundheit nicht ewig dauert, sondern der ständigen Pflege bedarf. Das ist das Empfinden des Paradoxes, dass das mit Gesundheit erfüllte Leben in jedem Schritt die Bewegung zum Ende des Lebens ist. Dort entsteht das Bewusstsein des »Seins zum Tode« oder die Stimmung der Angst. Aber es kann eben dann auch vorkommen, dass man sich in einer Umkehrung bewusst in die Tätigkeit des Alltagslebens vergisst. Dies ist das Gewahrwerden des noetischen Aspektes der »Sin130 Vgl. Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders Philosophieren aus dem Zen, S. 38/39. 131 Eine zusätzliche Bemerkung: Im Märchen »Der blaue Vogel«, finden Tyltyl und Mytyl erst zu Hause, wohin sie nach der vergeblichen Suche nach dem blauen Vogel als Symbol der Glückseligkeit zurückkamen, den gesuchten Vogel. Aber der Vogel entflog am Ende. Der gemeinte Sinn wäre, dass die Glückseligkeit, wenn sie im Hause als Ich-Bewusstsein gefangen und gepflegt wird, keine Glückseligkeit ist. Sie muss abfliegen. Aber Tyltyl und Mytyl gehen dem Vogel nicht mehr nach. Sie sind schon glücklich.

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

nesvergessenheit«. Darin entfaltet sich die unmittelbare Erfahrung der »Noesis der Noesis«, die Tiefenschicht der »Natürlichkeit« der Sinnesvergessenheit.

4.

Eine Annährung zur »Leere«. Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty

In der Geistesgeschichte des Menschen kann man unzählige Beispiele der »Vergessenheit« dieser Art finden, aber sie blieben meistens in Form der Bekenntnisse der individuell-spirituellen Erfahrung und wurden kaum der phänomenologisch-philosophischen Untersuchung unterworfen. Eine solche Untersuchung könnte zwar als für die menschliche Existenz untauglicher Akademismus zurückgewiesen werden. Aber es wäre dennoch sinnvoll, angesichts der Bedürfnisse des besseren Verständnisses der gegenwärtigen Probleme die Bekenntnisse phänomenologisch in Betracht zu ziehen. So ist die vorhin erwähnte Phänomenologie Merleau-Pontys nochmals heranzuziehen. Er macht bereits auf den gleichen Gedanken aufmerksam, der im vorliegenden Buch mit dem Wort »Fernnähe« und »Höhentiefe« erörtert wurde. In seinem Büchlein L’Oeil et l’Esprit betrachtet er das »Rätsel der Tiefe (profondeur)« anhand der malerischen Erfahrung. In den Augen des Malers liegen die Dinge je in ihrem eigenen Ort, hängen aber zugleich voneinander ab. Um im Sinne MerleauPontys ein Beispiel anzuführen, ist ein Buch auf dem Tisch vor mir zu betrachten. Das Buch verdeckt einen Teil des Tisches, indem es auf diesem liegt, und der Tisch, indem er das Buch auf sich liegen lässt, erfüllt seine Funktion als Tisch. Dadurch, dass die beiden auf diese Weise voneinander abhängen, 132 sind die Dinge die Dinge, und die Welt weltet, was gerade der Maler zu malen versucht, und dies heißt, dass der Maler die »Tiefe (profondeur)« der Dinge malt. Die genannte Tiefe überhaupt wird eine »globale Lokalität« (»une ›localité globale‹«) genannt, 133 von der so etwas wie die Höhe, die Größe, die Distanz der Dinge abstrahiert werden. Die Ganzheit der Anwesenheit der Dinge ist als solche nirgends gegenwärtig. Sie ist aber als der 132 M. Merleau-Ponty, L’Oeil et l’Esprit, S. 65: »dans leur dépendance mutuelle dans leur autonomie«. 133 A. a. O., S. 45 f.; S. 65: »une localité globale«.

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Eine Annährung zur »Leere«. Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty

ortlose Ort da. Der Maler malt diese »Tiefe (profondeur)« der Dinge. Es ist notwendig, dass dabei auch die Dimension der »Fernnähe« auftaucht. Wenn der Maler die Berge »sieht«, so ist das Sehen das »Haben in einer Distanz«, 134 und diese »Distanz« ist conditio sine qua non für das Geschehen, dass die Berge »von dort her« (par-delà) sich dem Maler sichtbar machen (se fair voir du peintre). Um mit dem Terminus des vorliegenden Buchs zu sagen, ist sie die Aktivität des Ortes der »Fernnähe«. Es ist immer noch möglich, zu sagen, dass diese Fernnähe und Höhentiefe die Vorstellung im Bewusstsein ist. Allerdings ist es dann notwendig zu bemerken, dass die Frage, was das Bewusstsein sei, eine in der Philosophie nicht erledigte Frage ist. Merleau-Ponty sagt in einer anderen Schrift »Le visible et l’invisible«, dass es im Bewusstsein keinen Bewohner gibt. Für ihn gilt es, das Bewusstsein als »das Nichts« (le rien), somit als die »Leere« (le vide), zu entdecken. Das Bewusstsein als das Nichts und die Leere ist fast schon eine östliche Formulierung, die vom bloßen Vakuum zu unterscheiden ist. Es ist »das ›Nichts‹, die ›Leere‹, die die Erfüllung der Welt vermögen« (»le ›rien‹, le ›vide‹, qui est capable de la plénitude du monde«). 135 Wenn der Maler bei der Darstellung des Weltraums diesen misst, steht er selbst am »Null-Grad der Räumlichkeit« (degreé de zero de la spatialité), der er selbst ist. Erst an diesem Null-Punkt kann er den Raum und das Licht von sich her erscheinen und sprechen lassen. Raum und Licht sind dort keine Gegenstände, die erst in einer Distanz erscheinen. Das Bewusstsein, wo es keinen Bewohner gibt, ist die »Leere« (»le vide«), in der, so könnte und sollte man sagen, das Sich-bewusst-machen mit der »Vergessenheit« im obigen Sinne in eins fällt. Dies wird bei Merleau-Ponty in Anlehnung an die malerische Erfahrung entwickelt, und nicht als »Sinnesvergessenheit« thematisiert. Die radikale Ansicht Merleau-Pontys zum »Bewusstsein« und seine feinsinnige Phänomenologie desselben scheinen mit Blick auf die »Leere«, die im vorliegenden Buch gemeint wird, noch ein Überbleibsel der subjektiven »Vorstellung« zu haben. Ein Einwand gegen diese Vermutung würde gewiss von Merleau-Ponty selbst oder von A. a. O., S. 27: »avoir à distance«. M. Merleau Ponty, Le visible et l’invisible, S. 77 f.: »(…), et que je la (la conscience) découvre comme le ›rien‹, le ›vide‹, qui est capable de la plénitude du monde ou plutôt qui en a besoin pour porter son inanité.«

134 135

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

ihm folgenden Phänomenologen erhoben werden, und zwar zunächst mit gutem Grund. In L’Oeil et l’Esprit redet er zum Beispiel vom vormenschlichen (préhumain) Blick, indem er sich an den französischen Maler André Marchand anlehnt. Dieser soll gesagt haben, dass wenn er den Baum sieht, der Baum ihn sieht und anspricht. 136 Damit will Merleau-Ponty sagen, dass die Sicht, bevor sie die Wirkung des menschlichen Subjektes ist, von den Dingen eingenommen wird und dort geschieht, wo ein Sichtbares sich sichtbar macht, inmitten der Dinge. 137 Er betrachtet das Rätsel des Sehens als Rätsel des Leibes, wobei er die Welt als vom Stoff dieses Leibes gewoben findet. 138 Damit wird die gewöhnliche Sehweise, »vom Ich her die Welt zu sehen«, umgewendet und die Perspektive, »von der Welt her zu sehen«, eröffnet, wie K. Nishida gezeigt hat. 139 Der Einwand würde besagen, Merleau-Ponty sei gerade der Denker, der über die Subjektivität des »Ich« hinausgehen konnte. Diese Verteidigung ist sicherlich gerechtfertigt. Dennoch oder gerade deshalb ist zu fragen, warum in der Perspektive Merleau-Pontys, in der der lebendige Leib und dessen Wahrnehmung so feinsinnig phänomenologisch analysiert werden, der Tod als das Ende und das Vernichten dieses Leibes und somit das damit verbundene innerlich geistige Gefühl nicht erörtert werden. Der Titel seines Büchleins L’Oeil et l’Esprit (Das Auge und der Geist) deutet zwar an, dass für ihn auch das geistige Gebiet ins Wahrnehmungsgebiet, vertreten vom Auge, zurückgeführt werden kann. Aber wenn die Wahrnehmung des »Fühlens« verinnerlicht wird, öffnet sich das Gebiet des »Gefühls«, was ebenfalls ein Faktum des Lebens ist. Es wurde vorhin gesehen, dass sich die »Berührung« von der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung innerlich zum ästhetischen Ur136 M. Merleau-Ponty, L’Oeil et L’Esprit, S. 31: »Dans une forêt, j’ai senti, certains jours, que ce n’était pas moi qui regardais la forêt,. J’ai senti, certains jour, que c’étaient les arbres qui me regardaient, qui me parlaient … Moi j’étais la, écoutant …«. 137 A. a. O., S. 19: »que la vision est prise ou se fait du milieu des choses, là où un visible se met à voir, (…).« 138 A. a. O., S. 19: »fait de l’étoffe même du corps«. 139 Zu der Sichtweise »von der Welt her sehen« vgl. den 5. Abschnitt des 5. Kapitels im ersten Teil des vorliegenden Buchs. Nishida nennt die Wende vom »Ich sehe« zum »Von der Welt her sehen« die »Wende der kopernikanischen Wende« (K. Nishida, »Logik und Mathematik«, in Philosophische Aufsätze (jap.:Tetsugaku Ronbun-shû), Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 11, S. 69, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 10, S. 56.) Vgl. dazu auch den Verfasser, Die Welt der Philosophie Nishidas – oder die ort-logische Wende (jap.), Tôkyô 1995, S. 69 ff.

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Eine Annährung zur »Leere«. Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty

teil, zum ethischen Gefühl und zur spirituell-religiösen Gesinnung vertieft. Aber die Wahrnehmungsphänomenologie Merleau-Pontys reicht trotz seiner feinsinnigen Beobachtung nicht ins Gebiet dieser innerlichen Geistigkeit. Man darf annehmen, dass er bewusst nicht darein eintrat. Wie der Titel L’Oeil et l’Esprit andeutet, hat er gezeigt, dass auch das Gebiet der Geistigkeit auf das Wahrnehmungsgebiet des »Auges« zurückzuführen ist. Unter der Anerkennung der Bedeutsamkeit dieses Versuchs ist aber dennoch zu sagen, dass umgekehrt das Gebiet des inneren Gefühls, das nicht in der Weise der sinnlich-äußerlichen Wahrnehmung auftritt, untersucht werden kann und soll. Merleau-Ponty blieb vor diesem Gebiet stehen, ohne in dieses einzutreten. Die »Qual« oder die »Angst« entgeht seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, was wohl damit zusammenhängt, dass das Problem des »Todes« bei ihm nicht betrachtet wird. Man könnte hier zunächst eine Verteidigung Merleau-Pontys fortsetzen, um zu sagen, dass dieses Stehenbleiben keine Vernachlässigung, sondern eine Entscheidung der phänomenologischen Haltung war. Denn es mag für eine fundamentale Position genommen werden, nur das zum Gegenstand der phänomenologischen Analyse zu machen, was sich dem Bewusstsein zeigt und von diesem erfahren wird. In der Tat sagt Merleau-Ponty: »Weder meine Geburt noch mein Tod kann vor mir erscheinen als meine Erfahrung.« 140 Man kann sich nur als »schon geboren« bzw. als »noch am Leben seiend« ergreifen. Für Merleau-Ponty konnte ausschließlich diese »Lebenserfahrung« selbst die Sache der Phänomenologie sein. Aber es ist ebenfalls auch ein faktisches Phänomen des Lebens, dass der »unerlebbare Tod«, gerade weil er unerlebbar und die absolute Negation des Lebens ist, gerade das ist, um das es dem Menschen geht. Merleau-Ponty nimmt diese absolute Negation des Lebens in seiner Lebensphänomenologie nicht auf. Was er betrachtet, beschränkt sich, wenn man es so sagen darf, auf die milden Wahrnehmungen im milden Alltagsleben. Die Position, ausschließlich nur das Fragen nach dem Sinn des »Lebens« zu behandeln und den »Tod« als die nicht zu erlebende Sache nicht in Betracht zu ziehen, hat ihre Berechtigung. Aber es kann auch ein phänomenologisch sinnvoller Versuch sein, gerade an der Grenze dieses un-erfahrbaren Gebietes den Sinn und die Tragweite der Phänomenologie in Frage zu stellen. 140 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, S. 249: »Ni ma naissance ni ma mort ne peuvent m’apparaitre comme des expériences miennes.«

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Das in der Geschichte der Sinneslehre vergessene Thema

Die Möglichkeit der phänomenologischen Betrachtung der zunächst un-erfahrbaren Sache liegt wohl gerade in der »Erfahrung im weiten Sinne, d. h. im bisher erwähnten unthematisch vollzogenen Erlebnis«. Es wurde auch erwähnt, dass dieses Erlebnis ein Ausdruck für die seit alters her mitgeteilte »noêsis noêseôs« und ein bewusstes Erlebnis ist, das im Modus der »Vergessenheit« im Bewusstsein gegenwärtig wird. Sowohl der »Tod«, der in keiner Weise gegenständlich werden kann, wie auch der ernste und innerliche Zustand des geistigen Gebietes müssen genauso wie das Gebiet der äußerlichen Wahrnehmung zu Bereichen der »Phänomenologie« gemacht werden können. Wie schon von Husserl gesagt, 141 machte auch Merleau-Ponty den Tod nicht zur Sache der Phänomenologie. Man könnte zwar mit Konfuzius sagen: »Ich kenne noch nicht, was das Leben sei, geschweige denn den Tod«, 142 und sich ruhig mit der Erfahrung weiter beschäftigen, dass die Bäume uns sehen und ansprechen. Zugleich muss man gestehen, dass diese Erfahrung in die Frage umschlägt: »Wie wird es sein, wenn diese Bäume verwelken und uns nicht mehr sehen, nicht mehr ansprechen?« Wir kennen Beispiele dafür, wie viele einstige Waldgebiete durch den Klimawandel und die rücksichtslose Abholzung verwüstet wurden oder dass einige Städte wegen der radioaktiven Bodenkontaminierung unbewohnbar geworden sind. Dass die Welt immer aus der Verkoppelung von Leben und Tod, der Alltäglichkeit und der Nicht-Alltäglichkeit besteht, ist die reale Wirklichkeit. Die Welt des Lebens ist die Welt, die einst von den Toten gebildet worden war und die vergangen ist. Die in der Welt der Toten überlieferte Tradition ist aber als das Gewesene in der gegenwärtigen Welt anwesend als deren Basis. Sie ist nicht mehr, und dennoch ist sie. Welches phänomenologisches Denken mit welchen Denkkategorien kommt in Frage, wenn es darum geht, zu begreifen, was nicht mehr ist und dennoch ist? Mit dieser Frage stehen wir bereits im Themenbereich des nächsten Kapitels.

141 Vgl. den 6. Abschnitt im ersten Kapitel: »Das impersonale Andere (der Tod). Einige Bemerkungen zu Husserl«. 142 Konfuzius, Gespräche , (chin.: Lunyu, 論語), Kap. 11: Fortschritt, Abschn. 11. Die englische Übersetzung lautet: »I have not understood life yet. Why can I understand death?«

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Viertes Kapitel: Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

Im ersten und zweiten Kapitel wurden die phänomenalen Formen der »Fernnähe« und der »Tiefenhöhe« anhand der Anderen in der zweiten Person (Du, Ihr) sowie der dritten Person (er, sie im Singular, sie im Plural), der impersonalen Anderen (Dinge), des non-personalen Anderen (Tod), der hyper-personalen Anderen (die Göttlichen) usw. vorgelegt. Im dritten Kapitel wurde der Grundmodus der Erfahrung dieser Phänomene mit dem Wort »Sinnesvergessenheit« gekennzeichnet. Die Sinnesvergessenheit ist die Sachlage, in der das sinnliche Bewusstsein selbst, auch wenn es sich in voller Aufmerksamkeit betätigt, kein Gegenstand des sinnlichen Bewusstseins sein kann und in diesem wesentlichen Sinne »vergessen« bleibt. Es wurde aber darauf hingewiesen, dass diese vergessene Sachlage unthematisch doch gewusst und insofern zum Bewusstsein gebracht werden kann. Was für ein Denken kommt in Frage, wenn die Erfahrung dieser »Sinnesvergessenheit« beschrieben und gedacht wird? Diese Frage scheint sich zunächst zu erübrigen, da die Beschreibung der Sinnesvergessenheit faktisch schon gegeben wurde. Aber diese faktische Beschreibung kann und soll befragt werden, zu welcher Art »Logik« sie führt. Die hier gemeinte Logik bedeutet so etwas wie die Form des Selbstwissens dieser Beschreibung selbst. Was für Denkkategorien sind die »Fernnähe« und »Höhentiefe«, mit denen die genannte Beschreibung angesetzt hat?

1.

Die Seinskategorien bei Aristoteles

Da der Begriff der »Kategorie« mit einer langen Begriffsgeschichte belastet wird, besteht die Möglichkeit des Missverständnisses, wenn er ohne jegliche Erklärung unmittelbar gebraucht wird. Umgekehrt ist es auch zu erwarten, dass durch Überlegungen zum Wesen der »Kategorie« der Denkhorizont der jeweiligen Kategorie beleuchtet wird. 107 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

Wie bekannt, hat Aristoteles zehn »Kategorien« angegeben: »Jedes ohne Verbindung (symplokê) Gesagte bezeichnet entweder eine Substanz (ousia) oder eine Quantität (poson) oder eine Qualität (poion) oder eine Relation (pros ti) oder ein Wo (pou) oder ein Wann (pote) oder eine Lage (keisthai) oder ein Haben (echein) oder ein Wirken (poiein) oder ein Leiden (paschein).« 143 Der Punkt, um den es im vorliegenden Problemzusammenhang geht, ist das Wort »Verbindung (symplokê)«. Die gemeinte »Verbindung« ist die des Subjektes mit dem Prädikat in einem Urteil. Die Kategorie bei Aristoteles ist das, von dem ohne diese Verbindung, d. h. ohne die Form eines Urteils, die Rede sein kann, aber was in einer Urteilsform von vornherein gebraucht wird. Die zehn von Aristoteles festgehaltenen Kategorien sind, um es im Lehrbuchstil zu sagen, die »Seinskategorien« im Unterschied von den zwölf »Erkenntniskategorien« bei Kant. Wie wiederum bekannt, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft vier Arten der Kategorien, d. h. die »Qualität«, die »Quantität«, die »Relation« und die »Modalität«, angegeben, wobei jede Art vier einzelnen Unterkategorien hat, so dass insgesamt zwölf Kategorien auf Kants »Kategorientafel« stehen. Jedoch ist der Unterschied zwischen den »Seinskategorien« und den »Erkenntniskategorien« nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint, was sich bei einer weiteren Überprüfung ergibt. Zuerst ist zu erörtern, was Aristoteles mit dem Ausdruck meint: »jedes ohne Verbindung (symplokê) Gesagte«. Das »Gesagte« (legomenon) ist nicht das, was ohne das »Sagen« (legein), d. h. unabhängig vom sagenden Subjekt, an sich vorhanden ist. Es muss einen »Logos-charakter« haben. Zwar hat Aristoteles nicht eigens die transzendentale Reflexion bezüglich seiner zehn Kategorien gegeben. Aber dennoch ist es leicht zu sehen, dass diese Kategorien mit der Erkenntnistätigkeit verbunden sind. 144 Aristoteles selber verrät dies, wenn er sagt: »Denn auch wenn man sagt: sein (estin), oder: nicht sein (mê einai), wird damit kein wirkliches Ding (tou pragmatos) bezeichnet, so wenig wie wenn man bloß für sich sagt: seiend (on). Denn dieses selbst (to on) ist an sich nichts. Es bedeutet eine

143 Aristoteles, Categoriae. Recognovit breviqve adnotatione critica instruvxit, L. Minio-Paluello, Oxford 1949, reprinted 1974, 1, b 25. 144 Die folgende Darstellung bezüglich der »Kategorie« deckt sich teilweise mit der Darstellung in meiner früheren Schrift Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik. Zur Idee einer Phänomenologie des Ortes, Freiburg i. Br. 1983, S. 9 f.

108 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Erkenntniskategorie bei Kant

Verbindung (synthesis), und diese Verbindung kann ohne das Verbundene (aneu tôn synkeimenôn) nicht gedacht werden.« 145 Dieser Satz besagt, dass das »Sein« (on, einai), erst indem es »gesagt« wird, als das Sein erkannt wird. Auch eine Stelle aus der aristotelischen Metaphysik sei hier heranzuziehen: »An sich sein aber sagt man von alldem, was durch die Formen der Kategorie bezeichnet wird. Denn diese Formen bezeichnen in so vielfacher Weise, als sie ausgesagt werden, das Sein.« 146 Im Anschluss gibt er die zehn Arten des »Gesagten«, d. h. der Kategorie, an. Das »Sein« und das »Sagen« hängen bei Aristoteles so zusammen, dass das »Sein« im »Sagen des Seins« erschlossen wird, und dieses Sagen enthält die Verbindung von Sein und Logos, auch wenn die Urteilsform noch nicht besteht. Vor jeder bewussten »Verbindung« besteht das »Seinsverständnis«, das die Grundbedingung der Urteilsformen überhaupt ist. Dieses steht im Denkhorizont von Parmenides’ Ausspruch: »Denken und Sein dasselbe«. In der schematischen und gewöhnlichen Unterscheidung der Seinskategorien bei Aristoteles von den »Erkenntniskategorien« bei Kant wird der prinzipiell transzendentale Charakter der aristotelischen Kategorie übersehen. 147

2.

Die Erkenntniskategorie bei Kant

Niemand wird einen Einwand erheben gegen die Ansicht, dass die großen Knotenpunkte der Geschichte der Kategorienlehre bei Kant und Hegel zu finden sind. Es handelt sich um die Kategorienlehre, die jeder Philosophieforscher bestimmt einmal durchgesehen hat.

145 Aristoteles, De Interpretatione, Philosophische Bibliothek, Bd. 8/9, übersetzt, mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, unveränderter Abdruck der Ausgabe Hamburg 1925, 16 b22–25. 146 Ders., Metaphysik, Δ, 1017 a 22–24. Die deutsche Übersetzung nach der Ausgabe: Aristoteles’ Metaphysik, übersetzt und erläutert von Dr. theol. Eug. Rolfes, zweite verbesserte Auflage, Erste Hälfte (Buch I–VII), Bd. 2, Leipzig 1920, S. 99. 147 Zur transzendentalen Wesensnatur der aristotelischen »Kategorie« vgl. den klaren Aufsatz von Hermann Krings, »Transzendentale Erfahrung und kategorialer Gehalt. Versuch zur Herkunft der Kategorien«, in: Philosophisches Jahrbuch, 88. Jhrg., 1. Halbband., S. 120–132.

109 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

Aber es gibt in der Perspektive des vorliegenden Problemzusammenhangs doch einige Punkte, auf die eigens hingewiesen werden sollte. Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft Aristoteles kritisiert, dieser habe kein Kriterium für die Betrachtung der Sache gehabt, »so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Kategorien (Prädikamente) nannte«. 148 Darum hat Kant, sich auf die tradierte »Urteilstafel« stützend, die Kategorien angegeben, die wie gesagt insgesamt zwölf zählen. Aber Hegel hat nicht übersehen, dass Kant selber nicht so gründlich war, da er die »Urteilstafel« vorausgesetzt hat, ohne diese zu begründen. Kant habe, so Hegel, es »sich mit der Auffindung der Kategorien sehr bequem« gemacht. 149 Kant selber sagt zwar: »Diese Einteilung ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen, (welches ebenso viel ist, als das Vermögen zu denken) erzeugt«. 150 Aber in seiner »Deduktion der Kategorien« wurde diese systematische Erzeugung nur in Form der bequemen Anlehnung an die Urteilstafel gemacht. Jedoch ändert diese Kritik nichts daran, dass die »Deduktion der Kategorien« Kants als das Kernstück der Kritik der reinen Vernunft philosophiegeschichtlich gesehen eine epochale Leistung ist. Denn dadurch wurde der Denkhorizont der »transzendentalen Philosophie« eröffnet, als Basis für den danach folgenden Deutschen Idealismus und die Phänomenologie. Die dort aufgezeigte transzendentale Philosophie war, wie jeder Philosophierender sieht, keine inhaltslose formale Logik, da sie ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori, das in der transzendentalen Ästhetik gezeigt wird, zu ihrem Stoff hat und es synthetisiert. Der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft folgend, besteht die transzendentale Logik aus drei Synthesen: Synthesis der Apprehension in der Anschauung, die Synthesis der Reproduktion in der Einbildungskraft, die Synthesis der Rekognition im Begriff. 151 148 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Raymund Schmidt, Philosophische Bibliothek 37 a, Hamburg 1956, A 81, B 107. 149 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, § 42, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 8, S. 117. 150 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 80/81, B 106. 151 A. a. O., A 97 f. In der zweiten Ausgabe, in der die Tätigkeit der »Einbildungskraft« in die des »Verstandes« integriert zu werden scheint, kommt dieses drei-einfache Schema nicht ausdrücklich vor. Aber unsere vorliegende Darstellung dürfte weiterhin so bleiben wie jetzt, solange es um die »dreifachen Synthesen« geht, die als sinnvoller Aspekt gelten können.

110 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die logischen Kategorien bei Hegel

Um einiges zusätzlich zu bemerken, so bedeutet die »Deduktion der Kategorien« als der Kern dieser transzendentalen Logik die Erklärung der Struktur, wie das Mannigfaltige der Sinnlichkeit das Denken affiziert, von der Einbildungskraft synthetisiert wird und diese reine Synthesis (d. h. nicht die empirische Synthesis, sondern diejenige, die a-priori im Denken selbst gemacht wird) die Kategorien (die reinen Verstandesbegriffe) gibt. Dadurch wurde die drei-schichtige »transzendentale Logik« von der Mannigfaltigkeit der Anschauung, der Synthesis dieses Mannigfaltigen und den Kategorien, die dieser Synthesis die Einheit geben, gebildet. So können die Kategorien bei Kant, um es mit der von ihm selber angegebenen Formel zu sagen, als die reinen Verstandesbegriffe bezeichnet werden, »welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen«. 152 Diese Bestimmung gilt wiederum als die neuzeitliche Formel der These von Parmenides, dass das Denken und das Sein dasselbe sei. Sie gilt auch als die Basis des Deutschen Idealismus. Aber von dieser Basis wurde noch gefordert, nicht nur die tradierte Urteilstafel anzuwenden, sondern den Grund dieser Tafel selbst noch zu erläutern, was Hegel sich vorknüpfte.

3

Die logischen Kategorien bei Hegel

Diese Aufgabe erfüllte Hegel in seiner Wissenschaft der Logik, in der er »die Kategorien dem Selbstbewußtsein, als dem subjektiven Ich, zu vindizieren« versuchte, was bereits Fichte in Angriff genommen hatte. 153 Bei Hegel ist die Logik die Selbstentfaltung des »Logischen«, die er in Die Wissenschaft der Logik (die 1. Auflage erschien 1812, die 2. Auflage bzw. Überarbeitung wurde wegen seines Todes unterbrochen) nachvollzieht. Zwar sind die Meinungen darüber, ob der Zenit der Philosophie Hegels in seiner Geschichtsphilosophie, Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie oder in der »Enzyklopädie« zu sehen sei, gespalten. Aber in jedem Fall bildet die Wissenschaft der Logik das logische Gerüst aller dieser Philosophien. Sie geht vom Endpunkt der Phänomenologie des Geistes, dem »absoluten Wissen« aus, um

152 153

A. a. O., A 79, B 105. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 5, S. 59.

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

am Ende den Standpunkt der »absoluten Idee« zu zeigen, deren Entfaltung in der wirklichen Welt die genannte Philosophie ausmachte. Die Wissenschaft der Logik ist die Entwicklung des »Logischen« im hegelschen Sinne, das zugleich die »Seinsweise« dessen ist, was überhaupt ist. Sie ist deshalb im Grunde als »Ontologie« zu bezeichnen, wie Hegel selbst sagt. 154 Diese ontologische Logik gilt als der Höhepunkt der »ersten Philosophie« der abendländischen Metaphysik, da die erste Philosophie der andere Name für die Ontologie ist. Dass sie diese Höhe hat, besagt allerdings, dass sie auch die problematische Seite der »Ontologie« enthält. Hegels Große Logik bietet nämlich keine Kategorie für das menschliche Leben. Zwar werden in der Begriffslogik als dem dritten Teil der Wissenschaft der Logik die Kategorien des »Lebens« entwickelt. Dabei war Hegel selbst sich der Frage bewusst, inwieweit es gerechtfertigt ist, das »Leben« als ein Thema der »Logik« zu behandeln. Er schrieb dazu einige Reflexionen auf. 155 Bei aller Hochschätzung dieses Unterfangens ist aber dennoch zu fragen, ob das »faktische Leben« in der »logischen Idee« erschöpft werden kann. Hegel hat dieses Werk umgearbeitet, aber diese Arbeit hörte unmittelbar vor dem Ort auf, wo die Begriffslogik beginnt, teilweise weil Hegel plötzlich starb. Aber auch wenn er diese Umarbeitung abgeschlossen hätte, würde die Frage nach der Identität und der Differenz von »faktischem Leben« und »der logischen Idee des Lebens« wohl weiterhin bestehen. 156 Das »Leben« hat einen Aspekt, der nicht in der gleichen Weise wie die leblosen Dinge behandelt werden kann. Dieses Problem wird noch gewichtiger bei der Behandlung der Innerlichkeit des Lebens – und somit der menschlichen Existenz. Die ontologische Logik betrifft das, was ist, somit die Dinge überhaupt, nicht aber die menschliche A. a. O., S. 61. A. a. O., S. 46. 156 Zum Problem des »Lebens« in der hegelschen Logik vgl. den Verfasser, »Hegels Anfang der ›Seinslogik‹ : zwischen ›Sein und Nichts‹«, in: Hegels Philosophie des Geistes zwischen endlichem und absolutem Denken. Weltphilosophien im Gespräch, Bd. 14., herausgegeben von Claudia Bickmann, Nordhausen 2016, S. 43–62. Der Aufsatz ist ursprünglich der Vortrag des Verfassers: »Das Problem des ›Lebens‹ in der hegelschen Logik«, Vortrag auf dem XXXIX. Internationalen Hegel-Kongress der Internationalen Hegel-Gesellschaft, Hegel gegen Hegel, Istanbul 3.–6. Oktober 2012, Akatlar Kultur-Zentrum, 5. Oktober 2012, (online veröffentlicht am 15. Dezember 2015, bei der Adresse https://doi.org/10.1515/hgjb-2015–0181). Der Vortrag wurde auch gedruckt in: Ryôsuke Ôhashi, Schnittpunkte. Essays zum ost-westlichen Gespräch, Zweiter Band, Deutsch-Japanische Denkwege, Nordhausen 2014, S. 111–128. 154 155

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Die »Existenzialien« bei Heidegger

»Existenz«. Die erstere stellt die Frage »Was?«, während die letztere mit der Frage »Wer?« untersucht wird. Die Kategorien bezüglich des »Was« bilden die »Ontologie«, in der die menschliche Existenz eher ausgeschlossen als zugänglich gemacht wird. Wenn gesagt wird: »Ein altes Möbel ist im Hause«, so ist dieses »in« die Kategorie für den physikalischen Raum, und das »ist« des Möbels gehört zur ontologischen Kategorie von »Was«. Aber wenn gesagt wird: »Ein alter Mann ist im Hause«, bezeichnet das gemeinte »in« einen existenziellen Lebensraum, und das »ist« eine existenzielle Kategorie von »Wer«. Die Kategorienlehre der hegelschen Logik bildet zwar in der Ontologie die Spitze, aber die Kategorien für das faktische Leben bzw. die Existenz bleiben eine zurückgelassene Aufgabe. Die »Lebensphilosophie«, vertreten von Dilthey, Bergson, James usw., nahm diese Aufgabe in Angriff.

4.

Die »Existenzialien« bei Heidegger

Ohne dies weiter auszuführen, kann wohl gesagt werden, dass diese in der »Lebensphilosophie« vorgelegten Kategorienlehren, vertreten durch die »Lebenskategorien« Diltheys, 157 die Brücke zu den »Existenzialien« bei Heidegger schlagen. Für die vorliegende Betrachtung sind die »Existenzialien« Heideggers als bedeutsamster Vorläufer der »Phänomenkategorien« bzw. der »Weltkategorien« zu skizzieren. Heidegger hat die »Existenzialien« im Zusammenhang mit der »Seinsfrage« in Sein und Zeit entfaltet. »Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen, sind gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Existenzialien. Sie sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen.« 158 Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten der Seinscharaktere. So hat Heidegger in seiner Daseinsanalytik den Begriff »Kategorie« sicherlich bewusst beiseitegelegt. Die »Existenzialien« Heideggers können nicht nur als Weiterentwicklung der »Lebenskategorien« Diltheys, sondern auch als ei157 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 202 f. 158 M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, S. 59.

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

gentliche Bedeutung der »Kategorien der Freiheit« bei Kant in dessen Kritik der praktischen Vernunft verstanden werden. 159 Die »Kategorien der Freiheit« könnten als »Typen« der menschlichen Existenz auch »Kategorien des Willens« genannt werden. In der Tat sagt Kant, dass die »Kategorien der Freiheit« die Willensbestimmungen und somit als die Bestimmungen einer freien Willkür die apriorischen Formen der praktischen Vernunft sind. 160 Als Willensbestimmungen könnten die Kategorien der Freiheit als das aufgefasst werden, dessen transzendentale Gültigkeit im »Schematismus« liegt, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft als den Kern des Erkenntnisvermögens erörtert hat. Aber die von Kant faktisch vorgelegten »Kategorien der Freiheit« haben einen merkwürdigen Halbweg-Charakter. Sie werden zwar wie die »Kategorien der Natur« in vier Arten eingeteilt: Quantität, Qualität, Relation, Modalität. Aber es gibt keine ihnen entsprechende sinnlichen Anschauungen. Denn nach der Erklärung Kants ist der Wille übersinnlich. Zwar werden die »Kategorien der Freiheit« in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen betrachtet, wobei das sittliche Gute nach Kant das übersinnliche Gesetz ist. 161 Aber auch wenn dies anerkannt wird, ist der Ort, in dem dieses Gesetz in concreto verwirklicht wird, die sinnliche Welt. Dann müssten die »Kategorien der Freiheit« irgendwo mit den sinnlichen Charakteren verbunden sein und somit die »Zeitlichkeitscharaktere« haben, wie dieses bei den »Kategorien der Natur« der Fall ist. Das Sinnliche ist durchaus zeitlich, und umgekehrt wird die Zeit ausschließlich mit und in der Sinnlichkeit empfunden bzw. erlebt. So sagt auch Kant im Zusammenhang mit dem Problem des »Gewissens« wie folgt: »In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich nothwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlasen können«. 162 Die physikalische Zeit ist unumkehrbar, und das Gewissen ist einerseits ein Phänomen in dieser physikalischen Zeit, somit ein innerzeitliches Phänomen, aber andererseits 159 Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 66 f. 160 A. a. O., S. 65 f. 161 Das Gesagte ist eine vom Verfasser stammende Paraphrase des kantischen Textes, a. a. O., S. 64–69. 162 A. a. O., S. 98.

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Die »Existenzialien« bei Heidegger

ist es das Vermögen, zu denken, dass es die einst verübte gesetzwidrige Handlung hätte unterlassen können. Der Wille selbst ist als solches Vermögen »übersinnlich«. Aber Kant trat nicht in Wirklichkeit in diesen Bereich der Zeitlichkeitsstruktur des Willens ein. Die »Kategorien der Freiheit« blieben die äußerlichen »Typen« des sittlichen Gesetzes. Heidegger hat in Sein und Zeit das Phänomen des »Gewissens« aufgegriffen, um die Zeitlichkeitsstruktur des »Daseins« zu erhellen, 163 was als die Aufschließung des Bereichs angesehen werden kann, in den Kant eigentlich mit dem Gedanken der »Kategorien der Freiheit« eintreten sollte. Die noch direktere Vorläuferin der »Existenzialien« bei Heidegger ist in der »kategorialen Anschauung« bei Husserl zu finden. 164 Dieser Begriff, den Husserl in der VI. Untersuchung der Logischen Untersuchungen erörtert, kann zunächst formal so festgehalten werden, dass darin die »Kategorie« und die »Anschauung«, die sonst in der Kantischen Kritik der reinen Vernunft dem Verstand und der Sinnlichkeit getrennt zugeschrieben wurden, vereinigt werden. So ergibt sich, dass auch die Kategorie anschaulich ergriffen wird, was Kant zufolge nicht möglich ist. Husserl selber wendete sich später in die Richtung der »transzendentalen Phänomenologie« und legte auf seine Logischen Untersuchungen keinen großen Wert. Auch erwähnte er später die kategoriale Anschauung nicht mehr. Heidegger sah aber in den Logischen Untersuchungen, vor allem in deren Gedanken der »kategorialen Anschauung«, die größere Möglichkeit der Phänomenologie als in der transzendentalen Phänomenologie. Allerdings hat Heidegger die Bedeutung dieser kategorialen Anschauung stark modifiziert. Er fasste sie nicht als die Wirkung des subjektiven Bewusstseins, sondern als die Erschlossenheit des »Seins« auf. 165 Um dies in etwas lockerer WeiVgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA Bd. 2, § 55 – § 57. Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. 2. Bd., Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, HUA XIX, herausgegeben von Ursula Panzer, Den Haag 1984, 2. Abschnitt, 6. Kapitel »Sinnliche und kategoriale Anschauung (vor allem: § 40 – § 48). 165 Heidegger wurde in seinen phänomenologischen Bemühungen auf die »kategoriale Anschauung« Husserls aufmerksam. Vgl. dazu M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (1925), HGA, Bd. 20. Dies bietet einen wichtigen Gesichtspunkt zur Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Phänomenologie Husserls und Heideggers. Dazu vgl. die exakte und ausführliche Erörterung Jirô Watanabes »Kategoriale Anschauung und Seinsverständnis«, in: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tôkyô, Aesthetics, Bd. 15 (1991), S. 15–24. Watanabe 163 164

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

se zu paraphrasieren: Bei einer Aussage: »Dieser runde Tisch hier ist braun, aber der eckige dort ist grau«, wird die Farbe und die Gestalt der Tische durch die sinnliche »Anschauung« und die begriffliche Erkenntnis »Tisch« durch die »Kategorien« des Verstandes aufgegriffen. Die Verbindung dieser zwei Bereiche ist der Tätigkeit des »Schematismus« zuzuschreiben. Aber noch bevor die Anschauung und der Verstand sich betätigen, muss dieser Tisch im »Da« des Seinsverständnisses entdeckt und erschlossen sein. Die Erschlossenheit des Seins des Tisches muss als solches »Da« zuallererst gegeben sein. Heidegger thematisiert dieses »Seinsverständnis«, das in seinen Augen in der abendländischen Metaphysik »vergessen« bleibt. So wollte er in der »kategorialen Anschauung«, die diesseits der Zweigliederung in die sinnliche Anschauung und das verständige Denken liegt, die Vorform des »Seinsverständnisses«, somit des »Daseins« sehen. So gesehen, ist die »kategoriale Anschauung« bei Husserl als die Vorläuferin des »Existenzials« bei Heidegger zu verstehen. Den Terminus »Existenzial« gebraucht Heidegger nach Sein und Zeit nicht mehr. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass Sein und Zeit mit dem zweiten Abschnitt des ersten Teils endet, ohne dass der zweite Teil, oder sogar der vorgesehene dritte Abschnitt des ersten Teils, später publiziert wurde. Damit ist anzunehmen, dass der Denkhorizont der »Existenzialien« für die Weiterführung der »Seinsfrage« eher eine Beschränkung bzw. Blockade war. Der Denkhorizont der Existenzialien ist, wie der Titel des ersten Teils von Sein und Zeit sagt, der »transzendentale Horizont«. Zwar ist die Bedeutung des Wortes »transzendental« bei Kant und Husserl sehr verschieden, 166 aber eines ist bei beiden gemeinsam, nämlich dass damit der Bewusstseinshorizont »Ich« grundlegend bleibt. Indessen besagt das »Dasein«, das in Sein und Zeit zum Thema der existenzialen Analytik wurde, nicht mehr das Bewusstsein des »Ich« als des denkt, es sei nicht zu abwegig, zu sagen, »daß eine der kardinalsten Grundfragen der Husserl und Heidegger gemeinsamen philosophischen Denkweise eben in dieser Thematik der kategorialen Anschauung bestünde« (a. a. O., S. 16.). 166 Etwas grob gesagt, besagt der Begriff »transzendental« bei Kant der Blick auf die »Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« (Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 158, B 197), während er bei Husserl das »konstituierende Bewusstsein« (vgl. Husserl, MS. B II 1, B 1.25 a f.) bedeutet. So weichen die Bestimmungen des Begriffs bei den genannten ziemlich voneinander ab. Aber die beiden Bestimmungen haben dieses gemeinsam, dass die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt nicht außerhalb des Bewusstseins, sondern im Bewusstsein selbst gesehen und das Bewusstsein ohne das Transzendente durchaus auf sich selbst gegründet wird.

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Die »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) und die Weltkategorien« (Mundana)

transzendentalen Subjektes. Es sollte als »In-der-Welt-sein« gegliedert werden. Der Gesichtspunkt »Welt« ersetzt den Gesichtspunkt des »Ich«. Solange man dieses »Dasein« mit den »Existenzialien« begreifen will, bleiben sein Gehalt und seine Tragweite noch vom Horizont der Subjektivität des Ich-Bewusstseins bedingt und die »Seinsfrage« im Grunde eher blockiert.

5.

Die »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) und die Weltkategorien« (Mundana). Anregungen aus der Phänomenologie der neueren Zeit

Bis jetzt wurde ein philosophiegeschichtlicher Überblick über die Kategorienlehre dargelegt, weil die Stelle der bisher dargestellten phänomenologischen Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« sowie die der im Folgenden darzustellenden, die Fernnähe sowie die Höhentiefe umfassenden Kategorien »Phänomenalia« oder »Mundana« dadurch begriffsgeschichtlich kenntlich gemacht werden können. Zuerst sollte im Hinblick auf das oben Dargestellte eines vermieden werden, nämlich den phänomenologischen Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« den Namen »Existenzial« zu geben. Denn sie sind die Kategorien für das, was im Modus der »Sinnesvergessenheit« zum Erscheinen kommt. In Sein und Zeit wird die »Vergessenheit« als ein Verfallsmodus des Daseins aufgefasst. Das Sein im Unterschied vom Seienden »kann so weitgehend verdeckt sein, daß es vergessen wird und die Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt«. 167 Aber die im vorliegenden Buch gemeinte »Vergessenheit« bedeutet die Umwendung des subjektivistisch aufgefassten »Selbst«. Diese Umwendung geschah bei Heidegger erst später in der Weise der sogenannten »Kehre«. Nach »Sein und Zeit« hatte Heidegger das Bedürfnis dieser Entwicklung schon gehabt, was damit zusammenhängt, dass er den Terminus »Existenzial« nicht mehr nutzte. Aus dem oben Gesagten ist zu sehen, dass das terminologische Problem sich mit dem Problem des Denkhorizontes verbindet. So ist einiges von den »Phänomenalia« festzustellen. Sie sind weder eine »Seinskategorie« wie bei Aristoteles noch eine »Erkenntniskategorie« wie bei Kant, aber auch kein »Existenzial« wie bei Heidegger. Dabei wurde das, was Heidegger zum griechisch gedachten »Phänomen« 167

M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, (Hervorhebung des Verfassers), S. 47.

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

erörtert hat, unabhängig von der Problematik des »Existenzials« bei Heidegger prinzipiell beibehalten. Dieses gilt auch für das vorliegende Buch. Das »Phänomen« (phainomenon) nämlich ist nach Heidegger »ein solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.« 168 Diese Bestimmung des »Phänomens« trifft alle Phänomene der »Fernnähe« und der »Höhentiefe«, die überall sind, aber doch nirgends. Hier sei weiterhin auch daran erinnert, dass die Phänomene, die mit den Kategorien der Fernnähe und Höhentiefe beleuchtet werden, die der »Anderen« und des »Selbst« sind und diese zusammen mit der »Welt« den drei-einigen Sachverhalt »das Ich – die Anderen – die Welt« bilden. Auch in der »Daseinsanalytik« Heideggers war die »Welt« ein »Konstitutivum« des Daseins. 169 Die hier gemeinte »Welt« ist weder das physikalische Universum, das man mit dem Radioteleskop beobachtet, noch die Summe der Seienden, auch nicht die Summe der »Regionen« in Politik, Ökonomie, Kultur usw. 170 Sie muss an unserem »Selbst« und an den vom Selbst erfahrenen einzelnen Phänomenen als die »Phänomene der Welt« herausgestellt werden können. Die »Welt« in diesem Sinne ist kein selten zu erfahrendes spezifisches Phänomen, sondern eines, das jedem zugänglich ist, beispielweise wie im alten Wort eines Zen-Meisters: »Der Frühling befindet sich auf dem Pflaumenzweig, der den kalten Schnee trägt«. 171 Der Frühling im Allgemeinen ist nirgendwo. Er erscheint nur an den einzelnen Phänomenen wie an einem Pflaumenzweig im Schnee, der in der Kälte zum Vorschein kommt. Die »Phänomenkategorien« sind Kategorien für jene Phänomene, an denen die »Welt« als solche erEbd. A. a. O., S. 70: »Und wenn ›Welt‹ selbst ein Konstitutivum des Daseins ist, verlangt die begriffliche Ausarbeitung des Weltphänomens eine Einsicht in die Grundstrukturen des Daseins.« 170 Heidegger gibt vier Bedeutung des Begriffs »Welt«: 1. das All des Seienden, 2. Region, 3. das, »worin« ein faktisches Dasein als dieses »lebt«, 4. der ontologisch-existenziale Begriff der Weltlichkeit (a. a. O., S. 87). Die »Welt« in der dritten Bedeutung wird seiner Analytik zugrunde gelegt. 171 Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders philosophieren aus dem Zen, S. 463. Die Übersetzung des zitierten Wortes eines Zen-Meisters stammt vom Verfasser. 168 169

118 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) und die Weltkategorien« (Mundana)

scheint. Da sie in dieser Weise auch die »Welthaftigkeit« (Mundaneität) ausdrücken, können die Phänomenkategorien auch »Weltkategorien« genannt werden. Die beiden sind inhaltlich die gleichen. Erstere sind Kategorien für die einzelnen »Dinge-in-der-Welt«, und letztere für die »Welt«, in der sich diese einzelnen Dinge finden. Die »Weltkategorien« als ein anderer Name für die »Phänomenkategorien« ist auch der Denkhorizont, in dem die »Einzelnen« und die »Welt« im Verhältnis der »Identität« gesehen werden. Ein ausgezeichneter Vorläufer dieser Einsicht findet sich bei Cusanus in seinem oben schon zitierten Wort: »Die Welt ist weder die Sonne noch der Mond, aber dennoch an der Sonne die Sonne und am Mond der Mond«. 172 Hier ist aber nur zu bemerken, dass der Gedanke der »Weltkategorien« auch in der Linie der Philosophie Cusanus’ steht. Beiläufig gesagt, stammt das Adjektiv »mundan« als phänomenologischer Terminus, wie man leicht sieht, direkt aus dem lateinischen »mundus«. Bei Husserl wird dieses Wort »mundan« etwa im gleichen Sinne wie »innerweltlich« oder »welthaft« verwendet. Eugen Fink wurde auf dieses Wort aufmerksam, um es eigens zu problematisieren, 173 und Georg Stenger hat daraus den Terminus »Mundana« entwickelt, mit der so etwas wie die »Weltkategorien« gemeint wird. 174 Die »Welt« im Sinne Stengers ist die im phänomenologischen Sinne verstandene, d. h. das Geschehen des »Hervorgangs der Welt«, und dieses Geschehen vermisst Stenger bei Husserl, der die »Welt« immer in der empirischen Gegebenheit auffasst, so dass nach Stenger die »mundane Phänomenologie« bei Husserl noch nicht zustande kommt. Die »Weltkategorien« bei Stenger sind also wesentlich verwandt mit den »Strukturalia« bei Heinrich Rombach. 175 Was mit dieSiehe Anm. 60. Vgl. Vgl. Eugen Fink (Hrsg.), Husserliana Dokumente, Bd. II/1, Cartesianische Meditationen, Teil I: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, The Hague 1988, S. 146 f., 153 f., 483 f. Georg Stenger hat daraus die Bedeutung der »Weltkategorien« herausgearbeitet. Zur Wortbedeutung des Wortes »mundan« bei Husserl vgl. Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei Edmund Husserl und Eugen Fink, Würzburg 2003. Dort werden der Gedanke Husserls in Cartesianische Meditationen und E. Finks Interpretation ausgehend vom Wort »mundan« betrachtet. Zwar wird das Wort »mundan« weder bei Husserl noch bei Fink als fester Terminus gebraucht, aber van Kerckhoven richtet strategisch den Fokus auf dieses Wort für seine vergleichende Interpretation. 174 Georg Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg / München 2006, S. 653–656. 175 A. a. O., S. 654. 172 173

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

sen »Mundana« bzw. »Weltkategorien« konkret gemeint ist, erörtert Stenger aber nicht. Die im vorliegenden Buch eingeführten Formen der »Fernnähe« und »Höhentiefe« sind konkrete Formen dieser »Weltkategorien«, soweit der Verfasser diese auffasst und anzuwenden bestrebt ist. Auch Bestimmungen, die als entwickelte Formen dieser fundamentalen Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« auftauchten, gelten der Ansicht des Verfassers nach als Zweigformen der Weltkategorien. Zusammengefasst: Die »Fernnähe« und die »Höhentiefe«, die in den vorangegangenen Kapiteln behandelt werden, sind Formen der »Phänomenalia« im Hinblick auf die einzelnen Phänomene und Formen der Mundana oder »Weltkategorien« im Hinblick auf die an diesen Phänomenen erblicke Ganzheit.

6.

Der Denkhorizont »Von der Welt her sehen«

Die wichtigste Sache, um die es für uns bei den Phänomenkategorien bzw. Weltkategorien geht, ist der »Denkhorizont«. Dieser bedeutet zunächst, dass er eine andere Sichtweise als jene der Subjektivität oder des Ich-Bewusstseins ist. Er bedeutet weiterhin, dass man in ihm »von den Dingen her« diese Dinge sieht. D. h., um dieses auf das Stichwort der Phänomenologie »zu den Sachen selbst« zu beziehen, »von den Sachen selbst her zu diesen Sachen kommen«. Wie ist aber eine solche Sichtweise anhand der konkreten Erfahrung zu vollziehen, ohne eine bloße Rhetorik zu bleiben? Ohne solch konkrete Erfahrung wird die Rede von den »Phänomenkategorien« (Phänomenalia) oder den »Weltkategorien« (Mundana) eine bloße Idee bleiben. Einige konkrete Beispiele der Erfahrung wurden bereits im vorigen Kapitel angegeben: »Der Kuchen schmeckt«, »Die Blume duftet«. Bei diesen Ausdrücken ist das Satzsubjekt das jeweilige »Ding« und nicht mein »Ich«. Das »Schmecken«, »Rauschen«, »Duften« sind Phänomenkategorien, die auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung gelten. Die Ausdrücke im Gebiet des Tastsinnes wie »hart«, »sanft«, usw. gehören den Phänomenkategorien, bei denen die sinnlichen Wahrnehmungen sozusagen von den Dingen her verursacht werden. Auf der Ebene des Gesichtssinnes sagt man: »In der Ferne sind Berge zu sehen«. Dies sind eigentlich Ausdrücke im grammatischen Modus des 120 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Der Denkhorizont »Von der Welt her sehen«

»Mediums«. Ausdrücke wie »sound« auf Englisch, »klingen« auf Deutsch, »sonner« auf Französisch usw. weisen ebenfalls darauf hin wie die Wendungen »come into sight« (engl.), »in Sicht kommen« (dt.), »se voir« (frz.) usw. Der gesunde Menschenverstand mag hier sagen: »Die angeführten Ausdrücke sind am Ende doch nur rhetorische. In Wirklichkeit muss es immer ›Ich höre‹, ›Ich rieche‹, ›Ich sehe‹ usw. sein.« Aber diese anscheinend »nüchterne« Ansicht erweist sich als überprüfungsbedürftig. Denn Wahrnehmungen wie »ich höre«, »ich sehe«, »ich taste«, »ich rieche«, »ich schmecke« usw. kommen dann zustande, wenn jeweils gleichzeitig etwas von außen mich affiziert. Im vorigen Kapitel wurde die phänomenologische Beschreibung MerleauPontys zitiert, dass die Sicht »inmitten der Dinge geschieht«. Das »Rätsel der Sicht«, das er erläutern wollte, muss auch an den anderen Empfindungssinnen als dasselbe Rätsel gefunden und erläutert werden können. Auch von Seiten der positivistischen Kognitionstheorie der Gegenwart kann die Ansicht unterstützt werden, dass die »Dinge« das eigentliche Subjekt der Wahrnehmungserfahrung sind. Eine Forschungsarbeit möchte ich besonders hervorheben, nämlich J. J. Gibsons The ecological approach to visual perception. Der von ihm vorgeschlagene Begriff »affordance« besagt einen »Aufforderungscharakter«, um es mit den Wörtern Gibsons zu sagen: »demand character«, »invitation character«, »valence«, usw. D. h.: Die Umgebung fordert den Menschen zur jeweiligen Handlung auf. Der Unterschied zur Gestaltpsychologie, die den statischen Zustand zum Gegenstand der Beobachtung macht, ist, dass dieser »Aufforderungscharakter« der Umgebung immer in der Wirkung der Umgebung auf die Handlung eines Subjektes gesehen wird. Zwei Sätze Gibsons Machen dies deutlich: »An affordance cuts across the dichotomy of subjective-objective and helps us to understand its inadequacy. It is equally a fact of the environment and a fact of behavior. It is both physical and psychical, yet neither.« 176 »The medium, substances, surfaces, objects, places, and other animals have affordances for a given animal. They offer benefit or injury, life or death. This is why they need to be perceived. […] WithJames J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, London 1986, S. 129.

176

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

in limits, the human animal can alter the affordances of the environment, but is still the creature of his or her situation.« 177 Diese »Affordance«-Theorie beleuchtet auch die spekulative Philosophie Kitarô Nishidas von einem Seitenaspekt her. 178 Nishida übte nämlich einst in der »Vorrede« zu seiner Aufsatz-Sammlung Grundprobleme der Philosophie. Fortsetzung. Die dialektische Welt die Selbstkritik an seinem eigenen Aufsatz »Ich und Du«. Dieser Aufsatz gilt als der Zenit der vorangehenden Aufsatz-Sammlung Die Bestimmung des Nichts in der Weise des Selbst-Wissens. Die Selbstkritik lautet: In diesem Aufsatz sei »der Standpunkt, vom individuellen Selbst her die Welt zu sehen, noch nicht erledigt«. 179 Vom individuellen Selbst her die Welt sehen heißt immer, dass »ich« mit dem Subjekt-Objekt-Schema die jeweilige Sache als ein Objekt sehe. Die von diesem Schema befreite Sichtweise könnte mit dem Ausdruck »Von der Welt her« formuliert werden. 180 Diese Sichtweise besagt, dass der Akt des Sehens samt dem sehenden Subjekt gesehen wird, was eigentlich auch mit der von Aristoteles geprägten und von Hegel sowie von Schelling übernommenen Formel »noêsis noêseôs« 181 ausgesagt wird. Wie bereits erwähnt, ist »noêsis noêseôs« auch in den phänomenologischen Beschreibungsweisen Husserls, Heideggers, Merleau-Pontys usw. je enthalten, wie man bei der aufmerksamen Lektüre herausfinden kann. Von der Welt her die Welt sehen bedeutet, das »Welten der Welt« so zu beschreiben, wie es geschieht. Da diese Formulierung unter Umständen als mystifizierend genommen werden mag, ist die Sache versuchsweise platt umzuformulieren mit der allgemeinen Aufforderung für das Formulieren von Nachrichten: »Über etwas so berichten, wie es ist.« Man wird sagen, dass so was streng genommen unmöglich ist. Denn die Nachrichtensprecher und der Rundfunk, dem sie angehören, sprechen meistens in der Perspektive einer gewisA. a. O., S. 143. Der Verfasser hat darauf hingewiesen, dass Hajime Tanabes Begriff »Spezies« in seiner »Logik der Spezies« teilweise mit Hilfe der »affordance« verständlich gemacht werden kann. Vgl. den Verfasser, Einführung in die Phänomenologie der Compassion, Tôkyô 1998, (jap.), S. 52 ff. 179 K. Nishida, »Grundprobleme der Philosophie (Die dialektische Welt)« (jap.), Vorrede, in: Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 7, S. 210, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 6, S. 164. 180 Zum Denkhorizont »Von der Welt her sehen« vgl. Anm. 139 im Kap. 3 des vorliegenden Teils. 181 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII, 1074 b 21 f. Zur Stelle Hegels vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, Werke in 20 Bänden, Bd. 10, S. 395. 177 178

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Der Denkhorizont »Von der Welt her sehen«

sen Wertvorstellungen und sind insofern subjektiv. Die sogenannten »historischen Tatsachen« sind das, was Historiker vermittels ihres Auges erzählt haben. Wie die »narrative theory« behauptet, ist das Erzählte immer das, was der Erzähler gesehen und gehört hat. Es ist die Äußerung seiner Erfahrung. 182 Aber auch in diesem Fall geschieht diese Äußerung deshalb, weil die Erzähler etwas sehen und hören, das sie affiziert. Dann muss es vor dem Akt der Erzählung die reine unmittelbare Erfahrung geben, dass der Nachrichtensprecher oder der Historiker dieses etwas »hört«, das sich hören lässt. Das ist der Sachverhalt, der so selbstverständlich ist, dass sich die Sprecher oder die Historiker sicherlich meistens dieses Sachverhaltes nicht bewusst sind. 183 Als die reine Erfahrung des Hörens bleibt er im Akt der Beschreibung des Gehörten als die noetische Achse dieses Aktes selbst, der nicht noematisiert werden kann, somit im Vollzug des Beschreibungsaktes »vergessen« bleibt. 184 Der Denkhorizont der »Phänomenkategorien« oder der »Weltkategorien« ist der Horizont dieser direkten Erfahrung.

182 Zur »narrative theory« vgl. Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of History, Cambridge 1966. Danto legt die Strukturanalyse der »narrative sentence« vor, mit der die historischen Ereignisse erzählt werden. Was dabei erzählt wird, sind nicht die Phänomene selbst, sondern »phenomena as covered by a description« (a. a. O., S. 218). Damit wird die fundamentale Stellung der sprachanalytischen Geschichtstheorie gemeint, d. h., dass die Intuition, die empathischen Verständnisse, die Nacherlebnisse usw. zurückgewiesen werden, da diese alle »dubious« sind (a. a. O., S. 285), und nur die beschreibende Sprache sowie die Sätze der Erzählung thematisiert werden. Vgl. dazu auch Anm. 184. 183 So hat der Verfasser in Geschichte als das Gehörte. Betrachtung zum Geschichtssinn (jap.) versucht, die Bedeutung des »Hörens« im Zusammenhang mit dem Akt des »Erzählens« in der Geschichtsbeschreibung zu thematisieren. Der dort gemeinte »Geschichtssinn« ist ein Ausdruck für »Pathos«, wie es im vorliegenden Buch gemeint wird, und das 6. Kapitel im zweiten Teil »Der Gemeinsinn und die Compassion« sowie der dritte Teil »Geschichtszeit und die Compassion« gelten praktisch als eine Vorbereitung für das vorliegende Buch. Allerdings sind seither bereits mehr als zehn Jahre vergangen. 184 Das Wort »cover« in dem in der obigen Anm. 182 zitierten Wort »phenomena as covered by a description« kann im vorliegenden Kontext als »verdecken« übersetzt werden. Was bei Danto in der Beschreibung verdeckt wird, ist etwa wie das Ding an sich bei Kant, das hinter der Beschreibung der Phänomene zurückbleibt. Aber das muss sich als das, was den Beschreibenden ständig affiziert, in der direkten Erfahrung des Beschreibenden ständig anmelden.

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

7.

Der Denkhorizont »Von den Anderen her sehen«

Gewöhnlich wird jeder/jede zunächst meinen, es sei mein Ich, das die Welt sieht. Diese Meinung steht mit dem gesunden Menschenverstand im Einklang. Auch philosophisch wird diese Meinung beispielsweise von Kant bestätigt, wenn dieser sagt, das »Ich denke« müsse alle meine Vorstellungen begleiten. 185 Aber zuerst erhebt sich die Frage, was dieses »Ich« sei. Mit dieser Frage öffnet sich eine Problemdimension, die vom gesunden Menschenverstand verdeckt worden war. Zumindest ist es nicht die einfache und einzelne Substanz namens »Seele«, wie oft angenommen. Kant hat diese Ansicht als den »Paralogismus« zurückgewiesen. 186 Er nennt diese Vorstellung den »transzendentalen Schein«, der gleichwohl nicht aufhört, auch wenn man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat. 187 Kant hat eingesehen, dass das substanziell vorgestellte »Ich« ein Schein ist, und bereits diese Einsicht sollte den gesunden Menschenverstand erschüttern. Ob aber Kant selbst die tiefe Wurzel des Ich durchschaut hat, ist eine Frage, die in der ihm nachfolgenden Philosophiegeschichte nicht als erledigt angesehen wird. Schon Hegel wies auf den »Mangel« hin, »den diese barbarisch zu nennenden Vorstellungen darein setzen, dass bei dem Denken des Ich dasselbe als Subjekt nicht weggelassen werden könne«. 188 Dass das Ich sich des Ich schon bedienen müsse, um vom Ich zu urteilen, nannte Hegel »eine Unbequemlichkeit und etwas Fehlerhaftes«, da dadurch ein Zirkel entsteht. 189 Bei Hegel wird dieses »Ich« zur absoluten Idee erhoben, worin die Aufhebung des Fichte’schen oder Schelling’schen Gedankens des »absoluten Ich« zu sehen ist. Aber in diesen Versuchen wurde der Denkhorizont »Von der Welt her die Welt sehen« bisher nicht geöffnet. Auch in den Versuchen Husserls, der anders als im spekulativen Idealismus, transzendental-phänomenologisch das »Ich« schürfte, blieb dieses Ich prinzipiell als der unbewegte Ausgangspunkt. Der I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131. Vgl. A. a. O. den Abschnitt »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«, A 338, B 396 – A 405, B 432. 187 A. a. O., A 297, B 353. 188 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 6, S. 490/491. 189 Ebd. 185 186

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Der Denkhorizont »Von den Anderen her sehen«

hier grob zusammengefasste Überblick soll übrigens eigentlich durch die exakten Fallstudien begründet werden, aber da der Verfasser bisher einige Fallstudien publiziert hat, 190 darf er sich erlauben, hier nur die Schlussthese vorzulegen. Dass im Denkhorizont als dessen Mitte das »Ich« besteht, ist zunächst naturhaft und klar. Das »Ich denke« ist ein Aspekt des »Ich lebe«. Der blinde Instinkt des Ich zum Leben ist die Wurzel der natürlichen Energie des Lebens. Allerdings muss derjenige, der sich in einer Gesellschaft findet, wissen, dass er nur im Miteinander mit den Anderen leben kann und man über dieses Miteinander nicht allein entscheiden kann. Die dabei gemeinten Anderen besagen nicht nur die anderen Menschen, sondern auch die anderen Dinge. Der Horizont dieses Miteinanders mit den Anderen geht über den Denkhorizont »Ich denke« hinaus. Wenn das Hinausgehen über diesen Denkhorizont wiederum im Gesichtsort des »Ich denke« begriffen wird, ist es ein Rückgang zum Ich, was durchaus geschehen kann. Aber wenn die Notwendigkeit dieses Hinausgehens bemerkt wird, so wird die Umkehrung des Gesichtsortes »Ich denke« beginnen, und das »Aus dem Gesichtsort der Anderen denken« oder das »An der Stelle der Anderen denken« muss zustande kommen. Dies bedeutet auch, dass das »Ich« statt ein »Subjekt« zu sein ein »Weltmensch« bzw. »homo mundanus« wird. 191 Die genannte Umwendung des Denkhorizontes ist keine seltene und spezifische Erfahrung, sondern die Erfahrung, die im alltäglichen Geschehen von »die Anderen sehen« je und je mitgeschieht. Das Sehen und Treffen der »Anderen« heißt immer, dass die einander Sehenden aus sich heraustreten und »ekstatisch« werden. In der alltäglichen Begegnung mit den Anderen bin ich aus meinem Ich her190 Hier ist auf drei Publikationen des Verfassers hinzuweisen: Wohin ist das Absolute gegangen? – Der deutsche Idealismus und die gegenwärtige Welt (jap.), Kyôto 1999; Einführung in den deutschen Idealismus, (jap.), Kyôto 2006, Essays zum ostwestlichen Gespräch. Zweiter Band: Deutsch-Japanische Denkwege, Nordhausen 2014. 191 Zum Begriff »homo mundanus« vgl. Wolfgang Welsch, Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist 2012. In demselben Jahr wie diese Schrift publizierte Welsch das Buch Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, Nördlingen 2012, und ein Jahr vorher ein anderes Buch Immer nur der Mensch?, Nördlingen 2011. Ich stimme Welsch zu, aber mit einer Bemerkung, dass zwar die »anthropische Denkform«, so Welsch, in der Moderne in den Vordergrund trat, aber sie sollte weiterhin auch an der Wurzel der Menschennatur selbst erforscht werden.

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Phänomenalia (Phänomenkategorien) und Mundana (Weltkategorien)

ausgetreten. In ihr spiegelt die eine Seite in sich die andere, und in diesem Sinne wird die eine in die andere versetzt. (Im Japanischen haben die Wörter »spiegeln« und »versetzen« dieselbe Aussprache »utsuru« bzw. »utsusu«.) Da bestehen die »Nähe« und die »Ferne« zwischen den beiden Seiten gleichzeitig. Indem Fernnähe zwischen den beiden zustande kommt, wird auch die »Höhentiefe« der beiden zum Ausdruck kommen. Dieser Sachverhalt könnte mit dem phänomenologischen, bei Merleau-Ponty auf der Wahrnehmungsebene oft genutzten Terminus »chiasme« einigermaßen übersetzt werden. Diese ursprünglich rhetorische Form der Austauschbarkeit der Antithesen kommt aus der Form des griechischen Buchstaben »X« und bedeutet das überschneidende Zusammengehören der sonst als Gegensätze aufgefassten zwei Dinge wie Subjekt und Objekt, Geist und Körper usw. Wird dabei, wie oft, ein eher äußerliches Verhältnis verstanden, so kann auch der buddhistische Begriff »ego« (回互) 192 herangezogen werden, der auf der Ebene des Wesensinneren das genannte Zusammengehören der einander Begegnenden bedeutet. 193 Die »Phänomenkategorien« oder die »Weltkategorien« bilden jedenfalls den Denkhorizont für die Erfahrung, die in der alltäglichen »Begegnung mit den Anderen« je und je faktisch gemacht wird. Der bewusste Vollzug dieser Formulierung ist der Vollzug der Umwendung des Denkhorizontes, wobei diese Umwendung wohl die vom Denken selbst beanspruchte Wendung ist. Das Denken beansprucht wohl von sich, zu sich selbst zurückzudenken. Das Wort »Kategorie« stammt ursprünglich aus dem griechischen Verb »katêgoreô«, und bedeutet »schelten«, »tadeln«, »anklagen« usw. Das Substantiv »katêgoria« bedeutet eigentlich die An192 Zu diesem Problem vgl. K. Nishitani, »Vom Wesen der Begegnung«, in: Ryôsuke Ohashi (Hrsg.), Die Philosophie der Kyôto-Schule. Texte und Einführung, dritte Auflage, Freiburg i. Br. 2014, S. 242–257. Ausgehend von einem »Mondô« (Frage – Antwort) zwischen zwei Zen-Meistern in China betrachtet Nishitani das Wesen der Begegnung, in der es im Grunde um die absolute Freiheit in der absoluten Abhängigkeit von der anderen Seite geht. Vgl. Sekitô Kisen (700–790), »Sandôkai« (参同契), (chin.), in: Zen Goroku (jap.), herausgegeben von Seizan Yanagida, Tôkyô 1974, S. 467–469. 193 Es ist K. Nishitani, der zum ersten Mal das buddhistische Wort »ego« (回互) als einen philosophischen Terminus verwendet hat. Zum Versuch, die Beziehung zwischen mir und den Anderen mit diesem Wort »ego« (回互) aufzufassen, vgl. den Verfasser, Einführung in die Phänomenologie der Compassion, (jap.), Tôkyô 1998, S. 89– 110.

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Der Denkhorizont »Von den Anderen her sehen«

klage wie im Gericht, die Beschuldigung oder den Vorwurf. Es handelt sich um das Anklagen, das dadurch gemacht wird, dass man den Sachverhalt so beschreibt, dass man ihn von sich her sich zeigen lässt. In diesem Sinne hat die »katêgoria« den Anspruch, die Argumentation in eine bestimmte Richtung zu orientieren. Indem der Kläger wie auch der Angeklagte versucht, dieser Aussage der Sache selbst zuzuhören und für ihre eigene Rede sich anzueignen, entsteht die Streitrede der beiden im Gericht. Aristoteles hat diese »katêgoria« als Terminus für die Prädikatsbestimmung verwendet. Diese ist der Anspruch der Sache selbst, den Aussagenden zu dem gehen zu lassen, was eigentlich ausgesagt werden muss. Sie ist die Zwangskraft der Sache selbst, die den Aussagenden zu seinem Denken zwingt und »heißt«. Die Frage: »Was heißt Denken?« thematisierte einst Heidegger in seinen Vorlesungen Anfang der fünfziger Jahre. Er hat das Wort »heißen« in der Frage »Was heißt Denken« mit der Wortbedeutung »befehlen« genutzt. Was das Denken heißt, ist dementsprechend das, was das Denken zu dessen Akt des Denkens befiehlt und bewegt. »Heißen« und »katêgoreô« sind beide das Zwingen, das Denken in eine bestimmte Richtung gehen zu lassen. Die »Kategorie« ist das Befehlende, so denken zu lassen, wie die Dinge von sich her ansprechen. 194 Die »Phänomenkategorien« und die »Weltkategorien« können als die »Kategorien« in diesem ursprünglichen Sinne verstanden werden.

194 In dieser Vorlesung erwähnt Heidegger zwar das Problem der »Kategorie« nicht, und der Name Aristoteles taucht im thematischen Zusammenhang nicht auf. Aber es gibt einen Gedankenfluss in den letzten Stunden der Vorlesung, der zu dieser Interpretation einlädt: Der Gedanke des »Gefüges« von »legein« und »noein«. Dieses Gefüge steht nahe zu dem von »legomenon« und »nous«, somit zum Problem der »Kategorie«. Vgl., Was heißt Denken?, HGA, Bd. 8, Frankfurt am Main 2002, ab achter Stunde, S. 197 ff.

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Fünftes Kapitel: Der Welt-Ort

Indem die in verschiedener Weise beschriebenen Phänomene der »Fernnähe« und »Höhentiefe« in Denkkategorien zu begreifen versucht wurden, tauchten die »Phänomenkategorien« bzw. die »Weltkategorien« für uns auf. Es wurde auch gesehen, dass ein bewusster Vollzug dieser Kategorien eine Umwendung des Denkhorizontes bedeutet. Es ist hier darauf zu achten, dass, wenn die Anderen in diesen Denkkategorien begriffen werden, sie nur in der Weise der Zerfahrenheit gesehen werden. Denn die in der Zeit und im Raum erfahrenen Phänomene, somit deren Erfahrungen selbst, sind wesentlich unabgeschlossen. Sie erstrecken sich in die endlos weite Vergangenheit und Zukunft. So weit man auch die Beschreibung dieser Phänomene erweitern mag, kann man die Ganzheit dieser mannigfaltigen Phänomene nicht greifen. Die Beschreibung lässt sich nicht abschließen. Jedoch muss es etwas Einfaches geben, das diese diffundierenden Phänomene durchzieht, etwa wie das Naturgesetz in den Naturphänomenen. Bei den Phänomenen der Fernnähe und Höhentiefe muss es auch solch Einfaches geben, etwa wie den Ort, an dem diese Phänomene geschehen. Die augustinische Zeitlehre kann hier herangezogen werden. Augustinus kam zur Einsicht, dass die »Vergangenheit« in der Erinnerung der Seele, die »Gegenwart« in der Anschauung der Seele, die »Zukunft« in der Erwartung der Seele zu finden ist. Aber diese Einsicht allein kann nur bedeuten, dass die »Zeit« als die »distentio animi« aufgefasst wird, womit das von dieser Seelenzeit bestimmte Leben von mir in der bloßen Zerfahrenheit der »distentio animi« erlebt wird. Denn meine Seele erstreckt sich in die endlos weite Vergangenheit und Zukunft, ohne sich in sich selbst zusammenzuraffen (colligere). So suchte Augustinus nach der Seinsweise, nicht ein »Zerfahrener« (distentus), sondern ein »Ausgespannter« (extentus) in der Weise der innerlich gespannten Sammlung (intentio) zu sein. Er fand diese Seinsweise im Beten ans »Eine«, an Gott. 195 128 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Der »Ort«, in dem das Phänomen »Welt« besteht

In welcher Seinsweise und inwieweit besteht der einfältige »Ort«, an dem die mannigfaltigen, wesentlich unabgeschlossenen Geschehnisse von »Fernnähe« und »Höhentiefe« erfahren werden, wobei diese Geschehnisse in »Phänomenkategorien« bzw. »Weltkategorien« erscheinen? Die »Grundlegung der Phänomenologie der Compassion« wird dann abgeschlossen sein, wenn dieser »Ort« aufgedeckt wurde. Um die Darstellung im Voraus zu erleichtern, ist ein Gedankengang vorwegzunehmen: Das genannte ein-faltige Einfache ist terminologisch mit »Welt-Ort« zu bezeichnen.

1.

Der »Ort«, in dem das Phänomen »Welt« besteht

Es kommt auf die im Wort »Ort« implizierten Bedeutungen an. Das wird zuerst mit einem japanischen Wort »sho« (処) gedacht, das sowohl das Substantiv »Ort« als auch das Verb »orten«, »orthaft bestimmen« bedeutet. Diese verbale Wendung bedeutet im Japanischen auch: »eine Maßnahme treffen«, »(die Strafe) vollstrecken« usw. 196 195 Vgl. Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München 1960, S. 664, 666. Die Übersetzung wird hier vom Verfasser etwas geändert. Eine andere Ausgabe ist zwar dem Verfasser bekannt: Augustinus, Was ist Zeit?: lateinisch/deutsch, eingeleitet, übers. und mit Anm. versehen von Norbert Fischer, Hamburg 2000 (Philosophische Bibliothek, Bd. 534). Aber in der Übersetzung des Kernstücks »non distentus, sed ›extentus‹, non secundem distentione, sed secundem intentione sequor …« bleibt das entscheidende Wort »sed secundem intentione sequor« unübersetzt. Darum wurde hier die erstere Ausgabe vorgezogen. 196 Der Verfasser hat diese Ansicht von Keiji Nishitani übernommen. In seinem späten Aufsatz »Die Leere und das ›Soku‹« (jap.: »Kû to soku«)«, jetzt aufgenommen im Bd. 13 der Gesammelten Schriften von Keiji Nishitani (jap: Nishitani Keiji chosakushû), Tôkyô 1987, S. 136 ff., kommt das Wort »kyokusho« vor. Der Aufsatz erschien zuerst im Bd. 5, Religionsabhandlung, Wahrheit, Wert (jap.: Shûkyô-ron, shinri, kachi) der Serie Die buddhistischen Philosopheme (jap.: »Bukkyô-shisô«), 1982, aber die genaue Entstehungszeit ist unklar. In einem anderen, ebenfalls späten Aufsatz Nishitanis, »Prajna und Vernunft« (jap.: »Hannya to risei«), in: Gesammelte Schriften Keiji Nishitanis (jap. Nishitani Keiji Chosaku-shû), Bd. 13, Tôkyô 1987, S. 31–95, wird aber durchgehend das Schriftzeichen »処« (»sho«) statt »所« (»sho«) benutzt, und zwar wegen der Bedeutung des ersteren, die besagt, dass die gewisse Aktivität oder die Tätigkeit des in-Ordnung-Bringens gemeint wird (S. 73, 91, 94 usw.). Nishitani hat einst persönlich dem Verfasser (nach der privaten Aufzeichnung des Verfassers beim Treffen am 24. Jan. 1982) die im Wort »処« (»sho«) implizierten Bedeutungen erklärt: Dieses Wort ist zunächst gleichbedeutend mit dem »Ort« (»場«), oder

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Der Welt-Ort

Der Ort namens »sho« (処) heißt also die Geschehensstätte, in der und als die die jeweilige »Welt« statt-findet und sich bestimmt. Er ist der »sich bestimmende Welt-Ort«. Dieser Ausdruck bedeutet im Grunde dasselbe mit der Formel »Selbstbestimmung des Ortes«, die Kitarô Nishida als Grundwort seiner Philosophie genutzt und entwickelt hat. 197 Prinzipiell dieselbe Denkrichtung kann auch mit dem deutschen Wort »Ort« eingesehen werden, wenn dieses mit der »Ortung« verbunden wird. Orten heißt zum Beispiel, den Ort bestimmen, an dem sich ein Flugzeug befindet. Dabei wird diese »Ortung« zwar einerseits durch die Beobachtung des Piloten vorgenommen, aber andererseits dadurch ermöglicht, dass der zu bestimmende Ort als »phainomenon« vor dem Piloten erscheint, sich dem Piloten zeigt, und in diesem Sinne sich bestimmt. Das Geschehen der »Ortung«, zu dem auch der Pilot gehört, ist als der »sich bestimmende Ort« zu bezeichnen. So ist der Ort, an dem das Phänomen »Welt« je besteht, der »Welt-Ort« zu nennen. Nishidas Gedanke des »sich bestimmenden Ortes« und Nishitanis »Ort« (»sho«, 処) sind die Vorgänger für den vorliegenden Gedanken des »Welt-Ortes«. Aber dieser Gedanke hat außer diesen beiden auch weitere Vorgänger in der Geistesgeschichte. Der in diesem Kapitel zuerst aufzunehmende Vorläufer ist der Gedanke der »SeinZeit« beim Zen-Meister Dôgen, im Weiteren der »Augenblick« bei Kierkegaard. In einem philosophischen Versuch ist es nicht nur erlaubt, sondern auch erforderlich, durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken der Vorgänger den eigenen vorzulegen, wodurch der neu vorgelegte Gedanke »verortet« wird.

dem »Platz« (»所«), aber es wird auch in den verbalen Wendungen genutzt wie »処す る« (ordnungsgemäß Platz geben), »処理する« (in Ordnung bringen), »処置する« (Maßnahme treffen), »処遇する« (jemandem einen Platz geben). Das Wort »kyokusho« (»局所«) wird bei Nishitai nur im Aufsatz »Die Leere und das ›Soku‹« (jap.) verwendet und nicht im Aufsatz »Prajna und Vernunft« (jap.). So ist das im vorliegenden Kapitel verwendete Wort »kyokusho« (»局処«) zwar vom Verfasser erfunden, aber im Sinne Nishitanis, der gegen diese Wendung wohl keinen Einwand erheben würde. 197 Man darf sogar sagen, dass Nishidas Philosophie die Philosophie des »Ortes« ist, die er zuerst mit dem Aufsatz »Der Ort« (jap., 1925) vorlegte und bis kurz vor seinem Tod (1945) logisch, geschichtsphilosophisch und religionsphilosophisch zu entwickeln versuchte. Dazu vgl. den Verfasser, Die Welt der Philosophie Nishidas (jap.), Tôkyô 1995, und Die Philosophie der Kyôto-Schule, S. 51–56: Einleitung zum Kapitel Kitarô Nishida.

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Der »Welt-Ort« und die »Sein-Zeit« bei Dôgen

2.

Der »Welt-Ort« und die »Sein-Zeit« bei Dôgen

Man mag meinen, dass bei der Bearbeitung des Begriffs »Welt-Ort« der erste heranzuziehende Ansatzpunkt Aristoteles’ Physik sein sollte, und nicht Dôgen oder Kierkegaard, die, wenn sie überhaupt berücksichtigt werden sollten, erst anschließend herangezogen zu werden brauchen. Denn Aristoteles hat beides, die Zeit und den Ort, schon in der griechischen Antike thematisch behandelt. Aber trotz aller Behutsamkeit und Umsichtigkeit in der Physik hat Aristoteles diese zwei Sachen nicht als eine, sondern als voneinander getrennte Sachen behandelt. Etwas genauer gesagt, wurde in Kap. 1 bis 5 des IV. Bandes der Physik der »Ort«, und in Kap. 10 bis 14 die »Zeit« thematisiert. Wenn die gesamte Darstellung der Physik systematisch konstituiert worden wäre, wäre auch der Zusammenhang der zwei Sachen aufgetaucht, was aber nicht geschah, da die Systematik, auch wenn sie dort teilweise vorhanden ist, nicht im strengen Sinne des Wortes angestrebt wurde. In diesem Zusammenhang bleibt es verwunderlich, dass Bergson, der die aristotelische Ortslehre in diesem Werk ausführlich betrachtete und später selber seine eigene Zeitlehre entwickelte, kein Wort äußerte, dass die aristotelische Ortslehre keinen Gedanken über die Zeit enthält. 198 Wegen der Behandlungsweise von »Zeit« und »Ort« wird die Physik in der vorliegenden Betrachtung nicht als eine Vorgängerin im engeren Sinne betrachtet. Die hier heranzuziehende Vorgängerin ist der Gedanke der »Sein-Zeit« in der Schrift des Zen-Meisters Dôgen, Shôbôgenzô.

(a) Der Unterschied zwischen der religiösen Predigt und dem philosophischen Text Der Leser wird sich zunächst von diesem Ansatz nicht überzeugen lassen. Denn die Schrift Dôgens ist eine religiöse Predigt, die, wie am Ende dieses Textes geschrieben wird, »den Schülern vorgetragen« 198 Die Dissertation Henri Bergsons Quid Aristoteles de loco senserit. Thesim facultati Litterarum Parisiensi proponebat (französische Übersetzung: »L’idée de lieu chez Aristote«, in: Henri Bergson, Melanges, Presses Universitaires de France, Paris 1972, S. 1–57) ist die immanente Interpretation der Ortslehre, die Aristoteles im Bd. 4 der Physik, Kap. 1–5 erörtert. Sie zeigt zwar schon klar die philosophische Gabe Bergsons, aber wenn man an seine spätere Zeitlehre denkt, ist augenfällig, dass die Frage, wie sich der »Ort« und die »Zeit« zueinander verhalten, nicht gestellt wird.

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wurde. Zwischen dem philosophischen Text und der religiösen Predigt liegt ein großer Charakterunterschied. 199 Beim ersteren gibt es, um mit Hegel zu sagen, »weder Vorgänger noch Nachgänger«. 200 Der Text muss, im Unterschied zu der religiösen »Lehre«, wesentlich immer offen gegenüber einer Kritik bleiben und hat keine mit Autorität von vornherein bestimmende Prämisse. Jeder/jede kann gegenüber dem Ergebnis sowie der Methode der Untersuchung offen bleiben und in der Auseinandersetzung mit dieser prinzipiell gleichberechtigt mit dem Autor sein, auch wenn die Auseinandersetzung zwischen Lehrer und Schüler geschieht. Dem gegenüber ist die religiöse Predigt im Fall des Christentums das vom Kleriker bzw. Pfarrer vermittelte Wort Gottes, und im Fall des Buddhismus das Wort der absoluten Wahrheit Buddhas. Vom Zuhörer wird einfach der Glauben an die Wahrhaftigkeit des Gesagten verlangt. Die Predigt im Zen-Buddhismus soll weiterhin von der »Übung« bewahrheitet bzw. bezeugt werden, so dass die Wahrheit »außerhalb der geschriebenen Lehre« gesehen wird. Das Geschriebene ist der »Finger, der auf den Mond zeigt«, und nicht der Mond selbst. Im philosophischen Text dagegen ist das Geschriebene das letzte Kriterium. Wenn dennoch die Schrift Dôgens als Vorgängerin für die philosophische Reflexion genommen wird, so gibt es dafür zwei Gründe. Der eine ist, dass es sich im vorliegenden Buch nicht um die »Zeit« handelt, die in der Physik als der Parameter »t« bei der Messung eingeführt wird, 201 sondern um die vom Fragenden selber gelebte Zeit, die gerade bei der Ansicht Dôgens über die »Sein-Zeit« der Fall ist. Seine Ansicht ist keine Spekulation, sondern der Ausdruck des Erfahrungsinhaltes, der in der »Übung« mit Leib und Seele eröffnet und belegt wird. Der zweite Grund liegt darin, dass Dôgen die »Zeit«

199 Die folgende Darstellung ist eine Weiterbearbeitung dessen, was der Verfasser bereits erörtert hat in seinem Buch Geschichte als das Gehörte. Betrachtungen zum Geschichtssinn (jap.), Kap. 7, S. 154 ff.: »Die Leib-Seele als Zeit«. Mit der dort behandelten »Leib-Seele als Zeit« wurde eine philosophische Beschreibung der »Sein-Zeit« bei Dôgen versucht. 200 G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 2, S. 17. 201 Der Quantenphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker sagt, dass die in der Physik betrachtete Zeit immer der Parameter »t« in der mathematischen Formel ist und was dieser Parameter selbst sei nicht die Frage der Physik ist. Vgl. C. F. von Weizsäcker, Das Problem der Zeit als philosophisches Problem, in: Erkenntnis und Glaube, Bd. 28, Berlin 1967, S. 23.

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und den »Raum« mit dem Wort »Sein-Zeit« als ein und dieselbe Sache auffasst. Aber auch wenn Dôgens »Sein-Zeit« als eine Predigt einen solchen Charakter hat, kann sie immer noch nicht einfach als ein »philosophischer« Text genommen werden. Gerade indem sie dieselbe Sache behandelt, mag sie die Tragweite des philosophischen Denkens in Frage stellen. Ein solcher Prüfstein kann für das philosophische Denken als das voraussetzungslose und nach außen offene Gebiet eher von wesentlich positiver Bedeutung sein. Wenn es sich so verhält, so kann als der dritte Grund für das Heranziehen des Textes Dôgens gesagt werden, dass dieser Text ein Prüfstein für das philosophische Denken sein kann.

(b) Die »Sein-Zeit« bei Dôgen Zuerst sind die bekannten Worte am Anfang des Bandes »Sein-Zeit« zu zitieren. Ein alter Buddha sagt: Zu einer Zeit (uji) auf dem hohen, hohen Berggipfel stehen, Zu einer Zeit (uji) auf dem tiefen, tiefen Meeresgrund gehen, Zu einer Zeit (uji) der dreiköpfig-achtarmige [der Schutzgott], Zu einer Zeit (uji) der bald sechzehn Fuß und bald acht Fuß [große Buddha]. Zu einer Zeit (uji) Stab und Wedel, Zu einer Zeit (uji) Pfeiler und Gartenlaterne. Zu einer Zeit (uji) Hinz und Kunz, Zu einer Zeit (uji) große Erde und leerer Himmel. 202 Das Wort am Anfang »ein alter Buddha« bedeutet den Zen-Meister Yakusan (750–834) in der chinesischen Tang-Zeit. Die ersten zwei Zeilen werden historisch diesem Zen-Meister zugeschrieben. Diese Zeilen sowohl wie auch die danach folgenden beginnen alle mit dem Wort »Zu einer Zeit«. Dôgen lässt diesen Ausdruck in seiner Darstellung als Substantiv lesen: »Sein-Zeit«. Diese zunächst als grammatisch gewaltsam aussehende Wendung ist aber im Hinblick auf die Sache selbst doch zu rechtfertigen. 202 Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders philosophieren aus dem Zen, S. 93.

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Zu der »Zeit«, zu der Yakusan auf dem hohen, hohen Berggipfel (als Gleichnis für seinen Seelenzustand) steht, entbirgt sich sein »Sein«, ebenso wie die »Zeit«, zu der er auf dem tiefen, tiefen Meeresgrund (der Lebenswelt der leidenden Lebewesen) im Mitgehen mit allen leidenden Lebewesen geht. Das genannte »zu einer Zeit« ist zugleich die »Zeit« und das »Sein« dessen, der sich in ihr/ihm befindet, somit dessen »Sein-Zeit«. Dôgens »Sein-Zeit« kann insofern mit der »Existenz« in der sogenannten Existenzphilosophie gleichgesetzt werden. Allerdings handelt es sich um die Existenz, die ausschließlich in der und durch die »Übung« realisiert wird. Dôgens »zu einer Zeit« meint die vom Übenden jeweils gelebte Zeit. So sind das »Stehen auf dem hohen, hohen Berggipfel« und das »Gehen auf dem tiefen, tiefen Meeresgrund« die verschiedenen Erscheinungsweisen ein und derselben Sein-Zeit der gleichen Person. Wer mit dem ganzen Leib und der ganzen Seele übt, weiß, dass er seine Ich-Zentriertheit vergisst, ekstatisch wird und sich in einer Ich-Vergessenheit« bzw. einer Selbstvergessenheit befindet. Diese Selbstvergessenheit muss derart sein, dass in ihr die Wand zwischen dem Ich und den Anderen wegfällt. Dort muss die »Sein-Zeit« des Übenden als eins mit der »Sein-Zeit« der Anderen erfahren werden. Dieses »Eins-werden« besagt freilich nicht das Unsinnige, dass der Übende zu einer Kupferstatue oder einem hölzernen Stock wird. Es muss etwas ganz natürliches sein, nämlich dass der Übende die Wesensnatur seines eigenen Selbst als die aller Anderen erfährt. Auf der einen Seite ist zwar jedes, was nicht mein Ich ist, das Andere, das durchaus anders als ich ist. Aber auch dieses Andere ist darin mit mir selbig, dass es mit sich identisch ist. Jedes, was ist, hat seine Selbstidentität, und darin ist alles selbig. Diese Selbstidentität muss keine inhaltsleere, formal-allgemeine Identität sein. Sie kann auch die Wesensnatur all dessen, was ist, bedeuten. Mit einer häufig zitieren Wendung gesagt, liegt die Wesensnatur des Wassers darin, dass dieses die Anderen nass macht, sich selbst aber nicht, und die des Feuers darin, dass dieses die Anderen verbrennt, sich selbst aber nicht. Durch die jeweilige Wesensnatur wird das Wasser zum Wasser und das Feuer zum Feuer, und diese beiden Materialien sind zwar füreinander durchaus die Anderen. Zugleich sind die beiden darin eins, dass ihr Selbst je die Anti-Wesensnatur in der Wesensnatur selbst ist. Das Selbst ist in widersprüchlicher Weise mit sich identisch und hat somit eine widersprüchliche 134 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

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Selbstidentität. 203 Wenn der Übende diese Wesensnatur noetisch, d. h. in seinem eigenen Selbstsein erfährt, sieht er, dass alles Andere außer ihm auch dieselbe Wesensnatur hat. Diese ist in dem Sinne, dass sie nie als Etwas zu objektivieren ist, »nichts«. Das Nichts der eigenen Wesensnatur ist negativ gesagt die »Non-Substanz«, positiv gesagt die himmelsähnliche Leerheit, in der erst die substanzielle Selbstidentität besteht. Die Selbstidentität als das Nichts der eigenen Wesensnatur begreifen heißt, einerseits zwischen mir und allen Dingen die unüberbrückbare Kluft der Andersheit der Anderen sehen, aber andererseits doch auch eine Selbigkeit sehen, da alles, was ist, die genannte Selbstidentität hat. Wenn diese Selbigkeit im bloß noematischen Sinne verstanden wird, so können ohnehin andere verschiedenen Arten der Gemeinsamkeit zählen, wie z. B. das »Sein«: »Jedes, was ist, ist darin selbig, dass es ist.« Aber solange dieses »Sein« im Sinne des Vorhandenseins aufgefasst wird, ist es noch nicht der Ausdruck des Selbstwissens der Wesensnatur als solcher, da dieses nie objektiviert werden kann. Allerdings könnte man gegen diese Ansicht Einspruch erheben und sagen, dass es sich auch bei Dôgen um die objektiven Dinge handelt wie den drei-köpfigen und acht-armigen Schutzgott, den sechzehn Fuß und acht Fuß großen Buddha, den Stab und den Wedel, die Gartenpfeiler und die Steinlampe usw. Diese seien alle Dinge, die je an sich objektiv identifizierbar sind. Dieser Einspruch darf nicht ignoriert werden. So ist eine nähere Interpretation nötig, um den Sachverhalt des »Welt-Ortes« zu erklären.

(c) Augenblickscharakter des »Welt-Ortes« Die »Sein-Zeit« bei Dôgen ist die jeweilige Zeit und der jeweilige Ort, wo der Mensch, die Dinge, die Welt je erschlossen werden. Diese realisieren sich ihrerseits je als eine »Sein-Zeit«. Der eher statischräumlich verstandene Begriff »kyokusho« (局所) erhält mit der Schreibweise »kyokusho« (局処) den genetisch-dynamischen Ge-

203 Die »widersprüchliche Selbstidentität« ist ein Grundbegriff der Spätphilosophie K. Nishidas, die in Form der »Logik des Ortes« logisch entwickelt wurde. Im vorliegenden Abschnitt wird dieser Grundbegriff Nishidas bewusst im Kontext der »Phänomenologie des Ortes«, somit nicht im logischen, sondern im phänomenologischen Sinne verwendet.

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schehenscharakter. Dies erinnert an den von Derrida erfundenen Begriff »différance«, den er aus dem gewöhnlichen Wort »différence« hergeleitet hat, 204 aber auch an die Wendung des Wortes »la pensée sauvage« bei Lévi-Strauss. 205 Eine kleine Änderung auf der Sprachebene bringt eine große Entfaltungsmöglichkeit des Gedankens. Zuerst ist eine zentrale Stelle für das Wort »kyokusho« (局所) bei Nishitani zu zitieren: »Alles, was ist, ist in seinem ursprünglichen Sein in sich erfüllt. Dass alles ›in sich erfüllt‹ ist, ›sich erreicht hat‹ und ›sich-überlässt‹, heißt, dass es ›seinen Platz erhält‹«. 206 Der dabei gesagte »Platz« ist der durchaus bestimmte und beschränkte Ort, und

204 Die folgende Anmerkung wäre für die Leser Derridas banal, da aber im vorliegenden Buch die klare Angabe der Zitatstelle prinzipielle Richtlinie ist, wird sie doch gemacht. Derrida hat sich in La voix et le phénomène mit Husserl ausführlich auseinandergesetzt. Husserl hatte in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins auf den Bewusstseinsmodus »Retention« und »Protention« aufmerksam gemacht, mit dem die »Gegenwart« nicht als Jetzt-Punkt, sondern als eine Extension erfahren wird. Derrida fasste diese Extension als das Phänomen der »différance« auf. Dieses Wort kommt vom Verb »différer«, das als intransitives »sich differenzieren«, aber als transitives »verschieben« oder »verspäten« bedeutet. Derrida versucht, die Zeitstruktur dieses Jetzt (maintenant) mit diesem Begriff begrifflich zu machen. Die Bewegung dieser »différance« ist die Möglichkeit, ohne den Abgrund (abîme) zu reduzieren (réduire), die gemeinsame Wurzel (racine) der beiden zu sein (Jacques Derrida, La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénomenologie de Husserl, PUF, 1967, p. 75 ff.). Das Ersetzen des Wortes »所« (sho) mit »処« (sho) bei Nishitani hat einen ähnlichen sprachlichen Hintergrund, da die Aussprache der beiden gleich ist, aber die Verschiedenheit der Bedeutung eröffnet ein großes Problemgebiet. Im Hinblick auf ihren philosophischen Inhalt, d. h. den »sich bestimmenden WeltOrt«, ist die Tragweite dieses Ersetzens wohl weit größer als die des Wortes »differance« bei Derrida. 205 Die folgende Anmerkung wäre zwar wiederum banal vor allem für die Leser LéviStrauss’, wird aber in demselben Sinne wie dem der obigen Anmerkung dennoch gemacht: Das französische Wort »la pensée sauvage« hat wie bekannt zwei voneinander unabhängige Bedeutungen: das vor-wissenschaftliche und insofern »wilde« Denken in der Prähistorie vor der Zivilisation, und die auf dem wilden Feld wachsende Pflanze »viola tricolor«. So wurde auf dem Umschlag des Buchs La pensée sauvage das Bild dieser Blume gedruckt (Claude Levi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962). Um ein Missverständnis zu vermeiden: Die zwei Bedeutungen werden nicht wegen des äußerlichen Wortklangs, sondern wegen der organischen Struktur in einen Zusammenhang gebracht. Vgl. S. 64 und 67 der angegebenen Ausgabe, auf denen diese Blume mit der Illustration ausführlich erklärt wird. Dies entspricht wiederum einigermaßen dem Wortklang der Wörter »sho« (»所«) und »sho« (»処«), die trotz derselben Aussprache und des ansonsten untereinander verwandten Wortsinnes in ihrer Bedeutung doch voneinander verschieden sind. 206 K. Nishitani, »Die Leere und das ›Soku‹« (jap.: »Kû to soku«), S. 137.

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dennoch ein Ort, als der die »Welt im Ganzen« erscheint. Er besagt die »sich-bestimmende Welt«. Die »Welt« erscheint je und je an einem »Ort«, indem sie sich so und so bestimmt. Sie ist je ein »Welt-Ort«. Das vorhin schon zitierte Wort von Cusanus trifft hier wieder zu: »Die Welt ist zwar weder die Sonne noch der Mond, aber an der Sonne die Sonne, und am Mond der Mond.« Die »Welt« ist und erscheint je und je als ein sich bestimmender »Welt-Ort«. Es sei hier an die am Anfang des vorliegenden Buchs angegebene Dreiheit von »Ich (Selbst) – Anderen – Welt« erinnert. Die ersten zwei Elemente, »das Ich (Selbst)« und »die Anderen«, wurden inzwischen einigermaßen erörtert. Jetzt tritt das dritte Element, die »Welt«, mit dem Terminus »Welt-Ort« in den Vordergrund, so dass die Darstellung der Dreiheit mit diesem Konvergenzpunkt abschließt. Aber dieser Abschluss ist noch bloß formal und wird noch nicht als die konkrete Erfahrung herausgestellt. Sie wird also noch nicht als der Ausgangspunkt der Phänomenologie der Compassion gesichert. Die Dreiheit von »Ich (Selbst) – Anderen – Welt« soll im Hinblick auf die konkrete Erfahrung des Lebens noch eingehender erläutert werden. Der »Welt-Ort« ist der Sache nach gleich mit der »Sein-Zeit«, die je und je gelebt wird. Er zeigt sich zu einer Zeit als die personalen Anderen »Du/Ihr/er/sie«, die mir hier und jetzt begegnen, zu einer Zeit als die impersonalen Anderen, die vor mir liegen und bei denen ich stehe, somit als die »Dinge«. Er zeigt sich aber zu einer Zeit auch als das non-personale Andere, d. h. der »Tod«, dessen Fernnähe nicht objektiv messbar ist. Der Welt-Ort hat den Charakter einer »Augenblicksstätte«. Im Unterschied vom »Jetzt« als der minimalen, objektiv messbaren Einheit der physikalischen Zeit ist die Augenblicksstätte diejenige Stätte, in der ich mit den Augen blinzelnd stehe und die ich lebe. Die Augenblicksstätte ist der Ort, den ich stifte und der im kontinuierlichen Zeitstrom die Stätte einer Diskontinuität bildet. Sie ist der existenziell gelebte Ort des Schnitt-Kontinuums im kontinuierlichen Fluss der Zeit. 207 207 Toshihiko Izutsu behandelt die »Sein-Zeit« Dôgens und interpretiert sie mit dem Wort »Ununterbrochene Schöpfung« (Bd. 9 der Gesammelten Schriften Toshihiko Izutsus (jap)., Tôkyô 1992, II. Teil, 2. Kap., »Die ununterbrochene Schöpfung«, S. 196–262), indem er die islamische Philosophie des Sufismus sowie die Kegon-Philosophie des Mahayana-Buddhismus heranzieht. Damit wird angedeutet, dass die ununterbrochene Schöpfung an dem Ort stattfindet, den ein Übender als seine innere

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Der Welt-Ort

3.

