Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten 9783110204728, 9783110177350

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German Pages 663 [676] Year 2004

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Table of contents :
Frontmatter
INHALT
Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie
Tumulus Muckibude. Das F…bergdenkmal im Dom zu P.
Über das Verstehen von Gefühlen
Grundzüge einer philosophischen Theorie der Gefühle
Einfühlung, Mitgefühl und Mitleid
Emotion, Phantasie, Kunst
Ist Kunst heilsam für denjenigen, der sie macht?
Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters
Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik
Anmutung – Wirkung – Überwältigung
Variations of Liebestod. Tristan, Turandot, Salome
Die Oper als Liebesmusik. Ein Essay
Musik als Wissen durch das Gefühl an den Grenzen der Sprache. Philosophische Variationen im Anschluss an ein Thema von Richard Wagner
The Role of Emotions in the Reception of Artworks
Können Gefühle urteilen?
Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle
Barbarenangst und Sklaventrauer
Severed Representations in Caravaggio
Zum künstlerischen Ausdruck vonGrauen und Sanftmut
»De l’usage des passions«. Die Emotionen bei Künstler, Kunstwerk und Betrachter
Das gespaltene Pathos der Moderne
Schrecken und Erhabenheit
The French Romantic Generation, Passion and Sentiment: The Case of Delacroix
Leidenschaften, literarisch, ambivalent. Französische Moralistik und deutsche Poesie
Stimmung in der Malerei. Zu einigen Bildern Georges Seurats
Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham
Libeskinds Gedanken im Rahmen von „Pathos, Affekt, Gefühl“
Distanzräume der Erinnerung. Drei Museen
Notations of Affect. An Architecture of Memory
Lars Spuybroeks architektonische Installationen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl
Mit Emotionen spielen. Architektonische Entwürfe und Installationen
Die Widersprüche liegen auf dem Tisch. Ein Entwurf zum Holocaust-Mahnmal
Beyond the Principle of Expression/Repression. On Video as Libido
Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino
Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino
Michael Schirners Kampagnen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl
Sachlichkeit, Witz und heikle Themen. Vier Kampagnen
Das Spiel mit den Emotionen. Lust und Unlust in der Werbung
Backmatter
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Pathos, Affekt, Gefühl: Die Emotionen in den Künsten
 9783110204728, 9783110177350

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Pathos, Affekt, Gefühl



Pathos, Affekt, Gefühl Die Emotionen in den Künsten Herausgegeben von Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Der Druck wurde gefördert durch Mittel der Hessischen Kulturstiftung, der Benvenuto Cellini-Gesellschaft e.V. und des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst. Copyrighthinweise Coverabbildungen: Daniel Libeskind 쑕 bitterbredt.de, Lars Spuybroek 쑕 Lars Spuybroek, Peter Eisenman 쑕 Peter Eisenman, Caravaggio 쑕 Galleria degli Uffizi, Firenze.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017735-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: OLD Media OHD, Neckarsteinach Druck und buchbinderische Verarbeitung: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell Umschlaggestaltung: ⫹malsy, Kommunikation und Gestaltung, Bremen

INHALT Vorwort der Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Einleitung Klaus Herding Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie . . . . . . . .

3

Thomas Kling Tumulus Muckibude. Das F…bergdenkmal im Dom zu P. . . . . .

47

I. Erkenntnistheoretische Voraussetzungen, historische und anthropologische Bestimmungen von Emotionen Wolfhart Henckmann Über das Verstehen von Gefühlen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Wolfgang Lenzen Grundzüge einer philosophischen Theorie der Gefühle . . . . . . . .

80

Martin Löw-Beer Einfühlung, Mitgefühl und Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

Wolfgang Tunner Emotion, Phantasie, Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

Rainer Krause Ist Kunst heilsam für denjenigen, der sie macht?. . . . . . . . . . . . . .

134

VI

Inhalt

Gerd Althoff Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

II. Zur Genese einer Theorie der Emotionen in der Geschichte der Ästhetik Ursula Franke Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Helga de la Motte-Haber Anmutung – Wirkung – Überwältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Slavoj Zizek Variations of Liebestod. Tristan, Turandot, Salome. . . . . . . . . . . .

199

Dieter Schnebel Die Oper als Liebesmusik. Ein Essay. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

216

Jörg Zimmermann Musik als Wissen durch das Gefühl an den Grenzen der Sprache. Philosophische Variationen im Anschluss an ein Thema von Richard Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224

Agnes Heller The Role of Emotions in the Reception of Artworks. . . . . . . . . .

244

Brigitte Scheer Können Gefühle urteilen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

Birgit Recki Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

274

Inhalt

VII

III. Das Kunstwerk als Feld des emotionalen Ausdrucks Wulf Raeck Barbarenangst und Sklaventrauer. Emotionskontrolle als kulturelles und soziales Unterscheidungsmerkmal in der griechisch-römischen Kunst und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Michael Fried Severed Representations in Caravaggio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314

Klaus Herding Zum künstlerischen Ausdruck von Grauen und Sanftmut . . . . . .

330

Thomas Kirchner „De l’usage des passions“. Die Emotionen bei Künstler, Kunstwerk und Betrachter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Werner Hofmann Das gespaltene Pathos der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

378

Carsten Zelle Schrecken und Erhabenheit. Mündigkeit, Selbstgefühl und das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . .

400

Barthélémy Jobert The French Romantic Generation, Passion and Sentiment: The Case of Delacroix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419

Rainer Wuthenow Leidenschaften, literarisch, ambivalent. Französische Moralistik und deutsche Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Kerstin Thomas Stimmung in der Malerei. Zu einigen Bildern Georges Seurats . .

448

Claudia Schmölders Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham . . . . . . . .

467

VIII

Inhalt

IV. Zur Auseinandersetzung mit ästhetischen Normen in den Medien der Gegenwart Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus Libeskinds Gedanken im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl . .

489

Daniel Libeskind Distanzräume der Erinnerung. Drei Museen. . . . . . . . . . . . . . . . .

492

Peter Eisenman Notations of Affect. An Architecture of Memory . . . . . . . . . . . .

504

Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus Lars Spuybroeks architektonische Installationen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

512

Lars Spuybroek Mit Emotionen spielen. Architektonische Entwürfe und Installationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

517

Rudolf Herz Die Widersprüche liegen auf dem Tisch. Ein Entwurf zum Holocaust-Mahnmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

532

Régis Michel Beyond the Principle of Expression / Repression. On Video as Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

542

Gertrud Koch Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino . . . . . . . . . . . . .

562

Josef Früchtl Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino . . . . . . . . . . . .

575

Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus Michael Schirners Kampagnen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

592

Inhalt

IX

Michael Schirner Sachlichkeit, Witz und heikle Themen. Vier Kampagnen . . . . . . .

597

Bernhard Stumpfhaus Das Spiel mit den Emotionen. Lust und Unlust in der Werbung.

602

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

623

Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

633

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

647

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

650

Vorwort der Herausgeber Der vorliegende Band entspringt einem internationalen Kongress, der von der Oper Frankfurt vom 30. Mai bis 2. Juni 2002 durchgeführt wurde. Im Rückblick kann die Initiative des damaligen Intendanten der Oper Frankfurt, Herrn Dr. Martin Steinhoff, nicht hoch genug gewürdigt werden, diese Tagung (nach einem ersten Kongress zur Ästhethik der Inszenierung im März 2000) initiiert und in das Programm seines Hauses aufgenommen zu haben. Theorie und Praxis gehören in Frankfurt seit jeher zusammen. Daraus folgt die gute Tradition, neben dem, was man tut, auch die Grundlagen des eigenen Tuns zu bedenken, in einem Opernhaus und Theater also nicht nur etwas aufzuführen, sondern auch dem Nachdenken darüber Raum zu geben, was die Oper eigentlich zum „Kraftwerk der Gefühle“1 macht. Dankbar erinnern die Herausgeber dieses Bandes an die Initiative des Intendanten und hoffen, dass sein Beispiel Schule macht. Zu danken ist auch der damaligen Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Landes Hessen, Frau Ruth Wagner, welche die Schirmherrschaft übernommen hatte. Wenn die hohe Politik der Emotionswissenschaft ihre Reverenz erwies, dann in der Erkenntnis, dass sie selbst in hohem Grade von einer glücklichen Verbindung zwischen rationalem Problembewusstsein und emotionaler Durchdringung der anstehenden Sachfragen abhängt, weshalb die Fortschritte der Emotionsforschung ihr nicht gleichgültig sein können. Ohne die großzügige Unterstützung zahlreicher Sponsoren hätte der Kongress nicht realisiert werden können. Zu nennen sind insbesondere die folgenden Firmen, Institutionen und Privatpersonen: Hilton Frankfurt, Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung, Techem AG, J. P. Morgan AG, Sylvia und Friedrich von Metzler, Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst am Kunstgeschichtlichen Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurter Patronatsverein für die Städtischen Bühnen e. V./Sektion Oper, Daimler Chrysler AG Niederlassung Frankfurt-Offenbach, Deutsche Bank AG, Frankfurter Neue Presse, Senator E. h. Carlo Giersch, Harald Quandt Holding

XII

Vorwort der Herausgeber

AG, Bertha Heraeus und Kathinka Platzhof-Stiftung, Celanese AG, Fitness Company Freizeitanlagen GmbH. Die Drucklegung der Kongressakten wiederum konnte nur erfolgen aufgrund erheblicher Zuwendungen von Seiten der Hessischen Kulturstiftung, der Benvenuto Cellini-Gesellschaft zur Förderung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Johann Wolfgang Goethe-Universität, und des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst am gleichen Institut. Zu danken ist auch dem de Gruyter Verlag, der dem Thema von Anfang an großes Interesse entgegengebracht und das umfangreiche Manuskript sorgfältig betreut hat. Insbesondere gilt unser Dank Frau Dr. Gertrud Grünkorn, Frau Katja Brockmann, Frau Annelies Aurich und Herr Christoph Schirmer für die engagierte Mühe, mit der sie diesen Band begleitet haben. Ganz bewusst folgt der Titel des vorliegenden Bandes, der mit dem Tagungsthema des Frankfurter Kongresses identisch ist, einem philosophisch orientierten Sammelband, in dem (vor mehr als zwanzig Jahren schon) Ursula Franke die Bestimmung des Gefühls als Komplement der Vernunft behandelt hat.2 Daran anzuknüpfen, heißt freilich, sich zugleich der veränderten Konstellation bewusst zu werden, vor allem die Forschung der Neurophysiologen und Hirnforscher einzubeziehen. Aber auch auf Seiten der Philosophie und der ästhetischen Theorie der Einzelwissenschaften ist viel geschehen3, und wir haben versucht, dem Rechnung zu tragen. Gegenüber dem Kongress haben sich einige Veränderungen ergeben. Winfried Menninghaus’ Beitrag ist inzwischen in Buchform erschienen, auch die Ausführungen von Paul Zanker und Hermann Danuser werden in anderem Zusammenhang publiziert; Rudolf Heinz hat seinen Beitrag zurückgezogen. Neu hinzugekommen sind die Untersuchungen von Carsten Zelle und Wolfgang Tunner. Ursula Franke und Claudia Schmölders, auf dem Kongress Teilnehmerinnen des Podiumgesprächs „Sind Gefühle verhandelbar?“, haben ihre Stellungnahmen in eigene Beiträge umgewandelt. Unterdessen hat unser Versuch mehrfach Nachfolge gefunden.4 Um nur weniges zu nennen: An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde eine internationale Fachtagung über „Emotionalität in der Antike im Spannungsfeld zwischen Performativität und Diskursivität“ veranstaltete5; über „Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit“ handelte ein internationaler Kongress der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel6; die Junge Akademie hielt zwei Konferenzen zu