Der »Welt-Ort« und der »Augenblick« bei Kierkegaard 208

(a) Kurzer Überblick über die verschiedenen Fassungen des »Augenblicks« Indem wir den »Welt-Ort« im Vergleich mit der »Sein-Zeit« Dôgens betrachteten, wurde der Augenblickscharakter des »Welt-Ortes« sichtbar. Der »Augenblick« wurde seit Platon in der Philosophie oft in Betracht gezogen. Wenn man die betreffenden Stellen in den platonischen Texten sorgfältig liest, bemerkt man, dass er meistens in dem Kontext besprochen wird, in dem der Mensch zugleich den ganzen Leib und die ganze Seele von der Welt der Phänomene zur Ideenwelt »wendet«. Es ist der Augenblick der »Wendung der Seele«. Dies gilt in logischer Hinsicht als der Schlüsselpunkt der »Dialektikê«, in der es um die »Verbindung« und die »Trennung« der Ideen voneinander geht. 209 War der »Augenblick« bei Platon das Umwendungsmoment der Seele zur Ideenwelt, so war auch die von Augustinus in seinen Confessiones erzählte Bekehrung das Geschehen dieses »Augenblicks«. Dieser als des »Auges Blick« ist, um es christlich zu sagen, die Erfahrung des »Glaubensauges« mit der Ewigkeit. Es handelt sich um das Auge, das Hegel als das Wort Eckharts zitiert hat: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Augen ist eins.« 210 Seelenlage eröffnet. Die Schöpfung des Alls geschieht an diesem Ort, der sich als der »Welt-Ort« bezeichnen lässt. 208 Zum Blick auf Søren Kierkegaard vgl. außer dem vorliegenden Kapitel auch den 3. Absatz im »Exkurs zum dritten Kapitel« des zweien Teils des vorliegenden Buchs, »Einige Bemerkungen zu Kierkegaard«. Das vorliegende Kapitel ist eine Überbrückung zu diesen Bemerkungen. 209 Dazu vgl. die frühere Arbeit des Verfassers »Der Augenblick bei Platon und die Dialektik« (jap.), in: Risô, No. 533, 1977, S. 196–212. Die Stellen, wo Platon vom »Augenblick« spricht, sind: Parmenides, 156 d 3; Briefe 341 c 7; Politeia, 518 c 8; Symposium 210 e 4. 210 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, erster Teil: Der Begriff der Religion, Werke in 20 Bänden, Bd. 16, S. 209. In den heute philologisch streng redigierten Texten Eckharts ist dieses Zitat zwar nicht wörtlich zu finden. Wenn man will, findet man aber einige dem Inhalt nach ähnliche Stellen, wie z. B.: »Man muß wissen, daß (…) Gott zu sehen und von Gott gesehen zu werden der Sache nach eins ist.« (Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Predigt 35, S. 317.) Zu dieser Stelle sowie deren Problemzusammenhang des »Sehens« vgl. den Verfasser, Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik

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Damit wird nicht behauptet, dass diese Erfahrung für den Nichtgläubigen bzw. den aufgeklärten Rationalisten, der sich innerhalb der Grenze der Vernunft bewegen will, ausgeschlossen bleibt. So ist der »Augenblick« in Nietzsches »Zarathustra« das Herzstück des Gedankens der gottlosen »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. 211 Auch bei Dôgen wird im Zusammenhang mit der »Sein-Zeit« von einem »Auge« gesprochen. Das Buch »Sein-Zeit« endet nämlich mit der Anekdote Sakyamunis und seines Nachfolgers Dai-Kashô (Mahā-ka-śyapa), der dem ersteren, als dieser den Leuten ohne Worte eine Blume zeigte, mit einem Lächeln antwortete. Das dazu gesagte Wort eines chinesischen Meisters wird im Text zitiert: »Zu einer Zeit lässt es (Sakyamuni/ Blume/ Sein-Zeit) ihn (Dai-Kashô) die Augenbrauen heben und mit den Augen zwinkern. Zu einer Zeit lässt es ihn nicht die Augenbrauen heben und mit den Augen zwinkern. Zu einer Zeit trifft er den, der ihn die Augenbrauen heben und mit den Augen zwinkern läßt. Zu einer Zeit trifft er den nicht, der ihn die Augenbrauen heben und mit den Augen zwinkern lässt.« 212 Hier ist zwar kein Raum, dieses auf den ersten Blick allzu komplizierte Wort ausführlich zu erläutern. Es genüge nur darauf hinzuweisen, dass das »Lächeln« mit des Auges Blick Dai-Kashôs und Sakyamunis Zeigen der Blume »gleichzeitiges« Geschehen der »Sein-Zeit« der beiden ist und diese Gleichzeitigkeit die Gleiche ist mit der »Gleichzeitigkeit mit Christus« bei Kierkegaard. Weiterhin: Diese Gleichzeitigkeit scheint auch die zwischen Dôgen und Kierkegaard zu sein, wenn ersterer von der »Sein-Zeit« und letzterer vom der Compassion, Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen, S. 10 f. Diese »Einführung« gilt auch als eine weitere Einleitung in den zweiten Teil des vorliegenden Buchs. 211 Dazu vgl. den Verfasser, »Das ›Lachen‹ als Augenblick und als Kairos – Philosophisch-interreligiöse Religionskritik aus ostasiatischer Perspektive«, in: Religionskritik in interkultureller und interreligiöser Sicht. Dokumentation des Symposiums des Graduiertenkollegs »Interkulturelle religiöse bzw. religionsgeschichtliche Studien«, in Bonn vom 20.–23. 11. 1996 an der Universität Bonn, herausgegeben von Heinz Robert Schlette, Bonn 1998, S. 183–195. Es handelt sich um die Szene im dritten Teil von Also sprach Zarathustra, in der der Torweg dargestellt wird, auf dessen beiden Seiten der Weg in die ewige Vergangenheit und die ewige Zukunft geht. Auf dem Tor steht die Schrift »Augenblick« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Nachgelassene Fragmente, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 4, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1980, S. 199 f.). 212 Vgl. Dôgen. Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders philosophieren aus dem Zen, S. 108–114. Die Übersetzung wird hier leicht geändert.

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»Augenblick« redet. Allerdings wird, wie nachher erörtert, in der »Nähe« dieser Gleichzeitigkeit der beiden zugleich die »Ferne« der ernsten Distanz zwischen den beiden auftauchen. Übrigens werden gerade diese Ferne und Nähe auch die mögliche »Höhe« und die »Tiefe« des »Welt-Ortes« aufreißen.

(b) Prekäres Verhältnis zwischen »Augenblick« und »Natur« bei Kierkegaard Auch Kierkegaard trennt das Wort »Augenblick«, um zu sagen, dass dieses »des Auges Blick« ist. Er sagt: »Nichts ist so geschwinde wie des Auges Blick, und dennoch ist er empfähig (kommensurabel) für des Ewigen Gehalt«. 213 Hier wird schon ein Wesentliches ausgesprochen: Der »Augenblick« ist kein »Atom der Zeit«, sondern Atom der Ewigkeit. 214 Der Augenblick ist nach ihm der Schnittpunkt von Ewigkeit und Zeit. In der griechischen Philosophie gab es den Begriff der »Ewigkeit« nicht. Der dort besessene Begriff »aiôn« ist die unendliche Dauer der Zeit, aber nicht die überzeitliche Ewigkeit, die erst im Christentum konzipiert wurde. Formal gesagt, ist der Augenblick die Stätte, in der die Ewigkeit und die Zeit einander überschneiden. »Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit.« 215 Aus diesem Wort folgt, dass der Augenblick bei Kierkegaard die Stätte ist, auf der die drei Zeitmodi »des Auges Blick« konvergieren. Der Augenblick ist die gelebte Zeit und Ewigkeit, »meine« Augenblicksstätte. Dies ist im Grunde dasselbe, was auch in Augustinus’ Zeitlehre zu sehen ist. Um das vorhin schon Dargestellte eigens zu 213 Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, Gesammelte Werke 11. und 12. Abteilung, Regensburg 1952, S. 89. 214 A. a. O., S. 90. 215 Vgl. A. a. O., S. 90 f. Die von Kierkegaard in Der Begriff der Angst erörterten Themen wie der »Augenblick«, die »Zeitlichkeit«, die »Angst«, der »Vorrang der Zukunft«, die »Schuld« usw. wurden alle von Heidegger in seinem Sein und Zeit übernommen. Dabei wurden sie aus dem »christlichen« Horizont gelöst und in den Problemzusammenhang der Daseinsanalytik, zur Bearbeitung der »Seinsfrage«, versetzt. Bei der vorliegenden Interpretation der »Sein-Zeit« bei Dôgen wird das Thema aus dem »buddhistischen« Horizont gelöst und herausgenommen. Mit diesem »Herausnehmen« wird keine Verabschiedung des genannten Horizontes gemeint, sondern eher eine »Annährung« versucht.

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wiederholen, wird dort die Vergangenheit als die Erinnerung, die Gegenwart in der Anschauung und die Zukunft in der Erwartung je in der Seele aufgefasst. Aber diese oft zitierte Ansicht ist nur die erste Hälfte der augustinischen Zeitlehre, die besagt, dass die drei Zeitmodi nichts anderes als die Gefahr des Zerfahrens der Seele in der Weise der »distentio« sind. Die letzte Hälfte beginnt deshalb damit, dass Augustinus betet, damit er sich auf das Eine, den Gott, »zusammenraffen« kann. Dazu ist es nötig, nicht »zerspannt in das Viele, was da kommt und geht«, sondern »ausgespannt nach dem was vorweg da ist«, und das nicht in der Weise des »Zerfahrens«, sondern in der Weise der »gespannten Sammlung« zu sein. 216 Diese Sammlung kommt erst im Augenblick der Berufung (»vocatio«). Kierkegaard sagt auch: »Nur unbedingter Gehorsam vermag unbedingt genau den ›Augenblick‹ zu treffen.« 217 Der Gehorsam ist die gläubige Haltung, Gott zuzuhören und von Gott berufen zu werden. So ist eine wesentliche »Nähe« zwischen Kierkegaard und Augustinus klar. Aber diese Nähe geschieht innerhalb ein und derselben christlichen Geistessphäre und ist insofern kein Wunder. Dem gegenüber liegt zwischen Kierkegaard und Dôgen eine »Ferne«, die überhaupt zwischen den zwei verschiedenen Welten, der christlichen und der buddhistischen, liegt. Diese »Ferne« fordert von uns, eine Weile anzuhalten, wenn wir den »Welt-Ort« im Lichte der Gedanken Dôgens und Kierkegaards zu beleuchten versuchen. Diese Ferne wird im vorliegenden Problemzusammenhang am Verhältnis von »Geist« und »Natur« ausdrücklich. Kierkegaard sagt: »Die Natur liegt nicht im Augenblick.« 218 Das ist ein kühnes und überraschendes Wort. Es würde zunächst besagen, dass der »Augenblick« das Geschehen im und mit dem »Geist« ist. »Sobald der Geist gesetzt ist, ist der Augenblick da«. 219 Dieser geistige Augenblick geschieht nicht in der »Natur«. Seit der Dominanz des Christentums in der westlichen Geisteswelt kommt es nicht vor, dass die »Natur« den Vorrang vor dem Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, übersetzt von J. Bernhart, München 1960, S. 665, 667 (deutsch), 665, 667 (lateinisch). Vgl. lat. S. 666: »non in ea quae futura et transitura sunt, sed in ea quae ante sunt«. Siehe auch hier die Anm. 195. 217 S. Kierkegaard, Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel, Gesammelte Werke, 21., 22., 23. Abteilung, Düsseldorf / Köln 1960, S. 56. 218 Ebd. 219 A. a. O., S. 90. 216

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Der Welt-Ort

»Geist« hat. In der vorchristlichen griechischen Philosophie wurde zwar der »physis« der fundamentale Rang gegeben. Auch innerhalb der christliche Tradition wurde der Natur gelegentlich eine gleichrangige Bedeutung mit Gott zuerkannt, 220 und die Ansicht der großen Natur bzw. der Mutter Natur ist in der deutschen Romantik oder bei Goethe zu finden. 221 Dies ändert aber nichts daran, dass die Natur »vor dem Geist« liegt und das »dem Geist untergeordnete« Gebiet bleibt. Kierkegaard ist darin keine Ausnahme. Kierkegaard-Forscher würden auf die bekannte Rede hinweisen: »Die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel« (1849), die wir oben schon zitiert haben. Dort wird die musterhafte Lebensweise des Gläubigen an der Lilie auf dem Felde und dem Vogel unter dem Himmel erblickt. Das Vorbild der idealen Lebensweise ist für Kierkegaard zunächst in der »Natur« zu finden. Allerdings endet die Rede Kierkegaards mit folgendem, das oben Gesagte umwendenden Satz: »Es gibt nur ein Leid, hinsichtlich dessen Lilie und Vogel Lehrmeister nicht sein können, und von diesem Leid sprechen wir deshalb hier auch nicht: das ist der Sünde Leid.« 222 Und dieser Satz ist der radikalere und deutlichere Ausdruck für die zitierte Ansicht: »Die Natur liegt nicht im Augenblick.« Es ist offenkundig, dass diese Ansicht der »Sein-Zeit« Dôgens gegenüber in einer »Ferne« steht. Bei Dôgen wird die »Sein-Zeit« 220 Wenn Spinoza »natura naturans« als Gott der freien Ursache begreift und »natura naturata« als Modi Gottes denkt (Spinoza, Ethica, Pars Prima. De Deo, Prop. 30), so ist das ein unendlich hoher und tiefer Gedanke von der Natur. Dieser Gedanke, »deus sive natura«, geht auf den Gedanken Eriugenas zurück. In seinem Periphyseôn findet man, dass bei Eriugena die Natur als vier Seinsmodi Gottes aufgefasst wird: »creans, non creata«, »creata, non-creans«, »creata, creans«, »non-creata, non creans. (Scotus Eriugena, Periphyseôn, ed. Migne, Bd. I, 442 A, 524 D-525 A, 525 B, 1019 B). Heidegger stellt die in der griechischen »physis« ursprünglich enthaltene Bedeutung, die in der christlichen Auffassung der »Natur« fast verlorengegangen ist, das »Sein« im ursprünglichen Sinne, durch die Verfolgung dieser Begriffsgeschichte seit Heraklit bis Aristoteles heraus. Vgl. M. Heidegger, »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Artistoteles, Physik B, 1« (1939), in: HGA, Bd. 9, Wegmarken, S. 239–302. 221 Bezüglich der Naturansicht Goethes gilt Takeo Ashizus Schrift Die Naturerfahrung bei Goethe (jap.), Kyôto 1986, immer noch als die beste Einführung. Ashizu zeigt durch seine Widerlegung der Kritik Jaspers’ an der Naturansicht Goethes ausführlich, dass und wie die »Natur« bei Goethe die Größe und die Tiefe hat, in der auch die neuzeitlich-moderne Naturansicht eingeschlossen werden kann. Sie ist eines der Bücher, die nicht nur im Japanischen, sondern auch in den europäischen Sprachen veröffentlicht werden sollten. 222 S. Kierkegaard, »Die Lilie auf dem Feld und der Vogel unter dem Himmel«, S. 72.

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Ethische Perspektive des Welt-Ortes

auch an der Kiefer, dem Bambus, dem Pflaumenzweig usw., somit an den »Naturdingen« exemplarisch gesehen und erfahren. »Berge und Wasser der Gegenwart sind das volle Erscheinen der Worte der alten Buddhas.« 223 Aber für Kierkegaard »liegt der Augenblick nicht in der Natur«. Wie sollte diese »Ferne« bei dem Versuch, den Begriff des »WeltOrtes« im Vergleich mit dem »Augenblick« bei Kierkegaard und der »Sein-Zeit« Dôgens herauszuarbeiten, verstanden werden? Sollte die Ferne bedeuten, dass man sich entweder für Dôgen oder für Kierkegaard entscheiden muss, oder sollte überlegt werden, inwieweit der »Welt-Ort« dem »Geist« Kierkegaards und inwieweit er der »Natur« Dôgens nah ist? Diese Frage betrifft das Grundthema des vorliegenden Buchs, da die »Compassion« als die Grundgesinnung sowohl des Christentums wie auch des Buddhismus gelten sollte. Um den Gesichtsort der Betrachtung dieser Frage vorzubereiten, nehmen wir einen kleinen Umweg, indem wir den Sachverhalt des Vorbegriffs des »Welt-Ortes« nochmals ins Auge fassen und darüber reflektieren. Erst danach kommen wir zu den beiden zurück, um diese zum beleuchtenden Licht für den »Welt-Ort« zu machen.

4.

Ethische Perspektive des Welt-Ortes

Der »Welt-Ort« beschränkt sich nicht auf die Naturwelt. Als Ort des Geschehens der »Welt« betrifft er auch die Lebenswelt, in der die Menschen leben, die Ethikwelt, in der es um Gut und Böse geht, und die Geschichtswelt, die je und je die Menschen in sich sein lässt und von den Menschen gebildet wird. Er ist der Geschehensort dieser Welt, als welcher sowohl die impersonalen Naturdinge wie auch die personal-individuellen und sozialen Ereignisse bestehen. Unter diesen Sinndimensionen der »Welt« sind hier die Ethikwelt und die Geschichtswelt, die für die Gegenwart immer frag-würdiger werden, in Betracht zu ziehen.

223 Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders philosophieren aus dem Zen, S. 116.

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Der Welt-Ort

(a) In Rücksicht auf die »Ethik des Platzes« bei I. Takayama, einem Schüler K. Nishidas Das griechische Wort »ethos« besagt den »Wohnort«, und auch am sino-japanischen Schriftzeichen »rin« (倫) im Wort »rinri« (倫理 = Ethik) bedeutet der linke Teil den »Menschen« und der rechte Teil das »Rad«, d. h. das Gesetz, den Logos. Wo der Mensch wohnt, entsteht das Gesetz des Wohnortes, die Ethik. So muss an einem Welt-Ort im Sinne der Lebenswelt der Logos des »ethos«, die »Ethik«, herrschen. Die Bewohner dort bilden im Miteinander mit den personalen und impersonalen Anderen, dem non-personalen und hyper-personalen Anderen ihre Lebenswelt. In diesem Zusammenhang ist das Wort Nishitanis nochmals zu zitieren: »Alles, was ist, ist in seinem ursprünglichen Sein in sich erfüllt. Dass alles ›in sich erfüllt‹ ist, ›sich erreicht hat‹ und ›sich-überlässt‹, heißt, dass es ›seinen Platz erhält‹«. Der Ausdruck »seinen Platz erhalten« wird dem Werk eines Kollegen Nishitanis, Iwao Kôyamas (1905–1993) Ethik des Platzes, entliehen. 224 Kôyama, ein Schüler Kitarô Nishidas, entwickelte in diesem Werk die im japanischen Wort »Platz« implizierten Bedeutungen, um in seiner Weise den Ortsgedanken Nishidas weiterzuführen, und zwar in ethischer und logischer Hinsicht. Der Ausdruck »seinen Platz erhalten« ist nicht bloß spezifisch japanisch. Er erinnert an die Wendung Kants in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. 225 Der Mensch wird zu dem, was er ist, indem er den ihm gemäßen Platz erhält. Auch ein Platz wird zu dem, was er sein soll, indem er 224 Kôyamas Schrift Ethik des Platzes (jap: Tokoro no rinri, Tôkyô 1946) wurde später als der zweite Teil der Ortlogik und das Prinzip der Entsprechung (jap.: Bashoteki ronri to koô no genri, Tôkyô 1978) gedruckt. Jetzt ist sie zugänglich im sechsten Band der Gesammelten Schriften Iwao Kôyamas (jap.: Kôyama Iwao chosaku-shû, Tôkyô 2009, S. 229–336). Kôyama meint, dass die »Entsprechung« in seinem Sinne persönlich, gegenseitig und kreativ ist und der Gesamtzusammenhang derselben den »Ort« im Sinne Nishidas bildet. Er stellte weiterhin dar, wie die Erfahrung des Individuums an diesem »Ort« ihren »Platz« erhält, womit die »Ethik des Platzes« beginnt. Er versuchte dabei in einer kompromisslosen Auseinandersetzung mit seinen zwei Lehrern, Nishida und Tanabe in seiner Weise über diese zwei Lehrer hinauszugehen. Zu seiner Philosophie vgl. die Einführung des Verfassers, »Zur Ortlogik und dem Prinzip der Entsprechung« (jap.) in: Gesammelte Schriften Iwao Kôyamas, Bd. 6, S. 711–719. 225 I. Kant, Kritik der reinen Verunft, B, Vorrede, S. XXX.

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Ethische Perspektive des Welt-Ortes

den ihm gemäßen Menschen erhält. Man denke an eine Stelle in den Firmen, den Institutionen, in der Familie, im Umgang mit den anderen Menschen. 226 Der hier gemeinte »Platz« ist nicht der physikalische »Raum«, sondern der Ort, den ein Mensch zum Leben haben muss. Die ethische Welt zeigt sich als die Ethik des Platzes. Bei der Entwicklung der »Ethik des Platzes« hat Kôyama das »Prinzip der Entsprechung« vorgelegt, das nach seinem Verständnis an Stelle des Prinzips der substanziellen Identität treten sollte. Es geht um die Identität, die in Form der Entsprechung zwischen Ich und Du oder dem Selbst und den Anderen besteht. Das ethische Subjekt existiert, wie er mit Recht denkt, nicht als ein vereinzeltes Subjekt, sondern immer in irgendeiner Entsprechung zu den Anderen. Diese Entsprechung postuliert, dass Ich und Du oder das Selbst und die Anderen je ihren »eigenen Platz erhalten«. Sie gilt als eine neue Konzeption der »Identität«, die sonst meistens als »substanzielle Identität« aufgefasst wird. Zwar gilt sie als bemerkenswerte Idee, 227 aber da sie nie in der philosophischen Welt in Europa vorgelegt wurde und weiterhin in der Nachkriegszeit Japans der laute Vorwurf gegen Kôyama wegen seiner »Kollaboration« mit dem Militärregime aufkam, wurde seine Philosophie überhaupt zum »mit dem Bade ausgeschütteten Kind«. Seine heute noch philosophisch zu beachtende Idee der »Identität in der Entsprechung« bleibt vergessen. Dies gilt auch von der von Kôyama konzipierten »Ethik des Platzes«. Die vorliegende Betrachtung der ethischen Bedeutung des »Welt-Ortes« trägt bewusst dazu bei, seine vergessene »Ethik des Platzes« in einer phänomenologischen Sicht wieder aufzugreifen.

226 Kôyama kritisiert, dass die bisherige Ethik generell eine formale Logik bleibt, und schlägt den Begriff des »Platzes« vor, um eine »substanzielle« Ethik aufzubauen. Dieser Ansatz hat auch heute noch Gültigkeit. 227 Diese »Identität in Form der Entsprechung« gilt als eine neue Formel der »Identität«, die traditionell als »substanziell« aufgefasst wird. Allerdings fehlt bei seiner sonst bemerkenswerten Auffassung das Element der nachher zu erwähnenden »Anti-Natur in der Natur« bzw. des »Widerspruchs in sich«. So wird die vorliegende Darstellung zwar »in Rücksicht auf« den Gedanken Kôyamas, nicht aber »im Lichte« desselben gemacht.

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Der Welt-Ort

(b) In Rücksicht auf das »Zwischen« der Ethik bei T. Watsuji, und wieder zum »Augenblick« Kierkegaards Ein anderes Wort, das zur Bildung des ethischen Aspektes des »WeltOrtes« beiträgt, ist das »Zwischen« in der Ethik Tetsurô Watsujis (1889–1960), der zeitweise Kollege Nishidas an der Universität Kyôto war. Der Titel der Ethik Watsujis kann wörtlich wie folgt übersetzt werden: »Die Ethik als Wissenschaft des menschlichen Zwischenseins«. 228 Dieser Titel bezieht sich direkt auf den japanisch-buddhistischen Begriff des »Menschen«, der aus zwei Schriftzeichen besteht: »Mensch« (人, nin) und »Zwischen« (間, gen). Das letztere Zeichen bedeutet im Buddhismus eigentlich die »Welt«, aber in der modernen Wendung immer das »Zwischen«. Der Begriff »ningen« heißt also, anders als der europäische Begriff des »Menschen« als einzelnes Subjekt, von vornherein das »Verhältnis des Zwischenseins zwischen den Menschen«. 229 Es wäre leicht zu sehen, dass der Ortscharakter dieses »Zwischenseins« dem der ethischen Dimension des »Welt-Ortes« entspricht. Der »Welt-Ort« ist der Ort, wo das Verhältnis zwischen Mir und den Anderen überhaupt erschlossen wird. Insofern kann er auch als das »Zwischen« von Mir und den Anderen bezeichnet werden. Wo diese Anderen die »personalen Anderen« sind, besteht das Gebiet der Ethik. Um es mit Ausdrücken des vorliegenden Buchs zu sagen, ist das »Zwischen« das Gebiet der »Fernnähe« und »Höhentiefe« der personalen Anderen. So wird nichts im Wege stehen, das von Watsuji gemeinte »Zwischen« mit den bisher herausgestellten »Phänomenkategorien« bzw. »Weltkategorien« als Kategorien der Fernnähe und Höhentiefe zu begreifen. Allerdings ist der Versuch dieses neuen Begreifens nicht die Aufgabe für uns jetzt. Hier genüge nur der Hinweis darauf, dass sich der »Welt-Ort« im Vergleich mit der Konzeption Watsujis vom »Zwischensein zwischen den Menschen« in ethischer Hinsicht erschließt. Diese Richtung ist für den vorliegenden Abschnitt unentbehrlich, zumal sie in der »Sein-Zeit« Dôgens nicht thematisch behandelt wurde.

228 Tetsurô Watsuji, Ethik (jap.: Rinri), Gesammelte Schriften Tetsurô Watsujis, (jap: Watsuji Tetsurô chosak-shû), Bd. 10, Tôkyô 1962. 229 A. a. O., S. 11 f.

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Ethische Perspektive des Welt-Ortes

So weit der Umweg über Kôsaka und Watsuji. Jetzt ist der ethische Aspekt des »Augenblicks« bei Kierkegaard ein Stück tiefgreifender zu erörtern. Der »Augenblick« bei ihm enthält, wenn auch nicht thematisch, den ethischen Gesichtspunkt, um den es im Verhältnis »zwischen den Einzelnen« oder in der Gemeinschaft dieser Einzelnen geht. Zwar blieb die Ethik bei Kierkegaard Vorstufe der »Religion«. Das »Ethische«, so sagt Kierkegaard, »läßt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren«. 230 Die Existenz des »Einzelnen« im Sinne Kierkegaards gehört mit der Schärfe und Tiefe seiner Besinnung der »Sündigkeit« zur Dimension der »Religion« zusammen. Aber wo diese »Sündigkeit« als reale »Sünde« aktuell wird, muss der Einzelne auf der Dimension der »Ethik« den Anderen ausgesetzt werden. Auch wenn er sich ohne die Begegnung mit den Anderen nur in seinem Inneren mit sich auseinandersetzt, sieht er eben in sich das eigene Selbst als »das Andere in sich selbst«. Dieses Andere ist, so kann man sagen, die »Anti-Wesensnatur in der Wesensnatur selbst«. Oben wurde das Andere in diesem Sinne als die »Nicht-Wasserheit des Wassers« oder die »Nicht-Feuerheit des Feuers« gesehen. Der Augenblick, in dem man diese Anti-Wesensnatur in der Natur selbst erblickt, kann auch der Augenblick sein, in dem man die Vorform der »Sündigkeit« angelegt sieht, solange die Sündigkeit in der Menschennatur selbst wurzelt. Dann muss man mit Kierkegaard gegen Kierkegaard sagen: die Natur liegt im Augenblick. Die erste Hälfte der Wendung »mit Kierkegaard gegen Kierkegaard« meint die Zustimmung zu seiner Ansicht: »es gibt nur ein Leid, hinsichtlich dessen Lilie und Vogel Lehrmeister nicht sein kön230 S. Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, II. Teil, (Gesammelte Schriften, 16. Abteilung, Bd. II, S. 22). Kierkegaard legt eine »zweite Ethik«, die von der Dogmatik ausgeht, und die er der ersten Metaphysik entgegensetzt, vor (Der Begriff der Angst, S. 19 ff). Aber auch diese zweite Ethik behandelt nicht das »Entstehen der Sünde«, d. h. der Erbsünde. Dasselbe kann auch von der Stellung der drei-stufigen Einteilung von »ästhetischer, ethischer und religiöser Existenz« her gesagt werden, die Kierkegaard in »Entweder-Oder« (1834) erörterte. Das Ethische erhält also bei Kierkegaard seinen Ort als das innerliche Moment der »Religiösität A«, der die Stellung der Innerlichkeit zugrunde liegt, aber in der »Religiösität B«, in der die Subjektivität als die Unwahrheit betrachtet wird, erhält es eher den Ort als das zu verneinende Moment. So kann die Ansicht Kierkegaards jener Levinas’ entgegengesetzt werden, der die Ethik als die Erste Philosophie betrachtete. Levinas setzte sich allerdings nicht intensiv mit Kierkegaard, sondern mit Heidegger auseinander. Vgl. dazu den 3. Abschnitt im zweiten Kapitel »Einige Bemerkungen zu Levinas«.

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Der Welt-Ort

nen, und von diesem Leid sprechen wir deshalb hier auch nicht: das ist der Sünde Leid.« Aber diese Zustimmung schließt nicht die Frage aus, in welcher Weise die Lilie und der Vogel der Sünde Leid nicht haben. Dieses Nicht-Haben kann zwar zunächst ein Nicht-Wissen, das noch kein reflexives Bewusstsein hat, bedeuten. Aber es kann auch die »Vergessenheit« bedeuten, die im dritten Kapitel über die »Sinnesvergessenheit« erörtert wurde: nicht das Ausfallen des einmal gewonnenen Wissens oder des Gedächtnisses, sondern dass das Ich selbst als das Subjekt des reflexiven Bewusstseins gelassen wird und ausfällt. Die bereits zitierte Passage im Kapitel »Genjôkôan« in Dôgens Shôbôgenzô lautet: »Den Buddha-weg erlernen heißt, sich selbst (jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen.« Die Unwissenheit der Lilie auf dem Felde und des Vogels unter dem Himmel ist zwar zunächst nicht die »Vergessenheit« im tiefen Sinne. Aber die Lilie und der Vogel werden als Gleichnis des »Lehrmeisters« für die Gläubigen angegeben. So sind sie zwar keine Lehrmeister im »Wissen« der Sünde, aber sie können als Lehrmeister im Nicht-Wissen der Sünde angesehen werden, wobei das genannte Nicht-Wissen das Vergessen und Lassen des Wissens ist. So können die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel als »Naturdinge« erscheinen, die dieselbe Bedeutung haben wie im Wort Dôgens: »Die Berge und Wasser der Gegenwart sind das volle Erscheinen der Worte der alten Buddhas.« Indem man das Problem der »Sünde« bei Kierkegaard tiefer schürft, entfernt man sich zunächst von der Naturansicht Kierkegaards, begegnet derselben aber gerade dadurch auf einer neuen Ebene wieder, die mit der Formel bezeichnet werden kann: »AntiKierkegaard in Kierkegaard selbst«.

5.

Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst

In dieser Wiederbegegnung mit Kierkegaard erschließt sich der »Welt-Ort« nicht nur als der Ort ethischen, sondern auch »geschichtlichen« Charakters. Im Alten Testament beginnt wie bekannt die irdische Geschichte damit, dass Adam und Eva gegen das Verbot Gottes von der Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse aßen, aus dem Paradies vertrieben wurden und die Erde zu bebauen begannen. So sagte Kant: 148 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst

»Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.« 231 Im Vergleich mit der mythologischen Ebene der Interpretation Kants hat die Interpretation Kierkegaards eine religionspsychologische Eindringlichkeit, durch die sie zu Einsicht in die Stimmung der Angst führt. Kierkegaard schreibt: »Das Verbot ängstigt ihn (Adam), weil das Verbot die Möglichkeit der Freiheit in ihm weckt. Was an der Unschuld vorbeigestreift ist, als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst hineingetreten, und ist hier wiederum ein Nichts, die ängstigende Möglichkeit zu können.« 232 Kierkegaard sah ein, dass die »Angst« in der Tiefe der menschlichen Existenz der Ursünde vorangeht. Im Übergang von der Möglichkeit der Sünde zu deren Wirklichkeit wird nach Kierkegaard die mittlere Bestimmung benötigt, und diese ist für ihn die »Angst« als die Grundstimmung, die zur »Sündigkeit« in der Tiefe der Menschenseele erwachen lässt. Die Aktualisierung dieser Sündigkeit ist das Übertreten des Verbots Gottes, das die andere Formulierung des Gesetzes in der Naturwelt ist. Die unschuldige Naturwelt, in der die Lilie auf dem Feld blüht und der Vogel unter dem Himmel fliegt, ist die Welt, in der die Weisheit durch die Reflexion verboten wird. Mit dem Übertreten dieses Verbotes beginnt die Geschichte auf der Erde. Nach dem Alten Testament ist diese Sünde auch mit dem Erwachen zum Geschlecht verbunden. Das Geschlecht ist in der unschuldigen und vorreflexiven Naturwelt keine Sünde. Nur das durch die Reflexion bewusst gemachte Geschlecht verbindet sich mit der Sündigkeit, somit mit der Geschichte. »Die Sündigkeit ist also nicht Sinnlichkeit, keineswegs, aber ohne Sünde keine Geschlechtlichkeit und ohne Geschlechtlichkeit keine Geschichte.« 233 So wird bei Kierkegaard die »Geschichte« mit der »Sündigkeit« in der Wesensnatur des Menschen verbunden. Die Geschichte wird von den Menschen, die das Geschlecht als Sünde haben, betrieben. Ihre Entstehung ist nach dieser Auffassung das Geschehen, dass die Natürlichkeit der Natur, in der das Geschlecht unschuldig bleibt, von der Sündigkeit übertreten wird, die in der Natur selbst in Form der I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, VIII. Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 115. 232 S. Kierkegaard, Der Begriff der Angst, S. 43. 233 A. a. O., S. 47. 231

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Der Welt-Ort

Möglichkeit geborgen war. Sie ist das Geschehen, dass die »Anti-Natur in der Natur« aktuell wird. Der Gedanke, dass in der unschuldigen Natur selbst die Sündigkeit geborgen ist, verbindet sich mit der Frage in der Theologie nach der Herkunft des Bösen. Wenn man eine ausgezeichnete Bearbeitung dieser Frage in der Philosophiegeschichte sucht, so wird man zur Freiheitsabhandlung Schellings kommen, in welcher der Gedanke des »Ungrundes« den Zenit seiner Untersuchung ausmacht. 234 Und zwischen Schelling und Kierkegaard gibt es, auch wenn letzterer die »Potenzenlehre« des ersteren als die »äußerste Impotenz« bezeichnete, 235 keinen unüberbrückbaren Unterschied. Nicht nur bei Schelling, sondern auch bei Hegel, der für Kierkegaard als der größte Widersacher gilt, kann man den Gedanken der »Anti-Natur in der Natur« finden. Denn: »So ist der Geist in ihm selbst sich entgegen, (…) ein harter, unendlicher Kampf gegen sich selbst«. 236 Der »Geist« bei Hegel ist nicht, wie man ihn oft missversteht, der Bewegkörper, der sich bloß in spontaner und ordnungsgemäßer Entwicklung in der Außenwelt verwirklicht. Er hat den Kampf gegen sich selbst zu seiner Wesensnatur. Die Struktur der 234 Zum Gedanken des »Ungrundes« vgl. die Untersuchungen des Verfassers (vgl. hier die Anm. 96). 235 »Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, sie zu halten. Seine ganze Lehre über Potenzen verrät die äußerste Impotenz« (Brief Kierkegaards in der Zeit vom 22. November 1841 bis zum Februar 1842 an seinen Bruder Peter Christian, zitiert nach: P. P. Rohde, Søren Kierkegaard in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Hamburg 1959, S. 74). 236 G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Bd. 18. Vorlesungsmanuskripte 1816–1831, herausgegeben von Walter Jaeschke, Hamburg 1995, S. 183. Im vorliegenden Buch wird zwar zum Gedanken der »Anti-Natur in der Natur« die Philosophie Schellings und Hegels herangezogen. Der Gedanke selber hat aber beim Verfasser eine lange Gärungszeit hinter sich. Die erste Äußerung desselben geht zurück auf den Dialog des Verfassers mit einem NobelpreisNaturwissenschaftler, Prof. Ken-ichi Fukui (1918–1998), »Wie kann uns die Natur die Norm geben?« (jap.), in: »Newsletter der Technischen Universität Kyôto«, Bd. 50, 20. März 1986, S. 3–8. Die nächste Äußerung war der Aufsatz »Die ›Anti-Natur‹ in der ›Natur‹ selbst« (jap.), in: »Zivilisation und Philosophie. Jahrbuch des JapanischDeutschen Kulturinstituts«, (jap.) Bd. 5, 2013, S. 72–85. Schließlich bezog sich auch der Vortrag auf einem internationalen Symposium »Anti-Nature in Nature itself, in: Comparative Philosophy, Bd. 5, No. 2 (2014), S. 25–34 (Open access/ISSN 2151-6014 www.comparativephilosophy.org) darauf. Jetzt nimmt der Verfasser dieses Thema erstmalig im Rahmen des Denkhorizontes der »Compassion« auf. Das Thema muss allerdings noch weiter entwickelt werden, und was hier dargestellt wird, gilt nur als Ansatz dazu.

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Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst

»Anti-Natur in der Natur« gehört auch zum »Geist«, wenn das Wort »Natur« auch im Sinne der »Wesensnatur« verstanden wird – was in unserem Gedanken der »Anti-Natur in der Natur« prinzipiell gilt. Die Gegensätzlichkeit zwischen Hegel und Kierkegaard besteht deshalb, weil die beiden auf dem gemeinsamen geistigen Boden des Christentums stehen. Wie steht es dann um Dôgen, der tief im geistigen Boden des Buddhismus seine Denkwurzeln schlägt? Darüber, dass seine »Natur«-Ansicht zweifelsohne originär und tief ist, wird man sich einig sein. Aber ob und wie die zum Gebiet der »Geschichte« führende »Anti-Natur in der Natur« bei Dôgen ins Auge gefasst wird, ist bis jetzt noch nicht klar. Bis dies nicht geklärt wird, kann man die »Ferne« und »Nähe« zwischen Dôgen und Kierkegaard nicht ermessen. Bei Dôgen kommt das Problem der »Geschichte« nicht ausdrücklich thematisch vor, was auch die allgemeine Tendenz im Buddhismus ist. Aber nachdem wir die »Sein-Zeit« in der Überlappung mit dem »Welt-Ort« gesehen haben, ist auch vorauszusehen, dass sie zumindest als Keim die Geschichtswelt in sich hat. Folgende Stelle zeigt dies: »Die Sein-Zeit (uji) besitzt das Vermögen (kudoku) des ereignishaften Verlaufens (kyôryaku). Das heißt: von heute nach morgen ereignishaft verlaufen, von heute nach gestern ereignishaft verlaufen, von gestern nach heute ereignishaft verlaufen, von heute zu heute ereignishaft verlaufen, von morgen zu morgen ereignishaft verlaufen«. 237 Es wäre sofort zu sehen, dass der »ereignishafte Verlauf« als das Vermögen der »Sein-Zeit« kein bloß zeitlicher Verlauf ist, der als unumkehrbar vorgestellt wird. Die Zeit wird hier vielmehr in der Weise der Umkehrbarkeit begriffen. Dies ist nicht zu verstehen als eine oft für unsinnig gehaltene, quasi pseudo-zenbuddhistische Phantasie. Die Umkehrbarkeit der Zeit kann mit Hilfe der vorhin in einem anderen Zusammenhang zitierten augustinischen Zeitauffassung verständlicher gemacht werden. Nach seiner Auffassung sind die Vergangenheit in der Erinnerung, die Gegenwart in der Anschauung und die Zukunft in der Erwartung je gegenwärtig. Diese Zeitmodi werden in der Seele als deren ekstatischen Seinsweisen des »animus« erfahren. Wenn die Vergangenheit in der Erinnerung der Seele ge237 Dôgen, Shôbôgenzô. Ausgewählte Schriften. Anders Philosophieren aus dem Zen, S. 100.

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Der Welt-Ort

genwärtig ist, so ist die Erinnerung der ereignishafte Verlauf »von heute nach gestern«. Natürlich ist er auch der ereignishafte Verlauf von »gestern nach heute«. Da das »Heute« in zwei konträren Richtungen vorkommt, gilt hier auch das, was Dôgen sagt: »von heute zu heute«. Ebenfalls, wenn in der Erinnerung das »Morgen« gegenwärtig wird, gilt: »von heute nach morgen«, was auch vom so gegenwärtig gewordenen morgen zu morgen bedeutet. So ist der ereignishafte Verlauf »von morgen zu morgen« nicht befremdend. Diesem »ereignishaften Verlauf« gehört, weil er die Tätigkeit der »Sein-Zeit« ist, auch die Dimension der Geschichtlichkeit an. Dies wird angedeutet im folgenden Wort: »(…) ist auch (Meister) Seigen Zeit, (Meister) Obaku Zeit und sind auch (Meister) Kôzei und (Meister) Sekitô Zeit.« 238 Seigen, Obaku, Kôzei, Sekitô sind alle große Meister in der Geschichte des Zen. Dôgen übt harte Kritik an den damaligen Mönchen im Kaiserreich Sung, weil sie die Worte dieser Meister nicht verstehen, sondern verdrehen. In den Augen Dôgens wird die von diesen Meistern gebildete »Geschichte« des Zen verdeckt und vergessen. Diese Geschichte richtig verstehen und erzählen heißt, den »Welt-Ort«, an dem diese Meister sich gezeigt haben, zu »meiner Sein-Zeit« zu machen und in der Gleichzeitigkeit mit diesen zu stehen. Diese Sein-Zeit realisieren heißt, die Geschichte der Meister mitzubilden und fortzusetzen. In diesem Augenblick ist der mit der »Sein-Zeit« gedeckte »Welt-Ort« Dôgens nicht bloß die »Naturwelt« der Kiefer oder des Bambus, sondern auch die »Geschichtswelt«, in der eventuell auch die »Sünde« (im Buddhismus in Form der Verletzung der Mönche und des Beschimpfens der Buddha-Wahrheit) entstehen kann. Sie ist auch die »geistige Welt«. Von hier aus können wir die vorhin vorgelegte Problemlage, die Ferne und die Nähe zwischen der Naturwelt der »Sein-Zeit« bei Dôgen und dem geistlichen »Augenblick« bei Kierkegaard, erneut sehen, wodurch wir auch die Breite und Weite des Horizontes des »WeltOrts«, den wir im Vergleich mit den beiden zu erörtern versucht hatten, vorläufig wie unten ins Auge fassen. Dôgen sagte: »Auch die Kiefer ist Zeit, und auch der Bambus ist Zeit.« Kierkegaard sagte: »Die Natur liegt nicht im Augenblick.« Die beiden befinden sich in weiter Ferne voneinander. Aber wir sind so weit gekommen, mit Kierkegaard gegen Kierkegaard zu sagen, dass »die Natur im Augenblick liegt«, und mit Dôgen anders als Dôgen zu 238

Ebd.

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Geschichtlichkeit des Welt-Ortes, oder die Anti-Natur in der Natur selbst

sehen, dass die Naturwelt der »Sein-Zeit« auch die Geschichtswelt sein kann. Diese scheinbare »Ferne« der beiden ist die Kehrseite ihrer »Nähe« zueinander. Diese »Fernnähe«, die nicht ohne die »Höhentiefe« der beiden bestehen kann, verweist auch auf den Inhalt des »sich bestimmenden Welt-Ortes«, den wir im Vergleich mit den beiden zu erörtern versucht hatten: Der »Welt-Ort« ist der sich bestimmende Ort, der sowohl an den einzelnen Naturdingen wie auch an den einzelnen ethischen Handlungen und den einzelnen Situationen der Geschichtswelt und schließlich auch an den einzelnen seelischen Entscheidungen im Inneren des Menschen bestehen kann. In der bisherigen Darstellung dürfte klar geworden sein, dass der Begriff des »Welt-Ortes« sowie die auf dem Weg zur Findung dieses Begriffs aufgetauchten Begriffe wie die »Fernnähe« und »Höhentiefe« (1. und 2. Kap.), die »Sinnesvergessenheit« (3. Kap.), die »Phänomenkategorien« und die »Weltkategorien« (4. Kap.) keine beliebigen Einfälle des Verfassers bei seinem Alleingang im Denken waren. Denn in der Darstellung wurden ständig auf die Gedanken der Vorgänger in der Geistesgeschichte verwiesen, die den Versuch beleuchten, die genannten Begriffe zu bearbeiten. Jedoch wäre der Kontext, in dem diese Vorgänger auftauchen, nicht der irgendwo in der Geistesgeschichte bereits aufgezeigte. Dieser Kontext war die »Grundlegung zur Phänomenologie der Compassion«. Die Aufgabe des folgenden zweiten Teils lässt sich von hier aus aufreißen: die Entfaltung dieses »Welt-Ortes« als Konvergenzpunkt des Ersten Teils.

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Zweiter Teil: Die Entfaltung der Phänomenologie der Compassion

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1. Kapitel: Phänomenologie der Fünfsinne. Zu den Tiefenschichten der Sinne

1.

Ist die Lehre der »Fünfsinne« überholt?

»Die Fünfsinne – ein veraltetes Konstrukt«, so wird der erste Abschnitt einer Untersuchung zu den Sinnen betitelt. 239 Dort wird die Sinneslehre seit Aristoteles bis zur Gegenwart überprüft, um darzustellen, dass die Zahl Fünf in der überlieferten Sinneslehre nichts anderes als die Zahl der fünf Sinnesorgane ist, während die wirklichen Körperempfindungen viel mannigfaltiger sind. Die heutige Sinneslehre, exemplarisch gezeigt in dieser Untersuchung, behauptet, dass man je nachdem von den sieben Sinnen, neun Sinnen, zehn Sinnen, siebzehn Sinnen usw. reden kann. Die Forscher weisen darauf hin, dass es auch Empfindungen wie für den Schmerz, die Wärme, den Hunger, die Sättigung, die Müdigkeit, die Mattigkeit, die Bangigkeit und sogar auch das Gefühl der Freiheit und der Kraft usw. gibt. Die Sinnesorgane sollten nach dieser Ansicht über die sogenannten fünf Sinnesorgane wie Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacksund Tastsinn hinaus an allen Körperteilen gefunden werden. Angesichts dieser Diskussionslage wird der Ausdruck »die fünf Sinne« von vornherein für problematisch bzw. überholt gehalten. Nicht nur aus der Perspektive der gegenwärtigen Forschung über die Sinne, sondern auch im Hinblick auf die buddhistische Bewusstseinslehre, die in der vorliegenden Untersuchung berücksichtigt wird, mag die vorliegende Betrachtung der Fünfsinne kritisiert werden. In der buddhistischen Bewusstseinslehre, derzufolge außer dem Bewusstsein (vijñapti) nichts ist, wird die Lehre von »sechs Bewusstseinen« (Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast-, 239 Vgl. Waltraud Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln / Weimar / Wien 2003. Der erste Abschnitt im Teil I wird so betitelt. Dies ist ein Grund dafür, dass hier die »Fünfsinne« als Terminus eingeführt werden, obwohl es im Deutschen dieses Substantiv nicht gibt. Im Unterschied zu der Wendung Naumann-Beyers wird dieser Terminus hier allerdings in einem positiven Sinne gebraucht.

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Phänomenologie der Fünfsinne

Denkungs-vijñāna) als nicht genügend kritisiert, und das siebte Bewusstsein (manas-vijñāna) als ein Tiefenbewusstsein sowie das achte Bewusstsein (ālaya-vijñāna) als die Ursprungsschicht allen Bewusstseins hinzugefügt. 240 In der Tendai-Schule ist das neunte Bewusstsein »amala-vijñāna« und in der Shingon-Schule die Lehre von zehn Bewusstseinen zu finden. Zwar ist der Verfasser nicht imstande, darüber etwas mit Sicherheit zu sagen, aber er versteht, dass es solche Gedanken durchaus geben kann. Ganz zu schweigen von der buddhistischen Bewusstseinslehre, erwecken die oben angegebenen Ansichten, die Fünfsinnes-Lehre als veraltet anzusehen, die Frage: »Was sind die Sinne?« Wenn unter dem Sinn sogar das »Gefühl« der Freiheit oder der Kraft und Macht unmittelbar zu den »Sinnen« gezählt werden soll, so mag die Ansicht zwar der Berücksichtigung wert sein, aber sie führt den Verdacht herbei, dass die Begrifflichkeit zu grob sei. Denn der »Sinn« in Form der äußerlichen »Empfindung« ist eigentlich die organische Reaktion auf die Stöße, die von der Außenwelt her kommen, und insofern schon von dem mit ihr verwandten Gebiet »Wahrnehmung« unterschieden werden soll. Denn diese enthält den Erkenntnisakt »für wahr nehmen«. Dies wird auch auf der Ebene der positivistischen Forschung gezeigt. 241 Wenn weiterhin sogar das »moralische Gefühl« (moral sense) zu den »Sinnen« (»Empfindung« oder »Wahrnehmung«) gezählt wird, so ist natürlich die Zahl der Sinne nicht fünf, sondern unzählig. Zwar kann man mit gewissem Recht sagen, dass dieses »Gefühl« irgendeine körperliche Empfindung mit sich bringt. Dies wäre am Gefühl der Glückseligkeit besonders deutlich. Aber wenn aus diesem Grunde diese Gefühle einfach unter der Kategorie des »Sinnes« aufgefasst werden sollen, so muss gefragt werden, worin letzterer von den innerlichen Gefühlen unterschieden und eigens als »Sinn« genannt wird. Die Breite der positivistisch empiristischen Be240 Vgl. z. B. die Schrift Vasubandhus Dreißig Gelübde (唯識三十頌, Triṃśikāvijñapti-mātratā), Tôkyô 1924–1932, Bd. 31, Abteilung Yuga-bu (瑜伽部), No. 1586, sowie die Erläuterung derselben, Genese der vijñapti-Lehre (成唯識論, Vijñaptimātratā-siddhi). Was die zuletzt angegebene Schrift betrifft, verdankt der Verfasser die Aufklärung dem »Forschungskreis Philosophie« des »Institute for Zen Studies« sowie Herrn Dr. Kazuya Ooi, dem Lektor dieses Lektürekreises. 241 So unterscheidet z. B. James J. Gibson, der für seine »Affordance-Theorie« bekannt ist, die »Empfindung« (sensation) eindeutig von der »Wahrnehmung« (perception). Vgl. James J. Gibson, Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, übersetzt von Ivo und Erika Kohler und Marina Groner, herausgegeben von Ivo Kohler, mit einem Geleitwort von James J. Gibson, Bern / Stuttgart / Wien 1973, S. 18 f.

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Ist die Lehre der »Fünfsinne« überholt?

obachtungen bleibt, wenn ihr die Konvergenz der beobachteten Phänomene fehlt, eine bloße Diffusion. So soll zuerst die Tragweite und der Sachverhalt des »Sinnes« untersucht werden und je nach Bedarf ihr Zusammenhang mit der »Empfindung« oder der »Wahrnehmung« sowie der Gefühle und der Gesinnung in Betracht gezogen werden. Um diese Betrachtung vorwegzunehmen, können alle Sinne phänomenologisch auf die einzige Tätigkeit des Tastsinnes von »Fühlen« bzw. »Berühren« zurückgeführt werden. Nicht nur der äußere Sinn des Fühlens, sondern auch die innerliche »Berührung« und das verinnerlichte »Besinnen« lassen sich als Modi des »Fühlens« auffassen, wie schon der sprachliche Ausdruck andeutet. Zwar braucht insofern die Zahl der Sinne nicht auf fünf beschränkt zu werden. Aber diese Zahl vergrößert sich nicht in unbestimmter Weise, sondern im Ausgang von den exemplarischen Formen der fünf Sinne, und jetzt noch bestimmter: in der Entfaltung des Tastsinnes. In dieser Perspektive ergibt sich der Gesichtspunkt »Fünfsinne« nicht als veraltet, sondern als ausgezeichnete Einstiegsstelle in die phänomenologische Analytik der Sinne. Die Fünfsinne sind die Funktion, die sich an den Spitzen der fünf Körperorgane (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Hände), an denen die Außenwelt berührt wird, betätigen. Sie sind die Stätten der sinnlichen Bezeugung der Weltrealität, die je und je als die sinnliche Form des »Welt-Ortes« gilt, wie er im ersten Teil herausgestellt wurde. Dass an diesem Ort der Fünfsinne die Welt sinnlich bezeugt wird, heißt, von der Welt her gesehen, dass die Welt dort je und je für uns als sinnliches Phänomen erscheint. Dort wird die Welt in jedem Augenblick der sinnlichen Wahrnehmung als vergänglich und hinfällig gespürt, und zwar auch inmitten der gesunden Kondition und Erfülltheit, oder gerade darin. Mit diesem Ausdruck werden allerdings nur die subjektiven Eindrücke angegeben, und die Beschreibung sollte philosophisch bzw. phänomenologisch noch präzisiert werden, was z. B. in Rücksicht auf die Beschreibung des Zeitbewusstseins Husserls mit dem Begriff »Retention« und »Protention« gemacht wurde. 242 Die Phänomene, die vergangen sind, werden nach dieser Beschreibung im Gedächtnis Zur Analytik des inneren Zeitbewusstseins vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), herausgegeben von Rudolf Boehm, HUA 10, Nachdruck der 2. verb. Auflage, 1969.

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Phänomenologie der Fünfsinne

beibehalten und fallen nicht gleich ins Nicht-Sein. Die danach folgenden Phänomene werden im kinästhetischen Erwartungshorizont vorgegriffen. Die »Urimpression« als das, was in dieser Weise geschieht, hat eine gewisse Erstreckung des Zeithorizontes. Aber die Präzisierung der Beschreibung des Zeitbewusstseins ändert die Auffassung der Sinne als des Empfindungsbereichs der Hinfälligkeit der Realität prinzipiell nicht. Husserls phänomenologische Analytik des innerlichen Zeitbewusstseins war zwar epochal, aber diese Präzisierung änderte die Erfahrung mit der Endlichkeit und Sterblichkeit in keinem wesentlichen Sinne. Beiläufig bemerkt, wurde in der Phänomenologie Husserls die »Sterblichkeit« bzw. deren extremes Phänomen »Tod« als das Äußerste der »Endlichkeit« nicht thematisiert. Aber für uns ist die Sterblichkeit ein anderer Ausdruck für die Möglichkeit, dass unsere eigene Existenz ins Nichts hinfällt. Dieses meint nichts anderes, als dass die Sinnesorgane »Auge, Ohr, Nase, Zunge, Tastsinn« die Orte sind für die Erfülltheit unserer Existenz und zugleich auch für die Ahnung dieser Hinfälligkeit der realen Wirklichkeit. Dies heißt, dass die Fünfsinne in Form von »Auge, Ohr, Nase, Zunge, Tasten« die erste intuitive Ahnung dieses Hinfallens des Seins sein können. Nicht nur dies: Diese Fünfsinne können die Stätte der Ahnung ihrer eigenen Hinfälligkeit sein. Es ist nicht schwer, dichterische Ausdrücke zu finden, die diese Ahnung ausdrücken. Hier können die im ersten Teil dieses Buches vorgelegten Kategorien »Fernnähe« und »Höhentiefe« wieder herangezogen werden, aber nicht wie dort als ein heuristisch verwendetes Mittel, sondern als die mit Notwendigkeit auftauchenden Kategorien, die auf dem Weg der Entfaltung des »Welt-Ortes« auftauchen, anders gesagt, als die Kategorien dessen, was eigentlich »nicht ist«, aber dennoch »ist«, somit auf den konkret daseienden »Welt-Ort« des Lebens verweisen.

2.

Die Tragweite des Tastsinnes

Im Fall des »Tastsinnes« gibt es keine räumliche »Entfernung« zwischen dem berührenden Ich und den berührten Anderen. Setzt die »Nähe« im gewöhnlichen Sinne einen räumlichen Abstand voraus, so ist der »Geschmackssinn« das Sinnesorgan, das unter der Voraussetzung der Abstandlosigkeit im physikalischen Sinne besteht. Wenn es sich aber so verhält, so gilt auch der »Geschmackssinn« als das Sinnesorgan, das in der Abstandlosigkeit besteht. Denn der Ge160 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Tragweite des Tastsinnes

schmack kommt dadurch zustande, dass die Zunge und die Kehle von den aufgenommenen Speisen und dem Getränke direkt berührt werden. Allerdings beschränkt sich der Geschmackssinn nur auf den oralen Körperteil. Beim dritten Sinnesorgan, dem »Geruchssinn«, ist ein gewisser Abstand zwar da, wobei der gemeinte Abstand von einigen Millimetern bis zu zwanzig oder dreißig Meter groß sein kann. Bei den Wildtieren kann die Entfernung noch größer sein. Es ist bekannt, dass in Afrika die Elefanten oder Büffel mehrere Kilometer entfernte Orte aufspüren, wo Wasser gefunden werden kann. Aber die Bedingung dieses Geruchssinnes ist doch die Berührung der duftenden Dinge mit den Geruchsnerven, so dass die absolute Nähe der Abstandlosigkeit auch hier vorausgesetzt ist. Das vierte Sinnesorgan, der »Gehörsinn«, und der fünfte, der »Gesichtssinn«, erreichen noch größere Entfernung. Man kann akustisch eine Explosion vernehmen, die in zig Kilometern weiter Ferne geschieht, und mit den Augen kann man die Himmelskörper beobachten, die hunderttausende Lichtjahre entfernt sind. Die Fünfsinne funktionieren, indem sie den jeweiligen Abstand zu den wahrzunehmenden Dingen (Anderen) haben. 243 Die »Entfernung« ist bei den Fünfsinnen je anders. Aber diese haben einen Punkt gemeinsam, nämlich die »direkte Berührung mit den Anderen«. Die Anderen werden in der jeweiligen Weise direkt »berührt«, was als der fundamentale Modus der »Sinne« überhaupt genommen werden kann. Man kann insofern alle Fünfsinne als Modifikationen des Tastsinnes neu auffassen. Die durch das »Tasten« eröffnete »Entfernung« ist zwar nicht zusammenhanglos mit der Entfernung, die durch die physikalische Kategorie ausgedrückt wird, aber auch nicht identisch mit der letzteren. Sie ist die mit den »Phänomenkategorien« bzw. den »Weltkategorien« gemeinte Entfernung, somit die »Fernnähe«, die mit der Innerlichkeit der »Höhentiefe« zusammenhängt. Sie zeigt sich allerdings zuerst in ihrer Extensität. So können wir mit dem »Tastsinn« anfangen, dessen Gegenstand sich in der abstandslosen Nähe findet. Wir gehen dann weiter je nach der Größe der Entfernung im

243 Die »Entfernung« bei der Betätigung der Sinne wird prinzipiell von Heidegger ins Auge gefasst, als er das Wort »Ent-Fernung« in seiner Daseinsanalytik verwendete (vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, S. 105 f.). Heidegger betrachtet in seinen späteren Texten die Phänomene der »Nähe«. Ausgehend davon versuchte Madalina Diaconu eine eigene Untersuchung in ihrer Schrift Tasten Riechen Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, Würzburg 2005.

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Phänomenologie der Fünfsinne

physikalischen Sinne zum Geschmackssinn, Geruchssinn, Gehörsinn und Gesichtssinn. Das Berühren bzw. das Fühlen heißt phänomenal gesehen das Geschehnis, dass zwischen mir, dem Berührenden, und dem Anderen, das berührt wird, keine »Entfernung« liegt. Dies ist kein bloß räumlich-äußerliches Geschehnis. Denn auch das »Gefühl« (engl.: »feeling«) ist, wie das Wort selbst andeutet, eine Art Tast-Sinn. Die Erfahrung überhaupt ist ein »Tasten« bzw. »Berühren« oder »Fühlen« in irgendeinem Sinne. So hat der »Tastsinn« nicht nur irgendeine Stellung unter den Fünfsinnen, sondern ist der Boden der sinnlichen Wahrnehmung und des Gefühls überhaupt. Er erstreckt sich phänomenal vom »äußeren Sinn« bis zum »inneren Sinn« und auch bis zur geistig spirituellen Ebene. Er gilt als der fundamentale Sinn. Die Anderen, denen im Horizont des Berührens und Fühlens begegnet wird, sind nicht nur die impersonalen Anderen, d. h. die »Dinge«, sondern auch die zweite Person »Du« und die dritte Person »er/sie/sie«. Die Berührung mit diesen Anderen geschieht ständig, in der Straßenbahn oder auf der Straße, im Berufs- oder Privatleben, meistens in der Weise der »Sinnesvergessenheit«. Das Verhältnis zu den in Berührung miteinander kommenden Anderen kann bald die Zuneigung oder die Liebe, bald die Abneigung oder der Hass sein. Es geschieht im persönlichen, sozialen, sexuellen, feindseligen, freundschaftlichen usw. Kontext. Es kann auch vorkommen, wie hier im zweiten Kapitel des ersten Teils dargestellt wurde, dass man das non-personale Andere, d. h. den »Tod«, fühlt, diesen somit irgendwie berührt bzw. von diesem gefühlt wird. Im Fall der Berührung mit dem hyper-personalen Anderen, d. h. dem »Göttlichen«, ist dieses kein Phänomen mehr, das jeder erfährt. Sie kann von einem Dritten her gesehen in ihrer Wahrhaftigkeit sogar hinterfragt werden. Ob jemand an sie glaubt oder sie bezweifelt, kann auch eine Prüfung für ihn selber bedeuten, was beispielsweise bei einer Beschreibung wie: »Und alle, die Jesus berührten, wurden geheilt« (Mt 14,36) der Fall sein kann. Wer die Beschreibung verneint, muss sich ebenfalls der Frage stellen müssen, ob und mit welchem Grund oder welcher Einsicht er sie verneint. Die »Berührung« kann auch in Form der Sprache geschehen. Die Worte der Liebe können das Herz des Hörenden berühren, die des Schimpfens können dies auf umgekehrte Weise, indem sie verletzen. Das Berühren ist immer unmittelbar und abstandlos. Aber ein Aspekt desselben darf nicht übersehen werden, auch wenn er zu162 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Tragweite des Tastsinnes

nächst widersprüchlich klingt: die Eröffnung des Abstandes in der Abstandlosigkeit. Beim Kampfsport z. B., in dem die beiden Kämpfer den Anderen ständig durch kämpferische Berührung zu besiegen versuchen, zeigt sich das Niveau der Kampfkunst der beiden, was eben im Kampf selbst zum Ausdruck kommt. Berühren und Trennen sind wie die zwei Seiten einer Münze. Rein physikalisch kommt dies vor, wenn die Körper durch Klebstoff oder Seil miteinander verbunden werden. In dieser Verbindung liegt immer die Möglichkeit des Loskommens. Der Unfall des Loskommens und Herunterfallens des Dachs von einem Gebäude ist eine unglückliche Aktualisierung dieser Entfernungsmöglichkeit. Trotz aller Dimensionsunterschiede zwischen dem Klebstoff bzw. dem Dach und der menschlichen Existenz könnte dennoch gesagt werden, dass auch existenziell die Berührung in Form der Begegnung zugleich die Eröffnung der Entfernung ist, die sich nicht unbedingt in Form der äußerlichen Verabschiedung kundtut, sondern sich eben auch in einer intimen Beziehung zwischen den einander Begegnenden zeigen kann als die wesentliche Andersheit der Anderen. 244 »Berührung« und »Loskommen« stehen im untrennbaren Verhältnis zueinander, was auch als leibliches Phänomen geschieht und eventuell mit der Phänomen- bzw. Weltkategorie »Weitung« und »Engung« betrachtet werden kann. 245 Kurz gesagt, ist der Tastsinn das Geschehen in der Entfernungslosigkeit und zugleich die Erschließung der Entfernung. Diese Zweiseitigkeit ist das Wesentliche im Geschehen der »Fernnähe« als das Zusammengehören von »Ferne« und »Nähe«. Auch zur »Höhentiefe« des Tastsinnes sind einige Hinweise zu geben. Schon beim physikalischen Berühren der Dinge kommt es vor, dass durch die »Härte«, die »Weiche«, die »Wärme«, die »Kälte« usw. nicht nur die Oberfläche dieser Dinge, sondern auch das Innere der244 Dazu vgl. K. Nishitani, »Vom Wesen der Begegnung«, in: Ryôsuke Ôhashi (Hg), Die Philosophie der Kyôto-Schule, S. 242–257. Zur »Logik der Begegnung« vgl. auch Nobuo Kioka, Die Logik der Begegnung. Die Welt der zusammenhängenden Entstehung (jap.), Tôkyô 2017. 245 Diese Kategorien werden von Hermann Schmitz in seiner Leibphänomenologie genutzt. Vgl. dazu seine Schrift Der Leib (1964) sowie seinen Vortrag mit dem gleichen Titel (gehalten an der Universität Hildesheim, 09. Juli 2015). Dass das »Fühlen« mit dem »Gefühl« zu tun hat, wird ebenfalls von Schmitz erwähnt. In seiner sonst präzisen und bewanderten Beobachtung der Leiblichkeit findet der Verfasser noch ein Desideratum der Aufmerksamkeit auf die »Sinnesvergessenheit«, wie sie im vorliegenden Buch dargestellt wird. Denn diese ist der unsichtbare Hintergrund für die leibliche Kommunikation überhaupt.

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Phänomenologie der Fünfsinne

selben gespürt wird. Das Wahrnehmen der äußeren Beschaffenheit der Dinge als der impersonalen Anderen führt zum Fühlen ihres Inneren, was an der Begegnung mit den personalen Anderen am ausdrücklichsten geschieht. Man spürt und fühlt bei der Begegnung mit den Anderen deren innere Wärme oder Kälte, Hochherzigkeit oder Gemeinheit, Liebe oder Hass. Zwar weiß man auch, dass das äußere Aussehen oft täuscht, was aber nichts daran ändert, dass das Innere durch das Aussehen in irgendeiner Weise zum Ausdruck kommt. Der Tastsinn ist das Durchbrechen der Sinnesvergessenheit an den getasteten Körperteilen, wodurch aber die Sinnesvergessenheit der sonstigen Körperteile eher verdeckt wird. Zugleich kann es aber auch vorkommen, wenn man will, dass das Gewahr-werden eines bestimmten Körperteils zum Gewahr-werden des unbemerkt bleibenden Ganzen führt. Wir sahen im dritten Kapitel des vorigen Abschnittes, was in der Wahrnehmung des Stechens einer Mücke am Arm geschieht. Zum weiteren Beleg ist ein Haiku-Gedicht Bashôs zu zitieren, das lautet: »Wasserschöpffest – / die vereisten Sandalen der Mönche / klappern.« (Mizutori ya / kôri no sô no / kutsu no oto). Die Kälte bei der buddhistischen Zeremonie, in der die Mönche das eiskalte Wasser aus der Quelle schöpfen und dieses in die BuddhaHalle transportieren, wird von den Mönchen vergessen, aber von den die Zeremonie anschauenden Betrachtern gespürt. In dem Augenblick, in dem diese Vergessenheit auch mit den Betrachtern geteilt wird, eröffnet sich die strenge Höhentiefe der Zeremonie. Die in dieser Weise hervortretende Fernnähe und Höhentiefe des Tastsinnes ist zugleich das Aufgehen des »In-Berührung-mit-derWelt-seins«, und dieses ist nichts anderes als das Geschehen des jeweiligen »Welt-Ortes«. Die von Husserl in Gang gebrachte und von Merleau-Ponty entwickelte Leibphänomenologie 246 hat in der Wahrnehmungsanalytik 246 Die Leiblehre und Sinneslehre bei Husserl in Cartesianische Meditationen, in: HUA 1: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag, 1973, V. Meditation: Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als monadologische Intersubjektivität, S. 121–176, sowie Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, zweites Buch, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, herausgegeben von Walter Biemel, HUA III/2, Den Haag 1952, drittes Kapitel. Die Konstitution der seelischen Realität durch den Leib wird prinzipiell aus

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Die Tragweite des Geschmackssinnes

viele beträchtliche Früchte gebracht. Dabei wurde aber die Sachlage der »Sinnesvergessenheit« nicht ins Auge gefasst. Das war wohl nicht zufällig, sondern gewissermaßen notwendig. Denn die Phänomenologie in der genannten Linie geht mit Recht von der sinnlichen Erfahrung der Phänomene aus und hat die Analytik der leiblichen Wahrnehmung sowie die Reflexion über das Erfahrungssubjekt »Ich« zu ihrer Hauptaufgabe. Die philosophische Bewegung dieser Phänomenologie hat zwar eine Epoche in der Philosophiegeschichte eröffnet. Aber gerade deshalb bedarf sie einer weiteren Untersuchung, und zwar gerade bezüglich des Ausgangspunktes der Phänomenologie selbst. Es handelt sich dabei um das Problem, dass »mein Ich« einerseits der Gegenstand der transzendentalen Reflexion, aber andererseits das nicht zu hintergehende Subjekt dieser Reflexion ist und somit als Grenzbegriff gilt. Es ist der Problembereich, den Aristoteles ursprünglich mit der Formel »noêsis noêseôs« gezeigt hat und der bis jetzt wie ein Grundwasserstrom in der philosophischen Erkenntnisphilosophie fließt. Er bildet mit der östlichen Geistestradition, in der es um die »Erforschung des eigenen Selbst« geht, einen Schnittpunkt, zu dem diese Tradition ihrerseits einiges zu sagen haben wird.

3.

Die Tragweite des Geschmackssinnes

Wenn man alle Fünfsinne als Modifikationen des Tastsinnes ansehen kann, so ist das diesem am nächsten liegende Sinnesorgan der orale, da der »Geschmackssinn« dadurch zustande kommt, dass die Speise diesen berührt. Der Unterschied zum Tastsinn liegt nur darin, dass im Fall des Tastsinnes die Haut des ganzen Körpers und auch einige innere Organe empfindungsfähig sind, beispielsweise der Magen beim Trinken des heißen Kaffees, während im Fall des Geschmackssinnes nur die Zunge und der innere Mund den Geschmackssinn tragen. Wie aber das Fließen des Wassers im Fluss an engen Stellen schneller wird, so wird die Empfindung des Geschmacks verfeinerter als der der Sicht des »konstitutiven Bewusstseins« entwickelt. Den Versuch, anhand der Leibesphänomene die Leiblichkeit zu erschließen, führte erst Merleau-Ponty durch. Allerdings kann man auch bei Merleau-Ponty nicht stehenbleiben. Dazu vgl. hier »Einige Bemerkungen zu Merleau-Ponty« im I. Teil, 3. Kapitel, 6. Abschnitt. Der Versuch Michel Henrys, die Phänomenologie Husserls in immanent-kritischer Weise zu durchbrechen, ist auch bemerkenswert. Vgl. dazu eine thematische Betrachtung des Verfassers im II. Teil, 4. Kapitel, 1. und 2. Abschnitt.

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Phänomenologie der Fünfsinne

allgemeine Tastsinn und gewinnt unter Umständen eine geistige Bedeutung. Die Rede vom »guten« oder »schlechten Geschmack« verweist auf den innerlichen Empfindungssinn des Menschen, der bis zur geistigen Dimension verfeinert werden kann. Ein Paar Beispiele dafür sind anzugeben. In der Theosophie Jacob Böhmes werden die Geschmäcke wie süß, sauer, bitter, herb usw. als Qualitäten der göttlichen Kraft gezählt. 247 In seiner Schrift Struktur des ›iki‹ nutzt Graf Shûzô Kuki (1888–1941) 248 die Figur des Hexaeders, dessen Kanten in einem bestimmten Funktionszusammenhang miteinander verstanden werden, um die Kombination der ästhetischen Sinne der japanischen Ästhetik des »iki« zu erklären. Die eine Kante ist »herb«, eine andere ist »süß«. Dass die Mystik Böhmes und Kukis japanische Ästhetik einigen Geschmackssinnen eine jeweils ästhetisch geistige Bedeutung zuschreiben, ist nicht ganz zufällig. Es sei daran erinnert, dass das »ästhetische Urteil« bei Kant das »Geschmacksurteil« genannt wird. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass auf der alltäglichen Ebene die Ausdrücke wie »süß«, »bitter«, »sauer« usw. für die Bezeichnung der Personalität oder der lebensweltlichen Erfahrungen verwendet werden. Dies alles deutet an, dass der Geschmackssinn nicht bloß der bestimmte eine Fall des physiologischen Tastsinnes, sondern auch der Sinn der innerlichen Sphäre ist. Was für ein Phänomen ist der Geschmack überhaupt? Wenn es nur ein Begleitphänomen der Aufnahme der Nahrung wäre, so wäre er ein biologisches Phänomen, das zu keinem »Geschmack« von Vorliebe oder Abneigung führt, und mit der ästhetisch-religiösen Erfahrung nichts zu tun hat. Zwar ist wohl die in den biologischen Phänomenen enthaltene Tendenz von Vorliebe und Abneigung, die bei Pflanzen, Tieren, Fischen, Vögeln usw. in der Berührung mit ihren Anderen gezeigt wird, ein Vorzeichen von so etwas wie »Geschmack« im ästhetischen Sinne. Aber gerade deshalb ist dies noch nicht die Erfahrung von süß, bitter, sauer, usw., die als die geschmackhafte Basis der Existenz gilt. Der Geschmack ist sowohl im Deutschen wie auch im Japanischen und Englischen nicht nur ein physikalisch-biologischer, sondern auch ein ästhetischer Begriff, der auf das kulturelle 247 Dieses hat der Verfasser etwas ausführlich dargestellt in Schnittpunkte. Essays zum ost-westlichen Gespräch, erster Band, Dimensionen des Ästhetischen, Nordhausen 2013, S. 181 ff. Eine Wiederholung im Hinblick auf den gegenwärtigen Zusammenhang erscheint nicht nötig. 248 Shûzô Kuki, Struktur des ›iki‹ (jap.), Bd. 1 der Gesamtwerke von Shûzô Kuki, Tôkyô 1982.

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Die Tragweite des Geschmackssinnes

und existenzielle Phänomen verweist. Ein Geschmack wie »bitter« oder »süß« kann auch als Ausdruck für die Lebenserfahrungen verwendet werden. Er ist eine Weise des »In-Berührung-mit-der-Weltseins« in Form einer »Phänomenkategorie«, eine »Weltkategorie« in Form der »Berührung«. Der Geschmack ist wie der Tastsinn ein »Weltphänomen«, da er je und je ein »Welt-Ort« der Erscheinung der Welt ist. Er kann aus der Perspektive des einzelnen Wahrnehmungsorgans kaum beleuchtet werden. Denn die Wahrnehmung eines Geschmacks bedeutet, dass die organischen Lebewesen in der Außenwelt, wie Pflanzen, Tiere, Fische, Vögel, und die unorganischen Materialien, wie das Wasser und die Luft, als »Speise« in unsere Körper hineinkommen. Sei es in Form des Kampfs um die Existenz, sei es in Form der friedlichen KoExistenz, ist der Geschmack eine Art Schallwelle, Farbe, Stoß usw. des Geschehnisses. Durch ihn schlägt das »Draußen« ins »Drinnen« unseres Leibes um. Der Geschmack ist des Weltphänomens Fokus, Stätte, Ort, somit eine sinnliche Form des »Welt-Ortes«. Hiermit hängt auch zusammen, dass das Essen mit dem Geschmack eine spirituelle Bedeutung erhalten kann. Es ist nicht selten, dass ein Ritual Essen und Trinken als Bestandteil hat. Bei der Hochzeit im Shintô-Stil wird der Reiswein zunächst dem Gott gewidmet, danach dem Bräutigam und der Braut und anschließend den anwesenden Verwandten auf der Seite des Bräutigams und der Braut. Mit diesem Essen und Trinken beginnt die innerliche Verbindung der Verwandten. Bei der Messe in der christlichen Kirche wird das Brot als Fleisch Christi und der Wein als Blut desselben von den Anwesenden zu sich genommen. »Denn so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er wiederkommt.« (1. Korintherbrief, 11,26) Fasst man dies als »Gott essen« im hohen Sinne auf, als eine Art der Vereinigung des Menschen mit Gott, so wird man versucht, diese religiöse Tat mit der barbarischen Sitte des Karnevals, »den Menschen zu essen«, zu verbinden. 249 Allerdings führt das allzu schnelle Aufeinanderbeziehen der beiden Handlungen leicht dazu, die dem Geistigen eigentümliche Sinndimension eher zu verdecken. Denn dadurch wird nur das Geistige auf das Primitive zurückgeführt. Im vorliegenden Kapitel geht es aber darum aufzuzei249 Zur ethnologischen Untersuchung zum Karneval vgl. William Arens, The ManEating Myth, Oxford UP, New York 1979. Arens weist ausdrücklich darauf hin, dass das Sakrament und der Karneval eine gewisse Verwandtschaft haben.

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Phänomenologie der Fünfsinne

gen, dass der Geschmack eine Weise des »In-Berührung-mit-derWelt-seins« ist und einen Zugang zum geistigen Bereich eröffnet. Dies ist in der Tat abgesehen von einigen Abhandlungen in der Peripherie der phänomenologischen Forschung ein noch kaum betretener Themenbereich in der bisherigen Leibesphänomenologie. 250 Wegen der Sinnlichkeit des »Geschmackssinnes« bleibt das Essen und Trinken keine bloß physikalische Bewegung wie etwa das Benzintanken in ein Auto. Die Sinnlichkeit des Geschmackssinnes kann unter Umständen zur religiösen Gesinnung verinnerlicht werden. So werden z. B. im Zen-Buddhismus die sogenannten »Fünf Verse« vor dem Essen rezitiert, und die Christen beten vor dem Essen, um Gott Dank auszusprechen. 251 Allerdings verbindet sich der Geschmackssinn auch mit dem Appetit als einer der größten Lüste des Menschen, auch wenn er nicht unbedingt mit den Lüsten gleichzusetzen ist. Die Lebensenergie und die asketisch geistige Spiritualität stehen oft in einem Spannungsverhältnis, indem sie der anderen Seite immer als der Kehrseite der eigenen bedürfen. Das Phänomen »Geschmack« ist, um die Betrachtung zusammenzufassen, vermittels der Phänomenkategorien bzw. Weltkategorien der »Höhentiefe« in leibphänomenologischer Perspektive zu verstehen. Wie die Ferne und die Nähe bzw. die Höhe und die Tiefe physikalisch nicht an sich existieren, so existiert auch der Geschmack süß, bitter, herb, usw. nicht, was sich an der banalen, alltäglichen Tatsache zeigt, dass dieselbe Speise je nach der leiblichen oder stim-

250 Die »Phänomenologie des Leibes«, die prinzipiell von Husserl in Gang gebracht, von Merleau-Ponty in feiner Weise weiter gebracht und seitdem von verschiedenen Phänomenologen weiterentwickelt wurde, etabliert schon einen sinnvollen Problembereich. Aber der mit dem Essen und Trinken verbundene Geschmackssinn scheint bis jetzt, ausgenommen in der ethnologischen Forschung, in der phänomenologischen Forschung nicht thematisiert zu werden. Indessen scheint das, was in der psychologisch-medizinischen Forschung zu Anorexie oder Bulimie herausgestellt wird, einige Ansatzpunkte anzubieten für die phänomenologische Forschung des Geschmacks überhaupt. 251 Der erste Vers der »Fünf Verse« lautet: »Erstens Andenken an die Bemühungen für dieses Essen und an die Herkunft dieses Essens«. Im Gebet der Danksagung, das von den Christen vor dem Essen ausgesprochen wird, wird der Dank an Gott ausgesprochen, während die Danksagung der »Fünf Verse« an die unzähligen Menschen sowie die unsichtbaren Umstände im Ganzen gerichtet ist. Auch in dieser Differenz drückt sich die Verschiedenheit der Höhentiefe der Danksagung im Buddhismus und Christentum aus, und die ausgesprochenen Worte können als Phänomene des jeweiligen »Welt-Ortes« aufgefasst werden.

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Die Tragweite des Geruchssinnes

mungsmäßigen Kondition oder der Atmosphäre anders schmeckt. Der Geschmack ist auch ein »Welt-Ort«, an dem sich die Welt als die »Geschmackswelt« je und je bestimmt und erschließt.

4.

Die Tragweite des Geruchssinnes

Entsprechend der Reihenfolge der Darstellung ist zum Geruchssinn überzugehen. Zuerst ist in der Perspektive der »Fernnähe« auf das Problem der »Entfernung« zu fokussieren. Der Geruchssinn setzt eine bestimmte physikalische Entfernung voraus, bei den Menschen ca. einige Millimeter oder Zentimeter bis mehrere zehn Meter und bei bestimmten Tieren, wie vorhin gesehen, bis zu mehreren Kilometern. Zwar ist der physiologische Mechanismus dieses Geruchssinnes äußerst komplex und wird medizinisch noch weiter erforscht. Aber eines steht fest: Der Geruchssinn ist die Aktivität, die dadurch zustande kommt, dass ein Impuls von außen auf die Geruchsnerven wirkt und diese berührt. Der Geruchssinn ist eine Weise des »InBerührung-mit-der-Welt-seins«. Er kommt dabei ständig in eins mit einer »Sinnesvergessenheit« vor. Der Geruch nämlich ist das gleichzeitige Geschehen von »Etwas riecht« und »Ich rieche etwas«, das Geschehen eines »Welt-Ortes«. Dies ist dasselbe mit dem gleichzeitigen Bestehen von »Etwas schmeckt« und »Ich schmecke etwas« im Geschmackssinn oder von »Dieser Stein ist hart« und »Ich berühre den harten Stein« im Tastsinn. Das jeweilige »In-der-Berührung-mit-der-Welt-sein« ist je ein »Welt-Ort«. Am Welt-Ort, an dem »etwas riecht«, kommt es vor, noetisch gesehen, dass ich vergesse, dass »ich rieche«. Noematisch betrachtet, ist es so, dass, indem ein Geruch riecht, die anderen Gerüche in den Hintergrund zurücktreten. Wenn ich bewusst und konzentriert den Duft des Weins rieche, werden die Düfte der daneben liegenden Speisen und die Gerüche der Kleidung der Leute am Tisch vergessen, und diese Vergessenheit ist die Bedingung für das Riechen des Duftes des Weins. Wenn der Geruchssinn als ein Welt-Ort besteht, so ist selbstverständlich, dass dort auch die Phänomen- bzw. Weltkategorien von »Fernnähe« und »Höhentiefe« bestehen. An konkreten Beispielen in literarischen Werken ist zu ersehen, wie die Welt des Geruchssinnes eine inhaltsreiche Höhentiefe und Fernnähe in sich birgt. 169 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Phänomenologie der Fünfsinne

Aus der Erzählung Genji monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji) ist ein Beispiel des vornehmen Duftes zu zitieren. Im Kapitel »Die Prinzessin Utsusemi« dieser Erzählung wird dargestellt, wie der Prinz Genji vergeblich versucht, sich der Prinzessin Utsusemi anzunähern, obwohl diese ihn bereits einmal, wenn auch wider Willen, akzeptiert hatte. Sie will ihn nicht wieder an sich heranlassen. Eines Abends schlich Genji in Utsusemis Schlafzimmer, was sich damals als ein Weg der Annährung an eine Frau unter dem Begriff »Nachtbesuch« (jap: yobai) verbreitet hatte. Utsusemi hat das am Duft des Kleides des Prinzen gespürt und ist entflohen, wobei sie ihr Kleid im Schlafzimmer hinterließ. Genji nahm dieses Kleid mit, ging nach Hause zurück und machte ein waka-Gedicht, das sinngemäß wie folgt lautet: »Unter dem Baum, an dem die Zikade ihr leeres Kleid hinterließ, denke ich immer noch an sie.« Hier sei darauf aufmerksam gemacht, dass das Wort »utsu« im Wort »Utsusemi« die »Leere« bedeutet, was die Voraussetzung für das genannte Gedicht ist. »Semi« ist die Zikade. Der Name der Prinzessin Utsusemi bedeutet also wörtlich die leere Zikadenschale, meint aber jetzt das leere Kleid ohne die dieses tragende Person. Der mit dem Geruchssinn gespürte Duft ist ohne Trägerin, die zwar existierende Person ist, deren Existenz aber für Genji wie die Erscheinung der Leere gespürt wird. Der Prinz Genji hegt dieses Gefühl, indem er das leere Kleid der Prinzessin umarmt. Diese Empfindsamkeit und das Gefühl beim »Andenken« an eine Person sind nahe zueinander. Das, dessen man andenkt, ist immer ein nicht Gegebenes. Das »Sein« und das »Nicht-sein« sind in einem Gegenstand des Andenkens untrennbar. Eine buddhistische Erzählung ist auch zu erwähnen. Im Kapitel »Das Buddha-Land der Düfte« im »Vimalakīrti Sutra« wird erzählt, dass jenseits unzähliger Buddha-Länder, deren Zahl so groß ist wie die Zahl der Sandkörner im Fluss Ganges, ein Buddha-Land namens »das Land der schönen Düfte« liegt. Dort wohnt ein Buddha namens »Buddha des wundersamen Duftes«, und die dort wohnenden Bodhisattvas können durch Düfte die Dinge erkennen. Auf Wunsch Vimalakīrtis legt der Buddha dieses Landes eine Speise in eine Schale, um diese dem Botschafter aus der säkularen Welt zu überreichen. Als die Speise kam, sagt Vimalakīrti den Leuten, dass die Speise wie »die große Compassion duftet«. Dieser Ausdruck deutet an, dass das Phänomen »Duften« nicht unbedingt nur auf das physikalische Gebiet 170 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Tragweite des Geruchssinnes

beschränkt zu werden braucht, sondern phänomenologisch als das Phänomen des »Aus-Drückens«, als das Heraustreten des innerlich Geistigen nach Außen verstanden werden darf. Das Duften der großen Compassion bedarf keiner rationalisierenden Entmythologisierung. Unter dieser Prämisse ist darauf hinzuweisen, dass die danach folgende Darstellung im »Buddha-Land der Düfte« ganz ähnlich ist mit der Beschreibung in den Evangelien (Mk 6,30–44; Lk 9,12–17; Joh 6,1–14). Jesus hat mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen etwa fünftausend Männer gespeist. Im 10. Kapitel des »Vimalakīrti Sutra« wird gesagt, dass »auch wenn vier Seen erschöpft werden, diese Speise nicht erschöpft werden wird«. Das Phänomen »Sättigen« ist nicht nur im physiologischen, sondern auch im leiblich-seelischen Sinne als die »Erfüllung« schlechthin aufzufassen, was man immer wieder im Alltag erfährt. Die Erzählung des duftenden Landes endet nicht einfach damit, dass die Speise unerschöpft reichlich ist. Eine noch wundersamere, dennoch ganz selbstverständliche Wirkung dieses Duftes wird erzählt. Ein Überbringer der Speise aus dem Land des Duftes sagt nämlich: »Der Nyorai-Buddha in meinem Land macht keine Predigt mit Buchstaben. Er kann einfach mit verschiedenen Düften die Himmelsleute zur Gebot-Übung veranlassen.« In diesem Buddha-Land predigt der Duft selbst die Buddha-Lehre. Das Vorurteil, dass eine Predigt nur mit Worten gesprochen wird, wird von der Predigt selbst zurückgewiesen. Was damit gemeint wird, wird mit einem anderen buddhistischen Ausdruck gesagt, nämlich die »Predigt durch die leblosen Dinge«. Die Bäume oder die Steine sprechen die Predigt aus. Denn die Bäume sprechen, was die Bäume sind, und die Steine, was die Steine sind. Man braucht ihnen nur zuzuhören, um zu erkennen, was die Welt und was das eigentliche Selbst sei. Dies kann auch mit dem Schmecken geschehen. Was so und so schmeckt, spricht aus, was dieses sei. Diese Erfahrung kann zu einer künstlerischen verfeinert werden. Der seit der Heian-Dynastie überlieferte »Duft-weg« (kôdô) zeigt die Übung namens »das Hören des Duftes« (monkô), bei der man die Höhe und die Tiefe des Duftes bestimmter Arten von Holzstücken bzw. Pulver erkennt. Die Welt des Geruchssinnes ist nicht immer so glücklich wie in der erwähnten Erzählung. In Die Brüder Karamasow kommt folgende Szene vor: Der von allen Leuten verehrte Starez Sossima ist gestorben. Seine Leiche wurde in seiner Stube aufgebahrt. Der Ver171 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Phänomenologie der Fünfsinne

wesungsgeruch entstand und begann sich zu verbreiten. 252 Die Leute, die geglaubt hatten, dass die Leiche des Heiligen nicht verwest, begannen zu murmeln, es sei ein Urteil Gottes. Die Unruhe verbreitete sich, und groteske Gerüchte gingen herum. Ein verrückter Kleriker, der die Institutionalisierung des Starez-Ranges gehasst hatte, trat in die Leichenhalle ein. Alijoscha, der von Herzen Sossima verehrt und geliebt hatte, befand sich auch im Durcheinander. Es sei hinzugefügt, dass das Thema »Gesicht« in Alijoschas Gedanken auftaucht. »Für ihn stand hierbei im Vordergrund vor allem anderen die Person seines geliebten Starez, jenes Gerechten, den er bis zur Vergötterung verehrt hatte.« 253 Wenn Alijoscha Sossima wegen seines liebevollen Gesichts verehrt hatte, so musste diese Verehrung mit der Verwesung der Leiche des Heiligen zerstört werden. Was die Seele dieses Jungen bewegt hatte, musste, um es teilweise mit dem Gedanken des »Unendlichen« bei Levinas zu sagen, die unendliche Liebe Sossimas gewesen sein, und diese zeigte sich im und mit dem Gesicht, wobei das Gesicht selbst nicht dieses Unendliche ist. Die »Welt Gottes«, an die Alijoscha einst naiv geglaubt hatte, aber an die er jetzt zu glauben aufhörte, ist dieses äußerliche »Gesicht«. Der hier geschilderte Verwesungsgeruch ist ein normales Phänomen. Für Alijoscha war es aber das Geschehnis, dass die »Welt Gottes«, an die viele Menschen glauben, zu verwesen beginnt. Er verabschiedet sich von dieser oberflächlichen »Welt Gottes«, um den naiven Glauben zu durchbrechen und zur echten Bekehrung im Inneren zu kommen. Ein anderes Beispiel für die den Geist erreichende Wirkung des Geruchssinnes ist der Bestseller Patrick Süßkinds, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (1985), ein Roman über einen Mörder, der keinen Körpergeruch hat. 254 Aber hier sollten wir uns an eine phi-

F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow, siebentes Buch »Aljoscha«, Kap. 1 »Verwesungsgeruch«. 253 A. a. O., Kap. 2 »Der gewisse Augenblick«, S. 288. Das Wort »Antlitz«, im Russischen: »Лицо«, wird in der deutschen Übersetzung mit »Person« übersetzt. Aber das russische Wort »Лицо« heißt, so weit ich sehe, in erster Linie doch das »Antlitz« bzw. das »Gesicht«. »Person« ist die abgeleitete Bedeutung, da das Wort auf »persona« (die Maske) zurückgeführt werden kann. Aber das, was im Inneren Aljoschas danach geschah, begann eben mit der Erinnerung an Sossimas Gesicht. Das Wort »Лицо« muss das »Antlitz« heißen. 254 Patrick Süßkind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich 1985. 252

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Die Tragweite des Geruchssinnes

losophische Sinneslehre wenden, nämlich an die Schrift Condillacs Traité des Sensations (1754). Condillac hat, ausgehend von der experimentellen Annahme einer Statue, die mit organischem Geruchssinn (l’odorat) versehen wird, ein Gedankenexperiment gemacht, um zu zeigen, dass dieses Sinnesorgan alle andere Sinnesorgane entstehen lässt. Diese Statue hat nämlich den Geruchssinn, nicht aber die Vorstellung der materiellen Ursache für die Gerüche (Kap. 1). Vermittels dieses Sinnesorgans erwirbt sie bald die Freude (jouissance), das Leid (souffrance), das Gedächtnis (mémoire) und beginnt ein »Urteil« darüber zu bilden und somit die Begierde (besoin), die Imagination (imagination), die Lust (désir), die Leidenschaft (passion), die Liebe (l’amour), den Hass (haine), die Hoffnung (ésperance), die Furcht (…) usw. zu besitzen (Kap. 3). Sie kennt dann auch das Gefühl der Zufriedenheit (contentement) und der Unzufriedenheit (mécontentement) (Kap. 4), beginnt, im Schlaf (sommeil) den Traum (songe) zu erfahren (Kap. 5). Sie kann bald aussprechen: »Ich« (moi ou je) (Kap. 6) und beginnt, die Keime aller Funktionen der Seele zu haben (Kap. 7). In den weiteren Kapiteln (bis Kap. 12) werden der Geruchssinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn, und der Gehörsinn behandelt. Der Tastsinn wird zwar in diesen Kapiteln nicht behandelt, ist dann aber das große Thema des zweiten und dritten Teils, und im vierten Teil wird der Mensch, der alle diese Sinne hat, als das Individuum betrachtet. Das Ganze ist sozusagen als literarisch-philosophischer »Reduktionismus auf die Sinne« zu bezeichnen und demonstriert, dass aus dem Geruchssinn alle Seelenfunktionen entstehen. 255 Zwar ist die Ansicht Condillacs in den Augen der heutigen Physiologie unhaltbar. Seine Sinneslehre wird heute kaum beachtet. 256 Aber die Ansicht, den sonst bloß als einen äußeren Sinn angesehenen Geruchssinn als Ursprung aller Seelenfunktionen zu betrachten, ist formell ähnlich mit der Ansicht des vorliegenden Buchs, alle fünf Sinne als Modifikationen des Tastsinnes aufzufassen. Es wäre insoCondillac, Traité des Sensations, 1754, deuxieme édition 1778, jetzt in: Librairie Larousse – Paris VIe. Der Ansatz in »einer Statue« scheint zwar zunächst allzu künstlich zu sein, aber Condillac selber wollte damit, wie er im Vorwort »Avis important au lecteur« bemerkt, die Sache möglichst exakt »beobachten«. Darin sieht man den positivistischen Geist des 18. Jahrhunderts in Frankreich. 256 Einige Condillac-Forscher gibt es doch. Vgl. den Aufsatz eines jüngeren Forschers, Shôhei Oda, Die analytische Methode Condillacs in seinem »Essai sur l’origine des connaissances humaines«, (jap.), in: Bigaku, Vol. 246, 2015 Sommer, S. 41–52. 255

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Phänomenologie der Fünfsinne

fern gerechtfertigt, Condillacs Ausführungen als Vorläufer des vorliegenden Kapitels anzusehen.

5.

Die Tragweite des Gehörsinnes

Im Hinblick auf die »Entfernung« hat der »Gehörsinn« bzw. das »Hören« im Vergleich zum Tastsinn, dem Geschmackssinn und dem Geruchssinn eine auffällig große Tragweite, auch wenn nicht so groß wie der Gesichtssinn, der anschließend zu erörtern ist. Diese Tragweite verbindet sich auch mit der spirituell innerlichen Tragweite. So wird das »Hören« seit alters her in der Philosophie und Religion unzählige Male in verschiedenen Weisen thematisiert, so dass ein Überblick gar nicht leicht ist. Wenn hier dennoch dieses Sinnesorgan betrachtet wird, so ist im Voraus klarzumachen, welcher neue Gesichtspunkt hinzugefügt wird. Mit wenigen Worten gesagt, geht es um die Aufmerksamkeit darauf, dass die verschiedenen Modi des »Hörens« die Erschlossenheit der verschiedenen Modi der »Anderen« sind, was zwar auch im Fall des »Tastens«, »Schmeckens« und »Riechens« an sich schon zu sehen war, aber erst im Gehörsinn ausdrücklich wird. Schon die Wendungen wie »jemandem zuhören«, »aufhorchen«, »jemandem gehorchen«, »jemanden erhören« usw. weisen darauf, wie unterschiedlich das »Hören« der Anderen ist, was die verschiedenen Weisen der Erschlossenheit der Anderen andeutet. Im die-Anderen-»Hören« wird noch eines ausdrücklich: Das Gehörte zeigt sich nicht nur als das dem hörenden Subjekt gegenüberstehende, gegenständliche Objekt, sondern auch als das »sich hören lassende« Subjekt, dem man zuhört. Was dabei »sich hören lässt«, d. h. ein Geräusch, ein Klang, ein Lärm, ein Krachen, ein Ton, eine Stimme usw., ist je ein »Weltphänomen« und nicht ein bloß subjektiv physiologisches Phänomen. Dass sich etwas hören lässt, befindet sich zunächst und zumeist in der »Sinnesvergessenheit«. Es kommt aber auch vor, dass diese Sinnesvergessenheit aus irgendeinem Anlass beim Hören einer Stimme aufgebrochen wird. Man denke daran, dass ein Geräusch unversehens ins Ohr kommt und wir plötzlich geweckt werden. Man bemerkt, dass sich dort ein »sich bestimmender WeltOrt« eröffnet. Dieser Gesichtspunkt für die Anderen beim Gehörsinn könnte als neu angesehen werden. Aber es ist für uns sekundär, ob und inwieweit dieser Gesichtspunkt neu ist. Es kommt für uns darauf 174 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Tragweite des Gehörsinnes

an, welche Tragweite bzw. welche Fernnähe und Höhentiefe des Gehörsinnes in dieser Perspektive sichtbar wird. Fokussieren wir die Betrachtung auf die »sich hören lassenden Anderen«. Was beim Gehörsinn ziemlich spezifisch ist, ist, dass hier »der Andere in der ersten Person« oft auftaucht. Wenn man sich selbst etwas sagt, wird man sich als den Anderen sprechen hören. Die eigene Stimme ist zugleich die des Anderen. Nicht nur bei diesem Monolog, sondern auch bei einer ganz normalen Unterhaltung mit Freunden oder Nachbarn hört man ständig die eigene Stimme sprechen – bald laut, bald leise, zornig oder lachend – ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn man aus irgendeinem Grund die eigene Stimme überhaupt nicht hören kann, was ein ganz anomaler Zustand ist, wird man nichts mehr aussprechen können. Man kann schreien oder flüstern, weil man selber hört, wie man selbst schreit oder flüstert. Die eigene Stimme als die Stimme des Anderen in sich zu hören, bildet den Sinn des akustischen Gleichgewichts. Die Verdoppelung des eigenen Ich kann nicht nur am Doppelsinn, der, wie vorhin erwähnt, bei Husserl und Merleau-Ponty behandelt wurde, sondern auch an den bisher betrachteten drei Sinnen beobachtet werden. Aber im Fall des Gehörsinnes ist sie deshalb spezifisch, weil das Hören der eigenen Stimme als der des Anderen als der akustische Sinn des Gleichgewichts sich zum Maßstab seiner selbst macht, was bereits den Keim des »Selbstbewusstseins« in sich birgt. Dies heißt, dass der Gehörsinn nicht bloß der äußere Sinn bleibt, sondern zu der Bildung des innerlichen Bewusstseins beiträgt. Im Gehörsinn ist eine Stätte geöffnet, in sich für sich selbst zu sein. Von hier ist zu verstehen, dass das »Hören« nicht eine bloß äußere Wahrnehmung bleibt, sondern sich mit der geistigen Aktivität verbindet. Im Hören eines Geräusches liegt auch die Richtung der ekstatischen »Ichlosigkeit« bereits geborgen, indem man »ich-los« diesem Geräusch zuhört. Im Äußersten dieser Ich-losigkeit ist auch die Glaubenserfahrung angelegt, »dem Ruf Gottes zuzuhören«. Diese religiöse Erfahrung ist immer einer Überprüfung bedürftig. So stellt Augustinus den Satz im Johannesevangelium in Frage, der wie folgt beginnt: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.« Augustinus fragt, wer dieses Wort gehört hätte. 257 Er stützt sich dann 257 Augustinus, »Où l’avons-nous entendu?«, in: La Cité de Dieu, livres XI–XIV, Oevres complètes de Saint Augustin 35, Cinquième serie, traduction française de G. Combes, Paris 1959, XI, IV, 1.