Vorwort der Herausgeber

XIII

den Themen „Emotionale Wende?“ ab7; unter dem Titel „… in Liebe, Europa“ wurden die 30. Römerberggespräche in der Paulskirche „Über die Macht der Gefühle“ geführt8; das Einstein-Forum in Potsdam veranstaltete eine internationale Tagung über „Passions in Cultures“9; die University of Berkeley führte ihre dritte internationale Tagung über Neuroästhetik unter dem Thema „Emotions in Art and the Brain“10 durch. Man mag der hier zusammengefassten Tagung zugute halten, dass sie ein fundamentales Thema in sehr grundsätzlicher, umfassender Weise aufgegriffen hat. Es war kaum zu erwarten, dass die zahlreichen Fächer gleich zu einem gemeinsamen Verständnis von Pathos, Affekt, Gefühl zusammenfinden würden. Oft wurde auf dem Kongress die Tatsache reflektiert, dass es in der Emotionsforschung heute sehr unterschiedliche Standpunkte gibt. Weite ist Reichtum; Engführung wird oft genug betrieben. Doch wird auch in den Beiträgen dieses Bandes argumentative Stringenz allenthalben versucht – dass der liebe Gott im Detail liegt, ist bekannt. So bauen wir darauf, dass die hier entfalteten Vorschläge, mit Pathos, Affekt, Gefühl philosophisch, naturwissenschaftlich, anthropologisch und historisch umzugehen, in vielen Fächern weiter getrieben und zugleich differenziert werden. Frankfurt a. M. Heilbronn

Klaus Herding Bernhard Stumpfhaus

Anmerkungen 1. Alexander Kluge hat vor Jahren eine Sendung mit diesem Slogan betitelt. Es scheint, doch ist dies nicht mehr nachzuweisen, dass er ihn einer ironischen Bemerkung von Pierre Boulez verdankt. 2. Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.), Pathos – Affekt – Gefühl. Philosophische Beiträge, Freiburg/München 1981, 131–148. 3. Verwiesen sei beispielsweise auf: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden (5 Bde. erschienen), hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhard Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Stuttgart/Weimar 2000 ff; Lexikon der Ästhetik, hg. v. Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter, 1. Aufl. München 1992 (2. Aufl. in Vorbereitung, erscheint voraussichtlich 2004); Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993 (mit ausführl. Lit. verz., insbes. auch zur anglo-amerikanischen Forschung seit 1975). 4. Damit soll nicht behauptet werden, dass vorher über diesen Gegenstand nicht verhandelt wurde. Mag auch das 1994 beantragte, 1996 realisierte und bis Ende 2004 währende

XIV

Vorwort der Herausgeber

Frankfurter Gradiertenkolleg „Psychische Energien bildender Kunst“ mit seinen zahlreichen Colloquien eine gewisse Inauguralfunktion gehabt haben, so gab es vor dem Frankfurter Kongress doch mehrere Colloquien an anderen Orten, die ebenfalls intensiv über Emotionen in den Künsten gehandelt haben. Hervorgehoben seien Rubens Passioni: Kultur der Leidenschaften im Barock, hg. v. Ulrich Heinen/Andreas Thielemann, Göttingen 2001, und De la rhétorique des passions à l’expression du sentiment, actes du colloque des 14, 15 et 16 mai 2002, hg. v. Frédéric Dassas/Barthélémy Jobert, Paris: Cité de la Musique, 2003. 5. 30.1.–1.2.2003, veranstaltet vom Institut für Klassische Philologie zu Ehren von Prof. Dr. Joannes Christes. 6. 11. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung, 2.–5.4. 2003, Vorbereitung und Leitung des Kongresses: Johann Anselm Steiger (Hamburg) in Verbindung mit Barbara Bauer (Bern), Guillaume van Gemert (Nijmegen), Carsten-Peter Warncke (Göttingen), mit vier Sektionen, 68 Referenten und Diskussionsteilnehmern. Vgl. den Tagungsbericht in: Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen, Jg. 27/28, Januar-Juli 2002/2003, Nr. 1–4/1–2, 53–55. 7. 1.–8.9 2002, Villa Vigoni, Loveno di Menaggio, Italien; eine zweite Tagung fand vom 28.7. bis 2.8.2003 am selben Ort statt unter dem Titel „Die Junge Akademie der Gefühle. Folgen“. Veranstalter und Leitung: Eva-Maria Engelen, Oliver Grau, Andreas Keil, Rainer Maria Kiesow, Martin Korte, Thomas Mussweiler (alle Junge Akademie). Die Beiträge sind im Druck: Schlagbilder und Klangzustände. Auf dem Weg zu einer transdisziplinären Emotionsforschung, hg. v. Oliver Grau/Andreas Keil, Berlin 2004. 8. 31.10.–1.11.2003, veranstaltet vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Stadt Frankfurt, mit Beiträgen von Péter Nádas, Friedrich Kittler, Agnès Michaux, Peter Weibel, Ulrike Draesner, Berthold Hinz, Friedrich Kittler, Heiner Geißler, Shi Ming, Miklós Hadas, Herfried Münkler, Klaus Reichert, Hans Gerhard Kippenberg, Bozena Choluj und Gidon Kremer. 9. 11.–14.12.2003, wissenschaftliche Leitung: Eva Illouz und Rüdiger Zill, mit Beiträgen von Mieke Bal, Jack Barbalet, Stephan Greenblatt, Valentin Gröbner, Klaus Herding, Axel Honneth, Christa Maerker, William Ian Miller, Martha C. Nussbaum, Robert Solomon und den beiden Leitern. 10. Am 10.1.2004, mit Beiträgen von Ray Dolan, Dan Fessler, Arthur P. Shimamura, Dennis M. Dake, Ann Marie Barry, David Freedberg, Rosa-Aurora Chávez, Carlos Cruz, Ariel Graff, Anne Winestein, Robert Steinberg, William Seeley, Semir Zeki.

Einleitung

Klaus Herding

Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut. (Faust I, 3456 ff.)

Was ist Emotionsforschung heute? Es sei versucht, eine aus Alltagserfahrungen, aber auch aus längerer wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema der „psychischen Energien“ resultierende Einführung in das Thema zu wagen. Der Komplexität der Emotionsforschung entspricht es, dass hier eher Fragen gestellt als Antworten gegeben werden. Der Diskurs soll eröffnet, nicht verbaut werden. Allzu unterschiedlich werden Gefühl und Ausdruck, Pathos und Affekt in der Philosophie, in den natur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ausgelegt. Gleichwohl wird im Folgenden einiges aufgegriffen, was in diesem Band weiter behandelt wird oder auch ausgeklammert werden musste. So haben die Herausgeber lange überlegt, ob der Titel nicht eher „Pathos, Affekt, Empfindung und Gefühl“ lauten sollte. „Ohne direkten Bezug auf das Empfinden sind Aussagen über Kunst mangelhaft“, sagt Wolfgang Tunner mit Recht.1 Dennoch kommt dieser Ausdruck nicht eben häufig vor in den Texten dieses Bandes. Nach den Gründen ist zu fragen. Empfindung ist bekanntlich das unmittelbare Erlebnis der Sinneswahrnehmung, welches in sich selbst nicht mehr weiter differenziert werden kann. Empfindungen werden durch die Stimulierung des jeweiligen Sinnesorgans ausgelöst. Kant nennt den Affekt eine „Überraschung durch Empfindung“.2 Im Grunde wäre zu erwarten, dass heute das Moment der Überraschung eine weit größere Rolle in unserem Gefühlshaushalt spielte, als tatsächlich der Fall, da mit dem Wegfall verbindlicher ethischer Normen und emotionaler Festlegungen potentiell jedes Ereignis von Zufall und Überraschung geprägt ist: Bei jeder Gefühlsäußerung lässt sich zweifeln, wie sie gemeint sei. Ein Schrei bedeu-

4

Klaus Herding

tet nicht mehr notwendig Glück oder Verzweiflung; die Entrüstung eines Politikers kann als Theater inszeniert sein; dass jemand den Normen folgt, die er seinen Mitmenschen emotional suggeriert, ist eher die Ausnahme. Überdies hat sich auf den alltäglichen Umgang mit Gefühlen ausgewirkt, dass niemand weiß, was er unter der Norm des anderen zu verstehen habe. Wie in der Kunst das Paradox einer „privaten Mythologie“ existiert, so im öffentlichen Leben das einer „privaten Ethik“. Das müsste eigentlich ein fortwährendes Staunen auslösen3 – wir sind vor Überraschungen heute weniger denn je gefeit. Erzeugt hat diese Entwicklung, die auch eine Chance bedeuten könnte, jedoch eher Skepsis und Misstrauen als unbefangenes Staunen. Andererseits gerät die Vorstellung von Schuld und freiem Willen ins Wanken, was sich nicht nur auf die Frage der Schuldzumessung, sondern auch auf die Freiheit des Emotionalen und die Einschätzung gesteigerter Affekte auswirkt: Wenn der Wille determiniert ist, sind solche Affekte kaum mehr zu bewerten.4 Nun unterscheidet man hinsichtlich der jeweiligen Sinnesfunktion nicht nur Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Gefühls-, Geschmacksempfindungen, denen beispielsweise Temperatur- und Schmerzempfindungen zuzuordnen sind, sondern auch Bewegungs-, Gleichgewichts- und Organempfindungen. Kennzeichen der jeweiligen Empfindung sind Qualität, Dauer und Intensität. Was Qualität und Intensität betrifft, stoßen wir sogleich auf ein neues Problem. Neurophysiologen geben darüber nur begrenzt Auskunft. Eine naturwissenschaftlich exakte Messung der Intensität einer Empfindung5 scheint noch auszustehen. Schwierig in der Geschichte des Begriffs der Empfindung (und vielleicht ein Grund, warum er in gegenwärtigen Diskursen nur eine geringe Rolle spielt), ist wohl, dass es nur vorübergehend gelungen ist, ihn vom Begriff der Wahrnehmung eindeutig zu scheiden. Der Begriff wird hier aber nicht eingeführt, um eine Lücke in den nachfolgenden Beiträgen zu schließen, sondern vor allem, weil er als Beispiel dafür stehen mag, wie sehr die emotionstheoretische Terminologie, obwohl seit Jahrhunderten gebraucht, noch zu entwickeln ist. Ernst Heinrich Weber, einer der Wegbereiter der klassischen Psychophysik, hat 1834 nachgewiesen, dass, um eine Veränderung der Empfindung zu bewirken, ein Reizzuwachs um so größer sein muss, je stärker der Ausgangsreiz ist.6 Damit ist jedoch über die psychische, insbesondere ästhetische Qualität noch nicht viel gesagt. Naturwissenschaftler bekennen, dass sie in dieser Hinsicht erst am Anfang stehen.7 Dieses einzige Beispiel mag zeigen, dass ein Begriff – unter Abstraktion von jedwedem früheren philosophischen Gebrauch – von unter-

Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie

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schiedlichen Einzelwissenschaften immer wieder neu definiert wird. Das geschieht auch auf den Seiten dieses Buches, so dass eine Vereinheitlichung der Terminologie bewusst unterblieben ist. Ein solches Vorhaben setzt wahrscheinlich noch eine ganze Generation weiterer emotionstheoretischer Bemühungen voraus. Um so wertvoller ist der Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf ästhetische Diskurse, den Ursula Franke zu Beginn der zweiten Sektion unternimmt. Erst das beharrliche Zurückfragen nach der Bedeutung der Begriffe Pathos, Affekt und Gefühl bei Aristoteles, Descartes oder Kant öffnet den Blick für die Frage nach Bedeutungsinversionen in den beiden letzten Jahrhunderten. Aus unserer Sicht kann man Gefühle zunächst verstehen als Impuls, als Anfang des Denkens. Etwas bewegt uns, treibt uns an, weckt unsere Sinne, beflügelt oder entsetzt uns. Entschälen wir den Kern des Wortes Emotion als movens, als Antriebskraft, so wird darin ein Interesse greifbar. Dazu gehört auch der Antrieb, andere geneigt zu machen, sich diesem Interesse anzuschließen, ja es als eigenes anzunehmen. Das ist ars persuasionis, eine schwere, aber schon in der Antike, im Mittelalter und im 17. Jahrhundert durch Mimik und Gestik perfektionierte Kunst. Nicht nur, aber vor allem im Bild, im literarischen Werk oder in einer Aufführung erwächst daraus ein kommunikatives Angebot zu gemeinsamem alltäglichen oder ästhetischen Erleben und Nachdenken. Doch wollen wir uns nicht vorschnell der Ästhetik zuwenden. Wir glauben den philosophischen und historischen Zugriff auf das Thema angesichts der gegenwärtigen Dominanz der Naturwissenschaften, auch der Neurophysiologie und der Anthropologie, näher erläutern zu sollen. Wie rudimentär auch immer – wir müssen das Verhältnis zu den „exakten“ Wissenschaften zu klären versuchen, und sei es nur, um Hoffnungen und Zweifel vorzutragen, was die umfassende Anwendbarkeit bestimmter Methoden betrifft. Wenn Neurophysiologen wie Antonio Damasio zwischen Emotionen (emotions) und Gefühlen (feelings) unterscheiden, wobei erstere als körperlich, neuronal bedingte Impulse von Aktion und Reaktion definiert werden, letztere hingegen als eine Art Vollendung der Schöpfung, die allein dem Menschen zukomme, so ist dies eine evolutionstheoretische Annahme. Gefühle wären demnach die tieferen, die dem Menschen vorbehaltene Verarbeitung von Emotionen.8 Eine zweite, ebenso fundamentale (aber auch bestreitbare) Unterscheidung ist für den fächerübergreifenden Gedankenaustausch wichtiger: Damasio ist der Auffassung, dass nicht nur phylogenetisch, sondern auch im tägli-

6

Klaus Herding

chen Handlungsablauf, zuerst Emotionen und, darauf folgend, in einem Akt der Artikulation der empfangenen (Lust oder Unlust auslösenden) Reize, Gefühle sich bilden.9 Das ist sehr einleuchtend, doch bin ich nicht sicher, ob dieses Modell dem Sprachgebrauch und der historischen Gewordenheit innerhalb des euro-amerikanischen Kulturkreises oder gar der ganzen Welt entspricht. Schließlich bezeichnet feeling (wie Gefühl im Deutschen) auch im Englischen ursprünglich nur den Tastsinn, also eine physische Betätigung. Selbst Damasios eigenem Sprachgebrauch könnte dies widersprechen, wenn er, entgegen dem Begriff der Emotionen als „automatischen Mechanismen der Lebenssteuerung“, wie sie auch Tieren eigen seien10, von „eigentlichen Emotionen“ und hier von „Hintergrundemotionen“ und anderen Arten spricht.11 Vor allem regen sich Zweifel, wenn an späterer Stelle verlautet: „Doch nachdem wir Emotionen und Gefühle relativ getrennt voneinander untersucht haben, können wir sie in einem kurzen Augenblick der Ruhe wieder zu Affekten zusammenfügen.“12 Mit diesem Vorschlag kann man zweifellos einverstanden sein, aber sind wir damit nicht auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen? Gehen wir noch einmal vom Alltag aus. Wir haben Gefühle in uns und geben sie weiter: Furcht und Hoffnung, Liebe und Hass. Ich soll, ich muss, ich will, ich darf, ich hoffe und ich hasse – gerade Grundverben, die wir im Alltag benutzen, sind von starken Affekten getragen.13 Bei näherem Zusehen stoßen wir auf eine merkwürdige Ambivalenz: Alle diese Verben drücken zunächst Gefühle aus, die mit unserer inneren Befindlichkeit zu tun haben und ein gefühlsmäßiges Selbstverständnis versprachlichen (zum Beispiel: ich fühle eine Wut in mir). Da aber Sprache Mitteilung ist und sich nach außen wendet, drückt sich darin zugleich eine Botschaft aus, die vom Gesprächspartner Aufmerksamkeit und Zuneigung fordert, die Bitten oder Wünsche, ja sogar so komplexe Gefühle wie Überlegenheit oder Hingabe, Verachtung, Spott oder gar Ekel zum Ausdruck bringt, aber auch Abwehr und Widerstand hervorrufen kann. Man sollte also zwischen Gefühlen und deren Mitteilungscharakter unterscheiden oder ein Innen- und ein Außenverhältnis der Gefühle beachten. Aber anders als Damasio schlage ich vor, schon vor der Bewusstwerdung oder gar Artikulation von Gefühlen und nicht nur von Emotionen im Sinne neuronaler Reizeinwirkungen zu sprechen. Warum soll ein Gefühl, über das ich mir noch nicht klar bin, noch kein Gefühl sein? Entscheidend ist jedoch, zwischen Gefühlsempfindung und Gefühlausdruck zu unterscheiden. Das wird uns im Hinblick auf die Künste noch beschäftigen.

Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie

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Jedoch könnten wir, aus den Einsichten von Neurophysiologen und Philosophen lernend, eine Unterscheidung treffen, indem wir mit Gefühl eine oft nach innen gerichtete Seelenregung bezeichnen14 und unter Emotion eine primär nach außen gerichtete Gefühlsäußerung verstehen, die eine Art Übereinkunft oder Auseinandersetzung mit anderen sucht.15 Versuchsweise also könnten wir Gefühle als eher individuell bestimmt, Emotionen als stärker sozial verortet begreifen, jedenfalls ist das ein möglicher Ausgangspunkt – auch von Damasio, der einmal von der „privacy of feelings and publicness of emotions“ sprach und in diesem Zusammenhang „feelings“ als „hidden“ und „emotions“ als „external“ bezeichnete, erstere „would lie within“, letztere seien „observable“.16 Bezogen auf bildende Kunst schrieb Michael Fried schon vor einem Vierteljahrhundert eine luzide Abhandlung über Absorption and Theatricality, worunter er nach innen und nach außen gewendete Ausdrucksformen, vornehmlich des 18. Jahrhunderts, unterscheidet.17 Aber strikt durchhalten lässt sich diese Trennung von Gefühlen und Emotionen zumindest im Deutschen nicht – schon das Wort Mitgefühl könnte den Rahmen eines nur internen Gefühlshaushalts sprengen. Und es gibt weitere terminologische Schwierigkeiten, die ebenfalls der deutschen Sprache geschuldet sind und daher eher in das Blickfeld der Kultur- als der Naturwissenschaftler geraten. Schon der Begriff Gefühl gilt als obsolet, wie die Rede von der Seele auch, oder wie der Ausdruck Stimmung, um dessen Präzisierung es im Beitrag von Kerstin Thomas geht. Gefühl gilt im Deutschen heute eher als ein Relikt biedermeierlicher Innerlichkeit, oder aber, im Sturm und Drang, als das überwölbende Ganze dessen, was sich begrifflich nicht fassen lässt (unter diesem Aspekt wurde eingangs der Vers zitiert: „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut“). Zumal dem jungen Goethe lag der Ausdruck Gefühl als Movens seines Handelns am Herzen; verstand er darunter doch einen Überschwang, der sich der Festlegung durch starre Begriffe versagte. Darum „umnebelt“ für ihn der Name, der Begriff, die Himmelsglut des Gefühls. Nichtsdestoweniger bleibt der Terminus des Gefühls unscharf, wie Brigitte Scheer so plausibel herausgearbeitet hat.18 Man sollte indes die früher gebräuchlichen, ‚altmodischen‘ Termini nicht einfach beiseite schieben. Wo beides, das Innen und das Außen, gefasst werden soll, ist z. B. der im 18. Jahrhundert geläufige Ausdruck „Gemütsbewegung“19 geradezu ideal, weil er die Prozessualität im Übergang vom eigenen Gefühl zur sozial relevanten Emotion abbildet. Welche Abläufe, und auch: welche Verbindungen zwischen rationalen

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und emotionalen Antriebskräften, in unserem Gehirn vor sich gehen – dieser (Damasio zufolge20 auch für die Naturwissenschaften noch kaum erforschte) Zusammenhang wurde daher auf dem Kongress in unterschiedlichen Definitionen von Joseph LeDoux und Wolfgang Lenzen dargelegt. Rainer Krause hat darüber ein grundlegendes Handbuch verfasst.21 So lange aber noch keine generell verbindlichen Begriffsregelungen getroffen wurden, neigen wir dazu, dem Nomen Gefühl sein Vorrecht im Deutschen zu lassen.

II. Bleiben wir zunächst aber beim Alltag. Gefühle werden verdrängt oder herabgestuft gegenüber dem Rationalen. Ein bekannter Schriftsteller durfte am 8. Mai 2002 in seiner Rede Über ein Geschichtsgefühl den Part des Emotionalen spielen, während sein Gesprächspartner, der Bundeskanzler, zuständig blieb für das Rationale, für das, was dennoch, und wenn nötig im Widerspruch zu den Gefühlen, eben ‚gemacht‘ werden müsse.22 Häufiger aber werden Gefühle, positive ebenso wie negative oder vermischte23, dem sachlich Gebotenen offensiv voran- oder für sich selbst zur Schau gestellt. Nur wenige Beispiele: In der Politik wurde im Jahr des Kongresses noch die „Spaßgesellschaft“ propagiert24, was rasch dem Vergessen anheim fiel; umgekehrt bot bis Mai 2002 das hatedirectory.de im Internet eine Summe möglicher Hassgefühle an.25 Von Martin Walser schon vor Jahren verfügt, gibt es wieder ein – zweifelhaftes – „deutsches Nationalgefühl“.26 Hermann Hesse wird in der Presse als „Gefühlsdichter“ bezeichnet.27 In populären Publikationen ist, auf die Oper der Gegenwart bezogen, von „emotionaler Revolution“ die Rede.28 Gerade die Schaustellung der Gefühle hat aber auch zu ihrer Abwertung beigetragen. Doch ist dies ein jahrhundertealter Prozess. Denn als Verdrängung und Herabsetzung des Emotionalen wurde ein Grundproblem der europäischen Aufklärung beschrieben: In einer vernunftgeleiteten Gesellschaft nehmen Gefühle bestenfalls im letzten Rang des theatrum mundi Platz, aber dort lauern sie uns auf; wenn sie hervorbrechen, ernten wir Sturm, wo wir Wind gesät zu haben glauben. Die mythische Urgewalt dieses Rachevorgangs wurde von Horkheimer und Adorno29 ja nicht nur rückblickend als Krise diagnostiziert, sondern zugleich auf die eigene Zeit gewendet. Wie steht es damit jedoch ein halbes Jahrhundert später? Brigitte Scheer und Ralph-Rainer

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Wuthenow haben, auf je unterschiedliche Art, geltend gemacht, dass die Leidenschaften, als „gebändigte Flamme“30, gerade im Zeitalter der Vernunft zu sich selbst und damit (in den Wissenschaften und Künsten) zu ihrem eigenen Ausdruck gefunden haben; doch mussten die Emotionen sich gegen die Ratio immer neu durchsetzen und wurden ihr nachgeordnet. Gefühle sollten bei Descartes und sollen auch heute beherrscht werden31, und das löst bekanntlich nicht nur innerpsychische Konflikte aus.32 Finden wir uns heute in einer neuen Krise wieder, in der die Leidenschaften sich gegen Aussperrung nur auf außenseiterisch-nächtliche Art durchsetzen können? Oder ist die Trennung selbst obsolet, wie man mit Birgit Recki aus Kant folgern könnte?33 Vor jeder Antwort auf die Frage nach der Unterdrückung der Emotionen ist das zweite Feld in Augenschein zu nehmen: nicht ihre Ausgrenzung, sondern ihre Veräußerung. Auch sie ist vorgeprägt, nicht erst im Zeitalter des Rationalismus, wo Jakobiner vor ‚vaterländischen‘ Kunstwerken Tränen vergossen34, sondern auch zu Zeiten jesuitischer Persuasionsstrategien, und, wie Gerd Althoff nachgewiesen hat, auch in mittelalterlichen Kirchen- und Hofritualen. Wurde dort mehr um Macht denn um Geld gekämpft, so zeigt doch schon Eulenspiegels Totenkopfpredigt, und wahrscheinlich der Reliquienkult insgesamt, wie der Schauder in klingende Münze umgesetzt werden konnte. Ohne darüber zu moralisieren, ist zu fragen, in welcher Form heute Emotionen in Werbestrategien eingehen35 und dort offensiv ausstrahlen, ja die öffentliche Moral sogar steuern können. Diesem komplexen Problem sind Michael Schirner und Bernhard Stumpfhaus auf der Spur, mit deren Dialog sich wie selbstverständlich die Frage nach den Bildwissenschaften verknüpft, oder, genereller, die Frage: Halten wir an einer prinzipiellen Differenz zwischen Kunst und Werbung fest? Eines scheint unseren Umgang mit Gefühlen von dem früherer Epochen zu unterscheiden: Wir haben kein festes Ausgrenzungsmodell, kein durch Predigt oder Hofritual gefestigtes Modell dafür, welche Emotionen gesellschaftlich „in Ordnung“ sind und welche nicht. Nicht nur der Platzanweiser fehlt uns, sondern der Platz der Emotionen überhaupt. Dies wurde eingangs schon am Beispiel der Überraschung gestreift. Doch nun erkennen wir, dass der Statusverlust der Emotionen, schon gar in der Werbung, mit dem Verlust von Zwischenräumen, Zwischentönen und Nuancen zusammenhängt: Wie Werner Hofmann einmal bemerkt hat, sind uns Boudoir und Antichambre abhanden gekommen, überhaupt fehlen Pufferzonen, Freuds Kammern der Dämmerung, der tastenden Annäherung. Das führt aber nicht zum Ver-

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schwinden, sondern im Gegenteil zur Ausuferung der Emotionen. Was keinen festen Platz hat, macht sich überall breit, in unserer gesamten Spaß- und Wutgesellschaft. Paradoxerweise basiert also gerade auf diesem Statusverlust die offenkundige Konjunktur der Gefühle. Dass eine Flut von Neuerscheinungen zu diesem Thema vorliegt, dass eine große öffentliche Sendeanstalt wie das ZDF, unter Leitung von Volker Panzer (der auch das Podiumsgespräch Sind Gefühle verhandelbar? auf dem Frankfurter Kongress 2002 moderiert hat), in einer ganzen Serie „große Gefühle“ behandelt hat36, das alles weist weniger auf einen Überfluss hin als auf einen gewaltigen Nachholbedarf. Auch die Förderung emotionaler Intelligenz steht seit Jahren in den pädagogischen Curricula, ohne dass schon greifbare Erfolge im sinnvollen Gebrauch von Emotionen bei Jugendlichen zu verzeichnen wären – die Gewaltbereitschaft nimmt einstweilen zu. Offensichtlich können aber wir alle mit Gefühlen nicht mehr recht umgehen. Ganze Gefühlskatarakte stürzen auf uns ein (ob nach dem 11. September 2001 oder während des Irakkrieges im Frühjahr 2003), wir empfangen Bilder des Leids nach Erdbeben, Flutwellen, Selbstmordattentaten, Bilder, die austauschbar und immer wieder verwendbar sind; wir reagieren darauf mit gleichbleibender, sich abnutzender Betroffenheit – nur keine ‚Gefühlskälte‘ zeigen. Wir glauben zu agieren, während wir doch nur auf Ereignisse reagieren, und nicht einmal auf die Ereignisse selbst, sondern auf floskelhafte Bildformeln davon. Gleichwohl zeigen wir uns erschüttert.37 Wenn wir aber von jemandem sagen, er habe „stark emotional“ reagiert, ist er beispielsweise als Bewerber um eine Stelle schon ausrangiert. Auf diese Dialektik von emotionalem Agieren und Reagieren geht Agnes Heller in einem sehr grundsätzlichen Sinne ein. Nun wurde, gleichsam unter der Hand, auch schon den Begriff der Leidenschaften eingeführt. Damit, mit Pathos und Passio, befasst sich unter Rückgriff auf Descartes Ursula Franke, und selbst der Neurologe Damasio hält es für nötig, sich mit Descartes’ Begriff der Leidenschaften und seiner Trennung zwischen Körper und Geist auseinanderzusetzen; er setzt ihm die „Leidenschaft für die Vernunft“ entgegen.38 Thomas Kirchner wiederum greift auf Descartes zurück, weil Le Brun in seinen Expressions des passions den Philosophen als Ausgangspunkt benutzt und jene Trennung auf der Ausdrucksebene zu überwinden versucht hatte.39 Mit Pathos wird bekanntlich seit der antiken Tragödie die erleidende Seite, die Einwirkung von außen beschreiben, die Rückwirkung einer

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nach außen gerichteten Emotion auf das Subjekt, also auch das Ergriffensein, das sich dann sprachlich, musikalisch oder bildlich artikulieren mag. Damit wenden wir uns noch weiter vom Alltag ab und den künstlerischen Ausdrucksformen zu. In musterhafter Weise hat eine Ausstellung im Pariser Musée de la Musique40 augen- und ohrenfällig gemacht, dass Pathos sich in der nachantiken Bildtradition vor allem in der Passio Christi manifestiert; sie hat gezeigt, dass die Passio Christi grundlegend war für den neuzeitlichen Begriff der passiones, für den Ausdruck der menschlichen Leidenschaften. Wenn der Titel dieser Publikation mit dem Wort Pathos anhebt, ist dies noch kein Anlass, allzu ‚leidenslastig‘ zu werden. Zwar kommt in der Trias Pathos, Affekt, Gefühl die aktive Seite, die Ausstrahlung und Außenwendung der Emotionen, nur minoritär zur Sprache, zumal auch unter Affekt oft eher das passive affici verstanden wird. Ein Grund mag darin liegen, dass Naturwissenschaftler meines Wissens ganz auf den Begriff Pathos verzichten; offenbar gehen sie davon aus, dass Gefühlsproduktion immer einen aktiven Anteil hat; auch dies wäre, da Pathos und Passio etwa dasselbe bedeuten, immer noch eine Entgegnung auf Descartes, der die Funktionen der Seele in „actions“ und „passions“ unterteilt hatte.41 Andererseits stellt jenes Pathos, von dem Redner, vor allem Politiker, so bewusst Gebrauch machen, zweifellos eine aktive willentliche Gefühlsäußerung dar. In ästhetisch aktivierendem Sinne hat freilich schon Aby Warburg Pathos gebraucht. Seine Rede von „Pathosformeln“ oder vom „Leidschatz der Menschheit“ ging den ‚erneuerbaren Energien‘ bereits gestalteter Leidenschaften auf den Grund, der Frage, unter welchen Bedingungen Emotionen in veränderter Form zu neuem künstlerischem Leben erweckt werden können42, und Fritz Saxls kurzer Text über Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst43, eine Fibel kritisch sortierenden Umgangs mit der rhetorischen Bildtradition, stellt jene Formeln zusammen, die „energetisch invertiert“, wieder aufgenommen werden.44 Man könnte unter Pathos auch jenen Überschwang an Gefühlen subsumieren, der, von den ‚absoluten‘ und zugleich gebrochenen Emotionen bei Wagner ausgehend, in diesem Band von Slavoj Zizek und Jörg Zimmermann behandelt wird. Zur Deutung des pathetischen Überschwangs zählt auch Dieter Schnebels Analyse von Liebesmusik; Zizek und Schnebel haben das stärkste Gefühl, die Liebe, analysiert. Ob man die aktive Vorstellung von Pathos, jedenfalls im Erlebnisbereich, auch auf die populäre Musik der Gegenwart, bis hin zu Beat und Rock, ausdehnen kann? Zur Klärung dieser, wie es scheint, offenen Frage ist jedenfalls

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ein psychologisch-rezeptionsgeschichtlicher Ansatz wie der von Helga de la Motte-Haber notwendig. Damasios Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen lässt sich, wie eingangs ausgeführt, auf die Bearbeitung von Affekten in Form des künstlerischen Ausdrucks nicht übertragen – hier handelt es sich immer schon um ins soziale Bewusstsein gerückte, bearbeitete Gefühle.45 Wenn Werner Hofmann von Herrscherstolz und Ruhmbegierde, Feldherrnwürde und Zerstörungswahn spricht, bezogen auf Gemälde von Rubens und Velázquez46, dann versteht er Leidenschaften mit Recht als Emotionen, die, sähe man von ihrem sozialen Referenzrahmen ab, ohne jedes Interesse wären. Überdies sind sie in jedem Falle intentional bedingt, geradezu geplant. Das gilt erst recht für die computergenerierten Emotionen bei Peter Eisenman und Lars Spuybroek. Emotionale Codes stiften Beziehungen. Zu ihrer näheren Bestimmung nehmen die kulturgeschichtlichen Fächer ‚Zuflucht‘ zu zwei Domänen, zu den jeweils geltenden Formeln der Ikonographie, z. B. zu den sieben Todsünden oder der Herrscherpanegyrik, zu Formeln, die individuelle Komponenten weitgehend ausschließen. Oder sie nehmen Zuflucht zu den Lehren von der Physiognomik und der Pathognomik, die das Repertoire der Gesichtszüge, des darin eingeschriebenen Willens- oder Leidensausdrucks erfasst – zwar von Einzelbeobachtungen ausgehend, aber diese dann doch wieder in epochenweite Formeln kleidend. Es sind dies in aller Regel Formeln, die selbst noch für die unterschiedlichsten Facetten vermischten Gefühlsausdrucks Allgemeingültigkeit beanspruchen und damit ebenfalls individuelle Züge negieren. Das ist paradox, weil eine Systematisierung des Ausdrucks, wie sie die physiognomischen Lehrbücher anbieten, die Erforschung der mimischen Möglichkeiten des Individuums zur Voraussetzung hat, aber gerade die individuellen Differenzierungen werden in den solchen Lehrbüchern notwendig unterschlagen. Dennoch ist diese Paradoxie produktiv. Im vorliegenden Band wird die im Ausdruck fassbare Emotionalität im Hinblick auf beides untersucht, auf individuelle Ausdrucksfähigkeit, soweit wir sie in die Vergangenheit zurückverfolgen können, und auf jene sozial determinierten Konnotationen, die durch Mimik und Gestik etwa an Grabmälern oder in höfischen Historienbildern bedient wurden. Warum war dann von einer „Zuflucht“ zu den Domänen der Ikonographie und Emblematik oder der Physiognomik und Pathognomik die Rede? Damit sollte gesagt sein, dass dieser Fluchtweg der historischen Emotionsforschung, würde man an ihm allein haften, zweierlei Erkenntnismöglichkeiten

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verbaut: Zum einen würde nicht erfasst, was die Regeln eines Charles Le Brun übergreift – das Leben ist weiter als die Regelbücher; zum anderen würde alles ausgeschlossen, was zum Ausdruck kommen kann, wenn, wie heute, diese Lehrbücher nicht mehr befolgt werden. Ausnahmen und Veränderungen also werden vernachlässigt, Zwischentöne gehen verloren, wenn man sich auf Normen und Regeln beschränkt. Es soll nicht unterschlagen werden, dass die Kodifizierung fest etablierter Bedeutungs-Normen der Mimik als auch der Handlung einen großen Fortschritt darstellten, indem etwa Le Brun die magischen Muster älterer Physiognomisten wie Giovanni Battista della Porta überwand, bei dem kleine Augen Bosheit, ein Schielen nach rechts Dummheit, gekräuseltes Haar Schüchternheit oder ein Kahlkopf Hinterhältigkeit bedeuten konnten.47 Le Bruns System ist das subtilste der frühen Neuzeit, und das Emotion Facial Action Coding System, von dem an anderer Stelle auch kritisch die Rede sein wird, fasst wohl am schlüssigsten die heute bei einer Handlung erfassbaren mimischen Möglichkeiten zusammen. Trotzdem sind oft genug gerade die nicht kodifizierbaren Überschreitungen, das Verlassen der canones, die „licence“, das „capriccio“, Diderots „imagination“, die Grundlagen des schöpferischen Akts. Wie können Neurophysiologen die Multifokalität, die Komplexität des menschlichen Gehirns bezüglich der Gefühlsempfindung entziffern, wenn diese doch eingestandene und uneingestandene, offene und verdeckte, reflexive und spontane Bestandteile, nicht normative individuelle Abweichungen umfasst? Eine im Ergebnis immer noch offene Frage. Und selbst diese vermischten Gefühlsempfindungen sind noch nicht gleichbedeutend mit Gefühlsäußerungen. Erst dem letzten Glied der Kette, dem emotionalen Ausdruck im Kunstwerk mit all seinen latenten und patenten Facetten, die allesamt bereits Bearbeitungen von Emotionen sind, können Literatur- und Musikwissenschaftler oder Kunsthistoriker nachgehen.