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Phänomenologie der Fünfsinne

auf eine Auslegung im Alten Testament: »Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende.« 258 Man mag sagen, dass auch diese Auslegung im Alten Testament nicht erfahrungsmäßig objektiv belegbar ist. Aber auch bei einer gewöhnlichen Erfahrung, dass »ein Geräusch zu hören ist«, ist der Erfahrungsinhalt nur für jenen sicher, der das Geräusch hört, und nicht von Anderen bezeugbar. Zwischen einem Geräusch und einem Gottesruf liegt insofern kein wesentlicher Dimensionsunterschied. Denn die Dinge drücken sich selbst aus, wie gesagt, und dieser Selbstausdruck ist auch eine Sprache. Das ist allgemein gesagt dieselbe Erfahrung mit der, dass die Berge und die Bäche und die Steine sprechen. Die Dinge sprechen, was sie sind. Ein Stein spricht sich aus als ein Stein. Da geschieht die Sprache der Dinge. Dann sind das Wort »Es werde Licht« und die Tatsache, dass das Licht in die Welt einstrahlt, ein und derselbe Sachverhalt. Die unmittelbare Erfahrung des nächsten Sinnesfaktes und das Hören des Wortes Gottes sind die gleiche Erfahrung. Die mystische Erfahrung und die alltägliche Erfahrung werden eins. Betrachten wir dasselbe auf der philosophischen Ebene, um die Tragweite des »Gehörsinnes« weiter zu sehen. Die bekannte These Wittgensteins, »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, bietet den Ansatzpunkt. Dieses Wort wurde bisher oft zitiert, und zwar als der Schluss seiner früheren Sprachphilosophie im Tractatus Logico-Philosophicus. 259 Dabei wurde aber der Sinn dieses »Schweigens« kaum in Betracht gezogen und einfach immer im negativen Sinne verstanden. Ist das sachgerecht? Es ist zu überAT, Psalm 19, 4–5. Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, First published by Kegan Paul (London), 1922, Nr. 7. Die Stelle wird zitiert aus der Ausgabe: Side-by-side edition, Version 0.42 January 5, 2015, containing the original German, alongside both the Ogden/Ramsey, and Pears/McGuinness English translations. Available at: http:// people.umass.edu/klement/tlp/ Nach der nominalistischen Bestimmung der Aussage im Tractatus Logico-Philosophicus ist die Aussage »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, wenn es sich, wie im Folgenden dargestellt, um »Gott« handelt, nicht als »sinnvolle« Wahrheitsaussage anzusehen. Denn »Gott« wird nicht als »Tatsache« bzw. als »Sachverhalt«, somit auch nicht als Gegenstand gegeben. Im Tractatus heißt es: »Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung.« (3.203) Der genannte Satz ist also keine Abbildung eines Gegenstandes. Aber er ist auch kein »sinnloser« Satz, z. B. ein widersprüchlicher. Er ist ein »unsinniger« Satz, über dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht entschieden werden kann.

258 259

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legen, was im Schweigen überhaupt geschieht. Wenn man versuchsweise einige Sekunde schweigt, bemerkt man gleich, dass die verschiedenen Laute in der Umgebung auf einmal in die Ohren kommen. Dann kann die These Wittgensteins mit einer Zutat wie folgt ergänzt werden: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, aber man kann dem zuhören, was von sich selbst her spricht.« Allerdings kann diese Zutat im Hinblick auf die Bestimmung des »Satzes« im Tractatus als nicht »sinnvoll« betrachtet werden. Für Wittgenstein, der damals eine nominalistische Position eingenommen hatte, ist ein sinnvoller Satz derjenige, in dem das im Satz Gesagte als Gegenstand gegeben ist. 260 »Gott« ist kein Gegenstand, der uns gegeben wird. Von Gott kann kein Satz als Abbildung des Gegenstandes gemacht werden. Wittgenstein hätte zu der Zeit gesagt, dass man über das, was nicht als Gegenstand gegeben wird, schweigen muss. Das hier gemeinte »Schweigen« bedeutet das Abwesen der Sprache, das sich nicht versprachlicht. Aber die vorhin gesehene Tatsache, »dass ein Sachverhalt sich selbst spricht«, gilt als Tatsache, egal ob diese als ein Gegenstand gegeben oder nicht gegeben ist. Unser nie zu vergegenständlichendes Selbst ist beispielsweise zwar kein Gegenstand, aber doch ein Faktum. Auch in dem Fall, dass einer Gott als übergegenständliche Macht erfahren haben will, ist seine Erfahrung zwar auf der Ebene des positiven Beweises weder zu bejahen noch zu verneinen, aber für den, der diese Erfahrung gemacht hat, ist Gott als Übermacht ein absolutes Faktum. So ist es ein soziales Faktum, dass es eine Gemeinschaft gibt, in der dieser Glaube gemeinsam geteilt wird, wie man in jeder religiösen Gemeinschaft sieht. Dieses Faktum liegt diesseits von sinngemäß und unsinnig. Angesichts dieser Faktizität hat ein sinnvoller Satz nur die sekundäre Stelle, was Wittgenstein selber sagt. Im Tractatus findet sich die folgende These: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.« 261 Wittgenstein erklärt dies mit dem Gleichnis, dass man die Leiter wegwirft, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen ist. Wenn man die Ansicht Wittgensteins an die augustinische Erfahrung des »Hörens« anschließt, so wäre es wie der Umstand, dass 260 261

A. a. O., 3.203. A. a. O., 6.54.

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Phänomenologie der Fünfsinne

man, wenn man wirklich die Stimme Gottes hört, dann die Leiter, d. h. die Worte der Bibel, vergessen kann. Diese Leiter ist der »Finger, der den Mond zeigt«, wie im Buddhismus oft als Gleichnis für die Worte des Sutra gesagt wird. Ein Sutra ist dabei nicht »sinnlos«, auch wenn es als Satz »unsinnig« ist. Wenn es sich so verhält, ist das Schweigen der direkt auf den Mond zeigende Finger, der keiner Sprache bedarf. Zum Abschluss der obigen Betrachtung ist an die im ZenBuddhismus bekannte Erzählung »Kyôgen beim Krachen des Bambus« zu erinnern, da sie den vorliegenden Kontext in besonderer Weise erhellt. Der Zen-Meister Kyôgen konnte die Erfahrung des Erwachens trotz aller Anstrengung und Bemühung nicht erlangen. Als er eines Morgens mit einem Besen den Garten pflegte und einen Kiesel wegwarf, stießt dieser auf einen Bambus, der infolgedessen krachte. In diesem Augenblick kam Kyôgen zum großen Erwachen. Es wird nicht erklärt, und kann jedenfalls nicht erklärt werden, wie er durchs Hören des Krachens zum Erwachen kommen konnte. Es wird aber erzählt, dass Kyôgen ein Gelübde ablegte: »Bei diesem einen Krachen habe ich alles besessene Wissen vergessen.« Man darf hier das »Vergessen« Kyôgens und das »Nicht-sein« im Herz-Sutra – »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keine Berührung, kein Bewusstsein« – als den selbigen Sachverhalt verstehen. Das »Krachen« bei Kyôgen ist das, worüber man schweigen muss, dem man aber zuhören kann. Wittgenstein selber würde dazu sagen: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische«. 262 Man kann Wittgenstein zustimmen, muss aber eines hinzufügen, nämlich dass bei Kyôgen dieses Unaussprechliche keine mystische Erfahrung, sondern die konkrete und einfache Erfahrung des Hörens des »Krachens« des Bambus war, eine Erfahrung, die jeder, wenn er will, machen kann. Zwischen der spirituell-religiösen Erfahrung und der alltäglichen Erfahrung gibt es keinen unüberbrückbaren Dimensionsunterschied.

262

A. a. O., 6.522.

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Die Tragweite des Gesichtssinnes

6.

Die Tragweite des Gesichtssinnes

Da Wittgenstein zum Thema »Hören« herangezogen wurde, ist auch im Hinblick auf das Thema »Sehen« eine Stelle im Tractatus zu zitieren. Wittgenstein gibt dort ein Ballon-ähnliches Bild und schreibt: »Das Gesichtsfeld hat nämlich nicht etwa eine solche Form.« 263 Es handelt sich um ein Bild der ballon-ähnlichen Figur, an deren Mundstelle ein »Auge« gemalt wird. Die Sicht des von diesem Auge Gesehenen bildet diesen Ballon, und der Text sagt: »Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht.« 264 Zwar kann hier nochmals ans Wort »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keine Berührung, kein Bewusstsein« erinnert werden. Aber der Satz sagt nicht so vieles. Er will zunächst nur sagen: »Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori.« 265 Oder weiterhin: Was apriorisch ist, ist universal, aber der Sinn des Universalen für Wittgenstein ist nicht die apriorische Ordnung, die ein metaphysisches Subjekt sieht, sondern: »Allgemein sein, heißt ja nur: Zufälligerweise für alle Dinge gelten.« 266 Was er mit dem »Zufall« meint, ist die Weise des »Falls«, wie er am Anfang des Tractatus sagt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Wenn es sich so verhält, so ist das »Sehen« auch in Wittgensteins Sinne je der »Fall«, der keines metaphysischen Subjektes bedarf. Was Wittgenstein nicht sagt, dem er aber zustimmen würde, ist, dass der »Fall« das ist, was je und je an einem »Welt-Ort«, in jedem Augenblick, besteht. Er ist immer einmalig und einzig, und diese Einmaligkeit und Einzigkeit selber ist »allgemein«. Sie betrifft denjenigen, der inmitten dessen steht. Das »Sehen« ist die unmittelbare Erfahrung eines solchen einmaligen und einzigen Weltgeschehens. Von hier aus ist wiederholend und erneut zu sehen, was bisher an den vier Sinnen festgestellt wurde und wie weit die bisherige »Sinneslehre der Fünfsinne« zum nächsten Kapitel überleitet. Dass erstens das »Sehen« die direkte Erfahrung ist, besagt, dass zwischen dem sehenden Ich und dem gesehenen Anderen keine Distanz liegt und dieses somit eine weitere Phase des Tastsinnes ist. Denn diese »Distanzlosigkeit« bzw. »Entfernungslosigkeit« heißt physiologisch betrachtet, dass von der Außenwelt gekommene Impulse die Sehnerven 263 264 265 266

A. a. O., 5.6331. A. a. O., 5.631. A. a. O., 5.634. Vgl. A. a. O., 6.1231, 6.1232.

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Phänomenologie der Fünfsinne

berühren, was auch im Fall des Geschmackssinnes, Geruchssinnes und Gehörsinnes der Fall war. Weiterhin besagt diese Entfernungslosigkeit die Seinsweise des Welt-Ortes, an dem die Entfernung eröffnet wird, ohne dass die Entfernungslosigkeit verloren geht. Dies geschieht im »Sehen« mit der größten Tragweite. Denn selbst beim Sehen mehrerer zehn Billionen Lichtjahre entfernten Sterne ist das »Sehen« selbst die direkte Erfahrung, in der das Sehende und das Gesehene in eins werden. Aristoteles erörtert, dass das »Sehen« (theôria) sich kontinuierlich (synechôs) vollzieht, dass es autark (autarkês), Muße habend (scholastikós), unerschöpft (atrûtos) und die Tätigkeit ist, in der außer dieser Tätigkeit nichts entsteht. 267 In dieser Vollendung der Sehtätigkeit ist das Ziel (telos) je schon erreicht, somit in Berührung mit mir. Dennoch kann das Gesehene mehrere zehn Billionen Lichtjahre entfernt sein. Die »Fernnähe« beim Gesichtssinn ist wie gesagt die weitere Entfaltung des Tastsinns. Auch im Hinblick auf die »Höhentiefe« ist der Gesichtssinn bzw. dessen Entfaltung von gleicher Qualität. Beide sind direkte Erfahrungen, deren Inhalt nie den Anderen mitgeteilt werden kann. Dennoch ist ihre Erfahrung quasi innerlich mitteilbar. Wenn ich und die Anderen von den unsagbar schönen Wolken im Abendrot berührt werden, ist zwar der sinnliche Inhalt der Berührung nicht durch die sinnliche Erfahrung des Gesichtssinnes den Anderen mitzuteilen, aber dennoch ist die Berührung selbst mit den Anderen teilbar. Dies ist der Sinn des »Gemeinsinnes«, dessen Ausführung die Aufgabe des nächsten Kapitels ist. Hier sei nur der Hinweis darauf gegeben, dass die Intensität dieser Mitteilbarkeit je der Höhe und der Tiefe der Berührung korrespondiert. Auch im Fall von hart und weich am »Tastsinn«, süß und herb am »Geschmackssinn«, Duft und Gestank am »Geruchssinn«, Melodie und Lärm am Gehörsinn usw. werden diese dann den Anderen mitgeteilt, wenn sie eine innere Wirkung haben. Zwar ist der Inhalt der sinnlichen Erfahrung immer einmalig und einzigartig und kann nicht gemeinsam besessen werden mit den Anderen. Aber dennoch wird die innere Bewegtheit auf der Ebene des Gemeinsinnes mitgeteilt. Die Berührung der Anderen kann miteinander innerlich geteilt werden. Allerdings ist die Einmaligkeit und Einzigkeit meiner direkten Erfahrung auch der Beleg dafür, dass ich durch und durch Ich und kein Anderer bin, während der Andere mir gegenüber durchaus der 267

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 10. Buch, 7. Kap., 1177 b 1–3, 19–21.

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Die Tragweite des Gesichtssinnes

Andere bleibt. Sie ist die Stätte der Ungemeinsamkeit zwischen mir und den Anderen, der Kern des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes«. Bevor wir diesen Begriff untersuchen, ist noch zuvor die »Höhentiefe« der Innerlichkeit dieser direkten Erfahrung zu erblicken. Die direkte Erfahrung des »Sehens« ist nicht nur deshalb direkt, weil ich als der Sehende es nicht mit Abstand, es nicht gegenständlich sehen kann. Das Sehen ist auch in dem Sinne eine direkte Erfahrung, dass ich mit dem sehenden Ich direkt eins bin, und zwar auch so, dass »was direkt ohne Abstand vor mir steht, nicht zu sehen ist«. Im »Ich sehe« wird enthalten: »Ich sehe das sehende Ich nicht.« Ich kann meine Augen im Spiegel sehen, aber den Akt des Sehens selbst kann ich nicht sehen. 268 Andererseits besteht die Tätigkeit des Sehens gerade dadurch, dass im Sehen dieser nicht sichtbare Akt des Sehens selbst liegt. Damit wird die Selbstheit des Selbst meines Ich gemeint, als »das Ich, bevor ich ich bin«. Damit wird kein Mystisches gemeint, sondern die ich-lose Tätigkeit vom »Sehen ohne das Sehende«. Dort werden das »Sehen« und das »Nicht-Sehen« in eins. Auf diese Struktur hat schon Keiji Nishitani mehrmals hingewiesen. »Das Auge ist allein aufgrund jenes wesentlichen Nicht-Sehens das Auge; ›Nicht-Sehen‹ ermöglicht ›Sehen‹ ; Nicht-Auge-Sein ist die Ermöglichung des Auge-Seins.« 269 Bei Nishitani ist das nicht 268 Es gibt allerdings die philosophische Ansicht, dass das Sehen des Sehens möglich ist. Die Fichte’sche »Wissenschaftslehre« ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Um eine exemplarische Stelle anzugeben: J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99, herausgegeben sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Erich Fuchs, Hamburg 1994, S. 40. Dort lautet es: »Das unmittelbare Bewußtsein ist in allem Bewußtsein das Bewußtseiende, aber nicht das, deßen man sich bewußt ist, das Auge sieht hier das Sehen des Auges«. (Die Rechtsschreibung folgt dem Text in dieser Ausgabe.) Die ausführliche Auseinandersetzung mit der äußerst eindringlichen Spekulation der Fichte’schen Wissenschaftslehre wird hier vor allem im Hinblick auf dieses »das Sehen des Auges sehende Auge« benötigt. Aber um nicht zu ausführlich zu werden, sei hier nur unsere Grundsicht erwähnt. Letztlich geht es nämlich um die Frage, ob das »Ich« selbst als das unmittelbare Bewusstsein bzw. die »intellektuelle Anschauung« als der Rahmen bzw. der Sehhorizont stehenbleibt, ohne dass es selbst »ausfallen gelassen« wird. Die Frage kann anders formuliert werden: Wenn das »Ich« als das das eigene Sehen sehende Auge nach wie vor zurückbleibt, entsteht nicht letztlich der Zirkel, den Kant mit dem alle Vorstellung begleitenden »Ich denke« zurückgelassen hat? Wenn nämlich mit der Denkstruktur »Ich denke« das Ich selbst gedacht und reflektiert wird, dann muss eine »petitio principii« entstehen. Vgl. dazu die Kritik Hegels in Wissenschaft der Logik, Werke in 20 Bänden, Bd. 6, S. 490. 269 K. Nishitani, Was ist Religion?, zweite, durchgesehene Auflage, Frankfurt am

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Phänomenologie der Fünfsinne

bloßes physiologisches Geschehen, sondern auch das, was selbst beim »Sehen Gottes« geschieht. Gott sehen heißt das sehen, was nie zu einem sichtbaren Gegenstand wird. Dies geschieht nur so, dass die nie sichtbare Selbstheit meines Selbst und die nie zu vergegenständlichende Gottheit Gottes in dieser nicht zu noematisierenden Noêsis, sozusagen in einer »noetischen Vereinigung«, eins werden. Von der Identität der göttlichen und menschlichen Natur spricht auch Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes. 270 In seinen Vorlesungen über die Religionsphilosophie sagt er mit Eckhart: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge ist eins.« 271 Diese Ansicht und das folgende Wort Nishidas stehen in einer Fernnähe zueinander: »Im ZenBuddhismus redet man vom Sehen der eigentlichen Natur und Werden zu Buddha«. Dieses Wort darf nicht missverstanden werden. Das Sehen heißt nicht ein draußen liegendes Gegenständliches sehen, aber auch nicht reflexiv sich in sich selbst sehen. Ich kann mich selbst nicht sehen, was dasselbe ist mit dem Umstand, dass das Auge sich selbst nicht sehen kann. Glaubt man, dass man sein Selbst wie ein Objekt gesehen hat, so ist das gesehene Selbst ein Gespenst. Das Sehen des Auges (genitivus subjektivus und objektivus) kann nicht anders geschehen denn als Umwendung des an der eigenen Ichheit Main 1982, S. 243. Vgl. auch G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 553, 568; ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, erster Teil: Der Begriff der Religion, Bd. 6, S. 209. 270 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 553, 568. 271 Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, erster Teil: Der Begriff der Religion, Werke in 20 Bänden, Bd. 6, S. 209. Da es zur Lebenszeit Hegels keine philologisch zuverlässige Ausgabe der Texte Eckharts gab, wie heute, ist es unklar, welchem Text Hegel dieses Zitat entnommen hat. Ein wörtlich gleich lautendes Wort Eckharts ist in den heute zugänglichen Texten Eckharts nicht zu finden. Ein sinngemäß gleiches Wort lautet allerdings: »Man muß wissen, daß Gott zu erkennen und von Gott erkannt zu werden, Gott zu sehen und von Gott gesehen zu werden, der Sache nach eins ist.« (Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, S. 317) Auch ein anderes Wort ist hinzuzufügen: »Herr, in deinem Lichte werden wir das Licht erschauen« (Meister Eckharts Schriften und Predigten, herausgegeben von V. Büttner, erster Band, Jena 1923, S. 200). Die hegelsche Ansicht kann auch auf das Wort Spinozas zurückgeführt werden, das lautet: »Mentis amor intellectualis erga Deum est ipse Dei amor, quo Deus se ipsum amat (…)« (Baruch Spinoza, Ethica, Pars V, Propos XXXVI). Das »Nicht-Sehen des Sehens«, das bei Nishitani durch seine Zen-Erfahrung bezeugt wird und zur »noetischen Vereinigung mit Gott« führt, steht im Einklang mit der angegebenen innersten Strömung des Geistes in der abendländischen Philosophie.

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Die Tragweite des Gesichtssinnes

haftenden Ich. Nishida vergleicht diese Umwendung mit einer Bekehrung. 272 Jetzt ist erneut zu sehen, was bisher am Tastsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn, Gehörsinn festgestellt worden war, nämlich, dass die Sinne eine »Höhentiefe« haben, die bis zur religiösen Innerlichkeit führt. War das »Sehen« das Geschehen der »Fernnähe«, in der die unmittelbare »Nähe« und die »Ferne« der unendlichen Entfernung ineinander übergehen, so birgt das »Sehen« in sich auch die bis zur religiösen Innerlichkeit reichende »Höhentiefe«. Aber diese Redeweise mag ein Missverständnis veranlassen, dass es sich um einen von der alltäglichen Erfahrung entfremdeten Ausdruck handelt. In Wirklichkeit ist das von Nishitani oder Nishida gemeinte »Nicht-Sehen« in der alltäglichen »Sinnesvergessenheit«, wie sie vorher erörtert wurde, schon angelegt. Das ist das Geschehen von »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keine Berührung, kein Bewusstsein« auf der Ebene der sinnlichen Welt, die jeder kennt. Diese Sinnesvergessenheit, wie sie so ist, ist zugleich die Stätte, in der die Weltkategorien der »Fernnähe« und »Höhentiefe« realisiert werden. Sie ist der je und je sich bestimmende »Welt-Ort«. Diese Auffassung wurde, solange sie den Hinblick auf die »Leere« betrifft, bereits vom Mahayana-Buddhismus in präziser und umfangreicher Darstellung formuliert. Die Frage ist aber, was diese Ansicht für die »wirkliche« Geschichtswelt, somit für die Ethik, Politik, Kultur, Kunst usw. bedeutet. Das ist auch die Frage, auf die sogar der Mahayana-Buddhismus nicht in zureichender Weise geantwortet hat. Die jetzt dargestellte »Phänomenologie der Fünfsinne« ist die erste Strecke auf dem Weg zur Beleuchtung dieser Frage.

272 K. Nishida, Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 4, S. 424/5, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 10, S. 336.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere«

Im vorigen Kapitel wurde herausgestellt, dass die Fünfsinne in sich so angelegt sind, dass sie – ohne »aufgehoben zu werden«, wie in der hegelschen Sinneslehre – die Tiefenschichten der Geistigkeit erreichen. Dies sollte im folgenden Exkurs, auf den Tastsinn als das fundamentale Element der Fünfsinne fokussierend, erörtert werden. Wir stützen uns dabei auf eine Szene in der Bibel, die als »Noli me tangere« bekannt ist und in der Jesus sich vor dem Grab, wo er nach der Kreuzigung hingelegt wurde, Maria Magdalena zeigt. 273

1.

Jesus im Zwischenzustand zwischen der Auferstehung und dem Tod

Am ersten Tag der ersten Woche nach der Beerdigung Jesu schaute Maria Magdalena weinend in das Grab. Da waren zwei Engel in weißen Gewändern sitzend zu sehen. Als sie sich umwandte, sah sie Jesus, aber sie glaubte, er sei der Gärtner. Jesus sprach zu ihr: »Maria!«, so dass Maria bemerkte, dass der Mann vor ihr Jesus war. Sie sprach auf Hebräisch zu ihm »Rabbuni!«, das hießt: Meister! Dann sprach Jesus zu ihr ein Wort, das in der lateinischen Übersetzung lautet: »Noli me tangere« (Joh 20,17). 273 Die folgende Betrachtung wurde zuerst am 16. Januar 2014 im Institut für Philosophie Hannover, das Jürgen Manemann als Direktor leitet, vorgetragen. Der Verfasser hatte dort während der Fellow-Zeit über sein Forschungsthema »Phänomenologie der Compassion« zwei Vorträge gehalten, und der genannte Vortrag ist der zweite. Seitdem hat der Verfasser mit verschiedenen Fachforschern in der Theologie und Philosophie auch über das vorliegende Thema »Noli me tangere« sowie dessen Szene diskutiert. Sie waren sich alle in einem Punkt einig, dass in der christlichen Theologie bisher nicht aufmerksam gemacht wurde, dass Jesus sich in dieser Szene, wie sie im Folgenden dargestellt wird, in einem merkwürdigen Zwischenzustand befindet: Er ist nicht mehr der Tote, aber auch noch nicht ganz »auferstanden«, da er noch nicht zum Vater aufgestiegen ist. Der Verfasser bedankt sich hier bei den erwähnten Kollegen sowie bei Herrn Manemann für ihre Hinweise und Anregungen.

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Jesus im Zwischenzustand zwischen der Auferstehung und dem Tod

Diese lateinische Übersetzung hat sich so verbreitet, dass jeder dieses Wort kennt, aber sie enthält ein Übersetzungsproblem. Dem Verfasser ist zwar keine Literatur bekannt, in der dieses Problem behandelt wird, aber das vorhandene Übersetzungsproblem ist kaum zu übersehen, da es Kunstgeschichte und auch die Bibelinterpretation betrifft. Der originale griechische Ausdruck ist: »Mê mou haptou«. Das griechische Verb haptô bedeutet »greifen« oder »festhalten«, und der griechische Satz hat die Verbotsform der Gegenwart. Der Satz bedeutet also: »Halte mich nicht fest«, und dies heißt, dass Maria bereits den Arm oder das Kleid Jesu »greift«. 274 So wird in der deutschen Ausgabe der Jerusalemer Bibel, die als in philologischer Hinsicht streng bekannt ist, übersetzt: »Halte mich nicht fest«. Dann ergibt sich, dass die verbreitete lateinische Übersetzung falsch sein dürfte. Aber wenn ein Falsches von allen Menschen akzeptiert wird, gilt es als wahr. Sogar Luther übersetzte das Wort treu dem Lateinischen: »Rühre mich nicht an!« Eine Kritik könnte erhoben werden, dass Spitzfindigkeit in kleinlichen Übersetzungsproblemen für die Frage des Glaubens sekundär ist. Das mag so sein. Aber um die Frage des Glaubens geht es hier auch gar nicht. Sollte dieses Übersetzungsproblem die Kunstgeschichte und die literarische Welt betreffen, so ist es doch einer Besinnung wert. In literarischen Werken wird das Wort oft auf Lateinisch zitiert, 275 und diese Szene hat vor allem in der Malerei viele Künstler 274 Das grammatische Verständnis des Altgriechischen ist auch an dieser Stelle dem Gräzisten Tetsurô Nakatukasa zu verdanken. 275 Z. B. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), Bd. 1: Du côte chez Swann (In Swanns Welt), 1913; S. 232 der japanischen Übersetzung von Kazuyoshi Yoshikawa, Tôkyô 2010. Eine Probeübersetzung des Verfassers zur betreffenden Stelle lautet: »Es ist in der Tat das Zeichen der ganz tiefen Weisheit, dass die Leute der Gesellschaft (société) in keiner Weise mit solchen gemeinen Menschen umgehen wollen. Was für eine tiefe Einsicht ist im Gebot ›noli me tangere‹, das Faubourg Saint-Germain hält, enthalten!« Mit dem Gebot »noli me tangere« hatte die Oberschicht der adligen Gesellschaft in Faubourg Saint-Germain eine in sich abgeschlossene und privilegierte Welt gebildet. Aber dieser Stand blieb nicht für ewig. Er wurde erodiert durch die Zeit, und die einst schönste Herzogin, die sich an der Spitze dieser »société« fand, musste auch altern. Die Hauptperson (Proust selbst) beginnt, die im Umgang mit dieser eitlen Gesellschaft verlorene Zeit zu suchen, und am Ende entscheidet er sich, diese verlorene Zeit in der überzeitlichen Zeit der »Kunst« wieder zu haben. Der Imperativ »noli me tangere« konnte der Zeit gegenüber nicht gültig sein. Denn, so könnte gesagt werden, das »tangere«, das Berühren, ist in Wahrheit der Vollzug der »Sein-Zeit« des Berührenden selbst.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

angeregt, die sie zum Motiv ihrer Gemälde machten. Zahlreiche Werke wurden bisher erschaffen, in denen Maria so dargestellt wird, dass sie fast dabei ist Jesus anzurühren, ihn aber nicht wirklich berührt. Um nur die bekannteren Namen der Maler anzugeben: H. Baldung, S. Botticelli, J. Brueghel der Jüngere, E. Burne-Jones, A. Dürer, Fra Angelico, H. Holbein der Jüngere, Rembrandt, P. P. Rubens usw. Wenn man den Blick auf die Plastik wirft, so fällt sofort das stark erotische Werk Rodins auf. Man kann heute ihre Werke im Internet ohne weiteres abrufen und sehen. Eine kritische Bemerkung könnte folgen, dass es sich dabei um das Problem der Auffassung der Maler, nicht aber der Bibel selbst handelt. Allerdings, und hier beginnt unser Thema, stellt uns die Szene Mariens auch und eben auf der Ebene des philosophischen und religiösen Verständnisses eine ernst zu nehmende Frage: Was heißt es, dass Jesus in dem Augenblick, in dem er das Verbot ausspricht, nicht mehr der Tote, aber auch noch nicht ganz auferstanden, zum Vater hinaufgefahren ist. Jesus befindet sich eben in diesem äußerst merkwürdigen Zwischenzustand. Weder bei Augustinus noch bei Thomas von Aquin, aber auch nicht bei den modernen Theologen wurde auf diesen merkwürdigen Zwischenzustand aufmerksam gemacht. Es mag sein, dass dieser Zwischenzustand für die christliche Theologie belanglos ist. Dazu sollte auch im Auge behalten werden, dass diese Szene nicht in den Synopsen, sondern nur im Johannesevangelium erwähnt wird. Zu dieser Frage kommen wir später zurück. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass Jesus, als er das Wort »Noli me tangere« sprach, sich im Zwischenzustand zwischen dem Nicht-mehr des Toten und dem Nochnicht der Auferstehung befand. Es muss zumindest innerhalb des Kontextes des Johannesevangeliums gefragt werden, ob und welchen inneren Zusammenhang es zwischen dem genannten Zwischenzustand und dem »Verbot« gibt. Das Problem der »Berührung«, wie es im vorigen Kapitel thematisiert wurde, ist dabei sicherlich ein wichtiges Element des genannten Zusammenhangs. In der Betrachtung dieses Problems der Berührung ist eine andere, ebenfalls sehr bekannte Szene nicht zu übersehen, die sich direkt an die Szene Mariens anschließt: Der Anweisung Jesu folgend geht Maria zu den Jüngern Jesu, um zu erzählen, dass sie ihn gesehen und was dieser ihr gesagt hat. Kurz danach kommt Jesus mitten zu der Versammlung der Jünger, zeigt ihnen die Hände und seine Seite. Da war Thomas, der Zwilling, nicht dabei. Er wollte nicht glauben, 186 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Jesus im Zwischenzustand zwischen der Auferstehung und dem Tod

was die anderen Jünger erzählten. Er sprach zu ihnen: »Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht« (Joh 20,25). Acht Tage darauf trat Jesus mitten zu der Versammlung der Jünger, wo auch Thomas anwesend war. Jesus sprach zu Thomas: »Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite« (Joh 20,27). Thomas antwortete ihm nur: »Mein Herr und mein Gott!« Jesus sagte zu ihm: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben« (Joh 20,29). 187 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

Diese Szene wurde ebenfalls wie die Maria-Szene in zahlreichen Werken der Malerei dargestellt. Dabei stellten die Maler diese Szene wiederum aus einer anderen Perspektive als in der Bibel dar. Sie stellten Thomas als die Figur dar, die tatsächlich ihren Finger in die Seite Jesu legt. Um nur einige bekannte Beispiele zu nennen: A. Dürer, P. P. Rubens, Caravaggio. Auch Skulpturen halten die Szene fest wie z. B. bei A. D. Verrocchio. Des Weiteren beziehen sich viele Altarbilder, die ebenfalls leicht im Internet zu finden sind, auf dieses Begebnis. Dass in dieser Szene Jesus bereits den Zwischenzustand hinter sich hat und der Geist mit Fleisch geworden ist, wird im Lukasevangelium ausdrücklich erzählt. Jesus sagt: »Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Faßt mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht« (Lk 24,39).

2.

Der Sinn des »tangere«

Jesus, der zwar nicht mehr der Tote, aber auch noch nicht der Geist mit Fleisch geworden ist, 276 sagte zu Maria: »Halte mich nicht fest«. Jesus aber, der nachher zum Geist mit Fleisch geworden ist, sagte zu 276 Es ist keine leichte Aufgabe, diesen Zustand des »Zwischen« malerisch auszudrücken. Das Werk von Edward Burne-Jones ist in dieser Hinsicht eines der selten gelungenen Bilder. Es könnte sein, dass der Maler sich eigens dieses Zwischenzustandes bewusst war, was nicht bei allen Malern der Fall war. In seinem Bild hält Jesus mit der linken Hand die Schaufel, und sein Zeigefinger der rechten Hand ist nach oben zum Himmel gerichtet. Er ist zwar nicht mehr der Tote, aber noch nicht ganz gereinigt vom Tod, und sein Zeigefinger zeigt nur die Richtung an, in die er erst jetzt hinaufgehen soll. Maria zieht ihre Hand zurück, da sie von der Erscheinung Jesu eingeschüchtert wird. Dass dieser Augenblick malerisch ausgedruckt werden kann, ist schon erstaunlich. Der linke Zeigefinger Marias zeigt dieselbe Richtung, auf die der rechte Zeigefinger Jesu verweist, so dass zwischen Maria und Jesu eine gewisse Kontinuität zu sehen ist. Aber die beiden sind voneinander getrennt. Die beiden sind mit einer dicken und schwarzen Linie miteinander verbunden, als seien sie zusammengeschnürt. Burne-Jones malt in seiner Glasmalerei die Heiligen oft mit dieser schwarzen Linie, die im vorliegenden Bild aber etwas mehr zu bedeuten scheint als ein bloßes konstruktives Detail. Denn sie ist ganz direkt und dick wie ein Stock aus Holz. Dieser kreuzt sich mit dem ebenfalls langen Griff der Schaufel in der Hand Jesu. Oft wird diese Schaufel auf die biblische Darstellung zurückgeführt, nach der Maria den auferstandenen Jesus zunächst mit einem Gärtner verwechselt. Aber hier spielt die Schaufel offensichtlich darauf an, dass das Grab Jesu mit ihr geschaufelt wurde. Der Griff der Schaufel und die linear-schwarze Schnur bilden ein Kreuz, das hingelegt wird, was andeutet, dass der »Tod« am Kreuz hinfällig wird. Der auferstandene Jesus ist dabei, zum Himmel aufzufahren, aber Maria bleibt ir-

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Der Sinn des »tangere«

Thomas: »Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite«. Dieser Unterschied führt zu zwei Fragen. Die eine wurde schon angegeben: Was bedeutet dieser »Zwischenzustand« Jesu? – eine Frage, die in der Theologie nicht gestellt wurde. Die zweite Frage ist, was die »Berührung« bzw. das »Greifen« in diesem Zwischenzustand bedeutet. Fangen wir mit der zweiten Frage an. Die Bibel zeigt viele Szenen, in denen Jesus die Leute berührt oder die Leute Jesus berühren. Das sind alle Szenen der »Heilung«. Um nur ein Paar Beispiele anzugeben: »Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein! Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein.« (Mt 8,3); »Er legte jedem Kranken die Hände auf und heilte alle.« (Lk 4,40). Die wohl bekanntesten Stellen wären Mk 5,27–31, die aber hier wegen der Länge der Stellen nur genannt werden. Die »An- und Berührung« als der unmittelbare leibliche Kontakt hat eine eigentümliche Wirkungskraft, die weder das »Sehen« noch das »Hören« haben. Jeder kennt auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, wie die unmittelbare »Berührung« im Alltagsleben wirkt. Man findet sich im Alltag ständig in Berührung mit den Dingen. In jedem Augenblick wird man von irgendetwas berührt, wobei man dieses Berührt-sein meistens »vergisst«, wie im dritten Kapitel des Ersten Teils erörtert wurde. Allerdings verwandelt sich diese »Vergessenheit« in eine Bewusstheit, sobald man nicht von den Dingen, sondern von den anderen Menschen leiblich berührt wird. Jeder/jede weiß z. B., dass in einem öffentlichen Verkehrsmittel zur Zeit der Rushhour die Berührung mit den anderen Menschen neben ihm/ihr völlig anders wirkt als die mit dem Halteband oder mit dem Sitzplatz. Im Allgemeinen gilt: Die Körperteile, in denen sich die Empfindung und die Wirkungskraft der »Berührung« konzentrieren, sind Finger und Hände. Vermittels dieser Körperteile wird Liebkosen oder Schlagen, Heilen oder Verletzen ausgeführt. Die tiefere Bedeutung der obigen zwei Szenen in der Bibel könnte ohne die Berücksichtigung der Wirkungskraft der »Berührung« nicht verstanden werden. Dass Maria Jesu berührt bzw. festhält, ist nicht von bloß räumlich-physikalischer Bedeutung. Maria Magdalena war die Frau, die einst mit Salböl Jesus gesalbt und dessen Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte (Joh 11,2). Jesus hatte aus Maria sieben Dämonen ausdisch. Die beiden starren aufeinander mit gegenseitiger Zuneigung. Aber sie dürfen einander weder festhalten noch berühren. Maria befindet sich ebenfalls im Zustand des »Zwischen«.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

getrieben (Mk 16,9), was vermuten lässt, dass Maria ursprünglich eine »unsittliche« Frau war. In der Malerei wird sie immer als attraktive Frau dargestellt. 277 In der genannten Szene weinte Maria. Sie sprach, als sie Jesus erkannte, »Rabbuni!«, d. h. nicht mehr »Herr!«. Sie verhält sich Jesus gegenüber nicht als Mensch dem Sohn Gottes gegenüber, sondern als Mensch einem anderen Menschen gegenüber, oder vielleicht teilweise sogar mit dem Gefühl einer Frau gegenüber einem Mann. Jesus seinerseits wurde einst, als Maria über ihren begrabenen Bruder Lazarus weinte, auch bewegt und weinte ebenfalls (Joh 11,33). Zwar wird bestritten, ob diese Maria identisch sei mit der Maria Magdalena, aber man kann zumindest der biblischen Darstellung entnehmen, dass Jesus, der Gottessohn nicht das über den Menschen erhabene Wesen ohne menschliches Gefühl, sondern eben ein Mensch war, der von der Trauer mit-bewegt wird und weint. Dieser Jesus sah, dass Maria ihn mit »Rabbuni!« ruft und ihn festhält. Das war die Reaktion Marias auf seinen Ruf mit dem persönlichen Namen »Maria!«. Das emotionale Gefühl in Jesus hat sich an Maria angesteckt und verstärkt. Zu dieser Maria sagt aber Jesus, gerade indem er sie mit ihrem Eigennamen ruft, »Halte mich nicht fest!«. Jesus begründet dieses Verbot mit dem Wort: »Denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen.« Aber sofort erhebt sich die Frage, warum Jesus in diesem Zustand die Berührung verbieten bzw. das Festhalten zurückweisen musste. Auch wenn die Hand einer schwachen Frau dem Hinaufgehen zum Vater im Wege gestanden hätte, hätte die Hand nichts verhindern können. Es sei daran zu erinnern, dass der große Stein, der das Grab verriegelt hatte, von irgendeiner Kraft bewegt worden war. Die Begründung Jesu »Denn« (griechisch: »gar«) ist keine Erklärung, warum Maria Jesus nicht berühren bzw. festhalten darf. Das Verbot Jesu und die Berührung durch Maria müssen in einem noch »tiefer liegenden« Zusammenhang stehen.

277 Über Maria Magdalena gibt Atsushi Okada reichliche Informationen in seinem Buch Maria Magdalena. Die Heilige von Eros und Agape (jap.), Tôkyô 2005. Allerdings erwähnt er als Kunsthistoriker nicht das Problem der Übersetzung des Wortes »Noli me tangere«, somit auch nicht die spirituelle Dimension dessen, was zwischen Jesus und Maria geschieht.

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Die Interpretationen J.-L. Nancys und G. Mosts

3.

Die Interpretationen J.-L. Nancys und G. Mosts

Bevor wir weiter gehen, sind die bisher erschienenen Auslegungen zu den Szenen mit Maria und auch jene mit Thomas ins Auge zu fassen. Zwar gibt es in der Theologie keine Diskussion zu den Szenen, aber in der Kunstphänomenologie und der klassischen Philologie wurden bisher zwei treffliche Schriften publiziert. Die eine ist die Schrift Jean-Luc Nancys »Noli me tangere«. 278 Die Grundabsicht Nancys ist, so darf man zusammenfassend sagen, das Geschehen der »Auferstehung« durchaus phänomenologisch und existenziell zu rekonstruieren. Der Kernpunkt seiner Auslegung liegt darin, dass er die »Auferstehung« (auf Griechisch »anastasis«) als das Phänomen des (sich) Aufrichtens oder der Erhebung verstehen will, was auch im französischen Wort résurrection mit der Form surrection impliziert ist. Sein Versuch könnte als die Weiterführung der einst in der protestantischen Theologie versuchten Entmythologisierung verortet werden. Einige Stellen, in denen die phänomenologische Auslegung Nancys erörtert wird, sind zu zitieren. »Die ›Auferstehung‹ ist ›Aufstehen‹, das Auftauchen des Unverfügbaren, des Anderen und des Verschwindenden im Körper selbst und als Körper, als Leichnam. Das ist kein Zaubertrick, sondern das Gegenteil. Der tote Körper bleibt tot, er macht die ›Leere‹ des Grabes aus, doch der Körper, den die Theologie später ›verklärt‹ nennen wird (das heißt, gleißend im Licht des Unsichtbaren), offenbart, dass diese Leere die Entleerung (von) der Präsenz ist«. 279 Diese Auslegung gilt als ein exemplarisches Beispiel des Versuchs Nancys bezüglich der »Transformation des Christentums«. Sie ist wohl nicht die allgemeinen anerkannte Auffassung des Christentums, aber auch nicht ganz gegen-christlich. Sie könnte sogar als der Versuch eingeschätzt werden, die manchmal als bloß irrationale Darstellung gelesene Szene doch als ernste Darstellung der menschlichen Existenz »phänomenologisch« zu entmythologisieren. Aber gerade in dieser Hinsicht und auch im Hinblick auf die

278 Jean-Luc Nancy, Noli me tangere. Essai sur la levée du corps, Bayard Ëditions, Paris 2003. Deutsche Übersetzung: Noli me tangere, Diaphanes Verlag, Zürich-Berlin 2008. Auch die japanische Übersetzung erschien 2011. Das Zitat wurde der deutschen Übersetzung entnommen. 279 A. a. O. (deutsche Übersetzung), S. 23.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

existenzphilosophische Entmythologisierung erhebt sich die Frage, ob nach der Interpretation Nancys das Geschehen der »Auferstehung« ohne den Prozess des »Hinaufgehens zum Vater«, schon beim Hinausgehen aus dem Grab, als voll zustande gekommen betrachtet werde. Anders gesagt: Ob bei Nancy die »Trinität« als das innigste Geheimnis des Christentums nicht einfach ausgelassen werde. Denn die Trinität Vater–Sohn–Geist setzt voraus, dass der Sohn als Sohn Gottes erwiesen wird, indem er zum Gott hinauffährt und von diesem akzeptiert wird. Der »Sohn« ist der zum »Menschen« inkarnierte Gott, dessen Stand als Gottessohn aber erst dadurch zustande kommt, dass er nach dem Tod aufersteht und zu Gott hinaufgeht, wodurch er als »Sohn Gottes« erwiesen wird. Die Trinität als die an sich ewig bestehende Struktur muss »geschehen«, und zwar durch die Geschichtswelt hindurch. Sonst muss der Sinn des im Lukasevangelium gesagten Unterschieds zwischen dem »Geist« ohne Fleisch und dem »Geist« mit dem Fleisch einfach verloren gehen. Zwar fasst Nancy den Unterschied zwischen dem »Körper aus Herrlichkeit« und dem Körper »aus Fleisch« ins Auge. Aber letzterer wird schon an dem Jesus gesehen, der aus dem Grab herauskam. Für den Gesichtspunkt der Entmythologisierung bzw. der Religionsphänomenologie Nancys mag dies bejaht werden. Aber dennoch ist zu bedenken, ob das Ausfallen des Blicks auf die Trinität eher als eine Bereicherung, wie sie eigentlich eine phänomenologische Interpretation zum Ziel hat, doch eine Verarmung des Verständnisses sei. Dieses Bedenken begleitet m. E. die Versuche der rationalen Entmythologisierung der Bibel im Ganzen. Eine Ursache für diesen Schluss käme teilweise daher, dass Nancy in seiner Interpretation zur Maria-Szene sich nicht auf die biblische Beschreibung selbst, sondern durchgehend auf die gemalten Bilder stützt. Es wäre aber für ihn unentbehrlich gewesen, auf die biblische Beschreibung selbst einzugehen, wenn er so Wichtiges wie die »Transformation des Christentums« wagt. Dieses Problem scheint damit zusammenzuhängen, dass Nancy kaum die sich an die MariaSzene anschließende Thomas-Szene behandelt. Diese beiden Szenen bilden einen Zusammenhang, in dem auch der Kontrast zwischen dem Jesus, der noch nicht der Geist mit Fleisch geworden ist, und dem Jesus, der als Geist Fleisch hat, in den Vordergrund kommt. Um Nancy gegenüber gerecht zu sein, ist darauf hinzuweisen, dass er die Thomas-Szene im Johannesevangelium durchaus erwähnt. Er sagt: »Berühre mich nicht, halte mich nicht fest, versuche weder 192 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Interpretationen J.-L. Nancys und G. Mosts

mich zu halten noch mich zurückzuhalten, sage jeder Anhängerschaft ab, denke an keine Vertrautheit, an keine Sicherheit. Glaube nicht, es gäbe eine Versicherung, so wie sie Thomas wollte.« 280 Man sieht, dass Nancy sich hier wiederum auf die Werke der Maler und nicht auf die Bibel stützt. Die Bibel sagt gerade das Gegenteil dessen, was bei Nancy zu lesen ist. Es ist Maria, die Jesus berührt und greift, während Thomas, ohne Jesus zu berühren, nur durch Schauen an die Auferstehung Jesu glaubte. Deshalb sagt Jesus zu Thomas: »Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Selig, die nicht sehen und doch glauben.« (Joh 20,29) Jetzt greifen wir eine andere Schrift auf: Glenn W. Mosts Doubting Thomas, 281 ein genauso originäres und hellsichtiges Buch wie auch das Nancys. Allerdings bleibt aus der Sicht der vorliegenden Betrachtung doch noch Spielraum zur kritischen Überprüfung übrig. Da Most zwar kein Phänomenologe, aber klassischer Philologe und Gelehrter in der vergleichenden Literatur ist, berücksichtigt er bei der Betrachtung der biblischen Texte auch die Apokryphen teilweise ausführlich. Weiterhin bietet er bei den zitierten Stellen oft tiefschürfende Interpretationen. Um nur eine eindrucksvolle Stelle anzugeben, so fragt er, wieso Maria zuerst Jesus mit dem Gärtner verwechselt. Most zieht den Schluss, dass am Ende unmissverständlich (»unmistakable«) ist, dass diese Stelle ein Hinweis auf den »Garten Eden« ist. Most unterlässt es auch nicht, die Maria-Szene und die Thomas-Szene miteinander zu vergleichen. Er vertritt die Ansicht, dass die beiden Szenen zwei Hälften ein und derselben Sachlage sind. »The two characters, Mary and Thomas, correspond perfectly: the woman Jesus was particularly fond of balances the disciple who was particularly attached to him; the figure of grief (the emotional side of Mary’s false belief that Jesus is dead), which is then transmuted into joy, is answered by the paradigm of disbelief (the cognitive side of Thomas’ false belief that Jesus is dead), which is then transformed into belief; both characters are obsessed by the body of Jesus and seem to have little understanding of, or even interest in, his spiritual significance.« Aber es ist zu fragen, worin Most der Sinn den ZusammenA. a. O., S. 61. Glenn W. Most, Doubting Thomas, Harvard University Press, Cambridge / Massachusetts / London 2005. 280 281

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

gehörigkeit der genannten zwei Szenen sieht. Seiner Auffassung nach sind diese zwei Szenen symmetrisch und bilden in dieser Weise einen Kontrast. Aber genau betrachtet, enthalten sie eben wegen dieses äußerlichen Kontrasts eine wichtige, gar entscheidende Asymmetrie: In der Maria-Szene befindet sich Jesus, um das schon Gesagte nochmals zu wiederholen, in einem Zwischenzustand zwischen einem Nicht-mehr des Toten und Noch-nicht des zum Vater aufgefahrenen Geistes. Demgegenüber ist in der Thomas-Szene die Auferstehung Jesu bereits zustande gekommen. Jesus ist Geist, der seinen Körper hat. Most fasst diese Asymmetrie nicht ins Auge. Um aber Most gegenüber gerecht zu sein, ist darauf hinzuweisen, dass er die Maria-Szene auf seine Weise exakt in Betracht zieht. Er meint, dass der negative Imperativ Jesu im Johannesevangelium zweideutig ist. Das Wort »may prohibit an action that Mary has not yet begun actually to perform or else ask her to resist from action that she has already initiated«. 282 Allerdings ist es im Hinblick auf die Bedeutung des Verbotes in der Gegenwart im Griechischen ganz eindeutig, dass der letztere Fall gemeint ist. Most sagt, dass der »crucial point« nicht darin liegt, welche Bedeutung zu bejahen sei. Die Kernbedeutung des Wortes ist, dass Jesus Maria die physische Berührung verbietet. Most stellt die Kernfrage: »But why should Mary not touch Jesus?« Da es gerade in der vorliegenden Betrachtung um diese Frage geht, ist zu verfolgen, wie Most diese Frage beantwortet. Die Antwort, die das Johannesevangelium gibt, ist: »Ich bin noch nicht zum Vater hinaufgefahren«. Aber Most fragt weiter: »How are we to understand this?« Hätte Jesus die Berührung deshalb verboten, weil er noch nicht beim Vater vom Tod gereinigt wird? Oder denkt er dabei eher an sich selbst als an Maria? Nach diesen Fragen sagt Most, »in fact we can only understand them (die Worte Jesu) fully if we take them as an anticipation of a later stage of the narrative and interpret them as looking forward to the only other person in this whole chapter with whom Jesus has an individual exchange, Thomas«. 283 Das Verbot Jesu Maria gegenüber, dass sie ihn nicht berühren darf, und die Einladung Jesu an Thomas, er solle Jesus berühren, sollten nach Most einerseits als eine Einheit verstanden werden. Er versteht diese zwei Szenen als zwei Hälften des »symbolon« dieses Kapitels. Aber

282 283

A. a. O., S. 40. A. a. O., S. 40.

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Die »Leere« des »Berührens«

andererseits ist die erste Szene die »anticipation« der zweiten. Die Thomas-Szene ist Most zufolge die Hauptszene, und die Maria-Szene dem Inhalt nach die zweitrangige. Allerdings bleibt ein Problem offen: Wenn die Maria-Szene als »anticipation« für die Thomas-Szene aufgefasst wird, als deren Ankündigung, dann geht das Gleichgewicht im »Paar«, wie er meinte, verloren. Das Hauptgewicht wird dann in der letzteren gesehen. So hat Most sein Buch mit dem Titel Doubting Thomas publiziert. Das Bedenken, ob er dadurch die Bedeutung der Maria-Szene nicht zureichend eingesehen hat, muss bestehen. Das verbindet sich mit dem anderen Bedenken, ob die wesentliche Asymmetrie zwischen dem »Zwischenzustand« in der Maria-Szene und dem »heiligen Geist« in der Thomas-Szene nicht nivelliert werde. Dies spitzt sich zum Bedenken zu, ob die innersten Punkte des Christentums, die »Inkarnation« und die »Dreieinigkeit«, unberührt bleiben. Ein Gelehrter wie Most würde angesichts dieses Bedenkens nicht stehen bleiben, sondern weitergehen, wenn er auf die genannte Problematik seiner Betrachtung aufmerksam gemacht wird.

4.

Die »Leere« des »Berührens«

Bevor wir eingehend über den »Zwischenzustand« Jesu nachdenken, ist nochmals daran zu erinnern, dass das genannte Verbot nur im Johannesevangelium vorkommt, nicht in den Synopsen. Von daher könnte ein Einwand erhoben werden, dass das Verbot eine Erzählung ad hoc und nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Der »Zwischenzustand« Jesu sei deshalb weder bei Augustinus noch bei Thomas noch in der christlichen Theologie behandelt, weil er einfach belanglos ist. Aber unabhängig vom Gesichtspunkt der christlichen Theologie scheint der genannte Zwischenzustand Jesu doch frag-würdig zu sein. Ist im Johannesevangelium nicht eine Tiefenschicht der religiösen Erfahrung enthalten, die nicht in die christliche Theologie aufgenommen wurde? Die Synopsen erzählen ebenfalls, dass Jesus, schon als er aus dem Grab herauskam, »auferstanden« ist. Im Matthäusevangelium kommt mit einem großen Erdbeben ein Engel, der ausdrücklich die Auferstehung Jesu erklärt (Mt 28,6). Hier wird in keiner Szene geschildert, dass Jesus vor Maria erscheint. Im Markusevangelium er195 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

klärt der Engel in der Gestalt eines jungen Mannes ebenfalls, dass Jesus auferstanden und nicht mehr im Grab ist (Mk 16,6). Insofern deckt sich die Beschreibung mit der im Matthäusevangelium. Allerdings erzählt Markus gleich danach, dass Jesus sich zuerst Maria zeigte (Mk 16,9). Die Beschreibung ist insofern durcheinander. Man könnte dieses Durcheinander etwas gewaltsam so beseitigen, dass man annimmt, Jesus zeige sich Maria gegenüber doch, gleich nach der Erklärung des Engels. Aber auch in diesem Fall ist zu bemerken, dass Jesus Maria kein Wort sagte. Noch weniger ist es der Fall, dass Maria Jesus festhält. Das Lukasevangelium ist dadurch ausgezeichnet, dass die Beschreibung Jesu nach dessen Auferstehung am ausführlichsten ist. In diesem Evangelium wird gesagt, wie in Matthäus und Markus, dass zwei junge Männer Maria und anderen zwei Frauen die Auferstehung Jesu erklären. Eine noch größere Gemeinsamkeit in den Synopsen ist, dass keine dramatische Szene vorkommt, wo Jesus und Maria zueinander sprechen. Wenn es sich so verhält, wäre es zunächst gerechtfertigt, den Einwand zu erheben, dass es problematisch ist, die Bedeutung der Szene im Johannesevangelium allzu sehr zu betonen. Es wäre aber andererseits ebenfalls problematisch, wenn die Beschreibung des Johannesevangeliums einfach beiseitegelegt wird. Generell gesagt, ist der Unterschied des Charakters der Synopsen im Vergleich zum Johannesevangelium ein Thema in der Bibelkunde. Bekanntlich ist bezüglich der Entstehungsgeschichte umstritten, ob das Johannesevangelium von einem der zwölf Jünger, von Johannes allein, oder von verschiedenen Menschen, und zwar über eine lange Periode von Jahrzehnten bis zwei Jahrhunderten verfasst wurde. Auch inhaltlich ist der Unterschied deutlich. Während die Synopsen mit konkreten Angaben bezüglich des Lebens oder der Person Jesu beginnen und im Matthäus- sowie im Lukasevangelium die Geburt Christi am Anfang erzählt wird, beginnt das Johannesevangelium mit der gehobenen Wendung »Am Anfang war das Wort«. Seine ersten fünf Abschnitte geben fünf Schlüsselwörter »Wort«, »Gott«, »Leben«, Licht«, Finsternis«, mit denen die fundamentalen Themen der Theologie schon vorweggenommen werden. Wenn mit den Synopsen die Richtung der »Petrus-Theologie« eröffnet wird, in dem der Glaube das Hauptelement ist, so öffnet das Johannesevangelium die Richtung der »Johannes-Theologie«, in der das Element des vernünftigen Verstehens in den Vordergrund kommt. Die zwei fundamentalen Typen des Christentums werden damit angebahnt. 196 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Leere« des »Berührens«

Wenn es sich so verhält, ist es auch aus dem Gesichtspunkt der christlichen Theologie berechtigt, nach dem Sinn des genannten »Zwischenzustandes« Jesu eingehend zu fragen. Es könnte auch hinzugefügt werden, dass dieser Zwischenzustand im Johannesevangelium auch in Rücksicht auf dessen »philosophischen« Charakter im Dialog mit anderen Religionen, wie dem Buddhismus, einen Sinn erhält. 284 So ist erneut zu fragen, was der Zwischenzustand Jesu sei, in dem Jesus nicht mehr der Tote, aber auch noch nicht ganz der Auferstandene ist. In welchem innerlichen und notwendigen Verhältnis stehen dieser Zustand und das Verbot der »Berührung« bzw. des Greifens zueinander? Einst sagte Jesus: »Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.« (Joh 3,6). Die »Inkarnation« bedeutet das Geheimnis der Verbindung des vom Fleisch Geborenen und des vom Geist Geborenen. In der Maria-Szene hat sich Jesus, der aus dem Grab herauskam, dem Tode als dem Schicksal des aus dem Fleisch Geborenen entzogen. Aber er ist noch nicht der aus dem Geist Geborene. Dazu ist das Hinaufgehen zum Vater nötig. So ist die Einigkeit von Fleisch und Geist, die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Geist noch nicht präsent. Da Jesus aber unterwegs zum Vater ist, ist die Trinität – wenn auch im Modus der Abwesenheit – schon anwesend. Phänomenologisch-buddhistisch gesagt, ist gerade in diesem Zustand die Trinität »sichtbar«. In diesem Zwischenzustand griff Maria das Kleid Jesu, und Jesus sagte zu Maria »Halte mich nicht fest«. Die »Berührung« ist durchaus der Kontakt mit dem Fleisch. Aber das Berühren und Festhalten Marias wurde an dem getan, was weder Fleisch noch Geist ist. Wo Maria Jesus berührt zu haben glaubt, ist Jesus selbst nicht. Jesus ist in Wirklichkeit nicht dort, wo Maria ihn festhält. Jesus ist dort, und zugleich ist er nicht dort. So ist die Trinität in der Weise der Abwesenheit anwesend. 284 Übrigens kann dasselbe auch auf der buddhistischen Seite überlegt werden. Die buddhistischen Sutras beginnen generell mit dem Satz »Ich habe wie folgt gehört«. Was die Schüler beim Zuhören der Predigt Sakyamunis verstanden und niedergeschrieben haben, wurde zum »Sutra«. Die religiöse Wahrheit in Form des »Kanons« wird geprägt von der Individualität der Autoren. Der »Koran« im Islam wird zwar Mohammed allein zugeschrieben, aber die von seinen Schülern niedergeschriebenen Reden und Taten Mohammeds, Hadîth, werden als die zweite heilige Schrift angesehen. Auch im Islam gibt es bekannterweise außerdem den Weg zur Mystik, den »Sufismus«, der mit der christlichen Mystik vergleichbar ist. Dazu vgl. T. Izutsu, Islamische Kultur – Das ihr Zugrundeliegende (jap.), Tôkyô 1981.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

Ist es aber überhaupt möglich, den heiligen Geist zu berühren? Jesus sagte zwar zu Thomas, dieser solle den Finger ausstrecken und auf seine Seite legen (Joh 20,27). Wenn Thomas das wirklich getan hätte, wäre Jesus dort gewesen. Aber das Wort Jesu, wer ohne Sehen glaubt sei selig, weist auf die Kluft zwischen dem »Sehen« und dem »Glauben« bei Thomas. Dieser sah Jesus, und glaubte an dessen Auferstehung. Das Wort Jesu enthält die Frage, ob Thomas’ Sehen für den Glauben zureichend sei. Das »Sehen« und das »Berühren« bzw. das »Greifen« sind sinnliche Taten, die gewöhnlich vom Glauben an den übersinnlichen Geist durch eine Kluft getrennt werden. Die »Inkarnation« und die »Trinität« sind das Geheimnis der Überbrückung dieser abgründigen Kluft. Dieses Geheimnis ist im Wort Jesu »Halte mich nicht fest« enthalten. Es enthält den Hinweis auf die beiden Dimensionen. Die eine ist: »Ich bin nicht dort, wo du mich siehst und hältst«, und die andere ist: »Du siehst und hältst mich«. Darin wird ein Entscheidendes impliziert: »Komm mit mir dorthin, wo ich wahrlich bin.« Dies ist im Grunde dasselbe, was Jesus Petrus gegenüber mehrmals gesagt hat (Joh 1,43; 21,19; 21,22). Der unausgesprochene Imperativ »Komm mit zu dem Ort, wo ich wahrlich bin« ist die Kehrseite des ausgesprochenen Imperativs »Halte mich nicht fest«. Das letztere wurde deshalb in Form des Verbotes ausgesprochen, weil es sich um das Geheimnis der »Verbindung von Geist und Fleisch« handelt, das nicht in einer direkten Aussage gesagt werden kann. »Halte mich nicht fest« und »Komm mit mir« drücken die widersprüchliche Selbigkeit der Wahrheit aus, die eine Aussageform dessen ist, was nicht direkt aussagbar ist. In dieser widersprüchlichen Identitätsaussage wird die »Compassion« Jesu Maria gegenüber ausgesprochen. Mit einem bewussten Sprung kann hier an eine Szene im »Yuima-Sutra« (Vimalakīrti-nirdeśa Sutra) erinnert werden. Yuima sagt dem Bodhisattva Monju (Manjusri Bodhisattva), der zu ihm zu Besuch kam: »Du bist gekommen mit dem Aspekt des Nicht-gekommen-seins und hast mich gesehen mit dem Aspekt des Nicht-gesehen-habens.« In diesem Zusammenhang könnte ein Dialog zwischen dem christlichen »Gott der Dreieinigkeit« und der buddhistischen »Leere« angesetzt werden. Der Hinweis darauf möge hier genügen. 285 285 Vgl. »Vimalakīrti-nirdeśa Sūtra«, in: Taishô shûsei daizôkyô, 9. Abteilung, 1, Kap. 5. Dieses Sutra ist zugänglich in der Datenbank The SAT Daizôkyô Text Data-

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Die »Leere« des »Berührens«

Die »Compassion« ist nicht das »Mitleid«, das vom Stärkeren bzw. Höheren dem Schwächeren bzw. Niederen gegenüber geäußert wird, sondern das Gefühl des »Mitgehens«. Das Wort »Ich bin noch nicht zum Vater hinaufgefahren« bedeutet, dass Jesus der von seiner Höhe herabgestiegene Gott, der »Gott im Werden« bzw. der »lebende Gott« war. 286 Aber dieses Mitgehen ist nicht das in der Verlegenheit richtungslos hin und her schwankende Gehen. Jesus sagte Maria, sie solle ihn nicht festhalten, und diese Absage war zugleich die Einladung zum Mitgehen. Die Trauer Marias im eigenen Mitgefühl teilend, entleert er zugleich diese Trauer. Es ist eine andere Frage, wie diese »Compassion« in Wirklichkeit auf Maria gewirkt hat. Die intensive Liebe Marias zu Jesu war bestimmt eine andere Art der Liebe als die, die ein Jünger wie Petrus gehegt hatte. Sie muss die durchaus mit dem Geschlecht untrennbare, nie einfach mit dem Verbot Jesu aufhörende Liebe gewesen sein. Das Johannesevangelium beschreibt nicht, wie Maria auf das Wort Jesu »Halte mich nicht fest« reagierte. Es hätte keinen Sinn gehabt, die Reaktion Marias zu beschreiben. Denn Maria geht in ihrer Weise mit Jesus mit. Es ist seit alters her bekannt, dass die »Compassion« kein endloses Mitleid sein darf, sondern eine Form der »Gnadenlosigkeit« annehmen kann. 287 Die »Compassion »ist das Gefühl der Leere« (śūnyatā), die »Mit-Leidenschaft« zwischen den Lebewesen, die von einer unendlich tiefen Kluft voneinander getrennt sind. Sie besteht

base. Die Interpretation des Wortes Jesu »Ich bin noch nicht zum Vater aufgefahren« im Hinblick auf den Kontext dieses Wortes Vimalakīrtis ist zwar im christlichen Kontext unmöglich. Wenn es aber in einer hermeneutisch-hermetischen Interpretation zwei Richtungen geben soll, die eine als Herausstellung des verborgenen Sinnes und die andere als Öffnung des neuen Sinnhorizontes, dann könnte in letzterer ein Dialog zwischen dem Christentum und dem Buddhismus in einer sinnvollen Weise ermöglicht werden. 286 Der Ausdruck »der menschlich leidende Gott« kommt in der Freiheitsabhandlung Schellings vor. Vgl. F. W. J. Schelling, »Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit«, in: Originalausgabe, Bd. VII, S. 403. Der Ausdruck »der Gott im Werden« stammt aus den Philosophischen Brocken Kierkegaards. »Das Geschichtliche ist, daß Gott geworden ist (für den Gleichzeitigen), und daß er ein Gegenwärtiges gewesen ist dadurch, daß er geworden ist (für den Späteren)« (S. Kierkegaard, Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est, Gesammelte Schriften, 10. Abt., 1960, S. 84). 287 Z. B. wird im Zhuangzi (『荘子』「徳充符編」) gesagt: »Der Heilige hat keine Gnade«.

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

jetzt zwischen dem leidenden Gott im Werden und Maria als einem Menschen. Sie sollte aber nicht nur zwischen Gott und Menschen, sondern auch zwischen allen Lebewesen, die von der abgründigen Kluft voneinander getrennt sind, ständig bestehen. Auch das Geschehen »Noli me tangere« zwischen Jesus und Maria kann als dasjenige betrachtet werden, das im »Berühren« geschieht, als Ausübung bzw. als Aussetzung des jedem gegebenen Tastsinns.

5. Anhang: Anmerkungen von Johannes Brachtendorf 288 Lieber Herr Kollege Ôhashi, inzwischen konnte ich Ihren Exkurs zum »noli me tangere« aufmerksamer lesen. Er ist sehr anregend. Ich habe dabei wieder einmal festgestellt, daß sich mithilfe der Phänomenologie auch solche Bibeltexte philosophisch interpretieren lassen, von denen man das zunächst gar nicht vermutet hätte. Sie erwähnen in Ihrem Exkurs die zahlreichen Kommentare zum Johannes-Evangelium, die die Tradition hervorgebracht hat. Ich habe insbesondere die Kommentare Augustins und Thomas von Aquins zu

288 Im Folgenden wird ein Kommentar von Johannes Brachtendorfs zum vorliegenden Exkurs mit seinem Einverständnis aufgenommen. Der Kommentar wurde dem Verfasser in Form einer Email am 06. Juni 2017 geschickt. Brachtendorf ist Lehrstuhlinhaber im Institut für philosophische Grundfragen der Theologie, Universität Tübingen. Der Kommentar wird zu dem Zweck aufgenommen, dass gesehen wird, wie von Seiten der katholischen Theologie zur Frage des nicht-christlichen Verfassers nach dem »Zwischenzustand Jesu« Stellung genommen werden wird. Zumal die Ansicht des existenzialistischen Phänomenologen Jean-Luc Nancy und die des Philologen Glenn W. Most in Betracht gezogen wird, wie hier geschehen, so sollte im Hinblick auf den Sachverhalt auch die Ansicht von Seiten der Theologie herangezogen werden. Zwar wird die These des Verfassers, der »Zwischenzustand« Jesu sei weder bei Augustinus noch bei Thomas ins Auge gefasst, im Kommentar Brachtendorfs bestätigt. Ob aber in theologischer Sicht dieser »Zwischenzustand« überhaupt einer Betrachtung wert sei, diese Frage scheint im Kommentar Brachtendorfs letztlich offengelassen bzw. eher zurückgewiesen zu werden. Dies wäre von Seiten der kirchlichen Orthodoxie durchaus nachvollziehbar. Es sei aber nicht entschieden, ob dadurch mit der Frage Schluss gemacht werden oder ob ein weiteres Gespräch beginnen soll. Das Verbot »Noli me tangere« wird jedenfalls nicht auf diese Frage selbst bezogen werden können.

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Die »Leere« des »Berührens«

Joh 20,10–29 herangezogen. Von allen Johannes-Kommentaren ist derjenige Augustins wohl der einflußreichste, aber auch der Kommentar des Thomas von Aquin besitzt große Bedeutung. Die Begegnung Marias mit dem Gärtner, der in Wahrheit der Auferstandene ist (Joh 20,10–29) interpretiert Augustinus im 121. Vortrag seiner »Tractatus in Johannis Evangelium« 289. Thomas kommentiert diese Perikope in Lectio 3 und Lectio 6 zum 20. Kapitel des Johannesevangeliums. 290

Lieber Herr Ôhashi, ich glaube, daß das Ziel Ihrer Auslegung des »Noli me tangere« mit Thomas’ und insbesondere mit Augustins Intentionen vergleichbar ist. Aber Ihr Weg scheint mir ein anderer zu sein. Nach Augustinus ist das Berühren (tangere) die höchste Form des Verstehens und Begreifens (comprehendere). Wenn Jesus Maria verbietet, ihn zu berühren, dann sagt er damit Augustinus zufolge: Du, Maria, darfst mich nicht mehr als das verstehen, als was du mich bisher gekannt hast, nämlich als Mensch. Vielmehr sollst du mich als das verstehen, was ich in Wahrheit bin, nämlich der ewige Sohn Gottes, der dem Vater wesensgleich ist und die zweite Person der göttlichen Dreifaltigkeit darstellt. Die Begründung des Berührungsverbotes nach Johannes (»Denn ich bin noch nicht zum Vater aufgestiegen«) könnte Augustinus zufolge zunächst eigenartig erscheinen, denn wenn Jesus erst einmal zum Vater aufgestiegen sei, würde Maria ihn doch ohnehin nicht mehr berühren können. Nach Augustinus muß man sie so deuten, daß der Aufstieg Jesu zum Vater im Herzen Mariens stattfinden soll. Sobald Maria verstanden hat, daß der auferstandene Jesus nicht mehr ein sterblicher Mensch ist, sondern der ewige Sohn Gottes, darf sie ihn »berühren«, d. h. so soll sie ihn verstehen.

Vgl. Augustinus, In Johannis Evangelium tractatus CXXIV (CCL 36, 1–688). (Ergänzende Anmerkung vom Verfasser: Vgl. Augustinus, Vorträge über das JohannesEvangelium. Tractatus in Iohannis Euangelium, Bibliothek der Kirchenväter, versehen von Thomas Specht, 1. Reihe, Bd. 8, 11, 19, München 1913–1914.). 290 Der Text des Johannes-Kommentars des Thomas von Aquin ist im Internet zugänglich unter www.corpusthomisticum.org. Vollständige deutsche Übersetzung in: Thomas von Aquins Kommentar zum Johannesevangelium, herausgegeben von Paul Weingartner, Michael Ernst, Wolfgang Schöner, Göttingen 2011. 289

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Exkurs zum 1. Kapitel: »Noli me tangere

Das paßt sehr gut zu Ihrer Formulierung: »Halte mich nicht fest« (als Mensch), sondern »komm mit (im Glauben) zu dem Ort, wo ich wahrlich bin« (nämlich in der göttlichen Trinität). Ihr Gedanke vom Zwischenzustand Jesu und vom »noch nicht ganz auferstanden sein« findet bei Augustinus und Thomas allerdings keinen Anhalt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich Sie in diesem Punkt richtig verstehe. Meinen Sie mit Zwischenzustand den Zustand des leiblich auferstandenen Christus vor der Rückkehr zum Vater, also in der Zeit zwischen dem Ostermorgen und der Himmelfahrt 40 Tage später? Hier von »noch nicht ganz auferstanden sein« zu sprechen, klingt für christliche Ohren sehr ungewöhnlich. Man würde eher sagen, daß Jesus aus dem Grab auferstanden, aber noch nicht in den Himmel aufgefahren war. Oder möchten Sie den Zustand des auferstandenen Jesus bei der ersten Erscheinung am Grab (Ostersonntag morgens – Jesus erscheint der Maria; Joh 20,17) unterscheiden von dem Zustand bei der zweiten Erscheinung (Ostersonntag abends – Jesus erscheint den Jüngern ohne Thomas; Joh 20,19) und bei der dritten Erscheinung (eine Woche später – Jesus erscheint den Jüngern mit Thomas; Joh 20,26)? Sie berufen sich auf Lukas 24,39, wo der Auferstandene den in Jerusalem versammelten Jüngern erscheint und sie zur Berührung seiner Hände und Füße auffordert. (Auch Mt 28,9 akzentuiert die Leiblichkeit des auferstandenen Jesus, denn hier wird erzählt, daß die beiden Marias seine Füße umfassen.) Dies legt nahe, daß Sie den Zustand bei der ersten Erscheinung, also am Ostersonntag morgens, als »Zwischenzustand« sehen. Er wäre insofern ein »Zwischenzustand«, als Jesus zwar schon auferstanden wäre, aber seinen Leib noch nicht zurückerhalten hätte. So würde sich auch das Berührungsverbot gegenüber Maria erklären. Bei den späteren Erscheinungen gegenüber den Jüngern trete Jesus hingegen in seinem Auferstehungsleib auf, der durchaus berührt werden dürfe. Hinsichtlich der Leiblichkeit Jesu machen Augustinus und Thomas allerdings keinen prinzipiellen Unterschied zwischen diesen drei Erscheinungen des Auferstandenen nach Johannes. Schon am Ostermorgen (Joh 20,17) erscheint Jesus der Maria demnach in seinem verherrlichten Auferstehungsleib (corpus gloriosum; carnis gloriosa), genauso wie am Abend des gleichen Tages und eine Woche später. Das Berührungsverbot gegenüber Maria wird nicht so begründet, daß Jesus noch keinen Leib habe. Augustinus und Thomas erklären es vielmehr als pädagogische Maßnahme gegenüber Maria, die im 202 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die »Leere« des »Berührens«

Auferstandenen gerade wegen seiner Leiblichkeit zunächst den sterblichen Menschen Jesus sieht und erst lernen muß, daß Jesus nun als Gott selbst (im verherrlichten Leib) vor ihr steht. Jesus will, daß Maria ihn als den ewigen Sohn Gottes sehen lernt. Augustinus und Thomas von Aquin gleichen die Begegnung Marias mit dem Auferstandenen (Joh 20,17) trotz des »noli me tangere«, das sich nur dort findet, durchaus an die entsprechenden Passagen der Synoptiker an (Lk 24,39; Mt 28,9), in denen Jesus sich berühren läßt. Ein interessantes Detail dazu: Thomas überlegt, warum Jesus in Joh 20,17 der Maria die Berührung verbietet, obwohl der Evangelist Johannes gar nicht berichtet, daß Maria überhaupt versucht hätte, Jesus zu berühren. Zur Erklärung verweist Thomas auf Gregor den Großen, der vermutet, Maria sei (wie in der Mt 28,9 erzählten Szene) auch hier zu Boden gefallen, um die Füße Jesu zu umarmen, den sie wiedererkannt habe. Joh 20,17 sei also durch Mt 28,9 zu ergänzen. Veronese, Correggio und einige andere Maler haben sich diese Deutung zu eigen gemacht, denn ihre Gemälde zeigen, wie Jesus der Maria das »noli me tangere« zuruft, während diese nach seinen Füßen greift. Einen »Zwischenzustand« in Ihrem Sinne nehmen Augustinus und Thomas von Aquin für den Auferstandenen aus Joh 20,17 also nicht an. Aber die Schlußfolgerung dieser Kommentatoren ist der Ihrigen nicht unähnlich. Sie, lieber Herr Ôhashi, schreiben: »Da Jesus aber unterwegs zum Vater ist, ist die Trinität, wenn auch im Modus der Abwesenheit, schon anwesend. […] In diesem Zwischenzustand griff Maria das Kleid Jesu, und Jesus sagte zu Maria: ›Halte mich nicht fest.‹« Mit Augustinus könnte man sagen: Die Trinität ist im Modus der Abwesenheit anwesend, weil wir sie nicht sehen können. Aber solange wir uns an dem festhalten, was wir sehen können, bemerken wir nicht, daß die Trinität anwesend ist. Mit freundlichen Grüßen Ihr Johannes Brachtendorf

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2. Kapitel: Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

Bisher wurden die empirisch bzw. heuristisch hergeholten Kategorien der »Fernnähe« und der »Höhentiefe« auf den einfachen und fundamentalen Sachverhalt »Welt-Ort« zurückgeführt, als dessen erste Konkretisierungsformen die »Fünfsinne« neu aufgefasst wurden. Jeder der fünf Sinne und die Sinne überhaupt können je als ein Welt-Ort aufgefasst werden. Dass nun diese Fünfsinne im Ganzen vom »Gemeinsinn« überspannt werden, wurde schon in der griechischen Philosophie bemerkt. Was trägt diese Einsicht zu der strukturellen Gliederung des Welt-Ortes bei? Die Erläuterung dieser Frage verbindet sich mit der Entfaltung des Themas »Compassion«. Denn das »Co-« in der »Compassion« verweist, wie bisher schon gesagt, von vornherein auf die Existenz der »Anderen« bzw. auf das Band zwischen diesen Anderen. Dabei sind die gemeinten Anderen nicht nur die »anderen Menschen« (»autrui«), sondern auch oder sogar in erster Linie die »anderen Dinge« (»les autres«). Dies gilt vor allem im Fall der »Fünfsinne«. Im Fall des Gemeinsinnes als des den Fünfsinnen gemeinsamen Sinnes gilt dies ebenfalls, aber wenn Gemeinsinn »Common Sense« bedeutet, dann sind die Anderen die »anderen Menschen«. Auf jeden Fall fordert die Erläuterung der Struktur des »con-« der Compassion die Sinneslehre des »Welt-Ortes«, die zu einer Artikulation einer bestimmten Sinnebene der »Anderen« führt, wie im Folgenden erörtert wird.

1.

Gemeinsinn und Common Sense

Werfen wir einen Blick auf die überlieferten Auffassungen des »Gemeinsinnes«, der zum ersten Mal von Aristoteles vorgelegt wurde. In »De Anima« erörtert Aristoteles, dass es fünf Sinnesfunktionen gibt und außer diesen fünf Sinnen keine anderen vorhanden sind, und weiterhin, dass keiner von diesen durch die anderen ersetzt werden 204 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Gemeinsinn und Common Sense

kann. Zum Einwand, dass es noch weitere Sinnesfunktionen gibt, wurde bereits im vorigen Kapitel das Nötige ausgeführt, das hier nicht wiederholt werden soll. Aristoteles’ Sinneslehre enthält für uns noch Wichtigeres als die äußerliche Zahl der fünf Sinne. Das ist der Hinweis darauf, dass die »Bewegung«, die »Ruhe«, die »Größe«, die »Zahl« usw. des Gesehenen oder Berührten von irgendeinem der Fünfsinne empfunden, aber nicht auf einen bestimmen Sinn beschränkt wird. Sie affizieren je ein Sinnesorgan und sind doch allen Sinnen gemeinsam. »Für die Gemeinsamen (ta koina) muss es den Gemeinsinn (aisthêsis koinê) geben, und zwar nicht als der kontingente (kata symbebêkos)«. 291 Der von Aristoteles aufgezeigte »Gemeinsinn« ist nicht der den Fünfsinnen hinzukommende sechste Sinn, sondern der Sinn, der den Fünfsinnen gemeinsam ist. Jetzt kommt noch eine wichtige Beobachtung Aristoteles’ hinzu, nämlich, dass der Gemeinsinn nicht nur der Empfindungssinn, sondern auch das »Urteilende« (to krinon, to kritikon) ist. Wenn z. B. süß und scharf vom »Geschmackssinn« und weiß und schwarz vom »Gesichtssinn« beurteilt werden, müssen die zwei Sinne synthetisiert werden. Der Gemeinsinn enthält eine logische Funktion, »wie wenn die Galle (cholês) als bitter und gelb empfunden wird«. 292 Dass die Galle als gelb und bitter vernommen wird, ist das Resultat des Gemeinsinnes als Zusammenwirkung des Gesichtssinns und des Geschmackssinns. Beiläufig ist auf den Unterschied zwischen diesem Gemeinsinn und der sogenannten Synaesthesia hinzuweisen. Der Unterschied liegt darin, dass letztere ein sehr ungewöhnliches Vermögen ist, das einer unter mehreren zehntausend Menschen besitzt. Bei ihm veranlasst der Geschmack wie süß eine optische Empfindung wie rot oder eine Gestalt wie die des Dreiecks. Dem gegenüber besteht der Gemeinsinn bei jedem Menschen als der Sinn, der seinen Fünfsinnen gemeinsam ist. Die aristotelische Lehre vom Gemeinsinn ist der Ausgangspunkt für die Betrachtung des Gemeinsinnes in der Geschichte der Philosophie, und auch für das vorliegende Kapitel. Der Ausgangspunkt bestimmt nun nicht all das, was auf der danach folgenden Bahn geschieht. Er beantwortet z. B. die Frage nicht, in welchem Verhältnis

291 292

Vgl. Aristoteles, De Anima, Ed. W. D. Ross, Oxford 1956, 425 a 27. A. a. O., 425 b 1–2.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

der Gemeinsinn in »De Anima« und der »ethische« Gemeinsinn in der »Nikomachischen Ethik« zueinander stehen. In der »Nikomachischen Ethik« sagt Aristoteles, dass es für jeden angenehm ist, dass er existiert, und genauso angenehm, dass ein Freund für ihn existiert. »Mithin bedarf es auch eines Bewusstseins vom Dasein des Freundes, und ein solches wird vermittelt durch das Zusammenleben (en tô syzên) und den Austausch der Worte und Gedanken (koinônein)« 293 Dies ist der Grund für die aristotelische These »Der Freund ist das andere Ich (heteros autos).« 294 Das aristotelische »gemeinsame Empfinden« (synaisthanesthai) kann als der erste philosophische Ausdruck für den sogenannten »Common Sense« angesehen werden. Aristoteles hat zwar die Verbindung des »gemeinsamen Besitzens von Reden und Gedanken« sowie der »gemeinsamen Empfindung im Mit-sein« mit dem »Gemeinsinn« in De Anima nirgendwo thematisiert. Aber wenn der Gemeinsinn den Fünfsinnen gemeinsam ist und als »das Urteilende« eine logische Funktion hat, so ist es relativ leicht zu sehen, dass und wie er sich irgendwie mit dem »gemeinsamen Besitzen von Reden und Gedanken im Mitsein mit den Anderen« bzw. dem »gemeinsam Empfinden« verbindet. In den bisher überlieferten »Sinneslehren« findet sich trotzdem kein Versuch, die Verbindung zwischen dem Gemeinsinn, der den Fünfsinnen gemeinsam ist, und dem Gemeinsinn namens »Common Sense« zu finden. Dies ändert sich auch bei Thomas von Aquin nicht. 295 Wenn man allerdings eigens in diesen Lehren die möglichen Hinweise zur Betrachtung sucht, so ist es nicht ohne Anhalt. Bleiben wir z. B. bei Descartes, der in den Schriften Regulae ad directionem ingenii, Les Passions de l’âme, Meditationes usw. den »Gemeinsinn« in Betracht gezogen hat. Er betrachtet zwar das Verhältnis des den 293 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eugen Rolfes. Philosophische Bibliothek Bd. 5, Leipzig, Verlag Meiner, Hamburg 1911, 1170 b 10–11. 294 A. a. O., 1170 b 10–11. 295 Zur Sinneslehre Thomas von Aquins über den Gemeinsinn vgl. ders., Summa Theologiae, I, q. 78, a. 4, ad 2: »Ultimum iudicium et ultima discretio pertinet ad sensum communem, quis iudicium aliorum perficit.« (Das letzte Urteil und die letzte Unterscheidung gehört dem Gemeinsinn, der das andere sinnliche Urteil vollendet.) Vgl. auch die folgende Stelle (A. a. O., I, q. 1, a. 3, ad: »unde sensus communis cum sit una potentia extendit se ad omnia objecta quinque sensuum« (Der Gemeinsinn ist das eine Vermögen, aber er erreicht alle Gegenstände der fünf Sinne.) Im ersten Zitat wird der Gemeinsinn auf das geistige Gebiet bezogen.

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Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding

Fünfsinnen gemeinsamen sensus communis mit dem »Common Sense« nicht. Aber seine Schrift Discours de la méthode beginnt mit dem folgenden Satz, der von uns nicht übersehen werden darf: »Der ›bon sens‹ wird in dieser Welt am besten verteilt.« 296 Der »bon sens« heißt wörtlich übersetzt der »gute Sinn« und ist dem Individuum zu eigen, aber als der am besten in der Welt verteilte ist er der sozial »gemeinsam besessene Sinn«. So entspricht er auch dem sogenannten »gesunden Menschenverstand«. Da »sinnlich« im Allgemeinen in dem Sinne »passiv« heißt, dass die Affizierung von außen her empfangen wird, so entspricht der gute Sinn, »bon sens«, der passiven Vernunft (patêtikos nous), die Aristoteles in »De Anima« erörtert. 297 Diese passive Vernunft ist, verbunden mit den sinnlich wahrnehmbaren Materien, ein vergänglicher (phthartos) Teil in der sonst unsterblichen, ewigen Vernunft. So ist »bon sens« sinnlich und zugleich geistig. In der Tat wird das Wort »bon sens« in der von Descartes selbst überprüften lateinischen Übersetzung des »Discours de la methode« mit dem Wort »bona mens« übersetzt, 298 also mit dem »guten Geist«. Im »Discours« wird er auch bald mit der »Vernunft« (raison), bald mit »bon esprit« übersetzt. So ist »bon sens« bei Descartes sowohl der »gute Sinn« wie auch der »gute Geist«, individuell und zugleich sozial. Ein unentbehrlicher Aspekt dieser sozialen Breite wird nun vom impersonalen Anderen, dem »Ding«, gebildet. Es ist Hegels Phänomenologie des Geistes, in der dieser Aspekt aufgezeigt wird, wodurch die Sozialität des Gemeinsinnes, wenn auch nicht als das beabsichtigte Ziel, zutage gebracht wird. Dies soll im Folgenden dargelegt werden.

2.

Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding

Eine etwas verwegene These ist zu wagen, dass Hegels Phänomenologie des Geistes im Ganzen als eine »Sinneslehre« gelesen werden kann. 299 Diese These mag, wenn man von einem allgemeinen Ver296 R. Descartes, Discours de la méthode, in : Œuvres de Descartes, publiées par C. Adam & P. Tannery, VI, Paris 1973, S. 1: »Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée.« 297 Aristoteles, De Anima, 430 a 24/25. 298 R. Descartes, Discours de la méthode, S. 540. 299 Die konkrete und belegende Erörterung dieser These wurde vom Verfasser in: Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre. Hegel und die Idee der Phänomenoe-

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

ständnis ausgeht, mit Recht befremden. Denn dieses Werk beginnt bekannterweise mit der »sinnlichen Gewissheit« und geht über zur »Wahrnehmung«, dann zum »Verstand« usw. Die »Sinnlichkeit« ist die allererste Stufe der Phänomenologie des Geistes, die beim Übergehen zu den höheren Stufen des Bewusstseins zurückgelassen zu werden scheint. Aber bei der Verfolgung des Textes ergibt sich gleich, dass die Bestimmungen der Sinnlichkeit in den danach folgenden Bestimmungen der Wahrnehmung, des Verstandes, dann der Vernunft und des Geistes immer wieder als deren »Moment« wiederholt werden. Sie verschwindet nicht mit der ersten Stufe. Es ist dann zu sehen, was sich bei dieser Wiederholung aus ihr ergibt. 300 In der Phänomenologie des Geistes werden drei Stufen, die »Sinnliche Gewissheit«, die »Wahrnehmung« und der »Verstand« unter dem Namen »Bewusstsein« zusammengebracht. Die für die vorliegende Betrachtung wichtige Einsicht dort ist, dass das Gesetz, das der Verstand in seinen Gegenständen findet, auch und eben das Gesetz ist, das ihn selbst durchzieht. Sie leitet zu der Einsicht über, dass das Erkennen des Gegenstandes des Bewusstseins das Selbsterkennen des Bewusstseins selbst ist. Die Stufe, auf der das Bewusstsein die Identität seiner selbst mit seinem Gegenstand einsieht, ist das »Selbstbewusstsein«. Das Selbstbewusstsein bei Hegel ist ganz anders als das in der gewöhnlichen Wendung dieses Wortes verstandene. Nach der letzteren heißt das Selbstbewusstsein das Bewusstsein seiner selbst. Philosophisch wird es in der kantischen Formulierung in der Kritik der reinen Vernunft zusammengefasst. Es ist nämlich »das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst«. 301 Demgegenüber ist das »Selbstbewusstsein« in der Phänomenologie des Geistes das Bewusstsein, das erfährt, dass sein Gegenstand dieselbe Wesensnatur hat wie es selbst. »Wir sehen daß im Innern der Erscheitik der Compassion, Freiburg i. Br., 2009, vorgelegt. Was hier dargestellt wird, ist eine Zusammenfassung dessen, was in diesem Buch, vor allem in dessen Kapitel »Selbstbewusstsein«, erörtert wird. Zu diesem Buch vgl. auch die Buchbesprechung von Eveline Cioflec, in Hegel-Studien, Bd. 45, S. 142–146, Meiner Verlag, Hamburg 2011. 300 Im Folgenden werden für Zitate aus G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes jeweils nur Band- und Seitenzahl im Text angegeben. Dazu vgl. den Verfasser, Die ›Phänomenologie des Geistes‹ als Sinnesehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion, Freiburg/ München 2009, vor allem den I. Teil (S. 37–56): »Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes«. 301 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A108 f.

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Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding

nung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anderes als die Erscheinung selbst, (…) und in der Tat nur sich selbst erfährt.« (3, 135) Die erste Gestalt dieses Selbstbewusstseins ist das »Leben« mit der sinnlichen Begierde. Die bekannte »Dialektik von Herr und Knecht« wird hier entwickelt, und diese Szene gibt auch für das vorliegende Kapitel einen entscheidenden Hinweis. Sowohl der Herr wie auch der Knecht haben ein Selbstbewusstsein in ihrer eigenen Weise. Wer ein Selbstbewusstsein hat, ist für sich. Aber es ist zunächst der Herr als der absolute Herrscher, der dieses Selbstbewusstsein hat. Der Knecht als der total beherrschte wird dem Herrn unterworfen, ist somit nicht selbständig. Dieses Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft ist das der Anderen in der zweiten Person zueinander. Nach der im Ersten Teil ausgeführten Analytik der Anderen erscheinen diese Anderen im Verhältnis von »Ich« und »Du«. Aber im Fall des Verhältnisses von »Herr und Knecht«, obwohl diese als die Anderen in der zweiten Person gleich sind, bilden sie einen klaren Kontrast. Für den Knecht ist der Herr der absolute Herrscher, der sein eigenes Wesen bestimmt. Der Herr hat den Fug, über das Leben und den Tod des Knechts zu entscheiden, und der Knecht dient dem Herrn mit der »Todesangst«. Der Knecht hat zunächst keinen Aspekt der Selbständigkeit. Selbst die »Arbeit«, die eigentlich das fundamentale Tun des Menschen sein soll, ist nicht seine eigene Arbeit, da dem Knecht vom Herrn befohlen wird zu arbeiten. Hier erscheint die von Marx in seinen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« betrachtete »entfremdete Arbeit«. 302 Hegel fügte nun diesem Verhältnis der Anderen in der zweiten Person in Form von »Herr und Knecht« noch einen Gesichtpunkt hinzu, der später von Marx unter dem historisch-materialistischen Gesichtspunkt entwickelt wurde, nämlich den Gesichtspunkt des »Dinges«. Im vorliegenden Buch wurde das »Ding« als das »impersonale Andere« beleuchtet. Im Fall der personalen Anderen wird der Charakter der Personalität im Übergang von der zweiten zur dritten Person indirekt und diffus. Im Äußersten dieser Richtung erscheint das »Ding« als das impersonale Andere. Das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft ist noch personal, aber dieses zwischenmenschliche Verhältnis besteht nicht ohne das impersonale Andere, das »Ding«. Es wird unterstützt und vermit302 Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Rowohlt-Ausgabe, Hamburg 1968, erstes Manuskript, 4. Die entfremdete Arbeit (S. 49 ff.).

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

telt von diesem Ding. Um es in einem vereinfachten Schema zu beschreiben, ist das »Ding« hier das Produkt der Arbeit des Knechts. Der Seinscharakter dieses Dinges ist, je nachdem ob es dem Herren oder dem Knecht gegenüber liegt, völlig anders. Der Herr ist zwar für sich, muss aber essen und trinken, um sein Leben zu erhalten. Er hat auch einen alltäglichen Bedarf. Schon um sich hinzulegen, braucht er den Schlafanzug, und um zu Fuß zu gehen, Schuhe. Die kostbaren Dinge sind ebenfalls Gegenstände seiner Bedürfnisse, und der Herr genießt das Recht der Erfüllung dieser Bedürfnisse. Das Ding, solange es vom Herrn besessen, genossen und verbraucht wird, gehört dem Herrn. Aber dem Knecht gegenüber ist das Ding quasi selbständig. Zwar wird es durch die Arbeit des Knechts gehandhabt, nicht aber von diesem besessen. In der Phänomenologie des Geistes kommt deshalb der Ausdruck »Selbständigkeit des Dinges« vor (3, 151). So ergibt sich das Verhältnis der Anderen in der zweiten Person »Herr und Knecht« als das dreipolige Verhältnis »Herr – Ding – Knecht«. Das Thema »Ding« kommt übrigens in der Phänomenologie des Geistes schon vor dem Kapitel »Selbstbewußtsein« bereits im Kapitel »Bewußtsein« vor. Auf der Stufe des Bewusstseins in Form der »sinnlichen Gewißheit« wurde der Gegenstand als das »hier und jetzt« vorhandene Seiende in Einzelheiten gesehen, aber auf der danach folgenden Stufe »Wahrnehmung« erscheint er in einer Allgemeinheit, als »Ding« (3, 94). Dieses wird deshalb in der Allgemeinheit gesehen, weil seine Beschaffenheit einen »allgemeinen Charakter« hat. Diese Allgemeinheit wird auf der weiteren Stufe des Bewusstseins »Verstand« als das »Innere« des Dinges, als das »Gesetz« erkannt (3, 107 ff.). Jedoch ist dieses Ding als der Gegenstand des Verstandes immer noch ein Objekt der Erkenntnis. Das »Ding« für das »Selbstbewusstsein« ist aber nicht nur für das Bewusstsein vorhanden, sondern es ist auch das, was auf das Subjekt wirkt, die Seinsweise des Herren und des Knechts bestimmt und von demselben Gesetz durchzogen ist wie das Bewusstsein selbst. Wie im Kapitel zum »Selbstbewußtsein« deutlich wird, hat der Knecht, obwohl er über sein eigenes Leben und seinen eigenen Tod nicht selber verfügen kann, dennoch ein Element der Selbständigkeit, solange er das »Ding« durch sich selbst bearbeitet. Zwar wird seine Arbeit unter der Bedingung getan, dass das Bearbeitete nicht dem Knecht gehört. Aber Arbeiten ist Bilden, und etwas bilden heißt sich selbst als den Bildenden bilden. Darin ist die Basis der Selbständigkeit bereits da. Andererseits hat der Herr diese Basis der Selbstbildung 210 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Dialektik von Herr und Knecht und Ding

nicht und ist somit in Wahrheit nicht selbständig. Wenn er wirklich danach strebt, der Herr im Sinne des selbständigen Seins zu sein, kommt es zutage, dass er gar nicht selbständig ist und ihm die Bedingung, Herr zu sein, fehlt. Vielmehr erfüllt der Knecht diese Bedingung für die Selbständigkeit. So beginnt der Umschlag in der Stellung von Herr und Knecht. Wie schon gesehen, wird im phänomenologischen Diskurs über das/den Andere/Anderen bis heute das impersonale Andere, »Ding«, kaum ins Auge gefasst. Es könnte sein, dass dies stillschweigend eine Folge des Problembewusstseins der Phänomenologen ist, die nach dem Umsturz der marxistisch-materialistischen Lehre sich von dieser distanzieren wollten. Aber mit dem Badewasser scheint auch das Kind ausgeschüttet worden zu sein. Denn die Betrachtung Marx’ vom unheimlichen Fetischcharakter und der Verdinglichung bzw. Versachlichung des Dinges in Form der Ware wurde vom sozial-praktischen Blick geprägt, 303 während in der phänomenologischen Betrachtung der Anderen das erkenntnistheoretische Anliegen eher im Vordergrund stand. Über das »Ding« muss weiterhin nachgedacht werden, über die Differenzierung von praktisch und erkenntnistheoretisch hinaus als die phänomenologische Aufgabe, das Ding als das impersonale Andere in Betracht zu ziehen, solange das Ding, indem es sich »vom Hergestellten zum Herstellenden« verwandelt, 304 uns drängt, ändert und auf uns wirkt. Heidegger hat eingesehen, dass das technische Produkt als das her-gestellte Ding zugleich als das Be-stellte das Menschenleben bestimmt, den Menschen zum neuen Lebenstil nach-stellt und den Menschen ins Ge-stell als die Gesamtheit des Stellens durch die Technik hinein-stellt. 305 Das Thema »Ding« als

303 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Kap. »Ware und Geld«, 1. Paragraph »Die Ware«, 4. Abschnitt: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/5, Berlin 1987, S. 46: »Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert«. Diese Betrachtung wird auch mit dem Wort »Verdinglichung« oder »Versachlichung« ausgedrückt (vgl. a. a. O., 3. Bd., Kap. 7, Kap. 48). 304 Dieser Ausdruck ist K. Nishida zuzuschreiben. Allerdings wird bei ihm diese Verwandlung »vom Hergestellten zum Herstellenden« ausschließlich im Aspekt des schöpferischen Aktes gesehen und nicht im negativen bzw. annihilierenden Aspekt. Dazu vgl. »Der Standpunkt der Tatanschauung« (jap.), 1935, im Bd. 8 der Alten Ausgabe und im Bd. 7 der Neuen Ausgabe. 305 Dies ist kein Zitat, sondern eine Paraphrase durch den Verfasser.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

das impersonale Andere betrifft die Seinsweise der gegenwärtigen Welt selbst. In Wirklichkeit zeigt sich das Ding mit verschiedenen Antlitzen. Auf der einen Seite ist es impersonal, aber andererseits bezieht es sich wie etwas Persönliches auf die Menschen. Das »Zeug«, das »Kunstwerk«, der »Schatz«, der »Schmuck«, das »Spielzeug« usw., aber auch die unauffälligen Dinge wie die Baumaterialien, die Kieselsteine auf der Straße, die Bäume auf den Bergen, die Sterne im Himmel usw. sind oft so. Ein Ding mit Fetischcharakter bleibt nicht bloß das »Antlitz«, das uns nur anguckt, sondern sein Blick bedingt den Menschen zu dem Wesen, das an ihm hängenbleibt. Es kann einerseits auch, wie im Fall des »Knechts«, den Menschen zur von der Ausbeutung unabhängigen, un-bedingten Freiheit bringen. Andererseits kann es im Fall des »Ge-stells« bei Heidegger den Menschen zu einem verdinglichten Wesen verwandeln. Das Ding trägt dort den Charakter eines »Undings«.

3.

Der Gemeinsinn zwischen Herrn und Knecht

Von hier aus gehen wir zum Problem des »Gemeinsinnes« zurück. Wie gesagt kommt das Wort »Gemeinsinn« kein einziges Mal in der Phänomenologie des Geistes vor. Aber für Hegel war die aristotelische Darstellung der Empfindung »der ganz richtige Standpunkt der Empfindung«. 306 Hegel sagt dies zwar zunächst im Hinblick auf die aristotelische Beobachtung der Passivität der Empfindung. Aber er macht darauf aufmerksam, dass bei Aristoteles die Empfindung von weiß und süß als ungeteilt in der ungeteilten Zeit beobachtet wird und Aristoteles mit dieser Beobachtung das Vermögen der Unterscheidung in der Empfindung erkennt. Hegel bemerkt, dass Aristoteles dann von der Empfindung zum Denken übergeht. 307 Dieser Übergang deckt sich mit dem Fortgang in der Phänomenologie des Geistes. So behält Hegel in Wirklichkeit die aristotelische Einsicht in den »Gemeinsinn« praktisch im Auge. So ist es kein Wunder, wenn der von Aristoteles entdeckte Gemeinsinn in der Sinneslehre der Phänomenologie des Geistes praktisch enthalten ist. 306 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 19, S. 206. 307 A. a. O., S. 211 f.

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Der Gemeinsinn zwischen Herrn und Knecht

Die Szene, in der dies gesehen werden kann, ist wiederum die Dialektik von »Herr und Knecht« im Kapitel »Selbstbewußstsein«. Wie bereits gesehen, hat der Herr das Überlegenheitsgefühl der absoluten Herrschaft dem Knecht gegenüber, während der Knecht mit der Todesangst das Gefühl der absoluten Unterwerfung dem Herrn gegenüber hat. Die Gefühle der beiden zueinander sind gegensätzlich und haben keine Gemeinsamkeit. Die Struktur dieses Verhältnisses kann »verkehrte Korrespondenz« genannt werden. Denn die zwei Extreme des Verhältnisses haben zwar konträre Seinsweisen, sie bestehen aber in demselben gemeinsamen Verhältnis als dessen Extreme. Sie bilden insofern die zwei kontrastierten Aspekte des einen und selben Gemeinsinnes. Dieser ist insofern zu bezeichnen als der »ungemeinsame Gemeinsinn« (sensus communis non-communis). Dieser »un-gemeinsame Gemeinsinn« beschränkt sich nicht nur auf den spezifischen Fall von »Herr und Knecht«. Bei einer kurzen Reflexion wird sich leicht ergeben, dass jede zwischenmenschliche Beziehung, wie von Eltern und Kindern, Mann und Frau, den Geliebten, den Freunden, Feinden und Verbündeten, Kollege, Lehrer und Schüler, immer so besteht, dass sie als die Beziehung der Anderen zueinander immer eine Diskontinuität in sich enthält. So harmonisch bzw. homogen diese Beziehung auch sein mag, die aufeinander Bezogenen sind Andere zueinander. Sie haben verschiedene Leiber, verschiedene Empfindungen und verschiedene Wünsche. Als solche voneinander unabhängigen Subjekte bilden sie eine gemeinsame Beziehung, deren Struktur notwendigerweise die der diskontinuierlichen Kontinuität ist. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die zwei Extreme der gemeinsamen Beziehung immer durch irgendein Ding vermittelt werden. Selbst in der direkten körperlichen Verbindung wird diese durch die Dinge als Körper vermittelt. Man könnte einwenden, dass der eigene Körper kein »Ding« ist, aber dieser Einwand kommt deshalb, weil man sich unter dem Ding anorganisch Materielles vorstellt. Rein sprachlich steht das lateinische »res« in Verbindung mit dem Wort »realitas«. Der eigene Körper ist doch auch »res«, ein Ding, »Realität«. Es sei hinzufügen, dass der genannte un-gemeinsame Gemeinsinn auch beim Gemeinsinn im ästhetischen Urteil gilt. Das ästhetische Urteil, wie es Kant in der »Kritik der Urteilskraft« erörtert, ist einerseits durchaus subjektiv, aber andererseits von vielen Subjekten geteilt, und diese Gemeinsamkeit des ästhetischen Urteils postuliert, 213 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

dass die Menschen Gemeinsinn haben. Die einander unbekannten Menschen bewundern in fast gleicher Weise die volle Kirschblüte oder den Garten mit blühenden Rosen. Allerdings hat Kant es unterlassen, zu erörtern, worin dieser Gemeinsinn gründet. 308 Aber das ist für uns jetzt nicht wichtig. Von uns her gesehen wäre der Hinweis wichtiger, dass Kant noch eigens auf den Aspekt der Diskontinuität im Gemeinsinn aufmerksam hätte werden können, weiterhin, dass er hätte denken können, dass diese Diskontinuität wohl der Individualität und der Einzigkeit der diesen Gemeinsinn teilenden Individuen entspricht, und letztlich, dass er diesen Aspekt der Diskontinuität als vermittelt durch irgendein »Ding« (wie die Kirschblüte oder die aufblühende Rose) hätte beachten können. Dann hätte die Betrachtung des ästhetischen Gemeinsinnes bei Kant unter Einbeziehung des »Grundes« desselben phänomenologisch fortgesetzt werden können.

4.

»Der un-gemeinsame Gemeinsinn« und der »Welt-Ort«

Zwei oben dargestellte Gesichtspunkte sind festzustellen, die bisher in der Begriffsgeschichte des Gemeinsinnes nicht thematisiert wurden. Der eine ist, dass der Gemeinsinn als der den Fünfsinnen gemeinsame Sinn und der Gemeinsinn als der sozial in gleicher Weise geteilte Sinn nicht voneinander getrennte Bereiche sind, sondern einen organischen Zusammenhang miteinander haben. Der zweite ist, dass der Gemeinsinn in jedem Fall, wenn er exakter formuliert werden soll, der »un-gemeinsame Gemeinsinn« ist. Welche Aussicht eröffnen diese zwei Gesichtsorte für das Problemgebiet, d. h. für den »Welt-Ort«? Es ist schon aus der bisherigen Darstellung ersichtlich, dass die genannten zwei Gesichtspunkte zwar in der Begriffsgeschichte nicht

In der Kritik der Urteilskraft wird zwar erörtert, dass dieser Gemeinsinn faktisch postuliert werden muss (vgl. a. a. O., § 20, § 21, § 40), aber der Grund für dieses Faktum wird nicht erörtert. Diese Ansicht hat der Verfasser in zwei Vorträgen zur Diskussionen gestellt, einmal unter dem Titel »Der Gemeinsinn bei Kant. Eine unabgeschlossene Betrachtung in der Kritik der Urteilskraft«, auf der Tagung »Kant im Kontext«, im Alten Senatssaal der Universität zu Köln am 17. Juli 2015, und ein anderes Mal unter demselben Titel in der Philosophischen Fakultät der Universität Jena am 04. Nov. 2015. 308

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»Der un-gemeinsame Gemeinsinn« und der »Welt-Ort«

erwähnt wurden, aber dennoch keine Neuigkeit sind. Denn auch hier, wie vom Ganzen des vorliegenden Buchs gesagt werden kann, gilt, dass die Quellen, auf denen sich die Darstellung stützt, irgendwo in den überlieferten Texten der Vorgänger zu finden sind. Hier gibt es keine gänzlich neue »Originalität«. Das Dargestellte bildete sich von selbst, indem die genannten Quellen in einem gewissen Zusammenhang ins Auge gefasst werden. Darum könnte es durchaus sein, dass eine geschicktere und präzisere Darstellung noch möglich ist. Der Verfasser wünscht darum die Nachsicht der Leser bei etwaigen Kurzschlüssen und möchte seine Betrachtung weiter vorantreiben. Denn die genannten zwei Gesichtspunkte sind, wenn sie an sich allein gesehen werden, bloß zufällige Entdeckungen, wie das Ei des Kolumbus. Wichtiger ist die Frage, welchen Ausblick sie eröffnen, vor allem über das Problemgebiet des »Welt-Ortes«. Um diesen Ausblick zu bekommen, gibt die Szene von Herr und Knecht wiederum einen Hinweis. Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« zwischen den beiden besteht nicht einfach als lineares Verhältnis der beiden, sondern als Triadenverhältnis von »Herr – Ding – Knecht«. Das Verhältnis wird vom »Ding« als der Mitte vermittelt. Dabei bleibt der Seinscharakter dieser Mitte noch dunkel, und es ist anzunehmen, dass in dieser vermittelnden Mitte (die wir mit »M« bezeichnen) das Geheimnis des Bestehens des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« liegt. Mit welcher Funktion ermöglicht sie die Verbindung der beiden Extreme (die mit »A« und »B« zu bezeichnen sind)? Um der Einfachheit des Verständnisses willen nehmen wir an, dass M der Klebstoff, A die Briefmarke und B der Briefumschlag ist. Damit A an B geklebt werden kann, ist M nötig, das weder A noch B ist, dennoch sowohl mit A als auch mit B eine gewissermaßen homogene Qualität hat. Man kann den Klebstoff als Beispiel auch mit dem Vermittler in einer Verhandlung der Staaten A und B ersetzen. Er muss mit den Regierungsbeamten der beiden Staaten zu tun haben, damit die Vermittlung zustande kommen kann. Im Fall des von Kant erörterten erkenntnistheoretischen Verhältnisses kann A für die Kategorien als die Denkformen des Verstandes und B für die Phänomene stehen, von denen die Sinnlichkeit affiziert wird. A und B allein können kein Erfahrungsurteil bilden. Für dieses wird der Vermittler M benötigt, der Schematismus, durch den die Kategorien als die Verstandesformen auf die von den Sinnen aufgenommenen mannigfaltigen Materien angewandt werden. Der Schematismus ist die Tätigkeit, 215 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

in der die zwei Elemente, der Verstand und die Sinnlichkeit, zu einem Erkenntnisakt vereinigt werden. 309 Die vermittelnde Mitte M ist in logischer Hinsicht der Kern der Dialektik. M kann sich sowohl auf A wie auch auf B beziehen, wodurch A und B miteinander vermittelt werden. In M spiegelt sich C, in das A und B aufgehoben werden, so dass man sagen kann, dass C in der Weise einer Antizipation schon in M da ist. So gesehen, ist M das Moment der Aufhebung. Im Hinblick auf den Geschehensprozess ist dieses Moment als »das Moment« zugleich auch »der Moment«, in dem die Aufhebung vollzogen wird. Dabei entzieht sich dieser Moment, die Augenblicksstätte, der kontinuierlichen Kette des Vermittlungsprozesses. Er ist die »gebrochene Mitte« inmitten des sonst absolut in sich abgeschlossenen Absoluten, das alle Anderen als die Anderen seiner selbst in sich bezieht und sich in sich abschließt. 310 Er ist aber auch als »Ungrund« zu bezeichnen, an dem die sonst absolut in sich abgeschlossene Absolutheit durchbrochen wird. 311 Um das Gesagte in einer konkreten Szene zu beschreiben, benötigen sowohl der Herr wie auch der Knecht das »Ding« als die Bedingung ihrer Existenz. Insofern ist das Ding das vermittelnde M. In der Szene, in der der Herr allein das Ding genießt und verbraucht, ist der Knecht als der Produzierende diese vermittelnde M. Aber in der Szene, in der der Knecht das Ding bearbeitet, ist der Herr, der diese Arbeit dem Knecht befiehlt, die Mitte M. Jedes Glied kann an die Stelle M treten, wodurch die Struktur der »absoluten Vermittlung« gebildet wird. 312 309 Diese Erkenntnisstruktur wird hier angegeben als die Ansicht Kants in der Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Analytik, II. Buch: Die Analytik der Grundsätze, I. Hauptstück: Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, A. 137, B. 176 ff. Mit diesem Beispiel wird nicht gemeint, dass diese transzendentale Erkenntnislehre die einzige Wahrheit hinsichtlich der Erkenntnisstruktur ist. 310 Zu dieser »gebrochenen Mitte« vgl. Jan van der Meulen, Hegel. Die gebrochene Mitte, Hamburg 1958. 311 Dazu, dass »das Moment« der Vermittlungsbewegung zugleich »der Moment« ist, in dem die Vermittlung und Aufhebung zustande kommt, vgl. den Verfasser, Die Dialektik in der Spätphilosophie Schellings, in: Philosophisches Jahrbuch 87, 2. Hb., 10/1980, S. 315–326, wieder abgedruckt in: Natur, Kunst und Geschichte der Freiheit. Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen. Bd. 47. Herausgegeben von Juichi Matsuyama und Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt am Main 2000, S. 171–184. 312 Der Begriff der »absoluten Vermittlung« wurde ursprünglich im Kapitel »Herr und Knecht« in der Phänomenologie des Geistes Hegels verwendet (a. a. O., S. 144, 150, etc.). Hajime Tanabe, der Nachfolger K. Nishidas auf dessen Lehrstuhl, hat diesen

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»Der un-gemeinsame Gemeinsinn« und der »Welt-Ort«

Jetzt ist unter diesen drei Gliedern der absoluten Vermittlung auf das »Ding« als das impersonale Ding zu fokussieren. Denn es zeichnet sich als der Ansatzpunkt für die phänomenologische Beschreibung dieser Dialektik aus. Sowohl der Herr wie auch der Knecht werden von Dingen umgeben. Dabei ist das Ding als die vermittelnde Mitte nicht nur der Zwischenraum zwischen Herrn und Knecht, sondern auch und vor allem ein konstitutives Element der Existenz der beiden. »Ding« als das impersonale Andere gehört dem Inneren der Seinssphäre der personalen Anderen. Es entspricht dem »Klebstoff«, der nicht bloß das »Außen« des Briefumschlags und der Briefmarke bleibt, sondern in die Oberflächenschicht, und insofern ins »Innere«, der beiden dringt, um diese beide aneinander zu kleben. Dieser Sachverhalt wird prinzipiell schon von Aristoteles in seiner Sinneslehre anhand der sinnlichen Phänomene konkret beschrieben. Er stellt die Frage, warum Pflanzen, auf die es aus der Umgebung verschiedene Einwirkungen gibt, dennoch nichts empfinden, und sagt, das sei deshalb, weil die Pflanze keine »Mitte« (mesothêta) hat. 313 Aristoteles redet ohnehin in verschiedenen Zusammenhängen von der »Mitte«, wobei diese Mitte nicht nur das räumliche Zwischen zwischen zwei Polen, sondern auch die Mitte bedeutet, die aktiv die zwei Extreme voneinander unterscheidet. Dies ist die Mitte mit der Ausdrucksform der »Empfindung«. Infolgedessen unterscheidet die Mitte (hê mesotês) die Wahrnehmbaren (ta aisthêta) voneinander. Denn das Mittlere (to meson) ist das Unterscheidende (to kritikon)«. 314 Dass die Empfindung als die »Mitte« die Wahrnehmbaren voneinander unterscheidet, heißt, dass sie kein bloß passives Vermögen bleibt, sondern eine logische Urteilsfunktion enthält. Die vorhin gesehene Tendenz von der sinnlichen Wahrnehmung zum Denken ist in der Empfindung selbst angelegt. Dies kommt im »Gemeinsinn« mehr in den Vordergrund. Dass der Gemeinsinn als die »Mitte« zwischen den sinnlich Wahrnehmbaren diese voneinander unterscheidet, heißt, Begriff als den Kern seiner »Logik der Spezies« weiterentwickelt. Diese Logik beginnt mit »Logik der Spezies und das Schema Welt« (jap.), in: Bd. 6 der Gesamtausgabe Hajime Tanabes, Tôkyô 1963, S. 169–264. Als die bis heute beste und eindringlichste Einführung in diese Logik Tanabes gilt der Aufsatz von Kôichi Tsujimura, »Über die Philosophie Tanabes« (jap.), in: Tanabes Philosophie, herausgegeben von Kôichi Tsujimura, Tôkyô 1965, S. 25–31. 313 Aristoteles, De Anima, 424 b 1. 314 A. a. O., 425 b 5/6.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

dass er in den Inhalt des Wahrnehmbaren hinein empfindet. Die empfindende Unterscheidung, dass das Wasser kalt und das Feuer heiß ist, kommt nie zustande, solange sie bloß außerhalb des Wassers oder des Feuers stehenbleibt. Die empfindende Unterscheidung bedeutet das Hineingehen der Wahrnehmung ins Innere des Wasserseins oder des Feuerseins. Wenn es sich so verhält, so ist vorauszusehen, wie prinzipiell Hegel schon eingesehen hat, dass der »Welt-Ort« als der Ort der direkten Erfahrung in eins mit der Vertiefung der sinnlichen Wahrnehmung eine immer umfassendere Tragweite in der Außenwelt erhält. Aber Vorsicht ist geboten, nicht voreilig voranzugehen. Vorher ist noch zu sehen, welche Aussicht der Gesichtsort des un-gemeinsamen Gemeinsinnes für das Problem des Anderen eröffnet.

5.

Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

»Als man aber in diesem Sinne weiter vorging, zeigte die Sache selbst den Forschern den Weg nach vorwärts und zwang sie weiter zu suchen.« 315 Dieses Wort Aristoteles’ kann auch hier verwendet werden. Wenn der Welt-ort in dessen sinnlicher Struktur als der »un-gemeinsame Gemeinsinn« geschieht und sich als der Ort ergibt, an dem die Beziehung der diskontinuierlichen Kontinuität zwischen dem Ich und dem Anderen zustande kommt, so braucht man nur die Struktur dieses Geschehens zu untersuchen. So wird von sich aus sichtbar, was in diesem noch eingefaltet liegt. Der erste Anblick, der sich bei diesem Zusehen zeigt, ist die genetische Struktur des Geschehens, dass das Ich das Andere, das sonst als außer sich seiend gedacht wird, in Wahrheit in sich selbst sieht. Da dieser Sachverhalt prinzipiell das ist, was Kitarô Nishida in seiner Schrift »Ich und Du« dargestellt hat, ist er wiederum keine originelle Idee des vorliegenden Kapitels. 316 So ist der Gedanke Nishidas kurz zusammenzufassen. Nishida stellt in der genannten Schrift verschiedene Ebenen des Ich-seins vor, wie das »sinnliche Ich«, das »willens315 Ders., Metaphysik, 984 a 18/19: »proiontôn d’houtôs auto to pragma hodopoiêsen autois kai sunênagkase zêtein.« 316 K. Nishida, »Ich und Du«, Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 6, S. 341–427; Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5, S. 267–333.

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Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

hafte Ich«, das »intellektuelle Ich«, das »personale Ich«, das »erwachte Selbst« usw., um das dort jeweils geschehende Verhältnis von »Ich und Du« zu erhellen. Darunter ist das »sinnliche Ich« dasjenige Ich, das sich auf der Ebene der Fünfsinne und des Gemeinsinnes entwirft. Nishida sagt: »Sogar im sinnlich wahrnehmenden Ich sieht das Ich in seinem Selbst das Andere.« 317 Dieses Wort mag einen verwundern, solange man von der gewöhnlichen Idee des Ich ausgeht. Aber es besagt eigentlich sehr Einfaches, das jeder/jede in Wirklichkeit in seiner/ihrer sinnlichen Wahrnehmung ständig erfährt. Die sinnliche Wahrnehmung geschieht nämlich im Inneren des Körpers, und was wahrgenommen wird, findet sich, abgesehen von den innerkörperlichen Erscheinungen wie der Verdauung oder der Schmerzen in einem inneren Organ, im Draußen. Die Empfindung der Kälte des Wassers geschieht in mir, aber das kalte Wasser liegt draußen. In der sinnlichen Wahrnehmung in mir sehe ich das Wasser als ein Anderes draußen. Dies heißt umgekehrt, dass das Ich im Anderen sich selbst sieht. Allerdings ist das auf solcher Ebene der sinnlichen Wahrnehmung erfahrene Ich noch nicht das intellektuelle oder innerlich-geistige Ich. Aber Nishida sagt, indem er sich auf die kantischen Betrachtung der objektiven Natur (außer mir) durch die synthetische Apperzeption des reinen Ich (in meinem Inneren) stützt: »Indem man im Grunde der Natur des eigenen Selbst das absolute Andere sieht, wird die Möglichkeit der Welt der in der Freiheit sich befindenden Person eröffnet.« 318 Ein etwas längeres Zitat aus Nishida sei zusätzlich auch angeführt, da es mit dem Inhalt des nächsten Kapitels zu tun hat. »Das Ich und das Du stehen in einer absolut diskontinuierlichen Kontinuität, in der das Ich Dich bestimmt, und das Du Mich bestimmt. Indem wir in der Tiefe des eigenen Selbst das Dich als das absolut Andere finden, entsteht unsere selbsterwachte Selbstbestimmung. Indem also mein Ich in der Tiefe meines Selbst Dich sieht und Du in der Tiefe Deiner selbst Mich siehst, und in dieser sozialen Bestimmung als Verbindung von Mir und Dir jeweils die wahre Liebe erkannt wird, kann

317 A. a. O., Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 6, S. 411; Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5., S. 321. 318 A. a. O., Nishida, Alte Ausgabe Bd. 6, S. 413, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5., S. 323.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

unsere selbsterwachte Bestimmung als durch die Liebe ermöglicht angesehen werden.« 319 Die von Nishida gemeinte »soziale Bestimmung« bedeutet, dass die scheinbar lineare Verbindung von »Ich und Du« als individuelle Andere in der zweiten Person in Wirklichkeit das soziale Verhältnis ist, in dem die zahllosen Anderen in der dritten Person mitspielen. Die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache führte zu einer entscheidenden Wendung im Denken Nishidas in seiner Spätphilosophie. Auf die Ausführung dieser Wendung des Gedankens bei Nishida darf jedoch hier verzichtet werden. 320 Im nächsten Kapitel sollte dieses dreipolige bzw. mehrpolige Verhältnis in der Gesellschaft und der Geschichte ins Auge gefasst werden, wobei der un-gemeinsame Gemeinsinn einen diesem Verhältnis entsprechenden anderen Ausdruck haben wird: das »un-gesellige Gesellschaftspathos«. Dem entsprechend soll die Erscheinungsweise der »Anderen« neu beobachtet werden. Im Folgenden ist dieser Übergang vom un-gemeinsamen Gemeinsinn zum un-geselligen Gesellschaftspathos vorzubereiten durch einige ergänzende Bemerkungen zu den »Anderen«.

(a) Der Fall des/der Anderen in der zweiten Person Bei den Anderen in der zweiten Person wie Eltern und Kindern, Mann und Frau, Freunde, Feinde usw. besteht das Verhältnis der Liebe, der Freundschaft, der Feindseligkeit, der Rivalität, des Hasses usw. in verschiedenen Formen. Die beiden Extreme stehen im Verhältnis zueinander in der jeweiligen Fernnähe. Sie sind als die Anderen zueinander in ihrem Interesse und Charakter und ihrer Umgebung ungemeinsam, aber dennoch kommunizieren sie miteinander und teilen eine Gemeinsamkeit. Dass die »Fernnähe« sich mit der »Höhentiefe« kreuzt, wurde bisher prinzipiell gesehen. Es sei an die Szene »Noli me tangere« im Werk Burne-Jones’ erinnert. Die eingeschüchterte Maria und der Je-

319 A. a. O., Nishida, Alte Ausgabe, Bd. 6, S. 415; Nishida, Neue Ausgabe, Bd. 5, S. 324. 320 Die gemeinte Wendung hat der Verfasser einst in seiner Arbeit »Die Welt der Philosophie Nishidas – oder eine Wendung der Philosophie« (Tôkyô 1995) thematisch behandelt und sie »die ortlogische Wendung« (the »place-logical turn«) genannt.

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Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

sus vor seiner Himmelfahrt stehen im Verhältnis der Nähe und Ferne zueinander. Sie drücken die Höhe und Tiefe ihres jeweiligen Herzens aus. Jesus sieht Maria mit dem streng zurückweisenden Blick, und Maria sieht ihn mit flehenden Augen an. Sie sehen je die andere Seite in sich selbst, da diese in der Tiefe ihres Herzens einen Platz besetzt. Und die beiden sehen sich im Anderen gespiegelt. Die Verinnerlichung der Sinnlichkeit ins Gefühl ist hier zu sehen. Da zeigt sich die in genetischer Hinsicht erste Form des Miteinanders, das Mitsein mit den Anderen in der zweiten Person.

(b) Der Fall des/der Anderen in der dritten Person Die Anderen in der dritten Person treten, wie vorher gesehen, oft in der Gestalt der Menschenmasse auf, die durch Interesselosigkeit und Distanziertheit gekennzeichnet ist, aber wenn einmal unter diesen Menschen ein Star auftritt, hegen sie ihm gegenüber besonderes Interesse und Neugier. Wenn ein unbeliebter Politiker auftaucht, äußern sie Feindseligkeit und organisieren unter Umständen zum Protest eine Demonstration auf der Straße. Das ist offensichtlich eine sehr andere Ausdrucksform des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« als im Fall der Anderen in der zweiten Person. Die Ausdrucksform geht über die Individualität hinaus und enthält den tätigen Charakter der gesellschaftlichen Handlung. Sie lässt sich deshalb als ein »Pathos« bezeichnen. Hier sei die terminologische Notwendigkeit des Wortes »Pathos« und dessen Bedeutung kurz zu skizzieren. Ein vorlaufendes Beispiel ist zunächst im Abschnitt »Die sittliche Handlung« in der Phänomenologie des Geistes Hegels zu finden. Dort wird beschrieben, dass Kreon, der das menschliche Gesetz vollziehen will, und Antigone, die dem göttlichen Gesetz folgen will, wegen ihrer Einseitigkeit untergehen müssen. Hegel zitiert eine Strophe aus Sophokles: »weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt«. 321 Dabei erscheint »das Allgemeine als ein Pathos und die Tätigkeit der Bewegung als individuelles Tun«. 322 Das Pathos ist nach der hegelschen Wendung die Erscheinungsweise des Allgemeinen, das, wenn dieses Allgemeine und das Individuum sich voneinander trennen, im letzteren im Mo321 322

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 348. A. a. O., S. 352.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

dus des Unwirklichen erscheint. Das griechische Wort »pathos« kommt ursprünglich vom Verb »paschein«, d. h. empfangen, erfahren, erleiden. Die individuelle Handlung als Folge dessen, was das Individuum von den Anderen erlitten und mit diesen erfahren hat, wird motiviert von der Leidenschaft, die dieses Individuum in sich hegt. Das »Pathos« in diesem Sinne ist zunächst noch negativ, aber als die »Leidenschaft« zu einer Handlung ist es positiv. Letztere Bedeutung hält Michel Henry mit dem Wort »pathos-avec« im existenziellen Sinne fest, was als das zweite vorlaufende Beispiel gilt. Da sein Wort sich mit dem Gedanken des vorliegenden Buchs in vielen Hinsichten deckt, ist die Ausführung desselben der späteren Darstellung zu überlassen. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass das Wort »-avec« sowohl die Gemeinsamkeit wie auch die Un-gemeinsamkeit mit den Anderen bedeutet, so dass das »pathos-avec« im Sinne Henrys im vorliegenden Buch als »un-gemeinschaftliche Mit-Leidenschaft« umgeschrieben werden wird.

(c) Der Fall des/der impersonalen Anderen Wenn gesagt wird, dass auch zwischen einem impersonalen Anderen, d. h. einem gefühllosen »Ding«, und dem Menschen ein Gemeinsinn die Mit-Leidenschaft besteht, wird man zunächst verwundert sein. Denn nach dem gesunden Menschenverstand scheint es, dass nur Menschen Gefühle – und somit einen Gemeinsinn – haben können. Es ist aber daran zu erinnern, dass der Klebstoff M sowohl die Beschaffenheit von A wie auch die von B hat, die miteinander verklebt werden. Das »Ding« im Verhältnis von Herr und Knecht muss sowohl für das Sein des Herrn wie auch für jenes des Knechts mitkonstitutiv sein. Es wird vom Herrn besessen und vom Knecht bearbeitet. Das Ding als das impersonale Andere ist »im Inneren« der personalen Anderen, des Herrn und des Knechts. Weiterhin: Um einem Ding zu begegnen, treten wir aus unserem geschlossenen Subjekt aus, und auch das Ding ist nicht die in sich geschlossene Substanz, sondern das auf uns Wirkende außerhalb seiner selbst. Der Ort, an dem die beiden je ek-statisch werdend einander begegnen, ist der »Welt-Ort«. An diesem sowohl dem Ding wie auch den Menschen gemeinsamen Ort entsteht die jeweilige Beziehung der diskontinuierlichen Kontinuität zwischen den beiden. Diese Beziehung zueinander 222 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

besteht nicht auf der bloß materiellen, sondern auf der sinnlich-existenziellen Ebene. Ihre Struktur ist deshalb die gleiche mit jener des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« bzw. der »un-gemeinschaftlichen Mit-Leidenschaft«. Trotz aller Erklärung mag der Einwand erhoben werden, dass das Gesagte letztlich eine psychologische Projektion von Seiten des Menschen ist. Das Heranziehen des im Ersten Teil erwähnten Gedankens der Stoa, der »Sympatheia« als die mitfühlende Wirkung aller Dinge im Universum aufeinander, könnte mit einem weiteren Einwand zurückgewiesen werden, sie würde eine wissenschaftliche Überprüfung nicht bestehen. Gegen diese Einwände dürfte die bisher einige Male zitierte »affordance theory« einen gewissermaßen tauglichen Ansatz geben. Denn die »Affordance« bedeutet die in einer Umwelt von der Seite der Dinge her gesendete Wirkung auf ein Lebewesen, das sich in dieser Umwelt befindet. Der un-gemeinsame Gemeinsinn kann im Fall des Verhältnisses von Ding und Mensch strukturphänomenologisch als dieses Phänomen der »Affordance« verstanden werden. 323 Um das Gesagte ein Stück weiterzuführen, so bleibt das Ding nicht nur bloß leblose Materie – obwohl das auch ein möglicher Fall ist –, sondern auch das auf uns wirkende, impersonale Andere. Als solches be-dingt es den Menschen. Es zeigt uns aber auch den Charakter des Undings, indem es als das vor uns Un-abdingbare bzw. Unbedingte auftritt. Ein Beispiel in der modernen Zeit ist die AI (Artificial Intellect), die rein physisch aus Materie hergestellt wird. Aber wenn sie als Schachspieler programmiert wird und mit dem Weltmeister des Schachspiels wetteifert und diesen meistens besiegt, so muss man annehmen, dass die AI strategische Manöver und Kalkulationen durchführt. Im Fall der Pflege der alten oder erkrankten Menschen durch Roboter besteht zwischen der eigentlich gefühllosen AI und den seiner Hilfe benötigenden Menschen eine gewisse »Kommunikation«. Zumindest dem Aussehen nach besteht eine »Kommunikation« zwischen dem Menschen und der materiellen AI, ein Diese strukturphänomenologische Sichtweise wurde bereits von Heinrich Rombach, allerdings unabhängig von der »affordance theory«, vorgelegt und entwickelt. Die Bedeutung der reichhaltigen Phänomenologie Rombachs bleibt m. E. in der Bewegung der Phänomenologie bisher nicht in gebührender Weise geschätzt. Insofern sind folgende zwei Publikationen als Weiterentwicklung der Phänomenologie Rombachs beachtenswert: (1) G. Stenger, Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie. Freiburg / München 2006; (2) N. Weidtmannn, Interkulturelle Philosophie. Aufgaben – Dimensionen – Wege, Tübingen 2016. 323

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

Verhältnis von »un-gemeinsamem Gemeinsinn«. Ob das »Aussehen« wirklich nur ein Aussehen an der Oberfläche bleibt, ist eine heute immer unheimlicher gewordene Frage, und zur Antwort auf diese Frage ist der Gesichtspunkt des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« bzw. der »un-gemeinschaftlichen Mit-Leidenschaft« unentbehrlich. Gehen wir aber zu einer prinzipiellen Problemebene zurück. Das »Ding« ist, bevor es durch ausgereifte Technologie eine Pseudo-Intelligenz oder eine Pseudo-Sinnlichkeit erhält, durchaus als das »Ding« überhaupt ein »impersonales Anderes«. Der Ort der Begegnung mit diesem ist der »Welt-Ort«, der sich inhaltlich mit der »Sein-Zeit« bei Dôgen oder mit dem »Augenblick« bei Kierkegaard deckt und im »un-gemeinsamen Gemeinsinn« bzw. der »un-gemeinschaftlichen Mit-Leidenschaft« erschlossen wird.

(d) Der Fall des non-personalen Anderen Die Empfindung oder das Pathos ist letztlich ein Lebensphänomen. Könnte dann dort, wo dieses Phänomen erlöscht, d. h. im Tod, so etwas wie das un-gemeinsame Gemeingefühl überhaupt nicht in Frage kommen? Wie steht es um diese Frage aus der Perspektive, in der der Tod wie bisher als das non-personale Andere aufgefasst wird? Das Leben ist durchaus das Leben im Unterschied zum Tod. Dieser ist durchaus das absolut Andere zum Leben. Im Tod muss jeder »Gemeinsinn« als Lebensphänomen aufhören. Dieses Aufhören selbst wird zwar nie als solches erfahren werden, aber, und hier beginnt unsere Betrachtung, trotzdem wissen wir es irgendwie. Darin wird schon angedeutet, dass dieser Tod als das non-personale Andere in irgendeinem Verhältnis zu uns bzw. in einer Kontinuität mit uns steht. Dies heißt, dass der Tod als »das Andere im Leben selbst« erfahren wird. Dies ist auch, wie schon vorher gezeigt wurde, an den Phänomenen festzustellen, dass ein kleiner Wurm oder ein kleiner Fisch instinktiv die Gefährdung seines Lebens spürt und flieht. Das deutet an, dass im Innersten der Lebenstätigkeit deren eigener Tod als ein Teil der Lebenstätigkeit selbst geahnt und gespürt wird. Der Tod ist das Ergebnis der innerlichen Auflösung des Lebens, und das Leben ist in jedem Augenblick ein Schreiten zu dieser Auflösung. Zwar wird der Tod oft von einer Ursache außerhalb des Lebens veranlasst, aber das Sterben selbst ist immer ein Geschehen des Lebens als solchen. Dies bedeutet, dass der Tod als »das Andere im Leben selbst« schon 224 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

im Leben ist. So verhalten sich die Würmer oder Fische mit einer Empfindungsfähigkeit, die für sie lebensgefährlichen Phänomene zu spüren und darauf zu reagieren. Dies besagt nichts anderes, als dass in ihrer Lebensaktivität selbst die Sterbemöglichkeit, somit der Tod, enthalten ist. Wenn man dies bemerkt, so beginnt der Umschlag des Gesichtsortes, d. h. des Gesichtspunktes und des Standortes: Meistens wird der Tod vom Leben her als dessen Ende in der unbestimmten Ferne gesehen. Aber jetzt ist es möglich, vom in der innersten Tiefe des Lebens selbst verborgenen Tod als des Anderen im Leben selbst her das Leben zu sehen. Im Problemzusammenhang des »Anderen im eigenen Selbst« ist wieder, aber diesmal kritisch, die Lehre der Anderen bei Levinas heranzuziehen. In seinem Vortrag »Le Temps et l’Autre« redet er vom »Tod« als »etwas absolut Anderem«. 324 Insofern steht er in einer gewissen Nähe zu uns. Aber bei Levinas wird der Tod zwar in dessen absoluter »Andersheit« gesehen, aber nicht ersehen, dass diese absolute Andersheit das Wesen des »Selbst« mitkonstituiert und als das »Andere im eigenen Selbst« ist. Seine ethische Spekulation ist zwar, obwohl manchmal obskur und verworren, dennoch eloquent und hat in ethischen Gedanken, die in der jüdischen Theologie und seinem Erlebnis des Holocaust wurzeln, auch für uns in der Betrachtung der Anderen Anregungen zu geben. Aber in der Tiefenschicht des Problems der Anderen, des »Todes«, zeigt sich, dass die Tragweite seiner ethischen Spekulation nicht ausreicht. Die Redeweise, dass das Lebende den Tod vom Tod her sieht, mag nach wie vor als eine unsinnige Rhetorik klingen, wenn man denkt, dass mit dem Tod als der absoluten Verneinung des Lebens das Lebende faktisch vernichtet wird. Aber vorher wurde zumindest der Denkhorizont erblickt, auf den das Denken ekstatisch einlässt, indem es sich seiner Ichheit entledigt und das Ding vom Ding her erfährt. Das war der Erfahrungshorizont, auf dem man »von der Kiefer lernt, was die Kiefer betrifft, und vom Bambus lernt, was den Bambus betrifft«. Dabei handelte es sich nicht um eine spezifisch religiöse oder künstlerische Erfahrung, sondern um die alltägliche, wie »Die Berge lassen sich sehen«, »Ein Geräusch tönt«, »Etwas duftet«, »Dieser Kuchen schmeckt«, usw. Das waren Selbstausdrücke der Dinge, die Aus324 E. Levinas, »Le temps et l’autre«, in: Le choix, le monde, l’existence, Grenoble / Paris 1947, S. 125–196. Der Vortrag wurde später in: Le temps et l’autre, Paris 1979, aufgenommen. Die hier zitierte Stelle findet sich auf S. 63.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

sprache der Dinge. Es muss dann in gleicher Weise gesagt werden können: »vom Tod zu lernen, was den Tod betrifft«. Zwar wird der gesunde Menschenverstand nach wie vor skeptisch bleiben und fragen, wie es möglich sei, dass der Tod, bei dem man lernen will, als das zu Befragende erscheint und spricht. Indessen wird beispielsweise das folgende Wort überliefert: »Wie gut ist es, im Leben zum Toten zu werden, und zwar gänzlich so, so dass man tut, was man will«. 325 Da der Tod letztlich als »mein eigener Tod« geschieht, muss man seiner als »sein eigenes Nichts« in seiner eigenen Existenz innewerden können. In dieser Empfindung ist das »Ich« bereits aus der Kapsel der subjektiven Ichheit als dem Gehege des Lebens herausgekommen. An dem Ort, wo es ekstatisch steht, durchblickt es sein Leben und seinen Tod in der Verdoppelung, etwa wie beim Aufeinanderlegen von zwei Negativfilmen. Dort gilt das seit alters her oft gesagte Wort »Das Leben ist eins mit dem Tod.« Die Fernnähe zwischen dem Leben und dem Tod ist dort nicht mehr der Bereich der Empfindung oder der Ahnung. Dort öffnet sich der Bereich der Höhentiefe der Innerlichkeit des Lebenden. Wenn das Gesagte immer noch als Rhetorik und abstrakt genommen wird, so könnte hier rein sachlich die Leiche als Beispiel genommen werden. Die Leiche kann unter Umständen als rein materielles »Ding« angesehen werden, aber auch als der »Tote«, der ein Zwischending zwischen Person und Ding ist. Jedenfalls ist sie ein Anderer in der dritten Person. Aber zugleich kann sie ein Anderer in der zweiten Person sein, den man anredet und den man mit vielen Erinnerungen verbindet. Einerseits ist sie noch personal, aber andererseits impersonal, ein Ding, das bewegungslos ist und keine Reaktion zeigt. Die Leiche ist das Antlitz des Todes. Deshalb ist die Leiche das, was bei den Lebenden Trauer und Liebe, aber auch Erschrecken erweckt. Dies sind die Phänomene, die daher kommen, dass die Leiche die zurückgelassenen Lebenden anspricht und auf diese wirkt. Dies ist ähnlich wie das Dunkel in der tiefen Nacht, das vorher erwähnt wurde. An der Leiche wird der Tod als das dunkle Unsichtbare sichtbar. Zwar ist dabei das Dunkle zunächst im Draußen, aber es ist auch das Dunkel, das aus dem tiefsten Inneren des sonst hellen Lebens entsteht und dieses umspannen wird. Er steht in der extremen »Ferne« und zugleich als das »Andere im Leben selbst« in einer nächsten »Nähe«. 325

Das Satz des Zen-Meistes SHIDÔ Munan (至道無難, 1603–1676).

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Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

Die Höhe im Sinne des Hochwürdigen und die Tiefe im Sinne des tief Abgründigen des vom Lebenden her schlechthinnig Unsichtbaren gehören zusammen und bilden im eigenen Leben selbst den Bereich einer »Höhentiefe«. Das Gewahrnehmen dieser Fernnähe des Todes ist zugleich die Höhe und die Tiefe unserer eigenen Existenz. Diese »Höhentiefe« kann sich eröffnen am Tod als dem absolut Anderen in unserem Selbst. Der »Welt-Ort« in der Weise einer Leiche kann der Einstiegsort in die innerste Tiefe des Lebens und der Existenz werden.

(e) Der Fall des hyper-personalen Anderen Jetzt ist auch auf den Islam ein Blick zu werfen. In der von der abendländischen Denktradition wesentlich geprägten »Philosophie« wurde die islamische Mystik zu wenig berücksichtigt. Der Verfasser ist zwar nicht imstande, sich selber dieses Desideratums anzunehmen. Aber es wäre gerade deshalb gut, hier einen Blick darauf im Zusammenhang mit dem Problem des Todes zu werfen. Zuerst ist das von Toshihiko Izutsu mitgeteilte Wort eines der größten islamischen Sufis, Bâyazîd Bastâmî, zu zitieren: »Wie die Schlange ihre Schale auszieht, habe ich die Ich-Schale ausgezogen. Und ich habe in mich hineingeschaut. Schau! Ich war Er.« 326 Izutsu sagt, dass dasselbe Erlebnis auch vom großen Sufi im Islam, Abu Hallâj, mit dem bekannt gewordenen Wort »Ich bin Gott« (Ana al-Haqq) ausgesprochen wurde. Das vorhin einige Male erwähnte »absolut Andere in meinem Selbst« ist hier nicht der Tod, sondern »Gott«. Aber diese beiden sind nicht zusammenhanglos miteinander. Izutsu paraphrasiert den Gedanken Hallâjs auch wie folgt: »Die Nichtigkeit des Ich-Bewusstseins auf der Seite des Menschen schlägt ganz unmittelbar um in die Epiphanie der göttlichen Existenz«. 327 Die von Hallâj ausgesprochene (und von Izutsu weitergeleitete) »Nichtigkeit« des Ich-Bewusstseins kann auf den »Tod« bezogen werden. Wenn das absolute Andere im ichlichen Selbst das Ganze dieses

326 T. Izutsu, Islamische Kultur – Das ihr Zugrundeliegende (jap.), Tôkyô 1981, S. 222. Nach Izutsu wurde der Name dieses Sufis im Abendland mit der Schreibweise »Bistâmî« überliefert, was aber philologisch nicht exakt ist. So wird hier der Name nach Izutsu angegeben. 327 A. a. O., S. 220.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

Selbstbewusstseins besetzt, die Nichtigkeit dieses ichlichen Seins bloßstellt und zur Erfahrung »den großen Tod sterben« wird, wie im Zen überliefert wird, so ist die Nichtigkeit der Ort, an dem »Gott« aufscheint. Diese Gotteserfahrung wird in der islamischen Mystik die der »illuminatio« (ishrâq) genannt, dem Aufscheinen des Lichts der Sonne, die aufgeht. 328 Es muss zwar offen bleiben, ob diese mystische Erfahrung der »illuminatio« als die letzte und höchste religiöse Erfahrung angesehen werden soll. Im Zen z. B. wird die Alltäglichkeit im tiefen Meeresgrund, wo man mit den leidenden Wesen mitgeht, für wichtiger genommen als der Ort auf dem hohen Berggipfel des Erwachens. Aber die religiösen Ansichten dürfen der Mannigfaltigkeit der Orte und der Gesinnungen der Menschen entsprechend durchaus mannigfaltig sein. Die Erfahrung der genannten Illuminatio muss auch eine echte religiöse Erfahrung sein, in der die Erscheinungsformen des absolut Anderen, der Tod und Gott, in der direkten Erfahrung mit dem eigenen Selbst gegeben werden. Das hyper-personale Andere ist dort in der jenseitigen »Ferne«, und trotzdem ist es als der Inhalt der direkten Erfahrung mit dem eigenen Selbst in der »Nähe« des Inneren dieses Selbst. Izutsu weist darauf hin, dass der Gott im Islam »vom Menschen her gesehen der transzendente Gott in der unendlichen Ferne, aber von Gott her gesehen«, so schreibt Izutsu, »der dem Menschen unendlich nahe Gott« ist, 329 wie im Koran gesagt wird. 330 Dies ist die Erfahrung, in der das absolute Andere, d. h. der »Tod«, und das ebenfalls absolute Andere, der »Gott«, gleichsam als das Andere im eigenen Selbst, im gemeinsamen Element des Selbst erfahren werden. Dort deckt sich das »hyper-personale Andere« (das Göttliche) mit dem Inhalt der Selbst-Erfahrung. Auf ein Problem ist hier hinzuweisen: Diese ich-lose Gotteserfahrung bzw. die Selbst-Erfahrung ist »mystisch«, und diese findet in einer Entfernung vom Alltag statt. Diese Tendenz kann dazu führen, sich aus der säkularen Welt zurückzuziehen und diese Welt zu tadeln. So wurden sie von manchen »ulamâs«, d. h. muslimischen

A. a. O., S. 221. A. a. O., S. 61. 330 Der Koran, Sure 50, 16: »Wahrlich, Wir erschufen den Menschen, und Wir wissen alles, was sein Fleisch ihm zuflüstert; denn Wir sind ihm näher als die Halsader.« (http://www.koran-auf-deutsch.de) 328 329

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Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

Rechtsgelehrten, als Feinde betrachtet. Hallâj wurde in der Tat im Jahre 922 in Bagdad hingerichtet. Sufis tendieren danach als Folge ihrer innerlichen Versenkung, das islamische Gesetz »Shari’a« geringzuschätzen bzw. zu verneinen. Izutsu bezeichnet es als die »Tendenz des ganz harten existenziellen Spiritualismus der Innerlichkeit, dem zufolge auch der Legalismus von Grund aus umgewälzt werden sollte«. 331 Die Geschichte des Gegensatzes zwischen den Schiiten und Sunniten war meistens eine Geschichte der blutigen Unterdrückung der ersteren durch die letzteren, die meistens die Machthaber waren. Wenn dort vom »un-gemeinsamen Gemeinsinn« gesprochen werden soll, so scheint der Aspekt der Diskontinuität extrem hart zu sein. Der Aspekt der Kontinuität verschwindet trotzdem nicht. Izutsu weist darauf hin, dass die islamische Welt durch die blutigen Spaltungen in ihrem Inneren hindurch »gegenseitig widersprechende Tendenzen, einerseits die sich selbst zerstören könnende Spaltung und andererseits die extreme Uniformität erzwingende Einheit, in sich hat und das gespannte Gleichgewicht der beiden beibehalten hat«. 332 Die Islam-Erfahrung des Verfassers greift zu kurz, als dass er auf das genannte Problem weiter eingehen könnte. 333 Aber das Wesen des oben erörterten mystischen Gedankens ist nicht auf den Islam beschränkt. Es betrifft die Tiefe der Mystik und auch der Religion überhaupt, worauf hier aber nicht weiter einzugehen ist. Im vorliegenden Kapitel geht es auch nicht um eine vergleichende Betrachtung mit der Mystik. Keiji Nishitani und Rudolf Otto haben dieses Thema bereits prinzipiell aufgerissen. 334 Die Fortsetzung dieser Linie durch Philosophen wie Shizuteru Ueda darf auch nicht

331 T. Izutsu, Islamische Kultur – Das ihr Zugrundeliegende (jap.), Tôkyô 1981, S. 166. 332 A. a. O., S. 49. 333 Die »Islam-Erfahrung« des Verfassers beschränkt sich abgesehen von seiner Lektüre der Literaturen auf seine Vortragsreise zu der Teheran Universität, der Tabatabaie Universität und dem Institut für Geisteswissenschaften und geistesgeschichtlichkulturelle Studien vom 10. bis 17. Dezember 2016. Allerdings hat diese eine eindrucksvolle Woche am klarsten belegt, dass die zeitliche Länge des Aufenthaltes an einem Reiseort kein Kriterium ist für die Intensität und den Reichtum der Erfahrung, die man dort macht. Ich bedanke mich hier bei den Herren Professoren Ali Asghar Mosleh und Ahmad Ali Heydari für die Einladung und allen aufmerksamen Zuhörern für die anregenden Diskussionen. 334 Vgl. K. Nishitani, Gott und das absolute Nichts (jap.), Tôkyô 1948; Rudolf Otto, Die West-östliche Mystik, 1926, 3. Auflage 1971.

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Der »un-gemeinsame Gemeinsinn« (Sensus communis non-communis)

vergessen werden. 335 Da bisher der Blick auf den Islam ein Desiderat blieb, gilt die Leistung Izutsus auch in der japanischen philosophischen Welt als epochal. 336 Mit der Kenntnisnahme der obigen Spuren aus früheren Werken ist aus dem Gesichtspunkt des vorliegenden Kapitels eine Ansicht vorzulegen, mit der dieses Kapitel abgeschlossen werden kann. Es handelt sich um das Schlüsselwort der Mystik, »unio mystica«. Das Wort »unio« ist nicht dasselbe mit »unus«, der Einheit. »Unio« heißt das Geschehen der Erfahrung des Mystikers/der Mystikerin, dass er/ sie sich mit Gott »vereinigt«. Zwar wird dabei diese Erfahrung meistens als religiöse formuliert mit dem Ausdruck »die Empfindungskommunikation der Herzen Buddhas und der Menschen« oder »Gottesliebe«. Aber prinzipiell handelt es sich dabei um das Geschehen des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« zwischen mir und den Anderen, in dem sich die beiden Seiten, die absolute Verschiedenheit beibehaltend, dennoch in der Erfahrung der Wesensnatur ihres »Selbst« miteinander »vereinigen«. Wenn der Sachverhalt dieser Erfahrung religiös vertieft und verinnerlicht wird, entstehen buddhistische oder

Vgl. Shizuteru Ueda, Eckhart. Zwischen Häresie und Orthodoxie (jap.), Tôkyô 1998. 336 Weder die Gesammelten Schriften T. Izutsus (11 Bde. und ein Sonderband, Tôkyô 1991–1993) noch die Gesamtwerke Toshihiko Izutsus (jap., 12 Bde. und ein Sonderband, Tôkyô 2013–2016) erschöpfen die riesige Ganzheit der Islam-Forschung Izutsus. Denn seine zahlreichen Publikationen in europäischen Sprachen sind nicht in ihnen enthalten. Übrigens gibt es auch zahlreiche Schriften Izutsus über den ZenBuddhismus. Eine repräsentative ist: Toward a philosophy of Zen Buddhismus, Teheran 1977 (2nd edition: Boulder 1982). Izutsu sagt, dass die dort erörterte »ontological transparency« von allem, was existiert, eine visualisierende Formulierung eines Gedankens aus dem Kegon-Buddhismus ist, der lautet: »Die Dinge stören einander nicht«. (Die orientalische Philosophie, Gesammelte Schriften Toshihiko Izutsus, jap., Bd. 9, S. 244.) Der Terminus Izutsus, die »ontologische Transparenz«, kann auch ein Ausdruck sein für den im vorliegenden Kapitel dargestellten Sachverhalt »das Andere im eigenen Selbst / das Selbst im Anderen«. Diese ontologische Transparenz muss auch vom »Welt-Ort« gelten. Allerdings ist auch dieser Meister nicht absolut fehlerfrei. Er liest das Wort Dôgens (und den eigentlich buddhistischen Ausdruck) »Zengosaidan« als »Zengo-Saidan«, d. h. Zen (Vorher) und Go (Nachher) Saidan (Abschneiden)«. Aber der Ausdruck heißt: »Zensai und Gosai-Dan«, d. h. »Zen-sai (die jetzt vergangene Welt) und »Go-sai« (die gerade kommende Welt) »Dan« (Abschneiden). Es geht der Sache nach um den »Augenblick des Welt-Ortes«, wie er im vorliegenden Buch thematisiert wird. Ich denke aber weiterhin, dass dieser Meister immer bereit ist, wissenschaftliche Sauberkeit zu beachten und mich, wie es in seinen letzten Jahren der Fall war, in wesentlichen Punkten zu belehren. 335

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Das Andere im Ich-Selbst / das Ich-Selbst im Anderen

christliche Ausdrücke wie oben. Prinzipiell ist es das Geschehen der Erfahrung meines Selbst und jenes der Anderen. So gesehen, ist das Geschehen der »unio mystica« im Grunde dasselbe mit dem Geschehen der »Sein-Zeit« bei Dôgen, der seine eigene Sein-Zeit als selbig mit jener der Kiefer und des Bambus begriff, oder mit dem Geschehen des »Augenblicks« bei Kierkegaard, in dem die Gleichzeitigkeit mit Christus innerlich wird. Dies gilt auch von der Erfahrung des islamischen Mystikers Bastâmî, der, wie oben zitiert, sagt: »Und ich habe in mich hineingeschaut. Schau! Ich war Er.« Wenn es sich so verhält, ist die »unio mystica« nichts anderes als die innerste Form der Erfahrung des »Selbst«. Weiterhin kann aus der Sicht des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« als der Erschlossenheit des Welt-Ortes die »mystische Vereinigung mit dem hyper-personalen Anderen« phänomenologisch verständlich gemacht werden. 337

337 Es ist eine andere und weitere Frage, ob dieses »phänomenologische Verständnis« eine bloß »intellektuelle Vorstellung« bleibt oder eine »Transformation« des phänomenologisch Betrachtenden selbst postuliert. In diesem Zusammenhang ist auf das Buch von Rolf Elberfeld, Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Phänomenologie, Freiburg i. Br., 2017, insbesondere auf den Teil III. C. »Transformative Phänomenologie und das Philosophieren in einer globalisierten Welt« (S. 391–450), zu verweisen. Elberfeld zeigt dort seine bisher einzeln veröffentlichten, bemerkenswerten Ideen einer »transformativen Phänomenologie« in einer Gesamtperspektive.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« und das »Gemeingefühl« beim Nô-Schauspieler Zeami

Im Folgenden wird die Schrift des Gründers des Nô-Spiels Zeami (1363?–1443?), Blumenspiegel, vorgestellt. Die in dieser Schrift behandelte »Sicht der abgeschiedenen Sicht« sowie das »Gemeingefühl« beleuchten das bisher Dargestellte aus der Perspektive der »Kunst« und geben uns einen Anhaltspunkt zum Weitergehen in der Betrachtung der »Compassion«, wie sie zuvor über den »un-gemeinsamen Gemeinsinn« gemacht wurde. Da die folgende Untersuchung aber auch als ein unabhängiger Essay gelesen werden könnte, wird sie hier als ein »Exkurs« vorgelegt.

1.

Blumenspiegel als die Lehre über den »Anderen«

Die bekannteste unter den Schriften Zeamis ist zweifelsohne Fûshikaden (Die Überlieferung der Blume der anmutigen Gestalt, im Folgenden zitiert nach dem japanischen Titel). 338 Es handelt sich dabei 338 Zeamis Fûshi-kaden (jap., Die Überlieferung der Blume der anmutigen Gestalt), in: Rengaron-shû, Nôgakuron-shû, Haikairon-shû, (jap., Die Abhandlung über die Ketten-Dichtung, Nô-Spiel, Heiku-Dichtung), kommentiert und übersetzt von Tetsuo Ijichi, Akira Omote, Riichi Kuriyama, Die Sammlung Nihon koten bungaku zenshû 51 (Gesamtwerke der klassisch japanischen Literatur), Tôkyô, erste Auflage 1963, S. 213–297. Zu dieser Schrift macht Seigow Matsuoka eine ausgezeichnete Zusammenfassung in: Thousand Nights for Thousand Books by Seigow Matsuoka, (1000ya.isis.ne.jp/0118.html). In der Darstellung der 118. Nacht schreibt er (auf Japanisch): »Eine Kunstlehre von dieser Art ist auch in der ganzen Welt nur selten zu finden. Es war vor sechs hundert Jahren, als sie verfasst wurde. Es war die Zeit, in der Brunelleschi endlich Vitruvius entdeckt hat und die Gebrüder van Eyck bekannt wurden. Sogar De pictura Albertis erschien erst 25 Jahre nach der Veröffentlichung von Fûshi-kaden. Anders als die Lehre der Architektur oder der Malerei, beschreibt diese Kunstlehre auch die Art und Weise der Bewegtheit des Menschen und dessen Herzen. Es handelt sich um die Theorie der Aufführung, die nicht dokumentiert wird. da es weder Noten noch Choreographie gab. Einzig und allein mit der Sprache wird das wahre Knochenmark der Kunstaufführung und deren Lehre dargestellt. Dennoch bleibt sie keine bloße Kunstlehre. Er erörtert vom Gesichtspunkt des letzten Zenits,

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Blumenspiegel als die Lehre über den »Anderen«

wesentlich, wie Zeami selbst am Ende von Kakyô (Blumenspiegel) schreibt, 339 um die Aufzeichnung Zeamis, der die Worte seines Vaters Kan-ami zwanzig Jahre lange niedergeschrieben hatte. Kakyô dagegen ist, wie Zeami ebenfalls darin vermerkt, das Dokument seiner Ideen und Gedanken, die er zu notieren begann, nachdem er das 40. Lebensjahr erreicht hatte. Es handelt sich also um seine eigene Kunstlehre. Dieser äußerst dicht formulierte Text wurde lange nur in der Familie Kanze, deren Gründer Kan-ami ist, als die geheime Lehre des Nô-Spiels überliefert. Es ist erst gut ein Jahrhundert her, dass dieser Text der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. 340 In diesem Text wird nicht nur die Technik des Nô-Spiels als einer Theaterkunst behandelt. Auch Einsichten bezüglich der Lebensweise werden geäußert, die religiös tiefe Gedanken implizieren. Man könnte sagen, dass dieser Text bis heute noch nicht ganz durchleuchtet worden ist. 341 Er enthält z. B. auch den Gedanken, der die Perspektive der dass sein Vater Kan-ami vermocht hat festzuhalten, wie der Mensch sei. Was er erörtert, gilt auch als Lehrbuch über den ›Rang‹ und den ›Stand‹ des Menschen.« Die Bemerkung Matsuokas ist so treffend, dass eigentlich nichts weiter hinzuzufügen ist. Wie gerade gehört, ist die Schrift Fûshi-kaden das Dokument Zeamis zu den Worten seines Vaters Kan-ami. Was seine eigene Ansicht über die Kunstaufführung sowie das Leben betrifft, ist seine Schrift »Kakyô«, die er in seinen späteren Jahren verfasst hat, weit tiefer und intensiver. Dies ist der Grund dafür, dass letztere Schrift hier thematisiert wird. 339 Zeami, Kakyô (Blumenspiegel), in: Rengaron-shû, Nôgakuron-shû, Haikaironshû, (jap., Die Abhandlung über die Ketten-Dichtung, Nô-Spiel, Heiku-Dichtung), kommentiert und übersetzt von Tetsuo Ijichi, Akira Omote, Riichi Kuriyama, Die Sammlung Nihon koten bungaku zenshû 51 (Gesamtwerke der klassisch japanischen Literatur), S. 299–342. 340 1909 entdeckte, transkribierte und veröffentlichte Tôgo Yoshida die Texte Zeamis, die bis dahin als geheime Schriften überliefert wurden, so dass diese Texte seitdem der Öffentlichkeit zugänglich sind. 341 Z. B. kann darüber diskutiert werden, welchen religiösen Hintergrund dieser Text hat, ob er dem Zen-Buddhismus oder der buddhistische Sekte namens »Jishû«, die dem Buddhismus des Reinen Landes (Jôdo-Schule) angehört, zuzuordnen ist. Denn der im Namen Zeami enthaltene Titel »Ami« wurde von den Gläubigen getragen, die Ami-Leute (Ami-shû) genannt wurden und die dafür bekannt waren, dass sie sich mit dem Theaterspiel, der Musik, dem Gartenbau, dem Blumenstecken usw. beschäftigt hatten. So meinte Kôichiro Shinoda, dass zwar die sog. Muromachi-Kultur (die Kultur in der Muromachi-Zeit im 14. bis 16. Jh.) meistens als vom zen-buddhistischen Geist geprägt angesehen wird, in Wahrheit aber als die »Kultur der Ami-Leute« zu bezeichnen sei. Vgl. Kôichiro Shinoda, Semiotik der Stadt (jap.), Tôkyô 1982, S. 15 f. Allerdings ist diese Ansicht ihrerseits kritisch zu überprüfen. Denn es ist bekannt, dass diese Ami-Leute, um zu überleben und erfolgreich zu sein, sich von den Machtinhabern abhängig machten, was auch in den dramatischen Lebensgeschichten Zea-

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Leiblehre und Sinneslehre, wie sie in der gegenwärtigen Phänomenologie behandelt wird, oft in einer überraschenden Weise vertieft, und enthält auch viele Hinweise auf den Gedanken zum Problem der »Anderen«, wie im Folgenden aufgezeigt wird. 342 Es ist sicherlich nicht schwer zu erraten, dass in der Lehre des Nô-Spiels als einer Theaterkunst der Gedanke der Leib- und Sinneslehre enthalten ist. Aber inwieweit verbindet sie sich mit der Betrachtung über die Anderen? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Theateraufführung von den Schauspielern und den Zuschauern zusammen konstituiert wird. Sie sind zueinander die »Anderen«. Dabei soll auf das zunächst Selbstverständliche aufmerksam gemacht werden, dass das Verhältnis der Anderen an einem bestimmten Ort, im »Theater«, gebildet wird. Nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Zuschauer werden dann zu ihnen selbst, wenn sie der Aufführung der Schauspieler im Theater zusehen. Dieses »Werden« kann je und je gelingen oder misslingen und ist vom bestehenden »Sein« zu unterscheiden. Dieser »Werdenscharakter« der Theaterkunst verbindet sich mit dem zweiten Charakteristikum, dass die Schauspieler wie auch die Zuschauer erst im Umgehen miteinander sie selbst werden. Es geht nicht so, wie der Spruch lautet: »Auch wenn er nicht er ist, bin ich ich«. 343 Das Sein der Anderen ist ein konstitutives Element des eigenen Selbstseins, und mis sowie seiner Nachkömmlinge in der Familie Kanze klar zu sehen ist. Der mächtigste Machtinhaber und Shôgun, ASHIKAGA Yoshimitsu befürwortete den ZenBuddhismus und ließ viele bekannte zen-buddhistische Tempel erbauen. Ob AmiLeute ihre eigene buddhistische Vorstellung des Reinen Landes in ihren Künsten zum Ausdruck brachten bzw. bringen durften, ist fraglich, was auch in der direkten ästhetischen Beobachtung ihrer Werke wie des bekannten »Trocken-Gartens« im Ryôan-Tempel in Kyôto deutlich wird. Eine ähnliche Diskussion wird übrigens auch zur Entstehung der Gotik geführt, in der gefragt wird, ob hinter der Entstehung der Gotik die Idee der Lichtmetaphysik zu sehen sei oder, da die Handwerker von einer solchen Metaphysik wahrscheinlich keine Ahnung hatten, ob die Entstehung der Kathedrale ausschließlich in technischer Perspektive betrachtet werden soll. Zu dieser Debatte vgl. Ryôsuke Ohashi, »Licht und Architektur« (jap.), in: Nihon no bigaku (Die japanische Ästhetik), herausgegeben von S. Takashina, R. Ohashi usw., Nr. 26, Tôkyô 1997, S. 41–55. 342 Die im Folgenden zitierte deutsche Übersetzung des Textes entstammt der Zusammenarbeit des Verfassers mit Rolf Elberfeld. 343 Im 12. Kapitel »Gan-en« (Yen Yûan) in Kôshis (Konfuzius) Rongo (Lúnyǔ) kommt das Wort vor: (Der Herr ist Herr, der Untertan ist Untertan, der Vater ist Vater, der Sohn ist Sohn.) In der Nachwelt wurde dieses Wort in einer modifizierten Formulierung verbreitet: »Auch wenn du nicht du bist, bin ich ich.«

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Die Phänomenologie der »Maske«

dieses bildet sich gemeinsam mit den Anderen. Wenn die Schauspieler nicht ganz reif sind, werden die Zuschauer enttäuscht, und wenn die Ausbildung der Zuschauer mangelhaft ist, fühlen die Schauspieler diesen Mangel. Aber auch im Fall des begeisterten Zusammenspiels der Schauspieler und der Zuschauer ist, genau gesehen, die Begeisterung je und je persönlich anders. Zwischen den beiden besteht immer der »un-gemeinsame Gemeinsinn«. Drittens existieren die »Anderen« von den Schauspielern her gesehen nicht nur auf dem Zuschauerplatz, sondern auch auf der Bühne selbst, und zwar nicht nur als die Mit-Spielenden, sondern auch als Sänger im Chor (im Fall des Nô-Spiels hinten auf der Bühne). Hinter der Bühne ist dann auch der Regisseur und der Dramatiker usw. Die bisherige Betrachtung veranlasst, nicht nur diese »personalen Anderen«, sondern auch die »impersonalen Anderen« wie Zeugen zu beachten. Im Fall des Nô-Spiels ist es die »Maske«, die der Hauptschauspieler (»shite«) trägt, die eine besondere Aufmerksamkeit beansprucht.

2.

Die Phänomenologie der »Maske«

Eine kleine »Bemerkung« ist zunächst vorauszuschicken, dass im Blumenspiegel Zeamis keine Darstellung der »Maske« zu finden ist, obwohl allgemein die Vorstellung herrscht, dass das Nô-Spiel und die Maske untrennbar voneinander sind. Indem der Schauspieler die Maske einer Person trägt, die er spielt, wird er zur Person dieser Maske. Der Begriff »Person« ist bekannterweise von »persona«, d. h. der »Maske«, abgeleitet. Der Schauspieler wird er selbst, indem er sich hinter der Maske der aufzuführenden Person versteckt. Trotz dieser so wesentlichen Bedeutung der Maske ist im Blumenspiegel von der Maske gar nicht die Rede, was uns überraschen dürfte. Eine Reflexion darüber ist nötig. Ein Ansatz dazu ist in Fûshi-kaden zu finden. Dort gibt es einen Abschnitt, »Maskenloses Antlitz« (hitamen), in dem die Bedeutsamkeit der Aufführung mit dem maskenlosen Antlitz dargestellt wird. »Es ist verwunderlich, dass, wenn der Rang des Nô-Spiels nicht hoch ist, die Aufführung mit dem maskenlosen Antlitz nicht der Beobachtung wert ist«. 344 Dieses Wort will besagen, dass es bei Zeami mehr 344

Zeami, Fûshi-kaden, S. 228/9.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

um die Aufführung mit dem eigenen Leib als um den Effekt und die Bedeutung der Maske geht, die der Schauspieler trägt. In Fûshi-kaden wird erzählt, dass die liebliche Gestalt eines Schauspielers im Alter von zwölf oder dreizehn »die Blume in der passenden Zeit« ist, aber die »Blume, die an den veralteten Bäumen (des veralteten Schauspielers) blüht« durch die Kunstfertigkeit des Nô möglich ist. 345 Weiterhin lag ein Grund für die anfängliche Vorliebe bzw. Knabenliebe des Machtinhabers ASHIKAGA Yoshimitsu 346 zu Zeami, als dieser ein Junge war, mit großer Wahrscheinlichkeit in dessen besonders schönen Gestalt. Dass der spätere Machtinhaber ASHIKAGA Yoshinori seine Vorliebe nicht mehr Zeami, sondern dessen Neffen Otoami zuwendete, könnte auch damit zu tun gehabt haben, dass »die Blume in der passenden Zeit« mittlerweile bei Otoami zu finden war. Das Element des »Leibes« ist in der Theaterkunst das unentbehrliche Element. So war damals bei Zeami die Maske von keiner großen Bedeutung. Es ist die Frage, ob es zum Verstehen der Kunst Zeamis der einzige Weg sei, am Kriterium des Selbstverständnisses Zeamis selbst anzusetzen. Es kommt in der Regel öfters vor, dass das, was dem Autor selbstverständlich ist, in der Nachwelt als das zu Beachtende eigens hervorgehoben wird. Die Kamakura-Zeit (1185 bzw. 1192–1333 bzw. 1336) und Muromachi-Zeit (1336 bzw. 1338–1573) bilden die Epoche, in der die Nô-Maske sich mit einem großen Sprung entwickelt hat. Das war die Epoche, in der sich die Holzschnitzerei und die Holzbearbeitung ebenfalls sprunghaft entwickelt haben, so dass es auch kein Wunder ist, dass auch die Nô-Maske das Niveau der Kunstwerke erreichte. Die vom zweiten Sohn Zeamis, KANZE Shichirô Motoyoshi, verfasste Schrift Sarugaku-dangi (Die Reden vom SaruA. a. O., S. 228. In der heutigen Japanologie wird das Schreiben der japanischen Namen mit dem Alphabet generell so geregelt, dass zuerst der Familienname angegeben wird, dem dann der Vorname folgt, wie es in Japan immer gehandhabt wird. So heiße ich: Ôhashi Ryôsuke. Bei den modernen Namen aber, die neben europäischen Namen oder bei Veröffentlichungen in Europa angegeben werden, muss die Reihenfolge umgekehrt sein. Da heiße ich: Ryôsuke Ôhashi. Die Anwendung der japanologischen Schreibweise im Fall der modernen Japaner klingt also seltsam und ist bibliographisch irreführrend. Andererseits ist die Anwendung der modern-europäischen Schreibweise bei den klassisch-alten Personen ebenfalls seltsam. Der Dichter Bashô muss »Matsuo Bashô« heißen, und nicht umgekehrt. Um das Durcheinander wegen der Mischung zweierlei Schreibweisen zu vermeiden, wird hier bei den klassischen japanischen Namen der Familienname zuerst angegeben, wobei dieser groß geschrieben wird. 345 346

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Die Phänomenologie der »Maske«

gaku) 347 gibt in ihrem Paragraphen § 22 die Namen der HolzschnittMeister der Nô-Maske an. Ihr entnimmt man, dass neue Arten der Nô-Maske damals entstanden. Aber trotz dieser Darstellung gibt es auch in dieser Schrift keine Stelle, wo Zeami eigens von der Maske redet. Es ist wieder festzustellen, dass die Nô-Maske für Zeami nur die Bedeutung des »Zeugs« hat. Später gibt es zwar eine weitere Darstellung zur Nô-Maske in Hachijô Kadensho (Die Überlieferung der Blume in acht Heften), eine Sammlung der Lehrtexte des Nô-Spiels, die aber inhaltlich nur Banales sagt. 348 Gerade in dieser Zeit der Weiterentwicklung der Holzschnitzerei und der Holzbearbeitung, wodurch die Nô-Maske hergestellt wurde, hätten sich die Nô-Schauspieler darum bemüht, das Streben Kanamis und Zeamis weiter zu treiben, den Kernpunkt ihrer Kunst im Ausdruck mit der körperlichen Gebärde zu sehen. Die Nô-Maske ist in der Tat ein Teil der Kleidung und nicht des Körpers. Aber trotz alldem ist darauf hinzuweisen, dass die Nô-Maske gewisse Charakteristika aufweist, die für das Nô-Spiel wesentlich sind, 349 und diese Charakteristika auch für die Betrachtung des Nô-Spiels hinsichtlich des Problems der »Anderen« ein unentbehrlicher Gesichtspunkt sind. Wie nämlich oben bemerkt, liegt ein wesentliches Charakteristikum der Maske darin, dass der Hauptschauspieler »Shite«, der sie trägt, zur Person dieser Maske, somit zu einem »Anderen« wird. Bald wird er zum alten Mann, bald zur jungen Dame. So sagt Zeami: Zuerst gründlich zur jeweiligen Gestalt (sonomono) werden, danach gründlich die jeweilige Verhaltensweise (waza) nachbilden. 350 Er erzählt das Geheimnis der Aufführung der jeweiligen Rolle. Je nach der Art der Maske wird »shite« bald zum alten Mann, bald zur jungen Dame, bald zum fürchterlichen Dämon. Der Hauptdarsteller als solcher »verschwindet«, indem er zur Person wird, deren Maske er trägt. 347 KANZE Shichirô Motoyoshi, Sarugaku-dangi (jap. Die Reden vom Sarugaku), in: Zeshi rokujûigo Sarugaku dangi, geläufig verkürzt: Sarugaku dangi. Shinsô nihon shisô taikei 1. Zeami und Zenchiku, Tôkyô 1995. Da »Sarugaku« und »Nôgaku« (Nô-Spiel) historisch und inhaltlich miteinander verwandt sind, darf der Diskurs in Sarugaku dangi auch als für das Nô-Spiel gültig verstanden werden. 348 So lautet ein Satz: »Was die Maske betrifft, ist die allzu frisch neue Maske schlecht, da sie grell ist. Aber, obwohl die neue hässlich ist, ist die allzu veraltete, abgeblätterte Maske noch hässlicher. Die mäßig veraltete ist richtig.« (a. a. O., S. 621) 349 Zum wesentlichen Charakteristikum der Nô-Maske vgl. den Verfasser, »Phänomenologie der ›Nô-Maske‹«, in: Ryôsuke Ôhashi, Japan im interkulturellen Dialog, München 1999, S. 93–111. 350 Zeami, Kakyô, S. 298.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Im Vergleich mit den Masken, die in verschiedenen Gegenden der Welt überliefert werden, hat die Nô-Maske ein einzigartiges Charakteristikum, nämlich, dass der Schauspieler durch sie hindurch spricht. Schon das lateinische Wort für die Maske, die »persona«, impliziert die Bedeutung »personare«, d. h. »hindurch-tönen«. Der Mensch spricht durch sein »Gesicht« hindurch. Im Fall des Nô-Spiels ist dieses Gesicht die Maske, die der Hauptschauspieler trägt. Ein weiteres, damit zusammenhängendes und wesentliches Charakteristikum der Maske liegt in ihrer zunächst widersprüchlichen Seinsweise, d. h. zu »zeigen« und zugleich zu »verdecken«. Und dies ist eben der Maskencharakter auch unseres eigenen Gesichts. Um einen phänomenologischen Gedanken heranzuziehen: Wenn Levinas das »Antlitz« (fr: visage) als die Erscheinungsform des »Anderen« in seinem spezifischen Sinne erörtert, so ist seine Betrachtung gut zu verstehen, wenn man an den Maskencharakter des Antlitzes überhaupt denkt. Um in diesem Zusammenhang eine phänomenologische Betrachtung heranzuziehen, ist für Levinas der »Andere« die absolute »Exteriorität« für die denkende Vernunft. Er tritt in diese vom denkenden Subjekt gefassten Welt als das in dieser Welt durchaus Abwesende, als das an sich selbst »Unendliche«, wobei dieses aber sich durch sein Antlitz hindurch »ausspricht« und insofern sich präsentiert. Das Antlitz spricht mit dem Anspruch aus, dass der Mensch dem Anderen gegenüber zum ethischen Subjekt wird. 351 Allerdings redet Levinas nicht von meinem Antlitz als jenes der ersten Person. »Mein Gesicht« ist das, was ich den Anderen zeige. Auch wenn ich versuche, mich so zu zeigen, wie ich bin, kann es gerade in diesem Versuch vorkommen, dass ich mich doch anders zeige, als ich mich verstehe. Man muss oft erfahren haben, dass man von den Anderen anders verstanden wird, als man sich selbst versteht. Sogar mir selber scheint mein Ich oft anders als in meinem Selbstverständnis. Es kann deshalb vorkommen, dass mein Selbst mich beispielsweise in Form des schlechten Gewissens anspricht und tadelt. Ich zeige mich mir selbst als das, dessen Gesicht sich mir zeigt und auch verdeckt. Ich bin mir selber das Andere meiner selbst. Mir selbst zeigt und zugleich versteckt »mein Gesicht« mich selbst, was für die spätere Darstellung der »Sicht der abgeschiedenen Sicht« ein wichtiger Punkt ist. 351 Da Levinas diesen und ähnliche Gedanken an mehreren Stellen äußert, sind hier nur einige auffallende Stellen anzugeben: E. Levinas, Totalité et Infinit, S. XVII, 125, 273, 275 usw.

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Die Phänomenologie der »Maske«

Um noch ein Stück weit bei der Nô-Maske zu bleiben, so hat diese im Unterschied zu den lebenden Menschen keine Muskeln, so dass sie physisch kein Gefühl ausdrücken kann. Wenn im Japanischen gesagt wird, sein/ihr Gesicht sei wie eine Nô-Maske, so wird gemeint, dass er/sie ein gefühlloser, kalter Mensch ist. Wenn aber der Hauptschauspieler eine Nô-Maske trägt, sieht diese für die Zuschauer so aus, als hätte sie verschiedene menschliche Mienen. Die Maske zeigt diese Mienen den »Anderen«, den Zuschauern. Wenn man die doppelte Wirkung der Maske von »zeigen« und »verdecken« weiter betrachtet, so wird man sehen, dass diese doppelte Wirkung das »Zwischen-sein zwischen der realen Wirklichkeit und der unrealen Nicht-Wirklichkeit« ausmacht. Es war das Nô-Spiel Zeamis, das die Seinsweise dieses Zwischen-seins zur sogenannten »Traumvision« (jap. mugen) sublimierte. Sein Nô-Spiel hat den Grundcharakter des »Traumvision-Nô« (jap. Mugen-Nô). Dieses ist vom »Gegenwart-Nô« (jap. Genzai-Nô) zu unterscheiden. Im letzteren treten die Personen auf, die in dieser Welt gegenwärtig sind, während im ersteren die Hauptrolle der Geist des Verstorbenen ist. Ritter, Dichter, Schönheit usw., die einst ihr prachtvolles, tragisches, schicksalhaftes Leben geführt haben, erscheinen einem Reisenden gegenüber, der meist ein Mönch ist, um ihre einstige Lebensgeschichte mit Tanz und Gesang zu erzählen. Der Großteil der Werke Zeamis gehört diesem Genre des Traumvision-Nô an. Das, worin der Traumvisionscharakter gesehen wird, ist, dass erstens der Geist, der auftritt, dies als nicht-existierendes Wesen tut. Zweitens erzählt der Geist in der ersten Person das, was in seiner Lebenszeit für ihn und um ihn geschehen ist, wobei die »Anderen« ebenfalls als nicht-existierend existierende Wesen auftreten. Drittens werden auch die dies alles beobachtenden Zuschauer in die vom Geist erzählte Welt einbezogen, so dass auch sie sich als Bewohner in einer traumvisionären Welt fühlen. Das Traumvision-Nô, dessen Wesenscharakter sich mit dem der Nô-Maske überlappt, öffnet für das Problem der Anderen, wie es in der bisherigen Phänomenologie erörtert wurde, eine von Grund auf andere Perspektive. Dieses Problem taucht nämlich meistens in der Perspektive von »Ich und Du« oder »Ich und »Er/Sie« auf, wobei der Nullpunkt der Koordinaten das »Ich« ist. Aber im Traumvision-Nô ergibt sich eben dieses »Ich« als eine Traumvision. Es selbst ist eine Traumvision. Damit wird zwar nie gemeint, dass dieses »Ich« wie Nebel oder 239 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Dunst verschwindet. Die hier gemeinte Traumvision ist in eins mit der realen Wirklichkeit. Um ein Beispiel zu geben, so ändert sich und vergeht unser Körper ständig und ist in diesem Sinne wie die Traumvision, aber dennoch ist ein unerträglicher Schmerz an diesem Körper durchaus real. Allerdings wird dieser scharfe Schmerz, egal wie scharf er auch sein mag, einfach vergessen, wenn er einmal vergeht. Die unbezweifelbare Realität und deren Traumvisionscharakter sind wie die Vorder- und Kehrseite ein und desselben Dinges. Eine Phrase im Stück des Kôwaka-Tanz »Atsumori« lautet: »Fünfzig Jahre in der Menschenwelt; was auf dieser Erde geschieht, ist wie eine Traumvision.« Die biographische Erzählung über den mächtigsten Fürsten ODA Nobunaga (1534–1582), in der Zeit der streitenden Reiche in Japan (15. und 16. Jh.), »Nobunagakô-ki« (eine andere Leseweise: »Shinchôkô-ki«), teilt mit, dass der äußerst realistische und in der Politik sowie im Militär geniale, aber oft grausame Held ODA Nobunaga, unmittelbar bevor er zur entscheidenden Schlacht in Okehazama aufbrach, diese Phrase sang und tanzte. Die gleiche Empfindung wird eben im Werk Zeamis »Atsumori« eindrucksvoll dargestellt. 352 Die Hauptrolle dort ist der Geist des jungen Adligen TAIRA-no-Atsumori (1169–1184), der der Familie Heike angehörte und im Krieg gegen die Genji-Familie im Kampf mit dem Ritter KUMAGAI Naozane (1141–1207) von diesem enthauptet wurde. Nach dem Krieg wurde Naozane zum Mönch und besuchte den Grab Atsumoris. Der Geist gibt bald den Gedanken der Rache auf und verschwindet, nachdem er Naozane sagte, er möchte diesen im Paradies als »das auf einem und demselben Lotus zusammenlebende Wesen« wieder treffen. Der »Andere« in der Weise des Feindes wird hier samt seiner Feindseligkeit zu einer Traumvision. Hier mag ein großes Missverständnis entstehen, das Traumvision-Nô Zeamis als Ausdruck für die Flucht aus der realen Welt in die tröstende Einbildung zu nehmen. Man darf aber nicht vergessen, dass Zeami ein Mensch war, der sich mit der harten Wirklichkeit auseinandergesetzt hat. Er war am Anfang ein Knabe in der Gruppe der Bettler-Künstler, wie es damals alle Theater-Künstler waren. Er wurde bei einer Aufführung vom Shôgun ASHIKAGA Yoshimitsu (1358–1403) entdeckt und begünstigt und gelangte zur Spitze der damaligen Schauspielerwelt, aber nach dem Tod Yoshimitsus wurde er von dessen Nachfolger kalt behandelt und anschließend zum Exil 352

Tamotsu Matsuda, Nô, Kyôgen, Dentô Geinô Shirîzu (jap.), Tôkyô 1990, S. 42.

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»Bewege den Körper sieben Zehntel«

auf der öden Insel Sado verurteilt. Die »Traumvision« bedeutet bei ihm dieses harte und mühsame Leben im Ganzen, das in der real wirklichen Welt geführt wird. Sie hat keine Gemeinsamkeit mit der dichterisch-träumerischen Romantik wie etwa bei Novalis. Die Übung im Nô-Spiel war für ihn der Ausdruck seiner Lebensweise in dieser Welt. Wie später zu sehen ist, sagt Zeami: »Das Nô soll man von den jungen Jahren an bis ins hohe Alter durchgehend erlernen«. 353 Auch wenn das Leben des Schauspielers im Ganzen »wie« eine Traumvision ist, so ist es keine bloß substanzlose Traumvision. Es ist das im Erlernen des Nô sich anstrengende Leben des Schauspielers, auf dessen Reife auch die kritischen Zuschauer warten. Im Kakyô gibt es ein Kapitel mit dem Titel »Über die Kritik«. Dort werden die verschiedenen Weisen der Kritik sowie das Bedürfnis der Ausbildung des kritischen Geistes erörtert. 354 Das Traumvision-Nô, das eine traumvisionäre Welt aufführt, ist in sich die durch und durch ernste und realistische Welt der Kunstfertigkeit. Dort sind auch die »Anderen« solche, die in der Traumvision der irdischen Welt leben, aber zugleich real Existierende sind. Was hat dies alles mit dem »un-gemeinsamen Gemeingefühl« zu tun, das bisher erörtert wurde, und welcher neue Gesichtspunkt dadurch hervortritt?

3.

»Bewege den Körper sieben Zehntel«

Wenden wir uns dem Text Kakyô zu. In der ersten Hälfte des Textes werden sechs »Themen« der idealen Haltung des Schauspielers erörtert, während es in der zweiten Hälfte eher um konkretere Sachen geht. Inhaltlich betrachtet, ist diese Unterscheidung der Hälften allerdings nicht so sehr streng. Denn die erste Hälfte enthält auch konkrete Beispiele, und die zweite Hälfte bringt auch Ideale des Schauspielers zur Sprache. Zeami beschreibt in dieser Schrift die Geheimnisse seines NôSpiels. Ein Wort, das für das Problem der »Anderen« von großer Bedeutsamkeit ist, ist »kan«, das hier mit »Gemeingefühl« übersetzt wird. Das Wort »kan« hat mannigfaltige Nuancen wie: »kanju« 353 354

Zeami, Kakyô, S. 338. A. a. O., S. 324 f.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

(Empfindung), »kanjô« (Gefühl), »kankyô« (Interessiertheit), »kanmei« (Begeisterung), »jikkan« (Realitätsgefühl), »kyôkan« (Sympathie), »genbakan« (Präsenzgefühl), »kannô« (Mitfühlen) etc. Die deutsche Übersetzung »Gemeingefühl« wäre die am besten passende. Das Wort ist zwar heute kaum gebräuchlich, aber es wurde einst im 19. Jahrhundert offensichtlich oft gebraucht. 355 Nach dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt Gemeingefühl »die zum Ausdruck gekommene innere Gemeinsamkeit der Menschen in einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft oder eines Volkes«. Es entspricht also etwas Zeamis Wort »kan«. Zeami gibt allerdings keine begriffliche Erklärung zu diesem Wort. Stattdessen gibt er konkrete Beschreibungen. Im ersten Abschnitt der zweiten Hälfte »Über die (passenden) Zeiten, die das Gemeingefühl treffen« schreibt Zeami (im Folgenden werden die Zitate aus Zeami, wenn sie als selbständige Absätze stehen, kursiv geschrieben, damit die sonst benötigten Anführungszeichen am Anfang und Ende des Zitates nicht mit denen im Zitat selbst oft vorkommenden unnötigerweise überlappen): Heraustretend auf die Sarugaku-Bühne, muss es beim Anheben der anfänglichen Gesangsstimme eine besondere Augenblicksschwelle geben. Zu früh ist schlecht. Zu spät wird bestimmt auch schlecht sein. Aus der Garderobe heraustretend, die Schritte auf der Zugangsbrücke anhaltend, in alle Richtungen lauernd, gerade dann, wenn alle Leute gespannt erwarten: »Ja, jetzt wird er die Stimme anheben«, soll die Stimme anheben. Die Herzen aller Menschen aufnehmend die Stimme anheben, dies ist die (passende) Zeit, die das Gemeingefühl trifft. Wenn die (passende) Zeit nur ein wenig verstrichen ist, lässt die Spannung im Herzen aller Menschen nach, und 355 Im Deutschen Textarchiv www.deutschestextarchivde/book/show./reil_curmetho de_1803 taucht als ein frühes Werk, in dem das Wort »Gemeingefühl« vorkommt, das folgende auf: Johann Christan Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, 1803. Allerdings handelt es sich, wie man schon dem Titel entnimmt, um einen Terminus der Kurmethode für die Geisteserkrankungen. Im Problemzusammenhang der Sinneslehre, wie in der vorliegenden Betrachtung, gibt W. Naumann-Beyer ein Buch von Ernst Heinrich Weber an: Tastsinn und Gemeingefühl, 1846. Naumann-Beyer stellt dar, dass Weber das Gemeingefühl auch mit dem Wort »Coenaesthesis« bezeichnete. »Die Coenaesthesie entsteht überall dort, wo sich Nerven befinden; sie kann mit der specifischen Empfindung der einzelnen Sinnesorgane einhergehen, aber auch an allen anderen innervierten Organen auftreten« (W. Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, S. 33).

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»Bewege den Körper sieben Zehntel«

wenn man erst danach anfängt etwas zu sagen, trifft das nicht das Gemeingefühl aller Menschen. 356 Die hier gemeinte »passende Zeit« könnte mit dem englischen Wort »timing« übersetzt werden. Es ist der Augenblick, in dem z. B. ein Sportler versucht, seinen entscheidenden Schlag zu vollbringen. Dabei wird dieser Augenblick nicht durch ihn allein hervorgebracht. Er muss sich auf die unzähligen Anlässe dazu verstehen, damit ihm die rechte Ausführung des Schlages gelingt. Im Fall des Nô-Spiels gehört zur Zeitigung dieser Anlässe nicht nur die Reife des Künstlers, sondern auch die Reife der Ausbildung der Zuschauer. Deshalb sagt Zeami weiter: Diese (passende) Zeit hängt allein von der Atemkraft (ki) der Zuschauer ab. Die (passende) Zeit, die von der Atemkraft der Menschen abhängt, ist die Schwelle, die der Hauptschauspieler aus seinem Gemeingefühl heraus sieht. Dies ist die Schwelle, auf der der Hauptschauspieler allein die sehenden Herzen aller Menschen in seine Pupille hineinzieht. 357 Das hier mit »Atemkraft« übersetzte Wort »ki« wird im Japanischen in Wendungen wie »kihô« (Aktionsfähigkeit), »kichi« (Witz), »kiten« (Takt) usw. benutzt. Diese Wendungen betreffen die Fähigkeit oder die Leistung der Personen. Das Wort wird aber auch in Wendungen wie »kibi« (Subtilität), »ki-wo-miru« (die treffende Gelegenheit nehmen) usw. benutzt. In diesen Fällen wird die gewissermaßen objektive Wirkung im zeitlichen Aspekt gemeint. Im Text enthält das »ki« die genannten beiden Bedeutungen. Es kommt auf die Atemkraft der Zuschauer an, ob alles auf der Bühne gut zustande kommt. Die Zuschauer erwarten, dass der Schauspieler jetzt die Stimme anhebt. Es ist doch auch der Schauspieler selbst, der gerade in diesem Augenblick die Stimme anhebt, wodurch er die Herzen aller Menschen aufnimmt und die sehenden Herzen aller Menschen in seine Pupille hineinzieht. Der Schauspieler soll diese Schwelle, die allein von der Atemkraft der Zuschauer abhängt, richtig herausfinden. Hier besteht ein »Gemeingefühl« als gemeinsames Werk der Schauspieler und Zuschauer. Es kann auch vorkommen, dass alles schiefgeht, so dass auf beiden Seiten je ein verworrenes Gemeingefühl entsteht. Man könnte auch weiter annehmen, dass vielleicht 356 357

Zeami, Kakyô, S. 303. A. a. O., S. 303.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

selbst in einem idealen Gemeingefühl verschiedene Gemeingefühle der verschiedenen Menschen enthalten sind, so dass ein Gemeingefühl genau betrachtet wesentlich ein Gemenge von »un-gemeinsamen Gemeingefühlen« ist. Dieses Gemeingefühl wäre nicht als spezifisches Phänomen des Nô-Spiels zu betrachten. Es gilt sicherlich von allen Arten von Kunstaufführungen. Um nur ein Beispiel aus der Musik anzuführen, so beschreibt Sergiu Celibidache, der weltberühmte Dirigent und Autor der Phänomenologie der Musik, 358 wie die Struktur der menschlichen Affektwelt und die Struktur des Klangs einander »entsprechen«. Er sagt: »Es ist eine Entsprechung zwischen dem, was ich höre, und der Beschaffenheit meiner Affektwelt. Wenn die Quint in mir eine neue Perspektive aufmacht und ihre extrovertierte Natur zeigt, war das nur möglich, weil zwischen dieser Quint und meiner inneren Welt eine Entsprechung da war. Entsprechung entsteht, wenn sich das, was mich berührt hat, weiter strukturiert.« 359 Die von Celibidache gemeinte »Entsprechung« wird mit dem übereinstimmen, was hier mit dem »Gemeingefühl« gemeint wird. Der Gefühlsausdruck überhaupt gilt als Schnittstelle zwischen der innerlich-geistigen Welt und den Geschehnissen in der Außenwelt. Es ist das Phänomen der »Entsprechung« zwischen den beiden Bereichen. Da der Gefühlsausdruck als solche Schnittstelle nicht nur der ichlich-innerlichen Subjektivität zugeschrieben werden kann, sondern auf die Außenwelt hin geöffnet ist und durch die Berührung mit dieser Welt sich zeitigt, kann dieses Gefühl auch als das »Gemeingefühl« verstanden werden, das beispielsweise zwischen den Musikern und den Zuhörern geschieht. Inwieweit ist aber, genauer betrachtet, dieses Gemeingefühl »gemeinsam«? Dieses kann kein in sich differenzloser »Knödel« der Menschengefühle sein, da die Musiker und die Zuhörer doch verschiedene Menschen sind. Celibidache erwiderte einer Zuhörerin, die in seiner Musik eine »Welt der Stille« gehört haben will: »Sie haben eine Art Stille gehört und Sie glauben, ich hätte das bewirkt. Nein: Sie haben die Werte so assoziieren können, daß Sie sich von dem Druck links und rechts gelöst haben und über den Klang hinaus

Sergiu Celibidache, Über Musikalische Phänomenologie, München 2001. Ders., Man will nichts – man läßt es entstehen, herausgegeben von J. SchmidtGarre, München 1992, S. 83. 358 359

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»Bewege den Körper sieben Zehntel«

gekommen sind. Es stört mich, daß Sie das in Beziehung zu mir setzen. Ich habe nichts damit zu tun. Nicht Celibidache hat diese Loslösung erlebt, sondern Sie!« 360 Es mag zunächst befremden, in einer Betrachtung zum NôSchauspieler Zeami den von diesem so unterschiedlichen europäischen Musiker Celibidache zitiert zu haben. Allerdings ist daran zu erinnern, dass Celibidache bei seinen Konzert-Reisen nach Japan vom Zen-Buddhismus stark beeindruckt wurde und den Einfluss desselben auf ihn gesteht. 361 Jedenfalls dürfte seine Zurückweisung einer vermeintlichen Gemeinsamkeit mit der Zuhörerin im Gefühl der Stille seine Ansicht zum Ausdruck bringen, dass trotz aller Zusammenwirkung bei der Musikaufführung das Gemeingefühl der Zuhörer und Musiker eine Ungemeinsamkeit in sich enthält. Celibidache stimmt zwar nicht zu, die von der Zuhörerin wahrgenommene »Stille« als das von ihm selber Erschaffene anzusehen, aber er streitet es auch nicht ab, dass diese Zuhörerin die Stille wahrgenommen hat. Hier wird ausgesprochen, dass ein Gemeingefühl als ein gemeinsames Gefühl in sich eine Un-gemeinsamkeit enthält. Das un-gemeinsame Gemeingefühl bei der Aufführung des NôSpiels kommt nun nicht spontan zustande. Dazu wird benötigt, dass durch die Kunstfertigkeit des Nô-Spielers das Gemeingefühl die passende Zeit trifft. Zeami beschreibt die Geheimnisse dieser Kunstfertigkeit. Ein Abschnitt im »Kakyô« wird betitelt »Bewege das Herz zehn Zehntel (d. h. ganz) – Bewege den Körper sieben Zehntel«. Dort lautet es: Wenn man sogar bis hin zum Körpergebrauch beim Stehen und Gehen sparsamer im Körper als im Herzen bewegte Körperhandlungen ausführt, dann wird der Körper zum Tragenden und das Herz zum Wirkenden und ein anregend-interessantes Gemeingefühl muss entstehen. 362 A. a. O., S. 73 Celibidache sagt: »Ich kann nur sagen, ohne Zen hätte ich nicht dieses sonderbare Prinzip erlebt, daß im Anfang das Ende liegt. Musik ist nichts anderes als die Materialisierung dieses Prinzips.« (»Sergiu Celibidache: Aus einer Pressekonferenz anläßlich der Japan-Tournee mit den Münchner Philharmonikern im Oktober 1986«, berichtet in: Süddeutsche Zeitung vom 13. 10. 1986.) Zwar wäre zu fragen, inwieweit die Auffassung, dass im Anfang das Ende liegt, »zen-buddhistisch« sei. Aber entscheidend ist, dass Celibidache hinsichtlich des »Prinzips«, dessen Materialisierung er in seiner Musik versucht, vom »Zen« inspiriert wurde. 362 A. a. O., S. 296. 360 361

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Das Wort »Körper« (»tai«) ist auch ein buddhistischer Terminus für das »Wesen«, und das Wort »Wirkendes« kommt vom Terminus »Wirkung« (»yô«). Die beiden ergeben zusammen mit dem dritten Terminus »Ausdruck« die begriffliche Dreiheit »Wesen – Wirkung – Ausdruck« (tai-yô-sô). Aber dies braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Es geht vielmehr um den Begriff »ein anregend-interessantes Gemeingefühl«, das Wort, das Zeami häufig benutzt. Die NôAufführung ist anregend-interessant, wenn beim Stehen und Gehen sparsamer im Körper als im Herzen bewegte Körperhandlungen ausgeführt werden. Zwar hatte Zeami den ganzen Nachdruck der Aufführung auf die körperlichen Ausdrücke und nicht auf die »Nô-Maske« gelegt, aber dennoch macht er die Anweisung, dass der Körper nur zu sieben Zehntel bewegt werden soll, und zwar nicht in bestimmten Szenen, sondern bei der Nô-Aufführung überhaupt. Diese Anweisung ist im Grunde gleich mit dem Gedanken in der oben genannten Schrift Fûshi-kaden: »Was versteckt wird, das ist die Blume«. 363 Das Wort »Bewege das Herz zehn Zehntel (d. h. ganz) – Bewege den Körper sieben Zehntel« besagt, dass der mit der Blume verglichene Körper nur bis zu sieben Zehntel bewegt und der Rest, drei Zehntel, nicht zum Ausdruck gebracht und insofern »versteckt« wird. Der körperliche Ausdruck ist die Äußerung des an sich versteckt gebliebenen »Herzens«, das zu zehn Zehnteln betätigt werden soll, was aber nach Zeami auch als solches versteckt werden soll. Hier funktioniert der Körper selber als eine Maske, die zeigt und zugleich versteckt. Anstelle der begrifflichen Erklärung beschreibt Zeami immer nur die ganz konkrete Körperbewegung. Der Ausdruck »den Körper sieben Zehntel bewegen« wird z. B. auch wie folgt umschrieben: Bewegt man den Körper und die Füße in gleicher Weise, so sieht (es) grob aus. Wenn man jedoch beim (starken) Körpergebrauch die Füße schleichend bewegt, dann sieht (es) zwar besessen-vehement, aber nicht grob aus. Wenn man heftig mit den Füßen stampft, aber den Körper ruhig bewegt, so sieht es nicht grob aus, da der Körper ruhig ist, während das Stampfen der Füße laut ist. Dies bedeutet: Dort, wo das, was man sieht und hört, nicht zur gleichen Empfindung (zum gleichen Herzen) führt, da vereint sich beides (das Gesehene Zeami, Fûshi-kaden, S. 291: »Beim Verstehen des Sinnes von Blume geht es darum, zu sehen, dass wenn (die Kunst) versteckt wird, ist sie die Blume. Wenn sie nicht versteckt wird, kann sie nicht Blume sein.«

363

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Der Sinn des »Versteckens«

und Gehörte) in stimmiger Weise, so dass es ein anregend-interessantes Gemeingefühl gibt. 364 Die Anweisung, mit den Füßen heftig zu stampfen, während man den Körper ruhig bewegt, ist konkret, aber was damit gesagt wird, ist gar nicht selbstverständlich. Das sieht man, wenn man dies selber zu praktizieren versucht. Wenn man in einen Teil des eigenen Körpers die Kraft setzt, während man einen anderen Körperteil locker macht, so wird die ganze Körperbewegung meistens ungeschickt, etwa wie der Versuch, mit der rechten Hand einen Kreis und mit der linken Hand ein Dreieck zu zeichnen. Aber die angewiesene Körperbewegung im Nô soll das Geheimnis der Aufführung sein, alle Zuschauer zufrieden zu stellen. Was dazu verlangt wird, ist nicht das, was ein Yoga-Meister Künstler vermag, nämlich alle Körperteile frei so zu bewegen, wie er will. Vielmehr wird hier aufgefordert, das »Herz«, mit dem der Körper bewegt wird, zu verstecken. Mit diesem technisch-praktischen Geheimnis wird gerade das Gegenteil der geläufigen Vorstellung der körperlichen Darstellung angestrebt. In der europäischen Oper und dem Ballett wird wohl danach gestrebt, sich mit dem Körper voll repräsentativ und ausdrucksvoll, möglicherweise sogar zu »zwölf Zehntel« übertrieben, darzustellen, was sicherlich auch einen gerechtfertigten Sinn hat. Aber in Zeamis Nô-Spiel geht es um das Gegenteil. Was durch Verstecken gezeigt wird, ist die Blume der Kunstaufführung. Dadurch wird eine andere Richtung der Schauspielkunst angezeigt als die, die bisher unter dem Einfluss des abendländischen Theaters überliefert wurde.