III. Nun sind wir vielleicht in der Lage, uns dem Ausdruck von Kunstwerken anzunähern. Ein in der Hirnforschung bewanderter medizinischer Kollege schrieb mir in Erwiderung auf den in diesem Band publizierten Beitrag: „Offenbar ist die Darstellung von Emotionen (und Gefühlen) in der bildenden Kunst häufig nur aus der historischen Situation – sei es als Reflexion auf Ereignisse oder als Darstellung von damals auf den

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Bildinhalt angewandten Emotionen – zu verstehen. Hinzu kommen persönliche Absichten des Künstlers. Gerade deshalb ist ja auch ein Vergleich mit den im Leben vorkommenden Gesichtsausdrücken oft nicht möglich. Eine interessante Frage wäre, ob sich im Laufe der Jahrhunderte auch Gesichtsausdrücke ändern oder eine geänderte Bedeutung erhalten. In geringem Umfang würde ich dies als wahrscheinlich annehmen. Von neurowissenschaftlicher Seite ist hierzu sicher nichts beizutragen. Natürlich könnte man Versuche durchführen, die zeigen, ob bei mehreren Versuchspersonen verschiedene Medusadarstellungen gleiche Hirnareale aktivieren und weiter, ob das jeweilige Aktivierungsmuster mit Reaktionen auf die bekannten standard facial expressions wenigstens teilweise übereinstimmt. Ich würde dies gar nicht erwarten, da das künstlerische Bild einer Medusa unvergleichlich mehr Facetten des Ausdrucks hat als ein bewusst vereinfachter, standardisierter Basis-Gesichtsausdruck. Im neurowissenschaftlichen Bereich muss mit isolierten und gut definierten Reizen gearbeitet werden, sonst ist gleich das ganze Gehirn aktiviert und eine Lokalisation von einzelnen Verarbeitungen nicht möglich. Insofern liegt eine unendliche Entfernung zwischen der Komplexität der Kunst und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über ihre Verarbeitung im Gehirn.“48 Wo der Neurophysiologe schweigt, muss der Historiker reden. Doch sein Weg kann dornig sein. Kunstwerke aller Gattungen sind der Emotionsforschung da besonders hilfreich, wo wir über die Absicht des Künstlers bei ihrer Entstehung im Bilde sind. Das ist auf die Vergangenheit bezogen jedoch selten gegeben. Man sollte annehmen, Künstler der Gegenwart könnten uns bessere Auskunft geben. Paradoxerweise sind trotzdem die Kunstwerke des 20. Jahrhunderts am wenigsten erforscht, was die emotionale Dimension angeht, und so sind wir besonders empfänglich für die Informationen, welche im vorliegenden Band etwa die Architekten Daniel Libeskind und Lars Spuybroek, oder, immanent, Thomas Kling in seinem Gedicht49 über den emotionalen Anteil ihrer Werke bieten. Wenn wir über den inneren motorischen Ablauf, über das, was den bildenden Künstler, Schriftsteller oder Musiker während der Entstehung seines Werkes bewegt, oft wenig wissen, so liegt um so offener die rezeptionsgeschichtliche Komponente zutage, die Ausstrahlung oder Abwehr, was etwa im Falle von Peter Eisenmans Berliner Gedenkstätte, zu heftigen Kontroversen und zur Modifikation des Werks beigetragen hat. Wenn die Abwehr emotional bedingt ist und ihrerseits heftige Emotionen hervorruft, so kann das durchaus der Sache dienlich

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sein. So sehr in der Politik die Furcht vor Emotionalisierung der Massen berechtigt sein mag – in der Kunst können Gefühle wie Zorn und Wut, Ekel und Abscheu, Abwehr oder Gegenwehr, höchst produktiv sein. Provokationen wie Hans Haackes Projekt Der Bevölkerung im Berliner Reichstag oder Rudolf Herz’ utopische Alternative zur Holocaust-Gedenkstätte von Eisenman, enthalten eine bewusst provozierende emotionale Qualität, obwohl solche Werke auch rational begründbar sind und historische Erfahrungen verarbeiten. Bezeichnend für die Brisanz und Gefährdung des eigenen Gefühlshaushalts und die Scheu, darin Einblick zu gewähren und diesen Haushalt auch in seiner sozial determinierten Dimension erschließbar zu machen, ist vielleicht, dass Künstler, die nicht an öffentlichen Monumenten arbeiten, davor zurückschrecken, sich öffentlich über Pathos, Affekt, Gefühl zu äußern. Künstler wie Arnulf Rainer oder Anselm Kiefer sehen ihren Beitrag im eigenen Werk, nicht in einer verbalen Stellungnahme. Die Arbeiten von Architekten, Bildhauern oder Objektkünstlern hingegen sind in komplexer Weise sozial konditioniert – anders gesagt: Mit der Außenwendung werden Gemütsbewegungen soziabel und damit philosophischen und historischen Diskursen leichter zugänglich. Der bildende Künstler, der Musiker, der Literat, äußert nicht notwendig, was ihn bewegt, der Architekt wird von seinen Auftraggebern schon eher zu den Beweggründen seines Projekts befragt – Patienten hingegen reden fast immer oder können unabhängig von ihrer Gesprächsbereitschaft untersucht werden, und vor allem hat es der Psychoanalytiker selten, der Naturwissenschaftler in der Regel kaum mit längst verstorbenen Patienten zu tun. Diese prinzipiell lückenhafte Quellenlage macht bekanntlich eine der Hauptschwierigkeiten der Geisteswissenschaften aus.50 Warum suchen wir überhaupt den genetischen, den persönlichen, ja den biographischen Zugang und begnügen uns nicht ausschließlich mit der Rezeption? Lange stand ja die biographische Forschung in Misskredit, und tatsächlich sind die persönlichen Vorlieben für einen Künstler oder dessen Privatleben oft genauso irrelevant wie es auf der Rezeptionsebene das bloße Außersichsein über ein Kunstwerk ist, wenn dieses Gefühl nicht „als Komplement der Vernunft“51 auftritt. Die Einsichtnahme in die Genese von Kunstwerken scheint jedoch unter zwei Prämissen sinnvoll zu sein – zum einen, wenn sie sich mit der Werkanalyse verknüpfen lässt, d. h. wenn uns über Entwürfe oder Schriftquellen das Verständnis vertieft wird, zum andern, wenn sich durch personale Informationen ein Problemfeld von allgemeinem Inte-

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resse erschließt, wie z. B. der künstlerisch-intellektuelle Widerstand gegen ein totalitäres Regime. Verbinden wir schließlich, und sei es nur spotlightartig, Bild und Alltag. Wenn das Wort versagt, greift man zum Bild. So hat eine deutsche Tageszeitung als Reaktion auf die Attentate vom 11. September 2001 am Folgetag zum ersten Mal in ihrer Geschichte Fotografien auf der ersten Seite gebracht (Abb. 1).

Abb. 1: Titelblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.9.2001

Die Zeitung ist ihrer Informationspflicht treu geblieben; sie hat sich trotz der Layout-Innovation nicht zu Effekthascherei hinreißen lassen und hat dadurch, dass sie den zweiten Turm des World Trade Center mit einer Aufnahme aus größerer Höhe und Entfernung wiedergegeben hat, Distanz walten lassen. Ein ökonomischer Umgang mit dem Affekt erzielt den höheren Effekt. Paul Virilio schrieb damals, er habe den Fernseher an diesem Tag gar nicht erst angeschaltet, denn Bilder böten keine zusätzliche Information.52 Darin zeigen sich zwei Seiten ei-

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ner Medaille: Die Zeitung brauchte Bilder, weil sie das emotionsstärkere Medium sind. Virilio verzichtete auf Bilder, da sie zu wenig informationshaltig seien. Uns geht es um beides: um emotionsgenerierende Informationshaltigkeit. Es geht darum, wie insbesondere die künstlerischen Medien Gefühle erzeugen und Informationen hervorbringen, wenn auch oft auf verschlüsselte Art. Wir versuchen deshalb zu klären, wie sich Emotionen zu Sachinformationen verhalten, gerade auch in der gegenwärtigen Werbung und Architektur, entsprechend Hegels Feststellung, dass die Kunst nunmehr frei sei, die ganze lebendige Wirklichkeit zu umfassen.

IV. Die hier versammelten Beiträge verstehen sich als ein erster Schritt, dem Diskurs über Emotionen und deren Ausdruck einen angemessenen Rahmen zu verleihen. Der Rahmen selbst muss sich erst bilden. Wir stimmen mit Naturwissenschaftlern wie LeDoux und Damasio darin überein, dass Emotionen und Gefühle dazu dienen, die Homöostase des Individuums aufrecht zu erhalten, also das Überleben zu sichern. Es wäre müßig, aus kulturwissenschaftlicher Sicht eine alternative Bestandsaufnahme über die Nützlichkeit der Emotionen und ihres in Wort, Ton oder Bild gestalteten Ausdrucks zu erstellen. Mit Recht hat Wolfgang Lenzen auf dem Podiumsgespräch des Kongresses den Konsens in die Worte gekleidet: „Ohne Gefühle wäre das Leben wertlos.“ Oder: „Erst das Erleben macht das Leben lebenswert.“ Darüber bedarf es keiner Wertedebatte. Die Kontroversen beginnen erst jenseits solcher Grund-Sätze, denn die Legitimitität eines Diskurses über Emotionen ist unstrittig. Was uns motiviert, über Emotionen zu reden, ist ihr Mangel im Alltag. Die Kälte der Städte, die Depersonalisierung, die Formelhaftigkeit im Umgang miteinander gebieten es geradezu, Emotionalität als das Andere in den Blick zu nehmen. Die Künste sind unter diesem Aspekt ein besonderes, aber kein abgesondertes Feld. Daher haben die Teilnehmer des Kongresses auf das Frageangebot Sind Gefühle verhandelbar? positiv reagiert. Eines einheitlichen Erfahrungshorizonts, der ohnehin kaum spontan herzustellen ist, bedurfte es dafür nicht. Wohl aber ist dieser Diskurs historisch und systematisch zu vertiefen. Wir hoffen, dass der vorliegende Band dazu beiträgt. Im Folgenden wird der Inhalt des Bandes kurz skizziert und kommentiert. Thomas Kling, der auf dem Kongress aus Fernhandel vor-

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trug, hat eigens für den vorliegenden Band ein Gedicht verfasst; es steht vornan und bietet mehr als ein Leitmotiv: „macht & ruhm“, „verdammnis“, „auferstehung“ kommen hier zur Sprache, „ein fürchterlicher schrei“ entlädt sich – offen bleibt, ob die „aus der untersicht“ gesprochenen Worte das im Kunstwerk gemeißelte Pathos, die daraus rührenden Gefühle oder beides beschreiben. Kling gibt uns die Aufgabe, Unterscheidungen zu treffen, zurück, auch die schwierige Aufgabe, herauszufinden, was sich beispielsweise zwischen dem Marmor von 161853 und dem von Bruce Nauman 1991 inszenierten Schrei Help Me, Hurt Me …54 im europäischen Gefühlserleben verändert hat. Die darauf folgenden Beiträge gliedern sich in vier Sektionen: I.

Erkenntnistheoretische Voraussetzungen, historische und anthropologische Bestimmungen von Emotionen II. Zur Genese einer Theorie der Emotionen in der Geschichte der Ästhetik III. Das Kunstwerk als Feld des emotionalen Ausdrucks IV. Zur Auseinandersetzung mit ästhetischen Normen in den Medien der Gegenwart Ich habe viel von Hans-Robert Jauß gelernt, vor allem dies, dass eine erste Lektüre von Texten eine willkommene Hilfestellung und Anregung bieten kann. Oft wird dadurch die enge Vernetzung scheinbar heterogener Beiträge erst sichtbar. Aus dieser Erwägung endet meine Einführung mit einigen Stichworten zu den hier versammelten Beiträgen und ihren methodischen Verflechtungen. Diese Stichworte sind notwendigerweise subjektiv und daher auch, wie die Beiträge selbst, von ungleicher Länge. In der ersten Sektion treffen absichtsvoll Vertreter ganz unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen – Philosophen, Psychologen und Historiker. Diese Beiträge sollen die Voraussetzungen eines Diskurses über Gefühle klären helfen. Sie sind bewusst so angelegt, dass viele Fragen offen bleiben. Es wäre daher ein Missverständnis, diese Zusammenstellung als heterogen zu begreifen – vielmehr soll gleich zu Beginn die Weite des Spektrums deutlich werden. Wenn wir mit Wolfhart Henckmann von der Unselbständigkeit der Gefühle ausgehen („wir brauchen das Gespräch, um uns über sie klar zu werden“), so erhalten wir, eben dadurch, auch Einsicht in das Unzureichende ihrer Verbalisierung oder Rationalisierung. Diesem Di-

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lemma hilft nur ein hermeneutisches Verstehen der scheinbar so selbstverständlichen Gefühle ab. Daher steht im Zentrum dieses Beitrags die Frage nach der Gefühlserfahrung. Mit Erfahrung ist hier mehr gemeint als ein ephemeres, unmittelbares, Gefühl. Gemeint ist die ganze Komplexität eines solchen Gefühls, die auch Momente planmäßigen Handelns, Reflexe, frühere Erlebnisse einschließt. Dies wird am Beispiel der Angst systematisch entwickelt. Ein zweiter Strang befasst sich mit der Frage des Status, der Ein- und Zuordnung, der Systematik der Gefühle. Descartes’ „Grundaffekte“ werden ebenso behandelt wie die in der Rezeptionsgeschichte für synonym erklärten Begriffe Affekt, Leidenschaft, Passion, Gemütsbewegung, endlich auch heutige Auflistungen. Ihnen misstraut Henckmann. Er setzt dagegen eher Situationen mit komplexem Ineinanderwirken (auch Gegeneinanderwirken) unterschiedlicher Gefühlsbereiche, aber auch historisch unterschiedliche Varianten, schließlich auch „Familien“ von Gefühlslagen, aus deren Konstellationen sich emotionale Situationen verstehen lassen. Eine geordnete Übersicht über Emotionen ist ihm zufolge nur in der Fiktion erreichbar, dass der Mensch „fest und invariabel in die Welt eingebunden wäre“. Trotz der außerordentlich konkreten Analyse eines Gefühls wird zugleich eine systematische Einordnung geleistet, die auch Leistungsangst und soziale Angst umfasst, also das Gefühl in ein gesellschaftliches Verhältnis setzt. Angst wird aber nicht nur als ein negatives Gefühl, sondern als ein vollständiger Komplex begriffen. Daher wird die Analyse der Angst am Beispiel des Gangs über die Teufelsbrücke ergänzt durch Reflexion der Angst als Motor der Selbstbefreiung und durch Überlegungen zur Rolle der Vernunft als Regulator von Angst zwischen Pragmatismus und Ichgefährdung. Aus der Perspektive der Vernunft ergebe sich für die Einstellung des Menschen zu Affekten und Gefühlen, dass sie, die Vernunft, das Hinhören auf die Gefühle zu leisten habe. Der Gewinn hieraus könne mehr sein als eine pragmatisch orientierte „Gefühlskultur“. Es wäre spannend, diese luziden Aspekte um den Begriff der „Angstlust“ erweitert zu sehen. Bei Wolfgang Lenzen steht zunächst die Auseinandersetzung mit Damasio und LeDoux im Vordergrund. Dabei werden bereits wesentliche Querverbindungen sichtbar. So wird das Verhältnis der sekundären zu den primären Emotionen bei Damasio befragt, mit dem Ergebnis, dass Intention und Intensität von Gefühlen dort unbeachtet blieben. Bei LeDoux stellt sich für Lenzen die Frage, ob unsere Emotionen neuronal festgelegt oder anerzogen seien (LeDoux plädiert für

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ersteres) und ob Tiere Emotionen haben (was auch Damasio bejaht). Lenzen fragt weiter, ob LeDoux die psychischen Komponenten bei der Entstehung von Emotionen hinreichend berücksichtigt. Der Autor bezweifelt auch die Eindeutigkeit der „mentalen Trilogie“ von Kognition, Emotion und Motivation und neigt zu der Auffassung, man solle die mentalen Entitäten differenzierter unterscheiden und zugleich keine scharfen Trennlinien zwischen ihnen aufrichten. Unter Rekurs auf Lormand nimmt Lenzen eine begriffliche Unterscheidung zwischen Emotionen und Gefühlen vor: Emotionen hätten intentionale Gehalte, Gefühle nicht. Das tangiert die Freudsche Unterscheidung von Affekt und Gefühl (in der Lesart Eisenmans) und regt zu weiteren Diskussionen an. Wenn Emotionen ferner als Komponenten oder sogar als Prämissen von Vernunft gesehen werden, so berührt sich dies eng mit den Beiträgen von Ursula Franke, Brigitte Scheer und Birgit Recki. Es ehrt einen Autor, wenn er sein Thema mit Einwänden gegen den Untersuchungsgegenstand beginnt: Martin Löw-Beer prüft zunächst, was gegen den Terminus Einfühlung spricht: sie schaffe eine oberflächliche Identifizierung, bewirke den Verlust der notwendigen Distanz zum Anderen, sei moralisch einseitig und verhindere die Entwicklung einer eigenen Perspektive. Dem hält Löw-Beer entgegen, dass Einfühlung die Voraussetzung für Zuwendung und Auseinandersetzung sei, Teil eines Weltgefühls. Von ihr hänge das eigene Wohlgefühl ab, sofern ein adäquates Maß der Zuwendung gefunden werde. Die moralisch relevanten Begriffe „Mitgefühl“ und „Mitleid“ werden dem objektiveren Begriff der Einfühlung untergeordnet, womit wir wieder auf das Verhältnis von sich selbst Fühlen und sich dem anderen emotional Mitteilen stoßen. Problematisch wird Einfühlung, wenn der Grad der Perspektivenübernahme zu hoch ist (dann kann sie sogar zu Mitschuld führen). Für den ästhetisch-moralischen Diskurs bedeutsam ist der Zusammenhang von Perspektivenübernahme und Sprache. Daher werden die Begriffe des Erlebens, Nacherlebens, Miterlebens der Conditio des Anderen untersucht. Ebenso erhellend sind die Überlegungen zu Martin L. Hoffmans und Bråtens Thesen von vorsprachlichen Einfühlungsmöglichkeiten. Zu den vom Autor beschriebenen Gefahren der Einfühlung könnte man rechnen, dass viele Beiträge in Literatur- oder Kunstwissenschaft an Einfühlung als einem grundlegenden methodischen Fehler leiden; sie gründen auf gefühlsmäßiger Zuwendung zum Gegenstand via Einfühlung, was nicht nur die historische Distanz außer acht läßt, sondern gerade die differenzierte Analyse der im Kunstwerk angelegten Emotionen verunmöglicht.

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Wolfgang Tunner behandelt in psychologischer Absicht die Begriffe Emotion, Phantasie und Kunst. Hervorheben möchte ich zwei Aussagen. Zum einen das oben zitierte Insistieren auf dem Empfinden als Grundlage jeder Aussage über Kunst; denn an mangelnder Beachtung dieser Prämisse leiden z. B. die beiden traditionellen kunsthistorischen Verfahren: Formanalyse und Ikonologie. Zum andern lässt der komplexe Begriff von Kreativität aufhorchen: „Man hat […] schöpferisch tätigen Personen die Fähigkeit zugeschrieben, einander polar entgegengesetzte Merkmale in sich zu vereinen, ohne sie zu vermischen“. Nicht der Mittelweg, sondern das Bestehen auf Extremen sei für sie charakteristisch; Reaktionen kreativer Persönlichkeiten seien daher nicht bizarr, sondern realitätsgerecht. Auch verhielten sie sich revolutionär und zugleich traditionsbewusst. Schließlich stelle man bei ihnen sowohl vehemente Leidenschaft als auch sachliche Distanz fest, ebenso starke Schaffensintensität und Identifizierung mit dem Werk. Der letztgenannte Punkt dürfte auch für Wissenschaftler gelten. Das wiederum könnte zu weiteren Gesprächen anregen, dürfte damit doch die Unterscheidung zwischen kreativ und produktiv aufgehoben werden. Epitheta wie „uralt“ und „archetypisch“ suggerieren dauerhafte Gültigkeit, was ebenfalls diskussionsfähig ist. An diese zeitbezogene Frage schließt sich die nach der Ausdrucksdifferenz in räumlicher Hinsicht an: Es ist offen, wie wir mit der abweichenden Semantik von Gefühlsäußerungen anderer Kontinente umgehen sollen. Rainer Krause geht es um den Status der Kreativität und deren emotionale Verankerung. Ausgangspunkt ist Rilkes Ich-Schwäche und die Frage, wie weit seine künstlerischen Energien ihm dabei therapeutische Hilfe leisten konnten. Offenbar hatte das Schreiben, für Rainer Maria Rilke wie für Thomas Mann, bestenfalls sedierende Wirkung. Andererseits attestiert Krause Künstlern höhere Ichstärke und höhere Resistenz gegen Konformitätsdruck. Zwar habe der künstlerische Schaffensprozess seinen Preis, doch ermögliche z. B. das Theater (Rollenspiel) die Reaktivierung des traumatischen Geschehens auf symbolische Weise. Die Besprechung von Zeichnungen eines traumatischen Geschehens erweisen sich in der Praxis ebenfalls als sinnvoll, doch muss die künstlerische Aufarbeitung schließlich dem verbalen Diskurs weichen. Konstatiert wird letzten Endes eine Überschätzung der Reichweite der Kunsttherapie. Am Ende wird der Versuch einer Definition von Kunst aus klinischer Sicht gewagt, wobei die Strenge der Kriterien durch Begrenzung der Reichweite modifiziert wird. Anlass zu weiterer Diskussion könnte die Einschätzung geben, dass handwerkliches Können nar-