4.

Der Sinn des »Versteckens«

Aber, so könnte eine grundsätzliche Kritik lauten, wenn solches »Verstecken« als eine Ausdrucksweise angesehen wird, dann wäre es die beste Aufführung, auf der Bühne nichts zu tun. Zeami sagt tatsächlich, dass eben dort, »wo nichts getan wird«, bzw. der »leere Zeitraum, wo nichts getan wird«, der am meisten anregend-interessante Zeitraum ist. Ein längeres Zitat sei hier wiederum angeführt: Der Grund dafür, dass der leere Zeit-Raum, in dem nichts getan wird, anregend-interessant aussieht, liegt darin, dass dies der Sinnesort ist, in dem das Herz ohne Unaufmerksamkeiten zusammen364

Zeami, Kakyô, S. 296/7.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

gebunden (immer wach und aufmerksam) wird. In dem leeren ZeitRaum, wo der Tanz zu Ende geht, und dort, wo das Singen mit der Musik aufhört, und außerdem in den leeren Zeit-Räumen (der Pause) von Sprache, Mimik und verschiedenen anderen Genres, ist, ohne das Herz (der Aufmerksamkeit) aufzugeben, im inneren Herzen ein aufmerksames Herz zu bewahren. Dieses Gemeingefühl im inneren duftet nach außen und ist reizend-interessant. 365 Dem Zitat entnimmt man, dass Zeamis leerer Zeit-Raum, in dem nichts getan wird, keine kraftlose Faulheit, sondern die Fülle der vollen Gespanntheit ist. Dort, wo nichts getan wird, wohinein alle Ausdruckstätigkeiten konvertieren, im Nichts-Tun, wo Pause gemacht wird als der leere Zeit-Raum zwischen einem Ausdruck und einem anderen, da herrscht das gespannte Herz. Aber gleich nach diesem Zitat wird gesagt: »Es ist schlecht, wenn von außen sichtbar wird, dass der Hauptschauspieler dieses innere Herz besitzt.« Dieses Herz soll versteckt werden. Zeami setzt fort: »Im Rang des NichtHerzens und im beruhigten Herzen, in dem mein Herz mir selbst gegenüber versteckt ist, soll man das Vorher und Nachher des Zwischen (Zeit-Raums) des Nichts-Tun zusammenbinden.« 366 Das »Wo« als der Zeit-Raum, in dem nichts getan wird, ist das mir selber versteckte innere Herz, somit das Nicht-Herz. Hier ist wiederum ein kleiner Umweg zu machen, mit dem Hinweis, dass der mir selbst gegenüber versteckte Zeitraum des NichtHerzens, wo nichts getan wird, nach außen »duftet«. Der Duft hat weder Farbe noch Töne. Er teilt sich mit, ohne dass er direkt gesehen oder gehört wird. Als solcher ist er ein ästhetisches Phänomen. Es sei an KI-no-Tomonoris (845?–907) Gedicht Nr. 876 in der Gedichtsammlung Kokin-waka-shû erinnert: »Der auf der leeren Zikadenschale gelegene Tau, unter den Bäumen verdeckt, ist meine heimliche Träne, mit denen der Ärmel der Schale nass geworden ist.« (jap.: Semi no ha no / yoru no koromo wa usukeredo / usurika kokumo nioinuru kana) Es sieht so aus, als hätte KI-no-Tomonori eine Szene des Kapitels »Leere Zikadenschale« der Erzählung des Prinzen Genji vorweggenommen. Oder hatte die Autorin dieser Erzählung, Murasaki Shikibu, tatsächlich dieses Gedicht im Kopf, als sie die genannte Szene schrieb? Der Prinz Genji versucht, wie im vorigen Kapitel dargestellt, 365 366

A. a. O., S. 321. Ebd.

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Der Sinn des »Versteckens«

nachts eine Hofdame heimlich zu besuchen. Die Hofdame hat das im Voraus gespürt und ihr Zimmer verlassen, wobei sie im Zimmer ihr Oberkleid hinterließ. In diesem Nachtgewand der Hofdame bleibt der von Räucherstäbchen übertragene Duft. Prinz Genji nahm dieses Kleid in die Arme und ging heim. Diese »Ästhetik des Duftes« hat einen buddhistischen Hintergrund. Im Daijô-kishin-ron (Das Erwachen-lassen zum Glauben des Mahayana) kommt das Wort »kunjû« (die Übertragung des Duftes) häufig vor. Eine Stelle lautet: »Was Kunjû bedeutet, ist: Zwar gibt es am Kleid der Welt eigentlich keinen Geruch, solange die Welt eigentlich die ›Leere‹ ist. Wenn jemand aber sich in einer Irre befindet und dies nach außen ›riecht‹, so wird dieser Geruch ins Kleid der Anderen übertragen, und dann (riecht das Kleid) als hätte das Kleid selber diesen Geruch.« 367 Dieses Wort will sagen, dass es zwar in der Welt der wahren Leere so etwas wie den Geruch nirgendwo gibt, aber der Mensch trägt die dunkle Irre (mumyô) in sich, die nach außen riecht und diesen Geruch auf die Anderen überträgt. In der Schrift Daijôkishin-ron wird das Woher der dunklen Irre als unerklärbar erklärt. Diese Irre wird mit dem Geruch verglichen, so dass das »kunjû« immer in diesem negativen Kontext ausgesprochen wird. Allerdings wird auch der Gedanke ausgedrückt, dass diese dunkle Irre irgendwann durch die Übertragung des Geruchs der wahren Leere, die eigentlich keinen Geruch hat, verschwindet. 368 Der Duft kann ins Herz dessen hineingehen, der diesen riecht, wodurch seine räumliche Verbreitung sich in innerliche Vertiefung verwandelt. (Vgl. dazu II. Buch, II. Teil, 1. Kapitel »Die ästhetische Tragweite der fünf Sinne«.) Die dadurch erreichte Tiefe hat einen anderen Aspekt als jene, die durch »Hören« oder »Sehen« vermittelt wird. Alle fünf Sinne haben je einen eigenen Wahrnehmungsmodus. Daijô kishin-ron, S. 30. A. a. O., S. 34 ff. Diese »Übertragung des Geruchs der wahren Leere auf die dunkle Irre« wird zwar in der Schrift Daijô kishin-ron dargestellt, aber sie ist nicht der in der Lehre des »Bewusstseins-allein« (Vijñapti-mātratā) durchgehend beibehaltene Gedanke. Dies erklärt Gajin Nagao im »Anhang« der Gesammelten Schriften von Toshihiko Izutsu, Sonderband, August 1993, S. 4. Nagao schätzt zwar Izutsus Interpretation zu Daijô kishin-ron in dessen »Metaphysik des Bewusstseins« (jap.), aber er vermisst bei Izutsu die kritische Stellungnahme zu Daijô kishin-ron. Er bedauert in diesem kurzen Essay, dass Izutsu nicht mehr am Leben ist, da er mit diesem gerne über die Lehre der Geruchsübertragung diskutiert hätte (a. a. O., S. 5). Nagao ist zwischenzeitlich selber nicht mehr am Leben, so dass die »Diskussion« der Nachwelt überlassen wird. 367 368

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

An der vorhin zitieren Stelle, wo vom kräftigen Stampfen der Füße die Rede ist, sagt Zeami: Dort, wo das, was man sieht und hört, nicht zur gleichen Empfindung (Herz) führt, aber dennoch sich beides (das Gesehene und Gehörte) stimmig vereint, gibt es ein anregendes Gefühl. Das »Sehen« und das »Hören« bilden ein je verschiedenes Sinnesgebiet. Zeami sagt, dass der »anregend-interessante Gemeinsinn« entsteht, wenn diese verschiedenen Sinnesgebiete in Übereinstimmung zusammenwirken. Wenn jetzt ein anregend-interessanter Gemeinsinn durch einen »Duft« der versteckten Kunstblume entsteht, so soll dieser Duft eine wiederum andere Art der Tiefe haben. Ein Charakter dieser Tiefe ist daran zu messen, dass der Duft sich auch dort verbreitet, wo es weder Geräusch noch Farbe gibt, etwa wie wenn im Nachtdunkel der subtile Duft der Pflaumenblüte irgendwoher kommt. Im vorhin zitierten Kokin-waka-shû findet sich ein Gedicht Ôshikôchi no Mitsunes, das sinngemäß wie folgt lautet: »Im Dunkel in der Frühlingsnacht ist die Pflaumenblume ohne Muster; ihre Farbe ist nicht sichtbar, aber ihr Duft kann sich nicht verbergen.« (»Haru no yo no yami wa ayanashi umenohana iro koso miene ka ya wa kakururu.«)

5.

Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz

Beim zitierten Gedicht stellt man sich eine Szene vor. Der Duft der Pflaume kommt ohne Begleitung der Farbe oder der Gestalt her als der unvermischte reine Duft im Nachtdunkel. Er verbreitet sich im stillen Nachtdunkel, und diese duftende Stille umspannt die dunkle Umgebung. Die Stille ist das wichtigste Element des Nô-Spiels. Durch Reden, Gesang und Musikklang hindurch kommt die Stille hervor, die auf der Bühne herrscht, als wäre sie die Leere. Heidegger wurde auf dieses »wo nichts getan wird« aufmerksam. In einem größtenteils von ihm erfundenen Gespräch mit einem Japaner schreibt er: »J. Sie müßten solchen Spielen beiwohnen. Aber selbst dies bleibt schwer, solange Sie nicht japanisches Dasein zu bewohnen vermögen. Damit Sie einiges, wenn auch nur aus der Ferne, von dem erblicken, was das Nô-Spiel bestimmt, möchte ich Ihnen durch eine Bemerkung weiterhelfen. Sie wissen, daß die japanische Bühne leer ist. F. Diese Leere verlangt eine ungewöhnliche Sammlung. 250 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz

J.

Dank ihrer bedarf es dann nur noch einer geringen Gebärde des Schauspielers, um Gewaltiges aus einer seltsamen Ruhe erscheinen zu lassen. F. Wie meinen Sie dies? J. Wenn z. B. eine Gebirgslandschaft erscheinen soll, dann hebt der Schauspieler langsam die offene Hand und hält sie in der Höhe der Augenbrauen still über dem Auge. Darf ich es Ihnen zeigen? F. Ich bitte Sie darum. (Der Japaner hebt und hält die Hand in der beschriebenen Weise.) F. Das ist allerdings eine Gebärde, in die sich ein Europäer kaum finden kann.« 369 Die Stille ist der Ort, wo alle Aktivitäten und Wirkungen konvergieren. Auf diesen Ort der »Stille« und der »Leere« verweisen die Ausdrücke in Kakyô, »den Körper sieben Zehntel bewegen«, aber auch der Ausdruck in Fûshi-kaden, »der Ort, wo nichts getan wird«. Das von Anfang an mehrdeutige »Gemeingefühl« bei Zeami eröffnet letztlich diese Ebene der Leere. Es ist die der Traumvision-Nô zugehörige Sinndimension. Diese sollte im Folgenden noch ein Stück weiter in der Weise einer Sinneslehre bzw. einer Phänomenologie entwickelt werden. Zuerst ist festzustellen, dass »der Ort, wo nichts getan wird«, der Zeit-Raum ist, in dem das Herz ganz gespannt und wach bleibt. Es ist leicht zu sehen, dass dieses »Herz« nicht ein Ich-Bewusstsein oder eine Reflexion, aber auch nicht der vom Körper unterschiedene Geist oder die Seele ist. Der Unterschied zwischen dem »Herzen« einerseits und dem »Geist« oder der »Seele« andererseits kann darin eingesehen werden, dass ein anderer Name bzw. die wahre Seinsweise des »Herzens« das »Nicht-Herz« genannt wird. Im Rang des Nicht-Herzens und im beruhigten Herzen, in dem mein Herz mir selbst gegenüber versteckt ist, soll man das Vorher und Nachher des Zwischen (ZeitRaums) des Nichts-Tun zusammenbinden. 370 Der höchste Zustand der Aktivität des Herzens ist das »NichtHerz«. Im »Herzen« ist die Negation seiner selbst sein wahrer Seinsmodus. Dieses kann weder von der »Seele« noch vom »Geist« gesagt werden. Allerdings, wenn es nur so gesagt wird, sieht das Gesagte 369 M. Heidegger, »Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden«, in: HGA, Bd. 12, S. 101/102. 370 Zeami, Kakyô, S. 321.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

wohl zu spekulativ aus. Andererseits wird jegliche begrifflich-reflexive Erklärung des »Nicht-Herzens« dieser Sache selbst widersprechen. Nur ein Weg der konkreten Beschreibung der Sache selbst wird weiteres Licht bringen. Hier ist mit Nachdruck zu bemerken, dass das »Herz« durch den »Körper« trainiert und ausgebildet werden kann, so dass unter Umständen der Rang des »Nicht-Herzens« durch diese körperliche Übung erreicht wird. Diese Ansicht war undenkbar in der traditionell-abendländischen Perspektive, in der »der Geist und der Körper« oder »der Leib und die Seele« immer dichotomisch aufgefasst wurden. Erst außerhalb der philosophischen Welt wird diese Ansicht beispielsweise in Form des »image training« im Sport praktiziert, was aber noch nicht dazu führt, die dichotomische Auffassung von Geist und Körper grundsätzlich in Frage zu stellen. Das von Zeami erörterte »Herz«, das der buddhistisch-östlichen Geistestradition entstammt, nimmt die veränderte, in der praktischen Erfahrung längst belegte Ansicht über Geist und Körper weit vorweg. Wenn man davon ausgeht, dass das Herz kraft des leiblichen Trainings das ganze Leben lang gestärkt wird, kann man die Rede Zeamis vom »Anfängerherz« verstehen. Sein Wort »Man darf das Anfängerherz nicht vergessen« verbreitete sich im Japanischen, meistens ohne dass die Leute wussten, dass es Zeamis Wort ist. Das Wort ist keine bloße Mahnung für die Anfänger, aber auch keine mahnende Erinnerung im Zen an die allererste Entschlossenheit des Übenden, der sich auf den Übungsweg begeben hat. Das von Zeami gemeinte Anfängerherz ist in jeder Stufe des Lebens zu finden. Deshalb gibt Zeami drei Arten des Anfängerherzens: erstens dasjenige überhaupt, unabhängig davon ob die Aufführungstechnik gut oder schlecht ist, da immer irgendeine Unreife vorhanden ist; zweitens dasjenige in der jeweiligen Zeit der Aufführung, die irgendwie noch verbesserungsbedürftig ist; drittens dasjenige im hohen Alter, im dem der Schauspieler nicht mehr jung und schön ist, aber dennoch eine ihm passende Rolle in einer gebührenden Weise spielen kann. Da es so ist, wenn man das ganze Leben ohne das Anfängerherz zu vergessen verbringt, (auch) den letzten Tanz mit steigendem Rang ausführt, wird das Nô am Ende nicht abfallen. 371 Für Zeami ist die Durchforschung und Bemeisterung des NôSpiels zugleich die Durchforschung und Bemeisterung des eigenen 371

A. a. O., S. 335.

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Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz

Lebens in der harten Welt. Das Nô-Spiel ist für ihn ein Weg des Lebens. So erschöpft sich das von ihm gemeinte »Gemeingefühl« nicht im ästhetischen Gefühl bei der Aufführung des Nô-Spiels oder der Beobachtung desselben. Das dort zustande kommende »un-gemeinsame Gemeingefühl« muss auch im menschlichen Gefühl überhaupt im gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Menschen gefunden werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass im vorliegenden Exkurs der Blumenspiegel Zeamis im Zusammenhang mit dem Problem des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« vorgestellt wird. Im letzten Abschnitt der ersten Hälfte des Kakyô gibt es eine Stelle, die wohl am radikalsten in paradoxer Weise auf den »un-gemeinsamen Gemeinsinn« verweist. Sie lautet: Ferner gibt es beim Tanz folgenden Sachverhalt: »Die Augen nach vorne, das Herz nach hinten setzen«. Dies bedeutet: Mit den Augen nach vorne schauen, aber das Herz im Ort hinten setzen, so dass man sich von hinten her sieht. Dieses ist mit der geistigen Haltung (yōjin) (auszuführen) wie im zuvor erwähnten Stil des Wissens vom Tanz. Die vom Zuschauerplatz aus gesehene Gestalt (des Schauspielers) ist meine (von mir, dem Schauspieler) abgeschiedene Sicht. Da es so ist, ist das, was mein Auge sieht, eine ich-(zentrierte) Sicht. Es ist nicht die Sicht der abgeschiedenen Sicht. Das, was mit der Sicht der abgeschiedenen Sicht gesehen wird, ist die Sicht im gleichen Herzen mit den Zuschauern. Wenn dies der Fall ist, erreicht man, die eigene Gestalt zu sehen. 372 Normalerweise sehen wir mit unseren Augen nach vorne, wobei wir zwar auch einigermaßen rechts und links sehen können, aber um die rechte oder die linke Seite direkt zu sehen, müssen wir uns nach rechts oder links wenden. Wir müssen dazu unser »Herz« rechts oder links setzen. Aber wir können in keinem Fall unser Herz im Ort hinten setzen und »die Sicht im gleichen Herzen mit den Zuschauern« haben. Jedoch sagt Zeami ganz ernst, dass man nur auf diese Weise »zum subtilen Tanz mit Blumengestalt und Edelsteinen gelangt«. 373 Er nennt dieses Geheimnis »riken no ken« (die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«). Das Adverb »abgeschieden« in der Übersetzung des Wortes Zeamis erinnert an den Begriff »abgescheidenheit« bei Meister Eck-

372 373

A. a. O., S. 302. A. a. O., S. 303.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

hart. 374 Diese Anlehnung an die Terminologie der deutschen Mystik zur Übersetzung eines Terminus des Nô-Spiels mag wie vorhin beim Zitieren des Gedankens Celibidaches zunächst wieder irritieren. Aber der Gedanke Eckharts einerseits, dass Gott in der »Abgeschiedenheit« sich entäußert und diese Abgeschiedenheit auch die Seinsweise des Menschen sein soll 375, und der mahayana-buddhistische Gedanke, dass die »Leere« zugleich die »Erscheinung« ist, was der Inhalt des Selbsterwachens des Menschen sein soll, stehen in einem Verhältnis von Fernnähe zueinander. Wenn also das Wort »Abgeschiedenheit« für die deutsche Übersetzung des Wortes Zeamis, die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«, herangezogen wird, so wäre das im Hinblick auf die tiefe Gemeinsamkeit zwischen der religiösen und der künstlerischen Erfahrung doch nicht sinnlos. Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« bedeutet, dass der NôSchauspieler ekstatisch außer seiner selbst steht und in der Perspektive der »Zuschauer« sich selbst sieht. Da er dadurch seine eigene Aufführungskunst sieht, bleibt er gewissermaßen doch in sich. Das »Ich« des Schauspielers ist nicht mehr das subjektive Ich, sondern das Ich, das sich entäußert, somit zum Nichts geworden ist, um sich »von der Welt her« zu sehen. Ansonsten bleibt »was mein Auge sieht, eine ich-(zentrierte) Sicht«. Aber Zeami ist kein Mystiker. Er erzählt wie immer konkret auf der Ebene der künstlerisch-körperlichen Erfahrung: 374 Eine paraphrasierende Zusammenfassung des Paragraphen »Von abgescheidenheit« in: Meister Eckhart, in: ders., Die deutschen und lateinischen Werke, herausgegeben und übersetzt von Josef Quint, Bd. 5, Stuttgart 1963, S. 400–434, sei hier versucht. Eckhart sagt, dass Gott trotz dieser Entäußerung seiner selbst in sich bleibt. Damit weist Eckhart auch darauf hin, dass Gott selbst nicht in der substanzialistischen Vorstellung des höchsten Guten oder des höchsten Seins erschöpft werden kann, sondern »das Nichts der Gottheit« ist. J. Quints Übersetzung (a. a. O., S. 539–547) wird auch berücksichtigt. Eckhart sagt, dass auch der Mensch diese »abegescheidenheit« zu seiner eigenen Seinsweise machen kann, wobei diese »abegescheidenheit« für ihn keine theologische Spekulation, sondern eine mystische Erfahrung war. Es ist zwar eine Frage, was mit »mystische Erfahrung« gemeint sein soll. Aber eines kann hier gesagt werden, dass bei Eckhart die Erfahrung »Gottes« zugleich die Erfahrung des eigenen »Selbst« ist. »Und daher, soll der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muß das geschehen durch Abgeschiedenheit. Die zieht dann den Menschen in Lauterkeit und von der Lauterkeit in Einfaltigkeit und von der Einfaltigkeit in Unwandelbarkeit, und die bringen eine Gleichheit zwischen Gott und dem Menschen hervor.« (Meister Eckhart, a. a. O., S. 542; die Übersetzung J. Quints zur Stelle Eckharts, a. a. O., S. 412). 375 Siehe die vorangehende Anmerkung.

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Die Sicht der abgeschiedenen Sicht und das Nicht-Herz

Wenn man erreicht, die eigene Gestalt zu sehen, sie (ich mich) von links und rechts, von vorne und hinten, obwohl man sich bereits von vorne, links und rechts sieht, kennt (man) dann schon (seine) Gestalt von hinten? Nimmt (man seine) Gestalt von hinten nicht wahr, kennt man nicht die ungehobelten Aspekte der (eigenen) Gestalt. 376 Physikalisch ist es zwar möglich, durch eine gewisse Kombination der Spiegel die eigene Gestalt von hinten wahrzunehmen. Aber die in dieser Weise gesehene Gestalt ist gerade nach wie vor die mit einer ich-zentrierten Sicht gesehene – und nicht meine von den »Anderen«, d. h. den Zuschauern, wahrgenommene Gestalt. In der Psychologie wird vom »Rückensinn« gesprochen. Dieser findet sich in unterschiedlichen Phänomenen: »Diesen Sinn besäßen auch die Tiere, speziell die Katzen; er lasse befreundete oder feindliche Personen im Dunkeln oder hinter unserem Rücken spürbar werden und sei besonders gut bei Dieben und von Tod oder Arrest Bedrohten entwickelt.« 377 Wer die schlimme Erfahrung gemacht hat, von hinten von einem Unbekannten überfallen worden zu sein, kann dieser Theorie des Rückensinnes zustimmen. Dabei wäre es nach wie vor die Frage, was dieser Rückensinn eigentlich sei. Wenn er das Phänomen der scharfen Empfindung wäre, wie sie etwa ein sensibler Mensch oder ein scharfsinniges Tier haben, wäre es gar nicht nötig, die »Abgeschiedenheit« Eckharts heranzuziehen. Denn es handelt sich dann allein um einen tierischen Instinkt, der am meisten ich-lich ist. Bei allen angegebenen Beispielen des Rückensinnes handelt es sich um die spezifischen Situationen von Dieben, von Tod oder von den vom Arrest Bedrohten, somit Situationen, in denen es um die eigene Existenz des Betroffenen geht. Zwar geschieht auch die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« in der Aufführung des Nô-Spiels als dem Ort, wo die interessierten Zuschauer dem Schauspieler zusehen, und insofern neigt man dazu zu meinen, es handele sich hier auch um den

Zeami, Kakyô, S. 302. W. Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, S. 5. (vgl. auch die Anm. 355 oben.) Naumann-Beyer schreibt hier deshalb im Konjunktiv, weil es sich nicht um ihre eigene Ansicht, sondern die von ihr zitierte Ansicht des italienischen Forschers Filippo Tommaso Marinetti handelt. Da ich Italienisch nicht beherrsche, erlaube ich mir, beim Zitat des Zitats bleiben, statt Marinetti direkt zu zitieren. 376 377

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Rückensinn des Schauspielers. Aber im Fall des Rückensinnes spürt der Mensch oder das Tier durchaus von sich ausgehend, was hinten nahe tritt. Das ist zwar ein scharfer Sinn der Empfindung für etwas, was hinten steht, nicht aber das Sehen des empfindenden Ichs, was nur in der Abgeschiedenheit vom Ich möglich wird. Der Rückensinn wird nach einem Gegenstand, der hinten steht, zugewendet, während die Sicht der abgeschiedenen Sicht das Sehen des eigenen Selbst mit den Augen der Anderen meint, im gleichen Herzen mit diesen. Das Subjekt der abgeschiedenen Sicht ist nicht mehr mein Ich, sondern die Zuschauer hinten. Das gesehene »Ich« ist dabei kein bloß passives Subjekt, sondern das durchaus aktive und willentliche, das in der wirklichen Welt mit der eigenen Kunst lebt, wobei allerdings dieses stark entschiedene Ich selbst als der Welt der Traumvision zugehörig betrachtet wird. Man kann diese Einsicht sogar mit dem »aktiven Nihilismus« Nietzsches vergleichen, was allerdings ein zu großes Thema ist, als dass es hier weiter behandelt werden kann. 378

6.

Das »un-gemeinsame Gemeingefühl«

Ist aber die Sicht im gleichen Herzen mit den Zuschauern eine ganz spezifische Erfahrung, die nur bei einem großen Meister und nicht bei einem gewöhnlichen Menschen möglich ist? Wenn es sich so verhält, so ist die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« kein besonders phänomenologisch zu betrachtendes Thema. Jedoch haben wir bisher gesehen, dass die Sinnlichkeit im Ich selbst die Tiefenschichten der Innerlichkeit und Geistigkeit birgt. So ist auch hier folgendes Wort Zeamis im Abschnitt der »Sicht der abgeschiedenen Sicht« nicht zu übersehen: Wieder und wieder sehe und erreiche ich bis zur letzten (Kleinigkeit) die Sicht der abgeschiedenen Sicht, begreife, dass das Auge

378 Das Thema »Nihilismus« mit den Aspekten des »aktiven Nihilismus«, »passiven Nihilismus«, »vollkommene Nihilismus« usw. beansprucht den Umfang eines Aufsatzes oder gar eines Buchs. Hier genüge aber nur der Hinweis auf die Stellen, um die es bei der Betrachtung des Themas gehen wird. Zusätzlich zu Also sprach Zarathustra vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889 (11–25), in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 13, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1980.

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Das »un-gemeinsame Gemeingefühl«

das Auge nicht sieht, und bedenke und sehe distinkt und klar links und rechts sowie von vorne und von hinten. 379 Der Ausdruck »das Auge sieht sich selbst nicht« ist eine geläufige Wendung im Buddhismus. Aber es wäre nicht nötig, diese Wendung nur auf den Buddhismus zu beschränken. Denn in der Aktivität des Sehens ist das Nicht-Sehen in dem Sinne, dass das Sehen sich selbst nicht sieht, als Wesensstruktur enthalten. Zeami weiß dieses Nicht-Sehen nicht als eine ungewöhnliche Fähigkeit, sondern als das, was die gewöhnlichen Menschen zwar besitzen, nicht aber bemerken. Vorhin wurde »der Ort, wo nichts getan wird« als das aufgefasst, von wo aus alle Gebärden, der Gesang, der Tanz usw. kommen und in das all dies zurückgeführt wird. So wird er in der zeitlichen Folge gesehen. Jetzt kann eine noch andere Auffassung konzipiert werden, wenn das »Nicht-Sehen« als das »nichts-getan-werden« vom Sehen überhaupt im Sehen selbst verstanden wird. Das Sehen heißt immer etwas Gegenständliches sehen, aber gerade inmitten dieses Sehens ist das Sehen selbst der Ort, wo das »nichts-getan-werden« des Sehens besteht. Denn das Sehen sieht das Sehen selbst nicht. Es handelt sich um das, was seit Aristoteles als das Problem der »noêsis noêseôs« in der philosophischen Erkenntnislehre ausgeklammert wurde. Das Wort Zeamis: »begreife, dass das Auge das Auge nicht sieht, und bedenke und sehe distinkt und klar links und rechts sowie von vorne und hinten« ist der Ausdruck dafür, dass und wie die im vorliegenden Buch bisher mehrmals zitierte philosophische Aporie von »noêsis noêseôs« in einer künstlerischen Erfahrung gelöst wird. Wie man sieht, ist dieses »Nicht-Sehen« kein Sonderfall, der nur von einem Meister der Kunst geleistet wird, sondern das, was bei jedem in dessen »Sehen« je und je geschieht. Aber gerade indem dieses Fundamentale der Erfahrung des Sehens von einem Meister in einer Kunstfertigkeit als die »Sicht der abgeschiedenen Sicht« verwirklicht wird, geschieht das Wundersame. Einerseits kommt es zustande, dass der Schauspieler »die Aufmerksamkeit des ganzen Publikums in seinen Feinsinn hineinzieht«. 380 Andererseits heißt es, dass der Schauspieler sich vergisst und mit den Augen der Zuschauer sich selbst sieht. Dies sei im Folgenden etwas weiter ausgeführt. Erstens wird man im Text Zeamis leicht bemerken, dass das »Sehen« bei ihm immer ein Entstehungsort des »Gemeingefühls« im 379 380

Zeami, Kakyô, S. 308. A. a. O., S. 303.

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Exkurs zum 2. Kapitel: Die »Sicht der abgeschiedenen Sicht«

Mitsein mit den Anderen ist. Das Gemeingefühl ist, um das bisher Gesagte zu wiederholen, zunächst der Gemeinsinn auf der Ebene der fünf Sinne wie Sehen, Hören, Riechen usw. Dann ist es das Gemeingefühl zwischen den Schauspielern und den Zuschauern in Form von Empfindung, Gefühl, Interesse, Begeisterung, Realitätsgefühl, Sympathie, Präsenzgefühl, Mitfühlen usw. Das ist genauer gesagt ein »un-gemeinsames Gemeingefühl«, das der Schauspieler im Einssein mit den Zuschauern hat. Dort »sieht«, d. h. »fühlt« der Schauspieler seine eigene Gestalt mit den Augen der Zuschauer. Das »Sehen« als der Entstehungsort eines »Gemeingefühls« wird im Kapitel »Über den gewandten Schauspieler, der das (bewegend-bewegte) Gemeingefühl kennt« in einer äußerst konzentrierten Form wie folgt beschrieben: Weiterhin soll es über den Rang des Anregenden hinaus die Ebene geben, auf der man ohne jeden Gedanken (im Herzen) ein erstauntes »Ach« ausruft. Dies ist das (bewegend-bewegte) Gemeingefühl. Es handelt sich hier um ein (bewegend-bewegtes) Gemeingefühl, bei dem man, da man ohne jeden Gedanken (im Herzen) ist, auch nicht empfindet, dass es anregend ist. Dies wird auch das »Unvermischte« genannt. 381 Das Gemeingefühl »Ach« ist der Konvergenzpunkt des »Gemeingefühls«. Selbst die Bezeichnung »anregend interessant« ist dort noch umständlich. Was dieses Gemeingefühl bewirkt, ist zwar die Aufführung des Schauspielers, aber dieser spielt »im gleichen Herzen mit den Zuschauern«. So ist dieses »Ach« auch das Gemeingefühl der Zuschauer. Der Schauspieler weiß, dass die Zuschauer ihm zusehen. Er wird in dieser Aufführung zu ihm selbst, wodurch sein Ich verschwindet. Dies ist der »Welt-Ort«, an dem der höchste Augenblick des Nô-Spiels gegenwärtig wird. In diesem un-gemeinsamen Gemeingefühl des »Ach« sieht der Schauspieler sich selbst im gleichen Herzen mit den Zuschauern, somit auch seine Gestalt von hinten. Er »fühlt«, d. h. »sieht« sich selbst mit dem Auge der Zuschauer von vorne, hinten, rechts, links. Er »sieht«, d. h. »fühlt« seine Gestalt auch von hinten. Er fühlt sie mit seinem »Leib des abgeschiedenen Leibes«, dessen Sehen und Fühlen je ein »un-gemeinsames Gemeingefühl« von den Schauspielern und den Zuschauern ist.

381

A. a. O., S. 314.

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Das »un-gemeinsame Gemeingefühl«

Zum Schluss und als Zusammenfassung ist darauf hinzuweisen, dass das »Ach« bei Zeami nicht unbedingt auf die Sondersituation der »Sicht der abgeschiedenen Sicht« im Nô-Spiel zu beschränken, sondern ein konzentrierter Ausdruck für den »un-gemeinsamen Gemeinsinn« im Allgemeinen ist. Wenn dieses »Ach« religiös verinnerlicht wird, so wird es der Ausdruck für die »unio mystica«, die im vorigen Kapitel dargestellt wurde. Es findet aber auch im Alltag in der Begegnung mit den Naturdingen immer wieder statt. Die erste Zeile des bekannten Gedichts William Blakes »The sick rose« lautet: »O Rose, thou art sick.« Zwischen diesem »O« Blakes und dem »Ach« Zeamis gibt es keinen wesentlichen Unterschied. In diesem »Ach« bleiben der Schauspieler und die Zuschauer durchaus voneinander verschiedene Wesen, und der Dichter wird keineswegs im materiellen Sinne zur kranken Rose selbst. Trotzdem »vereinigen sich« je die beiden Seiten miteinander. Die beiden Seiten befinden sich, gerade weil sie die »Anderen« zueinander sind, im diskontinuierlich-kontinuierlichen Verhältnis des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes«.

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3. Kapitel: Un-geselliges Gesellschaftspathos

Im Anschluss an eine Phänomenologie der Fünfsinne im ersten Kapitel des II. Teils wurde im vorigen zweiten Kapitel der seit Aristoteles überlieferte Begriff des »Gemeinsinnes« im Hinblick auf dessen innere Struktur als »der un-gemeinsame Gemeinsinn« bestimmt. Im Exkurs zu diesem Kapitel wurde weiterhin der vom Gründer des NôSpiels Zeami vorgelegte Begriff »kan« (»Gemeingefühl«) als das »ungemeinsame Gemeingefühl« beleuchtet. Dieses bleibt nicht nur die Sinnlichkeit der einzelnen menschlichen Existenzen, sondern ist auch der »un-gemeinsame Gemeinsinn«, der in der Gemeinschaft der Schauspieler und Zuschauer im Theater entsteht. Im vorliegenden Kapitel soll die »Gemeinschaft« nicht spezifisch in der Beschränkung auf das Theater, sondern als die Gemeinschaft im Allgemeinen betrachtet und das Gemeingefühl als das »un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos« bzw. das »un-gesellige Gesellschaftspathos«, wie im Folgenden zu sehen ist, herausgestellt werden.

1.

Einige Bemerkungen zu Michel Henry (i): Zu »pathos-avec«

Hier wird sich der Leser, der mit der phänomenologischen Forschung vertraut ist, an die Gedanken Michel Henrys über »pathos-avec« sowie über die »communauté« erinnern. Im vorliegenden Buch wurden bisher immer wieder Philosophen aus früheren Zeiten zitiert. Hier ist der Gedanke von Michel Henry etwas ausführlich heranzuziehen, damit der Anlauf zum Weiterdenken des Gemeinschaftspathos unternommen werden kann. Denn zwar deckt sich sein Gedanke, wie später gezeigt werden wird, nicht in allen Hinsichten mit dem Gedanken im vorliegenden Kapitel, aber er wird in einer im ausgezeichneten Sinne phänomenologischen Weise durchgeführt und gibt ein Beispiel für eine frühere Betrachtung des Gemeinschaftspathos. Henry schrieb seine Lehre des »pathos-avec« und der »commu260 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Einige Bemerkungen zu Michel Henry (i): Zu »pathos-avec«

nauté« in der Schrift seiner Reifezeit »Materielle Phänomenologie«. 382 Das von ihm konzipierte »pathos-avec« wird von ihm mit der »sym-pathie« gleichgesetzt, 383 und dieser Begriff ist ein mit der »Compassion« wesentlich verwandter Begriff. Aber nicht nur in der formal-begrifflichen Affinität, sondern auch im gedanklichen Inhalt stehen die Spätphilosophie Henrys und der jetzige Standort im vorliegenden Kapitel in einer wesentlichen »Nähe« zueinander, wenn diese auch, wie bald zu sehen ist, in eine »Ferne« umschlägt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die innere Verbindung der Lebensweise und der Denkweise bei Henry im Vergleich mit den rein akademisch-theoretischen Schul-Philosophen viel existenzieller ist. Im gleichen Jahr mit der Materiellen Phänomenologie (1990) publizierte er Du communisme au capitalisme: Théorie d’une catastrophe (Vom Kommunismus zum Kapitalismus. Theorie einer Katastrophe). Wenn man das nicht im Anschluss an das vierte Kapitel der Materiellen Phänomenologie, der »Phänomenologie der Gemeinschaft«, sieht, wird man dazu neigen, dieses Kapitel als ein bloßes Gedankenspiel ohne reale Erfahrung mit der Wirklichkeit der »Gemeinschaft« zu betrachten. Für ihn aber, der sich Ende des Zweiten Weltkriegs in der Résistance gegen das Nazi-Regime engagiert hat, war die politische Konstitution überhaupt als die Basis des gemeinschaftlichen Lebens das existenzielle Problem. So sagt er: »Das Wesen der Gemeinschaft ist das Leben« (»l’essence de la communauté est la vie«). 384 Früher war er Marxist. Als er aber 1976 zwei Bücher publizierte: Marx 1: Une philosophie de la réalité und »Marx 2: Une philosophie de l’économie«, hatte er bereits die miserable Wirklichkeit der kommunistischen Länder durch seine Reise dorthin erkannt. Von den Versuchen, das reale Bild Marx’ aus der Verstellung desselben durch die Kommunisten herauszustellen, ging er über zu Michel Henry, Phénoménologie matérielle, Paris 1990. Terminologisch wird das Wort »materiell« im Titel Henrys wohl in der bewussten Differenzierung von der »hyletischen Phänomenologie« Husserls verwendet. Es gibt allerdings eigentlich keinen Unterschied zwischen »Materie« und »Hyle«, außer dass das eine vom lateinischen und das andere vom griechischen Ausdruck abstammt. Im Folgenden wird bei jedem Zitat, wie bei Zitaten aus Levinas, jedes Mal das originale Wort bzw. der originale Satz trotz aller Umständlichkeit angegeben. Denn zwar sind die Formulierungen Henrys im Vergleich mit den oft schwer verdaulichen Formulierungen Levinas’ im Großen und Ganzen klarer, aber dennoch bleibt oft ein Unsicherheitsgefühl übrig, wenn ein französischer Ausdruck ins Deutsche übersetzt wird. 383 A. a. O., S. 140. 384 A. a. O., S. 161. 382

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

den Versuchen, durch die kritische Aneignung der husserlschen Phänomenologie leibesphänomenologisch die Philosophie des Lebens zu entwickeln. Aber die phänomenologische Erkenntnislehre allein genügte ihm nicht im Hinblick auf seine existenziellen Fragen. So begann er sich nach dem Erscheinen der zwei Bücher im Jahre 1990, Materielle Phänomenologie und Vom Kommunismus zum Kapitalismus. Die Theorie der Katastrophe, dem Christentum anzunähern. 1996 erschien C’est Moi la Vérité: Pour une philosophie du christianisme (»Ich bin die Wahrheit.«: Für eine Philosophie des Christentums), und im Jahr 2000 Une philosophie de la chair (Eine Philosophie des Fleisches). Im letzten Jahr seines Lebens publizierte er Paroles du Christ (Das Wort Christi). Wie im Folgenden zu sehen ist, ist sein Gedanke des »Lebens« und der »pathetischen Immediation« (»l’immédiation pathétique«) als die Arché der Wende in seiner Philosophie zu betrachten. 385 Henry weist in seiner Materiellen Phänomenologie wieder und wieder darauf hin, dass die Phänomenologie Husserls, die er hoch respektiert und zugleich hart kritisiert, das Leben als die »Selbstaffektion« (auto-affection) noematisiert, so dass dieses Leben, das durchaus die Selbstgabe (auto-donation) ist, sich der »Intentionalität« als der Grundansicht der husserlschen Phänomenologie entzieht. Das »Leben« selbst ist erst mit dem »Wort Christi« zu begreifen. Henrys »pathos-avec« ist das innerliche Prinzip des »Mitseins mit Christi« (l’être en commun avec le Christ), 386 das mit dem christlichen Terminus zu sagen die »Kommunion« ist. Die »Gleichzeitigkeit mit Christus«, so schon bei Kierkegaard, die im 5. Kapitel des Ersten Teils eingeführt wurde, ist nichts anderes als die »Kommunion mit Christus«. Die »Materielle Phänomenologie« ist der Wendepunkt zu seiner religiösen Phänomenologie. Aber im vorliegenden Kapitel ist auf seine materielle Phänomenologie selbst zu achten, und zwar aus zwei Gründen. Der eine ist, dass der Schnittpunkt Henrys bei seinem immanenten Durchbruch der transzendentalen Phänomenologie Husserls sich nicht wiederum 385 Da die »pathetische Immediation« (»l’immédiation pathétique«) im Text Henrys oft vorkommt, ist die Zitatstelle hier nicht angegeben. Sie ist ein zentraler Begriff in der materiellen Phänomenologie Henrys, und, wie später dargestellt wird, deckt sie sich teilweise mit der »reinen Erfahrung« bei K. Nishida. 386 A. a. O., S. 154. In der Materiellen Phänomenologie wird der Gedanke Kierkegaards etwas unverhofft zwei Mal zitiert, was als ein Vorzeichen dafür zu verstehen ist, dass sich Henry später der christlichen Religionsphilosophie zuwendet.

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Einige Bemerkungen zu Michel Henry (i): Zu »pathos-avec«

auf der Ebene derselben transzendentalen Reflexion bewegt, wie oft in der gewöhnlichen Husserl-Forschung, sondern aus einem existenziellen Bedürfnis gesetzt wird, so dass der genannte Schnittpunkt zugleich ein Einschnitt ins Wesen der transzendentalen Reflexion selbst wird. Der zweite Punkt ist, dass seine Einsicht den Anlauf zum letzten Kapitel im vorliegenden Buch anspornt und zugleich die von Henry verschiedene Richtung, die das vorliegende Buch einschlägt, sichtbar macht. Betrachten wir den ersten Grund konkreter, d. h. den Punkt der Husserl-Kritik Henrys. Er wird auf das Beispiel der Wahrnehmung eines Baums aufmerksam, der in der Phänomenologie Husserls als Hyle bzw. als Materie in seinen sinnlichen Gegebenheiten wahrgenommen wird. Diese Gegebenheiten gehören dem intentionalen Bewusstsein innerlich an, das aus ihnen den Baum als Baum »konstituiert«. Grob kann gesagt werden, dass die Erläuterung der »Konstitution des Gegenstandes« im intentionalen Bewusstsein der Kernpunkt der transzendentalen Phänomenologie ist. Ist dieses Bewusstsein der Akt der Noesis, so ist der durch es konstituierte Baum das Noema. Was für Henry problematisch bleibt, ist, dass »wenn ich einen Baum wahrnehme, dieser nicht reell in meinem wahrnehmenden Bewusstsein besteht«. 387 Dies ist zwar zunächst eine banale Aussage, dass der im Bewusstsein konstituierte Baum nicht der reelle Baum ist, aber dennoch wirft sie, wenn man die Bedeutung der »transzendentalen Phänomenologie« für die menschliche Existenz eigens ins Auge fasst, Fragen auf. Für Henry ist es freilich selbstverständlich, dass dies eine erkenntnistheoretisch zu erläuternde, wissenschaftliche Frage ist. Aber dennoch will er weiter in Frage stellen, »dass im Fall der sozusagen einzelnen Cogitatio der Wahrnehmung die Realität der Cogitatio sich der reinen Sicht dieser Wahrnehmung entzieht«. 388 Henry überprüft die Stelle, wo Husserl argumentiert, dass auch die »image« die absolute Gegebenheit ist, und schließt, dass letztlich dieselbe Sachlage besteht wie im Fall eines »Baums«. Dieses Problem wird ernst, wenn es sich um das Problem des »Anderen« handelt. Es

387 A. a. O., S. 13: »Quand je perçois un arbre, l’arbre n’est pas contenu réelement dans la conscience qui le perçoit, il ne fait pas partie de sa substance propre en quelque sorte.« 388 A. a. O., S. 105: »Que dans le cas de la soi-disant perception d’une cogitatio singulière, l’existence de celle-ci se dérobe en réalité a la vue pure de cette perception.«

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

erhebt sich die Frage, ob beim intentionalen Bewusstsein, wie es Husserl erörtert, der Andere als der noematisch konstituierte Gegenstand wirklich so aufgefasst wird, wie er der lebendig sich bewegende Andere ist. Husserl thematisiert das Problem des Anderen, wie jeder Husserl-Forscher weiß, als das des »Alter Ego«. In den Augen Henrys ist aber dieses »Alter Ego« letztlich wie der konstituierte Baum oder die konstituierte Farbe ein »Noema« des Bewusstseins, nicht aber das Wort für den real lebenden Anderen. Er lobt die Vorlesung Husserls »Die Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905« 389 als »den ohne Zweifel schönsten Text des Jahrhunderts«, aber zugleich im Anschluss daran bezeichnet er die von Husserl dort vollzogene »ur-architektonische Konstitution« als das »Vernichten der Philosophie des Lebens«. 390 Henry, der Husserl als seinen Lehrer in der Phänomenologie respektiert, aber »den Konkurs der Intentionalität« (la faillité de l’intentionalité) 391 erklärt, ist von Husserls Phänomenologie her gesehen kein Feind, der diese Phänomenologie aus Unverständnis von außen her angreift. Ein Feind solcher Art darf ignoriert werden. Aber Henry kennt sich in den inneren Gängen des Gebäudes der transzendentalen Phänomenologie aus und greift mit den eigenen Waffen in diesem Gebäude dessen innersten Raum an. Er ist der »Feind aus der eigenen Front«, der um der Rettung der »Philosophie des Lebens« willen die transzendentale Phänomenologie, die diese Philosophie vernichten kann, umgekehrt zu vernichten versucht.

2.

Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique«

Gehen wir zum zweiten Grund über, der die Folge des ersten Grundes und auch der Ort ist, wo die Nähe und Ferne zwischen Henry und dem vorliegenden Buch sichtbar werden. Es ist zu allererst festzuE. Husserl, Die Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein aus dem Jahre 1905, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 368– 498. 390 M. Henry, Phénoménologie matérielle, S. 31: »l’archi-constitution«. Henry verwendet das Wort »archi-« auch in dem Sinne, dass die Temporalität die »archi-tekstasis« ist, welche die »archi-phénomenalité« konstituiert. Das Wort »archi-« bei Henry impliziert also sowohl das »ur-« wie auch »archi-tektonisch«. 391 M. Henry, Phénoménologie matérielle, S. 9. 389

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Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique«

stellen, dass das, was die materielle Phänomenologie Henrys bezweckt, das reel-materielle »Leben« selbst ist, das sich als Folge der Noematisierung desselben dem Bewusstsein entzieht. Es ist das »Leben« als das lebendige »Andere« selbst, dessen Aufgehen Henry die »Selbstaffektion« (auto-affection) oder das »ur- und architektonische Geben« (archi-donation) nennt. Es ist, anders gesagt, das, was keineswegs noematisch bzw. gegenständlich gesehen werden kann und nur als die Erfahrung des Selbst, des sich in sich Vollziehenden gegenwärtig wird. Im Hinblick auf diese Selbstaffektion des Lebens akzeptiert Henry eher die Bestimmung der Phänomenologie Heideggers, der in Sein und Zeit wie folgt festhält: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen«. 392 Diese Bestimmung verbindet sich mit der These Henrys: »(…) die Erläuterung dessen, was dem Ich eigentümlich ist, beginnt nicht vom Ich, sondern vielmehr von der Welt her.« 393 Henry sagt dies eigentlich als Kritik am Ansatz Husserls beim »ego« in der transzendentalen Phänomenologie. Wenn aber dieses »ego« durchdacht und auf der Ebene des »soi« (Selbst), somit des »pathos avec« als der Selbstaffektion des Lebens, somit in der Dreiheit »die Welt, das Selbst, das Andere« aufgefasst wird, so gilt der Ansatz beim »soi« (Selbst) zugleich als der Ausgang »von der Welt her«. Er steht im Einklang mit der Einsicht, die im vorliegenden Buch (erster Teil, viertes Kapitel) als der Denkhorizont, »von der Welt her zu sehen«, erörtert wird. Um der späteren Darstellung willen ist noch darauf aufmerksam zu machen, dass sein Gedanke sich auch mit der »reinen Erfahrung« Nishidas deckt. Henry kannte wohl den Gedanken Nishidas nicht, was aber hier nicht wichtig ist. Um auf das obige Beispiel des Baums zurückzukommen, geht es darum, die Farbe, die Gestalt und die tastbare Oberfläche des Baums nicht als die »sinnlichen Daten« für das Ich als Subjekt, sondern in der direkten Erfahrung mit diesem Baum als die Selbstaffektion dieser Erfahrung selbst sozusagen »von der Welt her« zu begreifen, in der auch das Subjekt sich befindet. Dies wäre ein anderer Ausdruck für die oben erwähnte »pathetische Immediation«. Das »Pathos« ist innerlicher als die äußere Empfindung bzw. Wahrnehmung. Es ist der emotionale Zustand, in dem etwas auf M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, S. 46. M. Henry, Phénoménologie matérielle, S. 142 »(…) l’élucidation du propre à l’ego ne commence par celui-ci mais au contraire par le monde.« 392 393

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

der Ebene des »Gefühls« bzw. des »Willens« empfunden, gelitten, bearbeitet wird und der nicht bloß passiv, sondern aktiv die seelische Bewegung motiviert. Dieses Pathos ist der Ort bzw. Welt-Ort, in dem mein Inneres und die Wirkung von Seiten der Welt in eins werden. Die bloß räumliche Berührung mit einem Baum führt noch nicht zu dieser pathetischen Immediation. Diese ist die Sachlage, in der das »Berühren« des Baums zugleich das »Fühlen« im Sinne meiner innerlichen Bewegung ist und die Existenz des Anderen als die mit meinem Sein vereinigte gefühlt wird. Henry begreift diese pathetische Immediation durchaus als die Selbstaffektion bzw. das Erlebnis des Selbst (épreuve de soi) des Lebens. »Im Leben, durch die Selbstaffektion des Lebens, entsteht jedes Mal das Selbsterlebnis, als das der Lebende ist.« 394 Im Hinblick auf dieses Erlebnis der Selbstaffektion betrachtet Henry die Heidegger’sche Bestimmung der Phänomenologie als noch von der »griechischen Phänomenerfahrung« bedingt, vom »Sehen und Gesehen-werden«. Die von ihm gemeinte »Selbsterfahrung« wird nicht im Gebiet des »Sehens und des Gesehen-werdens« angesetzt. Sie ist das Nicht-zu-Sehende (non-vu) schlechthin: »Im Sehen (le voir) ist ständig ein Nicht-Sehen(un non-voir) und ein Nicht-zuSehendes (un non-vu).« 395 Was Henry hier sagt, ist keine neue Ansicht, sondern entspricht der alt- überlieferten, die sagt: »Das Auge sieht das Auge nicht«. Sie kann auch auf die im vorliegenden Buch mehrmals erwähnte »noêsis noêseôs« bezogen werden. Diese ist ein Grenzbegriff, der aber in der Tätigkeit der »noêsis« ständig gegenwärtig ist. Als das nicht im Denken zu begreifende Unsichtbare ist es zwar »mysteriös« (mysterieuse) 396, aber sie wird je und je in der realen Lebenserfahrung faktisch gegenwärtig. So bezeichnet Henry sie nicht nur als die »pathetische Immediation«, sondern auch als »das Ankommen des Lebens zu sich als die pathetische Selbstaffektion«. 397 Um nochmals die »reine Erfahrung« Nishidas zu erwähnen, so ist leicht zu sehen,

394 A. a. O., S. 177: »(…) que dans la vie et de par son auto-affection naît chaque fois cette épreuve de soi qu’est un vivant«. 395 A. a. O., S. 178. (»Il y a toujours dans le voir un non-voir et ainsi un non-vu qui le determinent entièrement.«) Ein beinahe gleicher Ausdruck ist auch auf S. 10 zu finden. 396 A. a. O., S. 26. 397 A. a. O., S. 8: »la venue en soi de la vie en tant que son auto-affection pathétique.«

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Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique«

dass die »pathetische Immediation« Henrys sehr nahe zu dieser »reinen Erfahrung« steht. Die reine Erfahrung (das reine Erlebnis) ist unmittelbar. So ist von der bisherigen Betrachtung her, die unmittelbare Erfahrung als den »Welt-Ort« aufgefasst zu haben, darauf zu achten, dass Henry seine »pathetische Immediation« in eins mit dem »Wesen der Gemeinschaft« denkt. 398 Dieses Denken weist auf die weitere Entwicklungsrichtung vom »Gemeinsinn« zum »Gemeingefühl« hin, wie wir sie bisher betrachtet haben. Das Wort Henrys »Pathos-mit« (pathos-avec) enthält in dessen Wörtchen »mit« (avec) schon den Hinweis auf die Existenz des Anderen. Dieser existiert, wie oben erörtert wurde, im Verhältnis von »un-gemeinsam« (non-communis) oder »un-gemeinschaftlich« (non-avec) zu mir. Das Pathos-mit besteht, indem es in sich das strukturelle Element dieses Un-gemeinsamen bzw. Un-gemeinschaftlichen enthält. So ist das Pathos-mit als »das un-gemeinschaftliche Pathosmit« zu bezeichnen. Henry verfolgt diese Aspekte des »un-« nicht, was für die Erörterung des Pathos-mit eine Grenze bedeutet. Denn dadurch wird die Einzigkeit bzw. einzige Individualität eines »Individuums« verfehlt. Für Henry gilt: »Die Gemeinschaft ist nichts anderes als das Zusammensein der lebenden Individuen.« 399 Dort wird die Subjektivität des Lebens als das »principium individuationis« angesehen. 400 Die Individuen und das Ganze der Gemeinschaft werden dann in ihrer Selbigkeit der »Selbstaffektion« gesehen. Allerdings wird dadurch ein Moment zu sehr, ein anderes zu wenig betont. Denn dadurch werden alle Individuen in ihrer selbigen Natur, als homogene Atome, und nicht in ihrer einzigen Einzelheit gesehen. Die Fremdheit des »Anderen« wird dort verdeckt. Zwar redet Henry auch vom »Abgrund, in dem und durch den 398 Dazu sind zwei Zitate anzuführen. Das eine lautet: »L’essence de la communauté est la vie, tout communauté est une communauté de vivants« (S. 161; dt.: »Das Wesen der Gemeinschaft ist das Leben; alle Gemeinschaften sind die der Lebenden.«). Das andere: »Nous pouvons souffrir avec tout ce qui souffre, il y a un pathos-avec qui est la forme la plus large de toute communauté concevable.« (S. 179; dt.: »Wir können mit allem, was leidet, leiden; es gibt »pathos-avec«, das die denkbar breiteste Form aller Gemeinschaften.«) 399 A. a. O., S. 163: »La communauté n’est rien d’autre que cet ensemble d’invidus vivants.« 400 A. a. O., S. 163. Henry schreibt dieses Wort kursiv.

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

der Andere der Andere ist«. 401 Aber weil er wohl davon überzeugt ist, dass dieser Abgrund durch das gemeinschaftliche Pathos-mit des Lebens überbrückt werden kann, thematisiert er nicht weiter die Struktur dieser Brücke, die in sich die Diskontinuität der Trennung hat. Die Individuen zueinander wie auch sie und die Ganzheit werden von vornherein als vom »Leben« als ihrem Gemeinsamen überbrückt angesehen. Insofern kann er sagen: »Die Gemeinschaft ist ein Apriori« 402 Zwar kann dieser Apriorismus des Lebens den Aspekt der pathetischen Gebundenheit gut zum Ausdruck bringen, aber er sieht das wesentliche Element der Un-gebundenheit in ihr nicht ganz. Er sieht zwar die romantische Seite einer Gebundenheit, nicht aber deren Wirklichkeit. Im Bezug auf die Betrachtung des »Anderen« überhaupt lässt er Zweifel daran aufkommen, ob er den Anderen nach wie vor noch vom »ichlichen« Pathos sieht. Eine Möglichkeit muss bestehen, dass die Kritik Henrys an Heidegger, dieser bewege sich noch im subjektiven Gesichtskreis des »Sehens und Gesehen-werdens«, wie ein Boomerang zu Henry selbst zurückkommt. Denn solange man sich auf die Position des Lebens stützt, das sich selbst unbedingt erhalten will, und diese Selbsterhaltung die Grundtendenz des Subjektes ist, muss man notwendigerweise die Subjektivität als die Bedingung des Bestehens desselben annehmen. Um Henry gegenüber gerecht zu sein, ist zu bemerken, dass er sich wie folgt äußert: »Der Andere wird mir gegeben, und zwar in der Weise, dass ich ihn in meinem eigenen Leben finde, in einer bestimmten Weise, dass er in mir ist.« 403 Diese Äußerung ist der Formulierung nach genau dieselbe Einsicht wie Nishidas: »Im Grunde meiner Existenz bist Du, und im Grunde Deiner Existenz bin Ich.« 404 Aber bei Henry werden die Anderen und Ich vom gemeinsamen Allgemeinen, A. a. O., S. 176: »l’Abîme dans et par lequel l’autre est l’autre.« A. a. O., S. 175: »La communauté est un a priori.« 403 A. a. O., S. 137: »l’autre m’est donne, en sorte que je le trouve dans ma propre vie et que, d’une certaine façon, il est en moi.« 404 Nishida, Alte Ausgabe, Bd. VI, S. 381, Nishida, Neue Ausgabe, Bd. V, S. 297. Ausführlicher lautet diese Textstelle (in der Übersetzung des Verfassers) wie folgt: »Ich und Du sind voneinander absolut verschieden. Es gibt kein Allgemeines, das sowohl das Mich wie auch das Dich umfasst. Aber das Ich ist Ich, indem das Ich Dich anerkennt, und das Du ist Du, indem das Du Mich anerkennt. Im Grunde meiner Existenz bist Du, und im Grunde Deiner Existenz bin Ich. Das Ich verbindet Mich mit Dir durch Meinen Grund hindurch, und das Du verbindet Dich mit Mir durch Deinen Grund. Die beiden verbinden sich miteinander, weil sie voneinander absolut verschieden sind.« (Ebd.) 401 402

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Bemerkungen zu Michel Henry (ii): Tragweite der »immédiation pathétique«

dem »Leben«, her gesehen, und die Andersheit der Anderen wird nicht problematisiert. 405 Als Folge des »Apriorismus des Lebens« entfernt sich Henry auch vom harten Problem des Todes. Dieser ist das, durch das – als die absolute Negativität – der Mensch auf seine ihm allein zugehörende vereinzelte Seinsweise zurückgeführt wird, und eben deshalb zugleich die Quelle seiner einzigen Existenz. Es scheint aber, dass die leidenschaftlich pathetische »Philosophie des Lebens« Henrys der Kälte der Negativität des »Todes« ausgewichen ist. Auch wenn er die Gemeinschaft als die »Gemeinschaft mit den Toten« (la communauté avec les mortes) bestimmt, 406 so kommt dieser Ausdruck bei Henry doch etwas isoliert vor, ohne Zusammenhang mit dem Kontext der Darstellung. Die »materielle Phänomenologie« Henrys tritt nicht über die Bahn der »Philosophie des Lebens« hinaus. Insofern hat seine Phänomenologie im Grunde denselben Grundcharakter wie bei Merleau-Ponty und Husserl. Um diese Bemerkung etwas zu erweitern, ist der/das von Henry betrachtete »Andere« wie im Fall von Levinas auf den anderen »Menschen« beschränkt, und das »Andere« im Sinne des »Dinges« wird nicht ins Auge gefasst. 407 Vom Gesichtspunkt des vorliegenden Buchs her gesehen, zeigt aber das unorganisch-impersonale »Ding« die Andersheit des Anderen weiter und tiefer als der personale Andere. Das von Henry gemeinte »Pathos-mit« (pathos-avec) ist trotz des von ihm selber angegebenen Beispiels des »Baums« das Pathos des existenziellen Humanismus, das auf die personale Gemeinschaft be405 Seine Ansicht ist in dieser Hinsicht, um ebenfalls einen japanischen Autor heranzuziehen, eher der vitalistischen Romantik der »Lehre des Innenlebens« Tôkoku Kitamuras (1868–1894) als der Philosophie Nishidas näher. Tôkoku Kitamura, Naibu seimei-ron (Über das innere Leben), in: Gendai Nihon Bungaku Taikei, Bd. 6: Sammlung von Tôkokku Kitamura, Aizan Yamaji), Tôkyô 1969. Die Romantik Kitamuras, der im Alter von 25 Jahren Suizid beging, war allerdings eine Äußerung seiner literarischen Leidenschaft ohne besonders philosophische Gedanken. Deshalb ist es zwar Henry gegenüber ungerecht, wenn man seine echt phänomenologisch-existenzielle Philosophie mit der Romantik Kitamuras gleichsetzt. Aber in der vitalistischen Ansicht, die Leidenschaft des Lebens zum fundamentalen Gesichtspunkt zu machen, haben die beiden doch eine Gemeinsamkeit. 406 Michel Henry, Phénoménologie matérielle, S. 154. 407 Bei Henry werden die Wörter »autrui« und »l’autre« wie bei Levinas oft synonym verwendet. Im Französischen liegt darin prinzipiell kein Problem. Aber in dem Fall, dass die »Dinge« und der »Tod« als die »Anderen« bzw. das »Andere« in Betracht gezogen werden, ist die Differenzierung der Wörter »autrui« und »l’autre« unentbehrlich.

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schränkt wird. Zwar ist der Humanismus besonders in der ethischen Hinsicht ein zu respektierendes, die Menschen sozial verpflichtendes und insofern beizubehaltendes Gedankenerbe des Menschen. Aber er überschreitet die Grenze des Anthropozentrismus nicht. Dort wird das seit alters her vor allem in den religiösen Reflexionen als das Kernproblem bedachte menschliche »Ich« eher als das fundamentale Prinzip anerkannt. Die Fragen bezüglich des »Ich« bleiben unberührt bestehen. Sie betreffen nicht nur die Seele des Menschen, sondern auch die Natur als die Dingwelt. Wenn z. B. die Naturwelt als die Umwelt vom Standpunkt des Anthropozentrismus aufgefasst wird und die Natur im »Schutz« des Menschen gepflegt wird, so entsteht die Tendenz, dass die Natürlichkeit der Natur grundlegend in Frage gestellt wird. Zwar wäre es eine zugespitzte Argumentation, zu sagen, dass der Humanismus die Umweltzerstörung der Gegenwart eher beschleunigt. Aber andererseits dürften viele Menschen fühlen, dass die Rede vom Naturschutz allzu oft Heuchelei und eine Ausrede des Menschen bleibt. Um zu Henry zurückzukommen, so scheint die im ausgezeichneten Sinne phänomenologische Denkweise Henrys trotz der oder gerade wegen des Überrests der humanistischen Bedingtheit eine Möglichkeit anzubieten, diese Bedingtheit des Humanismus zumindest ansatzweise zu überwinden. Ein etwas längeres Zitat sei angeführt: »Wenn hier das Wort ›Erfahrung mit dem Anderen‹ genutzt werden kann, wie kann sich jedes der Mitglieder einer Gemeinschaft im Leben auf den Anderen beziehen, wenn nicht in einer Welt? Weil diese anfängliche, kaum denkbare Erfahrung mit dem Anderen sich allem Denken entzieht, existiert der Lebende in dieser Erfahrung nicht für sich, so wenig wie der Andere für sich. Er ist nicht anders als ein reines Erlebnis ohne Subjekt, ohne Horizont, ohne Bedeutung, ohne Objekt.« 408 Dieser Satz formuliert eine zentrale These der Philosophie Henrys, indem der Gedanke des »Pathos-mit« weitergeführt wird. Er zeigt, dass Henry prinzipiell nicht auf der Seite Tôkoku Kitamuras, Phénoménologie matérielle, S. 178: »Comment, s’il faut dire ici un mot de l’expérience d’autrui, chacun des membres de la communauté se rapporte-t-il à l’autre dans la vie, avant que ce soit dans un monde? En cette expérience primitive à peine pensable, parce qu’elle échappe à toute pensée, le vivant n’est pas pour lui-même non plus que l’autre, il n’est qu’une pure épreuve, sans sujet, sans horizon, sans signification, sans objet.«

408

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Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere

sondern auf der Nishidas steht. »Ein reines Erlebnis ohne Subjekt, ohne Horizont, ohne Bedeutung, ohne Objekt« heißt, dass die »IchZentriertheit« verschwindet und der Andere nicht mehr vom »Ich« her gesehen, sondern in einer »pathetischen Immediation« erfahren wird. Der genannte Satz sagt weiterhin im Grunde dasselbe, was das andere obige Zitat sagte: »Im Sehen ist ständig ein Nicht-Sehen und ein Nicht-zu-Sehendes.« Denn sie verweisen beide auf das, was nicht in einem Satz »Es ist das und das« ausgedrückt wird, was nicht »noematisiert« wird, somit das, »was keinerlei Seiendes ist«, somit das Nichts. Allerdings ist dieses kein leeres Nihil, sondern ein tätiges Nichts. Man braucht bei dieser Rede vom Nichts keine Mystifizierung zu befürchten. Denn dieses Nichts ist in jeder unserer Sinneserfahrungen ständig gegenwärtig, was im dritten Kapitel im ersten Teil in der Weise der »Sinnesvergessenheit« aufgezeigt wurde. D. h., es ist in dem Sinne das, was als der Akt des Fühlens selbst nicht zum Gegenstand des Fühlens wird. Es befindet sich zwar in einer »Vergessenheit«, aber es ist dennoch als das sinnliche Faktum in jedem Akt des Fühlens gegenwärtig. Wenn Henry dieses tätige »Nichts« in seinem »reinen Erlebnis« gesehen hat, so muss es diesseits des Ausdrucks »materiell« stehen, da das Materielle immer noch als ein Gegenständliches zu bestimmen ist. Sein »reines Erlebnis« war der Zenit und zugleich der Durchbruch seiner »materiellen« Phänomenologie. In seinen Schriften hat Henry diesen Zenit erreicht, ohne dass er ihn weiterentwickelt, als hätte er geahnt, dass, wenn er einen Schritt weiter tut, seine materielle Phänomenologie stürzt. Wenn es sich so verhält, wie oben beschrieben, so besteht die Aufforderung, den Zenit Henrys als Anregung zum Weiterdenken im vorliegenden Kapitel zu nehmen.

3.

Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere

Das »Pathos« Henrys steht im Einklang mit dem griechischen Wort »paschein«, dem »Leiden« (souffrir). »Wir können leiden mit allen, die leiden«. (»Nous pouvons souffrir avec tout ce qui souffre.«) Eine Gemeinschaft ist deshalb Gemeinschaft, weil in ihr die Mitglieder mehr oder weniger ihr Leiden mit den Anderen teilen. Die Phänomene, die bisher auf der individuellen Ebene des »Mitgefühls der Indivi271 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Un-geselliges Gesellschaftspathos

duen« betrachtet wurden, können terminologisch als das »Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftspathos« bezeichnet werden, das, um es mit einem ›runden‹ deutschen Wort zu sagen, auch »Mitleidenschaft« genannt werden kann. 409 Es ist vorauszusehen, dass, was an einem Individuum als der »un-gemeinsame Gemeinsinn« zu sehen war, sich jetzt als das »ungemeinschaftliche Gemeinschaftspathos« bzw. das »un-gesellige Gesellschaftspathos« zeigen wird. Diese Formulierung mag künstlich und rau klingen. Aber sie ist kein reiner Einfall des Verfassers, sondern teilweise von Kant entliehen. Dieser gebraucht einmal den Ausdruck »die ungesellige Geselligkeit«. 410 Er bezeichnet diese zugleich auch als »einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isoliren)«. Er fasst also die »Einzelheit« des Menschen als das innerliche Element der »Geselligkeit« auf. Diese Auffassung gilt eben auch vom »un-geselligen Gesellschaftspathos« im vorliegenden Kapitel. Das Verhältnis von Herr und Knecht, das als ein exemplarischer Fall für den »un-gemeinsamen Gemeinsinn« betrachtet wurde, war ein personales Verhältnis von »Individuum und Individuum«. Aber was solch ein personales Verhältnis in sich bestehen lässt, die »Institution«, die »Gruppen«, die »Organisation« usw., ist nicht bloß personal, sondern auch gemeinschaftlich bzw. gesellschaftlich. Sie tragen die beiden Charaktere, den personalen und impersonalen, und bilden die jeweilige »Gemeinschaft« bzw. »Gesellschaft«. 411 Solange sie das 409 Als der Verfasser eines Tages mit Professor Jürgen Manemann, dem Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, über »Compassion« einen Gedankenaustausch führte, hat dieser »Mitleidenschaft« zum Verständnis der »Compassion« vorgeschlagen. Das in diesem Wort enthaltene »mit-« verweist auf das gesellschaftliche Verhältnis, und das »Leiden« auf »Pathos«. Es steht auch im Einklang mit dem von Henry auf Französisch erfundenen »pathos-avec«. 410 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Akademie Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 21. 411 Soziologisch sollten zwar »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« im Hinblick auf das klassisch gewordene Buch Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Berlin 1887, voneinander unterschieden werden. Aber im »Exkurs« über die Gewaltkritik, der dem vorliegenden Kapitel folgt, wird dargestellt, dass dieser Unterschied auch nicht unantastbar ist. Die Gemeinschaft und die Gesellschaft könnten in der Unterscheidung der einzelnen und existenziellen Lebensformen als ein Genre angesehen werden. Um dabei die Möglichkeit der Differenzierung nicht auszuschließen, wird im vorliegenden Kapitel die Schreibweise »Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftspathos« verwendet.

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Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere

Recht und die Fähigkeit haben, die eigene Entscheidung durch sich selbst zu treffen, sind sie personal. Sie werden deshalb »Rechtsperson« genannt. Jede Körperschaft ist eine Rechtsperson: die Bildungskörperschaft, die religiöse Körperschaft, die gemeinnützige Stiftung, die Genossenschaft usw. Sie sind aber andererseits auch impersonale und gefühllose Institutionen, die einen materiellen bzw. einen »Ding«-Charakter haben. Sie bilden die Umwelt, in der die Menschen eingeschlossen und bestimmt werden, während diese Menschen ihrerseits sie bestimmen und bilden. Die impersonale Rechtsperson ist mit diesen zwei Aspekten das die zugehörenden Mitglieder verwaltende »umgebende Andere«. Die rechtliche Bedeutung und Struktur dieses umwelthaft einschließenden Anderen ist das Gebiet, das der »Rechtswissenschaft« zu überlassen ist. Aber es gibt auch die Probleme, die eigens in der »Ethik« bzw. der »Phänomenologie« in Betracht gezogen werden sollen. Ein Beispiel dafür ist das Problem des »Anderen«. Wir empfinden, wenn wir einer Institution oder einer Organisation ausgesetzt werden, diese bald als die Basis unserer Tätigkeit, bald als eine zurückweisende Wand. Die Institution oder die Organisation können sich bald als unsere Lebensbasis in einer homogenen Vertrautheit, bald als das uns Entfremdende in einer Fremdheit zeigen. Diese beiden Seiten sind wohl voneinander untrennbar, auch wenn eine Seite vorwiegend in den Vordergrund kommt. Als die Stätte, in der die Gemeinschaft in unmittelbarer Erfahrung begegnet, gilt, wie im Folgenden erklärt wird, das »un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos«. Nach dem Muster des platonischen Dialogs Politeia ist dieses Gemeinschaftspathos anhand des »Staates« zu betrachten. Das wirkliche Thema dieses Dialogs ist die »Gerechtigkeit«. Der Grund dafür, dass Platon bei der Betrachtung der Gerechtigkeit den »Staat« thematisiert, liegt in seinem phänomenologischen bzw. heuristischen Ansatz. Er lässt eine Person wie folgt reden: »(…) wie wenn uns jemand befohlen hätte, sehr kleine Buchstaben von weitem zu lesen, obwohl wir nicht eben sehr scharf sehen, und wenn dann einer gewahr würde, daß dieselbe Buchstaben auch anderwärts größer und an Größerem zu schauen wären, das würde uns offenbar, denke ich, ein großer Fund sein, nachdem wir diese zuerst gelesen, dann erst die kleineren zu betrachten, ob sie wirklich dieselben sind.« 412 412

Die Übersetzung Friedrich Schleiermachers in: Platon. Sämtliche Werke 3, Ham-

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

Die Gemeinschaft bzw. die Gesellschaft, die bei der Betrachtung des un-geselligen Gesellschaftspathos in Frage kommt, befindet sich zwar auf einer langen Skala. Der Staat ist der Zenit dieser Skala. Er ist einerseits als die Lebensbasis ein homogenes Anderes, aber andererseits auch darin einzigartig und ausgezeichnet, dass es die »Souveränität« hat. Als das homogene Andere im Sinne der Lebensbasis, aber auch als die entfremdende Macht ist er überwältigend. Als Rechtsperson ist er ein personaler Anderes, aber als die gefühllose Institution ist er ein impersonales Anderes mit »Dingcharakter«. Er hat wegen seiner Vergänglichkeit auch mit dem »Tod« zu tun. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein Staat die permanente Existenz erhält. Das durchschnittliche Alter eines Staats, das man in der Weltgeschichte beobachtet, ist gar nicht so hoch. 413 Andererseits vergöttlicht ein Staat oft, indem er auf seine Existenz stolz ist, seine Souveränität. Der später zu erörternde Leviathan Hobbes’ war die Allegorie des Staates in der Gestalt des »sterblichen Gottes«. Kurz: Der Staat ist als Rechtsperson der personale Andere, aber auch der impersonale in Form eines »Dinges«, und gelegentlich das burg 1958, S. 106). Übrigens wird im neu erschienenen großen Buch Yutaka Maruhashis, Philosophie der Herrschaft des Rechts und des Dialogs. Eine Untersuchung des platonischen Dialogs ›Nomoi‹ (jap.), Kyôto 2017, ausgeführt, dass und wie innerhalb der Platon-Forschung diskutiert wird, ob die »Gerechtigkeit« im Dialog »Nomoi« und in der Ideenlehre im Staat eine Einheit bilden oder einen Spalt in sich bergen. Maruhashi zeigt, dass und wie die Frage, ob bei Platon »der Vorrang des Guten vor der Gerechtigkeit« oder »der Vorrang der Gerechtigkeit vor dem Guten« herrscht, in den gegenwärtigen Debatten über den »Liberalismus« in den USA und Europa rege diskutiert werden. Maruhashi selber versucht, seine fundierten Ansichten in diesem Buch zu entwickeln. Es ist übrigens nach wie vor zu überlegen, wie die auf Japanisch publizierten akademischen Untersuchungen in den USA und Europa zugänglich gemacht werden können. 413 Wenn der Staat und das Volk gleichgesetzt werden, wie im Fall des »Volksstaates«, ist die Lebensdauer des Staates mit jener des Volks gleich. Aber der Staat als politische Institution ist ein Wesen, das in der Geschichte entsteht und vergeht und ständig die Möglichkeit in sich hat, zusammenzubrechen. Es ist noch frisch im Gedächtnis, dass 1990 die Deutsche Demokratische Republik und 1991 die Sowjetunion aufgelöst wurden. In der Perspektive der in der UN registrierten Staaten wurde 1961 die Vereinigte Arabische Republik aufgelöst, nachdem Syrien austrat. Taiwan, das bis 1971 ein permanentes Mitglied des Sicherheitsrates der UN war, musste diese Stelle der Regierung in Beijing übergeben und wird nicht als »Staat« anerkannt. Palästina erhielt 2012 in der UN die Stelle als »Observer« ohne Stimmrecht, aber noch nicht als Staat. Entstehen und Vergehen sind wie die beiden Seiten einer Münze. Es sei darauf hingewiesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Afrika und Asien viele »Emerging Nations« entstanden sind, was heute noch im Gang ist.

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Der »Staat« als das souverän-umgebende Andere

Antlitz des non-personalen Anderen, des »Todes«, und kann auch ein hyper-personaler Anderer sein, dessen extremer Fall die Vergöttlichung seiner selbst ist, was in einem führenden Oberhaupt personifiziert wird. Im Alltag erscheint er als der umgebende Andere, der die Lebensbasis des Volks bietet, obwohl er gelegentlich eine entfremdende Macht ist. Bei der phänomenologischen Betrachtung des »Staates als eines Anderen« muss der Gesichtsort eine unmittelbare Erfahrung sein, die der Ort ist, an dem das Staat-sein gegenwärtig wird. Das »un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos« soll als ein solcher Welt-Ort aufgefasst werden. Empirisch ist der Ort, an dem das umgebende Andere, der Staat, unmittelbar erfahren wird, vielartig. Das Parlament, die Verfassung, der Krieg könnten je als solcher Ort gelten, aber von diesen haben wir meistens nur indirekt Kenntnis, die im gewöhnlichen Alltag durch die Medien mitgeteilt wird. Wohl jedem leicht einfallende Beispiele wären: eine Auslandsreise, bei der man einen Reisepass haben und die Währung wechseln muss, oder die Aufnahme von und der Umgang mit Flüchtlingen, Spannungen wegen territorialer Konflikte usw. An diesen Orten zeigt sich der Staat unversehens hinter, unter, vor oder über mir. Sie sind je ein »Welt-Ort«. Um die Wirklichkeit des uns lebensweltlich umgebenden Anderen, den Staat, sowie die diesen gegenüberstehenden Anderen durch eine quantitative Analytik zu erkennen, muss man zwar natürlich die quantifizierten Daten wie die der Ökonomie, des Militärs, der politischen Institutionen, der Bevölkerung, der Landesfläche usw. wissen. Aber jedem rationalen Verständnis des »Sinnes« dieser Daten geht die sinnliche Erfahrung mit diesen uns umgebenden Anderen voran. Ob man z. B. ein freundliches oder feindseliges Gefühl hat und an diesen Anderen interessiert oder desinteressiert ist, ist vor-bestimmend für jedes intellektuelle Verständnis. Diese verschiedenen Arten der unmittelbaren Erfahrung mit dem Staat als dem umgebenden Anderen lassen sich terminologisch als Modi des »un-gemeinschaftlichen Gemeinschaftspathos« bestimmen. Diese Bestimmung wird prinzipiell für jede Gemeinschaft auf der Skala der Rechtspersonen gelten.

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

4.

Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes

Zwei Gedanken über den Staat sind heranzuziehen, um die »phänomenologische« Zugangsart auszuzeichnen. Der eine ist die drei-stufige Dialektik von »Familie – Bürgergesellschaft – Staat«, die Hegel im dritten Teil seiner »Rechtsphilosophie«, in der »Sittlichkeit«, sowie im »objektiven Geist« im dritten Teil der »Enzyklopädie«, in der Philosophie des Geistes, entwickelt hat. 414 Der zweite Gedanke ist die »Logik der Spezies«, die Hajime Tanabe durch die kritische Übernahme und die logische Präzisierung der hegelschen Logik entwickelt hat. 415 Der Letztere bleibt in der westlichen philosophischen Welt beinahe unbekannt, weil seine Schriften kaum in Übersetzungen zugänglich gemacht worden sind. Aber im Hinblick auf die logische Strenge und die Größe der Konzeption ist seine »Logik der Spezies« auch jenseits der Hegel-Forschung eine originelle Philosophie. Der erste Grund dafür, dass hier Hegels und Tanabes Staatslehre herangezogen werden, ist, dass sie, gerade als große klassische Werke, eine deutliche Zeitgrenze aufweisen. Der »Staat«, den Hegel erörtert, ist nicht ohne den Bezug auf das Staatsbild, das in damaligen Preußen verwirklicht war, zu verstehen. Dies ist der gleiche Umstand, dass der von Platon entworfene »Staat« die Polis war, deren Muster Athen gewesen war. Auch die Auffassung des Staates bei Tanabe war der Versuch, in der Auseinandersetzung mit der damaligen marxistischen Theorie und dem extrem-rechten Patriotismus eine philosophisch begründete Staatsraison aufzubauen. Heute sind die Phänomene, die bei der Betrachtung des Staates berücksichtigt werden, nicht mehr die gleichen wie die damaligen. Aber der zweite Grund ist für die vorliegende Betrachtung noch wichtiger, nämlich dass die beiden Denker ihre Staatsphilosophie bewusst logisch entwickelt haben. Die Stärke des Logismus ist, die Wesensstruktur begrifflich zu fassen, aber die prekäre Tendenz ist, die logische Begrifflichkeit der Betrachtung der Wirklichkeit vorangehen zu lassen. Das logische Gefüge der hegelschen Staatslehre ist die spe-

414 G. W. F. Hegel, Grundlinie der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 7, Dritter Teil: »Die Sittlichkeit« (S. 292–514) 415 Vgl. den Verfasser, Shu-no-ronri Saikô (Betrachtung zur Logik der Spezies), in: Hajime Tanabe – Philosophie und Erinnerung (jap.), herausgegeben von Yoshinori Takeuchi, Kazuo Mutô, Kôichi Tsujimura, Tôkyô 1991, S. 104–130.

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Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes

kulative Dialektik, die er in der »Wissenschaft der Logik« entwickelt hat. Tanabes logisches Gefüge, die »Logik der Spezies«, war die »Dialektik der absoluten Vermittlung«, die dieser durch die Übernahme der hegelschen Idee der absoluten Vermittlung entwickelt hat. 416 Das jeweilige logische Gefüge sollte eigentlich das sein, was durch die Betrachtung der realen Wirklichkeit eines Staates als Lebewesen durch dessen Verlauf von Aufgang und Untergang herausgestellt wird. Aber begleitend ist dabei eine gewisse Tendenz, die realen »Staatsphänomene« durch den Brillenrahmen des Logismus hindurch ins Auge zu fassen und im Voraus zu bestimmen. Als Folge erhebt sich die Frage, inwieweit der von Hegel oder von Tanabe betrachtete »Staat« den mannigfaltigen Staatsformen im 21. Jahrhundert entspricht. Die phänomenologische Betrachtung des »Staates« sollte ihren Ansatz in der unmittelbaren Erfahrung bzw. im »Welt-Ort« haben, an dem das Staat-sein erschlossen wird. In der real-wirklichen Welt ist die konkrete Form des Welt-Ortes, an dem der Staat als das umgebende Andere direkt erfahren wird, verschiedenartig. Das Parlament, die Verfassung, der Krieg usw. könnten Orte solcher Erfahrung sein, aber im gewöhnlichen Alltag erfährt man sie meistens in Form der durch die Berichte oder Lektüre erworbenen, mittelbaren Kenntnisse. Der Ort, den jeder erleben kann, wäre z. B. das allgemeine und häufige Gefühl von »gerecht / ungerecht« bzw. »gleich berechtigt / ungleich berechtigt«, somit das Gefühl der »Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit«. Dies ist kein beliebiger Einfall, sondern wird in den klassischen Staatslehren belegt. Zwei vorlaufende Modelle sind zu erwähnen: Der vorhin bereits erwähnte platonische Dialog Politeia und Hobbes’ Leviathan. Die Berücksichtigung dieser zwei Beispiele wird zur weiteren Bildung des phänomenologischen Gesichtsortes im vorliegenden Kapitel führen. Die genannte platonische Methode der Betrachtung der Gerechtigkeit am Staat setzt auch auf die Anschauung, dass das Staat-sein mit dem Gefühl der »Gerechtigkeit« erfahren wird. Auch in den antiken Staaten taucht die »Gerechtigkeit« mit den Phänomenen des Profites, der Entfremdung, der Spaltung, usw. auf und hat »Ungerechtigkeit« als Kehrseite. Dasselbe gilt auch in der neuzeitlichen 416 Hegel nutzt, wie bereits vorhin erwähnt, im Kapitel »Herr und Knecht« in der Phänomenologie des Geistes das Wort »die absolute Vermittlung«, ohne dieses weiter zu thematisieren. Vgl. G. W. F. Hegel, a. a. O., S. 144, 149 f.

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Staatslehre in Hobbes’ Leviathan. Nicht nur bei Hobbes, sondern auch bei Descartes, Locke, Rousseau bis Hegel sieht man leicht, dass in ihrer Philosophie des Rechts und des Staates die »Gerechtigkeit« immer eine Hauptachse bildet. Und die »Gerechtigkeit« ist, wie im Fall der »Schönheit«, eine Sache, die man, bevor man sie begrifflich erkennt, im Pathos des »Gerechtigkeitssinnes« erfährt. Dabei wird sich dieses Pathos als ein Gemeinschaftspathos ergeben, was beispielsweise in dem Fall ausdrücklich wird, dass eine fürchterliche Gewalt von vielen Menschen als ungerecht gefühlt wird und diese Menschen empört. Allerdings kommt es auch öfters vor, dass eine in den Augen der einen Seite ungerechte Gewalt in den Augen der anderen Seite eher eine gerechte Tätigkeit ist. Die Gerechtigkeit ist ein exemplarischer Fall des »un-gemeinschaftlichen Gemeinschaftspathos«, in dem die Andersheit bzw. Fremdheit der Anderen zum Ausdruck kommt. Der »Staat« ist ein exemplarischer Ort, an dem dieser Fall sich entfaltet. Zur Zeit der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne ist der Begriff des »Staates« – wie auch dessen institutionelle Struktur – je sehr anders. Aber in einem Punkt gäbe es eine große Gemeinsamkeit, nämlich, dass die »Staatsinstitution« und der »Gerechtigkeitssinn« miteinander verbunden werden. Der Staat ist immer die Integrierungsform der Gemeinschaften/Gesellschaften, und das Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftspathos muss zu dem Band dieser Gemeinschaft gehören. Was Platon in seinem Entwurf der Idee des idealen Staats konkret erörtert, ist: Lebensmittel, die Wohnung, die Kleider, die Währung, die Erziehung, die Gesetze usw. Diese alle sind mit dem Gefühl »gerecht / ungerecht« bzw. »gleich berechtigt / ungleich berechtigt«, somit mit dem Gefühl der »Gerechtigkeit / Ungerechtigkeit«, verbunden. Sie haben alle irgendwie zu tun mit den problematischen Situationen von Nachteil, Entfremdung, Trennung, Spaltung usw. Übrigens, wenn man an die neuere Diskussionslage denkt, die von der Gerechtigkeitslehre von John Rawls, A Theory of Justice, 1971 ausging, 417 so sieht man, dass es dort nicht um den »Staat«, sondern um die »Gesellschaft« geht. Eine »Rechtfertigung« des Themas »Staat« sollte hier eingefügt werden, damit dieses Thema nicht als veraltet außer Acht gelassen wird. 417 John Rawls, A Theory of Justice, Harvard University Press, Cambridge, Mass., Belknap 1971.

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Zwar wird die Gerechtigkeitslehre Rawls’ oft als Rechtfertigung des »Wohlfahrtsstaats« ausgelegt, so dass man bei ihm ohne weiteres eine Staatslehre erwarten darf. Aber er selber entfaltet seinen Gedanken ständig im Kontext von »social contract«, »social cooperation«, »social organisation« etc. innerhalb eines demokratischen Staates, und der Gesichtspunkt »Staat« kommt bei ihm nicht in den Vordergrund. Da Rawls die Schrift Lockes Second Treatise of Government und Rousseaus Contrat Social neben den ethischen Schriften Kants und Hobbes’ Leviathan als seine Vorläufer betrachtet, 418 ist es etwas verwunderlich, dass er den »Staat« nicht problematisiert. Aber in Wirklichkeit setzt er stillschweigend den modern-demokratischen »Staat« voraus, in dem »liberty« und »equality« als fundamentale Rechte der Bürgergesellschaft prinzipiell gesichert sind und die »rational choice« immer möglich ist. Unter der Voraussetzung dieses demokratischen Staates entfaltet Rawls seine Thesen über »justice as fairness«. Der unrationale Staat, in dem diese »rational choice« unmöglich ist, ist nicht sein Thema. 419 Nehmen wir ein Schiff an, das von Flüchtlingen überfüllt ist und auf dem Ozean treibt. Innerhalb der Gemeinschaft auf dem Schiff könnte die Lehre Rawls’ von der »justice as fairness« gut herangezogen werden. Aber das Schicksal des Schiffs und der Flüchtlinge auf ihm wird von der Politik der Staaten entschieden, die je mit Souveränität versehen sind. Das Problem der »justice as fairness« unter den souveränen Staaten ist von dem der souveränitätslosen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft dimensional unterschieden. Das Thema »Staat« muss auch im Problemzusammenhang der »Gerechtigkeit« als unausschließbares auftauchen. In diesem Zusammenhang bleibt die von Platon vorgegebene Blickrichtung unüberholt. Dieses Thema ist zwar zu groß, als dass es in einem kleinen Abschnitt ausgeführt werden könnte. Aber ein fundamentaler GesichtsRawls selber gibt diese vier Schriften in diesem Kontext an. Vgl. A. a. O., S. 207. Zwar zieht Rawls die »ignorance« bezüglich der Ökonomie und Politik als Störungsmoment der »justice als fairness« ausführlich in Betracht (a. a. O., S. 217 f.). Aber die so aufgefasste »ignorance« ist der Zustand, der prinzipiell zu einem »Wissen« aufgeklärt werden kann, und nicht die »ignorance« als Folge der Beraubung der Meinungsfreiheit in einem diktatorischen oder totalitären Staat. Der Staat ist das umfassende Andere, das auch eine solche Grenzsituation herbeiführen kann. Zu Rawls’ Idee von der »Gerechtigkeit« vgl. die oben in Anm. 5 angegebene Ansicht Tatsuo Inoues von der »Gerechtigkeit als Conviviality«. Inoues Ansicht ist eine aus der Perspektive der Rechtswissenschaft geäußerte, dem vorliegenden Gedanken der »Compassion« affine Idee. 418 419

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ort zur Betrachtung könnte versuchsweise angegeben werden, indem Hobbes’ Leviathan aus einer anderen Perspektive als jener Rawls’ hier erneut herangezogen wird. Dort wird neben den Begriffen wie »country«, »state«, »civil society«, »civitas«, die alle mehr oder weniger so etwas wie den »Staat« meinen, das Wort »commonwealth« genutzt, und zwar beinahe als der zentrale Begriff. Es gibt zwar in der Forschungsliteratur viele Hinweise und Anmerkungen zu diesem Wort in der Differenzierung von anderen Begriffen und zu dessen historischem Bedeutungswandel. Aber im Problemzusammenhang des vorliegenden Buchs genüge es, »commonwealth« als die »Gemeinschaft/Gesellschaft« zu verstehen, die den Zwischencharakter zwischen Staat und Bürgergesellschaft im heutigen Sinne trägt. Im genannten Problemzusammenhang ist zuerst darauf aufmerksam zu machen, dass diese »commonwealth« als der »künstliche Mensch« (artificial man) bezeichnet wird. 420 Dies wäre der erste Ausdruck für die »Rechtsperson«. Für eine Person ist die »Souveränität« die künstliche Seele. Unter dieser Souveränität sind die »Beamten« künstliche Glieder, die »Belohnung und Bestrafung« sind die künstlichen Nerven, die »Gleichheit« (equity) ist die künstliche Vernunft, die »Gesetze« (laws) sind der Wille, und der »Bürgerkrieg« ist das Sterben. 421 Zwar ist dieser künstliche Mensch ein Machwerk des Menschen, aber mächtiger als der Mensch, so dass er »Leviathan« benannt wird, wie jener im Buch »Hiob«, 41,1–34, beschriebene. Obwohl Hobbes das Phänomen der modernen technologischen Welt, dass das vom Menschen Hergestellte den Menschen treibt und entfremdet, noch nicht thematisiert, kommt er bereits auf die Idee, dass die Technik (art) die automatische Maschine (automata) herstellt, 422 was die heutige künstliche Intelligenz eben heute entwirft. Die Erinnerung an den »Leviathan« ist nicht nur geistesgeschichtlich von Interesse, was auch aus Folgendem ersichtlich wird: Hobbes hat zur Erklärung dieses künstlichen Menschen drei Gesichtspunkte angegeben. Der eine ist die Materie dieses künstlichen Menschen, d. h. der »Mensch«; der zweite ist der »Vertrag« (covenance), der auf dem Zutrauen zueinander besteht, und der dritte ist die 420 Thomas Hobbes, Leviathan, edited with an introduction by C. B. Macpherson, Penguin Books, New York 1971, S. 81. 421 Ebd. 422 Ebd.

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Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes

»christliche Commonwealth«, d.h die Kirchenlehre. Die ersten zwei decken sich wie in der platonischen Staatslehre mit der Betrachtung der menschlichen Natur. Für das vorliegende Kapitel, in dem es um das un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos geht, ist es wichtig, dass die Staatslehre mit der Sinneslehre beginnt. Die »Gerechtigkeit« taucht im Horizont dieser Sinneslehre auf. Das Thema des ersten Kapitels des Leviathan ist die »Sinnlichkeit« (sense), und das des zweiten Kapitels die »Einbildung« (imagination). Im Anschluss an diese Kapitel werden im sechsten Kapitel unter dem Thema »Pathos« (passion) das Gefühl, der Wille und die Stimmung betrachtet. Ausgehend von dieser Betrachtung der menschlichen Natur wird ab dem vierzehnten Kapitel der Gedanke des »Naturgesetzes« als der zentrale Gedanke der hobbesschen Staatslehre entwickelt. Die Idee der »Gerechtigkeit« taucht im Horizont dieses Gedankens auf. »And in this law of Nature, consisteth the Fountain and Origin of JUSTICE. For where no Convenant hath preceeded, there hath no Right been transferred, and every man has right to everything; and consequently, no action can be Unjust. But when a Covenant is made, then to break it is Unjust.« 423 Bei Hobbes beginnt die »Gerechtigkeit« mit dem Aufbau der »commonwealth«, und dies deckt sich mit dem platonischen Ansatz, dass die Gerechtigkeit im »Staat« beobachtet wird. Der Unterschied ist, dass bei Platon die Gerechtigkeit als »Idea« aufgefasst wurde, während sie bei Hobbes nicht im Rahmen der Ideenlehre, sondern im Gesichtsort des Empirismus betrachtet wird. Dieser Unterschied verweist auf den historischen Wandel von der griechischen Antike zur europäischen Neuzeit. Die These, dass die Idee der Gerechtigkeit mit dem Aufbau der »commonwealth« entsteht, ist ein anderer Ausdruck für die These, die Hobbes im dritten Teil seiner dreiteiligen Schrift Elementa philosophia (Grundzüge der Philosophie) 424, »De Cive« (Vom Bürger),

A. a. O., S. 202. Der dritte Teil »De Cive« (Vom Bürger) in der Schrift »Elementa philosophie« wurde 1640 verfasst, erschien aber 1647, früher als die ersten zwei Teile, die 1855 und 1858 erschienen. Da der Leviathan 1651 erschien, ist die Entstehungszeit der Schrift »De Cive« die früheste unter den Hauptschriften Hobbes. Die deutsche Übersetzung von Karl Schuhmann erschien in der Philosophischen Bibliothek, Hamburg, Meiner 1997. 423 424

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zitiert und die sich seitdem verbreitet hat: »Der Mensch ist dem Menschen gegenüber ein Wolf« (homo homini lupus). 425 Im natürlichen Zustand, in dem die Commonwealth noch nicht existiert, gibt es weder die Idee der Gerechtigkeit noch die des Unrechten, so dass jeder dem Anderen gegenüber ein Wolf ist. Es sei hier nicht zu problematisieren, ob diese These den Wölfen gegenüber ungerecht wäre, zumal diese in einer Gemeinschaft ein Gruppenleben führen. Hier zitieren wir ein anderes Wort, das neben dem oben angeführten steht: »Der Mensch ist dem Menschen gegenüber Gott.« (Homo homini deus.) Das Wort ist der Verweis auf den Zustand, in dem die Commonwealth bereits besteht und der Mensch mit den Tugenden der Gerechtigkeit, Liebe, Friedlichkeit usw. sich dem imago dei annähert. Hobbes nimmt hier prinzipiell den Gedanken Rousseaus über den »sozialen Vertrag« vorweg, aus dem er seine Staatslehre entwickelt. Die These im Leviathan, die der genannten These »Der Mensch ist dem Menschen Wolf« entspricht, lautet: »Außerhalb des sozialen Zustandes steht jeder im Krieg gegen jeden.« 426 Das Kapitel, in dem diese These ausgesprochen wird, thematisiert den Naturzustand (natural condition) bezüglich der Glückseligkeit (felicity) und der Misere (misery), wobei der Ausgangspunkt lautet: »Der Mensch ist von Natur aus gleichberechtigt« (Men by nature Equal). 427 Gerade auf Grund dieser Gleichheit entsteht auch die »Schüchternheit« (diffidence) 428, und aus dem Misstrauen entsteht der Krieg. 429 Von daher folgt die These: »Jeder steht jedem gegenüber im Krieg.« Es wäre zunächst eine überraschende Ansicht, dass der sozusagen positive Sozialzustand der »Gleichheit« zum negativen Zustand des »Kriegs« führt. Aber vom Gesichtspunkt des »un-gemeinschaftlichen Gemeinschaftspathos« her gesehen ist sie die wesentliche Einsicht. Denn dass jeder »gleich« ist, bedeutet nicht das Verschwindenlassen der Andersheit des Anderen, sondern vielmehr diese Andersheit durch Differenzierung hervorzuheben. Dies wird leicht verstanWidmung Hobbes’ für William Cavendish, 3rd Earl of Devonshire, dessen Hauslehrer Hobbes war. 426 T. Hobbes, Leviathan, Kap. 13, S. 185: »Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man, against every man.« 427 A. a. O., S. 183. 428 A. a. O., S. 184. 429 A. a. O., S. 184. 425

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Gerechtigkeit und Staat – Platon, Hegel, Tanabe, Rawls, und Hobbes

den werden, wenn man sich vorstellt, dass dem Erwachsenen und dem kleinen Kind gleiches Essen gegeben wird oder dass Mann und Frau zu derselben Kraftarbeit verpflichtet werden. Die Gleichheit mit dem Anderen meint keine Masse des homogenen Elementes. Sie muss immer ein Element der Andersheit der Anderen in sich enthalten und die »un-gleiche Gleichheit« sein. Dasselbe muss auch vom »Frieden« gelten als dem anderen Pol des Kriegs. Hobbes sagt: »Die Passionen, die mich zum Frieden bewegen, sind die Angst vor dem Tod, die Suche nach den für das bequeme Leben benötigten Dingen und die Hoffnung, durch Fleiß und Eifer diese zu gewinnen.« 430 Diese »Passionen« werden zwar von den Individuen gehegt, da letztere aber eine Gemeinschaft bildende Individuen sind, ist die Passion ein Gemeinschafts- und Gesellschaftspathos. Und letzteres muss, da es immer die Andersheit der Anderen als inneres Moment in sich hat, das un-gemeinschaftliche Gemeinschaftsund Gesellschaftspathos sein. Wenn nicht, dann würden die Passionen zum Frieden zum Totalitarismus führen, der die Andersheit zwischen den Anderen sowie die Einzigkeit der Individuen unterdrückt und innerliche Konflikte bei den Mitgliedern verursacht. Das Gemeinschafts- und Gesellschaftspathos in Form des Strebens nach dem Frieden ist auch ein un-gemeinschaftliches Gemeinschafts- und Gesellschaftspathos. Von der »Gerechtigkeit« als dem repräsentablen Pathos der Gemeinschaft / Gesellschaft muss dasselbe gelten. Nach Hobbes existiert die Gerechtigkeit nicht im Krieg, 431 sondern im sozialen Zustand. Aber gerade darin, dass um dieses sozialen Zustandes willen der Staat »Leviathan« konzipiert wird, ist zu sehen, dass die wirkliche Welt ständig die Möglichkeit hat, in den a-sozialen Zustand bzw., mit dem Wort Hobbes’ gesagt, »Naturzustand« zurückzugehen. Dies bedeutet, dass die Gerechtigkeit zu ihrem Bestehen ein Element in sich hat, das »vor« der Gerechtigkeit existiert und insofern wesentlich »un-gerecht« ist. Gerechtigkeit ist eine Sachlage, die anders strukturiert ist als der paradoxale Gedanke Lao-Tses: »Geraten die Staaten in Verwirrung, so gibt es die treuen Beamten.« 432 Bei Lao-Tse stehen 430 A. a. O., S. 188: »The Passions that encline men to Peace, are Feare of Death; Desire of such things as are necessary to commodious living; and a Hope by their Industry to obtain them.« 431 A. a. O., S. 188. 432 Lao-Tse, Tao te king, Kap. 18, übersetzt von Richard Wilhelm, Jena, Diederichs 1923.