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zisstischem Missbrauch des kreativen Prozesses abhelfen könne: Concept Art, Minimal Art und viele nachfolgenden Richtungen werden damit ausgeklammert, doch sind sie möglicherweise für die affektive Verarbeitung einer Krankheit wenig geeignet? Einige Aspekte Krauses, vor allem die Frage nach der Rolle des Emotionalen im Prozess der Kreativität, berühren sich eng mit den Überlegungen Agnes Hellers. „Gesinnung“, heute zur Fiktion geworden, hat Gerd Althoff zufolge erst mit der Reformation einen normativen Durchbruch erzielt, „weil sie die Gesinnung zur alleinigen Richtschnur allen Handelns machte“. Im gesamten Mittelalter war diese Norm noch nicht gültig. Das Kriterium der Echtheit der Gefühle, moralisch gewendet, ist also frühneuzeitlich; vorher ist in der Beurteilung echter, wahrhaftiger Gefühle Vorsicht geboten. „Wenn wir davon hören, dass mittelalterliche Menschen jubeln oder toben, in Tränen zerfließen oder mit den schlimmsten Schimpfworten um sich werfen“, ist von einem „Zeichengebrauch“ auszugehen, „der von Authentizitätsansprüchen noch nicht beherrscht wird“. „Auch die Aufklärung hat mit ihrem Aufrichtigkeits- und Innerlichkeitspathos dann im 18. Jahrhundert dazu beigetragen, die Ansprüche an emotionale Äußerungen zu erhöhen.“ Das kreiert ein Dilemma. Man kann in einer zivilisierten Gesellschaft kaum mehr so viel Gefühlsenergie, wie einer Situation angemessen wäre, nach außen tragen. Was bleibt, sind Floskeln, z. B. der Betroffenheit. Daher bleibt offen, ob und wie weit heute das Echtheitskriterium noch gilt – weder die politische Klasse noch die Bürger legen diesen Maßstab an. Auch aus dem Aufwachsen mit den neuen Medien resultiert eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der repräsentativen Darstellung von Affekten, die den Anspruch auf Echtheit mindert. Die Erfahrung, vor der Kamera zu leben, ist (bei Kindern schon) so allgemein geworden, dass die Echtheit der Affektempfindung und -äußerung nicht mehr gegeben ist. Mit der zweiten Sektion betreten wir das im engeren Sinne geistesoder wie ich lieber sage, kulturwissenschaftliche Feld (denn auch die Naturwissenschaftler deuten und erklären unser Weltverständnis; sie sind daher ebenfalls Geisteswissenschafter, nur ist ihr Forschungsgegenstand eher die Natur als die Kultur). Philosophisch-ästhetische Aspekte stehen hier im Mittelpunkt. Nicht weniger als eine Klärung ästhetischer Begriffe unter philosophiehistorischen Prämissen unternimmt Ursula Franke. Grundsätzlich fragt sie nach der Bedeutung der Leidenschaften bei Aristoteles, Descartes und Kant. Zugleich geht es ihr auch schon um die direkte An-

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wendung von Gefühlen im Bereich der Kunst und Musik. Emotion, Affekt, Gefühl, alltagssprachlich synonym, unterscheiden sich in der ästhetischen Tradition darin, dass Gefühl eine moralische Komponente hat. In der weitgehenden Ablehnung dieser Komponente sieht Franke die Gründe, warum es keine konsistente Theorie der Gefühle gibt. Sie leitet sodann über zum Versuch einer historischen Perspektive, ausgehend von der Affektenlehre des Aristoteles, der freilich a priori als gegeben setzt, was für den Menschen gut sei. Die Affekte sind Mittel in der Hand des Redners, den Hörer (prinzipiell wohl auch den Betrachter) zur Emotion, idealiter zum Guten, zu bewegen. Diesen ethischen Aspekt baut Descartes in seiner umfassenden Theorie der émotions de l’âme weiter aus; er unterscheidet zwischen den nach innen gewandten sentimens und der auf äußere Objekte gerichteten perception, wobei die Überraschung eine Schlüsselfunktion erhält. Der künstlerische Ausdruck der Emotionen wird am Beispiel Sulzers untersucht. Wenn dieser eine Hauptaufgabe des Künstlers darin sieht, Leidenschaften zu wecken und zu besänftigen, so ist es sehr erhellend, dass er bezüglich des künstlerischen Ausdrucks zwar auf das rechte Maß Wert legt, aber dem „Kram der Regeln“ ambivalent gegenübersteht. Mit Kant tritt bekanntlich das wählerische Geschmacksurteil auf den Plan, doch stets verknüpft mit einem ethischen Ziel, das im Begriff der humanitas gipfelt. Darin haben Pathos, Affekt, Gefühl ihren Platz. Abschließend stellt Franke die Frage nach der Reichweite dieser Prinzipien in der Gegenwart. Ihr Beitrag endet mit der weit reichenden Überlegung einer möglichen Entlastungsfunktion der Gefühle im heutigen Leben. Ausgehend von Hauseggers Schrift Die Musik als Ausdruck stellt Helga de la Motte-Haber die Frage nach dem Wandel von der Nachahmung der Affekte zum Ausdruck eines seelischen Inneren in der Musik. Dieser Umbruch, der sich in der Aufklärung mit Rousseau und Herder vollzieht, führt im Zeitalter der Empfindsamkeit zur Forderung nach Unmittelbarkeit als Kristallisation einer „Sprache des Inneren“, welche de la Motte in der Musik bis 1910 weiterwirken sieht. Sie untersucht sodann, im Rückgriff auf Kant, Schelling und Theodor Lipps, Erlebnisvorgänge und deren musikalische Umsetzung, bis hin zum Begriff der Musik als „Grenzerfahrung des Denkens“ bei Wittgenstein. Die semantischen Konnotationen bei der Wahrnehmung emotionaler Qualitäten in der Musik werden u. a. entwicklungspsychologisch behandelt, wobei der Querverweis auf den Begriff der Atmosphäre besonders anregend ist und auch zu den Überlegungen zur Stimmung bei Kerstin Thomas überleiten könnte. Nach Ausfüh-

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rungen zu den Begriffen Anmutung und Wirkung steht die Frage nach der „Überforderung der kognitiven Informationsverarbeitung“ infolge einer Überschreitung der „Leistungsfähigkeit der Wahrnehmung“ im Brennpunkt. Überschreitung der Möglichkeiten führt zu Überwältigung. Anlass zu weiterem Nachdenken gibt vor allem die Frage, ob dieses Resultat, die Überwältigung, nicht auch eine Überforderung, ja eine Kapitulation, der Gefühle offenbart. Nicht wenige Gedanken dieses Beitrags begegnen uns in anderer Form bei Jörg Zimmermann wieder. Slavoy Zizeks interessante Ausgangsthese lautet: Die Musik löst sich seit Rousseau vom Transport der Wort-Affekte; ihr Dasein als „accompaniment“ ist zu Ende. Das Unheimliche, das Untote, der Exzess im Liebesverlangen bis zur „höchsten Lust“ (Wagner) oder sein Gegenstück, die Entleerung des Ich bis zur totalen Vernichtung, all das lässt sich, seit Kants Wende zur Subjektivität, medial eigenständig formulieren. Die Wahn-Arie in den Meistersingern, der Liebestod bei Wagner, also das, was Lacan als Verbindung von jouissance und Ich-Auflösung gefaßt hat, ist der Gipfel des musikalischen Ausdrucks, auf ihn kann eigentlich nur noch Kälte, Gefühlskälte, bis hin zum Paradox der „cold compassion“ folgen. Unter diesem Aspekt wird Schönbergs Moses und Aaron als „Meta-Opera“ oder musikalische Reflexion über die (Un)möglichkeit der Oper gesehen. Man horcht auf bei der Einbettung dieser Analyse in Theoreme von Kierkegaard, Nietzsche und Lacan und kann in diesem Beitrag eine konkrete Fortsetzung der Ausführungen von Helga de la Motte-Haber erkennen. Im übrigen bietet das Problem des Genusses, wenn man etwa die diesbezügliche Kontroverse zwischen Adorno und Jauß einbezieht, mannigfachen Anlass, Zizeks Thesen auf den Gefühlshaushalt der Gegenwart anzuwenden. Mit Nietzsche sieht Dieter Schnebel Liebesschmerz und Liebestod als zentrale Themen der Oper. Von da aus wird gefragt: Seit wann ist das so? Nach kurzem historischem Rückblick werden die Wiener Klassik des 18., das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert als Hoch-Zeiten der Liebesopern definiert. Wagner und Verdi fungieren als Hauptbeispiele. Am Ende folgt ein Ausblick auf die Gegenwart, die nach 1945 der Oper zunächst ablehnend gegenüberstand. Doch Nono, Berio, Pousseur, Ligeti und John Cage, heute schon Klassiker, aber auch Feldman und Messiaen, Rihm und Lachenmann haben die Gattung wiederbelebt, während in den USA eine Art Minimal Opera entstand. Es ist offenbar zu erwarten, dass die Oper als Liebesmusik Zukunft hat. Der Beitrag nimmt den Faden von Zizek glücklich auf.

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Jörg Zimmermanns Essay basiert auf Kierkegaards Begriff des „Musikalisch-Erotischen“, so sehr er dies an Wagner und Strawinsky exemplifiziert und schon in der äußeren Form dem Ablauf eines musikalischen Stücks folgt. Kierkegaard näherte das musikalische Erleben dem des erotischen an, während Wagner, so Nietzsche, „in Tönen philosophierte“, dabei aber ebenfalls die Musik der Liebe assimilierte. Das alles rechnet Zimmermann zum Diskurs über die musikalische Qualität der subjektiven Empfindung als Ausdruck des Inneren, einem Diskurs, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzte. Dies berührt sich eng mit den Ausführungen von de la Motte-Haber. Musikgeschichtlich wird das Phänomen zurückverfolgt bis zu Charles Burneys Begegnung mit C. Ph. E. Bach, weil hier der Herzensanspruch der Musik am deutlichsten hervortrete. Im Mittelpunkt steht dann Kierkegaards „Einfühlung“ in Mozarts Don Giovanni. Die Unendlichkeit der Leidenschaft Don Juans wird als konstitutiv für die Einheit der Stimmung dieses Werks analysiert. Zimmermann findet im musikalischen Ausdruck der Unendlichkeit den „Index einer existentialistischen Grunderfahrung des Menschen“. Nietzsches Kritik des expressionistischen Musikbegriffs der Romantik leitet über zu Adornos Auffassung, wonach der höchste Begriff der Kunst der Moderne aus der heroisch zu ertragenden Spannung von Expression und Konstruktion zu gewinnen sei. Agnes Heller initiiert einen philosophisch fundierten Diskurs primär über Kunstrezeption, ausgehend von der Aporie, welche Rolle Emotionalität bei der Kreativität selbst spielt. Für die Begegnung mit dem Kunstwerk ist ihr zufolge eine Art „self-abandon“ notwendig, und so entsteht (wie bei der Liebe) ein reziprokes, bipolares Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter, Leser oder Hörer. Wichtig ist die Beobachtung, dass in der Rezeption neue Emotionen entstehen, andere als beim Produktionsvorgang. Mit Leonardo und Lomazzo (aber auch mit modernen Künstlern wie Moholy-Nagy) berührt sich die Verbindung von „emotion“ und „motion“: Innere und äußere Bewegung oder Erregung durch ein Kunstwerk gehören zusammen. In diesem bewegten Austauschprozess entsteht naturgemäß eine Bewertung (evaluation), bei der es nicht um Moral geht, wohl aber um Einfühlung (so dass sich dieser Text mit dem von Löw-Beer berührt). In einem zweiten Abschnitt geht es um die Verbindung religiöser und ästhetischer Gefühle, auch um Hegels Begriff der Kunstreligion. Der Kernbegriff dieser Verbindung ist für Heller „Aura“. Interessant ist die Wendung gegen die Redundanz des Schönheitsbegriffs; sie lässt sich mit den Ergebnissen der jüngsten Publikation von Winfried Menninghaus verbinden. Ein