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

Ordnung und Unordnung im Gegensatz zueinander. Aber jetzt handelt es sich um die widersprüchliche Selbstidentität der Idee der Gerechtigkeit selbst. Diese ist immer wesentlich die »un-gerechte Gerechtigkeit«. Das betonte Hervorheben des Elements des »un-« im un-gemeinschaftlichen Gemeinschaftspathos stammt hier aus der praktischen Sicht auf den »Staat« in der heutigen Wirklichkeit. Es ist beinahe vierhundert Jahre her, dass Hobbes den »Staat« als Leviathan konzipiert hat, in dem die Gerechtigkeit verwirklicht werden soll. Beinahe vierhundert Jahre sind seitdem vorbei, und es gibt im Jahre 2018 in der UNO insgesamt 193 Staaten, die als Mitglieder registriert sind. Da Hobbes den »Leviathan« in der singulären Form erörtert, wird in seiner Schrift das Problem der Gegensätze zwischen den Staaten nicht ins Auge gefasst. 433 Aber wenn es 193 »Leviathane« auf der Erde nebeneinander gibt, so ist das Mitsein miteinander bzw. das Verhältnis zueinander heute ein unausweichliches Thema. Denn kaum einer wird meinen, dass sie, anstatt den anderen gegenüber, der Seinsweise Gottes näher stehen. Die »Leviathane« leben nebeneinander, indem sie durch Kompromisse nach dem möglichen oder besseren Mitsein mit den Anderen suchen, aber zugleich ständig die schwachen Punkte ihrer Gegner herausfinden wollen. Dabei schlägt die Idee der »Gerechtigkeit«, wenn sie ohne Reflexion oder gar als das Wort für die eigene Rechtfertigung verwendet wird, ins Gegenteil der Idee um. Diese Möglichkeit ist keine zufällig hängenbleibende. Denn die Gerechtigkeit als der Welt-Ort der unmittelbaren Erfahrung des Staats ist ständig mit dem Trieb der eigenen ›raison d’être‹ und der instinktiven Selbsterfahrung verbunden. Die Möglichkeit, dass die »Gerechtigkeit« in die Selbstbehauptung des »wölfischen« Egos umschlägt, ist wesentlich. Dies sollte wiederum anhand des »Staats« betrachtet werden, wobei der Fokus auf den Begriff der »Souveränität« gesetzt wird.

433 Es ist allerdings ein Kurzschluss, dieses so einfach zu sagen, da Hobbes im Kapitel 29 darstellt, dass der Monarch, wenn er im Krieg verliert, zum »subject« des Siegers werden muss und in diesem Fall seine Untertanen zu Untertanen des Siegers werden. Aber die strukturelle Dynamik der Monarchen, die als die Souveränen im Gegensatz zueinander stehen, wird in seiner Schrift nicht thematisch entwickelt.

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Staatspathos und Staatssouveränität

5.

Staatspathos und Staatssouveränität

Da der Begriff »Souveränität« ein juristischer Begriff ist, ist die fachliche Bestimmung desselben der Rechtswissenschaft zu überlassen. Es gibt aber auch einige Aspekte, die philosophisch in Betracht gezogen werden sollen. Dieser Begriff ist das Schlüsselwort des zweiten Teils des Leviathan. Es ist das »Souveräne«, und seine Macht ist »absolut«. 434 Wenn man dies so schreibt, mag es etwas formalistisch klingen. Was aber damit gesagt wird, ist was man an den alltäglichen Phänomenen immer wieder erlebt, wie z. B. bei einer Passkontrolle oder an einer Staatsgrenze. Der Beamte an der Kontrollstelle repräsentiert seinen Staat, er hat die absolute Autorität. Bis er nicht mit dem Kopf nickt, kann keiner durch die Kontrollstelle hindurchgehen. Der »Staat«, der mit dem Gemeinschafts- bzw. Gesellschaftspathos der Gerechtigkeit erfahren wird, ist ein Subjekt versehen mit dieser »Souveränität«. Die Institutionen in einem Staat haben zwar auch eigene Rechte und Entscheidungsfähigkeit, diese bleiben aber relativ und sind den oberen Institutionen unterworfen. Aber die Souveränität des Staates steht an der Spitze der Skala, auf der alle innerstaatlichen Rechte letztlich verwaltet werden. In philosophischer Perspektive entspricht der Begriff der Souveränität dem kantischen Begriff der »Person« als des »Reichs der Zwecke«. Nach Kant ist unter den Geschöpfen nur die Person das, was nicht als »Mittel« zu einem Zweck dient, sondern der »Zweck« selbst ist und als das Subjekt des moralischen Gesetzes gilt, das den kategorischen Imperativ »Du sollst tun« ausspricht. 435 Wenn das moralische Gesetz durch das Gesetz des Staates ersetzt wird, wird die »Person« zur »Souveränität«. Auch Hobbes nennt Commonwealth »eine Person« (One Person) und denjenigen, der diese Persönlichkeit trägt, den »Souverän« (Soveraigne). 436 Die »Souveränität« ist also das Extreme des »Ich«, das in Form des Staates erweitert wird. Sie drückt also das Recht aus, das prinzipiell von jedem Individuum als Untertan (»subject«) des Monarchen in Form der einzelnen Person, aber in der sublimen Form vom Monarchen als dem personifizierten Staat besessen wird. 437 434 Thomas Hobbes, Leviathan, edited with an introduction by C. B. Macpherson, Penguin Books, New York 1971, Kap. 20, S. 260. 435 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 87. 436 T. Hobbes, Leviathan, S. 228. 437 Gerade in dieser Zweiseitigkeit des Begriffs der Souveränität liegt wohl der Grund dafür, dass die Philosophie Hobbes’ einerseits als die Ideologie des Absolutismus, aber

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Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass es heute auch quasi-Staaten, d. h. Staaten ohne Souveränität, gibt. Die heutigen Staaten bestehen sehr oft aus verschiedenen Völkern, und einige Völker in diesen Staaten beanspruchen, ein souveräner Staat zu sein. Mongolen in der Volksrepublik China, Tschetschenen in Russland, Kurden in der Türkei, Nord-Iren in England, Basken in Spanien, um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Liste der Staaten in den Vereinten Nationen entnimmt man leicht, dass es die internationale Machtpolitik und nicht ein vernünftiges Kriterium ist, was der Entscheidung zugrunde liegt, ob ein Land als souveräner Staat anerkannt wird oder nicht, was typischerweise am Beispiel Taiwans oder Palästinas zu sehen ist. 438 Kleine ethnische Gruppen, die im Wald leben, indem sie die Zivilisation ablehnen, haben keinen tatsächlichen Bezug zu irgendeinem Staat, somit keine Souveränität, die nach außen erklärt wird, aber sie leben inmitten der großen Natur, die ihnen als die Basis der Existenz gilt, so dass ihre Existenzsphäre eher eine Art »Welt« als ein Staat zu nennen ist. Solange diese »Souveränität« nur im Sinne des Prinzips der Selbstbehauptung und Selbstbestimmung zum Prinzip des Staates gemacht wird, besteht gerade ein Umgekehrtes von dem, was in der oben zitierten (Anm. 408) Formulierung Henrys gesagt wird: nicht Gerechtigkeit als das Gemeinschaftspathos wird zum »reinen Erlebnis des Subjektes, im Horizont des Subjektes, das dem Objekt gegenübersteht.« Dies heißt, dass die Staaten, wenn sie im Naturzustand bleiben, zu »Wölfen« werden. Wie Hegel im Anschluss an die Dialektik von »Herr und Knecht« die »gegenseitige Anerkennung« als das Verhältnis der Selbstbewusstseine zueinander konzipierte, wie unten nochmals dargestellt werden wird, so ist hier der Weg denkbar, dass die Wolfstaaten klüger werden, indem sie zum sicheren Mitsein miteinander Kompromisse ausmachen und Verhandlungen führen. In der Tat hat andererseits als die Lehre der »Bürgergesellschaft« aufgefasst wurde. Hier ist aber kein Platz, auf diese große historische Kontroverse einzugehen. 438 Taiwan war ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, bis 1971 zugunsten der Volksrepublik Chinas abgestimmt wurde und Taiwan aus der UNO austrat. Die Diskussion, ob der Austritt Taiwans juristisch gültig war, ob Taiwan zumindest formell nach wie vor Mitglied im Sicherheitsrat bleibt usw., ist gar nicht einfach. Palästina wurde 2012 als »United Nations General Assembly observer«, aber noch nicht als »Staat«, anerkannt, was ebenfalls als ein Resultat der internationalen Machtpolitik zu verstehen ist.

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Staatspathos und Staatssouveränität

sich die Weltgeschichte teilweise mit diesen Bemühungen fortentwickelt. Allerdings wurde sie auch vom Eindruck begleitet, dass es eher so ist, wie die buddhistische Mythologie von den Seelen der im zarten Alter verstorbenen Kinder sagt, die unaufhörlich und vergeblich in der Vorhölle Kieselsteine aufeinanderlegen. 439 Aber die Suche nach einem Ersatzprinzip wird ein erfolgloser Versuch bleiben, da die Souveränität doch ein unentbehrlicher Begriff für das fundamentale Menschenrecht und für die unverletzbare absolute Macht des Staates ist. Wenn es überhaupt eine andere Aussicht geben soll, dann nur die, dass im Begriff »Souveränität« selbst eine neue bzw. verborgene Sinnschicht herausgestellt wird. Es sollte die Sinnschicht sein, in der die Souveränität, formal gesagt, in ihrer Wesensnatur als die »nonsouveräne Souveränität« sichtbar wird. Es sei daran zu erinnern, dass vorhin der Staat als der »umgebende Andere« bestimmt wurde. Er teilt die Charaktere des personalen, impersonalen, non-personalen, hyper-personalen Anderen. Die Seinsweise von »umgebend« setzt dabei die Singularität des Staates, der seine Mitglieder umgibt. Es wurde nun aber auch gesehen, dass jetzt 193 »Staaten« in der UNO gezählt werden. Der Staat taucht auch in der Pluralität auf, womit das Verhältnis der »Staaten in Form der Anderen zueinander« in Betracht gezogen werden muss. Dies war zwar rechtswissenschaftlich längst allzu selbstverständlich, aber es scheint, dass die Diskussionslage noch nicht so weitreichend ist, dass der Begriff »Souveränität« selbst philosophisch überprüft worden ist. Die Situation, in der ein Souverän sich mit einem anderen Souverän auseinandersetzt, wurde von Hobbes nicht ins Auge gefasst. Hegel hat sie aber mit dem Wort der »gegenseitigen Anerkennung« betrachtet, wobei er allerdings anstelle der »Souveränität« das Wort »Selbständigkeit« verwendete. Die beiden Begriffe decken sich inhaltlich miteinander. Bis die gegenseitige Anerkennung zustande kommt, bleiben ein Selbstbewusstsein und das andere als »Wölfe« im Verhält439 Da es sich um den ›quasi buddhistischen‹ Volksglauben in Japan namens »Sai no kawara« handelt, kann es keine glaubwürdige Quelle sein. Die Erzählung verbreitet sich aber volkstümlich, dass am Ufer des Flusses, über den hinaus die Hölle beginnt, die Seelen der Kinder, die früher als ihre Eltern starben, Kieselsteine aufeinanderlegen, um zum Trost ihrer Eltern eine Pagode zu bauen. Dabei erscheinen jedes Mal die Höllendämonen, um die halbfertige Pagode gnadenlos zu zertrümmern, bis der Boddhisattva Jizô eingreift, um diese Kinderseelen in Schutz zu nehmen. Es sei auch darauf verzichtet, diese Mythologie als die Erzählung der »Compassion« des Boddhisattvas Djizô zu interpretieren, da der dazu benötigte authentische Text fehlt.

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

nis zueinander, so dass der Kampf zwischen ihnen der »Kampf auf Leben und Tod« wird. 440 Aber wenn die eine Seite zugrunde geht, kann die andere Seite die Position als das Selbstbewusstsein nicht erhalten. Die beiden Seiten müssen einander anerkennen. 441 Die weiteren Überlegungen sollten als Weiterführung der bisher versuchten Betrachtung des »Anderen« angesetzt werden. Bisher wurde die Erschlossenheit des Verhältnisses der individuellen »Anderen« zueinander zuerst der »un-gemeinsame Gemeinsinn« genannt. Es wurde weiterhin eingesehen, dass dieser auf der Ebene der Gemeinschaft sich als das »un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos« zeigt. Wenn es sich so verhält, dann taucht auf der Ebene des »Staates« der Modus der Erschlossenheit desselben als »Staatspathos« auf. Dieses Pathos zeigt sich jetzt als der Gerechtigkeitssinn, den jeder besitzt und der entsprechend dem Fall des »un-gemeinsamen Gemeinsinns« als der Sinn für die »un-gerechte Gerechtigkeit« bezeichnet werden kann. Dieser Terminus taucht in dem Kontext auf, in dem das »ungemeinsame Gemeinschaftspathos« nicht nur für die »soziale Gemeinschaft«, sondern auch für den »Staat« gültig ist. Insofern gibt es nichts Neues, das zur Wesensbestimmung desselben hinzugefügt werden soll. Aber jetzt eröffnet sich eine Aussicht, dass sich die »Souveränität« des Staates vielleicht in einer neuen Weise auftut. Das »Pathos« war nach der hegelschen Wendung das Phänomen, dass das allgemeine Wesen, welches noch nicht verwirklicht wird, an den Individuen als dessen Gesinnung erscheint. Die »pathetisch«-leidenschaftliche Handlung, dieses allgemeine Wesen als das Ideal zu verwirklichen, entsteht daraus. Im vorliegenden Buch wird dieses Pathos auch im Hinblick auf die Wendung des Wortes Michel Henrys G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 149. Eine kleine Bemerkung ist hier nötig, dass im hegelschen Kontext die gegenseitige Anerkennung auf der Stufe des Selbstbewusstseins eine Form des »Bewusstseins« und noch nicht die soziale Bestimmung in der wirklichen Gesellschaft ist. Diese soziale Bestimmung wird auf der Stufe des höheren Geistesphänomens, des »Gewissens«, vorgelegt. Dieses Gewissen gehört bereits zur Stufe des »absoluten Geistes«, der im Gedanken alle Gegensätze aufgehoben hat. Die Aufhebung im Gedanken und die in der wirklichen Gesellschaft sind aber nicht dasselbe. Die wirkliche Geschichtswelt ist als die Welt der Gegensätze zwischen den Wolfsstaaten geblieben, um das Postulat des Geistes der gegenseitigen Anerkennung zu verraten. Dann ist der hegelsche Gedanke der gegenseitigen Anerkennung zwar ein wichtiges Stück seines großen Gedankens, aber dennoch bedarf es einer weiteren Überlegung. Vgl. A. a. O., S. 493. 440 441

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Staatspathos und Staatssouveränität

als die sinnliche Seite der »ek-statischen« Struktur der Begegnung der ichlichen Anderen miteinander aufgefasst, die je, um der anderen Seite zu begegnen, »außer-sich« stehen. Sowohl die Individuen wie auch die Staatsgemeinschaften haben, wenn auch in verdeckter Weise, faktisch eine »ek-statische« Struktur. Das »un-gemeinschaftliche Gemeinschaftspathos« ist die sinnliche Seite des Phänomens, dass eine Staatssouveränität einer anderen Staatssouveränität ek-statisch begegnet. Es ist der Ausdruck dafür, dass das souveräne Subjekt zwar einerseits »souverän« und durchaus absolut selbst-bestimmend ist, aber dennoch »außer-sich« steht und von den Anderen außerhalb seiner bestimmt wird. Nur wird diese Struktur meistens im ichlichen Selbstbewusstsein der Staatssouveränität unbewusst verdeckt. Die Staatspolitik wird instinktiv mit dem Prinzip »Mein Land ›first‹« vorangetrieben. Aber gerade in diesem Vorantreiben wird entblößt, dass es einer anderen Staatsouveränität ausgesetzt wird, die ebenfalls »Mein Land, ›first‹« erklärt. Mit diesem Faktum wird entlarvt, dass das ichliche »Staatspathos« auch der Ort ist, an dem die Anderen seiner selbst erschlossen werden. Dass das »Ich« keine in sich verschlossene Kapsel, sondern von vornherein ein geöffnetes Wesen ist, wurde idealistisch schon in der Fichte’schen »Wissenschaftslehre« behauptet, wo als die Folge des »Setzens des Ich« das »Entgegensetzen des Nicht-Ich« aufgezeigt wird. 442 Diese Struktur besagt auch, wie bisher schon dargelegt wurde, dass mein »Draußen« in mein »Drinnen« eingetreten ist. Mit Husserl kann man, wenn man will, sagen: »Und nicht bloß um das reel Immanente handelt es sich, sondern auch um das im intentionalen Sinn Immanente.« 443 Der Andere, dem im Draußen begegnet wird, ist der »im intentionalen Sinne im Ich immanente«. Dies muss auch vom Staat gesagt werden, solange dieser als souveräne »Person« bestimmt wird. Das Volk des hobbesschen Staates z. B. wird »subject« 442 Als exemplarische Stelle ist aus der frühen »Wissenschaftslehre« Fichtes die folgende anzugeben: J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, S. 104: »Es ist ursprünglich nichts gesetzt, als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt. (§ 1.) Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich entgegengesetzte ist = Nicht-Ich.« 443 In der Schrift Die Idee der Phänomenologie (1907), die Husserl als den ersten Schritt seiner Wendung von der »deskriptiven Phänomenologie« zur »transzendentalen Phänomenologie« verfasste, kommt dieser Ausdruck vor. (Vgl. HUA II, Den Haag 1973, S. 55.)

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Un-geselliges Gesellschaftspathos

(frz.) genannt, das im wörtlichen Sinne zu verstehen ist, d. h. »das Unterworfene«. Das »Subjekt« im Sinne des dem Monarchen Unterworfenen kann aber dem Staat gegenüber selbständig sein, solange es als die souveräne »Person« im kantischen Sinne ist, die ihrem Staat gegenüber »Anderer« sein kann. Die Einzelnen im Volk sind dann »Subjekte« (subjects) im gewöhnlichen Sinne, die ihre Persönlichkeiten tragen. Die Sprache hat oft eine erstaunlich aussagekräftige Zweideutigkeit. Der hobbessche Staat ist dem subject, im Sinne des Unterworfenen, gegenüber ein absolutistischer Staat. Aber die Unterworfenen können ihrerseits selbständige Bürger sein, die unter Umständen in ihrem eigenen Staat aufständig sein können. Sie sind in der Perspektive des Instinktes der Selbsterhaltung des Staates eine Form des »Anderen im eigenen Selbst«, und im Hinblick auf die Wesensnatur des Staates die »Anti-Wesensnatur in der Wesensnatur selbst«. Ein souveräner Staat, der in sich solch »Andere« bzw. die »Anti-Wesensnatur« in sich hat, kann einem anderen ebenfalls gleich strukturierten souveränen Staat gegenüber ein »Wolf« sein. Aber gerade dadurch, dass die souveränen Staaten in dieser Weise die »Welt« konstituieren, ergibt sich, dass die »absolute Souveränität« in Wirklichkeit ihre Abgeschlossenheit von sich aus durchbricht und außerhalb ihrer steht. Die in sich abgeschlossene und sich selbst behauptende Souveränität ist ein Schein. Es kommt darauf an, den Gewaltcharakter dieses Scheins zu durchschauen. Das »reine Erlebnis ohne Subjekt, ohne Horizont, ohne Bedeutung, ohne Objekt«, von wo aus Michel Henry nicht weiterging, darf keine bloß existenzielle Haltung der Individuen bleiben. Es kann im Gesichtsort einer »Staats«-Phänomenologie weiterentwickelt werden. Das »un-« des »un-gemeinschaftlichen Gemeinschaftspathos« gilt hier als das »anti-« der »Anti-»Wesensnatur in der Wesensnatur des Staates und ist der Artikulationspunkt des Welt-Ortes. Dort wird das Prinzip eines anderen Standortes der internationalen Weltpolitik als das des seit dem 19. Jahrhundert hingezogenen Hegemonismus, ein »anderes Prinzip der Souveränität«, eröffnet. Es muss noch gezeigt werden, dass und wie dieses »anti-« bzw. »un-« letztlich zur »Leere« zurückgeführt und als Entfaltung dieser »Leere« aufgefasst werden kann. Dies ist aber die Aufgabe des letzten Kapitels.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass und wie die »Gewalt« auf der Ebene des individuellen Bewusstseins als der »un-gemeinsame Gemeinsinn« empfunden und auf der Ebene der Gesellschaft oder des Staates als das Problem des »un-geselligen Gesellschaftspathos« auftritt. Im vorigen, dritten Kapitel wurde weiterhin gezeigt, dass und wie der »Staat« mit seiner »Souveränität« zu einem Gewaltsubjekt werden kann. Aber was ist überhaupt die »Gewalt«? Die Phänomene der Gewalt beschränken sich in der gegenwärtigen Welt nicht auf schadenzufügende Taten wie Krieg oder Mord. Sie erscheinen auch in verschiedenen Formen der Diskriminierung, Verletzung, Unterdrückung usw. Dabei genügt es nicht, sie bloß als »anomale« Phänomene zu betrachten. Es ist nötig einzusehen, dass in der Wesensnatur des Menschen bzw. der Rechtsperson die Anti-Natur selbst tief angelegt ist. So wird die Beleuchtung der Gewaltphänomene zur Beleuchtung dieser Natur führen. Zu dieser Betrachtung gibt es mehrere Ansatzpunkte. Ein Ansatzpunkt wird im Hinblick darauf gegeben, dass die Gewalt immer an einem »Anderen« geübt wird. Zwar gibt es allerdings beim Phänomen der Gewalt auch das »Ich« als das Gewalt erleidende und das die Gewalt tuende Subjekt. Beide befinden sich in einer »Welt«, in der das Gewaltphänomen stattfindet. Die Dreiheit von »Anderen – Ich – Welt«, wie sie zu Beginn des vorliegenden Buchs dargestellt wurde, besteht auch im Fall des Gewaltphänomens. Aber bei der phänomenalen Betrachtung dieses Phänomens hat der / das Andere einen phänomenologischen Vorrang vor dem Ich oder der Welt, was ebenfalls zu Beginn dieses Buchs erörtert wurde. So ist auch im vorliegenden Exkurs der Einschnittpunkt der Betrachtung der / das »Andere«.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

1.

Der ewige Frieden und die ewige Gewalt

Es sind wiederum einige vorläufige Gedanken, die hier einen Ansatzpunkt bieten, festzuhalten. Zuerst ist auf einen Aufsatz Kants hinzuweisen, zu dessen Beginn folgende Frage gestellt wird: »Ob diese satirische Überschrift (Anmerkung des Verfassers.: Zum ewigen Frieden) auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt sein.« 444 Der »ewige Frieden« bleibt in der Welt, in der die »ewige Gewalt« wie ein Strudel überall entsteht und vergeht, als das Sollen bzw. die Idee, die der Mensch hat. Kant sagt in einem anderen Aufsatz, dass die Natur mit dem Guten, aber die Geschichte mit dem Bösen beginnt. 445 Wenn das, was das Böse produziert, die »Gewalt« genannt werden kann, so existiert die Geschichtswelt faktisch als die Welt, in der die Gewalt niemals verschwindet. Kant hat in der Religionsphilosophie seiner späten Phase über das »radikale Böse« nachgedacht. 446 Es handelt sich nicht um einzelne böse Taten, sondern um den »natürlichen Hang zum Bösen«, der in der Menschennatur verankert ist. 447 Zu leben heißt einerseits sich vom Selbsterhaltungstrieb bewegt zu behaupten und mit Lebensmitteln im weitesten Sinne zu leben. Die Geschichtswelt, die nach Kant mit dem Bösen beginnt, ist in die444 I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 343. Das Wort »der ewige Frieden« auf dem Schilde des holländischen Gastwirts ist eher schwarzer Humor, da die Gäste damit zu einem Essen eingeladen werden, bevor ihr letztes Stündlein geschlagen hat. Allerdings hat Kant selber dieses Schild vermutlich nicht gesehen, da er bekanntermaßen sein Leben lang Königsberg nicht verlassen hat. 445 I. Kant, »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«, in: Kants Werke. Akademische Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 115: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.« 446 Vgl. I. Kant, Religion innerhalb der Grenze der bloßen Vernunft, herausgegeben von Karl Vorländer, mit einer Einleitung, Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants, von Hermann Noack, Philosophische Bibliothek 45, 7. Aufl., Hamburg 1961. Das erste Stück dieser Schrift wird betitelt: »Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur«. Dem Titel entnimmt man bereits, dass das »radikale Böse« das Hauptthema ist. 447 A. a. O., S. 39.

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Der ewige Frieden und die ewige Gewalt

ser Hinsicht die Welt des Lebensinstinktes. Aber andererseits ist eben in diesem Instinkt auch die Anschauung bzw. die Ahnung enthalten, dass dieses Leben endlich und das Lebende selbst sterblich ist. Die Selbstbejahung des Lebens ist die Kehrseite der Anschauung der Sterblichkeit. Diese Anschauung drückt sich auf der biologischen Ebene als Vorsicht aus, kann aber verinnerlicht und zur geistigen Haltung sublimiert werden. Der Mensch hat diese beiden Seiten. Indem er einerseits mit Recht behauptet, dass der Mensch nicht ohne Brot leben kann, sagt er andererseits, »der Mensch lebt nicht vom Brot allein« (Mt 4,4). Die Nahrungsaufnahme gilt aber auch als die Tat, die einer Heiligmachung bedarf. Die Tischgebete im Christentum oder das Rezitieren im buddhistischen Tempel: »Beim ersten Bissen alles Böse aufhören lassen; beim zweiten Bissen alles Gute praktizieren, beim dritten Bissen alle Lebewesen erretten«, 448 enthalten eine tiefere Lebensanschauung als das bloß moralische Bewusstsein. Aber auch ohne die obige Einsicht Kants weiß man, dass im Selbsterhaltungsinstinkt des Lebens nicht nur die Richtung der Vertiefung oder der Ausbildung der religiösen Gesinnung, sondern auch die Gewaltsamkeit ursprünglich angelegt ist, die Anderen ihres Brotes zu berauben, auch wenn dadurch diese verhungern müssen. Dieser Trieb zur Gewaltsamkeit ist der Abgrund der Menschennatur, der diesseits des Dualismus der moralischen Lehre von guter und böser Menschennatur liegt. Da man das Faktum dieses radikalen Bösen nicht hintergehen kann, sagt Kant: »(…) für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne«. 449 Die gesagte Unbegreifbarkeit des Grundes des Bösen ist mit dem buddhistischen Terminus »avidyā« (Unwissenheit) gut vergleichbar. Es kann zwar auch die Ansicht geben, in der Weise der symptomatischen Therapie die Gewaltsamkeit durch die Vernunft rationalistisch bewältigen zu können, wie in der Aufklärung. Aber sie kann den

Im Zen-Tempel wird vor dem Essen ein poetischer Vers zitiert, der lautet: »Erstens: An die Verdienste (der Leute) denken, die dieses Essen hergestellt haben; zweitens: Nachdenken, ob die eigene Tugend reif genug ist, um dieses Essen zu bekommen; drittens: Sich bemühen, nicht zornig zu werden und sich der übermäßigen Begierde zu entledigen; viertens: Dieses Essen zum Medikament machen, damit der eigene Leib nicht verwelkt; fünftens: Gerade um der Realisierung des Übungsweges willen dieses Essen akzeptieren.« 449 I. Kant, Religion innerhalb der Grenze der bloßen Vernunft, S. 46. 448

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Verdacht nicht ausschließen, dass die Vernunft selbst unter Umständen einen Gewaltcharakter in sich birgt. 450 Dieser Gewaltcharakter wird sich darin zeigen, dass die Vernunft, von ihrer eigenen Richtigkeit überzeugt, die Anderen außerhalb ihrer selbst dem eigenen Maßstab unterwerfen will. Diese tiefe Wurzel der Gewalt in der Menschennatur im Hinterkopf beibehaltend, ist die »Gewaltkritik« Walter Benjamins 451 als beispielhafte Betrachtung des Gewaltphänomens nach Kant und Hegel beachtenswert.

2.

Einige Bemerkungen zu W. Benjamin

Es war 1920 oder 1921, als Benjamin sein Essay über die Gewaltkritik verfasste, also in der Zeit noch vor der wahnsinnigen Gewalt des national-sozialistischen Regimes. In Deutschland entstanden Wellen der Revolten, Putsche und Generalstreiks, so dass das ganze Land in Unruhe geriet. Im Oktober 1918 kam es zur Revolte der Seesoldaten im Kriegshafen Kiel, und im November desselben Jahres zur November-Revolution, wodurch zunächst in Bremen, dann in verschiedenen Städten die »Räte« und der Aufstand des »Spartakusbundes« organisiert wurden. Im April 1919 kam in Bayern die »Bayerische Räterepublik« zustande. 1920 fand der »Kapp-Putsch« statt. Die SPD, die zwischenzeitlich mit der Unterstützung der Arbeiterklasse die Regierungsmacht innehatte, war an der Niederschlagung sowohl des Spartakusaufstands wie auch des Kapp-Putschs sowie anderer Aufstände beteiligt. Benjamin verfasste seine Gewaltkritik gerade in dieser unruhigen Situation in Deutschland. Seine Schrift enthält die Kritik am »Parlament«, das von der SPD beherrscht war. Sie äußert auch die Absicht, die »revolutionäre Gewalt« letztlich zu rechtfertigen. 452 Benjamin versuchte allerdings keine bloß ideologische Rechtfertigung. Er suchte nach der Möglichkeit einer gründlich prinzipiellen Überwin-

450 Dies pointieren Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung. (Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, 1944, 16. Aufl., Frankfurt am Main 2006.) 451 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. II. 1, herausgegeben von R. Tiedemann & H. Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1999, S. 179–204. 452 A. a. O., S. 202.

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Einige Bemerkungen zu W. Benjamin

dung der Gewalt überhaupt, und zwar aus jüdischer Sicht. 453 Es geht im Folgenden um die Überprüfung der Gewaltkritik in dieser Sicht. So weit die hinleitende Erklärung, der Kernpunkt ist der folgende: Benjamin nimmt nicht die Position des gewaltlosen Pazifismus ein. Er ist der Ansicht, dass zur Zurückhaltung der Gewalt eine andere Gewalt nötig ist, die von keiner Rechtstheorie aufgefasst wird. 454 Die Frage ist aber, ob und inwieweit diese von ihm gemeinte letztere Gewalt von der »ewigen Gewalt« unterschieden wird und zu der Dimension gehört, die jenseits der Gewalt liegt, diese transzendiert und somit rechtfertigbar ist. Benjamin erklärt zunächst die strikte Position der Anti-Gewalt. Er ist deshalb nicht der Ansicht des positiven Rechts, die Benjamin zufolge sagt, dass durch die Verwendung der »gerechtfertigten Gewalt« das gerechtfertigte Ziel erreicht wird. Andererseits, so Benjamin, erkennen die Befürworter des Naturrechts die Gewalt an, solange diese als das Mittel zum Erreichen des »gerechtfertigten Ziels« dient. Benjamin meint aber, dass das durch Gewalt erreichte Ziel den Gewaltcharakter des Mittels nicht rechtfertigt. Er betrachtet diese Ansicht als »bodenlose Kasuistik«. 455 Benjamin denkt, dass der Grund der Gewaltkritik weder vom Naturrecht noch vom positiven Recht gegeben wird. Seine eigene Ansicht drückt sich in seiner Wortwendung »Rechtsgewalt« aus. Er empfindet nämlich im institutionalisierten Rechtssystem selbst eine Gewaltsamkeit und findet im Staat selbst einen Aspekt der »Staatsgewalt«. 456 Er hat seiner eigenen Empfindngsweise nach von vornherein eine ›anti-establishment‹-Tendenz. So sagt er, dass die einzige Aufgabe der Proletariate die »Aufhebung des Staates« ist. 457 Wenn er in dieser Weise den Staat und die Gewaltsamkeit des Gesetzes kritisiert, ist er ein linksorientierter Denker. Wenn er aber den Grund der Gewaltkritik als solchen denkt, ist er ein von der 453 Insofern kann die Gewaltkritik Benjamins, die vor der Zeit des »Holocaust« verfasst wurde, auch auf die späteren Werke jüdischer Denker wie Hans Jonas oder E. L. Fackenheim bezogen werden, die den Holocaust ins Auge fassen. In die ethisch-philosophischen Diskussionen sollte auch Levinas einbezogen werden. Zu Levinas vgl. »Einige Bemerkungen zu Levinas« im zweiten Kapitel des ersten Teils und den Exkurs zum vierten Kapitel des zweiten Teils »Gott oder Leere. Nishitani und Levinas über die Kenosis«. 454 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 196. 455 A. a. O., S. 181. 456 Zum Wort »Rechtsgewalt« oder »Staatsgewalt« vgl. a. a. O., S. 182 ff. 457 A. a. O., S. 194.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

jüdischen Theologie gefärbter Denker. Der fundamentale Gesichtspunkt dabei ist die »göttliche Gewalt«, und dies ist der Kernpunkt der hier vorgenommenen Untersuchungen. Bevor wir zu seinem Gedanken der »göttlichen Gewalt« übergehen, werfen wir einen Blick auf die Umgebung des Problemkreises. Der Grund dafür, dass Benjamin nach dem endgültigen Kriterium bzw. dem letzten Grund für die »Gewaltkritik« sucht, ist, dass die Argumentation der Anti-Gewalt sonst letztlich dem Anspruch des Machtverhältnisses unterworfen wird, das besagt: »Erlaubt ist was gefällt«. Diese Gewalt ist trotz aller Unterschiede der Erscheinungsformen im Grunde dieselbe, die ein Staat nicht nur gegen die Menschen ausübt, die der Regierung widerstehen, sondern auch gegen die Menschen, die einfach einem bestimmten Volk angehören und in den Augen der Regierung vernichtet werden sollten. Da die Gewaltkritik Benjamins vor der nationalsozialistischen Regierungsübernahme verfasst wurde, erwähnt er die Gewalt dieser Regierung nicht, aber seine spätere Verfolgung als Jude, durch diese Regierung, nimmt er darin bereits vorweg. Benjamin teilt die allgemeine Gewalt in die »rechtsetzende« und die »rechtserhaltende« ein, mit der Ansicht, dass alle Gewalten entweder der einen oder der anderen zugehören. Er verneint beide. 458 Zwar ist es fraglich, ob einige der heute debattierten Gewaltphänomene, wie Mobbing in der Schule, die häusliche Gewalt in der Familie, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz usw., mit diesem simplen zweiteiligen Schema erklärt werden können. Da sie aber damals noch nicht als Problem erkannt wurden, darf das Fehlen der Aufmerksamkeit für diese Phänomene nicht überraschen. Die von Benjamin gemeinte »rechtsetzende Gewalt« ist diejenige, die das gewalttuende Subjekt ausübt, indem es seine eigene Ordnung den Anderen aufzwingt und geltend machen will. Die »rechtserhaltende Gewalt« dagegen ist diejenige, welche die einmal etablierte Rechtsordnung weiter erhalten will. Diese Ansicht wäre der »anti«-Haltung nah, die aktuell bestehende Rechtsordnung überhaupt als Rechtsgewalt anzusehen. Der Ton der »Gesellschaftskritik« der Frankfurter Schule, auf die Benjamin einen gewissen Einfluss geübt hat, klingt dort mit, was ein Grund dafür wäre, dass Benjamin beim »liberal-links« orientierten Leserkreis beliebt ist. Die Kritik allein kann aber, wie die kritische Theorie der Frankfurter Schule generell, keine konkreten »Vor458

A. a. O., S. 182 f., 190 f.

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Einige Bemerkungen zu W. Benjamin

schläge« machen für die wirkliche Gesellschaft. 459 Welchen Vorschlag hatte Benjamin selbst? Benjamin hält den kategorischen Imperativ Kants zur Begründung der Gewaltkritik für ungenügend. Ohne den Namen Kant anzugeben, zitiert er: »Handle so, daß Du die Menschheit sowohl in Deiner Person als in der Person eines jeden Anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« 460 Von Benjamin her gesehen, kann der moralische Imperativ »Du sollst …« die aktuelle Gewalt selbst nicht zurückhalten. Benjamin nennt die einzige Gewalt, die über die Gewaltsamkeit überhaupt hinausgehend die Gewalt zurückhalten kann, die »göttliche Gewalt«. 461 Diese soll eine andere Gewalt sein als die, die von einer Rechtstheorie bestimmt wird. Sie ist nicht die »sühnende«, sondern die »entsühnende« Gewalt. 462 Dieser göttlichen Gewalt setzt Benjamin die »mythische Gewalt« entgegen. Das Wort »mythisch« wird bei Benjamin nicht so sehr direkt auf die »Mythologie« bezogen. Sie bedeutet so viel wie »erfunden«, »künstlich autorisiert«. Für Benjamin gilt diese mythische Gewalt als das Paradigma der »Gesetzgebung«. Bei der Gesetzgebung wird die Gewalt zum Mittel, und das Ziel ist das Setzen des Gesetzes. So kann die Kette der Gewalttätigkeiten auch auf der theoretischen Ebene der Rechtstheorie nicht gestoppt werden. So suchte Benjamin »im Jenseits« der Rechtstheorie nach einer jegliche Gewalt transzendierenden göttlichen Gewalt. Es muss sich hier eine Frage erheben: Zwar geht die Diskussion, die sich auf »Gott« stützt und einer Gewalt die »entsühnende« Autorität gibt, über die Rechtstheorie hinaus. Aber geht diese Diskussion nicht auch über die Wirklichkeit hinaus? Wenn diese göttliche Gewalt 459 Günter Rohrmosers Kommentar, Das Elend der kritischen Theorie, Freiburg 1970, zeichnet sich darin aus, dass die kritische Theorie der Frankfurter Schule als UtopieTheorie kritisiert wird. Allerdings wird mit der Theorie der Frankfurter Schule auch die Theorie Habermas’ gemeint, obwohl dieser seither seinen Gedanken weiterentwickelt hat und nicht mehr unmittelbar der Frankfurter Schule im engeren Sinne zuzurechnen ist. 460 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 187. Benjamin gibt den Grund dafür, diesen kategorischen Imperativ als ungenügend zu betrachten, nur in Form einer Bemerkung an. Er weist nämlich darauf hin, dass in diesem zu wenig bedacht wird, ob es unter Umständen nicht doch erlaubt sei, sich und die Anderen als Mittel zu verstehen, ja als Mittel zu dienen. Benjamin hat dabei vermutlich an die religiöse oder ethische Hingabe in der jüdischen Religion gedacht. 461 A. a. O., 199 ff. 462 A. a. O., 199.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

in einer Situation quasi substanzialisiert wird, wird sie nicht zu einer anderen »göttlichen Gewalt« im Gegensatz stehen? In der Geschichte geschahen oft genug, wie jeder weiß, Konflikte zwischen der christlichen und der arabischen Auffassung von Gerechtigkeit. 463 Wenn die eine Seite ihre eigene Gewalt als die entsühnende der anderen gegenüber erklärt, wird sie in die rechtsetzende Gewalt umschlagen. Dort wird derselbe Gegensatz entstehen wie derjenige zwischen einem Selbstbewusstsein und einem anderen Selbstbewusstsein, wie wir bisher am Beispiel des Verhältnisses von Herr und Knecht gesehen haben. Es mag ungerecht sein, von Benjamin, der damals knapp dreißig Jahre alt war, in seiner Argumentation nicht nur Schärfe, über die er verfügte, sondern auch Reife zu verlangen, da das Land im Ganzen ins Chaos der Revolte, des Volksaufstandes, des Generalstreiks geworfen wurde. Seine Gewaltkritik enthält eine frische Empfindsamkeit, die nicht mit der logischen Problematik abgetan werden darf. Diese Empfindsamkeit überspannt die Schriften Benjamins wie Ursprung des deutschen Trauerspiels, die er 1925 als Habilitationsschrift an der Universität Frankfurt vorlegte, die aber zurückgewiesen wurde, 464 oder Das Passagen-Werk (1928) als eines seiner Hauptwerke. 465 Eine exemplarische Stelle dafür ist in seinem Passagen-Werk zu finden, die Stelle, an der es um die Betrachtung der »Todesstrafe« geht. Benjamin sieht die Todesstrafe als das äußerste Beispiel für die Gewalt des »rechtserhaltenden« Gesetzes. Er sieht, dass kein anderer Vollzug des Gesetzes diese Strafe in der Hinsicht übertrifft, dass das Gesetz in dessen Vollzug sich selbst bekräftigt. »Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem andern Rechtsvollzug das Recht sich selbst. Eben in ihr aber kündigt zugleich irgendetwas Morsches im Recht am vornehmlichsten dem feineren Gefühl sich an (…)«. 466 Diese Stelle scheint dem Verfasser die zu sein, an der, wenn er sie weiter hätte entwickeln können, Benjamins Gewaltkritik mehr Tiefe Es wird oft berichtet, dass die islamischen Terroristen bei ihrem Angriff rufen: »Allahu Akbar« (Gott ist groß.). Dieses Wort war bis 2011 der Titel der nationalen Hymne Lybiens (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_historischer_Nationalhymnen). 464 Jetzt in: Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, herausgegeben von Rolf Tiedemann, revidierte Ausgabe, Frankfurt am Main 2000. 465 W. Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Walter Benjamin Gesammelte Schriften V., 1, Frankfurt am Main, 1982. 466 W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 188. 463

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Die Gewalt am / vom »Anderen«

und Breite gewonnen hätte. Denn zwar ist es ein in einem Rechtssystem zu bestimmendes Problem, ob die Todesstrafe angenommen oder abgeschafft werden soll, aber die Diskussion darüber im Prozess der Entscheidung sollte »am vornehmlichsten mit dem feineren Gefühl«, wie Benjamin sagt, durchgeführt werden. Die »kasuistische« Diskussion, wie z. B. dass ein Justizirrtum im Urteil nie auszuschließen und deshalb die Todesstrafe problematisch ist oder die Möglichkeit der Rehabilitation des Straftäters immer beibehalten werden soll, ist zwar auch wichtig, aber sie setzt dabei immer die bestimmte Vorstellung der Gewalt und des Todes voraus, ohne deren Wesen selbst zu thematisieren. Sie denkt dieses Wesen nicht mit dem »feineren Gefühl«. In diesem Zusammenhang wäre es notwendig, die »Gewalt« von der »Macht« zu unterscheiden. Die von Kant vorgelegte Unterscheidung zwischen der »Gewalt« und der »Macht« in der »Kritik der Urteilskraft« ist zu berücksichtigen: »Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Ebendieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist.« 467 Der Kontext, in dem Kant dies sagt, ist die Lehre des »Erhabenen«. Wenn ein Naturphänomen dem Betrachter den Eindruck der »Macht« erweckt, ohne dass dieses Phänomen sich als »Gewalt« manifestiert, so ist es als das »dynamische Erhabene« zu bezeichnen. Die übermächtige Wirkung der Natur wird dann als »Naturgewalt« empfunden, wenn sie großen Schaden bringt. Wenn sie als die »Naturmacht« empfunden wird, die den Geist sich heben lässt, ist sie das »Erhabene«. Bei Kant kommt diese Überlegung in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, nicht aber in der Kritik der Gewalt in der wirklichen Welt zum Tragen. Im Kontext des vorliegenden Exkurses ist die »entsühnende« Wirkung im Sinne Benjamins nicht als Gewalt, sondern als Macht zu bezeichnen.

3.

Die Gewalt am / vom »Anderen«

Wie am Anfang dargestellt wurde, enthält ein »Gewaltphänomen« drei Elemente: die »Anderen«, an denen die Gewalt getan wird, das »Subjekt« (Ich), das die Gewalt tut, und der »Welt-Ort«, an dem das 467 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 28, Philosophische Bibliothek Bd. 39 a, unveränderter Nachdruck 1968 der 6. Auflage von 1924, S. 106.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Gewaltphänomen stattfindet. Und in dieser Dreiheit haben die »Anderen« den phänomenologischen Vorrang vor den anderen zwei Elementen. Der bisherigen Untersuchung folgend beschränken sich diese Anderen nicht nur auf die anderen Menschen, sondern sie können auch andere, nicht-menschliche Wesen umfassen. Dies bedeutet, dass auch das Gewaltphänomen eine Tiefenschicht hat, die nicht vom Standpunkt des Ich anthropologisch erreicht werden kann. Es gibt in diesem Exkurs zwei Gesichtspunkte. Der eine ist, dass die »Gewalt« immer als die Gewalt an den »Anderen« ist und der Diskurs über die »Gewalt« zugleich der Diskurs über die »Anderen« ist. Der zweite Gesichtspunkt ist, dass die »Gewalt« immer ihren Ort hat, an dem sie ausgeübt wird, so dass ein Gewaltphänomen immer das Phänomen eines »Weltortes« ist. Diese zwei Gesichtspunkte hängen miteinander zusammen. Gewöhnlich wird zwar die Gewalt als menschliche Tat anthropologisch betrachtet. Aber, wie im Folgenden zu sehen ist, können alle Arten der »Anderen«, die nicht immer Menschen sind, als »Gewaltsubjekte« erscheinen. Dies heißt, dass das Gewaltphänomen eine Tiefe hat, die nicht anthropologisch erreicht werden kann, und solange die Gewaltkritik diese Tiefe nicht auslotet, wird ihre Tragweite wesentlich beschränkt. Aus der Sicht der Lehre der Anderen handelt es sich im Fall der Gewalt gegen sich selbst, wie bei Suiziden oder Selbstverletzungen, um das eigene Selbst als das Andere in sich. Der die Gewalt Erleidende und das Gewaltsubjekt sind je der Andere zueinander. Der Andere überhaupt ist potenziell sowohl der mich liebende und mir helfende wie auch der mich bedrohende und gefährdende Andere. In dem Fall, dass das eigene Selbst und der Andere gleichmäßig stark sind, kann das Verhältnis zwischen dem eigenen Selbst und den Anderen zum Kampf »auf Leben und Tod« werden. Bei einer eingehenderen Betrachtung ergibt sich, dass Gewalt dann ausgeübt wird, wenn die Kraft der beiden Seiten ungleichgewichtig ist. Im Folgenden ist eine Betrachtung zur Gewalt durch die Wiederholung der »Fernnähe« und der »Höhentiefe« des Anderen zu versuchen. Dadurch könnte das im vorigen Kapitel gesehene un-gesellige Gesellschaftspathos in noch konkreterer Weise sichtbar gemacht werden. Das Wort »un-geselliges Gesellschaftspathos« könnte mit einem geläufigeren Wort »Mitleidenschaft« ersetzt werden. Denn das »Leiden« bedeutet dasselbe wie das Griechische »paschein«. Wegen des terminologischen Einklangs mit dem Wort »Compassion« wird hier 300 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Gewalt am / vom »Anderen«

aber »Gesellschaftspathos« genutzt. Weiterhin hat dieses Wort, wie im vorigen Kapitel bemerkt, einen Vorläufer, nämlich das Kants Wort »die ungesellige Geselligkeit«. Der Mensch hat sowohl den Hang, sich zu vergesellschaften, wie auch den Hang, sich zu vereinzeln. Kant hat den letzteren nicht als das negative Moment des Antagonismus, sondern als das positive Moment der Freiheit aufgefasst, das zur Verwirklichung der sozialen Werte der Menschheit unvermeidlich ist. Zwar hat er das »un-« der »ungeselligen Geselligkeit« noch nicht im Zusammenhang mit der ursprünglichen Gewaltsamkeit oder der Anti-Geselligkeit als einer Schicht der Menschennatur betrachtet. Aber er, der auf das »radikale Böse« in der Menschennatur aufmerksam wurde, würde vermutlich nicht dagegen sein, die »Gewalt« als einen Ausdruck für diese »un-gesellige Geselligkeit« zu betrachten. Was wird aus einer solchen Betrachtung sichtbar?

(a) Gewalt am / vom Anderen in der zweiten Person Es wurden als die Seinsweisen der Anderen in der zweiten Person die »Vis-a-vis-ität«, die »Interessiertheit«, die »Bezogenheit«, die »bestimmte Persönlichkeit« usw. angegeben. Bei den Gewaltphänomenen verwandelt sich die »Vis-a-vis-ität« in eine »Einseitigkeit« des Verhältnis des Stärkeren zum Schwächeren oder vice versa. Die »Interessiertheit« verändert sich zur »Vorsicht« auf der Seite des Schwächeren und zur »Aggressivität« auf der Seite des Stärkeren, was auch bei der »Bezogenheit« gilt, und die »bestimmte Persönlichkeit« zeigt sich ausdrücklich entweder als der Täter oder das Opfer. In allen Fällen wird das Pathos intensivert, sei es im negativen, sei es im positiven Sinne. Im Fall des »un-gemeinsamen Gemeinsinnes« waren es die äußeren Sinne wie die »Empfindung« oder die »Wahrnehmung«, die im Vordergrund standen, aber jetzt geht es um die Dimension der »Gesinnung«, in die sich jene äußeren Sinne verinnerlichen. Die Gesinnung ist bereits das Element des »ethischen« Verhältnisses. Es ist hier darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Verhältnis ständig Veränderungen erfährt. Im Gewaltverhältnis kommt es häufig vor, dass das Gewaltsubjekt den Schmerz des Anderen nicht mitfühlt oder sogar zur eigenen Lust macht – und im extremen Fall den Anderen vernichtet. Aber auch in diesem Fall befindet sich das Gewaltsubjekt unter der Bedingung, dass es nicht ohne den Erleidenden es selbst sein kann. Das Überlegenheitsgefühl oder die Lust des Ge301 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

waltsubjektes benötigt die Existenz dessen, an dem es seine Gewalt übt. Darin wird die Möglichkeit gegeben, dass das Opfer zurückschlägt. Dies wurde bereits in der »Dialektik von Herr und Knecht« gesehen. Dass als die Bedingung für die eigene Existenz die Existenz des Anderen unentbehrlich ist, gilt auch vom Liebes- oder Freundschaftsverhältnis. Das Verhältnis in der zweiten Person von Ich und Du/Ihr ist der primäre Tatbestand einer »Gesellschaft«. Der sinnliche Ausdruck dafür, dass alle einander »verschuldet« sind, klingt im Wort »Gesellschaftspathos« an. Das Verhältnis von Ich und Du ist in diesem Sinne wesentlich ein pathos-haftes Verhältnis, ein »un-geselliges Gesellschaftspathos«. Dieses liegt jedem Verhältnis des Anderen in der zweiten Person, sei es dem antagonistischen, sei es dem liebevollen, zugrunde.

(b) Gewalt am / vom Anderen in der dritten Person Als die Seinscharaktere des / der Anderen in der dritten Person wurde bisher die »Abständigkeit«, die »Neugierde«, die »Distanziertheit«, die »Massenhaftigkeit« usw. angegeben. Bei den Gewaltphänomenen verformen sie sich stark. Im Fall der Gewalt des Terrors z. B. treten die Terroristen, die bisher in einer »Abständigkeit« standen, als die fremden Anderen plötzlich in unser Lebensgebiet hinein, um ungezielt um sich herum zu schießen –die »Ferne« schlägt in eine »Nähe« um, in der die Gewalt direkt vor den Augen geschieht. Die »Neugierde«, die bis dahin an einem sicheren Ort gehegt wurde, schlägt um in »Angst«. Die »Distanziertheit«, die man in einer Entfernung bei der Benachrichtigung gesehen hatte, wird zur »Betroffenheit«. Die »Masse« mit dem neutralen Charakter wird zur Gruppe der fliehenden Opfer. Das »Zwischen« zwischen den Gewalttätern und den Erleidenden wird zum chaotischen Ort des »un-geselligen Gesellschaftspathos«, in dem die Wellen der Gruppenpsychologie zu Strudeln werden.

(c) Gewaltsubjekt als das impersonale Andere: Ding Die Gewalt als das Verhältnis personaler Anderer ist durchaus personal menschlich. Es mag als Missbrauch des Begriffs der »Gewalt« 302 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Gewalt am / vom »Anderen«

betrachtet werden, wenn dieser Begriff auch am »Ding« verwendet wird, das kein Bewusstsein hat. Der Vorwurf ist zunächst berechtigt. Wenn aber diesem plausiblen Vorwurf die Ansicht zugrunde gelegt wird, das »Ding« primitiv mit der anorganischen Materie gleichzusetzen, so muss gegen diese Ansicht ein Einwand erhoben werden. Denn das Ding ist doch das Fundament des menschlichen Lebens. Selbst unter den anorganischen Materien gibt es nichts, das nichts zu tun hat mit dem Leben des Menschen und dem Lebewesen überhaupt. Das Gesetz, das die Materie durchherrscht, ist, abgesehen von den Unterschieden der Anwendungsgebiete, im Grunde dasselbe, das auch die Welt des Lebens durchzieht. Im Hinblick auf dieses »Gesetz« ist die organische Lebenswelt und die anorganisch physikalische Welt dieselbe. Das Gesetz ist nicht etwas den Phänomenen der Außenwelt innewohnendes objektiv Vorhandenes, sondern die Verstandesform der Phänomene, die der Verstand apriorisch in sich hat und auf die Außenwelt projiziert. Das Gesetz ist das, was der Verstand setzt. So wird in der hegelschen Phänomenologie des Geistes der Standort des »Selbstbewusstseins« als derjenige beschrieben, in dem das »Bewusstsein« in seinem Gegenstand sich selbst sieht. »Wir sehen, dass im Inneren der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anderes als die Erscheinung selbst, aber nicht wie sie als Spiel der Kräfte ist, sondern dasselbe in seinen absolut-allgemeinen Momenten und deren Bewegung, und in der Tat nur sich selbst erfährt«. 468 Die Dialektik von Herr und Knecht war die dieser einander gegenüber stehenden Selbstbewusstseine. Vom lebenden Menschen her gesehen, ist ein anorganisches Ding zunächst ein bloß fremdes Etwas. Wenn man aber bemerkt, dass dieses Ding und man selbst von derselben Gesetzlichkeit durchzogen sind, erkennt man seine Selbigkeit und sich selbst, was zu einem romantischen Einheitsgefühl führen kann. Allerdings kann es auch vorkommen, dass das anfängliche Gefühl der Fremdheit noch verstärkt wird und das Ding mit einem Gewaltcharakter erscheint. Für den Knecht z. B., der sein Arbeitsprodukt nicht besitzen kann, wirkt das Produkt als die ihn entfremdende Gewalt. Für den Herren, der dieses Produkt konsumiert, aber nicht produziert, kann das Produkt, indem es die Basis seines Lebens ist, zugleich das diese Basis bedrohen-könnende Ding und in diesem Sinne das gewaltsam-sein-könnende sein.

468

Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 135.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Es war Marx, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Ding als Produkt die Menschen zu Dingen macht und verdinglicht. Diese Sicht wurde von der Frankfurter Schule übernommen und bis zur Gegenwart fortentwickelt. 469 Das Ding, das zunächst ein fremdes Etwas war, dringt ins Fürsichsein des Menschen hinein und bildet dessen Lebensbasis, zugleich aber kann es auf diese Basis gewaltsam wirken. Dies kommt in der sichtbaren Weise zum Vorschein, wenn es als »Ware« erscheint. Die Ware spiegelt in sich die industrielle und technische Leistungskraft der Gesellschaft, stimuliert die Kaufabsicht. Sie erfüllt die Begierde und lässt diese zugleich steigen. Die verschiedenen Formen des Pathos wie die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Verbraucher, das Konkurrenzbewusstsein der Hersteller und der Verkäufer, das Gefühl von Sieg und Niederlage usw. werden immer weiter erregt, so dass auch das Bewusstsein von Arm und Reich wach wird. Die Ware wird zum Bestandteil der Existenz der Menschen, die im Alltag ohne sie nicht leben können. Und in der Komposition dieses Bestandteils wird die Differenzierung der Lebensweisen der Menschen deutlich, wodurch auch die »Un-gemeinsamkeit« bewusster wird. Das »Ding« wird zur Komponente des »un-geselligen Gesellschaftspathos«, und dies heißt die potenzielle »Gewaltsamkeit des Dinges«. Die Rede von der »Gewaltsamkeit« in diesem Sinne ist weder die vom Menschen her gesehene anthropologische noch die Beschreibung der Einfühlung, sondern eine phänomenologische Beschreibung des »Dings« als des non-personalen Anderen.

469 Als relativ neuerer Diskurs ist Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005, anzugeben. Honneths Diskurs ist darin signifikant, die Theorie der »Verdinglichung« seit Marx über Adorno unermüdlich fortzusetzen. Allerdings verbindet sich gerade diese Herkunftslinie mit der Bedingtheit der Sicht, die verschiedenen Weisen des Charakters des »Dings« als des Anderen nicht ins Auge zu fassen. In dieser Hinsicht teilt der Autor die Ansicht Mathias Oberts, der sagt: »Axel Honneth beispielsweise scheint mir in seinen jüngsten Überlegungen zur Verdinglichung von einem zu engen Begriff des Dinges im Gegensatz zur Person auszugehen.« (Mathias Obert, Künstlerische Verdinglichung und die Widerständigkeit naturwüchsiger Dinge, in: Philosophisches Jahrbuch 124. Jahrgang 2017, 1. Halbband, Freiburg/ München 2017, S. 4.) Obert selbst thematisiert in diesem Aufsatz mit Recht und trefflich das »Kunst-Ding« bzw. die »künstlerische Verdinglichung«.

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Die Gewalt am / vom »Anderen«

(d) Gewaltsubjekt als das non-personale Andere: Der Tod Wenn das »Ding« als das impersonale Andere den Gewaltcharakter tragen kann, so muss dasselbe auch oder noch mehr vom nicht-personalen Anderen, dem »Tod«, gelten. Denn der Tod zeigt sich dem Lebenden als die extreme Weise der Gefühllosigkeit und der fremden Andersheit. Der Tod ist kein Subjekt der Tätigkeit oder des Aktes. Er lässt sich phänomenal als die »Nichtung« des Lebens, als das Subjektlose schlechthin bezeichnen, das vom Inneren des Lebens her dessen Seinsmöglichkeit erodiert. Da er keine Tätigkeit ist, muss er vom Phänomen der Gewalt am weitesten entfernt sein. Dennoch befremdet z. B. der Ausdruck »vom Tod überfallen werden« nicht. Das Subjekt des Überfallens ist der Tod. In einem solchem Ausdruck versteckt sich eine Anschauung, die wohl weiter reicht als der gesunde Menschenverstand. Diese Anschauung stellt z. B. Albrecht Dürer in seinem Werk »Reiter vom Tod überfallen« dar. Der Tod in der Gestalt des unheimlichen alten Mannes erscheint vor dem Pferd, auf dem der Reiter sitzt. Das Pferd und der Reiter sind so bestürzt, dass der Reiter sich an sein Pferd klammert, das aber selber in Panik geraten ist. Obwohl der Tod kein Tätigkeitssubjekt ist, überrascht er das Pferd – allerdings als malerischer Ausdruck und nicht als biologisches Phänomen – und kann den Reiter vernichten. Das Tätigkeitssubjekt, visualisiert in der Gestalt eines fürchterlichen alten Mannes, ist in Wirklichkeit das nichtende Nichts, das aus dem Inneren des Lebens selbst herauskommt. 470 Es wird wieder gefragt werden: »Was kann denn das bedeuten?« Es mag kritisch bemerkt werden: Die Gewalt werde von einem Lebenden ausgeübt, nicht vom Toten. Der Lebende tut sie den Anderen an, um sich selbst zu erhalten, seine Begierde zu erfüllen und die Anderen zu beherrschen. Die Wendung »der Tod überfällt« sei zwar als Gleichnis möglich, aber wenn sie in der Argumentation verwendet wird, sei das ein Kategorienfehler. Diese kritische Bemerkung ist zwar verständlich. Aber die Gewaltsamkeit des Todes zeigt sich nicht als eine aktive Wirkung, sondern als die »Wirkung der Nicht-Wirkung«. Der Tod ist das absolut 470 Vgl. vom Verfasser, »Weder der Tod, der sich entzieht, noch der Tod, der überfällt« (jap.), in: Seimei to shi. Rinshô-tetsugau ronshû (Leben und Tod. Aufsätze zur klinischen Philosophie), Kawai Bunka-kenkyûsho, Nagoya 2017, S. 202–219.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Andere zum Leben im Leben selbst, und das Herauskommen dieses Anderen aus dem Inneren des Lebens ist das Sterben. Auch in dem Fall, dass ein äußerer Anlass das Lebende sterben lässt, ist der Tod das, was vom Inneren des Lebens herkommt. Jedoch wird die das Leben vernichtende Wirkung vom Lebenden her gesehen als die Gewalt von außen empfunden werden. Die Redewendung »die Gewaltsamkeit des Todes« ist also eine Abkehr von der Vorstellung, die ein gemeiner Menschenverstand zu haben pflegt. Hier gelangen wir an die Stelle, wo es auf die Sinndimension des Todes ankommt, die neben der »Gewaltsamkeit« desselben besteht. Wenn nämlich der Tod »überfällt«, ist er vom Leben her gesehen Gewalt. Aber wenn er als die Folge des Lebens »ankommt«, ist er ein natürliches Ereignis. Es ist durchaus denkbar, dass der Tod ohne die unnatürliche Wirkung von außen als Folge der Reifung des Lebens selbst »von selbst« geschieht. Dies ist zu sehen, wenn ein Mensch so stirbt, als würde er einschlafen. Aber auch der Tod, auf den man »gefasst war« und für den man sich geöffnet hatte, ist kein »Tod, der überfällt«, sondern der Tod, mit dem man sich auseinandersetzt. Dazu gibt es genügend Beispiele. Wenn es sich so verhält, kann gesagt werden, dass im Tod die »Macht« geborgen wird, die »Gewalt« des Todes zu lösen. Bisher wurde bereits erörtert, dass nach der Auffassung Jankélévitchs beim Tod in der ersten Person die Zukunftsform zu sehen ist, indem der Tod »sich annähert«, und beim Tod in der dritten Person die Vergangenheitsform, indem der Tod »bei ihm/ihr geschehen ist«, und in der zweiten Person alle drei Zeitmodi, die Zukunft, die Vergangenheit und die Zukunft, zusammen zu sehen sind, indem der Tod »sich Dir annähert« (Tod in der Zukunft) oder »jetzt bei Dir geschieht« (Tod in der Gegenwart) oder »bei Dir geschehen ist« (Tod in der Vergangenheit). Jedoch wird Jankélévitch nicht darauf aufmerksam, dass mit dem Tod als solchem alles Zeitbewusstsein verschwinden muss. Dieses Verschwinden ist, solange man die Zeit mit dem Bild der Geraden oder der Kurve kennzeichnet, nicht vorstellbar zu machen. Denn, um es mit dem »Axiom der Anschauung« Kants zu sagen, »alle Anschauungen sind extensive Größen«, 471 während beim Tod als der Nichtung des Lebens die Anschauung verschwindet, und somit auch alle extensiven Größen.

471

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 162, B 201.

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Die Gewalt am / vom »Anderen«

Der Lebende kann, so wird einerseits oft gesagt, den eigenen Tod nie erfahren, weil er als Erfahrungssubjekt mit dem Tod zunichtewerden muss. Aber gerade mit dieser Unerfahrbarkeit beginnt eine wunderliche Sachlage, dass jeder doch irgendwie weiß, dass sein Leben sterblich ist. Jedes Lebewesen weicht etwas aus, wenn es dieses Etwas als sein Leben gefährdend verspürt. Dieses Verspüren der Gefahr ist die Vor-sicht der Möglichkeit des Todes. Um es mit dem Wort Heideggers zu sagen: ein »Vorlaufen in den Tod«, wenn auch in der unbewussten Form. Mit dem Bewusstwerden dieses Verspürens wird der Mensch aus den Bezügen zur Umwelt, in die er geworfen worden war, zurückgeholt und auf sich selbst zurückgeworfen, so dass er zu seiner Seinsweise des Einzelnen zurückkommt. Die ausgezeichnete existenziale Analytik dieser Seinsweise ist in der Analytik des Todes in Heideggers Sein und Zeit zu finden. Dort schreibt dieser: »Der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes läßt sich jetzt in folgenden Bestimmungen umgrenzen: Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.« 472 Aber gerade dieses Gefühl, der Einzelne zu sein, ist die Kehrseite des Gefühls, »in der Welt zu sein«. Derselbe Heidegger, der im Vorlaufen in den Tod die existenzielle Einzelheit erfahren hat, sagt später: »Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins«. 473 Der Ausdruck »das Gebirg des Seins« weist darauf, dass der Tod nicht mehr als die äußerste »Möglichkeit« des Daseins, sondern als der reale Ort aufgefasst wird, wo der Tod als Tod in der Weise der Geborgenheit erfahren wird. Der Unterschied zwischen dem Tod als Möglichkeit und dem Tod als Gebirg des Seins liegt im jeweiligen existenzialen Zeitlichkeitsmodus: Beim Tod als Möglichkeit wird der Tod als das »Noch-nicht« des Endes des eigenen Seins in einer unbestimmten Zukunft angesehen. Bei der Auffassung des Todes als des Gebirges des Seins ist der Tod der existenziale Zeitlichkeitsmodus der Gegenwärtigkeit, womit der Tod als gegenwärtig im eigenen Sein als dessen existenziale Komponente erfahren wird. Der Tod ist zwar das, was den Betroffenen zu dessen existenziellen Einzelheit zurückbringt, aber dennoch ein Geschehen »in-derWelt«. Von der Welt her gesagt, ist er ein Geschehen der »sozialen

472 473

M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, S. 343. Ders., Das Ding (1950), in: Vorträge und Aufsätze, HGA, Bd. 7, S. 180.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Gemeinschaft«. 474 Selbst das Sterben im einsamen Alleinleben bei den einsam lebenden alten oder armen Menschen heute in Wohlfahrtsgesellschaften, wie Japan, ist, gerade indem es als soziales Problem bedacht wird, ein soziales Problem. Die Einsamkeit im Alltagsleben ist bereits ein Aspekt des »In-der-Welt-seins«. In sozialer Hinsicht ist der Tod eines Familienmitglieds ein Verlust, aber zugleich ein unentbehrliches Moment des Generationswechsels. In diesem Fall schlägt der Tod, der vom betroffenen Individuum als »Gewalt« empfunden wird, in die »Kraft« der Verbindung der Gesellschaft um. Dem »Tod als Gewaltsubjekt« wurde in dieser Darstellung viel Beachtung gegeben, obwohl dadurch das Gleichgewicht der Darstellung etwas beeinträchtigt wird. Aber dafür wird die Tiefe des Phänomens der »Gewalt« etwas sichtbar geworden, die nicht durch eine bloß anthropologische Betrachtung erreicht wird.

(e) Gewaltsubjekt als das hyper-personale Andere: Göttliches Um diese Tiefenschicht ein Stück ins Auge zu fassen, ist das Gewaltphänomen auch im Hinblick auf das »hyper-personale Andere«, d. h. das »Göttliche«, zu betrachten. Dieses beansprucht, wie es prinzipiell auch in der bisherigen Darstellung der Fall war, eine religionsphänomenologische Annährung, durch die es unter Umständen in seiner Fraglichkeit entlarvt wird. Aber umgekehrt kann es in das umschlagen, was die Phänomenologie überhaupt in ihrer Tragweite und Verfügbarkeit befragt. Denn das Fundamentale der Phänomenologie ist, das, was in der »Erfahrung« erscheint, so herauszustellen, wie es ist, während die »religiöse Erfahrung« nicht zur »Erfahrung« des Bewusstseins wird, wenn dieses keinen Zugang zur spirituellen Innerlichkeit hat und somit diese nicht für seine Sache nehmen will. Da besteht einerseits die Möglichkeit, dass die religiöse Erfahrung aus dem Bereich ihrer Dogmatik heraustritt, ihren innerlichen Inhalt überprüft und sich sowohl sich selbst wie auch dem kritischen Anderen öffnet bzw. dieses Andere zu einem Dialog einlädt. Aber anderer474 Heute sind, wie im Folgenden dargestellt wird, verschiedene Arten der »Gemeinschaft« in der »Gesellschaft« als deren Bestandteile enthalten. Was hier als das »Gesellschaftspathos« bezeichnet wird, kann in manchen Fällen auch als das »Gemeinschaftspathos« geschrieben werden. Vgl. dazu auch die Anm. 411.

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Die Gewalt am / vom »Anderen«

seits gibt es auch die Möglichkeit, dass die Phänomenologie selbst angesichts der radikalen und existenziellen Frage nach der »Erfahrung« sich selbst transformiert, sich selbst in Frage stellt. Um das oben Gesagte im Zusammenhang mit dem Göttlichen zu entfalten, ist zunächst Folgendes festzustellen: Früher war es das Göttliche, das die Verbindung der Gemeinschaft/Gesellschaft bestätigte und sicherte. Heute scheint das Göttliche zwar in der Kirche oder dem Tempel seine Spur hinterlassen zu haben, aber als die Gestaltungskraft der Gesellschaft in den Hintergrund getreten zu sein. Es scheint in der Stadt, die vom Verkehrs- und Informationsnetz überspannt wird, keinen Platz zu haben. Die Menschen werden in dieser Stadt zu Atomen, wollen sogar so sein und sich erst durch diesen atomischen Raum in Kontakt mit den Anderen bringen. Jedoch, oder gerade deshalb, braucht die moderne Gesellschaft Organisationen und Institutionen, die den Charakter des quasi-Göttlichen haben. Die von Tönnies angesichts der Gesellschaftsform am Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Unterscheidung zwischen der »Gesellschaft« und der »Gemeinschaft« ist klassisch, wirkt aber heute etwas abstrakt. Die verschiedenen Gemeinschaften wie die Gewerkschaft, das Militär, die Schulen, die Firma usw., die Tönnies nicht zureichend ins Auge gefasst zu haben scheint, sind oft die Institutionen mit einer Zwangskraft, die als quasi-göttliche wirkt. Wenn es sich so verhält, dann kann nicht einfach gesagt werden, dass das »Göttliche« verschwunden ist. Tönnies selber fasste das »Göttliche« allerdings nicht ins Auge. Er, der in seiner Jugendzeit in der Arbeiterbewegung in Kiel engagiert war, sich in seinen späten Jahren dem national-sozialistischen Regime gegenüber kritisch verhielt und deswegen seine späteren Jahre unter dem Druck dieses Regimes zubringen musste, war am »Göttlichen« nicht interessiert. 475 Er begriff die von ihm angegebenen Formen der »Gemeinschaft« wie die Verwandtschaft, die Nachbarschaft, die Freundschaft mit Schlüsselwörtern wie »Blut« (die Familie), »Boden«, »Gesinnung«. Die Schlüsselwörter der »Gesellschaft« andererseits sind das »Geld«, der »Vertrag«, die »Konvention« usw. Diese Schlüsselwörter haben zwar als Merkmale der Unterscheidung zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft noch einigermaßen Gültigkeit. Aber was z. B. das »Geld« betrifft, so lässt die »virtuelle 475 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gesellschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Vgl. auch die vorangehende Anm.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

Währung«, die sich heute weltweit immer weiter verbreitet, die Unterscheidung zwischen der Gesellschaft und der Gemeinschaft immer vager sein. Man denke an eine virtuelle Währung wie die »Bitcoin«, die von einer Unternehmer- oder Organisationsgruppe ausgegeben und nur in dieser Gemeinschaft Gültigkeit hat. Auch die großen oder kleinen Unternehmen, die von einer Familie geleitet werden, haben den Gemeinschaftscharakter des »Blutes«, obwohl manche Betriebe so groß sind, dass sie durchaus einen Gesellschaftscharakter annehmen. Wenn es so ist, wie oben gesagt, dann ist es kein Wunder, wenn das »Göttliche«, das einst den Kern der Gemeinschaft bildete, in einer Pseudoform weiter existiert. Dieser Gesichtspunkt ist sogar für die Gewaltkritik unentbehrlich. Denn die Gewalt einer Organisation oder Institution tritt oft auf mit dem Kleid der göttlichen Autorität. Zwar behandelte Tönnies, wie gesagt, das Göttliche nicht als Schlüsselwort, aber wie wäre es, wenn alle Schüsselwörter der Gesellschaft, die er angegeben hat, Ausdrücke der Moderne sind, die den leer gewordenen »Ort Gottes« einnehmen wollten? Diese Frage bleibt weiterhin bestehen, auch wenn hier die Schrift des Protestanten Max Weber herangezogen wird: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Das Schlüsselwort Webers ist die »Berufspflicht«. Das deutsche Wort »Beruf« kommt von der »Berufung Gottes« und bedeutet, dass der Mensch zu einem bestimmten Beruf von Gott berufen wird. 476 Dies ist ein ähnlicher Gedanken wie der ursprünglich konfuzianistische Begriff »tenshoku«, der vom »Himmel« (天、ten) bestimmte Beruf. 477 Viele Menschen in der Gegenwart dürften sich fragen, ob die Gottesberufung wirklich die Ethik der Berufspflicht begründet. Wenn der »Ort Gottes« sich als leer erweist, so wird auch der Begriff des Berufs, somit die protestantische Ethik, leer. Wenn ein Göttliches sich als leer erweist, aber trotzdem Auto476 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik I, München / Hamburg 1969, S. 45 f, 179 f. 477 In Mengzi, Kap. 3, kommt der Begriff »tenshoku« (der vom Himmel bestimmte Beruf) vor. Die vergleichende Betrachtung zu »Gott« im Christentum und dem »Himmel« des Konfuzianismus ist ein zu weites bzw. uferloses Thema, als dass es hier in Angriff genommen werden könnte. Im vorliegenden Problemzusammenhang dürfen sie aber in der sekundären Bedeutung als das »hyper-personale Andere« aufgefasst werden. Siehe Uno, Seiichi, Shinshaku Môshi zenkô (jap.), Tôkyô 1959. (Môshi steht für Mengzi).

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Das die Gewalt entsühnende Pathos

rität erlangt und sich substanzialisiert, wird es zu einem Gewaltsubjekt verwandeln. Sowohl in der Religionsgeschichte wie auch in der Politikgeschichte lassen sich viele Beispiele dafür finden. Was wichtiger ist, ist zu sehen, dass das Göttliche als das hyper-personale Andere in sich selbst die Möglichkeit birgt, zu einer Pseudoform, dem Mythischen im Sinne Benjamins, zu verfallen. Dieser Verfall ist nicht der reine Zufall. Denn es handelt sich um die »Anti-Natur in der Natur selbst« des Göttlichen. Sie ist die immanente Tendenz des Göttlichen selbst. Das Phänomen des Verfallens ist dem religiösen Phänomen überhaupt immanent, was beispielsweise in der christlichen Theologie mit der Figur des Engels Luzifer vorgestellt wird. Diese AntiNatur in der Natur selbst entzieht sich eigentlich jeder Wertvorstellung von Gut und Böse. Wenn sie aber in der menschlichen Natur selbst angenommen wird, und zwar als die Herkunft der Sünde und der Gewaltsamkeit, dann müsste die anthropologische Betrachtung zum Gewaltphänomen bis zu der Dimension vertieft werden, in der das Menschliche von dem her gesehen wird, das durch das Menschliche hindurchgeht. Dieses ist die »Leere« der Menschennatur, was hier nur vorausgeschickt wird – Näheres soll der späteren Darstellung vorbehalten werden.

4.

Das die Gewalt entsühnende Pathos

Benjamin hat zwar eingesehen, dass, solange die »Gewalt« in der anthropologischen Dimension im weiten Sinne, wie z. B. im Politischen, betrachtet wird, jede Gewalt gegen die Gewalt selber eine andere Gewalt werden muss. So kam er auf die Idee der »die Gewalt entsühnenden göttlichen Gewalt«. Aber er konnte von dort aus nicht weitergehen. Versuchen wir, indem wir den von ihm erreichten Punkt auf unsere Weise übernehmen, einen anderen Weg zu suchen als jenen Benjamins. Zunächst bleiben wir beim Wort »entsühnen«. Dass Benjamin diesen Begriff als die Bestimmung der göttlichen Gewalt wählte, ist eine Überraschung, wenn man bedenkt, dass eine Herkunft seines Denkens die jüdische ist. Der Gedanke des »Entsühnens« kann der Durchbruchspunkt seiner eigenen Herkunft sei, wobei man nicht weißt, ob sich Benjamin selber dessen bewusst war. Das »Sühnen« ist im jüdisch-christlichen Denken von fundamentaler Bedeutung. Es bedeutet, in irgendeiner Weise die Schuld zu kompensieren, durch 311 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

die man der anderen Seite verschuldet ist, oder die Gegenleistung für den Schaden aufzubringen, den man selber bei der anderen Seite verursacht hat. Das ist jüdisch-christlich. Aber das »Entsühnen« muss bedeuten, die Schuld von Grund auf verschwinden zu lassen und in diesem Sinne zu reinigen. Der Gedanke des Entsühnens ist der tiefste in der Gewaltkritik Benjamins, ohne dass er weiterentwickelt wurde. Der Unterschied zwischen dem »Sühnen« und dem »Entsühnen« soll weiter herausgestellt werden. Beim »Sühnen« bzw. Kompensieren beispielsweise im Fall einer Brandstiftung oder eines Betrugs kann man den Schaden leicht kalkulieren, so dass der Täter zur Strafe einer zehnjährigen oder lebenslänglichen Haft verurteilt wird, womit der Täter seine Schuld bezahlt, d. h. sühnt. Das »Entsühnen« dagegen bedeutet das Reinigen der Schuld in der Weise, dass der Zustand wiederhergestellt wird, als die Schuld noch nicht entstanden war. In der unumkehrbaren Zeit ist es aber physikalisch unmöglich, den Zustand wiederherzustellen, in dem die »Gewalt« noch nicht existierte. Sogar der Sohn Gottes hat das Wunder nicht vollbracht, die Erbsünde zu löschen. Auch im Fall des Mordes kann vom Opfer her gesehen die Schuld des Täters eigentlich nicht zurückbezahlt werden, auch wenn der Mörder für seine Gewalt und für seine Schuld zur Todesstrafe verurteilt wird. Es ist das jüdische und auch das islamische Gesetz, den Täter nach dem Prinzip »Auge für Auge« zu bestrafen, aber für Benjamin ist dieses Gesetz selber eine Gewalt. Was in der unumkehrbaren physikalischen Zeit unmöglich ist, kann aber in einer anderen Zeitdimension ermöglicht werden. Wie vorher schon zitiert, hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft aufgezeigt, dass zwar das Subjekt als Phänomen sich der zeitlichen Bedingtheit unterwerfen muss, aber das Subjekt als Ding an sich ist das Vernunftwesen, das zu jeder verübten Tat sagen kann, dass es diese Tat »hätte unterlassen können«. 478 Die menschliche Handlung wird zwar in der physikalischen Zeit getan, und der Mensch lebt immer in der physikalischen Zeit. Aber zugleich ist er das Wesen, das eine überzeitliche Dimension berühren kann, die mit der christlichen Sprache gesagt als die »Ewigkeit« oder der »Anfang der Schöpfung« zu bezeichnen ist. Schelling schreibt in seiner »Freiheitsabhandlung«: »Der Mensch, wenn er auch in der Zeit geboren wird, ist doch in den Anfang der Schöpfung (das Centrum) erschaffen. Die

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I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 98.

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Das die Gewalt entsühnende Pathos

That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an.« 479 Zwar nutzen weder Kant noch Schelling das Wort »Entsühnen«, aber in ihren Aussagen wird die Dimension ausgedrückt, die sich wesentlich mit dem »Entsühnen« verbindet. Allerdings bleibt noch ein Platz übrig, an dem die Frage gestellt wird, ob das »Entsühnen« nicht nur in der religiösen Spekulation wie der Kants und Schellings bleibt, sondern auch in der physikalischen Zeit als ein Faktum konkret geschehen kann, und wenn ja, dann in welcher Weise. Im Rahmen dieses Exkurses ist für diese Frage eine Szene aus »Schuld und Sühne« Dostojewskis heranzuziehen und eine Antwort in der christlichen Prägung herauszustellen. Dieses Werk Dostojewskis hat in neueren Übersetzungen einen anderen Titel: Verbrechen und Strafe. Dieser Titel scheint mittlerweile verbreiteter zu sein. 480 Im Verlauf der Erzählung begibt sich Raskolnikow tatsächlich wegen des »Verbrechens«, aber auch wegen der Berücksichtigung der mildernden Umstände, nach Sibirien, um sich der achtjährigen »Strafe« zu unterwerfen. Der Titel Verbrechen und Strafe wäre insofern richtig. Im Hinblick auf den Sinn dessen, was erzählt wird, handelt es sich allerdings um die Erzählung, dass Raskolnikow, seelisch von Sonja behütet, darauf eingeht, seine »Schuld« zu »sühnen«: Neun Monate waren in der Strafkolonie vergangen. Sonja begleitete Raskolnikow, um selber in der Nähe des Gefängnisses zu leben und Raskolnikow in dieser Anlage zu besuchen. Dieser konnte aber, je mehr er nachdachte, nicht kapieren, was an seiner Tat im Grunde böse war. Er quälte sich mit der Frage, warum er nicht den Suizid vorgezogen hatte, statt sich der Polizei zu ergeben. Die Gefangenen in seiner Umgebung liebten Sonja zwar, hassten aber Raskolnikow. Dieser wurde schwer krank und ins Gefängniskrankenhaus getragen. Eines Tages sah er aus dem Fenster und fand Sonja, die unten im Garten des Krankenhauses stand, da sie keine Besuchserlaubnis erhalten hatte. Er fühlte sich, »als ob ihm jemand das Herz

F. W. J. Schelling, Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 385. Vgl. die heute zugänglichere Ausgabe Verbrechen und Strafe, Fischer Klassik PLUS, 1996. Das originale Wort »Преступление и наказание« selber scheint zweierlei übersetzbar zu sein: »Schuld« und »Verbrechen«. Hinter diesem kleinen Übersetzungsproblem eröffnet sich ein großes Problemfeld.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

mit einem Schwerte durchbohre; er fuhr zusammen«. 481 Aber auch Sonja erkrankte und kam zeitweise nicht zu Besuch. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde und auf einer Arbeitsstätte im Freien stand, erschien Sonja im alten und armseligen Mantel (Pelerine), um ihn zu besuchen. »Beide waren blaß und mager; aber auf diesen blassen, kranken Gesichtern strahlte schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, einer völligen Wiedergeburt zu neuem Leben.« 482 Durch die »Wiedergeburt« Raskolnikows kommen zwar die gierige alte Geldleiherin und deren alte Schwester nicht wieder zum Leben. Die Sünde der mörderischen Gewalt verschwindet nicht in der physikalischen Zeit. Aber die Wiedergeburt bedeutet – um es mit der christlichen Sprache zu sagen –, in der physikalischen Zeit einmal zu sterben, zu dem Ort vor der Entstehung der Sünde bzw. zum Anfang der Schöpfung zurückzugehen und von dort her neu zu leben. Zwar wird die Sünde nicht gelöscht, aber das Entsühnen dieser Sünde geschieht. Es ist in eine andere Richtung als dieser christlichen noch ein Gedanke heranzuziehen, mit dem die Sünde des Mordes »entsühnt« wird: die Erzählung des Königs Ajātaśatru im »Nirvana-Sutra«, paraphrasiert von Shinran (1173–1263), dem Gründer der buddhistischen Schule des »Reinen Landes«, in Kyôgyôshinshô. Diese Erzählung ist zwar auch eine Fiktion. Aber sie ist keine bloße Phantasie, sondern eine Kondensation der Erfahrungen der Menschen in der buddhistischen Welt. Mit erstklassiger Tiefsinnigkeit drückt sie eine Faktizität der religiösen Erfahrung aus, so dass sie sich als Gegenstand einer religionsphänomenologischen Betrachtung anbietet. Der König Ajātaśatru wurde vom dämonisch bösen Minister Devadatta verleitet, seinen Vater zu ermorden, und usurpierte den Thron, war aber danach tief verängstigt. Diese Angst wurde trotz allen Trosts der Untertanen, die einen heidnischen (»gedô«, wörtlich: »außerhalb des buddhistischen-Weges«) Glauben hatten, immer tiefer, so dass die Qual äußerst tief wurde. Da erschien Buddha und sprach Ajātaśatru an. In dieser Erzählung treten ziemlich viele Personen auf, und die Vorgeschichte des Vatermordes Ajātaśatrus kommt noch hinzu. Hier 481 F. M. Dostojewski, Schuld und Sühne, übersetzt von Hermann Röhl, Aufbau Verlag, Berlin, 1956, S. 817. 482 A. a. O., S. 819.

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Das die Gewalt entsühnende Pathos

in der vorliegenden Betrachtung ist nicht das Ganze in Betracht zu ziehen, sondern nur zu versuchen, die Erzählung im Kontext der »Gewaltkritik«, aus dem Gesichtsort der Lehre des »Anderen«, aufzunehmen und zwei Worte Buddhas an Ajātaśatru hervorzuheben, die beide in Shinrans Kyôgyôshinshô zu finden sind. Das eine Wort lautet: »Ich werde um des Königs Ajātaśatru willen nicht ins Nirvana eintreten.« 483 Das andere Wort lautet: »Wenn Du, gerade dafür, dass Du Deinen Vater ermordet hast, schuldig sein sollst, so müssen wir, die Buddhas, auch schuldig sein; wenn die Buddhas und Shakyamuni keine Schuld haben, wieso musst Du allein schuldig sein?« 484 Das erste Wort besagt, dass Buddha nicht ins Nirwana eintreten will, bis er alle leidenden Lebewesen wie Ajātaśatru errettet hat. Das zweite Wort gilt als Ausdruck für die »Compassion« in Form des »ungemeinsamen Gemeingefühls« zwischen Buddha und dem bösen Menschen. Es klingt aber hier wie der widersinnige Ausspruch, man werde für den Vatermord ohne weiteres entschuldigt und nicht bestraft. Zum Verstehen dieses widersinnig klingenden Wortes gibt Shinran einen Ansatzpunkt. Dieser sagt, dass alle Schuld aus vier Arten des Wahns entsteht: der Wahn aus Begierde, wegen Drogen, wegen eines magischen Fluchs und aus schicksalhaften Anlässen. 485 Ajātaśatru habe aus dem Wahn der ersten Art seine Schuld begangen, »nicht aber aus dem ursprünglichen Herzen. Wenn nicht aus dem

483 Um der Genauigkeit der Übersetzung willen ist hier auch die zuverlässige englische Übersetzung der Schrift Shinrans Kyôgyôshinshô anzugeben: »The Buddha said: »Good sons! I say, For the sake of Ajātaśatru, I will not enter nirvana.« (Shinran, Kyôgyôshinshô, engl., S. 132.) 484 »If you have committed evil in killing your father, we Buddhas too must have also. If the Buddhas, the world-honored ones, have not commited evil, how can you alone have done so?« (a. a. O., S. 135). 485 »Great King, the insanity of sentient beings is of four types: 1) insanity induced by greed, 2) insanity induced by drugs, 3) insanity induced by spells, and 4) insanity induced by one’s past karmic conditions« (a. a. O., S. 135/6). Man kann sich mit Recht an die vier Arten des Wahns (mania), die Platon in Phaidros, 244a ff. angibt, erinnern. Der im Sutra angegebene Wahn »insanity induced by drugs« ist allerdings bei Platon nicht zu finden, aber heute ein immer ernsteres Problem geworden.

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Exkurs zum 3. Kapitel: Die Gewaltkritik

ursprünglichen Herzen getan, wie sollst du die Schuld dafür haben?« 486 Das von Shinran hier genutzte Wort »das ursprüngliche Herz« kann inhaltlich als dasselbe verstanden werden wie das »Herz« (Bewusstsein, sanskr. citta) im Sinne der »Wahrhaftigkeit« (»tathatā«), wie es in: »Daijô-kishin-ron« (Awakening of Faith in the Mahayana), einer Hauptschrift des Buddhismus des »Bewusstsein-allein« (Consciousness-Only, sanskr. vijnapti-matrata), entwickelt wird. 487 Das Herz ist nach dieser Lehre in Wahrheit »tathatā«, »leer«. Das Pathos dieser Leere ist die »Compassion«. Weil der Vatermord von Ajātaśatru nicht mit dem ursprüngichen Herzen, sondern mit dem »wahnsinnigen Herzen« verübt wurde, ist er »ent-leert«. Dies ähnelt der juristischen Regelung, dass wer im Zustand einer Unzurechnungsfähigkeit einen Mord verübt hat, keinem Schuldanspruch unterworfen wird. Hier geht es um die Auffassung des Mahayana-Buddhismus von »Erscheinung und Leere«. Als Phänomen ist der Vatermord eine fürchterliche Schuld, mit der man »in der großen Hölle unzählige Kalpas lange unermessbare Qualen erleiden muss«. 488 Aber dennoch ist diese Schuld, vom Standort des »ursprünglichen Herzens« her gesehen, leer. Wieso soll der Täter dann schuldig sein? Auch Raskolnikow konnte nach seiner Gewalttat des Mordes neu geboren werden, obwohl das von ihm ermordete alte Weib nicht wieder belebt wird. Es handelt sich im Grunde um denselben Sachverhalt, dass Buddha dem König Ajātaśatru sagt: »Wieso sollst du schuldig sein?« Zwischen dem christlichen Gedanken der »Schöpfung« und der buddhistischen Lehre der »Leere« gibt es zwar einen großen Unterschied, aber trotz allen Unterschiedes werden diese Religionen überbrückt. Auf dieser Brücke könnte die von Benjamin genannte »göttliche Gewalt« von ihrem Dilemma befreit werden. Dort wird man den allerletzten Ort finden können, an dem die »Gewaltkritik« als die Lehre des »Anderen« endgültig gestillt wird. Im Diskurs über die »Anderen« im vorigen Kapitel wurde die Souveränität des »Staates« als des umgebenden Anderen, somit ein 486 »King, you were drunk with greed; your act was not committed out of your normal mind. If it was not done out of your normal mind, how could you receive recompense for it? (Shinran, Kyôgyôshinshô, engl., S. 136). 487 Daijô kishin-ron, S. 71 ff. 488 Shinran, Kyôgyôshinshô (jap.), S. 217: »I would have undergone immeasurable suffering for countless, incalculable kalpas in the great hell.« (Shinran, Kyôgyôshinshô, engl., S. 138)

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Das die Gewalt entsühnende Pathos

Thema der Politikwissenschaft, behandelt. Der Diskurs in diesem Exkurs wurde in eine religionsphilosophische Reflexion zurückgeführt, indem die sonstigen verschiedenen »Anderen« als die möglichen »Gewaltsubjekte« betrachtet wurden. Die Politik und die Religion haben gemeinsame Wurzeln, so dass es kein reiner Zufall ist, dass das dritte Kapitel und dessen Exkurs je die Form des politischen und religiösen Diskurses angenommen haben. Wenn es so ist, sollte allerdings das »und« in »Politik und Religion« als ein Problemgebiet beleuchtet werden. Aber das gehört zu späteren, je einzelnen Untersuchungen. Im vorliegenden Buch sollte noch vorher als die grundlegende Aufgabe versucht werden, das »un-gesellige Gesellschaftspathos«, das sowohl in der Politik wie auch in der Religion auftaucht, ins eine und einfache Wort »Compassion« zurückzuführen und diese als das »Pathos des Miteinanders« phänomenologisch zu bearbeiten.

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4. Kapitel: Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

1.

Weltpathos und eine andere »Umwertung aller Werte«

Im II. Teil dieses Buches wurden verschiedene Sinnschichten des »Welt-Ortes« in Form einer Sinneslehre, als »der un-gemeinsame Gemeinsinn«, »das un-gemeinsame Gemeingefühl«, »das un-gesellige Gesellschaftspathos« und am Ende als das »Staatspathos« und die »Anti-Natur in der Natur selbst« dieses Staatswesens herausgestellt. Könnte das Schema der Skala »Individuen – Gesellschaft – Staat« einfach erweitert werden zu dem Schema »Individuen – Gesellschaft – Staat – Welt«, so dass jetzt vom »Weltpathos« die Rede sein kann? Aber diese Skala enthält vor der letzten Stufe eine Diskontinuität. Denn ein Individuum, eine Gesellschaft, ein Staat stehen den »Anderen« gegenüber und haben ihre Selbstidentität, die den Anderen gegenüber erklärt wird, während die »Welt« keine solchen »Anderen« außer ihrer selbst hat. Als die Totalität, für die es kein Außen gibt, braucht die Welt keine »Souveränität« zu haben, die nach außen hin erklärt werden soll. Die Individuen gehören zu einer Familie, einer Gesellschaft und einem Staat, solange dieser für sie existiert, so dass sie diesen gegenüber ein Zugehörigkeitsgefühl haben, auch wenn dieses Gefühl teilweise in Form des Wunsches gehegt, oder als das Gefühl der Feindseligkeit bezeichnet wird, wie es bei einem Revolutionär oder Terrorist der Fall ist. Aber sie haben der »Welt« gegenüber überhaupt kein Zugehörigkeitsbewusstsein, ausgenommen das Gefühl des Hängenbleibens an dieser Welt und die Abwehr gegen die Verabschiedung von dieser Welt. Allerdings verhält es sich anders, wenn mit der »Welt« eine bestimmte Region gemeint wird. Aber dies bedeutet keine bloße Korrektur des oben Gesagten, sondern dass die Begriffsbestimmung »Welt« sich erweitert. Als phänomenologischer Zugang zum Begriff der »Welt« ist die Darlegung Heideggers in »Sein und Zeit« nach wie vor das weitreichende Muster. Er gibt dort vier Begriffe der Welt: 1. Welt als das All des Seienden, 2. Welt als ontologischer Terminus für die Region 318 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Weltpathos und eine andere »Umwertung aller Werte«

der möglichen Gegenstände, 3. Welt als das »Worin« des Lebens des faktischen Daseins, 4. Welt als der ontologisch-existenziale Begriff der Weltlichkeit. 489 Später stellte Heidegger in »Ursprung des Kunstwerkes« das Begriffspaar »Erde und Welt« heraus, 490 und in »Die Zeit des Weltbildes« zeigte er die Welt der Neuzeit als »Weltbild«. 491 Als ein weiterer Vorläufer in der phänomenologischen Betrachtung der Welt ist Heinrich Rombach zu nennen, der in »Welt und Gegenwelt« eine neue Perspektive erschlossen hat. 492 Das Buch beginnt mit dem Wort Rilkes »Alles ist nicht es selbst« aus den »Duineser Elegien«. Ihm wird die eigene Strukturphänomenologie zugrunde gelegt, mit der Rombach die »Welt« in der Genese aus der »Gegenwelt« als deren immanentes Prinzip auffasst. Mit der Gegenwelt ist die Welt der »Hermetik« als des Prinzips der Nacht gemeint, das gegenüber dem Prinzip des Tages als unvordenkliches Geheimnis des Werdens gilt, als Gott des Flugs und des Übergangs, des Augenblicks usw. Dieses Werk wird in der gegenwärtigen phänomenologischen Forschung, die im guten und schlechten Sinne philologischer Akademismus sein will, als unzeitgemäßes, allzu unzeitgemäßes Buch weitgehend vergessen. Es gilt aber dem Erachten des Verfassers zufolge als konkret phänomenologischer Vollzug dessen, was Rombach in seinem großen Werk Substanz System Struktur 493 entwickelt hat. Jedoch wird das Phänomen der »Welt« durch die Gedanken dieser Vorläufer noch nicht erschöpft. Der »Welt-Ort« z. B., der im vorliegenden Buch zur Betrachtungsachse gemacht wird, gehört zu keiner der genannten Weltauffassungen. Aus der bisherigen Betrachtung folgt aber von selbst, dass die Erschlossenheit der jeweiligen Welt je der »Welt-Ort« genannt werden kann. Wenn im Anschluss an das Gesellschaftspathos, Staatspathos usw. noch das »Weltpathos« gedacht werden soll, so kann es eine andere Sinndimension des 489 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, HGA, Bd. 2, § 14, »Die Idee der Weltlichkeit der Welt«, S. 85 ff. 490 Vgl. M. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, (1935/36), in: Holzwege, HGA, Bd. 5, S. 1 ff. 491 M. Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes« (1938), Holzwege, HGA, Bd. 5, S. 78 ff. 492 H. Rombach, Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Freiburg i. Br. 1983. 493 H. Rombach, Substanz System Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg i. Br. / München 1965.

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

»Welt-Ortes« bedeuten als die bisher herausgestellte. Es ist die Aufgabe des letzten Kapitels des vorliegenden Buchs, diese Dimension als den Kern der »Compassion« herauszustellen. Zunächst ist ein unnötiges Missverständnis auszuschließen, um auch auf der Vorstellungsebene das Verständnis zu erleichtern. Das »Weltpathos« ist von der »die Welt bewegenden Emotion« deutlich zu unterscheiden, wie sie in der »behavioral economics« entworfen wird. 494 Angenommen, dass die instinktive Ahnung der Menschen von der Pleite einer Bank zur »Emotion« der gewissen Handlung führt und als Folge dieser Handlung tatsächlich die Pleite dieser Bank herbeigeführt wird, so ist diese »Emotion« ein psychologisches Phänomen, das viele Vorverständnisse bezüglich »Finanzen«, »Konjunktur«, »Profit«, »Investition« usw. voraussetzt. Die Motivation der Handlungen, die unter diesen unzähligen Voraussetzungen gebildet wird, ist die »Emotion« im Sinne des Begriffs der »behavioral economics«. Dem gegenüber bedeutet das hier gemeinte »Weltpathos« die »Erschlossenheit« des Welt-Ortes, an dem diese Motivation entsteht. Das Weltpathos ist der Geschehensort der »Welt«, die über die Individuen hinausgehend diese in sich umschließt. Es ist die unmittelbare Erfahrung des »In-Berührung-mit-der-Welt-seins«. Wie man aber gleich bemerkt, ist der Inhalt dieser unmittelbaren Erfahrung zugleich der Inhalt der unmittelbar berührten »Welt«. Er verweist auf die »Urwelt«, die vor jeglicher empirisch-wissenschaftlich bzw. objektiv vollzogenen Analytik liegt, wenn auch nicht im Sinne des Dinges an sich. Aus der bisherigen Betrachtung lässt sich sagen, dass die Welt, die am Welt-Ort als Pathos erschlossen wird, die Welt der »Fernnähe« oder der »Höhentiefe« ist, die je in den »Phänomenkategorien« bzw. »Weltkategorien« erscheint. Es ist die konkrete Erfahrung, dass sie als die uns umschließende, wirkliche Welt da gegenwärtig ist. Aber dennoch ist sie nicht als »hier« oder »dort« seiend festzulegen. Sie ist in diesem Sinne nirgendwo, und dennoch ganz bestimmt da. Diese »Welt« lässt sich mit einem Wort formulieren, das sich im »Diamant-Hannya-Sutra« findet: »Die Welt ist nicht Welt, darum lässt sie sich die Welt nennen.« 495 Matteo Motterlini, Economia emotiva, Mailand 2006. Der deutsche Titel würde lauten: »Die emotionale Ökonomie« (japanische Übersetzung, Tôkyô 2009). Motterlini zeigt in der Perspektiven der »behavioral economics«, dass und wie die »Emotion«, verursacht von gewissen Intuitionen und Ahnungen, die Ökonomie motiviert und bewegt. 495 Zum Text des Diamant-Hannya-Sutra gibt es viele Ausgaben im Sanskrit, Tibe494

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Weltpathos und eine andere »Umwertung aller Werte«

Eine schnelle Identifikation des Gedankens der »Leere« im »Diamant-Hannya-Sutra« und des Gedankens vom »Welt-Ort« sollte allerdings vermieden werden. Wie bisher bemerkt, wurde im Mahayana-Buddhismus die »Geschichte« als das moderne Problembewusstsein mit Recht nicht thematisiert, und umgekehrt war auf der Seite der vom Bewusstsein der strengen Wissenschaft geprägten Phänomenologie der Gesichtspunkt der »Errettung« oder der »Erlösung« nicht vorhanden. Aber dennoch sind die Einsicht: »Die Welt ist nicht Welt, darum lässt sie sich die Welt nennen«, und die Erfahrung: »Die Welt der Phänomenkategorien ist nirgends, und dennoch ist sie bestimmt da« nicht ohne Zusammenhang. Daisetsu Suzuki nannte die Logik des Diamant-Hannya-Sutra die »Logik des ›Ist-und-zugleichist-nicht‹« 496 und setzte sie mit der Logik Kitarô Nishidas der »widersprüchlichen Selbstidentität« gleich, die Nishida als Logik der »Selbstbestimmung der Welt« entwickelte. Es wurde vorhin festgestellt, dass diese »Selbstbestimmung der Welt« die logische Seite des »Welt-Ortes« in unserem Sinne war. Wenn es sich so verhält, so darf versucht werden, die Tiefendimension des »Welt-Ortes« zu suchen, indem der Gedanke der »Leere« dieses »Diamant-HannyaSutra« eine Weile in Betracht gezogen wird. Im Ausdruck »Die Welt ist nicht Welt, darum lässt sie sich die Welt nennen« ist offensichtlich eine Denkebene enthalten, die für die uns sonst vertraute Denkweise ganz fremd ist. 497 Eine Umwendung des Denkens wird in ihm beansprucht, die, um es mit dem Ausdruck Nietzsches zu sagen, die »Umwertung aller Werte« genannt werden tischen und Chinesischen. Ausführliche Anmerkungen zu diesen Ausgaben und den Kommentaren werden von Kôun Kajiyoshi in Kongô Hanna-Kyô, Tôkyô 1972, zusammengefasst. Auch sind die philologischen Anmerkungen Hajime Nakamuras und Kazuyoshi Kinos hilfreich, in: Hannya-Herz-Sutra – Diamant-Hannya-Sutra (jap.), herausgegeben und angemerkt von H. Nakamura und K. Kino, Tôkyô 1960, S. 72 f. 496 Der japanische Ausdruck dafür ist »soku-hi«. Eine etwas entfaltete Formel kann lauten: »A ist und zugleich ist nicht A«. Vgl. Daisetsu Suzuki, Logik des »Ist-undzugleich-ist-nicht«, in: Ders., Zen des Diamant-Sutra. Der Weg zum Zen (jap.), Tôkyô 1960, S. 9–23. 497 Yûichi Kajiyama redet in seinem Buch Der Gedanke der Leere. Sprache und Schweigen im Buddhismus (jap.), Kyôto 1983, von der Schwierigkeit, die er in seiner japanischen Übersetzung der buddhistischen Sutras gehabt hat. »Es ist kaum möglich, die Sutras ins Japanische zu übersetzen, da diese im Gedankenbereich gebildet wurden, der den heutigen Japanern ganz fremd ist.« (a. a. O., S. 75). Die von Kajiyama gemeinte »Fremdheit« könnte in einer breiteren Perspektive als die Fremdheit für die neuzeitliche rationale Denkweise überhaupt in Betracht gezogen werden.

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

kann. 498 Zwar wies Heidegger darauf hin, dass die Umwertung aller Werte, als Gegenzug gegen die metaphysische Vorstellungsweise »Wert«, nach wie vor von dieser Vorstellungsweise bestimmt wird. 499 Die Kritik behält recht. Aber im vorliegenden Abschnitt wird mit dem »Wert« das gemeint, um das es dem Lebenden in dessen Leben geht. Sei es in der Phänomenologie, sei es im Buddhismus, die Umwertung aller Werte bezüglich der zunächst vertrauten Lebens- und Denkgewohnheit ist das Entscheidende.

2.

Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht. Über den »Anfang der Welt«

Wenn die »Umwertung aller Werte« die Ansicht über die »Welt« betrifft, so kommt sie nicht auf einmal zustande. Sie ist der Prozess einer Denkübung. Die »Welt« kann dabei je nach dem Gesichtsort, aus dem sie gesehen wird, bald die Totalität der Beziehungen der Staaten bzw. Nationen, bald die Totalität der Kulturen oder aber auch den Namen einer bestimmten Region (wie z. B. »die Kunstwelt«, »die Welt der Handwerker«, usw.) bedeuten. Aber auf jeden Fall enthält der Ausdruck eine Verallgemeinerung, so dass sie nicht als eine konkrete bzw. vereinzelte Form vorgestellt wird. Wie verhält es sich jedoch beim Begriff des »physisch-physikalischen Universums«? Kann die Rede von der »Leere« angesichts der enormen Entwicklung der Physik noch sinnvoll sein? Ist die Idee des »Welt-Ortes« in physisch-physikalischer Perspektive eine sinnlose Vorstellung? Der Dialog zwischen der Philosophie und der physikalischen Weltansicht ist eigentlich schon seit der Antike aktuell, aber heute für die Philosophie ein besonders prekäres Thema. Das zeigt sich beiIm Sommer 1886 hat Nietzsche, der bereits Jenseits von Gut und Böse publiziert hatte, geplant, vier Bände unter dem Titel »Wille zur Macht« zu verfassen. Der Untertitel sollte lauten: »Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern«. Seit diesen Entwürfen entwickelte Nietzsche vier Themen: »Nihilismus«, »Wertkritik«, »Wille zur Macht«, »Ewige Wiederkehr des Gleichen«, in je verschiedener Weise. Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 12, Berlin / New York, 1980, S. 109. Zu ausführlichen und philologischen Anmerkungen zur Entstehung dieser Fragmente vgl. die genannte Studienausgabe, Bd. 14, 1980, S. 389 ff. 499 Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, HGA, Bd. 6. 1, S. 488 ff., 513 ff. Ein Punkt in der intensiven Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsche in den dreißiger Jahren war diese gründliche Kritik an dem Wertgedanken Nietzsches. 498

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Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht

spielsweise im Hinblick auf das alte Thema »Zeit«. Hier ist die Hürde vor allem die Voraussetzung der Kenntnisse moderner Physik. Im Fall der Unkenntnis dieser Wissenschaft ist der Dialog von vornherein unmöglich, aber auch im Fall guter fachlicher Kenntnisse ist die genannte Hürde ein Problem, da die moderne Physik ohne Philosophie einfach weitergehen kann und eigentlich keines Dialogs mit der Philosophie bedarf. Allerdings ist, nachdem die Frage der Tragweite und des Wesens der Physik keine Aufgabe für die Physik selbst ist, die Physik doch ständig einer philosophischen Reflexion bedürftig, was nur im Dialog mit der Philosophie thematisiert werden kann. Im Problemzusammenhang der vorliegenden Betrachtung wird ein Dialog versucht, indem die bisher im Allgemeinen festgestellte physikalische Kenntnis und das philosophische Denken, soweit es im Allgemeinen nachvollziehbar ist, auf einen Ansatzpunkt fokussiert wird: auf den »Anfang der Welt«. Der Grund, warum dieses Thema der genannte Fokus sein kann, liegt darin, dass an diesem Thema der fundamentale Bereich des Dialogs zwischen der Philosophie und der physikalischen Weltansicht sichtbar wird. Der hier gemeinte »Anfang« bedeutet auch das »Prinzip« und betrifft im Christentum die »Schöpfung«, im Buddhismus den Gedanken von »weder Anfang noch Ende«. Von der Physik her gesehen, die in den Phänomenen die gesetzliche Kausalität zu erfassen und die Struktur dieser Phänomene positiv aufzuzeigen versucht, wäre nicht nur die buddhistische Ansicht der »Leere«, sondern auch der christliche Glaube an die »Schöpfung« theoretisch nicht ernst zu nehmen. Beide würden höchstens als eingebildete Vorstellungen der Menschen früherer Zeiten betrachtet, in denen die Einsichten heutiger kosmologischer Physik noch ausstanden. Es ist aber die Frage, ob der Sachverhalt so simpel ist. Die Geschichte der Konfrontation zwischen dem christlichen »Glauben« und der »Aufklärung« als dem Glauben an den Rationalismus des wissenschaftlichen Geistes hat bereits zwei Jahrhunderte hinter sich. Dieser Zeitraum brachte nicht eine Situation, in der die eine Seite die andere besiegt hat. Schon in der hegelschen Phänomenologie des Geistes wird die Kritik von Seiten der Aufklärung am Glauben gründlich überprüft. Die Argumentation dort zeigt den fundamentalen Typus der Diskussion dieses Problems, der bis heute gültig ist. Hegel gesteht, dass die Aufklärung den primitiven Aspekt des Glaubens trifft und erschüttert. Aber er weist darauf hin, dass die Aufklärung zwar die primitive Seite des Glaubens an das absolute 323 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

Wesen herausstellt, aber das Vakuum, das nach der Erledigung dieses absoluten Wesens als ein leerer Ort zurückbleibt, nicht selber erfüllen kann. So wird die entscheidende Kritik an der Aufklärung geübt, dass sie nicht weiß, dass sie über sich selbst nicht aufgeklärt ist. 500 Diese Kritik kann anders beschrieben werden: Die Wahrheit, die der menschliche Geist sucht, kann nicht durch die wissenschaftlich-objektive Betrachtung allein erreicht werden. Als eine wissenschaftshistorische Bemerkung zur »Leere« im physikalischen Sinne sei angemerkt, dass sie in der griechischen Philosophie mit dem Wort »kenon« bezeichnet wurde, im 17. Jahrhundert mit dem Experiment Torricellis bezüglich des »Vakuums« zum Thema der Physik wurde und auch heute ein Thema der Quantenphysik darstellt. Das Vakuum in der allgemeinen Vorstellung ist der Zustand, in dem es keine Partikel gibt. In der Quantenphysik wird es »Dirac Sea« bzw. »hole theory« genannt. Der Physiker Paul Dirac (1902–1984) legte 1930 seine hypothetische These vor: »Das Vakuum ist der Zustand, der von den mit der negativen Energie aufgeladenen Elektronen voll erfüllt wird.« Wenn Gamma-Strahlen von hoher Energie diese See durchlaufen, springen die Elektronen mit der positiven Energie aus dem Meer, wodurch ein »Loch« (hole) entsteht. Da dieses Loch wie ein Partikel wirkt, wird es auch »Antimaterie« genannt. 501 Diese Antimaterie namens »Positron« wurde tatsächlich 1932 entdeckt. Dem Entdecker des Positrons wurde kurz darauf der Nobel-Preis verliehen, Dirac aber, der theoretisch die Existenz dieses Partikels vorausgesagt hatte, wurde erst ein Jahr später mit diesem Preis ausgezeichnet. Die Verwandtschaft zwischen der Theorie Diracs und der japanischen Philosophie des Nichts wurde schon früh von einem Physiker bemerkt. In einem Brief schreibt Tanabe: »Die Bemerkungen, die Herr Mokichirô Nogami mir gegeben hat, dass Dirac denselben Gedanken wie meinen bereits veröffentlicht hatte, bewegt mich, wie das Geräusch der Schritte des Besuchers im tiefen Berg, wo man einsam

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 418. Allerdings sagt Dirac selbst in einer Vorlesung, dass man zwar dazu geneigt ist, den Zustand als Leere zu bezeichnen, in dem kein Partikel vorhanden ist, aber die Leere muss ein stabiler Zustand (steady-state) sein, so dass nicht jeder Zustand als die Leere bezeichnet werden kann. Vgl. P. A. M. Dirac, H. Hora and J. R. Shepanski, Directions in physics. Lectures delivered During a Visit to Austria and New Zealand in August/September 1975, copyright 1978 by John Wiley & Sons, Inc. 500 501

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Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht

wohnt.« 502 Tanabe begann etwa in der Zeit der Verfassung dieses Aufsatzes mit dem Versuch, die Relativitätstheorie und die Quantentheorie zu synthetisieren, den »lokalen und mikroskopischen Standort«. Aber am Ende kann man schwer sagen, inwieweit Tanabes Versuch dieser Synthesis für die moderne Physik akzeptabel ist, auch wenn die philosophische Bedeutung des Versuchs nicht zu übersehen ist. 503 Die »hole theory« Diracs wurde ihrerseits auch seitdem ergänzt und verbessert, aber trotz aller dieser Verbesserungen bleibt der fundamentale Unterschied zwischen dem »Vakuum« in der Physik und der »Leere« des Mahayana-Buddhismus unverändert. Bei letzterer geht es um das »Selbst« des Beobachters, das nicht zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung wird, somit um die prajna-Weisheit im Unterschied zur wissenschaftlich-objektiven Erkenntnis. Es ist ein Kategorienfehler, die buddhistische bzw. christliche Anschauung unmittelbar mit der physikalischen Theorie zu vergleichen. Der Fehler kommt daher, dass das Auge der das Weltall beobachtenden Wissenschaft und das dieses Auge selbst sehende Auge gleichgesetzt werden und dass das erstere in der Vergessenheit des letzteren verabsolutiert wird. Wenn das erstere das »Denken« im philosophischen Sinne genannt wird, so ist die Herkunft und die Folgerung dieses Kategorienfehlers dies: »Die Wissenschaft denkt nicht«, die These Heideggers in seiner Schrift »Was heißt Denken?«. 504 Damit diese These nicht voreilig als der Unsinn eines Denkers abgetan wird, der gegenüber der Wissenschaft ignorant gewesen sei, ist Fol502 Der Brief ist datiert 25. Mai 1955 und wurde aufgenommen in Hajime Tanabe / Yaeko Nogami Briefwechsel (jap.), Tôkyô 2002, S. 278. Dieser Brief setzt den Aufsatz Tanabes voraus, den er in demselben Jahr unter dem Titel »Vorschlag einer neuen Methode in der theoretischen Physik« (jap., in: Hajime Tanabe, Gesamtwerke, (jap.), Bd. 12, Tôkyô 1964, S. 335–368) veröffentlicht hatte. Die Schriftstellerin Yaeko Nogami hatte diesen Aufsatz, wohl geschenkt von Tanabe, an ihren Sohn Mokichirô weitergeleitet, der Professor für Kernphysik an der Tôkyô Universität war. Dieser hat vermutlich auf das abschließende Wort Tanabes im Aufsatz reagiert. Das Wort lautet: »Ich sehne mich danach, von den Fachgelehrten der Mathematik und Physik mich belehren zu lassen.« (A. a. O., S. 368). Toratarô Shimomura, ein Philosoph der Kyôto-Schule und Spezialist für Wissenschaftsgeschichte, bemerkt, dass dieser Aufsatz »die letzte Stufe der Wissenschaftstheorie der Tanabes Philosophie« markiert (a. a. O., S. 417). 503 Tanabe hatte seinem Versuch den philosophischen Gedanken des »tätigen Selbstgewahrnehmens« (jap: Kôi-teki jikaku) zugrunde gelegt, das er dem Begriff Nishidas »Tatanschauung« (jap: Kôi-teki chokkan) entgegensetzte. 504 M. Heidegger, »Was heißt Denken?«, in: Vorträge und Aufsätze, HGA, Bd. 7, S. 133.

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

gendes zu bemerken: Der mit Heidegger lange befreundete Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker sagte einmal: »Das Verhältnis der Philosophie zur so genannten positiven Wissenschaft lässt sich auf die Formel bringen: Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt.« 505 Die Aufmerksamkeit auf den Dimensionsunterschied zwischen der Frage, die in der Philosophie gestellt wird, und dem wissenschaftlichen Verfahren ist beim Denken der »Leere« im Mahayana-Buddhismus unentbehrlich. Aber unter dieser Voraussetzung ist erneut darauf zu achten, dass die moderne astronomische Physik das erstaunliche Bild des Weltalls immer wieder auf eine Weise erneuert, wie es die einstigen Aufklärer nie zu träumen gewagt hätten. Die Ergebnisse der heutigen Physik werden auch für allgemein Interessierte in verschiedenen Formen veröffentlicht. Die durch diese Informationen mitgeteilten Entdeckungen des »Big Bang«, der »schwarzen Energie«, der »schwarzen Materie«, sind weit anregender (»exciting«) als die SF-Romane. Das im Moment aktuelle (d. h. 2013 zum ersten Mal veröffentlichte und 2016 erneuerte) »Ganzheitsbild« des Universums ist das Ergebnis des Beobachtungssatelliten »Planck« der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). 506 Nach diesem Bild ist das Universum ca. einhundert Millionen älter als bisher angenommen, d. h. 13,8 Milliarden Jahre alt. Dies ist der »wissenschaftliche Beweis« dafür, dass das Universum seinen »Anfang« hat. Allerdings gibt es unter den Liebhabern der astronomischen Physik auch diejenigen, die, zugunsten der mahayana-buddhistischen Lehre von »ohne Anfang, ohne Ende«, auf die sogenannte »steady state cosmology« Sir Fred Hoyles (1915–2001) aufmerksam machen. Nach dieser Theorie findet sich das Universum im Zustand von »steady state«. So können einige Beobachter der Konfrontation zwischen dem christlichen »Schöpfungsgedanken« und der buddhistischen Lehre von »ohne Anfang, ohne Ende« sagen, dass

C. F. von Weizsäcker, Deutlichkeit. Hanser Verlag, München 1978, S. 167. Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) veröffentlichte 2013 und erneut 2016 den »space map«, der durch die »cosmic microwave background; CMB« des Beobachtungssatelliten »Planck« hergestellt wurde. Man kann diese Karte im Internet einsehen. 505 506

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Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht

dieser Konfrontation innerhalb der Physik die Konfrontation zwischen der seit George Gamow (1904–1968) entwickelten »Big-Bang Theorie« und der »Steady-State Theorie« entspricht. (Ob die Physiker selber an derartigen Wiedergaben alter Philosopheme interessieren sind, ist eine andere Frage.) Aber, um es nochmals zu wiederholen, es ist ein Kategorienfehler, wenn man den mahayana-buddhistischen Gedanken der »Leere« durch die Berücksichtigung der kosmologischen Physik überprüfen will. Was in der Physik erforscht wird, ist die faktische kausale Welt, die theoretisch und experimentell festgestellt wird. Sie ist die zu jeder Zeit verifizierbare, objektive Welt. Allerdings bleibt eine Dimension bestehen, in der zwar die wissenschaftliche Wahrhaftigkeit dieser objektiv faktischen Welt anerkannt wird, aber dennoch diese Welt fragwürdig wird: »Warum existiert überhaupt das Universum seit 13,8 Milliarden Jahren, und nicht nichts?« Die Urform dieser Frage wurde von drei Philosophen, Leibniz, Schelling, und Heidegger, vorgelegt: »Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?« 507 Mit dieser Warum-Frage wird die sonst objektiv sichere und in ihrer Wahrhaftigkeit immer verifizierbare Welt in den unbeantwortbaren Abgrund der Fragwürdigkeit geworfen. Diese Frage handelt vom »Nichts«, das nie zum Gegenstand der Physik wird. Auf der Ebene dieser Frage sind das Blühen der Rose im Garten und die Entstehung des Universums vor 13,8 Milliarden Jahren wesentlich dasselbe Ereignis. Angesichts dieser Frage »Warum nicht nichts?« könnte man das Wort eines Dichters heranziehen: »Die Rose blühet ohne Warum«, um die Frage als solche zurückzuweisen. 508 Es kann aber auch die 507 Leibnizens Frage lautet: »Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?« (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, in: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, herausgegeben von C. J. Gerhardt, Bd. VI, S. 422). Die Frage Schellings ist: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?« (F. W. J. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie, Originalausgabe, Bd. XIII, S. 7). Diese Fragen voraussetzend hat Heidegger erneut gefragt: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (M. Heidegger, HGA, Bd. 9, Wegmarken, S. 122, S. 420). Der Horizont bzw. der Sinn dieser Frage ist bei den drei Philosophen je anders, worauf einzugehen hier nicht nötig ist. 508 Wie bekannt hat Angelus Silesius (1624–1677) in seiner Gedichtsammlung Der Cherubinische Wandersmann. Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge notiert: »Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet. Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.« Dieser Satz ist »bekannt«, nachdem Heidegger ihn in seiner

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

Richtung geben, in der diese dichterische Ansicht in die Sprache des Denkens übersetzt und mit der wissenschaftlichen Weltanschauung verglichen wird. In diesem Fall zielt die Betrachtung nicht auf die Kausalität der Außenwelt, sondern auf den Menschen selbst, der die Wissenschaft betreibt, somit nach unserem existenziellen »Selbst«. Dieses kann nirgendwo auf der »Weltraum-Karte« des Satelliten »Planck« 509 lokalisiert werden, da es das diese Weltraum-Karte von oben her sehende Subjekt ist. Das Ich als solches Sehendes wendet die Frage, warum diese Karte und nicht nichts ist, auch an sich selbst: »Woher bin ich gekommen, und was bin ich?« Heidegger nimmt die genannte Warum-Frage im Aufsatz »Was ist Metaphysik?« auf und beschreibt, wie das Seiende im Ganzen in der Stimmung der Angst ins »Nichts« entgleitet. 510 Mit dieser Frage wird auch mein Selbst in Frage gestellt – »warum nicht nichts?«. Dieses »Nichts« ist nicht mehr das Vakuum als ein physikalischer Zustand. Der Gesichtsort »Schöpfung« ist nicht nur bei Schelling, sondern auch im christlichen Mittelalter und der neuzeitlichen europäischen Philosophie der fundamentale. Er geht auf den platonischen Dialog Timaios zurück, oder auf noch frühere kosmische Anschauung. Ihm folgt die Grundansicht: »Jedes, was ist, hat seinen Anfang.« Diese Anschauung funktioniert wie ein Axiom, das keines empirischen Beweises bedarf. Aber gerade wegen dieses Axiomcharakters ist es auch nicht verwunderlich, wenn ein anderes Axiom kommt: »Alles ist ohne Anfang.« Dieses ist das Grundwort im vorhin zitierten Herz-Sutra, das sagt: »Die Erscheinungen sind in ihrem Aspekt der Leere so, dass sie weder entstehen noch vergehen.« Das eine Axiom »Alles hat seinen Anfang« und das andere »Alles ist ohne Anfang« bilden eine Antinomie, wobei jede der beiden Thesen eines gründlichen Nachdenkens bedarf. Dieses »Weder entstehen noch vergehen« war, wie gesehen, auch der Kerngedanke der Schrift Nāgārjunas »Die Lehre der Mitte« (Mūlamadhyamaka-kārikā). Die Grundansicht des Mahayana-Buddhismus ist, dass die Welt ohne Anfang, ohne Ende ist. Diese Grundansicht könnte übrigens auch christlich verstanden werden, wenn Vorlesung Der Satz vom Grund (1957), jetzt: HGA, Bd. 10, S. 53 ff., thematisch behandelt hat 509 Vgl. http://stw.mext.go.jp/series.html. 510 Vgl. M. Heidegger, »Was ist Metaphysik?«, in: Wegmarken, HGA, Bd. 9, S. 112.

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Dialog mit der physisch-physikalischen Weltansicht

man will. Denn Gott als das ewige Wesen selbst ist doch ohne Anfang und ohne Ende, weder entstanden noch vergänglich. Diese Ansicht würde vom gemeinen Menschenverstand her gesehen zunächst unsinnig aussehen. Aber der gemeine Menschenverstand hat zwar in der alltäglichen Lebenswelt eine der Gewohnheit folgende Gültigkeit. Sie selber ist aber weder objektiv noch wissenschaftlich und auch keine religiöse Wesensanschauung. Sie hat Ähnlichkeit mit der Vorstellung, sich beim Begriff des »Urknalls« einen minimalen anfänglichen Punkt vorzustellen, dem eine Explosion folgt. Diese Vorstellung ist teilweise unvermeidlich als Hilfsmittel, weil manche Einführungen ihre Erklärungen sogar mit den mathematischen Zahlenwerten bezüglich der Expansionsgeschwindigkeit des Alls geben. Dabei wird ignoriert, dass der Anfang des Urknalls kein innerzeitlich-innerräumlicher Punkt ist und dass sowohl der Raum wie auch die Zeit erst mit dem Urknall »erschaffen« wird. Überhaupt kann der physikalische Zustand, in dem es keinen ZeitRaum gibt, nur schwer in die Form unserer Vorstellung passen. Denn um es mit Kant zu sagen, bedarf das menschliche Erkenntnisvermögen der Form der Anschauung »Zeit« und »Raum«, um überhaupt im Zeit-Raum sich vorzustellen, und diese Anschauungsform ist selbst kein Gegenstand der Anschauung mehr. 511 Der Schelling’sche Gedanke des »Ungrundes« kann in diesem Zusammenhang nochmals herangezogen werden. Die graphische Beschreibung des Anfangs der Schöpfung oder des Urknalls mit den Koordinaten Raum und Zeit ist, so unvermeidlich sie als Hilfsmittel und so korrekt sie als Zahlenwert auch sein mag, doch von vornherein ein Kategorienfehler. Schelling nannte diesen Anfang den »Ungrund«. Dieser ist streng genommen vom »Abgrund« als dem unendlich tiefen Grund bzw. »Grundlosen« zu unterscheiden. Der »Ungrund« ist das, was überhaupt nicht mehr dem kausalen Denkhorizont des »Grundes« zugehört. Er liegt auch nicht in der unendlich weiten Vergangenheit. Ihm gehört die Eigenschaft »Alles in Allem« zu. 512 Er ist nicht nur in jedem Naturphänomen, sondern auch in jeder menschlichen Handlung anwesend.

511 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, I. Transzendentale Elementarlehre, § 2, 3 (Vom Raum), § 4–7 (Von der Zeit). 512 Ders., Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 408.

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

3.

Die Ungründigkeit des »Welt-Ortes«

Ist nun diese mystische bzw. theologische Spekulation innerhalb des philosophischen Denkens eine »Umwertung aller Werte«, aber von der Lebenswelt der Gegenwart her gesehen nur ein »entferntes« Raisonnement? Kann sie zu einer Umwertung der Werte auch in der Lebenswelt führen? In Wahrheit steht die Anschauung des »Ungrundes« in einer überraschenden »Nähe« zur alltäglichen Lebenswelt. Denn die »Tat« des Menschen gilt für Schelling als die »Tat aus dem Ungrund«. 513 Die Freiheit muss für ihn ungründig sein, indem sie den Horizont der kausalen Notwendigkeit durchbricht. Schelling gibt als Beispiel des Ungrundes neben der »Tat« auch den menschlichen »Charakter« an. 514 Der Charakter wird meistens gesehen als im Grunde »eingeboren«, d. h. als »genetisch«. Es gibt aber sicherlich auch das umweltliche Element. Bei beiden Fällen kommt man, wenn man auf die Herkunft der Elemente der Charakterbildung zurückgeht, am Ende an den Anfang der Schöpfung – solange man den Gesichtsort der »Schöpfung« beibehält. Der in dieser Weise spekulativ erreichte Anfang muss in jeder »Tat« oder dem »Charakter« des Menschen anwesend sein. Er muss als »Alles in Allem« auch in der alltäglichen Lebenswelt anwesend sein. Der Ausdruck »Alles in Allem« (»omnia in omnibus«) findet sich ursprünglich im Korintherbrief I, 15. 28, und ist nicht der originelle Gedanke Schellings. Er wurde auch und vor allem von Johannes Scotus Eriugena (810?–877?), in seiner Schrift Periphyseon, als die Seinsweise der »Natur« (physis, natura) theologisch-spekulativ entwickelt. 515 Der Schöpfergott im gewöhnlichen Sinne wird verstanden als das anfängliche Wesen, das »zwar erschafft, aber nicht das Erschaffene ist«. Das Erschaffene im Ganzen ist aber das, was erschaffen wird, ohne, dass es etwas erschafft, das »Angefangene«. Der Mensch erschafft aber etwas, obwohl er das Erschaffene ist. In diesem Sinne ist er Ebenbild Gottes. Der Schöpfergott selbst ist nun in seinem innersten Wesen das, was »weder erschafft, noch erschaffen wird«. Eriugena verwendet dazu verschiedene Variationen der Formulie513 F. W. J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, Schellings Werke, Nachlaßband, herausgegeben von Manfred Schröter, Münchner Jubiläumsdruck 1966, S. 93. 514 Ebd. 515 Der griechische Titel lautet: Περὶ φύσεων. Der lateinische Titel wäre allerdings geläufiger: De divisione naturae. Der deutsche Titel ist: Einteilung der Natur.

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Die Ungründigkeit des »Welt-Ortes«

rung: »natura quae nec creat nec creatur« oder »natura neque creata neque creans«. 516 Eriugena fasst diese Seinsweise Gottes als den Zustand auf, in dem der Anfang (principium) und das Ende (finis) eins werden. Um es mit einem leicht vorstellbaren Gleichnis zu sagen, wäre er vergleichbar mit dem Zustand, in dem der Gott des AT nach der sechstägigen Tätigkeit des Aufbaus der Welt am siebten Tag ruht. Allerdings sollte die Seinsweise »weder zu erschaffen noch erschafft zu werden« nicht als ein innerzeitlicher Zustand aufgefasst werden, sondern als ein überzeitliches Wesen. Dies ist ähnlich der Zeit, die selbst unveränderlich ist, auch wenn jedes innerzeitlich Seiende der Zeit unterworfen ist und sich verändert. Die Zeit selbst verläuft nicht. 517 Der Schöpfergott muss inmitten seiner Tätigkeit der Schöpfung, wie das Feuer, das sich selbst nicht brennt, weder erschaffen noch erschafft werden. Schelling zeigte die Möglichkeit, die christlich-theologische Spekulation aus dem dogmatischen Rahmen herauszunehmen und anhand der alltäglichen »Tat« oder des »Charakters« des Menschen konkret zu betrachten. In einer Übernahme seines Gedankens des »Ungrundes« können wir jetzt diesen Ungrund im Grund des »WeltOrtes« selbst sehen. Denn dieser ist eben an der Tat eines Menschen oder dessen Charakter zu finden. Die Ungründigkeit des Welt-Ortes zu sehen heißt, den Denkhorizont zu sehen, in dem der Begriff »Gott« nicht unbedingt benötigt wird. Wie wir im Folgenden sehen werden, bedeutet dies nicht gleich die Position des Atheismus oder des Nihilismus, sondern den Denkhorizont, der erst im Dialog mit dem Gottesgedanken gebildet wird. Die Ungründigkeit der »Tat« betrifft gleich den Bereich »Ethik«, der durch die Menschentat gebildet wird. Die Ansicht der Ungründigkeit der Ethik ist vom traditionellen Gedanken der Ethik her gesehen sehr fremd. Man denke an Kant, der in seiner Kritik der praktischen Vernunft das Dasein Gottes als das »Postulat der reinen praktischen Vernunft« vorgelegt hat. 518 Bei Kant ist das Grundproblem der Ethik Vgl. Johannes Scotus Eriugena, Über die Einteilung der Natur. Übersetzt von Ludwig Noack. Philosophische Bibliothek 86/87, Hamburg 1994. S. 24–44, etc. 517 Vgl. die These Kants: »Die Zeit selbst verändert sich nicht«, in Kritik der reinen Vernunft, A 41, B 58; A 144, B 183. Kant legt diese These in seiner transzendentalen Sinneslehre vor, um die »Form der Sinnlichkeit« zum Ausdruck zu bringen. Im Gesichtsort des »Weder-Entstehen-noch-Vergehen« der »Leere« sollte diese »Form der Sinnlichkeit« selbst als noch substanzialistisch problematisiert werden. 518 Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 2. Buch, 2. Hauptstück, V 516

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

»Gut und Böse«. Das »Dasein Gottes« wurde da postuliert, wo zwar das »Gute« vom moralischen Gesetz im Inneren des Menschen durch den kategorischen Imperativ bestimmt wird, aber die Frage übrig bleibt, ob dieses Gute mit der »Glückseligkeit« verbunden ist bzw. wie das höchste Gute als Vereinigung von Gutem und Glückseligkeit begründet werden kann. Es scheint zunächst, dass solche Begründung mit dem Gedanken des »Ungrundes« nicht zu leisten ist. Oder wird eben in diesem Gedanken ein neuer ethischer Gesichtsort vorbereitet für die ethischen Probleme der Gegenwart, die nicht mehr leicht von der bisherigen Ethik behandelt werden können? Denn diese Probleme hängen damit zusammen, dass die bisherige »Theodizee« nicht mehr imstande ist, Gott als Grund von Gut und Böse zu verteidigen und zu erklären. Diese Situation wird auch von Seiten des Gottesglaubens her radikal betrachtet. Als ein ausgezeichnetes Beispiel für eine solche Argumentation ist der Gedanke Hans Jonas’ aufzunehmen, der die Ethik als die »Möglichkeit der rationalen Metaphysik« zu erforschen versuchte. 519

4.

Ethische Weltanschauung. Einige Bemerkungen zu Hans Jonas

Jonas (1903–1993) ist der Denker, der mit Keiji Nishitani (1900– 1990) sowie Emmanuel Levinas (1906–1995), die im Exkurs zum vorliegenden Kapitel zur Sprache kommen werden, ein Zeitgenosse ist. Wie auch bei Levinas wurzelt sein Denken in der jüdischen Tradition. Er verfasste das genannte Buch »sowohl der Grenze des Lebens wie der Dringlichkeit des Gegenstandes wegen, nach den langen Jahren gedanklicher Vorarbeit für die Niederschrift den schnelleren Weg wählen zu sollen, der immer noch langsam genug war.« 520 Wenn ich »Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft«, S. 124 f. Bei Kant gelten dazu noch die »Freiheit« und die »Unsterblichkeit der Seele« als Postulat der praktischen Vernunft. Im Problemzusammenhang des vorliegenden Kapitels aber, in dem der Gottesgedanke Jonas’ erwähnt werden wird, wird nur das »Dasein Gottes« als Thema herangezogen. 519 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979, jetzt nach Suhrkamp-Ausgabe, Frankfurt am Main, 3. Auflage 1993, S. 94. 520 A. a. O., S. 11.

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Ethische Weltanschauung. Einige Bemerkungen zu Hans Jonas

etwas Persönliches äußern darf, so habe ich, der bald das Alter von Jonas zum Zeitpunkt des Schreibens des genannten Buchs erreichen wird und selber einen ähnlichen Verlauf erfahren hat, wie ich im Schlusskapitel beschreibe, einige Sympathie für ihn – auch wenn ich mir im Folgenden erlaube, einige kritische Bemerkungen zu machen. Die von Jonas gemeinte »Dringlichkeit des Gegenstandes« bedeutet das Problem der »Verantwortung«, die wir Gegenwärtigen angesichts der ernsten Wirkung der Technologie auf die Erde für die nachfolgenden Generationen zu übernehmen dringlich gefordert sind. So nennt Jonas die von ihm konzipierte Ethik die »Zukunftsethik«. Er versäumt dabei nicht, zu überprüfen, warum in der bisherigen Ethik das Problem der »Verantwortung« nicht thematisiert wurde. Seine Begründung ist, dass sich die bisherige Ethik wegen ihrer »vertikalen Ausrichtung« an die überirdische Idea wendet bzw. wegen der eschatologischen Sicht und des Glaubens an die in der Geschichte immanente Vernunft einem Utopismus verfällt. So erklärt Jonas eine Art »Umwertung aller Werte« in seiner Weise: »Wir Postmarxisten (…) müssen die Dinge anders sehen.« 521 Bei Jonas handelt es sich um die Umwendung von der kantischen Wertethik, von dessen Formel »Du kannst, denn du sollst« zur Formel »Du sollst, denn du tust, denn du kannst«. 522 Jonas sieht das Urbild aller Verantwortung in der elterlichen Verantwortung für das neugeborene Kind, »dessen bloßes Atmen unwiderstehlich ein Soll an die Umwelt richtet«. 523 Dem Gedanken des »Prinzips Verantwortung« liegt die Ansicht zugrunde, die Ethik durchaus als die menschliche Leistung aufzufassen. Dies ist zwar eine zunächst selbstverständliche Ansicht, aber Jonas betont sie mit Nachdruck. »Es muß sie (die Ethik) geben, weil Menschen handeln, und Ethik ist für die Ordung der Handlungen und für die Regulierung der Macht zu handeln«. 524 Zwar bedeutet das Wort »Ethos« die Gewohnheit oder die Sitte. 525 Diese Wortbedeutung besagt, dass die Gewohnheit oder die Sitte vom Menschen gebildet wird, aber dieser Mensch selber von der Lebenswelt bzw. Umwelt gebildet wird, so dass das »Ethos« auch »Wohnort« bedeutet, an dem die Gewohnheit oder die Sitte ihre Wurzeln schlägt. In der Ethik A. a. O.,S. 229. A. a. O.,S. 230. 523 A. a. O.,S. 235. 524 A. a. O., S. 58. 525 Vgl. Gustav E. Benseler, Griechisch-Deutsches Schulwörterbuch, Leipzig und Berlin 1904. 521 522

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

Jonas’ tritt diese orthafte Seite der Ethik allerdings in den Hintergrund, was mit der später darzustellenden Problematik seiner Ethik zu tun hat. So wird bei Jonas der Gesichtspunkt »Mensch« ausdrücklich in den Vordergrund gebracht. »Erst die Idee des Menschen, indem sie uns sagt, warum Menschen sein sollen, sagt uns damit auch, wie sie sein sollen«. 526 Diese Behauptung ist ein anderer Ausdruck für die von ihm gemeinte »ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen«. 527 Er erklärt nicht eigens, was die »Idee des Menschen« sei. Für ihn ist es der Imperativ, »daß eine Menschheit sei«. 528 Für Jonas als kritischer Schüler Heideggers hat die von Heidegger in Betracht gezogene Frage Leibniz’, warum etwas und nicht nichts ist, nur darin einen Sinn, dass sie die Frage des Seinsollens »des Menschen« tangiert. 529 Die von Jonas gedachte »Verantwortung« ist die Antwort auf die Frage, »wie der Mensch sein soll«. Niemand wird einen Einwand dagegen erheben, dass seine »Zukunftsethik« für uns Gegenwärtigen eine wichtige Aufgabe ist. Aber das »Prinzip Verantwortung«, wie Jonas es vorgelegt hat, scheint ein Problem zu haben. Denn in der Wirklichkeit gibt es oft die Situation, in der die Haltung der eigenen Kraft versagt und das »Du kannst« auf harten Widerstand stößt. Zwar ist die existenzielle Entscheidung, die Position des »Könnens« durchzuhalten, respektabel. Aber sie wird in einer ernsten Situation, in der das »Können« scheitern muss, nur Verzweiflung hinterlassen. Die »Zukunftsethik« sagt als humanistische Position vieles, dem man zuhören muss. Aber was sagt sie zum Beispiel in einer Grenzsituation wie »Auschwitz«? Diese Grenzsituation ist keine Ausnahmesituation, sondern zeigt sich auch in der Machtpolitik eines Diktator-Staats oder angesichts der Gräuel von Gewaltverbrechen. Diese Frage wäre das, was Jonas selbst wohl beschäftigt hat. Fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buchs Das Prinzip Verantwortung hielt Jonas, der über achtzig Jahre alt war, den Vortrag »Der Gottesbegriff nach Auschwitz«, der gleich gedruckt wurde. 530 Das war das H. Jonas Das Prinzip Verantwortung, S. 91. Ebd. 528 Ebd. 529 A. a. O., S. 97/98. 530 H. Jonas, »Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme«. Dieser Vortrag wurde zeitnah gedruckt in: Reflexionen finstrer Zeit. Zwei Vorträge von Fritz Stern und Hans Jonas, herausgegeben von Otfried Hofius, Tübingen 1984. Er er526 527

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Ethische Weltanschauung. Einige Bemerkungen zu Hans Jonas

Buch, mit dem die »Verantwortung Gottes« in Frage gestellt wird. Die Frage, wieso Gott in Auschwitz schwieg, erschütterte die jüdischen Gläubigen. Denn der Gott des Judentums sollte eigentlich der Herrscher der Geschichte sein. Die von Jonas vorgelegte Gotteslehre bzw. die Theodizee wurde die theologische Begründung des »Prinzips Verantwortung«. Dieses Buch führt zu einer überraschenden Konklusion, die sich kurz formulieren lässt: »Gott ist keine Verantwortung zuzugestehen«. Nachdem Gott die Welt erschaffen hat, unterwirft er sich dem Geschehen namens »Zimzum«. Um das Wort Jonas’ paraphrasierend zu erklären: Zimzum bedeutet Kontraktion, Rückzug Selbsteinschränkung. Um Raum zu machen für die Welt, musste der En-Sof des Anfangs, der Unendliche, sich in sich selbst zusammenziehen und so außer sich die Leere, das Nichts entstehen lassen, in dem und aus dem er die Welt schaffen konnte. 531 Dieser Mythos entstammt, wie Jonas selbst sagt, 532 ursprünglich der Kabbala, der ältesten jüdischen Lehre. Aber Jonas sagt auch, dass er mit diesem Gedanken nicht ganz allein steht. 533 In der Tat wirkt dieser Gedanke des »Zimzum«, wie im späteren »Exkurs« dieses Kapitels zu sehen ist, auch auf die Ethik Levinas’. Dieser Mythos entspricht wohl der »Mystik« sowohl im Christentum als auch im Islam. Die Mystik wird oft als eine Häresie, aber auch als Sonderposition angesehen, die sogar als höher als die Orthodoxie angesehen wird. Jonas bezeichnet sie als die »mächtige Unterströmung der Kabbala«. 534 Es ist leicht zu sehen, dass für Jonas dieser Mythos »Das Prinzip Verantwortung« begründet, weil der Mythos besagt, dass Gott dem Menschen alle Verantwortung auf der Erde überlässt. Aber das Verhältnis des Mythos und des Prinzips Verantwortung ist nicht ganz linear-kontinuierlich. Denn in der Schrift Das Prinzip Verantwortung handelte es sich um die Position, »unabhängig von der Religion« 535 eine »rationale Metaphysik« 536 zu entwerfen. Dagegen geht es im schien später auch im Suhrkamp Verlag als Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt am Main 1987. 531 H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, a. a. O., S. 45/46. 532 A. a. O., S. 42. 533 A. a. O.,S. 45. 534 A. a. O., S. 45. 535 A. a. O., S. 99 f. 536 A. a. O., S. 95. Hier kommt eine »Zweideutigkeit« der Position Jonas zum Aus-

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

Vortrag »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« um eine Theodizee. Insofern ist darin eine Umwendung der Denkweise gegenüber dem Prinzip Verantwortung festzustellen. Stützte sich die »Zukunftsethik« auf die Position der »eigenen Kraft«, so war der Vortrag »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« die Umwendung dieser Position der eigenen Kraft, indem er sich an den Gott wendet. Wurde nun das Problem, das im »Prinzip Verantwortung« enthalten war, gelöst? Der Mythos vom »Zimzum« bringt ein anderes Problem mit sich. Denn die Ethik Jonas’ enthält eine Widersprüchlichkeit. Wenn sich nämlich der Mensch als Folge des Scheiterns der eigenen Kraft an Gott wendet, aber dieser Gott ohnmächtig ist und schweigt, dann folgt die Potenzierung der Verzweiflung. Jonas redet sogar von der »Verzweiflung Gottes«. 537 Als Kierkegaard die »Verzweiflung« als »Krankheit zum Tode« auffasste, war diese die Sünde: »vor Gott, oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selbst sein wollen.« 538 Aber im Fall des Gottes, der kontrahiert und verzweifelt, muss auch das »vor-Gott-sein« verschwinden. Dann wird der Mensch, dessen eigene Kraft sich erschöpft, des letzten Platzes des »Könnens« beraubt. Allerdings bleibt beim Mythos vom »Zimzum« Gottes noch ein Platz für die Radikalisierung der Verzweiflung übrig: der Platz, wo das »Zimzum« in dessen Äußerstes, in die »Leere«, umschlägt. Die »Entleerung Gottes« bzw. die »Entäußerung Gottes« ist der Gedanke, der auch im Neuen Testament vorkommt. 539 Zwischen dem »Zimzum«, der Zusammenziehung Gottes, und der Entleerung Gottes liegt noch ein dimensionaler Unterschied, wie zwischen der Minimalität und der Null. Dass Gott sich entleert und entäußert, um zum Menschen zu werden, heißt, dass auf der Seite des Menschen dieser, der ihm nachfolgt, sich ebenfalls entleert. Jonas scheint so weit gegangen zu sein, dass er dieses Gebiet des druck. Er betont einerseits, dass er nicht beim »rücksichtslosen Anthropozentrismus« stehen bleiben kann, redet aber andererseits vom »absoluten Urheberverhältnis« der Eltern zu ihrem Kind (a. a. O., S. 234) Diese Zweideutigkeit wiederholt sich auch in seiner Position dem Gott gegenüber, wie im Folgenden zu sehen ist.) 537 A. a. O., S. 16. 538 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gesammelte Werke 24. und 25. Abteilung, Düsseldorf 1957, S. 75. 539 NT, Der Brief an die Philipper, 2. 6–8. Diese »Kenosis« ist das Thema, das K. Nishitani und E. Levinas aufnehmen und das im »Exkurs«, der sich an das vorliegende Kapitel anschließt, ausführlich zu behandeln sein wird.

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Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere«

dimensionalen Unterschieds tangiert. Denn er schreibt: »Die Zusammenziehung ist total, als Ganzes hat das Unendliche, seiner Macht nach, sich ins Endliche entäußert und sich ihm damit überantwortet.« 540 Was Jonas sagt, ist beinahe dasselbe mit dem, was die Kenosis bedeutet. Aber er spricht erst recht von der »Macht« Gottes, obwohl Gott als Folge des »Zimzum« ohnmächtig geworden sein muss. Hier stellt man wieder das Prinzip »Mensch« fest. »Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun«. 541 Die Frage wiederholt sich hier, ob dieses »Können« auch in Auschwitz möglich war. War es nicht so gewesen, dass, weil dort letztlich kein Können mehr möglich war, man nach dem Warum des »Schweigens Gottes« fragte? Aber die dadurch erreichte Einsicht war die »Zusammenziehung Gottes«. Der Ball der »Verantwortung« wurde in die Menschenwelt zurückgeworfen. So entsteht ein Bedenken, ob die existenzielle und menschliche Ethik Jonas’ in der allerletzten theologischen Begründung in einen Leerlauf gerät.

5.

Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere«

Um Jonas’ Entwurf einer Verantwortungsethik ein Stück weiterzubringen, scheint es nötig zu sein, den Gottesgedanken in der Weise zu radikalisieren, dass im Gott selbst die Ungründigkeit eingesehen wird. Als Vorbereitung für diese Einsicht ist festzustellen, dass in der Ethik Jonas’ zwei Dimensionen enthalten zu sein scheinen. Die eine ist, dass »das Prinzip Verantwortung« als Versuch der »rationalen Metaphysik« unabhängig von der Religion sein will und sich auf das »Prinzip Mensch« stützt. Die andere Dimension ist, dass dieses Prinzip »Mensch« sich nicht in sich abschließen kann und sich in einer Grenzsituation an das »Prinzip Gott« wenden muss, wobei aber dieser Gott sich dem »Zimzum« unterwirft. Die zwei Prinzipien scheinen in einer Wechselbeziehung leerzulaufen. Wenn es sich so verhält, welchen Weg kann es dann geben, um den »Leerlauf« zu vermeiden? Innerhalb des christlichen Gesichtskreises könnte der radikale Vollzug des Gedankens der Kenosis ein weiterer Weg sein. Dieser 540 541

H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 46. A. a. O., S. 47.

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

wird im nachfolgenden Exkurs etwas ausführlicher dargestellt. Hier geht es darum, zur unmittelbaren Erfahrung des »Welt-Ortes« zurückzukommen. Dabei ist der an diesem Welt-Ort erblickten Ungründigkeit der Name »Leere« zu geben. Das vorhin aus dem »Diamant-Hannya-Sutra« zitierte Wort: »Die Welt ist nicht Welt, darum lässt sie sich die Welt nennen« legt, wie gesagt, den Gedanken der Leere nahe, und diese Leere ist ungründig schlechthin. Damit wird nicht gemeint, dass in der buddhistischen Sutra das letzte Kriterium gesehen wird. Damit wird nur angedeutet, dass dort ein anderes Licht geborgen wird als das Licht, das Jonas in der jüdischen Tradition gesucht hat. Zunächst sind einige Sutras des Mahayana-Buddhismus heranzuziehen, die den Gedanken der »Leere« in Form von Dogmen darstellen. Das »Herz-Sutra« als das fundamentalste Sutra im Mahayana-Buddhismus beginnt mit dem Satz: »Als der Bodhisattva Avalokiteśvara die tiefsinnige Prajna (Weisheit) praktizierte, sah er ein, dass alles, was ist, leer ist, und er errettete alle leidenden Lebewesen.« Da hier vom leidenden Lebewesen und deren Errettung die Rede ist, muss dieser Satz irgendwo einen gemeinsamen Punkt haben mit der Ethik der Verantwortung. 542 Das dort gemeinte »Einsehen« Bodhisattvas ist in der Tat kein bloß beobachtendes Betrachten, sondern das »Praktizieren« der tiefsinnigen Prajna. Es muss also als solche Tat in der Welt irgendwo einen gemeinsamen Standort teilen mit dem »Prinzip Verantwortung«. Allerdings ist hier eine aus dem gemeinen Menschenverstand stammende, prinzipielle Frage zu stellen, ob das Gelöbnis, alle leidenden Lebewesen zu erretten, nicht ein leeres Wort sei, vor allem dann, wenn mit Jonas der Gesichtspunkt der »Zukunft« bzw. der »nachfolgenden Generationen« eingenommen wird. Denn die Aufgabe der Errettung aller leidenden Lebewesen ist in der Zukunft prinzipiell nie abzuschließen. Hier ist ein radikales Wort aus dem »Diamant-Hannya-Sutra« zu zitieren, das noch älter als das »Herz-Sutra« ist und dessen Grundgedanke dem »Herz-Sutra« entspricht: »Zwar hat der Bodhisattva 542 Um der philologischen Strenge willen ist hier anzumerken, dass der Ausdruck »er errettete alle leidenden Wesen«, der in der jetzt verbreiteten chinesischen Fassung des Herz-Sutras vorkommt, in keiner der Ausgaben im Sanskrit zu finden ist. Es wird angenommen, dass der chinesische Übersetzer Genjô (602–664) dieses Wort hinzugefügt hat. Vgl. dazu die Anm. 8 im Kommentar Hajime Nakamuras und Kazuyoshi Kinos zu Hannya-Herz-Sutra – Diamant Hannya-Sutra (jap.) S. 20/21.

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Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere«

unendlich viele, unzählige leidende Lebewesen errettet, aber in Wahrheit gab es kein leidendes Lebewesen, das errettet werden soll.« 543 Es ist ein überraschendes Wort, das sagt, es gebe keinen Menschen, der errettet zu werden braucht. Zwar kommt der Ausdruck »Leere« im »Diamant-Hannya-Sutra« als einem Sutra des frühen Mahayana-Buddhismus noch nicht vor, aber sinngemäß ist hier doch davon die Rede. Wenn man eine dem obigen Wort entsprechende Stelle im »Herz-Sutra« sucht, so findet man folgende: »Es gibt kein Altern noch Sterben, aber es kommt auch nicht vor, dass das Altern und das Sterben sich erschöpfen.« Diese Textstelle wäre ebenfalls überraschend bzw. logisch unverständlich, wenn man sie ernst nehmen will. Die darin enthaltene Logik des Prajna-Gedankens wurde bisher meistens in den Schulen des Zen-Buddhismus gebraucht, so dass das »Herz-Sutra« in den anderen buddhistischen Schulen, etwa jener des Reinen Landes, nicht in gleicher Weise für wichtig gehalten wurde. Aber gerade auf dieser Linie des Buddhismus schrieb Shinran, der Mitgründer der japanischen Schule des Reinen Landes, in seiner Schrift Kyôgyôshinshô, die in dieser Schule für eine heilige Schrift gehalten wird, wie folgt: »Der Bodhisattva überblickte die leidenden Wesen, aber er fand sie nirgends. Er errettet zwar unerschöpflich viele leidenden Lebewesen, aber in Wahrheit gibt es kein leidendes Lebewesen, das errettet werden soll. Er vollzieht die Errettung der leidenden Lebewesen, wie wenn er spielt.« 544 Die Einsicht des Bodhisattva, es gebe nirgends ein zu errettendes Lebewesen, kann, wenn sie innerhalb der buddhistischen Dogmatik erklärt werden soll, als eine Umschreibung des Wortes im »Großen Nirvana-Sutra« angesehen werden, das lautet: »Alle Lebewesen haben die Buddha-Natur«. In diesem Sutra wird beschrieben, wie Sakyamuni-Buddha ins Nirwana eingeht. Da die Buddha-Natur die 543 Nakamura, Hajime und Kino, Kazuyoshi (Hrsg.), Hannya-Herz-Sutra – Diamant-Hannya-Sutra, S. 46. Unter den Ausgaben des »Diamant-Hannya-Sutra« ist die klassische Ausgabe Max Müllers, Vajracchedikâ-prajnâpâramitâ-Sûtra, Oxford 1881, anzugeben, die auch in der obigen japanischen Ausgabe Nakamuras und Kinos abgedruckt wird. 544 Shinran, Kyôgyôshinshô (jap.), S. 274. Die deutsche Übersetzung stammt vom Verfasser. Zum Vergleich ist auch die englische Übersetzung anzugeben: »The bodhisattva, in observing sentient beings, sees that in the final analysis they are nonexistent. Although he saves countless sentient beings, in reality there is not a single sentient being who realizes nirvana. Manifesting the act of saving sentient beings is thus like a play«. (Kyôgyôshinshô, engl., S. 174.)

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Weltpathos – Die Aktualität der Philosophie der »Leere«

Leere ist, ist auch Nirwana die Leere. Die leidenden Lebewesen sollen errettet werden und werden errettet, aber in Wahrheit gibt es nirgends die leidenden Lebewesen, die errettet werden sollen. Damit wird angedeutet, worauf das im vorigen Exkurs über die »Gewaltkritik« zitierte Wort Shinrans verweist: »Wenn Du, gerade dafür, dass Du Deinen Vater ermordet hast, schuldig sein sollst, so müssen wir, die Buddhas, auch schuldig sein.« Der Gedanke der »Leere« ist allerdings nur die Hälfte des Ganzen. Die andere Hälfte ist die »Erscheinung«. Die Formel »Die Erscheinung ist zugleich die Leere; die Leere ist zugleich die Erscheinung« besagt, dass zwar die Erscheinungswelt durchaus »leer« ist, aber diese Leere sich in der und als die Erscheinung zeigt. Es gibt kein Altern noch Sterben, da diese »die Leere« sind, aber diese Erscheinungen von Altern und Sterben erschöpfen sich nicht. Darum äußert zwar Bodhisattva das Gelöbnis, er werde nicht in den Stand eines Buddha aufsteigen, bis er alle leidenden Lebewesen errettet hat. Zugleich sieht er aber ein, dass es kein zu errettendes Lebewesen gibt. Die »Compassion« ist, das Leiden aller Lebewesen mitzutragen, wodurch aber die Heiterkeit der »conviviality« wie im wolkenlosen leeren Himmel nicht verschwindet. Die Schwere der Compassion und die Heiterkeit der »conviviality« sind dasselbe. Die Erscheinung ist die Leere. In der bisherigen Entwicklungsgeschichte des Buddhismus wurde dieser Gesichtsort »Compassion« nicht oder kaum im Zusammenhang mit den realen Problemen der Gesellschaft oder der Geschichte betrachtet. Dazu bedarf es wohl einer religionsphilosophischen Denkweise. 545 Dies gilt auch auf dem Gebiet der »Ethik«. Damit die Grundeinsicht, es gebe keine zu errettenden leidenden Wesen, in der wirklichen Welt als sinnvoll verstanden werden kann, bedarf sie noch einer Entwicklung. Und diese Entwicklung kann nichts anderes bedeuten als das Hinausgehen über die überlieferte buddhistische Dogmatik. Es wurde am Anfang des vorliegenden Kapitels gefragt, ob und inwieweit so etwas wie das »Weltpathos« noch gedacht werden kann, nachdem der »un-gemeinsame Gemeinsinn«, »das un-gemeinsame 545 Einer der wenigen, aber gründlich denkenden und großen Vorläufer in dieser Hinsicht ist K. Nishitani, der bereits einige Male erwähnt wurde. Vgl. die Kapitel in seinem Buch Was ist Religion? wie: 3. Nihilismus und śūnyatā, 4. Die Position der śūnyatā, 5. Leere und Zeit, 6. Leere und Geschichte.

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Religiöse Weltanschauung – Compassion als Pathos der »Leere«

Gemeingefühl«, das »un-gesellige Gesellschaftspathos«, »Staatspathos« usw. überblickt wurden. Jetzt wird es als das »Pathos der Leere« fassbar werden, das als die letzte Tiefendimension der Sinnschicht des »Welt-Ortes« angesehen werden kann.

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere? Levinas und Nishitani über die Kenosis

1.

Der Kenosis-Gedanke als Schnittpunkt

Keiji Nishitani, ein Vertreter der Kyôto-Schule, 546 wurde geboren in dem Jahr, als Friedrich Nietzsche starb, 1900. Er selber starb 1990. Levinas wurde sechs Jahre später als Nishitani geboren und starb fünf Jahre später als er. D. h., er wurde 1906 geboren und starb 1995. Der Geschichtsraum des Lebens dieser beiden Denker deckt sich fast gänzlich mit dem 20. Jahrhundert. Der Hintergrund der Religionsphilosophie Nishitanis ist der mahayana-buddhistische Gedanke der »Leere«, während ein Grundgedanke Levinas’ bzw. dessen religions-philosophischer Hintergrund der Gottesgedanke des Judentums ist. Zwischen den beiden Denkern gab es keinerlei Korrespondenz. Weder kannten sie noch erwähnten sie einander. In den sonst zahlreichen Texten Levinas’ findet man keine Blickrichtung auf die außerchristlichen Religionen wie den Buddhismus, und umgekehrt beschäftigte sich Nishitani, der sonst wegen der großen Gelehrsamkeit in religiösen Gedanken in der Welt bekannt war, kaum mit dem Judentum. Levinas sagt: »Götter ohne Antlitz, unpersönliche Götter, mit denen man nicht spricht, bezeichnen das Nichts, das an den Egoismus des Genusses grenzt«. 547 Vgl. R. Ohashi (Hg.), Die Philosophie der Kyôto-Schule. »Dieux sans visage, dieux impersonnels auxquels on ne parle pas, marquent le néant qui borde l’égoïsme de la jouissance (…).« (E. Levinas, Totalité et Infinit, S. 115). Was Levinas mit dem »Genuss« als einem seiner spezifischen Termini meint, ist, um seinen Gedanken in einem Wort zu sagen, die Haltung des Ego, vom Unendlichen getrennt und als das in sich geschlossene, mit sich identische Selbst zu sein, dessen Seinsweise der »Genuss« ist. Im Folgenden stammt die deutsche Übersetzung der Zitate aus Levinas’ Totalité et Infini letztlich vom Verfasser, indem dieser die deutsche Übersetzung, Totalität und Unendlichkeit. Versuch der Exteriorität, übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br. / München 2002, sowie die japanische Übersetzung, Zentaisei to Mugen, übersetzt von Sumihiko Kumano, 2 Bde., Tôkyô 2006, berücksichtigt. Im Fall der anderen zitierten Texte Levinas’ gilt dasselbe, wobei der Verfasser auch die englische Übersetzung berücksichtigt hat. 546 547

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Der Kenosis-Gedanke als Schnittpunkt

Er führt den Buddhismus zwar nicht als Beispiel an, muss aber die allgemeine Kenntnis gehabt haben, dass im Buddhismus von vielen Buddhas die Rede ist, die als die Verkörperung des impersonalen Dharma vorgestellt werden können. So hat Levinas diese BuddhaFiguren unpersönliche Götter genannt, die das Nichts bezeichnen, das an den Egoismus des Genusses grenzt. Ihm geht es um das »Antlitz« des Anderen, dessen letzter Name Gott ist. Das Antlitz wird bei ihm von der »Maske« unterschieden, hinter der, wie bei einem Schauspieler auf der Bühne, ein Menschengesicht liegt. 548 Das Antlitz in seinem Sinne ist das, was sich als die Spur des Unendlichen zeigt, das hinter seiner Spur schon in seiner Nacktheit vergangen und abwesend ist. Aber solange es seine Spur als Antlitz zeigt, steht es dennoch in einem personalen Verhältnis zu den Menschen. Zu diesem Antlitz bei Levinas kommen wir später nochmals zurück. Hier ist noch darauf hinzuweisen, dass bei Levinas der Gedanke des »Nichts«, der sonst im Buddhismus als Grundgedanke gilt, ausschließlich aus dem biblischen Wort »creatio ex nihilo«, somit von der »creatio« her, verstanden wird, während im buddhistischen Kontext der Gedanke des Schöpfergottes nicht auftaucht und das »Nichts« selbst ohne Schöpfergott als das schöpferische Alpha und Omega der Welt empfunden wird. Die positive Auffassung des Nichts bei Levinas findet sich zwar auch. Denn nach seiner Ansicht können die »Exteriorität« und »Heterogenität« der Seienden (les êtres) als die Grundaspekte der »Seienden« im Unterschied zur ontologischen Auffassung der »Seienden« als der »Selbigen« (les mêms) ausgehend vom Nichts erklärt werden. 549 Aber gerade dies belegt, dass Levinas nicht über den jüdisch-christlichen Gesichtskreis der creatio ex nihilo hinausgeht oder gehen will. 548 Vgl. E. Levinas., »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’exsitence avec Husserl et Heidegger, Paris 1982, S. 179. 549 »(…) que par le terme de création, où, à la fois, s’affirme la parenté des êtres entre eux, mais aussi leur hétérogénéité radicale, leur extériorité réciproque à partir du néant.« (A. a. O., S. 269) Das Wort »l’être« bei Levinas bringt die deutsche Übersetzung oft in Verlegenheit. Denn Levinas setzt sich einerseits ständig und ernst mit Heidegger auseinander, der das »Sein« streng vom »Seienden« unterscheidet, was als ein Kerngedanke Heideggers gilt. Aber andererseits nutzt Levinas dieses Wort im Kontext seines eigenen Gedankens, wobei er mit diesem Wort im Grunde das »Seiende« versteht, somit nie dazu gekommen zu sein scheint, das »Seinsdenken« Heideggers immanent zu verstehen. Das deutsche Wort »Sein« hat keinen Plural, während das »Seiende« diese Form zulässt. Im hier zitierten Satz schreibt Levinas »des êtres«, somit auf Deutsch: die »Seienden«.

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

Nishitani seinerseits hat sich kaum mit dem Judentum auseinandergesetzt. In seinem Buch Was ist Religion? fasst er zwar in Anlehnung an die Ansicht des Historikers Arnold J. Toynbee den »europäisch-jüdischen Religionsgedanken« ins Auge. Er zieht den Gedanken Toynbees in »An Historian’s Approach to Religion« (1956) heran, wo Toynbee die Ansicht vorlegt, dass der größte kulturelle Gegensatz der Gegenwart nicht derjenige zwischen dem Liberalismus im Westen und dem Kommunismus im Osten ist. Denn der erstere, der Liberalismus, hat seine Quelle im europäisch-jüdischen religiösen Denken, vertreten vom Christentum, Islam und Judentum, was ursprünglich ebenfalls vom Kommunismus geltend gemacht werden kann. Er hätte recht, wenn daran gedacht wird, dass der im Christentum fundamentale eschatologische Gedanke der Heilsgeschichte vom Marxismus in einer säkularisierten, aber doch gleichen Form übernommen wird. Der reale und entscheidende Gegensatz in der modernen Welt ist nach Toynbee derjenige zwischen der europäisch-jüdischen, religiösen Ansicht einerseits und dem buddhistischen Denken, zu dem auch das vorbuddhistisch-indische Denken gezählt werden kann. Toynbee meint, dass das buddhistische Denken zwei Charakteristika hat: Erstens ist der Gang der Natur und des Universums zirkulär, und zweitens herrscht ein impersonales Gesetz namens Dharma über das Universum und den Menschen. Demgegenüber, so Toynbee, wird im europäisch-jüdischen Denken die Geschichte wie ein Drama aufgefasst, das einen Anfang und ein Ende hat, und ihre Entwicklung wird von einem göttlichen Willen verwaltet. Toynbee sieht in dieser Geschichtsauffassung eine »self-centeredness«, d. h. eine Selbstzentriertheit. Nishitani ist zwar nicht ganz einverstanden mit Toynbees Interpretation der buddhistischen Geschichtsauffassung. Aber er äußerte keinen besonderen Einwand gegen die Ansicht Toynbees über die christlich-jüdische Tendenz der Selbstzentriertheit. Er bemerkt mit Toynbee, dass die Selbstzentriertheit zwar in der jüdischen Religion als Sünde angesehen und negiert wird zugunsten der Gehorsamkeit Gott gegenüber. Aber wenn diese Gehorsamkeit im Verhältnis zu den anderen religiösen Haltungen mit dem Bewusstsein der »Auserwählten« verbunden wird, taucht wieder die Selbstzentriertheit auf. Levinas würde allerdings eine radikale und endgültige Verneinung dieser Selbstzentriertheit im jüdisch-christlichen Gedanken der Kenosis Gottes finden, wonach Gott sich erniedrigt und zu den 344 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Die Fernnähe und die Höhentiefe bei Nishitani und Levinas

Menschen hinabsteigt. Sein Aufsatz »Judentum und Kenosis« 550 wird zwar in den zahlreichen Kommentaren der Levinas-Forschung, so weit ich sehe, kaum beachtet, vermutlich deshalb, weil sein Gedanke einen von ihm selber betonten »ethischen« Charakter aufweist und die »religiöse« Frage unbemerkt bleibt. Aber sein ethischer Gedanke wurzelt zweifelsohne in der jüdischen Religion, so dass Ethik und Religion auch bei ihm untrennbar voneinander sind. Sein genannter Aufsatz über die Kenosis verweist m. E. auf den tiefsten Teil seiner religiösen Überlegungen. Nishitani seinerseits macht auch auf Kenosis als »Entleerung Gottes« aufmerksam, wobei er diese, teilweise aufgrund seines im Buddhismus verankerten Gesichtsortes, als das sich-Entleeren der Selbstzentriertheit betrachtet. Dieser Gedanke deckt sich bei Nishitani mit jenem der mahayana-buddhistischen »Leere«. Die »Kenosis-»Auffassung kann also als der Schnittpunkt zwischen Levinas und Nishitani bzw. zwischen der buddhistischen und der jüdisch-christilchen Religion verstanden werden. Sie dient deshalb auch im Folgenden als Ansatzpunkt unserer Betrachtung.

2.

Die Fernnähe und die Höhentiefe bei Nishitani und Levinas

Alle großen Weltreligionen sind sich im Laufe der Geschichte ebenso wie die Philosophien bzw. Philosopheme ständig in einer Ferne und Nähe begegnet, indem sie sich in ihrer eigenen Höhe und Tiefe zeigten. Terminologisch können hier die Ferne und Nähe als eine Sache verstanden und zu einem Wort gemacht werden: »Fernnähe«. Ebenfalls können die Höhe und Tiefe in einem Wort zusammengenommen werden: »Höhentiefe«. Bei einer vergleichenden Betrachtung zu den philosophischen Gedanken, den Kunstwerken und den Religionen geht es immer um diese Fernnähe, die vorwiegend die horizontale Bezeichnung des Verhältnisses ausdrückt, und die Höhentiefe, mit der die jeweiligen Inhalte in der vertikalen Richtung aufgerissen werden. Die Fernnähe und die Höhentiefe werden durch die Spuren gezeichnet, die an den Schnittpunkten sich überschneidender Gedanken zu finden sind. Bevor wir direkt zu den Spuren der »Kenosis-»Gedanken Levi550 E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, in: A L’heure des nations, Paris 1988, S. 133– 151.

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

nas’ und Nishitanis kommen, um die an diesen Spuren gezeichnete Fernnähe sowie die Höhentiefe der beiden Denker zu betrachten, sind noch einige Bemerkungen zu machen zu diesem Wort »Spur«, und zwar teilweise auch mit Levinas. Levinas geht es, wie der Titel eines seiner Aufsätze sagt, um die »Spur des Anderen«. Er sagt, dass der »Andere«, den er zäh und unermüdlich thematisiert, Spuren hinterlässt, auch wenn er seine Spuren auslöscht, »mit denen er nichts sagen oder tun will«. 551 Er vergleicht dies mit einem perfekten Verbrechen. Der Detektiv muss aber auch bei einem perfekten Verbrechen am Ort des Verbrechens das zu finden versuchen, was auf die Spur des Verbrechens hinweist. Er muss Gespür für die Spur haben. Da das Beispiel des perfekten Verbrechens, wie es Levinas angibt, etwas zu negativ klingt, kann man ein anderes Beispiel nehmen, aus der Kunst, etwa eine künstlerische Spur der Zeichnung. Jede Bewegung der Hand des Malers zeigt sich an den Linien, die er zeichnet, obwohl der Maler selbst sich hinter seiner Zeichnung versteckt. Er hinterlässt seine Spur in Form seiner Zeichnung. So geht es in der Interpretation einer Zeichnung um das Gespür dessen, der die Spuren in dieser Zeichnung verfolgt und diese interpretiert. Der Baseler Kunstphilosoph Gottfried Boehm legt in dieser Weise eine Interpretation der Zeichnungen bekannter Maler vor. 552 Philosophisch-religiöse Gedanken sind Zeichnungen, die nicht mit Linien, sondern mit der Sprache gezeichnet werden. An ihren Spuren können wir, wenn es unserem Gespür gelingt, die Fernnähe und die Höhentiefe der Denker an ihren Schnittpunkten erblicken. Dass in der vorliegenden Darstellung das Wort Fernnähe und Höhentiefe kein von außen her eingeführter künstlicher Eingriff ist, sondern als ein von der Sache her genommener Begriff zu gelten vermag, ist auch daran zu sehen, was Levinas zur Kenosis sagt. Dieses biblische Wort besagt, dass Jesus als Sohn Gottes sich entäußert und erniedrigt hat, um zum Menschen zu werden. Zu diesem Ereignis der Menschwerdung Gottes sagt Levinas: »Die im Gott sich befindende Verbindung von Erniedrigung und Elevation ist untrennbar.« 553 Dies 551 »Celui qui a laissé des traces en effaçant ses traces, n’a rien voulu dire ni faire par les traces qu’il laisse.« (E. Levinas, La Trace de l’Autre, in: Tijdschrift voor Filosofie 25, 1963–9, S. 620. Dieser Aufsatz ist auch in: En decouvrant l’éxistence avec Husserl et Heidegger, Paris 1982, S. 187–235 enthalten. Die zitierte Stelle findet sich auf S. 200. 552 Gottfried Boehm, »Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung«, S. 147. 553 »La conjonction en Dieu de la descente et de l’élevation est inséparable.« (E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, in: A l’heure des Nations, Paris 1988, S. 134.) Levinas

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Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis

muss heißen, dass die Höhe in der Elevation Gottes und die Tiefe in der Erniedrigung Gottes untrennbar voneinander sind. In dieser Verbindung bilden die Ferne und die Nähe zwischen Gott und mir das Verhältnis einer »Fernnähe«. Nicht nur zwischen mir und Gott, sondern auch zwischen mir und den Anderen überhaupt muss diese Fernnähe eingesehen werden. Levinas redet von der »Nähe der Anderen«, die sich sonst nur als Antlitz des Unendlichen im Modus der Abwesenheit zeigt. 554 Aber hüten wir uns davor, voreilig zu weit auszuholen. Betrachten wir etwas genauer die Interpretationen Levinas’ und Nishitanis zum Kenosis-Gedanken in der Bibel und versuchen, die in diesen Interpretationen hinterlassenen Spuren der beiden Denker zu verfolgen. Wenn unser Gespür einigermaßen funktioniert, können wir dadurch die Fernnähe zwischen den beiden und die Höhentiefe ihrer Gedanken einigermaßen spürbar machen, was teilweise schon oben kurz zu erblicken war und das Ziel dieses Exkurses ist.

3.

Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis

Die biblische Stelle zur Kenosis, der Brief Paulus’ an die Philipper 2,5–8, lautet: »Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war; welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht (…)«. Das Wort »Kenosis« kommt vom Griechischen: »κένωσις«, das sowohl mit »Entäußerung« wie auch mit »Leerwerden« übersetzt werden kann. Letzteres wäre vielleicht worttreuer, da das Verb »κενόω« wörtlich »entleeren« bedeutet. Aber die Folge dieses Leerwerdens bzw. der Selbstentäußerung Gottes ist die Erniedrigung in der Weise der Menschwerdung Gottes. Bei Nishitani wird, um die redet an vielen Stellen von dieser »Nähe des Anderen«. Vgl. vor allem den Abschnitt »La proximité« in: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974, S. 102– 124. 554 Zur »Nähe des Anderen« vgl. E. Levinas, Totalité et Infinit, S. 21.

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

Darstellung vorwegzunehmen, die in diesem Begriff »κένωσις« enthaltene Wortbedeutung »Leere« im japanischen Originaltext wörtlich beibehalten, was im Einklang steht mit dem Grundthema der »Leere« seines Buchs Was ist Religion?. 555 Dies ist aber in der deutschen Übersetzung nicht deutlich zu sehen. Die Übersetzerin nutzt das Wort »Selbstäußerung« bzw. »Sich-Entäußerung«, wohl deshalb, weil diese Übersetzung geläufig ist. 556 Übrigens ist der japanische Ausdruck »Sich-leer-machen« sehr üblich. Er sagt so viel wie »ichlos werden«, so dass im japanischen Denken ein gewisser Zugang zum Sachverhalt »κένωσις« unabhängig vom christlich-biblischen Verständnis gegeben sein dürfte. Nishitani sagt: »Im Falle Christi heißt dies, Menschengestalt anzunehmen und, mehr noch, zum Knecht zu werden.« 557 Diese Beschreibung Nishitanis wird trotz des ursprünglich buddhistisch gedachten Wortes »Sich-leer-(ich-los)-machen« wohl auch von Seiten des Christentums ohne weiteres akzeptiert werden. Wenn Nishitani aber weiterhin den Ursprung dieses Ereignisses in Gott selbst und dessen Liebe sieht, würde unter Umständen eine gewisse Aufmerksamkeit wach werden. Nishitani denkt, dass auch in Gott selbst die Bedeutung des »Sich-leer-(ich-los)-machens« enthalten ist. Er sagt: »Eben weil Gott Gott ist, enthält er wesenhaft das Charakteristikum des ›Sich-leer-(ich-los)-gemacht-Habens‹«. 558 Er verbindet das mit dem buddhistischen Gedanken: »Wenn der Fall des Sohnes ekkenôsis genannt wird, dann ist der Fall des Vaters kenôsis. In der buddhistischen Terminologie wird dies anâtman oder muga genannt, d. h. nonEgo oder Selbst-Losigkeit.« 559 555 K. Nishitani, Was ist Religion?, zweite, durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 1982. 556 Auf dem Umschlag des Buchs steht zwar: »Vom Verfasser autorisiert«, und tatsächlich hat die Übersetzerin oft mit dem Verfasser Nishitani zusammengesessen, um die überlegungsbedürftigen Stellen mit ihm zu überprüfen. So hat die Übersetzerin an recht vielen Stellen ergänzende Sätze hinzugefügt, was von Nishitani »autorisiert« worden ist. Aber es ist uns auch schwer vorzustellen, dass der 80-jährige Nishitani die ganze Übersetzung Satz für Satz zusammen mit der Übersetzerin durchgearbeitet hat. Wegen dieses Problems wird im Folgenden beim Zitat aus der deutschen Fassung des Textes Nishitanis auch die Seitenzahl der originalen japanischen Fassung (Shûkyô towa nanika, in: Nishitani Keiji chosakshû, Bd. 10, Tôkyô 1967, beim Zitieren verkürzt: Original) angegeben. 557 A. a. O., S. 116 (Original: S. 67). 558 A. a. O., S. 117 (Original: S. 67). 559 Ebd.

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Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis

Nishitani betrachtet dieses non-Ego bzw. die Selbst-losigkeit nicht als spezifisch östlichen Gedanken. Er findet denselben Gedanken auch in der christlichen Liebe Gottes, der, wie in Matthäus 5, 43– 48 gesagt wird, die Sonne über die Bösen und über die Guten aufgehen lässt, der regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Nishitani fragt: »Was aber ist diese nicht unterscheidende Liebe (oder agape), die auch den Feind liebt? Sie ist, um es kurz zu sagen, das ›Sich-leer(ich-los)-machen‹.« 560 Bei Nishitani oder für Nishitani ist dieses »Sich-leer-(ich-los)machen« Gottes die Andeutung dafür, dass die Wesensnatur Gottes als die »Leere« aufgefasst werden kann. Levinas würde hier geltend machen, was er gesagt hat, dass Götter ohne Antlitz, unpersönliche Götter, das Nichts bezeichnen, das an den Egoismus des Genusses grenzt. Das Nichts für Levinas steht als das Impersonale im Gegensatz zum personalen Gott als dem Unendlichen. Nishitani geht es aber gerade um die radikale Auffassung des Persönlichen, was das Thema des ganzen zweiten Kapitels seines Buchs Was ist Religion? ist. Dort wird versucht, aufzuzeigen, dass das Personale und das Impersonale beim christlichen Gott keinen Gegensatz, sondern die transpersonale Personalität oder die personale Impersonalität bilden. Hier weist Nishitani darauf hin, dass der Vollkommenheit Gottes als der Indifferenz der Liebe die Eigentümlichkeit des »Sich-leer-(ichlos)-gemacht-Habens« innewohnt. »In diesem Sinne wohnt Gottes Vollkommenheit eine Art Transpersonalität oder Impersonalität inne – nicht eine Impersonalität, die einfach im Gegensatz zur Personalität steht, sondern (…) eine personale Impersonalität bzw. persönliche Unpersönlichkeit.« 561 Für Nishitani gilt, dass im Fall Christi das »Sich-leer-(ich-los)-machen« ein Werk ist, aber wenn dies in der Wesensnatur Gottes enthalten ist, ist diese Wesensnatur nicht mehr ein Werk, sondern etwas noch Ursprünglicheres. Wenn das Werk der Liebe einen ›personalen‹ Charakter hat, dann muss die Vollkommenheit Gottes (und ›Liebe‹ als Vollkommenheit) als etwas noch Fundamentaleres als das ›Personale‹, somit als die impersonale Personalität gedacht werden. Verfolgen wir die Spur des Gedankens Nishitanis noch ein Stück weiter. Er vergleicht diese Liebe Gottes als die impersonale Vollkommenheit Gottes mit der mahā-karuṇā des Mahayana-Buddhismus, 560 561

A. a. O., S. 116 (Original, S. 68). A. a. O., S. 118 (Original, S. 69).

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

das Große Mitgefühl, dessen stehende englische Übersetzung »great compassion« heißt. Die buddhistische »Compassion« gehört zu einer anderen Sinndimension als der des emotional-ichlichen Gefühls des Mitleides, das die stärkere Seite der schwächeren gegenüber hat, oder der des Gefühls der Überlegenheit. Es ist eher das ich-lose und insofern impersonale Gefühl, das, wenn man so sagen will, das Gefühl der »Leere« genannt werden kann. So sagt Nishitani: »Ohne Ich oder selbstlos sein heißt ›leer‹ sein (śūnyatā)«. 562 Er denkt, dass diese »Vollkommenheit« Gottes im Sinne der »Leere« sehr verschieden ist von der ›personalen‹ Absolutheit des Gottes, der das Volk Israels erwählte, d. h. verschieden von dem Gott, der mit absolutem Willen und mit absoluter Macht befiehlt, der die Gerechten liebt und die Sünder bestraft. »Wenn Selbst-Losigkeit, die nicht auswählt, vollkommen ist, dann ist eine auswählende Personalität nie ›vollkommen‹. In dem, was man die biblische Gottesidee nennen könnte, konvergieren also zwei heterogene Betrachtungsweisen. In der Vergangenheit hat das Christentum gewöhnlich nur dem personalen Aspekt Gottes Aufmerksamkeit geschenkt. Nur selten wandte sich die Aufmerksamkeit dem ›impersonalen‹ Aspekt zu.« 563 Nur noch ein Satz ist hinzufügen. Wenn Nishitani hier »nur selten« sagt, so denkt er an die seltenen Ausnahmen, vertreten von Meister Eckhart und der negativen Theologie. Eckharts Gedanke der »Abgeschiedenheit« z. B. gilt als ein ausgezeichnetes Beispiel für diese personal-impersonale Seinsweise Gottes, die als die impersonale »Leere« bezeichnet werden kann. 564 Eckhart selbst sagt: »Denn die Abgeschiedenheit ist dem Nichts sehr nahe, dass zwischen der vollkommenen Abgeschiedenheit und dem Nichts kein Ding vorhanden sein kann«. 565 Was würde Levinas dazu sagen, und wie hat er die Kenosis in der Bibel aufgefasst? Ich versuche im Folgenden seine Worte als die Spur seines Gedankens herauszustellen. Dabei ist auch das, was Levinas zur Spur des Anderen sagt, zu berücksichtigen. Er sagt in seinem Aufsatz »Die Spur des Anderen« wie folgt: »Die Spur als Spur führt A. a. O., S. 119 (Original, S. 69). Ebd. 564 Zur »Abgeschiedenheit« vgl. Meister Eckhart, »Von abgescheidenheit«, S. 400– 434. Die Übersetzung J. Quints ist ebd., S. 539–547. 565 »Nû rüeret abgescheidenheit alsô nâhe dem nihte, daz zwischen volkomener abgescheidenheit und dem nihte kein dinc gesîn enmac.« (A. a. O., S. 405). In der modernen deutschen Übersetzung J. Quints wird das originale Wort »abgescheidenheit« als »Abgeschiedenheit« geschrieben. Vgl. hier die Anm. 374. 562 563

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Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis

nicht nur zur Vergangenheit, sondern ist das Übergehen selbst zu einer Vergangenheit, die entfernter ist als alle Vergangenheit und als alle Zukunft, welche noch zu meiner Zeit gehören.« 566 Diese wie oft schwerfällige Redeweise bei Levinas kann hier wieder am Beispiel einer Zeichnung etwas verständlicher gemacht werden: Die Zeichnung ist die treue Spur der Arbeit, die ein Maler hinterlassen hat. Sie weist auf die Vergangenheit der Handbewegung des Malers und dessen Gefühlsbewegung hin. Aber sie weist weiter auch auf die Vergangenheit, die wohl besser die Gewesenheit genannt werden kann, d. h. das, was das Wesen des Malers selbst im Sinne von dessen Fähigkeit und Erfahrung ist, das vor der Entstehung seines Werkes schon da gewesen war als das, was seine Werke ermöglicht. Zwar ist das Wesen des Malers nirgendwo anders gegenwärtig als in seiner Zeichnung. Aber dennoch geht die Wesensnatur des Malers weiter zurück auf die Vergangenheit, die unendlich entfernter als alle Vergangenheit ist, die der Zeit des Malers zugehört. Dies muss auch von den Werken und Gedanken Levinas’ selbst gelten. Levinas muss die Spur des Gedankens der Thora und des Talmud verfolgt haben. In der Tat beginnt er sein Buch »L’Au-delà du Verset« (1982) mit folgendem Satz: »Warum das Jenseits (l’au-delà) der Verse? Dies deshalb, weil zwar der klare Umriss der aus den heiligen Schriften ausgeschnittenen Verse eine eindeutige Bedeutung, aber zugleich auch eine rätselhafte Bedeutung hat. Die rätselhafte Bedeutung fordert eine Hermeneutik, die darauf abzielt, in einer Wortbedeutung, die von den Versen direkt mitgeteilt wird, das eigentlich Gemeinte herauszustellen. Aber ist die auf diese Weise herausgestellte Bedeutung nicht wiederum ein Rätsel?« 567 Im Folgenden stelle ich einige Textstellen Levinas’ zur Kenosis zusammen, wobei ich aus dem Obigen entnehme, dass sie für ihn 566 »La trace comme trace ne mène pas seulement vers le passé, mais est la passe même vers un passé plus éloigné que tout passé et que tout avenir, lesquels se ragent encore dans mon temps.« (E. Levinas, La Trace de l’Autre, S. 623. Das Kursive stammt vom Verfasser.) 567 E. Levinas, L’au-delà du Verset. Lectures et Discours Talmudiques, 1982, S. 7. Die Übersetzung stammt vom Verfasser, indem dieser die japanische Übersetzung des Textes, Seiku no kanata, übersetzt von Masato Gohda, Tôkyô 1996, neue Auflage 2014, berücksichtigt hat. Der Originaltext lautet: »Pourquoi l’au-delà du verset? Parce que les fermes contours des versets qui se découpent dans le Saintes Ecritures ont un sens obvie qui est aussi énigmatique. Il sollicite une herméneutique appelée à dégager, dans la signification que livre immédiatement la proposition, celles qui s’y trouvent seulement impliquées. Les significations dégagées sont-elles sans énigmes?«

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

selbst, trotz all seiner Erklärung, ein Rätsel in seinem Sinne bleiben würde, nämlich als das, was über jegliche Aussage hinausgeht. Die erste zu zitierende Stelle lautet: »Es ist ohne Zweifel unnötig, daran zu erinnern, dass die Idee der Inkarnation für die Spiritualität des Judentums fremd ist.« 568 In diesem Wort wird die Differenz zwischen dem Christentum und dem Judentum schlicht geäußert, da im ersteren geglaubt wird, Jesus sei Christ, während im Judentum Jesus nur einer der Propheten ist. Aber das Alte Testament ist für diese beiden Religionen die gemeinsame Heilige Schrift, und das Alte und das Neue Testament bilden im Christentum eine Einheit. Im Judentum ist dies zwar nicht der Fall, aber diese Einheit wird im Judentum als Prüfstein seiner eigenen Identität immer im Bewusstsein behalten und nicht einfach außer Acht gelassen. So ist der Gedanke der Kenosis auch im Judentum nicht ganz ignorierbar. Levinas drückt dies so aus: »Aber dass die Kenosis bzw. die Erniedrigung Gottes, der bis zum Sklavenzustand der Menschen absteigen will, (…) auch in der religiösen Gesinnung des Judentums ihre volle Bedeutung hat, wird belegt im biblischen Text selbst.« 569 Es ist für die vergleichende Betrachtung zu Levinas und Nishitani wichtig, zu sehen, was Levinas in diesem Kontext im biblischen Text sieht. Er will das Erbarmen für die Menschen, die sich in der Misere befinden, ursprünglich in Gott und nicht in erster Linie in Jesus sehen. Wie oben gesehen, unterscheidet auch Nishitani die »ekkenôsis« Christi von der »kenôsis« Gottes, um in der Wesensnatur Gottes die »Leere« zu sehen. Levinas und Nishitani stehen in einer gewissen Nähe zueinander. Allerdings schlägt diese Nähe in eine Ferne um: Bei Levinas führt die »Kenosis« Gottes zum Prinzip der Ethik des Menschen, durch deren Subjektivität und Tat Gottes Wille ver568 Im Folgenden stammt die Übersetzung letztlich vom Verfasser, indem dieser die englische Übersetzung »Judaism and Kenosis«, in: In the Time oft he Nations, translated by Michael B. Smith, Indianapolis, 1994, berücksichtigt hat. Die Textstelle im Original lautet: »Il est sans doute inutile de rappeler ici que l’idée de l’incarnation divine est étrangère à la spiritualité juive.« (E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, S. 133) Auch in einem anderen Text sagt Levinas: »Dieu est concret non pas par l’incarnation, mais par la Loi.« (In: Difficile liberté. Essais sur le judaisme, 1963, 2. édition Paris 1976, S. 192.) 569 »Mais que la Kénose ou l’humilité d’un Dieu consentant à descendre jusqu’aux conditions serviles de l’humain (…) ait aussi sa pleine signification dans la sensibilité religieuse juive est d’abord attesté par des textes bibliques eux-mêmes.« (E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, S. 133)

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Das mahayana-buddhistische und das jüdische Verständnis der Kenosis

mittelt wird. Es kann also gesagt werden: »Die Herrschaft Gottes hängt von mir ab (…); aber gerade dieser Gott beherrscht die Welt nicht ohne die Vermittlung der ethischen Ordnung. (…) Wichtiger als diese Allmacht Gottes ist die Unterwerfung dieser Macht unter die ethische Einwilligung der Menschen«. 570 Um die Auffassung der »Kenosis« bei Levinas ein Stück weiter zu sehen, ist es unentbehrlich, den jüdisch-kabbalistischen Gedanken des »Zimzum«, der »Kontraktion Gottes«, ins Auge zu fassen. Zwar wurden der Sinn und das Problem dieses Gedankens bereits im vorigen Kapitel dargestellt. Aber hier sei eine Wiederholung erlaubt, solange sie in der Darstellung benötigt wird. Nach dem Gedanken des »Zimzum« soll Gott bei seiner Erschaffung der Welt sich zusammengezogen haben, um dem Menschen Platz innerhalb der von ihm erschaffenen Welt zu geben, den Platz, den der Mensch übernimmt und mit Verantwortung pflegt. Da ist Gott weder anwesend noch verantwortlich für das, was geschieht: Der Mensch ist für das, was da geschieht und gemacht wird, verantwortlich. Zwar wurde dieser Gedanke auch von Jürgen Moltmann in seiner protestantische Theologie aufgenommen und weiterentwickelt, 571 aber dennoch ist der Gedanke dem Christentum im Allgemeinen, geschweige denn dem Buddhismus, nicht vertraut. Innerhalb der jüdischen Theologie scheint er dagegen ständig aktuell gewesen zu sein. So stellte Hans Jonas seine Theodizee in voller Anlehnung an diesen Gedanken dar, als er sich mit der Frage auseinandersetzte, warum Gott in Auschwitz schwieg. Dass dieses Schweigen nicht die Unverantwortlichkeit Gottes, sondern dessen – wohl als paradoxal zu bezeichnende – »Gnade« ist, ist der Kernpunkt seiner Argumentation. 572 Im Aufsatz »Judentum und Kenosis« sagt Levinas mit einem jüdischen Propheten: »(D)ieser Gott, Meister der Macht, ist machtlos, um sich selbst mit der Welt zu assoziieren, die er erschafft und wieder erschafft, beleuchtet und heiligt und sich in seinem Sein hält. (Er ist) durch diese Assoziation selbst ohne ein gewisses Handeln des Menschen, der ein erschaffenes Wesen, aber ontologisch außer-ordentlich 570 »Le règne de Dieu dépend de moi. (…); mais ainsi précisément Dieu ne règne que par l’entremise d’un ordre éthique, (…) Plus importante que la toute-puissance de Dieu est la subordination de cette puissance au consentement éthique de l’homme.« (A. a. O., S. 145.) 571 Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung, München 1980. 572 Vgl. H. Jonas, Gedanken über Gott. Drei Versuche, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,1994.

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

ist.« 573 Levinas übernimmt diesen Gedanken der Kontraktion. In seiner Hauptschrift Totalité et Infinit sagt er: »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden einen Platz lässt.« 574 Für Levinas gilt die Folge dieser Kontraktion vor allem dem, was in dieser Welt vorhanden ist. Sogar der Vers selbst gilt für ihn als eine Folge derselben. Levinas redet von der »Kontraktion des Unendlichen in der Heiligen Schrift«. 575 Das Unendliche weilt zwar in den Heiligen, es selbst aber geht ständig über dieses Denken hinaus und wird nie im Denken begriffen. Deshalb bleibt das Unendliche für Levinas, wie gesagt, in jeglicher hermeneutischen Auslegung der Verse in dem Sinne immer noch ein Rätsel, dass es immer der weiteren Auslegung bedarf.

4.

Die Kenosis und die »Compassion«

An der Auffassung der Kontraktion scheint mehr die »Ferne« als die »Nähe« zwischen Nishitani und Levinas in den Vordergrund zu kommen. Denn diesen seltenen, kabbalistischen Gedanken behandelt Nishitani nicht. Äußerlich gesehen, scheint auch die »Nähe« zu ihm von der jüdischen Seite selbst abgelehnt zu werden, wenn Levinas in Du Sacré au Saint immer wieder die Sonderstellung des jüdischen Volks als »der Leute der Thora, der Leute, die älter als die Welt sind, der verfolgten Leute« betont, um zu sagen, dass und wie dieses Volk die »Universalität« hat, die höher ist als die Universalität der Leute, die (im gewöhnlichen Sinne) ausgebeutet werden und sich in Streit befinden. 576 Gibt es aber zwischen Nishitani, der die Kenosis aus der

573 »(…) que ce Dieu, maître des forces, en est réduit a ne pas pouvoir s’associer au monde qu’il crée et recrée et éclaire et sanctifie et maintient dans son être par cette association même, sans un certain comportement de l’homme, être crée, mais extraordinaire ontologiquement«. (E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, S. 141.) 574 »L’Infini se produit en renonçant à l’envahissement d’une totalité dans une contraction laissaient une place a l’être séparé. (A. a. O., S. 76). 575 »Contraction de l’Infini dans l’Ecriture (…)«. (E. Levinas, L’Au-dela du Verset, Preface, Paris 1982.) 576 »(…) la notion d’Israel, peuple de la Thora, peuple vieux comme le monde et humanité persécutée, portait en elle une universalité plus haute que celle d’une classe exploitée et en lutte«. (E. Levinas, Du Sacré au Saint. Cinq Nouvelles Lectures Talmudiques, Paris 1977, S. 18.)

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Die Kenosis und die »Compassion«

mahayana-buddhistischen Sicht der »Leere« auslegt, und Levinas, der die Kenosis mit dem spezifisch jüdischen Gedanken der Kontraktion versteht, doch eine »Nähe«? Zum Schluss sollte dies sichtbar gemacht werden. Das Schlüsselwort ist »souffrance«, die als Entsprechung des buddhistischen Begriffs der »karuṇā« verstanden werden kann, deren englische Übersetzung »compassion« ist. Die »große karuṇā« ist dann »grande souffrance«. Levinas schreibt, indem er dieses französische Wort verwendet und Psalm 91,15 heranzieht, wie folgt: »In dem Maße, in dem die ›souffrance‹ eines jeden Menschen die ›grande souffrance‹ Gottes ist, ist die souffrance, die ›meine‹ ist, bereits seine souffrance«. 577 Dieses Wort lässt sich als eine Formulierung des Schlusses der Kenosis Gottes verstehen, als ein Ausdruck für die »gemeinsame Wesensnatur« (»connaturalité«) der Welt und des Menschen als Schöpfung, somit auch für die gemeinsame Wesensnatur des Schöpfer Gottes und des Menschen. 578 Für Levinas ist zwar Gott das Unendliche, das über das Denken hinausgeht, das ihn begreifen will, aber dennoch redet er von der gemeinsamen Wesensnatur von Gott und Mensch, was sich darin zeigt, dass mein Leiden zugleich das Leiden Gottes ist. Indem er an diese Wesensnatur glaubt, kann er sagen: »Der Mensch betet für sich, um das Leiden Gottes aufhören zu lassen, der in meinem Leiden leidet.« 579 In diesem Augenblick gilt: »Der Mensch spürt seinen eigenen Schmerzen nicht mehr, wenn dieser mit der Qual verglichen wird, die in Gott die Qual des Menschen übertrifft.« 580 Eine solche Rede ist kein Satz, der logisch oder empirisch nachgewiesen werden kann. So kann man diese Rede in Zweifel ziehen oder ignorieren. Aber dass die logische Verifizierbarkeit das Kriterium des Denkens sein soll, lässt sich nicht logisch verifizieren. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht der Hinweis darauf hilfreich, dass Levinas, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, erfahren hat, dass seine ganze Familie und viele Landsleute in der Gaskammer des »Mais, dans la mesure ou la souffrance de chacun est déjà la grande souffrance de Dieu qui souffre pour lui, pour cette souffrance qui, ›mienne‹, est déjà sienne«. (E. Levinas, »Judaisme et Kénose«, S. 149) 578 »(…) la connaturalité de l’homme et des mondes« (a. a. O., S. 145). 579 »(…) il prie pour soi-même en vue de faire cesser la souffrance de Dieu qui souffre dans la souffrance du moi.« (A. a. O., S. 149) 580 »L’homme ne sent plus sa propre douleur, comparée à un tourment dépassant le sien en Dieu.« (A. a. O., S. 149) 577

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

Konzentrationslagers erbarmungslos vernichtet worden waren. Er selber wurde zwar gefangen genommen, aber als militärisches Personal der französischen Armee und deshalb nicht ins Konzentrationslager geschickt. Das »Leiden« ist zunächst durch und durch mein Leiden. Der Zahnschmerz oder der Magenschmerz, aber auch der psychische Schmerz kann, solange er mein Leiden ist, von niemandem so erlebt werden, wie ich ihn erlebe. Aber andererseits wird dieser Schmerz nicht von mir allein entschieden. In ihm versammeln sich verschiedene Ursachen, und diese Ursachen sind die »Anderen« für mich. Levinas hat zwar im »Gott« den Anderen gesehen, mit dem sein Leiden geteilt wird, und das war das Bekenntnis des Glaubens. Wenn man aber den Rahmen der Sprache des Glaubens wegnimmt, müssen mit den »Anderen«, mit denen mein Leiden geteilt werden kann, nicht nur die personalen Anderen in der zweiten und dritten Person, sondern auch die impersonalen Anderen (die Dinge), das non-personale Andere (der Tod), das hyper-personale Andere (das Göttliche), das umweltlich einschließende Andere (Institutionen in Form der Gesellschaft, des Staates usw.) impliziert sein. Nishitani stellt dar, gegen Ende des letzten Kapitels seiner Schrift Was ist Religion?, wie Franziskus von Assisi sich einer Operation unterwarf, die mit einer glühenden Eisenstange durchgeführt wurde. Er machte für die Stange das Kreuzzeichen, und sagte: »Mein Bruder Feuer, du bist edel und nützlich unter Gottes Geschöpfen – sei jetzt recht artig zu mir, ich habe dich immer geliebt und werde dich lieben um dessentwillen, der dich geschaffen hat. Und ich bitte auch unseren Schöpfer, er möge deine Hitze so kühlen, daß ich’s ertragen kann.« 581 Er sagte, er habe keinen Schmerz gespürt. 582 Nishitani fügt hinzu: »Gewiss musste auch im Fall des Franziskus das Feuer heiß sein und sein Körper den Schmerz verspüren. Doch war das Feuer nicht heiß genau an dem Ort, wo es heiß war; der Schmerz schmerzte nicht gerade an demselben Ort, wo er schmerzte. Gerade im Akt des Brennens brannte das Feuer nicht, 581 Da die Quelle dieses Franziskus-Zitates nicht im originalen Text Nishitanis und nur in der deutschen Übersetzung angegeben wird, wobei diese Quelle (Franz von Assisi, Geliebte Anmut, herausgegeben von Gertrude und Thomas Sartory, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1977, S. 102) später als das Buch Nishitanis (1961) erschien, muss Nishitani das Zitat aus einer anderen Quelle genommen haben. Der Inhalt bleibt wohl derselbe. 582 K. Nishitani, Was ist Religion? S. 423 (Original, S. 313).

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Die Kenosis und die »Compassion«

war es nicht Feuer. Und er, der in seinem Selbst den Schmerz verspürte, spürte zugleich keinen Schmerz und war auch nicht Selbst.« 583 Nishitani bezeichnet den Punkt, wo das Feuer im Akt des Brennens nicht Feuer ist, mit dem altüberlieferten Wort »das Feuer brennt sich selbst nicht«. Diese Mitte des Aktes des Brennens ist die »Wesensnatur« des Feuers, das auch die des Franziskus ist. Es ist die »connaturalité« des Franziskus und des Feuers, die dieselbe sein muss mit jener, von der Jahwe im Alten Testament zum Propheten Jeremia spricht: »Bevor ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt; bevor du aus dem Mutterschoß hervorgingst, habe ich dich geweiht.« 584 Das wäre nicht sehr anders als das, was in der Geschichte des Zen-Buddhismus der sechste Patriarch Huineng (638–713) spricht: »Zeige mir dein eigentliches Antlitz, das du schon hattest, bevor dein Vater und deine Mutter geboren wurden.« Für Levinas war das »Antlitz« des Unendlichen das des schlechthin Unwissbaren. Wenn er diese Unwissbarkeit als die Wesensnatur des Wissens selbst begriffen hätte, wäre seine Auffassung des Unendlichen in ihrem Kernpunkt anders geworden. Das Unendliche wäre dann nicht als das über das Wissen hinausgehende und dieses zurückweisende und insofern unwissbare Wesen, sondern als der im Wissen selbst dieses bestehen lassende Geschehensort des Wissens aufgefasst, somit als das Selbst des Wissens, das im Wissen selbst sich findend sich diesem Wissen entzieht. Soweit die Fernnähe und die Höhentiefe, die in der vergleichenden Betrachtung der Gedanken Nishitanis und Levinas’ zu sehen sind. Zum Schluss ist vom Thema »Kenosis« um einen Schritt zurückgehend eine Bemerkung hinzuzufügen, und zwar zu dem, was die Nachwelt von den beiden als Aufgabe übernehmen sollte. Levinas sagt am Ende: »Wir haben die große Aufgabe, griechisch die Prinzipien zu äußern, die bei den Griechen nicht erkannt blieben. Die jüdische Einzigkeit wartet auf ihre Philosophie. Es ist nicht zureichend, die europäischen Modelle unterwürdig nachzuahmen. Die Suche nach dem Bezug auf die Universalität in unseren Schriften und den Texten des mündlichen Gesetzes befindet sich noch im Prozess der Assimilation. Diese Texte haben dennoch durch deren Kommentare in zweitausend Jahren andere Dinge zu sagen.« 585 A. a. O., S. 423 (Original, S. 314). AT, Jeremia 1,5. 585 E. Levinas, L’Au-delà du Verset, V. 233/4: »Nous avons la grande tâche d’énoncer grec les principes que la Grèce ignorant. La singularité juive attend sa philosophie. 583 584

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Exkurs zum 4. Kapitel: Gott oder Leere

Wenn in diesem Satz das Wörtchen »jüdisch« mit »buddhistisch« ersetzt wird, kann man ihn Nishitani zuschreiben. Dieser sagt im »Vorwort zur japanischen Ausgabe« wie folgt: »Dieser Versuch geht von Problemen aus, die dem historischen Neuland, das wir ›moderne Welt‹ nennen, wohl verborgen zugrunde liegen. Dies geschieht in der Absicht, den Grund der menschlichen Existenz aufzugraben und zugleich nach dem eigentlichen Quell der Realität zu suchen.« 586 Levinas’ »europäische Modelle« und Nishitanis »moderne Welt« entsprechen einander als die geschichtlichen Konstellationen ein und derselben Welt. Dort ist die Technologisierung der Lebenswelt und des Geistes in Gang. Der historische Ausgangsort dieser modernen Welt ist das christliche Europa. Nishitani und Levinas waren die Denker, die sich mit dieser Konstellation der Geschichtswelt auseinandersetzten, der eine aus dem Buddhismus, der andere aus dem Judentum. Ein Fokus dieser Konstellation liegt offensichtlich darin, dass die »Säkularisierung« als Kehrseite der »Technologisierung« äußerst weit in Gang gekommen ist, so dass das Tauziehen zwischen der »a-religiösen Tendenz« und der »Religion« in den vergangenen zwei Jahrhunderten über die europäische Welt hinaus im globalen Maß betrieben wird. Das Wort, das Nishitani im Anschluss an das obige Zitat sagt, könnte auch vom Versuch Levinas’ geltend gemacht werden: »Indem ich das tue, stelle ich mich geradewegs in ein Niemandsland, gleichsam mit einem Bein in den religiösen, mit dem anderen Bein in den anti- oder areligiösen Bereich – denn ohne Beziehung zur Religion sein, ist hier bereits in einer Art Beziehung zur Religion zu betrachten – und bewege mich nun frei von einem zum anderen.« 587

L’imitation servile des modèles européens ne suffit plus. La recherche des références à l’universalité dans nos Ecritures et dans les textes de la Loi orale relève encore du processus de l’assimilation. Ces textes, à travers leurs commentaires bi-millénaires, ont encore autre chose à dire.« 586 K. Nishitani, Was ist Religion?, S. 8 (Original, S. 4.). 587 Ebd. Das Wort »Niemandsland« im Zitat (S. 8) heißt im Original »sesshô-chitai«, wörtlich: »das in der Verhandlung in Frage kommende Gebiet«. Es ist also im Gegensatz zum Übersetzungswort »Niemandsland« eher das Land, wo die zwei Seiten eben da sind. Die Übersetzerin mag gedacht haben, dass Nishitani der Denker ist, der in dieses Niemandsland eingetreten ist. Diese deutsche Übersetzung zeigt oft sinnvolle und notwendige Überlegungen, damit der originale Text den deutschen Lesern verständlich wird, aber gerade dadurch entstehen oft Sinnverschiebungen.

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Nachtrag: Was dargestellt wurde und was noch darzustellen ist

1. Der Läufer des 100-Meter-Laufs drückt bei seinem Start seinen Fuß gegen den Startblock, und wenn er sich mit aller Kraft abstößt, schlägt diese Stoßkraft in die vorantreibende Kraft um. Das vorliegende Buch mag als eine Art Startblock gelten, denn ich befinde mich in der Lage, in der ein sehr weiter Aufgabenbereich erst eröffnet vor mir liegt, damit der im vorliegenden Buch vorläufig erreichte Gesamtblick überprüft (und unter Umständen nach Bedürfnis korrigiert) und anhand der einzelnen Probleme theoretisch sowohl wie auch praktisch weiterentwickelt werden kann (wozu eine interdisziplinäre und internationale Forschungszusammenarbeit unentbehrlich wäre). Jedoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass ich von diesem ausgehend wie der junge Läufer des 100-Meter-Laufs losstürzen und mit hoher Geschwindigkeit weitere Bücher nacheinander verfassen werde. Denn erst nach dem Verlauf von 45 Jahren bin ich endlich zu diesem Buch gekommen. Das vorliegende Buch gilt vielmehr als Startplatz für einen Marathon-Läufer, der nicht schnell läuft, jedoch an den dauerhaften Lauf lange Jahre schon gewöhnt ist. Dabei handelt es sich nicht um einen Lauf, dessen Kurs festgelegt ist, sondern um einen Lauf in einem Problemfeld, wo sich verschiedene, noch nicht festgelegte Spuren erstrecken. Ich habe gesagt: »nach dem Verlauf von 45 Jahren«. Zur Ausrede für diese Langsamkeit und Erklärung derselben zitiere ich zunächst eine Aussage Wittgensteins, der sein Vorwort zur Schrift Philosophische Untersuchungen wie folgt anfängt: »In dem Folgenden veröffentliche ich Gedanken, den Niederschlag philosophischer Untersuchungen, die mich in den letzten 16 Jahren beschäftigt haben.« Selbst ein so genialer Denker wie Wittgenstein brauchte 16 Jahre, um den Niederschlag seiner philosophischen Untersuchungen in Form einer Schrift zu veröffentlichen. Es sollte dann nicht befrem-

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Nachtrag

den, wenn ein sehr langsamer Läufer in der philosophischen Arbeit einen weit längeren Zeitraum dazu benötigt. Vor neun Jahren habe ich als Anlauf zum vorliegenden Buch die Schrift publiziert Die ›Phänomenologie des Geistes‹ als Sinneslehre. Hegel und die Idee der Phänomenoetik der Compassion (Alber Verlag, Freiburg i. Br. 2009. Die japanische Fassung: Kansei-ron toshite no seishin gensho-gaku, erschien beim Sôbunsha-Verlag, Tôkyô 2009). Aus diesem Anlass habe ich im Verlagsprospekt Sôbun, Nr. 525, Nov. 2009, ein Kurzessay: »Eikan, Du kommst zu langsam nach«, drucken lassen. Was ich dort geschrieben habe, betrifft die Langsamkeit meines Anlaufs und gilt auch jetzt noch, so dass ich zuerst einen Teil dieses Kurzessays hier wiedergeben möchte: Vor mir liegt ein Notizblock. Auf seinem Umschlag steht der mit meiner ungeschickten Handschrift geschriebene Titel: »Aufzeichnungen zur ›Philosophie der Compassion‹« (jap.: Hi no Tetsugaku, Memo). Die erste Aufzeichnung wird datiert »den 03. 05. 1973«, also zur Zeit, in der ich an der Universität München meine Dissertation »Ekstase und Gelassenheit. Zu Schelling und Heidegger« (1975 publiziert) beinahe abgeschlossen hatte. Die Nummer der Aufzeichnung mit diesem Datum ist »18«, was bedeutet, dass irgendwo die Aufzeichnungen von Nr. 1 bis Nr. 17 vorliegen müssen. Bei mir sind sie aber nicht mehr zu finden. Die letzte Aufzeichnungsnummer ist »83«, und das Datum derselben ist 29. 03. 1983. Der Zeitraum, in dem ich diese Aufzeichnungen geschrieben habe, erstreckt sich also über ca. 10 Jahre, und bei der oben genannten Aufzeichnung war ich 29 Jahre alt. Jetzt bin ich 65 Jahre alt. Ein merkwürdiges Gefühl kommt in mir auf, wenn ich als MitteSechziger meine eigenen Aufzeichnungen lese, die ich als EndeZwanziger niedergeschrieben habe. Einerseits ist »er«, der Autor, eben ich selbst vor 36 Jahren. Seine Gedanken finde ich in sich leerlaufend. Andererseits bin ich »er« selbst, der 36 Jahre jünger als ich selbst ist. In vorwurfsvollem Ton fragt er mich: »Wo auf dem Weg haben Sie sich Zeit gelassen, während ich mich mühsam mit dem Problem beschäftige, das Sie jetzt selber haben?« Ich habe keine Ausrede, wobei er mir auch nicht weiter Vorwürfe macht. (…) Es ist weit über dreißig Jahre her, dass ich ohne zu wissen, unter welchem Einfluss, den Themenbereich namens »Compassion« betrat. Zwar war ich intuitiv immer sicher, dass sich dort ein ungeheuer 360 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

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reicher Bereich der Denkmöglichkeiten erstreckt, und ich setzte fort, Bücher sowie Aufsätze in der Peripherie dieses Bereichs zu produzieren, ohne aber selber einen einzigen Schritt in den Kernpunkt dieses Bereichs tun zu können. Ich denke an eine Buddha-Figur im Eikan Tempel in Kyôto. Die Figur wird genannt »Der zurückblickende Amida-Buddha«. Er blickt zurück, um den ihm nachfolgenden Priester Eikan aufzufordern: »Eikan, Du kommst zu langsam nach.« Noch bevor ich dieses Kurzessay schrieb, hatte ich 1998 ein anderes Buch publiziert: Vorrede zur Phänomenologie der Compassion – Aus sechs Thesen der japanischen Philosophie (jap., Sobunsha-Verlag). Es erschien bereits vor 20 Jahren. Der Fortgang von dieser »Vorrede« zum »Hauptteil« geschah aber bei mir lange Zeit nicht. Wenn ich jetzt diese »Vorrede« lese, sehe ich, dass was ich dort geschrieben hatte zwar nicht ganz falsch ist, aber dennoch fehlt da der Startblock, an dem die Stoßkraft nach hinten in die Triebkraft nach vorne umschlagen kann. Um diesen Startblock in der Perspektive des Geschichtsdenkens zu suchen, habe ich vor 12 Jahren, d. h. 2005, ein Buch veröffentlicht: Die Geschichte als das Gehörte – der Geschichtssinn und dessen Struktur (jap.: Kiku koto toshite no rekishi – Rekishi no kansei to sono kôzô). Das war sieben Jahre nach dem Erscheinen der genannten Vorrede zur Phänomenologie der Compassion. Zwar konnte ich einiges im »Geschichtsdenken« ernten, aber bezüglich des eigentlichen Themas »Compassion« blieben meine Versuche, um es mit einem Gleichnis zu sagen, wie ein Lauf am Schlosskanal entlang, ohne die innere Anlage des Schlosses zu betreten. Es war mein 2009 publiziertes, oben schon erwähntes Buch, Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre, mit dem ich das Gefühl gehabt habe, dass die Tür des Schlosses geöffnet wurde. Der dort entdeckte »sensus communis non-communis« und die mit dieser Konzeption zusammenhängende Sinneslehre bildet auch im vorliegenden Buch den Kernpunkt. Aber trotzdem war die damalige Sachlage derart, dass zwar der Weg ins Innere des Schlosses gefunden wurde, aber das wirkliche Hineintreten ins erste und zweite Vorgebäude, geschweige denn ins zentrale Gebäude des Schlosses, nicht folgen konnte. Ich war verwundert und wurde ungeduldig.

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Nachtrag

2. Es war Sommer 2014, als ich eine Gastprofessur an der Universität Tübingen innehatte. Wie immer machte ich an einem Nachmittag im Wald hinter dem Gästehaus einen Spaziergang. Tübingen ist ein wunderschöner, naturreicher Ort, in dem die Stadt, die Wälder und die Hügel ineinander verwoben sind. Ich ging wie immer auf dem Waldweg spazieren. Jedes Mal, wenn der angenehme Wind des Sommernachmittags durch die Zweige der Bäume hindurchwehte, sauselten diese mit kleinen Wellenbewegungen. Unter den zahllosen Bäumen im Wald gab es keine zwei gänzlich gleichen Bäume. In der unendlich mannigfaltigen Menge der Bäume drückte jeder Baum seine Einzigartigkeit aus. Zwar hat auch Leibniz Ähnliches mit dem »Principium identitatis indiscernibilium« (»Satz der Identität des Ununterscheidbaren«) festgehalten: Es gibt keine zwei voneinander ununterscheidbare Einzelne. 588 Aber meine Erfahrung von damals war nicht so sehr die logisch artikulierte als vielmehr eine unmittelbare Erfahrung des »Selbst«, das in jedem, was ist, als es selbst anwest und insofern mit allem gemeinsam, somit »allgemein« ist, aber dennoch das ist, was jedes, das ist, zum Einzigartigen schlechthin macht. Jede im Nachhinein gemachte Artikulierung einer unmittelbaren Erfahrung ist lose, aber wenn ich sie nun um der philosophischen Beschreibung willen eigens wage, so sah ich, dass ich, indem ich ebenfalls ein einziges Wesen bin, eins mit den Bäumen bin, die ebenfalls einzigartig sind, und dennoch kein Baum. Zwar sagt auch Aristoteles, dass man in der »Empfindung« als dem Gebiet des »meson« (Mitte) zwischen mir und dem Baum diesen Baum unmittelbar empfindet, aber dennoch ist man kein Baum. 589 Vielleicht war meine geschilderte Erfahrung keine besondere. Aber diejenige kurz darauf, war doch eine etwas ungewöhnliche. Denn ein seit meiner Kindheit vertrautes Wort im »Herz-Sutra« ist unversehens mit einem ganz neuen Klang in meine Leib-Seele hineingedrungen: »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keine Berührung«. Eine wiederum nachträgliche Ar-

588 Gottfried Wilhelm Leibniz, Les principes de la philosophie ou la Monadologie, § 9, in: Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, herausgegeben von Karl I. Gerhardt, 1885, Bd. VI, Reprint, Olms 2016, S. 607: »Il n’y a point deux individus indiscernables.« 589 Aristoteles, De Anima, 424 b 1 ff.

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tikulation dieser Erfahrung wäre: Bei der unmittelbaren Erfahrung des einzigartigen »Selbst«, das kein Gegenstand, kein Noema sein kann, somit »Nichts« ist, ist die Erfahrung desselben eine vor-bewusste und noetische. Bei dieser Erfahrung wird die Tätigkeit der Wahrnehmungsorgane wie Auge, Ohr, Nase, Zunge, Fingerkuppen gerade inmitten derer vollen Tätigkeit nicht wahrgenommen. Sie gibt es nicht. Sie sind Nichts. Wie dem Ganzen des vorliegenden Buchs zu entnehmen ist, geht die Sinneslehre in diesem Buch auf dieses Wort zurück – und geht aus diesem hervor. Man mag mir den Vorwurf machen, es sei unphilosophisch bzw. unphänomenologisch, für eine philosophische Beschreibung ein buddhistisches Sutra zu zitieren, das wie ein »Deus ex machina« wirkt. Aber wenn ich mich an die damalige Erfahrung erinnere, so hatte ich damals überhaupt keine Absicht, durch eine buddhistische Quelle meine philosophische Idee zu autorisieren. Ich fand einfach in diesem buddhistischen Wort eine treffende Formulierung meiner leiblichen Empfindung. Beiläufig wäre zu sagen, dass die cartesianische Erfahrung des »fundamentum inconcussum«, d. h. die Erfahrung »je pense, donc je suis«, kein Schluss im gewöhnlichen Sinne, sondern ein quasi unmittelbarer Schluss bzw. eine Evidenz-Erfahrung war. Der cartesianischen Philosophie, deren Diskurse durchaus rational und vernünftig sind, liegt eine Evidenz-Anschauung zugrunde, die vor-vernünftig ist. Man kann weiterhin auch an den Ausgangspunkt der griechischen Philosophen, das »Erstaunen«, denken, das ebenfalls eine vor-denkliche Evidenz einer ursprünglichen Erfahrung war. Die anfängliche Erfahrung der Philosophen des Deutschen Idealismus war die vorlogische Anschauung der Parousia des »Absoluten«. 590 Der Ausgangspunkt der analytischen Philosophie kann als die vor-analytische Anschauung bezeichnet werden, dass das Problemgebiet, in dem sich die Philosophie zuletzt bewegt, die »Sprache« ist. Wenn es sich so verhält, so wäre es auch nicht befremdlich, wenn die Evidenz-Erfahrung von »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Tastsinn« als eine evidente Erfahrung von »Ich bin« gilt. Sie ist zwar nicht dasselbe mit dem cartesianischen »Ich bin«, aber den590 Diese Ansicht hat der Verfasser in: Das ›Whereabout‹ des Absoluten, Kyôto 1993, darzustellen versucht, und weiterhin in den Gastvorlesungen »Der Deutsche Idealismus« im Wintersemester 2013 an der Universität Köln sowie im Sommersemester 2014 an der Universität Tübingen ergänzend wiederholt.

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Nachtrag

noch könnte es als ein »fundamentum inconcussum« ein philosophisches Denken eröffnen. Übrigens gesteht auch Descartes, dass er neun Jahre gebraucht hat, bis er zu der Evidenz »Ich bin« gelangt ist. 591 Wie auch der Fall Wittgensteins andeutet, braucht vielleicht jeder, der sich mit der Denkarbeit als Lebensaufgabe beschäftigt, unabhängig von der Größe seiner Begabung, unbedingt einen solchen Zeitraum, damit sein Gedanke sich »zeitigt«. Es sei hinzugefügt, dass bei beiden die erworbene Einsicht kein Abschluss bzw. Zielpunkt, sondern der Ausgangspunkt, der »Startblock« waren, von dem aus ihr eigentlicher Denkweg begann. Was ich im Wald erfahren habe, war aber nur die erste Hälfte dessen, was an diesem Nachmittag bei mir geschah. Ich ging nämlich vom Spaziergang im Wald nach Hause zurück und saß am Tisch. Da drang des Weiteren mit dem Wort »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Tastsinn« noch ein anderes Wort in mich hinein: »Es gibt weder Altern noch Sterben, aber es geschieht auch nicht, dass das Altern und das Sterben sich erschöpfen.« Auch dieses letztere Wort aus dem »Herz-Sutra« war mir seit meiner Kindheit vertraut. Die Formel »Das A ist nicht, aber es erschöpft sich auch sein Bestand nicht« ist typisch für eine »Logik der Leere (śūnyatā)«, überliefert in der buddhistischen Philosophie der »Weisheit (prajñā)«, im Japanischen: hannya-shisô. Allerdings hatte ich diese Formel nicht in der Weise verstanden, dass sie meine ganze Existenz und die Welt direkt betrifft. Als das Wort »Es gibt weder Altern noch Sterben, aber es geschieht auch nicht, dass das Altern und das Sterben sich erschöpfen« als Wort der realen und unmittelbaren Erfahrung der »Leere« in mich hinein drang, fühlte ich, dass das Problem des »Selbst« und der »Anderen«, somit das Problem der »Compassion«, unversehens von einem neuen Licht beleuchtet wird. In diesem Licht schien mir, dass die Wand im Denken, die ich bisher irgendwie nicht übersteigen konnte, bröckelte, und ein mir vertrautes »Pathos des Miteinanders« begann sich freizugeben. Ich fühlte mich – an meinem Leib und meiner Seele – von der Bindung der Schwere befreit. Seitdem brauchte ich zwar für die Sammlung und Analytik der zu berücksichtigenden und in eine Auseinandersetzung zu ziehenden Literatur sowie fürs Ausarbeiten der eigenen Darstellung nach wie 591

René Descartes, Discours de la méthode, S. 28.

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vor Zeit. Aber bezüglich der Aussicht über die Gedankenentwicklung selbst konnte ich, ohne auf eine zurückweisende Wand zu stoßen, einfach weiter schreiben, indem ich sozusagen den Worten der Sache selbst zuhörte, so dass jetzt ein Werk zustande gekommen ist.

3. Es ist zwar ein Widerspruch, darstellen zu wollen, was noch nicht dargestellt wird. Nur im wörtlichen Sinne von »Programm«, d. h. »das-im-voraus-Geschriebene«, sollte im Folgenden aber doch einiges angeführt werden. Bereits der Schlussteil des letzten Kapitels des zweiten Teils fordert konkret das, »was noch darzustellen ist«. Der Gedanke Shinrans (und der Gedanke im »Diamant-Sutra«), dass es in den Augen Bodhisattvas in Wirklichkeit kein einziges Lebewesen gibt, das der Errettung bedarf, veranlasst sicherlich sowohl aus der ethischen wie auch aus der juristischen und der pragmatistischen und auch der humanistischen Position die Frage, welchen Sinn eine solche Aussage angesichts der Misere der wirklichen Welt haben kann. Wie stehe es um das Problem der »Verantwortung«? Im Zusammenhang mit diesen Fragen könnte zum Vergleich beispielsweise das Buch Gertrude Himmelfarbs, Poverty and Compassion: The Moral Imagination of the Late Victorians herangezogen werden. 592 Himmelfarb argumentiert, dass die »compassion« als die humanistisch ethische Gesinnung des späten viktorianischen Zeitalters auch die Idee des Wohlfahrtsstaates der Gegenwart sein kann. Man würde fragen, wie es beim Gedanken der mahayana-buddhistischen »Compassion« (karuṇā) um eine solch pragmatistisch humanistische Ausrichtung stehe, wenn sie besagt, es gebe kein zu errettendes Lebewesen. Man würde weiterhin fragen: Ist es nicht eher nötig, statt in die Tiefe der »Leere (śūnyatā)« schnell hinabzusteigen, mit der »Pathologie des Mitleidens« und als »homo pathiens« inmitten der wirklichen Welt durchzuhalten? 593 592 Gertrude Himmelfarb, Poverty and Compassion: The Moral Imagination of the Late Victorians, Indiana University Press, Indiana 1992. 593 Der letzte Satz, der mit »Ist es nicht eher nötig …« beginnt, ist Keiichi Noe zuzuschreiben, der einst einen freundlich-kritischen, treffenden Kommentar zu meinem oben genannten Hegel-Buch (in: Sôbun, No. 525/2009, 11, Verlagsbroschur des Sôbunsha-Verlags Tôkyô) verfasst hat. Wenn sein Wort im Kommentar »Pathologie des Mitleidens« mit meinem Wort »Pathos des Miteinanders« ersetzt wird, gilt das als die

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Nachtrag

Ich respektiere zwar die gnadenreiche Haltung als Humanismus der Pathologie des Mitleidens in ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem pragmatistischen Streben nach der Verwirklichung der Wohlfahrtsgesellschaft. Wenn aber weiterhin gesagt wird, dass der Sinn dieser »humanistischen Haltung« sich mit dem der »Compassion« deckt, die im vorliegenden Buch entwickelt wird, so muss ich mich fragen, ob bisher nicht viele Menschen in der Geschichte gespürt haben, dass der Humanismus als das Mitleid der Stärkeren den Schwächeren gegenüber irgendwo eitel bleibt. Es mag ungerecht klingen, den ernsten Humanismus so negativ zu beurteilen. Gut, aber folgender Verdacht lässt sich nicht leicht ausräumen. Wenn nämlich dem Humanismus stillschweigend das Prinzip »Ich« zugrunde gelegt wird, dann kann seine schöne Seele zu einem »rücksichtslosen Anthropozentrismus« führen, wie er von Hans Jonas in Frage gestellt wurde. Dieser Anthropozentrismus scheint mir ein meist unsichtbarer Hintergrund des Problems der Umweltzerstörung zu sein. In einer sichtbaren Gestalt zeigt sich dieser Hintergrund aber in der Gestalt des Zwiespaltes oder des Gegensatzes zwischen den Ich-Zentrismen der humanen Menschen zueinander. Es kann in der Tat vorkommen, dass ein humanes Ich im Sinne des individuellen, sozialen, staatlichen Ego, indem es seinen Anderen zu helfen strebt, im Gegensatz steht zu einem anderen humanen Ich im Sinne des anderen individuellen, sozialen, staatlichen Ego. Je reiner und ernster sein Streben ist, desto härter sein Gegensatz zum anderen ebenfalls ernsten und reinen Ich. Eine humane, aber ichliche Behauptung kann im Konflikt stehen mit einer anderen ichlich-humanen Behauptung, und dieser Konflikt kann zu einer äußerst inhumanen Misere führen. Ein Humanismus, der in den Ohren schön klingt, kann, solange in ihm das Ich-Prinzip als selbstverständlich vorausgesetzt wird, sich selbst verraten. Diese Hoffnungslosigkeit ist offensichtlich mit dem Liegenlassen der Frage nach der Wesensnatur des »Humanen«, d. h. der Menschennatur verbunden. Die Darstellung des vorliegenden Buchs wurde hinsichtlich dieser Frage von der Anschauung der »Anti-Natur in der Natur selbst« geleitet, wobei die gemeinte »Anti-Natur« sowohl als der Ungrund der Natur überhaupt wie auch und insbesondere als der UnAufgabe, die ich selbst als »was noch darzustellen ist« bezeichne. Diese Aufgabe hat, genauso wie die Misere der Welt, eine unbegrenzte Weite. Jedoch geht es hier nur noch darum, den gründlichen Denkhorizont vorzuzeichnen, in dem sich alle Lösungsmühen bewegen würden, was ich stückweise im Text versucht habe.

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grund der Menschennatur aufgefasst werden kann. Diese Anschauung der ungründigen »Anti-Natur« ist, als solche, zunächst noch nicht im Denken entfaltet, sie bleibt insofern vor-philosophisch. Oben wurde aber mit dem Beispiel des Deutschen Idealismus und Descartes darauf hingewiesen, dass das philosophische Denken von einer vor-philosophischen und evidenten Intuition geleitet wird. Dies besagt freilich umgekehrt, dass diese evidente Anschauung in sich das Bedürfnis der logischen Erläuterung hat. Bezüglich der Logik der Compassion wurde zwar im vorliegenden Buch Grundsätzliches dargestellt, aber die thematische Entwicklung derselben ist erst am Anfang, und gehört zu dem, »was noch darzustellen ist«. Es muss vor allem erläutert werden, in welchem Sinne die »Logik der Leere«, d. h. »A ist nicht, aber es ist auch nicht«, die maßgebliche Logik sein kann. Diese Frage schlägt auch in die große Frage um, was die Logik überhaupt bzw. die Sprache sei. 594 Im vorliegenden Buch wird in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung mit der aktuellen Diskussionslage noch nicht vollzogen. Einige Leser mögen deshalb hier etwa auf den »neuen Realismus« Markus Gabriels hinweisen. Sein Gedanke lässt sich kurz als die Entfaltung der provokativen These »Warum es die Welt nicht gibt« bezeichnen, wie auch der Titel seiner Publikation (2013) lautet. Gabriel greift einerseits die Diskussion des Deutschen Idealismus, vor allem die Frage Schellings, was die »Welt« sei, und andererseits die Position der angelsächsischen analytischen Philosophie auf. Er legt dann eine neue Definition der »Existenz« der Welt fest, die Existenz sei das »Erscheinen-in-einem-Sinnfeld«. 595 Das Wort »Sinn« meint bei ihm den Bedeutungssinn und nicht »aisthêsis«. Da aber diese beiden Begriffe letztlich miteinander zusammenhängen, könnte sich der Gedanke Gabriels, abgesehen von einzelnen Argumentationen, als eine Version des Gedankens »Erscheinung ist gleich die Leere« bezeichnen lassen. Denn der im vorliegenden Buch 594 Um nur einen Aspekt hinsichtlich der Frage auf die Frage nach der »Sprache« zu erwähnen: Das in der mahayana-buddhistischen Schrift Daijô kishin-ron ausgesprochene, allzu bekannte Wort »Mit dem Wort die Spur des Wortes löschen« bietet dabei m. E. eine fundamentale Einsicht. Aber dieses allein bleibt noch rein negativ und führt nicht zu einer positiv stiftenden Richtung. Einen kleinen Beitrag zu dieser Frage hat der Verfasser im Aufsatz »Sprache als Ort« (jap.) (in: Philosophische Gedanken der Kyôto-Schule, herausgegeben von Ryôsuke Ôhashi, Kyôto 2004, S. 208–243) versucht, mit dem Hinweis auf die »Weltereignis-Sprache« im Unterschied zur »innerweltlich-seienden Sprache«. Allerdings hatte der Verfasser damals diese Idee noch nicht im Kontext der »Compassion« als des »Pathos des Miteinanders« betrachtet. 595 Markus Gabriel, Der Neue Realismus, Berlin 2014, S. 196.

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Nachtrag

vorgelegte »Welt-ort« bzw. die Welt der »Fernnähe« und »Höhentiefe« bedeutet auch die Welt, die nicht ist, die aber im jeweiligen Sinnesfeld erscheint. Allerdings kann sich der von uns vorgelegte Realismus mit dem neuen Realismus Gabriels nur kreuzen. Denn die eigentliche Aufgabe im vorliegenden Buch ist nicht die Erneuerung des Gedankens des Realismus auf der Argumentationsebene, sondern die philosophische Bearbeitung der Realitätserfahrung der »Leere« sowie deren sinnlichen Aspekts, der »Compassion« (karuṇā), die bisher in der Philosophiegeschichte noch nicht behandelt wurde. Diese Bearbeitung kann nicht unter der Voraussetzung und der Weiterführung des bisherigen Begriffssystems der Metaphysik vollzogen werden. Sie bedarf aber, solange sie diese bisher philosophisch fremde Erfahrung durchaus im philosophischen Element als ein »neues Philosophieren« vollziehen will, unbedingt des Dialogs mit der überlieferten metaphysischen Philosophie. Das vorliegende Buch steht auch in dieser Hinsicht am Ausgangspunkt. In der faktischen Entfaltung des Denkens vollzog sich der Versuch der vorliegenden Arbeit im Stil einer »Phänomenologie«. Dem Verfasser dünkt, dass die Phänomenologie neben der Logik und der Sprachphilosophie ein Hauptweg des Philosophierens ist, in dem das Potenzial des Denkens noch gar nicht erschöpft ist. So hat der Verfasser versucht, die Leistungen der wichtigen Phänomenologen eingehend ins Auge zu fassen. Sein Versuch, einen Chiasmus der Problemgebiete wie der »Anderen«, des »Leibs«, der »Wahrnehmung« usw. mit der mahayana-budhistischen Erfahrung, dass es die Anderen, den Leib, die Wahrnehmung nicht gibt, phänomenologisch zu entfalten, steht aber erst am Anfang. Im Hinblick auf das Interesse der gegenwärtigen Phänomenologie bedarf etwa der »Leib«, der seit Merleau-Ponty ein großes Problemgebiet bildet, einer intensiveren Thematisierung. 596 Was bedeutet für die phänomenologische Leib596 Diesbezüglich ist auf die Idee der »transformativen Phänomenologie« Rolf Elberfelds als neue Perspektive für das Problem des Leibes hinzuweisen. Elberfeld versucht, in der Reihe seiner neueren Publikationen: Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Phänomenologie, Freiburg i. Br. 2017; Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, Paderborn 2017; Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive (Hg.), Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 9, Hamburg 2017, seine Idee der transformativen Phänomenologie weiterzuentwickeln. Es geht bei ihm um die »Transformation« in mehrfachem Sinn: die Transformation des Philosophierens überhaupt in einer globalisier-

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lehre der mahayana-buddhistische Satz »Es gibt weder Auge noch Ohr, weder Nase noch Zunge, weder Leib noch Bewusstsein«? Zwar habe ich auch dazu Grundsätzliches schon dargestellt, aber ich meine nicht, dass damit die Untersuchung abgeschlossen wird. Weitere einzelne Fragen werden sich bestimmt noch erheben, aber hier sei nur zum Grundhorizont des Denkens, in dem sich die Beschäftigung mit all diesen Fragen letztlich bewegen würde, über das bisher schon dargestellte Grundsätzliche hinaus noch einiges zu erwähnen. Dieser Horizont könnte, um wiederum aus dem »HerzSutra« ein Wort zu entleihen, wie folgt formuliert werden: »Die Leere zeigt sich als die Erscheinung« (空即是色). Es ist wiederum kein »Deus ex machina«, sondern eine Formulierung, die erst phänomenologisch als das entfaltet werden muss, was der Sache nach dem genannten Horizont entsprechen würde. Vorhin wurde gesagt, dass die Sinneslehre im vorliegenden Buch mit dem Wort »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Tastsinn« konvergieren kann. Dieses Wort ist der sinnliche Aspekt des Ausdrucks »Die Erscheinung ist zugleich die Leere« (色即是空), der mit der obigen Formel »Die Leere zeigt sich als die Erscheinung« (空即是色) korrespondiert. Wenn das im vorliegenden Buch Dargestellte der ersteren Formulierung entspricht, so wird das, was noch dazustellen ist, mit der Formel »Die Leere zeigt sich als die Erscheinung« einen Einklang finden. Der zweite Teil des vorliegenden Buchs ist in diesem Sinne schon ein Anlauf für das, »was noch darzustellen ist«. Das oben Gesagte bedeutet, dass nach dem Titel des vorliegenden Buchs »Phänomenologie der Compassion« eigentlich ein Zusatz hinzukommen sollte: »I. Buch«. Das »II. Buch« ist in Vorbereitung. Die im vorliegenden Buch versuchte Entfaltung der Phänomenologie der »Compassion« als »Pathos der Leere« ist noch unterwegs zu diesem »II. Buch«. Damit der Schritt dazu vollzogen werden kann, bedarf der Verfasser einer interdisziplinär-internationalen Zusammenarbeit.

ten Welt, womit auch der Begriff der Philosophiegeschichte in globaler Perspektive sich transformiert, aber auch die Transformation des Philosophierens durch die ästhetisch-leibliche Übung. Das, was sich tatsächlich daraus ergibt und was damit erreicht werden kann, ist allerdings eine noch offene Frage.

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Nachwort

Bei der Bearbeitung des vorliegenden Buchs habe ich sowohl persönlich wie auch auf Tagungen von vielen Kolleginnen/Kollegen immer wieder Anregungen und Belehrungen bekommen. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken, indem ich die Namen dieser Kolleginnen/ Kollegen angebe. Zu allererst sind die folgenden fünf Namen zu nennen: Prof. Claudia Bickmann (Universität zu Köln), Prof. Georg Stenger (Universität Wien), Prof. Rolf Elberfeld (Universität Hildesheim), Prof. Jürgen Manemann (Forschungsinstitut für Philosophie Hannover), Dr. Niels Weidtmann (Universität Tübingen). Diese Kollegin/Kollegen haben als meine vertraulichsten Gesprächspartner/innen im Philosophieren mich, wie in der folgenden Anmerkung mit mehr Details angegeben, zum insgesamt fünfeinhalb-jährigen Aufenthalt in Deutschland, bald als Gastprofessor, bald als Fellow, eingeladen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch der Lektorin im Philosophischen Seminar der Universität Hildesheim, Frau Anna Berres, meinen herzlichen Dank äußern. Sie hat während meines Aufenthaltes als Gesprächspartnerin meinen Denkweg begleitet. Zu meinem tiefsten Schmerz starben 2017 Frau Bickmann und Frau Berres nacheinander. Was ich im vorliegenden Buch über den »Tod« als das nonpersonale Andere geschrieben habe, ist am Ende zum Requiem für diese beiden geworden. Ich möchte weiterhin Herrn Prof. em. Ram A. Mall, dem Gründer der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie, sowie Herrn Prof. em. Wolfgang Welsch für das langjährige Gespräch danken. Ebenso sehr gilt mein herzlicher Dank Herrn Prof. Hans R. Sepp, der mir durch Gespräche und Korrespondenz über die Phänomenologie Husserls oft wichtige Hinweise und Aufklärungen gegeben hat. Die Anregungen, die ich von den oben genannten Kolleginnen/ Kollegen bekommen habe, spiegeln sich hier und da im vorliegenden Buch wider.

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Nachwort

Ein besonderer Dank gilt Frau Dr. Eveline Cioflec. Sie war nach langer Zeit die zweite Person, die mir empfahl, ein Buch wie in der vorliegenden Form zu schreiben, d. h. nicht nur Überlegungen zu Hegel oder Heidegger oder Nishida, sondern auch meinen eigenen Gedanken festzuhalten. Den im Grunde gleichen Rat hatte mir Keiji Nishitani in seinen späten Jahren mit Nachdruck gegeben. Frau Cioflec hat somit Nishitanis Anregung erneuert. Sie übernahm schließlich das Lektorat des Manuskripts dieses Buches. Herrn Prof. em. Shizuteru Ueda danke ich für seine großartige Belehrung bezüglich der Mystik Eckharts. Für Einsichten in Probleme wie »den Anderen«, »die Zeit«, »das Selbst« schulde ich Herrn Prof. em. Bin Kimura Dank. Bei Herrn Prof. Keiichi Noe bedanke ich mich dafür, dass er zu meinen oben genannten Schriften, die als Anlauf für das vorliegende Buch gelten (Vorrede zur Phänomenologie der Compassion – Aus sechs Thesen der japanischen Philosophie sowie Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre), freundlich kritische Rezensionen geschrieben hat. Herrn Prof. Shôryû Katsura, der international aktiver Buddhologe ist, danke ich für seine wichtigen Hinweise, die er auf meine Fragen hin gegeben hat und die mich zu weiteren Forschungsaussichten führen. Beim Gräzisten Herrn Prof. Tetsurô Nakatsukasa bedankt sich der Autor auch diesmal für die Klärung der Sätze des Altgriechischen, die an einigen Stellen des vorliegenden Buchs Schlüsselpunkte ausmachen. Herrn Prof. Tôru Tani bin ich für seine Belehrung zu meinen immer wieder an ihn gestellten Fragen zur Phänomenologie dankbar. Von den jüngeren Kollegen in Japan habe ich ebenfalls Anregungen bekommen. Herr Prof. Katsuya Akitomi ist der älteste unter ihnen. Dasselbe gilt auch von den Teilnehmern der Lektürekreise zu Heidegger (betreut von Herrn Prof. Hiroshi Abe), Nishida (betreut von Herrn Prof. K. Akitomi), zu Fichte (betreut von Herrn Prof. Meisai Nakagawa und Herrn Prof. Hitoshi Minobe), zu Nishitani (betreut von Herrn Prof. Tetsurô Mori), zu buddhistischen Texten (betreut ebenfalls von Herrn Prof. Tetsurô Mori), an denen ich ziemlich regelmäßig teilnahm. Die Anregungen, die ich dort erhalten habe, spiegeln sich im Text sowie in den Anmerkungen des vorliegenden Buchs wider. Ohne immer die persönlichen Namen zu kennen, möchte ich den vielen jungen Studierenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz danken, die vom Sommersemester 2010 bis Wintersemester 2015/6 an meinen Seminar-Übungen teilnahmen und meine Vor372 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Nachwort

lesungen besuchten. Ohne zu wissen, wie echt diese Seminarübungen waren, konnte ich doch etwas davon ahnen, was Heidegger einmal sagte, dass »in einem echten Seminar der Lehrende derjenige ist, der dabei am meisten lernt«. 597 Zumindest waren diese voll erfüllten fünfeinhalb Jahre, die ich in Deutschland zubringen durfte, die Zeit, in der ich mit diesen jungen Studierenden im philosophischen Kontakt stand. Als ein Dokument gebe ich in der Anmerkung eine Liste meiner in diesem Zeitrahmen angebotenen Veranstaltungen wieder. 598 M. Heidegger, Seminar in Le Thor 1968, in: Seminare, HGA, Bd. 15, S. 286. Meine Veranstaltungen an Universitäten Deutschland und der Schweiz 2011– 2015: – Universität zu Köln, Sommersemester 2011, Hauptseminar: Der Zeitbegriff des Zen-Meisters Dôgen in besonderer Berücksichtigung der Zeitlehre von Aristoteles, Augustinus und Heidegger; – Universität Wien Wintersemester 2011/12, Hauptseminar: Der Zeitbegriff beim Zen-Meister Dôgen und Augustinus; – Universität Wien Wintersemester 2011/12, Vorlesung: Heideggers »Sein und Zeit« – Universität Hildesheim, Sommersemester 2012, Vorlesung: Heideggers »Sein und Zeit«; – Universität Hildesheim, Sommersemester 2012, Hauptseminar zusammen mit Rolf Elberfeld: Der »Blumenspiegel« Zeamis; – Universität zu Köln, Wintersemester 2012/3, Vorlesung: Der Deutsche Idealismus; – Universität zu Köln, Wintersemester 2012/3 WS, Proseminar: Hegels »Differenzschrift«; – Universität zu Köln, Wintersemester 2012/3, Hauptseminar: Heideggers »Sein und Zeit«; – Universität zu Köln, Wintersemester 2012/3, Oberseminar (Colloquium): Schellings »Die Freiheitsabhandlung«; – Universität Hildesheim, Sommersemester 2013: Kitarô Nishidas »Studie über das Gute«; – Universität Tübingen, Sommersemester 2014, Vorlesung: Der Deutsche Idealismus und die Philosophie der Kyôto-Schule; – Universität Tübingen, Sommersemester 2014 SS, Hauptseminar: Hegels »Differenzschrift«; – Universität Hildesheim, Wintersemester 2014/15, Hauptseminar zusammen mit Rolf Elberfeld: Der »Blumenspiegel« Zeamis; – Universität Hildesheim, Wintersemester 2014/15, Hauptseminar: Levinas, »Totalité et Infinit«; – Universität Tübingen, Sommersemester 2015 SS, Hauptseminar, Kompaktkurs: Levinas, »Totalité et Infinit«; – Universität Tübingen, Sommersemester 2015, Vorlesung: Der Deutsche Idealismus und die Kyôto-Schule; 597 598

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Nachwort

Besonderen Dank möchte ich Herrn Lukas Trabert im Karl Alber Verlag aussprechen, der die Publikation des vorliegenden Buchs übernommen hat. In diesem Verlag erschienen bisher drei meiner Bücher, so dass das vorliegende Buch als das vierte bezeichnet werden könnte. Allerdings könnte es auch zum fünften gezählt werden, da beinahe gleichzeitig mit diesem in Kürze ein weiteres Buch erscheint: Der Philosophenweg in Kyôto. Eine Entdeckungsreise durch die japanische Ästhetik. Wird das vorliegende Buch mit einem »Nô«- Theaterstück verglichen, so gilt das genannte parallele Buch als »Kyôgen«, d. h. als »Zwischenspiel«, das auch ein selbständiges Stück sein kann. Zwar sind die zwei Bücher dem Thema sowie dem Stil nach voneinander ganz verschieden, aber sie sind im Grundgedanken in mir ein und dasselbe, so dass den Lesern, die diese zwei Bücher in die Hand nehmen werden, herzlich gedankt sei. Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat für die Publikation des vorliegenden Buchs eine freundliche Druckkostenbeihilfe geleistet, wofür ich mich herzlich bedanke.

– Universität Basel, Sommersemester 2015, Kompaktkurs: Levinas und Nishitani. Im Sommersemester 2010 und Wintersemester 2010/11 habe ich deshalb keine Lehrveranstaltungen angeboten, weil ich Fellow im »Morphomata Kolleg« der Universität zu Köln war. Dasselbe gilt auch für Sommersemester 2013 und Wintersemester 2013/ 14, als ich Fellow im »Forschungsinstitut für Philosophie Hannover« war. Den Dank an den Direktor des Hannover Forschungsinstitutes, Jürgen Manemann, habe ich oben schon geäußert. Den zwei Direktoren des Morphomata Kollegs der Universität zu Köln, Herrn Professor Günter Blamberger und Herrn Professor Dietrich Boschung, danke ich herzlich für die Einladung als Fellow sowie für die produktiven Gespräche, die ich im Umgang mit ihnen genießen konnte. Auch danke ich Herrn Dr. Martin Roussel, dem Geschäftsführer dieses Kollegs, für die vielen Gespräche und Anregungen während unserer ergebnisreichen Zusammenarbeit.

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Namenregister / Sachregister

Abe, Hiroshi 372 Adorno, Theodor W. 41, 294, 304 Akitomi, Katsuya 372 al-Hallâj, Abu siehe Hallâj, Abu Alijoscha 172 Aljoscha 60–61, 172 Angelico, Fra 186 Antigone 77 Aquin, Thomas von 71–72, 186, 201, 203, 206 Arens, William 167 Aristoteles 24, 72, 87, 107–110, 117, 122, 127, 131, 142, 157, 165, 180, 204–207, 212, 217–218, 257, 260, 362, 373 ASHIKAGA Yoshimitsu 234, 236, 240 ASHIKAGA Yoshinori 236 Augustinus 28, 51, 72, 128–129, 138, 141, 151, 175, 186, 195, 200–203, 373 Bashô siehe MATSUO Bashô Bastâmî, Bâyazîd 227, 231 Benjamin, Walter 41, 294–298, 311– 312, 316 Benseler, Gustav E. 333 Bergson, Henri 113, 131 Berres, Anna 33, 371 Bickmann, Claudia 371 Blake, William 259 Bodhisattva 338–340 –, Avalokiteśvara 338 –, Jizô 287 –, Monju (Manjusri) 198 Boehm, Gottfried 36, 346 Böhme, Jacob 69–70, 166

Botticelli, Sandro 186 Brachtendorf, Johannes 200, 203 Brueghel, Jan der Jüngere 186 Büchel, Wolfgang 42 Buddha 30, 54, 57, 71, 89, 91, 101, 133, 135, 148, 152, 164, 170–171, 182, 230, 314–316, 339–340, 343, 361 –, Sakyamuni 139, 339 Burne-Jones, Edward 186, 188, 220 Caravaggio, Michelangelo Merigi da 188 Cassirer, Ernst 38 Celibidache, Sergiu 244–245, 254 Cézanne, Paul 68 Cioflec, Eveline 208, 372 Columbus 19 Condillac, Étienne Bonnot de 173 Cusanus, Nicolaus 57, 119, 137 Dai-Kashô 139 Daisetsu siehe Suzuki, Daisetsu Dalí, Salvador 68 Danto, Arthur C. 123 Davari, Reza 14 Descartes, René 72, 88, 98, 206–207, 278, 364 Diaconu, Madalina 161 Dilthey, Wilhelm 113 Dirac, Paul 324–325 Dôgen 53–54, 89, 101, 118, 130–135, 138–143, 148, 151–152, 224, 230– 231, 373 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 172, 313–314 Dürer, Albrecht 186, 188, 305

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Namenregister / Sachregister Eckhart siehe Meister Eckhart Elberfeld, Rolf 34, 231, 234, 368, 371, 373 Eriugena, Johannes Scotus 142, 330– 331 Ernst, Max 68 Fichte, Johann Gottlieb 50, 111, 124, 181, 289, 372 Fink, Eugen 119 Franziskus von Assisi 356–357 Friedell, Egon 64 Gabriel, Markus 367–368 Gamow, George 327 Genji, der Prinz 170, 248 Gibson, James 121, 158 Goethe, Johann Wolfgang von 33, 35, 142 Groner, Marina 158 Hallâj, Abu 227, 229 Hashimoto, Jun-ichirô 42 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36– 37, 41, 64, 66, 70, 77, 80, 109–112, 122, 124, 132, 138, 150, 182, 207– 209, 212, 218, 221, 276–278, 286– 287, 294, 303, 323–324, 365, 373 Heidegger, Martin 35, 42, 44, 47–48, 67, 72, 74, 87, 93–95, 100, 113, 115– 118, 122, 127, 140, 142, 161, 211– 212, 250, 268, 307, 319, 322, 326– 328, 334, 343, 360, 372–373 Henry, Michel 25, 83–84, 165, 222, 260–272, 288, 290 Heraklit 35, 142 Herder, Johann Gottfried 93 Heydari, Ahmad Ali 229 Himmelfarb, Gertrude 365 Hindrichs, Gunnar 54 Hirota, Dennis 31 Hobbes, Thomas 274, 277–285, 287, 289 Holbein, Hans 186 Honneth, Axel 304 Horkheimer, Max 294 Hoyle, Sir Fred 326

Husserl, Edmund 24–25, 43, 45, 48– 50, 72, 82, 85–87, 90, 106, 115–116, 119, 124, 136, 159, 164, 168, 175, 262–264, 269, 289 Inagaki, Hisao 31 Inoue, Tatsuo 17, 279 Isserlis, Steven 67–68 Izutsu, Toshihiko 137, 197, 227–230, 249 Jankélévitch, Vladimir 43–44, 306 Jesus 162, 171, 184, 186, 189–190, 192–198, 200, 202, 346–347, 352 Jizô siehe Bodhisattva Jizô Jonas, Hans 295, 332–338, 353, 366 Kajiyama, Yûichi 321 Kajiyoshi, Kôun 321 Kaneko, Daiei 31 Kant, Immanuel 27, 41, 61–62, 69, 71–72, 108–111, 114–117, 123– 124, 148–149, 166, 181, 213–215, 272, 285, 292–294, 297, 299, 301, 312–313, 329, 331 KANZE Shichirô Motoyoshi 236 Katsura, Shôryû 71, 372 KI-no-Tomonori 248 Kierkegaard, Søren 83, 130–131, 138–143, 147–152, 199, 224, 231, 262, 336 Kimura, Bin 28–29, 45, 372 Kino, Kazuyoshi 321, 338 Kitamura, Tôkoku 269 Klee, Paul 36 Kohler, Ivo und Erika 158 Konfuzius 106, 234 Kôshi siehe Konfuzius Kôyama, Iwao 144–145 Kuki, Shûzô 166 Landgrebe, Ludwig 92 Lao-Tse 283 Leibniz, Gottfried Wilhelm 327, 334, 362

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Namenregister / Sachregister Lévi-Strauss, Claude 136 Levinas, Emmanuel 25, 35–36, 38, 49, 54, 58–62, 64–66, 172, 225, 238, 261, 269, 295, 332, 335–336, 342– 347, 349–358, 373–374 Luther, Martin 63–64, 185 Maeterlinck, Maurice 101 Mall, Ram A. 371 Manemann, Jürgen 184, 272, 374 Maria 202 Maria Magdalena 184, 189–203, 220– 221 Marinetti, Filippo Tommaso 255 Marx, Karl 40, 209, 211, 261, 304 Matsuda, Tamotsu 240 MATSUO Bashô 45, 164, 236 Matsuoka, Seigow 232 Meister Eckhart 28, 51, 138, 182, 230, 254, 350 Mengzi 310 Merleau-Ponty, Maurice 45, 48, 85–86, 90–91, 98, 102–106, 121– 122, 126, 164–165, 168, 175, 269, 368 Minobe, Hitoshi 372 Mohammed 197 Moltmann, Jürgen 353 Morandi, Giorgio 68 Mori, Tetsurô 372 Mosleh, Ali Asghar 229 Most, Glenn W. 193–195, 200 Motterlini, Matteo 320 Murasaki Shikibu 248 Mutô, Kazuo 276 Nakagawa, Meisai 372 Nakamura, Hajime 321, 338 Nakamura, Kazuyoshi 321 Nakatsukasa, Tetsurô 372 Nancy, Jean-Luc 191–193, 200 Naumann-Beyer, Waltraud 157, 242, 255 Nietzsche, Friedrich 139, 256, 321– 322, 342 Nishida, Kitarô 13, 29, 38–39, 45, 57, 93, 104, 122, 130, 144, 146, 182–

183, 211, 218–220, 262, 265–266, 268, 271, 321, 372 Nishitani, Keiji 14, 54, 89, 126, 129– 130, 136, 144, 163, 181–183, 229, 295, 332, 336, 340, 342, 344–345, 347–349, 352, 354, 356–358, 372, 374 Noe, Keiichi 42, 365 Nogami, Mokichirô 324 Nogami, Yaeko 325 Nuki, Shigeto 91 Obert, Mathias 304 ODA Nobunaga 240 ÔSHIKÔCHI no Mitsune 250 Otoami 236 Otto, Rudolf 229 Petrus 196, 198 Peukert, Will-Erich 70 Pietschmann, Herbert 42, 83 Platon 13, 41, 79, 94–95, 138, 273, 276–279, 281, 315, 328 Proust, Marcel 185 Quint, Josef 28 Rajabi, Ahmad 14 Rawls, John 17, 278–280 Reichenbach, Hans 42 Rilke, Rainer Maria 68–69, 319 Rohrmoser, Günter 297 Rombach, Heinrich 119, 223, 319 Rousseau, Jean-Jacques 278, 282 Rubens, Peter Paul 186, 188 Saisei, Muroo 55–56 Sakyamuni siehe Buddha Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 79, 122, 124, 150, 199, 312–313, 327–331, 360, 367 Schleiermacher, Friedrich 94, 273 Schmitz, Hermann 35, 48, 163 Sekitô, Kisen 126 Sepp, Hans Rainer 49–50 SHIDÔ Munan 226 Shimomura, Toratarô 325

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Namenregister / Sachregister Shinran 31, 314–316, 339, 365 Silesius, Angelus 327 Sossima 60, 171–172 Stenger, Georg 119–120, 223, 371 Strasser, Stephan 25 Suzuki, Daisetsu 14, 18, 79, 321 TAIRA-no-Atsumori 240 Takeuchi, Yoshinori 276 Tanabe, Hajime 144, 216, 276–277, 324–325 Tani, Tôru 372 Thomas 192–195, 198 Torricelli, Evangelista 324 Toynbee, Arnold J. 344 Ueda, Shizuteru 229–230, 372

Vimalakīrti 170–171 Vitruvius 232 Waldenfels, Bernhard 26–27, 45, 48 Watanabe, Jirô 115 Watsuji, Tetsurô 146 Weidtmann, Niels 223, 371 Weizsäcker, Carl Friedrich von 42, 132, 326 Welsch, Wolfgang 125, 371 Wittgenstein, Ludwig 176–179, 359 Yanagida, Seizan 126 Yoshida, Tôgo 233 Yoshimitsu siehe ASHIKAGA, Yoshimitsu

Vasubandhu 158

Zeami 232–233, 235–237, 239–243, 245–248, 250–254, 256–257, 259– 260, 373

Abgeschiedenheit 254–256, 350 Abgrund 72, 75, 99, 267, 293, 327, 329 AI 223 Andere(n) 18, 118, 125, 128, 134, 299 –, Andersheit der 23 –, Begegnung mit 126 –, Begriff der 16 –, berührte 160 –, das 23, 35, 43, 51, 65, 75, 77, 134, 147, 162, 218, 226, 238, 269, 300 –, das absolute 44–45, 219, 225, 227– 228 –, das lebendige 265 –, das non-personale 43, 75–76 –, das radikale 47 –, der 23, 35, 60–61, 180, 191, 268, 300 –, die 60, 134, 145–146, 162, 204, 213, 238, 241, 255, 268, 289, 300, 364 –, Erkennen der 25 –, fremde 23, 302 –, Fremdheit des 267

–, gesehene 179 –, hyper-personale 17, 51–52, 58–59, 162, 228, 275, 308, 311 –, –, siehe auch Göttliche, das –, ichliche 289 –, impersonale 16, 39, 58, 65, 106, 137, 162, 164, 209, 211–212, 217, 222–224, 274, 302, 305 –, –, siehe auch Ding, Dinge –, in der dritten Person 37–38, 58, 62–65, 221, 302 –, in der ersten Person 26, 76 –, in der zweiten Person 30, 35, 37, 58, 209, 220, 301 –, Lehre über den 232 –, mehrdeutige 26 –, Miteinander mit den 18, 23, 125 –, Modi der 174 –, Nähe d. 60, 347 –, Negativität der 23 –, non-personale 16, 29, 44–45, 51, 58, 72–73, 77, 137, 224, 275, 304 –, –, siehe auch Tod

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Namenregister / Sachregister –, personale 16, 65, 137, 146, 164, 217, 222, 274, 302 –, Phänomenologie der 16 –, Positivität der 23 –, sich hören lassende 175 –, soziale 77 –, Spur des 346, 350 –, umgebende 273, 275, 277, 287 –, umweltlich umfassende 17 –, unsichtbare 46 Andersheit 23, 26, 28, 47, 65–67, 77, 99, 135, 163, 225, 269, 278, 282–283 Anerkennung 91, 286–288 Angst 47, 74, 83, 101, 105, 140, 149, 213, 283, 302, 314, 328 –, Todes- 209 Anschauung 110–111, 115, 141, 151, 277, 293, 305–306 –, Axiom der 306 –, buddhistische 325 –, christliche 325 –, der Seele 128 –, der Sterblichkeit 73, 293 –, des Ungrundes 330 –, Evidenz- 363 –, Form der 329 –, kategoriale 115–116 –, kosmische 328 –, Lebens- 293 –, sinnliche 114, 116 –, vor-analytische 363 –, vor-logische 363 –, Welt-, ethische 332 –, Welt-, religiöse 13, 337 –, Welt-, wissenschaftliche 328 Anthropozentrismus 270, 336, 366 Anti-Natur 30, 79, 150–151, 291, 311 Antlitz 36, 38, 46, 59–61, 65, 172, 212, 226, 235, 238, 275, 342–343, 347, 349, 357 Apriori 268 Apriorismus 268–269 Ästhetik 15 –, des Duftes 249 –, japanische 166, 374 –, transzendentale 110

Atemkraft 243 Aufklärung 66, 158, 293–294, 323 Auge 96, 104, 138, 179, 181–182, 253–254, 256–258, 266, 312, 325, 369 Augenblick(s) 23, 33, 73, 77, 84, 97, 130, 138–143, 147, 152, 159, 164, 172, 178–179, 186, 189, 224, 243, 258, 355 –, -charakter 135, 138 –, -schwelle 242 –, -stätte 137, 140, 216 Auschwitz 335, 337 Berühren, das 85–86, 162–163, 195, 197–198, 200–201, 266 Berührung 73, 84–86, 92–94, 96, 99, 104, 159, 161–164, 166, 168–169, 178–180, 183, 186, 189–190, 194, 197, 202–203, 244, 266, 320 Bewusstsein 16, 27, 49, 66, 73, 84, 89, 91, 98, 101, 103, 105–107, 116, 148, 157, 178–179, 181, 183, 208, 210, 251, 263–265, 303–304, 316, 321, 344, 352, 369 –, -allein 316 –, Ego- 89 –, Ich- 27, 90, 101, 117, 120, 227, 251 –, Selbst- 24, 62, 66, 175, 208–210, 228, 286–288, 298, 303 –, Selbst-, der Staatssouveränität 289 –, Selbst-, des Lebenden 74 –, Zeit- 49, 136, 160, 264, 306 Bibel 28, 178, 184–186, 188–189, 192–193, 347, 350 –, Altes Testament 61, 176, 331 –, Neues Testament 61, 336 Böse, das 143, 148, 292–293, 301, 322, 332 Brot 84, 167, 293 Buddha-Natur 30, 54, 71, 339 Buddhismus 13–14, 29–31, 71, 89, 93, 101, 132, 137, 143, 146, 151– 152, 168, 178, 182–183, 197, 199, 230, 233, 245, 257, 316, 321–323,

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Namenregister / Sachregister 325–326, 328, 338–340, 342–343, 345, 349, 353, 358 –, Zen- 357 Christentum 14, 140, 168, 199, 262, 293, 323, 335, 344, 350, 352–353 Commonwealth 280, 282, 285 –, christliche 281 Compassion 13–18, 21, 23, 47, 79, 99, 122–123, 129, 137, 143, 153, 155, 184, 198–199, 204, 208, 232, 261, 272, 287, 300, 315–317, 320, 340, 350, 354–355, 360–361, 364, 366– 367 –, Große 13–14, 170 –, karuṇā 14–15, 17, 71, 355, 365, 368 –, karuṇā, große 14, 349, 355 Dasein 28, 35, 46, 50, 74, 100, 113, 115–118, 206, 250, 307, 319 –, (s)analytik 44, 48, 74, 113, 118, 140, 161 –, faktisches 118 –, Gottes 331–332 Dasein Gottes 332 Desinteressiertheit 62 Dharma 53, 89, 343–344 Dialektik 37, 138, 207, 213, 216–217, 276, 294 –, der absoluten Vermittlung 277 –, Herr und Knecht 209–211, 213, 215–216, 272, 277, 286, 298, 302– 303 –, spekulative 277 différance 136 Ding(e) 16, 26, 39–40, 43–44, 47, 49, 53, 56, 61, 65–70, 88, 96, 99, 102, 104, 107–108, 119–121, 125, 127, 137, 163, 204, 210–211, 213–214, 216, 223, 230, 269, 274, 303–304, 356 –, -charakter 273–274 –, -Erfahrung 71 –, -welt 270 –, als Gegenstände des Glaubens 67 –, an sich 27, 42, 123, 312, 320 –, Aussprache der 225

–, gefühllose(s) 39, 42, 222 –, Gewaltsamkeit des 304 –, Höhentiefe der 72 –, Kunst- 304 –, mit Fetischcharakter 212 –, Natur- 143, 148, 153, 259 –, objektive 135 –, Ordnung der 179 –, Predigt der 171 –, rein materielles 226 –, schweigende 39 –, Sprache der 176 –, surreale 68 –, Un- 212, 223 –, unauffällige 67, 212 –, Verdinglichung der /zu (en), siehe Verdinglichung –, Wesensnatur der 66 Dirac Sea 324 Dogmatik 78, 308 –, buddhistische 339–340 Dreiheit 23–25, 47, 137, 291, 300 Du 26–27, 29–32, 38–40, 53, 58, 107, 122, 137, 145, 162, 198, 201, 209, 218–220, 234, 239, 268, 285, 297, 302, 315–316, 333–334, 360– 361 Duften, das 120, 170–171 Dunkel, das 16, 46–47, 50, 73–75, 79, 95–96, 226, 250 Ego –, Alter 264 –, non- 348 –, staatliches 366 –, Staats- 63 –, völkisches 63 –, wölfisches 284 Empfindung(s) 157, 189, 212, 217, 219, 224, 226, 255–256, 301, 362 –, (Herz) 246, 250 –, -akt 88 –, -analyse 90 –, -bewusstsein 85, 90 –, -fähigkeit 47, 225 –, -kommunikation 230 –, -bereich 160

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Namenregister / Sachregister –, -sinn 92, 121, 166, 205 –, -tätigkeit 88 –, äußere 265 –, äußerliche 73, 86, 158 –, Doppel- 85–86, 90 –, kanju (jap.) 242 –, Körper- 157 –, Sinn- 88 –, Tast- 88 Entfernung 32, 35, 99, 160–163, 169, 174, 180, 183, 228, 302 Entfremdende, das 273 Entfremdung 26, 37, 39, 277–278 Entsühnen 312–313 Epoché 49, 90 Er (Sie) 38 –, -heit 38, 66 Erfahrung 90 Erfahrung(s) 51, 54, 70, 72, 77, 79– 80, 82, 91, 105–107, 160, 162, 166, 171, 176–177, 309, 362–363 –, -beschreibung 52 –, -horizont 225 –, -inhalt 132, 176 –, -subjekt 165, 307 –, -urteil 215 –, alltägliche 176, 183 –, augustinsche 177 –, Beschreibung der 51 –, cartesianische 363 –, der Entfremdung 26 –, der Leere 364 –, der Sinnesvergessenheit 107 –, des Beobachters 36 –, des Göttlichen 52 –, des Selbst 265, 362 –, des Zen 101 –, Ding- 65, 71 –, direkte 93, 123, 179–181, 218, 228, 265 –, Evidenz- 363 –, fundamentale 80 –, Geschehen der 231 –, gewöhnliche 176 –, Gottes- 228 –, im ausgezeichneten Sinne 51 –, im weiten Sinne 106

–, individuell-spirituelle 102 –, Islam- 229 –, konkrete 120, 137 –, künstlerische 225 –, Lebens- 55, 81, 105, 266 –, lebensweltliche 166 –, Leib-, siehe Leiberfahrung –, malerische 102–103 –, mit dem Anderen 270 –, mit dem Ich 25 –, mystische 176, 178, 228 –, Natur-, siehe Naturerfahrung –, reale 261 –, reine 93, 262, 265–267 –, religiöse 15, 46, 51–52, 166, 175, 178, 195, 228, 308, 314 –, Selbst- 228, 266 –, Sinnes- 271 –, sinnliche 52, 165, 180, 275 –, unmittelbare 93–94, 102, 123, 176, 179, 267, 273, 275, 277, 284, 320, 338, 362–364 –, ursprüngliche 363 –, Zen- 182 Erkenntnis –, -akt 158, 216 –, -kategorie 117 –, -kategorien 108–109 –, -lehre 17, 257, 262 –, -philosophie 165 –, -tätigkeit 108 –, -vermögen 114, 329 –, begriffliche 116 –, der Wesensnatur 66 –, des Selbst 66 –, Ich- 25 –, noematische 90 –, Objekt der 210 –, von Gut und Böse 148 –, wissenschaftlich-objektive 325 Eros 13, 60, 190 eschatologisch 333 Ethik 15–16, 144–147, 180, 183, 206, 273, 310, 331–333, 335–338, 340, 345, 352 –, des Platzes 144–145 –, Zukunfts- 333–334, 336

397 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Namenregister / Sachregister Evangelium 196 –, Johannes 175, 186, 192, 194–197, 199–201 –, Lukas 188, 192, 196, 202 –, Markus 195–196 –, Matthäus 195–196, 349 Existenzialien 113, 115–116 Ferne 32–38, 40, 45, 50, 54–57, 60, 69, 72, 74, 95, 120, 126, 140–143, 151–152, 161, 163, 168, 183, 221, 225–226, 228, 250, 261, 264, 302, 345, 347, 352, 354 Fernnähe 23, 32–39, 43, 45–47, 52– 55, 57, 59, 66, 69, 72–74, 81–82, 95, 102–103, 107, 117–118, 120, 126, 128–129, 137, 146, 153, 160–161, 163–164, 169, 175, 180, 182–183, 204, 220, 226–227, 254, 300, 320, 345–347, 357, 368 Freiheit 79, 114–115, 126, 149, 157– 158, 212, 216, 219, 292, 301, 313, 329–330, 332 fremd(e/es) –, Andere 23, 302 –, Andersheit 305 –, Etwas 303–304 Fremde –, das 26, 47 –, der 35, 60 Fremdheit 17, 23, 34, 267, 273, 278, 303, 321 Freundschaft 33–34, 53, 220, 309 Frieden 283 –, der ewige 292 Friedhof 76 Fühlen, das 73–74, 88, 104, 159, 162– 164, 258, 266, 271 Fünfsinne(s) 157, 159–162, 165, 179, 183–184, 204–207, 214, 219, 260 –, -Lehre 158 Gefühl 43, 47, 58–59, 69, 71, 73–76, 86, 98, 157–158, 162–163, 170, 173, 190, 199, 213, 221, 239, 242, 250, 275, 278, 298–299, 303–304, 307, 318, 350, 360

–, -losigkeit 42–43, 305 –, ästhetisches 253 –, der Gerechtigkeit 277 –, der Leere 199 –, der Stille 245 –, des Leidens, Mitleidens 17 –, ethisches 88, 105 –, Gemein- 241–244 –, gemeinsames 245 –, innerliches 88, 104 –, un-gemeinsames Gemein-, siehe unemeinsames G. Gelassenheit 49, 360 Gemeinschaft 270 Gemeinschaft(s) 46, 147, 177, 242, 260, 267–268, 271–275, 278, 280, 283, 309–310 –, -pathos, siehe Pathos, G. –, Formen der 309 –, jüdische 177 –, mit den Toten 269 –, personale 269 –, Phänomenologie der 261 –, soziale 288, 308 –, Staats- 289 –, Wesen der 267 Gemeinschaftspathos, siehe Pathos, G. Gemeinsinn 205 –, siehe auch Sinn, GemeinGenie 79 Gerechtigkeit(s) 16–17, 61, 65, 273– 274, 277–279, 281–286, 288, 298 –, -sinn 278, 288 –, Gefühl der, siehe Gefühl der G. –, lehre 278–279 –, Un- 277–278 –, un-gerechte 284 Geruch(s) 97, 169, 249 –, -nerven 161, 169 –, -sinn, siehe Sinn, G. –, -übertragung, Lehre der 249 –, -vergessenheit, siehe Vergessenheit, Geruchsv. –, der wahren Leere 249 Geschichte 40, 148–149, 151, 220, 229, 292, 298, 321, 333, 335, 340, 344–345, 366

398 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Namenregister / Sachregister –, Begriffs- 107, 214 –, der Sinneslehre 82 –, des Menschen 65 –, des Zen 152, 357 –, Entstehungs- 196 –, Entwicklungs- (des Buddhismus) 340 –, Geistes- 16, 51, 102, 130, 153 –, Heils- 344 –, Kunst- 185 –, Lebens- 239 –, Philosophie- 13, 87, 124, 150, 165 –, Politik- 311 –, Religions- 311 –, Seins- 100 –, Strömungen der 62 –, Urteil der 63–65 –, Welt- 64, 274, 287 Geschmack(s) 84, 96, 166–168, 205 –, -sinn, siehe Sinn, Geschmacks–, -vergessenheit 97 Geschöpf(e) 285, 356 Gesellschaft 54, 112, 185, 272, 288, 309 Gesellschaft(s) 40, 60, 125, 220, 242, 272, 274, 278–280, 291, 297, 302, 304, 308–310, 318, 340, 356 –, -analyse 38 –, -leben 77 –, -pathos, siehe Pathos, G. –, alltägliche 77 –, Bürger- 276, 279 –, Industrie- 40 –, kritik 296 –, Wohlfahrts- 308, 366 Gesetz 66, 78, 144, 208, 210, 229, 298, 303, 332, 344 –, des Staates 285 –, göttliches 77 –, menschliches 221 –, moralisches 285 –, Natur- 281 –, sittliches 115 –, übersinnliches 114 Gesinnung 15, 17, 32, 53, 105, 159, 168, 228, 288, 293, 301, 309, 352 Geviert 67

Gewalt 63, 69, 278, 291–292, 294– 303, 305–306, 308, 310–312, 314 –, -charakter 290, 294–295, 303, 305 –, -kritik 272, 291, 294–298, 300, 310, 312, 315–316 –, ewige 292 –, göttliche 311 Glauben 31, 51–52, 61, 79, 132, 144, 172, 198, 202, 323 Gott(es) 26, 28, 30, 32, 51, 54, 61–62, 71, 78, 80, 128, 138, 141–142, 167– 168, 175–177, 182, 187, 192, 196, 199–200, 203, 227–230, 254, 295, 297–298, 319, 329, 331–332, 335– 337, 342–344, 346–350, 352–353, 356 –, -begriff 331, 334 –, -gedanke 332, 342 –, -gedanken 331, 337 –, -heit 28, 51, 69, 182, 254 –, -lehre 335 –, -liebe 230 –, -namen 61 –, als Übermacht 177 –, Äußerung 336 –, Berufung 310 –, Dasein 332 –, der Dreieinigkeit 198 –, der Gerechtigkeit 61 –, der lebende 199 –, der Liebe 61 –, essen 167 –, Gottes-, siehe Erfahrung. Gottese. –, im Werden 199–200 –, Kenosis 344, 352 –, Leiden 355 –, Prinzip, das 337 –, Ruf 175–176 –, Schöpfer- 330–331, 343 –, Schutz- 133, 135 –, Schweigen 337, 353 –, Sohn 190, 192, 201, 203, 312, 346 –, sterblicher 274 –, Stimme 178 –, Urteil 172 –, Verantwortung 335 –, Verbot 148

399 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Namenregister / Sachregister –, Verzweiflung 336 –, Vollkommenheit 349 –, Welt 172 –, Werk 149 –, Wesensnatur 349, 352, 355 –, Wille 352 –, Wort 132, 176 –, Zusammenziehung 336–337 Göttliche, das 17, 26, 50–51, 77–78, 80, 162, 228, 308–311, 356 Grab 184, 190, 192, 195, 197, 202, 240 Heimat 55–58 Heiterkeit 17–18, 340 Helle, die 50, 73, 75, 95–96 Herr – Ding – Knecht 210, 215 Herz 18, 57, 162, 245–249, 251–253, 338 –, -natur 54 –, Anfänger- 252 –, das ursprüngliche 316 –, Nicht- 248, 250–251 Höhe 53–55, 60–61, 63–64, 67, 69, 72–75, 77, 80, 89, 91, 102, 112, 140, 171, 180, 221, 227, 251, 345, 347 Höhentiefe 27, 33, 40, 53–55, 57–60, 62, 64–69, 71–73, 76–77, 81–82, 102–103, 107, 117–118, 120, 126, 128–129, 146, 153, 160–161, 163– 164, 168–169, 175, 180–181, 183, 204, 220, 226–227, 300, 320, 345– 347, 357, 368 Höhlengleichnis 73, 94–95 Hören 33–34, 51, 68, 80, 98, 171, 174–176, 178–179, 189, 249, 258 Humanismus 269–270, 366 Ich 18, 23–29, 32, 75–76, 89, 91, 98, 104, 116–118, 120, 124–125, 134, 137, 145, 180–181, 209, 218–219, 238–239, 256, 265, 270, 285, 291, 328, 366 –, -Bewusstsein, siehe Bewusstsein, Ich–, -Erkenntnis 25 –, -heit 16, 225–226 –, -losigkeit 175

–, -Prinzip 366 –, -Schale 227 –, -sein 218 –, -Vergessenheit 89, 134 –, -Zentriertheit 134, 271 –, -Zentrismen 366 –, Abgeschiedenheit vom 256 –, absolutes 124 –, als absolute Idee 124 –, als Schein 124 –, als Subjekt 100, 148, 165, 299 –, als Traumvision 239 –, als Weltmensch 125 –, bei Samurai (jap. sessha) 32 –, berührendes 160 –, das andere (gr. heteros autos) 206 –, Dein (onore) 31, 58 –, denke (cogito) 18, 124–125, 181 –, empfindendes 256 –, ich-loses 76 –, im Allgemeinen (jap. watashi) 32 –, Nicht- 23, 39, 289 –, reines 24–25, 219 –, sehendes 179 –, sein ohne 350 –, selbstvergrößernde Wendung (jap. wagahai) 32 –, sinnliches 219 –, subjektives 111, 254 –, Subjektivität des 104 –, transzendentales 48–49 –, transzendentes 29 –, über-ichliches 28 –, Verdoppelung des 175 –, vor-ichliches 28 Ideenkleid 82 Identitätsdenken 28 In-Berührung-mit-der-Welt-sein 92, 99, 164, 167–169, 320 In-der-Welt-sein 92, 117 IS 78 Islam 14, 78, 197, 227–230, 335, 344 Jesus 69, 184–186, 188–190, 193– 197, 199, 201–203, 221 Judentum 338, 342, 344, 352–353, 358

400 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Namenregister / Sachregister Judenverfolgung 296 jüdisch (e/er/es) 311, 353, 358 –, -christliche Tradition 61 –, -christlicher Gesichtskreis 343 –, -christliches Denken 311 –, Einzigkeit 357 –, europäisch- 344 –, Lehre 335 –, Prophet 353 –, Religion 344–345 –, Theologie 225, 295–296, 353 –, Volk 354 Kabbala 335 Karneval 167 karuṇā, siehe Compassion, karuṇā kategoriale Anschauung, siehe Anschauung, k. Kategorie 107, 115, 119 Kategorie(n) –, -lehre 109, 113, 117 –, bei Aristoteles 108–109 –, Deduktion der 110 –, der Fernnähe 47 –, der Höhentiefe 54, 58, 62, 69 –, des Sinne 158 –, Erkenntnis- 108 –, existenzielle 113 –, Formen der 109 –, ontologische 113 –, Phänomen- 113, 118–119, 123, 126, 146, 153, 161, 167–168, 321 –, –, siehe auch Phänomenalia –, Welt- 107, 113, 119–120, 123, 126– 128, 146, 153, 161, 163, 167–169, 183, 320 –, –, siehe auch Mundana Kenosis 295, 336–337, 342, 345–347, 350–355, 357 Koran 14, 197, 228 Körper 46, 84–85, 88, 90, 126, 163, 167, 191–192, 194, 213, 240–241, 245–247, 251–252, 356 –, -lichkeit 39, 85 –, -teil 84–85, 88, 96, 157, 161, 164, 189, 247

Kunst 36, 41, 67, 70, 183, 185, 232, 236–237, 244, 246, 256–257, 304, 346 Kyôto-Schule 373 –, ein Philosoph der 325 –, Philosophie der 13, 373 –, Vertreter der 342 Leben 45, 47, 49–50, 61, 70, 72–76, 83–84, 101, 105–106, 112, 125, 128, 145, 196, 209–210, 224, 226, 233, 239, 241, 249, 252–253, 261–262, 266, 268–270, 283, 293, 298, 300, 303, 305–307, 313, 322 –, reel materielles 265 Leere 28, 77, 103, 198, 251, 290, 321– 322, 325, 339–340, 349, 369 –, der Menschennatur 311 –, Erfahrung der 364 –, Logik der 367 –, śūnyatā (jap.) 199, 340, 350, 364– 365 –, Welt als 249 Leerwerden 347 Leib 17, 35, 40, 88, 91, 104, 132, 134, 138, 163–164, 202, 234, 236, 252, 258, 293, 362, 368 –, -erfahrung 90–91 –, -gestalt 53 –, -lich 54, 86, 163, 168, 171, 189, 202, 252, 363 –, -lichkeit 69, 93, 163, 165, 202–203 Leidenschaft 173, 222, 269 –, siehe auch Pathos –, Mit- 199, 222, 272, 300 Leviathan 274, 277–278, 280–285 Licht 15, 73, 94–96, 103, 143, 176, 191, 196, 228, 338, 364 Liebe 13, 18, 33–34, 61, 69, 162, 164, 172–173, 199, 219–220, 226, 282, 348–349 –, Gottes 349 Logik 15, 81, 104, 107–108, 110–112, 122, 124, 135, 145, 181, 217, 276, 321, 339, 368 –, der Compassion 367 –, der Leere 364, 367

401 https://doi.org/10.5771/9783495817322 .

Namenregister / Sachregister –, der Spezies 277 –, des Ist-und-zugleich-ist-nicht 321 –, Formal- 81 –, ontologische 112 –, transzendentale 110 –, Wissenschaft der 277 Macht 64, 78, 158, 177, 274–275, 285, 299, 306, 322, 333, 337, 350, 353 –, absolute 287 –, Machtpolitik 286 Maske 172, 235–239, 246, 343 Mensch(en) 18, 23, 26, 31, 34, 41, 48– 49, 59, 65, 74, 88, 93, 125, 135, 138, 144, 146, 173, 190, 192, 201–202, 212, 223, 233, 238–240, 249, 254– 256, 269–270, 280, 282, 292–293, 301, 306–307, 310, 312, 330, 333– 334, 336–337, 347, 353, 355 –, -(en)würde 61 –, -gefühle 244 –, -heit 16, 297, 301, 334 –, -leben 211 –, -leib 53 –, -liche Beziehung 33–34 –, -liche Existenz 102, 112, 149, 163, 191, 358 –, -liche Geist 324 –, -liche Natur 80 –, -liche, das 311 –, -liches Dasein 35, 100 –, -liches Gesetz 77, 221 –, -liches Leben 112 –, -masse 221 –, -natur, siehe Natur, Menschenn. –, -seele 149 –, -welt, siehe Welt, M. –, -werdung 78, 346–347 –, Geistesgeschichte des 102 –, Gesinnung des 15 –, haftigkeit 39 –, humaner 366 –, im geistigen Sinn 24 –, Lüste des 168 –, ohne Eigenschaften 38 –, Wesensnatur des 149, 291 –, Willen des 15

Miteinander 16–18, 23–24, 47, 125, 138, 144, 221, 365 Mundana 107, 117, 119–120 –, siehe auch Kategorie(n), WeltMythos 335–336 Nähe 32–38, 40, 45, 50, 54, 56–57, 60, 69, 72, 74, 76–77, 95, 126, 140–141, 151–153, 160–161, 163, 168, 183, 221, 225–226, 228, 261, 264, 302, 313, 330, 345, 347, 352, 354 Natur 16, 29, 41–43, 69–71, 78, 141– 143, 145, 147, 151–152, 182, 270, 292, 330–331, 344 –, -Erfahrung 70–71 –, -gesetz 281 –, -macht 299 –, -schutz 41, 270 –, -welt 23, 66–67, 69, 143, 149, 152– 153, 270 –, -zustand 89, 282–283, 286 –, an sich 41 –, Anti-Wesens- 134, 147, 290 –, Außen- 30, 70–71 –, Buddha-Natur, siehe Buddhanatur –, Innen- 30 –, innere Wesens- 70 –, jinen (jap.) 70 –, Kategorien der 114 –, Menschen- 16, 147, 292–294, 301, 311 –, menschliche 80, 281 –, natura naturans 30 –, objektive 219 –, physis 330 –, shizen (jap.) 16 –, Tätigkeit der 34 –, unschuldige 150 –, Wesens- 27, 30, 66, 134–135, 147, 149, 151, 208, 290–291, 349, 351, 357 –, Wesens-, gemeinsame 355 negative Theologie 51, 350 Nichts 43–44, 75, 103, 254, 328, 349– 350, 363 –, -Tun 248, 251 –, tätiges 271

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Namenregister / Sachregister Niedere, das 55 Nô 232–241, 243–247, 250–252, 254–255, 258–260, 374 –, Gegenwart- 239 –, Traumvision- 240 Noema 86–87, 91, 263–264, 363 –, -tisierung 87, 265 Noesis 87, 89, 91, 101–102, 263 Noli me tangere 184, 186, 190–191, 200–201, 220 Non-vis-a-vis-ität 42, 62 Ontologie 112–113 Ort(s) 40, 51, 56, 68, 77, 102, 114, 129, 131, 136, 167, 202, 251, 253, 255, 275, 302, 316, 346 –, siehe auch Weltort –, -lehre, aristotelische 131 –, -ung 130 –, charakter 40, 146 –, der direkten Erfahrung 218 –, der Fernnähe 103 –, der Nähe 56 –, des Sichtbaren 96 –, einfältiger 129 –, Friedhof als 76 –, Gottes 310 –, leerer 324 –, originärer 100 –, ortloser 103 –, realer 307 –, Selbstbestimmung des 130 –, sho (jap.) 130 –, sich bestimmender 130 –, sichtbarer 94 Pathos 15, 222, 224, 271, 316 –, des Miteinanders 15–17, 364–365, 367 –, Gemeinschafts- 260, 268, 272–273, 278, 283, 285–286 –, Gesellschafts- 220, 272, 278, 283, 301–302, 319 –, Gesellschafts-, ungeselliges, siehe ungeselliges G. –, pathos-avec 222, 260–262, 267, 269, 272

–, Staats- 319, 341 –, Welt- 318–320, 340 –, »ichliches« 268 Person 57, 61, 86, 134, 170, 172, 196, 201, 219, 226, 235, 237, 273, 280, 285, 289, 297, 304 Personalität 61, 65, 166, 209 –, auswählende 350 –, Bestimmtheit der 33 –, Im- 65, 349 –, impersonale 349 –, Trans- 349 –, transpersonale 349 –, Unbestimmtheit der 42 –, Verneinung der 44 Pflicht 59 Phänomenalia 107, 117, 120 –, siehe auch Kategorie(n), PhänomenPhänomenologie 24–25, 47, 51–52, 251, 264, 266, 273, 308–309, 321– 322, 372 –, der Anderen 16 –, der Compassion 361, 372 –, der Fünfsinne 260 –, der Gemeinschaft 261 –, der Maske 235 –, der Musik 244 –, der Wahrnehmung 85, 91–92, 105 –, des Geistes 66, 77–78, 80, 111, 138, 182, 207–208, 210, 212, 216, 221, 277, 288, 303, 323–324, 360–361, 372 –, des Lebens 49 –, gegenwärtige 234, 368 –, Grundhaltung der 47 –, Heideggers 265 –, Husserls 264 –, Leibes- 168 –, materielle 261–262, 265, 269 –, Merleau-Pontys 102, 105 –, religiöse 262 –, transzendentale 115, 262–263 –, »Staats«- 290 Physik 42, 132, 322–327 –, des Aristoteles 131

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Namenregister / Sachregister –, physikalisch 29, 32, 42, 53–55, 69, 73, 113–114, 118, 137, 145, 160– 163, 166, 168–170, 303, 312–314, 322–325, 329 Politik 16, 25, 118, 183, 240, 279, 317 –, -wissenschaft 317 –, Staats- 289 –, Welt- 290 Protention 136, 159 Psychologie 24, 255 Räumlichkeit 35, 68, 103 Realismus 368 –, neuer 368 Recht(s) –, -gewalt 295–296 –, -person 273–275, 280, 291 –, Natur- 295 –, Philosophie des 111, 276, 278 –, positives 295 –, wissenschaft 273 Religion(s) 16, 40, 51, 67, 78, 147, 174, 182, 229, 297, 317, 335, 337, 340, 344–345, 348, 356, 358 –, - phänomenologie (Nancy) 192 –, -en 15, 25, 345, 352 –, -geschichte 311 –, -kritik 139 –, -philosophie (Hegel) 111, 182 –, -philosophie (Kant) 292 –, -philosophie (Nishitani) 342 –, buddhistische 345 –, jüdisch-christliche 345 –, jüdische 344 –, Welt- (en) 345 Retention 136, 159 Riechen 73, 97, 161, 169, 258 Schmecken 73, 120, 161, 171 Schöpfung 36, 137, 312, 314, 316, 323, 328–331, 353 Sehen, das 52, 73, 94–96, 98, 103, 125, 179–183, 189, 198, 249–250, 256–258, 263, 266, 268, 271 Seichtheit 55 Sein-Zeit 130–135, 137–140, 142– 143, 146, 151–153, 185, 224, 231

Selbst 27–30, 44–47, 57, 66, 75–76, 80, 93, 99, 101, 117–118, 122, 134, 137, 145, 147, 165, 171, 177, 219, 225, 227–228, 230–231, 238, 254, 256, 265, 300, 325, 342, 364, 372 –, -affektion 265–266 –, -bewusstsein, siehe Bewusstsein, Selbst–, -entäußerung 347 –, -Erfahrung 228 –, –, siehe auch Erfahrung, Selbst–, -erlebnis 266 –, -heit 181–182 –, -identität 28, 33, 78, 134–135, 284, 318, 321 –, -Losigkeit 348, 350 –, -verletzungen 300 –, -verständnis 93, 238 –, -zentriertheit 344–345 –, des Wissens 357 –, existenzielles 328 –, ichliches 227 –, schlechthin 29 –, vor dem Selbst 29 –, Wesensnatur des 134 sensus communis non-communis 213, 361 Sicht der abgeschiedenen Sicht 232, 238, 250, 253–257, 259 Sinn(es) –, -fundament 82 –, -lehre 82, 138, 157, 164, 173, 179, 184, 204–207, 212, 217, 234, 242, 251, 281, 318, 331, 361, 363, 369 –, -vergessenheit 82, 84–85, 87, 89, 91–93, 95–97, 100, 102–103, 107, 162–165, 169, 174, 183, 271 –, -vergessenheit, noetische 86 –, Analytik der 86, 159 –, fundament 82 –, Fünfsinne, siehe Fünfsinne –, Gehör- 96, 98, 161–162, 173–176, 180, 183 –, Gemein- 123, 204–206, 212–214, 217, 222, 224, 250, 253, 258–259, 267, 272

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Namenregister / Sachregister –, Geruchs- 96–97, 161–162, 169– 170, 173–174, 180, 183 –, Geschichts- 123 –, Geschmacks- 84, 96–97, 160–162, 165–166, 168–169, 173–174, 180, 183, 205 –, Gesichts- 84, 94, 99, 161–162, 173– 174, 180, 205 –, Rücken- 255–256 –, Tast- 68, 84–85, 92, 96, 99, 120, 157, 159–167, 169, 173–174, 179– 180, 183–184, 200 –, ungemeinsamer Gemein-, siehe ungemeinsam (er) G. Sinn; Gemein- 205 Souveränität 274, 279–280, 284–288, 290–291, 316, 318 –, Staats- 289 space map 326 Sprache 48, 51, 55, 71–72, 88, 93, 123, 162, 176–178, 232, 248, 251, 312, 314, 321, 328, 332, 346, 356, 363, 367 Spur 36, 38, 46, 61, 65, 309, 343, 346, 349–350, 367 Staat(s) 16, 40, 271, 273–281, 283– 289, 291, 295–296, 318 –, -bild 276 –, -ego 63 –, -en 17, 215, 279, 283, 287 –, -en ohne Souveränität 286 –, -formen 277 –, -gemeinschaft 289 –, -Gesetz des 285 –, -gewalt 295 –, -grenze 285 –, -lehre 276–279, 281–282 –, -pathos 288 –, -phänomene 276–277 –, -Phänomenologie 290 –, -philosophie 276 –, -raison 276 –, -souveränität 16, 289 –, absolutistischer 290 –, Begriff des 278 –, modern-demokratischer 279 –, souveräner 286, 290

–, unrationaler 279 –, Volks- 274 –, Wesensnatur des 290 –, Wohlfahrts- 279, 365 –, Wolfs- 286, 288 Stille 68, 244–245, 250–251 Subjektivität 25, 36, 63, 89–90, 104, 117, 120, 244, 267–268, 352 Sufi 227, 229 Sufismus 137, 197 Sünde 142, 147–149, 152, 311, 314, 336, 344 –, Sünder 350 Sutra 71, 178, 197, 321, 338–339, 363 –, Berg-Wasser- 54 –, Diamant-Hannya- 320–321, 338– 339, 365 –, Herz- 178, 328, 338–339, 362, 364, 369 –, Nirvana- 314, 339 –, Vimalakīrti (Yuima) 171, 198 Synopsen 186, 195–196 Tiefe 18, 29, 45, 53–55, 60, 63–64, 67–69, 72–75, 77–78, 80, 88, 91, 102, 140, 142, 149, 168, 171, 180, 219, 221, 225, 227, 229, 249, 298, 300, 308, 345, 347 Tod(es) 16, 25–27, 29, 43–45, 47–51, 72–77, 104–107, 130, 137, 160, 162, 167, 184, 188, 192, 194, 209–210, 224–228, 240, 255, 269, 274, 283, 288, 298, 300, 305–308, 356, 371 –, siehe auch Andere, das non-rsonale –, -angst 209 –, -phänomene 44 –, -strafe 298, 312 –, Antlitz des 46 –, der große 228 –, Gewaltsamkeit des 305 –, Immanenz des 72 –, Leiche des 226 –, Miteinander-mit-dem- 47 –, Miteinander-mit-dem-Tod 48 –, Würde des 76 transzendental(e/es/er) 25, 48, 116 –, Absolutes 50

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Namenregister / Sachregister –, Ästhetik 110 –, Bewusstseinsanalytik 49 –, Bewusstseinsstrom 90 –, Charakter 109 –, Gültigkeit 114 –, Horizont 116 –, Kritik 124 –, Logik 110–111 –, Phänomenologie, siehe Phänomenologie –, Philosophie 110 –, Reduktion 49 –, Reflexion 108, 165, 263 –, Schein 124 –, Subjekt 117 –, Subjektivität 25 Traumvision 239–241, 251, 256 Umwelt 72, 223, 270, 273, 307, 333 un-gemeinsam(es/er) –, Gemeingefühl 224, 241, 244–245, 253, 256, 258, 260, 315, 318, 341 –, Gemeinsinn 86, 181, 204, 213–215, 218, 220–221, 223–224, 229–232, 235, 253, 259–260, 272, 288, 291, 301, 318, 340 Un-gemeinsamkeit, mit den Anderen 222 un-gemeinschaftliche(s) –, Gemeinschaftspathos 260, 272– 273, 275, 278, 281–282, 284, 288– 290 –, Mit-Leidenschaft 86, 222–224 un-geselliges Gesellschaftspathos 220, 272, 274, 291, 300, 302, 304, 317–318, 341 Unbezüglichkeit 44 ungesellige Geselligkeit 272, 301 Ungrund 54, 79, 216, 329–331 Urknall 329 Verantwortung 17, 52, 59, 333–338, 353, 365 –, der Wissenschaft 52 Verbot 77, 148–149, 185–186, 190, 194–195, 197–200 Verdinglichung 211, 304

Vergessenheit 27, 74, 83–84, 89, 91– 93, 95–98, 101–103, 106, 117, 134, 148, 164, 169, 189, 271, 325 –, Doppelstruktur der 74 –, gedoppelte 93 –, Geruchs- 97 –, Geschmacks-, siehe Geschmacksv. –, Tast- 84 Verhältnis Herr und Knecht, siehe Dialektik H. u. Kn. Vermittlung(s) 215, 353 –, -bewegung 216 –, -prozess 216 –, absolute 216–217, 277 Vernunft 69, 139, 208, 293–294, 333 –, -wesen 312 –, denkende 238 –, künstliche 280 –, List der 64 –, passive 207 –, praktische 114, 332 –, raison (frz.) 207 –, Welt- 64 vernünftig(es) 114, 363 –, Kriterium 286 –, Verstehen 196 –, vor- 363 Vertrautheit 193, 273 Vis-a-vis-ität 33, 37, 44–45, 58, 301 Wahn 79, 315 Wahnsinn 79 Wahrnehmung(s) 17, 24, 27, 84–85, 88, 90–92, 104–106, 121, 158–159, 164, 167, 175, 189, 208, 210, 263, 265, 301 –, -analytik 164 –, -bewusstsein 86 –, -modus der Sinne 249 –, -organ 167 –, -organe 363 –, Körper- 85 –, Leib- 91 –, leibliche 165 –, sinnliche 120, 162, 217–219 Weisheit 14, 149, 185, 325, 338, 364

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Namenregister / Sachregister Welt 118, 137 –, -analyse 38 –, -anschauung, siehe Anschauung, W. –, -mensch 125 –, -phänomen 118, 167, 174 –, gerade kommende 230 –, jetzt vergangene 230 –, Lebens- 26, 45, 82–83, 134, 143– 144, 303, 329–330, 333, 358 –, Menschen- 31, 42, 240, 337 –, Selbstbestimmung der 321 Welt-Ort 128–131, 137–138, 140– 141, 143, 146, 148, 151–153, 159– 160, 167, 169, 174, 179, 183, 204, 214, 218, 222, 224, 227, 230, 258, 266–267, 275, 277, 284, 290, 299, 319–321, 338 –, Augenblick des 230 –, sich bestimmender 136 Weltanschauung, religiöse 29 Wissen 36, 73–74, 144, 148, 178, 357

–, absolutes 111 –, Nicht- 74, 148 –, nicht-unterscheidendes (Mufunbetsu-chi) 14 –, reflexives 87 –, vergegenständlichendes 87 –, Wesensnatur des 357 Wissenschaft 51 –, strenge 52 Zeit 42, 83, 129, 131–132, 137, 150, 184–185, 233, 295, 319, 331, 334, 340 –, -bewusstsein, siehe Bewusstsein, Z. –, -Raum 247–248, 251, 329 –, jeweilige 135 Zimzum 335–337, 353 Zwischen 146 –, -sein 146, 239 –, -zustand 184, 186, 188–189, 194– 195, 197, 200, 202–203

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