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Bindeglied zwischen Malerei und Musikerlebnis ist für Heller die Sehnsucht nach dem Heimlichen oder Vertrauten (comely im Gegensatz zu uncanny). Bei der Musikrezeption werden vor allem zwei Elemente hervorgehoben: die Bedeutung der „indeterminate emotions“, und die Alterität des Erlebens bei Wiederholungen oder mehrfachen Aufführungen des gleichen Stücks, was gerade bei Musik unabdingbar sei. Brigitte Scheer betont die „Durchlässigkeit oder Verbindung [der Gefühle] zur Vernunft“, die auf der Entdeckung eines „besonderen Gefühlsvermögens“ in der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts basiert. Darauf beruht ihr zufolge unser Denken heute noch. Zugleich wendet sie sich gegen das Vorurteil, „dass die Philosophie der Aufklärung ihr Interesse ganz und gar auf die Emanzipation der Vernunft im Sinne der Rationalität konzentriert“ habe. Von da aus untersucht sie den Beitrag „der emotiven Fähigkeiten des Menschen […] zur erkennenden Weltaneignung“ seit der Genese dieser Erkenntnis bei Locke, Shaftesbury, Hutcheson, Hume und Kant. Vernünftige, humane Züge ästhetischer Weltaneignung sind für Kant nur dann ein Gewinn, wenn sie nicht in ästhetischen Solipsismus führen. Daher befragt die Autorin das „Zusammenspiel von Einbildungskraft und Vernunft“ und deren „Interaktion zu einem […] lustbringenden, prinzipiell unabschließbaren Prozess“ und kommt zu dem Ergebnis: „Das Gefühl […] vollendet das Werterlebnis“. Der sehr grundsätzliche Focus dieses Beitrags wird auch bei Franke, de la Motte, Früchtl, Recki und Zimmermann wieder aufgegriffen. Von einem kantianischen Ansatz her unternimmt es Birgit Recki, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gefühl und Vernunft neu zu stellen. Sie geht aus von der Auffassung, dass das Gefühl selbst zu den Leistungen der Vernunft zählt. Hingegen war der Begriff des Affekts für Kant ein begrenzter, ja defizienter Modus, mit dem man rasch ‚fertig‘ werden solle, weil er der Überlegung entbehre: Kant ordnet den Affekt dem Rausch, die Leidenschaft dem Wahnsinn zu: „Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist […] Krankheit des Gemüths“. Anders als für Damasio, für den der Affekt ein Resultat des Zusammenspiels von (körperbedingten) Emotionen und (im Bewusstsein verarbeiteten) Gefühlen ist und hohe, synthetisierende Bedeutung hat, ist Affekt bei Kant also eher negativ belegt. Er kennt in der Kritik der Urteilskraft zwar auch „vernunftgewirkte“ Gefühle, doch eher am Rande. Aber schon in der Kritik der praktischen Vernunft spielen sie eine größere Rolle. Zwar gründet Moral auf dem rationalen Vermögen des Menschen, während das Gefühl als eine bloß empirische (also subjek-

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tive) Kraft keine allgemeinen Begründungen liefert. Doch kann das moralische Gefühl das moralische Urteil affizieren, also bewegen oder motivieren: Das Gefühl avanciert so zur Triebfeder des Handelns. Noch stärkeren Anteil haben Gefühle jedoch im Rahmen des ästhetischen Urteils. Zunächst auch hier als rein empirisch verworfen, werden die Gefühle des Schönen und des Erhabenen, weil sie „auf kein bestimmtes Ziel aus“ sind, im ästhetischen Reflexionsprozess als „zweckfreie Zweckmäßigkeit“ bedeutsam. Das „Lebensgefühl“ manifestiert sich hier als „Lust durch reflektierte Wahrnehmung“. Ästhetische Reflexion mündet in ein Gefühl, in dem die eigene Lebendigkeit bewusst wird (was mit Damasio kompatibel ist). Dieses Bewusstsein der Lebendigkeit führt dazu, dass die Reflexion des Schönen zum Symbol des Sittlichguten in Form eines subjektiven Freiheitsgefühls werden kann (fast ist Freiheitsgefühl hier synonym mit Freiheitsbewusstsein). Während das so definierte Gefühl des Schönen dargestellt werden kann, ist das Gefühl des Erhabenen zu weit dafür; es überwältigt die Anschauung, ist unfasslich. Trotz dieser ästhetischen Distanz wird indes auch hier ein Gefühl der Freiheit evoziert. In jedem Falle gilt: Nur ein körperliches Wesen kann fühlen, aber nur eines, das zugleich vernunftbegabt ist (was wieder mit Damasio kongruiert). Die Endaussage: „Als vernünftiges Wesen fühlt man sich […] im Prinzip gut“, könnte man auch so wenden: Nur wer fühlt, also seinen Emotionen Ausdruck verleihen kann, kommt als Vernunftwesen gut mit sich aus. „Sich gut fühlen“, impliziert hier aber auch „unter Spannung stehen“. Allmählich zeigt sich ein immer engerer Zusammenhang zwischen den Sektionen. So war es nicht immer leicht, einen Trennstrich zu ziehen. Man kann jedoch füglich behaupten, dass in der nun folgenden dritten Sektion der Ausgangspunkt ein anderer ist: Das Kunstwerk selbst steht eher im Mittelpunkt; die Theorie wird gelegentlich nur implizit herangezogen oder nur da, wo das Fundament des Explorationsvorgangs beleuchtet werden soll. Wulf Raeck erörtert das Problem des Wandels emotionaler Normen, soweit dieser als Ausdruck in Kunstwerken der Antike zutage tritt. Während die homerischen Helden „um die Wette“ weinen dürfen, sind emotionale Äußerungen, soweit aus Kunstwerken rekonstruierbar, in der Spätantike „erst von einem bestimmten Rang an abwärts denkbar“. Im 5. Jahrhundert beginnt die Kontrolle der Emotionen, soweit in Schrift und Bild überliefert. Agamemnon bedauert den Zwang, die eigenen Emotionen unter Kontrolle halten zu müssen. Die niedrig einge-

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stuften Gegner des Theseus dürfen ihren Gefühlen freien Lauf lassen, werden darum aber auch verächtlich dargestellt. Der Mangel an emotionaler Beherrschung auf Seiten der Barbaren wird exemplarisch im Alexandermosaik um 300 v. Chr. deutlich. In der römischen Kaiserzeit ist Selbstbeherrschung Trumpf, bei spätantiken Herrschern wie Constantius II dominiert dieser Zug ganz. Gefühle werden nur bei den Untertanen, vor allem den armen Klassen, oder aber bei den Feinden gezeigt: die Gesten der um Erbarmen Flehenden, die Not und Gier der zu Beschenkenden. Cäsars clementia wird nur sachbezogen gezeigt, nicht als Emotion. Alexander hingegen durfte (in der römischen Rezeption) Jähzorn zeigen, da er nicht den Normen der Polis unterworfen war. Im Anschluss an diesen Beitrag könnte man sich eine Diskussion über die Differenzierung zwischen Schrift und Bild (Ovids Briefe aus der Verbannung oder die Amores, Vergils Aeneis, Apuleius’ Amor und Psyche) vorstellen; auch den Begriff des „Barbarischen“ in Gruppen wie Der Gallier tötet sich und sein Weib könnte man weiter verfolgen. Zwar widerspricht Selbstmord aus Verzweiflung den römischen Normen, aber wo zeigt sich der Unterschied in der Form? Ein interessantes generelles Problem ist ferner, warum positive Emotionen, Großzügigkeit usw., nicht gezeigt werden, obgleich sie sich propagandistisch gut hätten verwerten lassen. Michael Fried führt uns von Matisses Selbstbildnis zu Caravaggios Bild Junger Mann, der von einer Eidechse gebissen wird. Wie Matisse einen Spiegel nutzt, um sich beim Malakt darzustellen, so wirkt auch Caravaggios Jugendlicher, als stelle er ein verdecktes Spiegelbild des Malers dar. Hinter dem aktuellen Erschrecken verbergen sich also auch andere Vorgänge: der Malakt und sexuelle Begierde. Caravaggios Jugendlicher blickt direkt auf sein Spiegelbild und involviert damit scheinbar den Betrachter. In Wirklichkeit ist Caravaggio (wie Courbet) ein selbstreferenzieller Maler. Erschrecken, Schmerz, Überraschung und Schock, überlagern nur das verdeckte Selbstbildnis, und doch ist dieses von jenem untrennbar. Verstehen wir das Bild als selbstreferenziell, so zeigt es den Maler einerseits ganz versunken (immersed) in den Malakt, andererseits in einem ganz bestimmten Augenblick, den man als Spiegel- oder Blickmoment (specular) fassen kann. Dieser zweite, aktuelle, den Sehakt ‚vergewaltigende‘ Aspekt scheint den ersten fast zu löschen, wobei die Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen struktureller, nicht zeitlicher Art ist. Im Übrigen bedeutet diese Lesart nicht, dass solche Bilder mit dem Maler eine physische Ähnlichkeit aufweisen müssten („ogni pittore dipinge se“, sagte Leonardo schon,

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ohne wörtliche Ähnlichkeit zu meinen). Die Subjekt und Objekt verschmelzende Malweise Matisses überträgt Fried auf das EidechsenBild, aber auch auf den Bacchus Caravaggios, zwar ebenfalls kein reales Selbstbildnis, aber eines, das mit Selbstspiegelung zu tun hat. Der Autor diagnostiziert in diesen Bildern eine Trennung zwischen Versenkung und Augenblickshaftigkeit. Caravaggios Bilder ermöglichen in diesem Sinne mehrfache Lesarten: 1. Die Unterscheidung zwischen Versenkung und Spiegelbildlichkeit/Augenblickshaftigkeit im Malakt und 2. die Unterscheidung zwischen Malen und Abspiegeln oder zwischen Malen und Reflektieren. Beide Unterscheidungen kommunizieren und interagieren. Anhand der Vergleiche zwischen Bacchus und David mit dem Haupte Goliaths wie mit Salome empfängt das Haupt Johannes’ d. T. verdeutlicht Fried, dass bei Caravaggio Versenkung und Spiegelbildlichkeit als Parameter der Subjektivität des Künstlers erscheinen, auch wenn sich dies nicht in gewohnte Affekt-Termini übersetzen läßt. Andere Enthauptungsbilder zeigen ähnliche Strukturen, z. B. Judith enthauptet Holofernes. Eine Differenz zwischen Bacchus und David liegt jedoch darin, dass der David ein eindeutiges Selbstbildnis Caravaggios (im Haupte Goliaths) darstellt und dass hier niemand auf den Betrachter blickt. Beide Figuren sind in sich selbst versunken. Der doppelt, durch Stein und Schwert, getötete Goliath scheint weiter über sein Leben nachzusinnen. Goliaths Ausdruck reflektiert den Davids (oder umgekehrt) – eine Allegorie ihrer wechselseitigen Bindung. Das Martyrium der hl. Ursula zeigt eine weitere Stufe der ineinander verschränkten zeitlichen und strukturellen Komplexität: Nichts ist abfolgelogisch aufeinander zu beziehen, auch sind Überraschung, Angst, Angriff zeitlich und semantisch nicht kompatibel: „Caravaggio has passed beyond the range of recognizable modes of human feeling.“ Fried sieht in diesem Bild also keine eindeutigen Ausdruckschiffren. Sich fühlen und Affekte zeigen, Malakt und Darstellung, Projektion und Reflexion – das alles geht fließend ineinander über. Die Unterscheidung zwischen Versenkung und Spiegelung der Wirklichkeit ist im Martyrium der hl. Ursula zugleich vervielfacht und aufgelöst. Klaus Herding55 versucht grauenerregende und sanfte Ausdrucksformen in Kunstwerken als emotionale Mitteilungen zu entziffern, die sich sowohl vom Künstler als auch von den Betrachtern aus als gegensätzlich in sich verzahnt erweisen. Ausgangspunkt sind barocke Darstellungen des Mythos der Medusa, deren Blick töten konnte. Der Autor sieht in Medusenhäuptern, bei denen er von Maes, Puget, Rubens,

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Caravaggio bis zu Cellini nach der je spezifischen Form und den je konkreten Wahrnehmungsinteressen des Künstlers zurückfragt, hochkomplexe, durch keinerlei physiognomische Lehrbücher fassbare Entäußerungen von Zorn, Angriffslust, Trauer, Verzweiflung, in sich gekehrter Wut, Hilflosigkeit, aber auch Selbstbewusstsein, Reflexivität und Rationalität (oft die des Künstlers selbst). In dieser Skepsis berührt sich der Beitrag mit Michael Fried. Als Parameter werden auch Ausdrucksköpfe von Bernini und Permoser hinzugezogen, wobei es für diesen Untersuchungsansatz sekundär ist, ob mythische, religiöse oder andere Themen den Gegenstand künstlerischer Ausdruckssuche bilden. Ebenso werden bei Kunstwerken mit sanften, innigen Ausdrucksformen, etwa bei Leonardo, Raffael, Reni, Dolci, Broc und Overbeck, sehr gegensätzliche und nur durch Aufhellung historischer Umstände lesbare Emotionen festgestellt. Dies führt den Verfasser zu einer Reihe von grundsätzlichen Fragen, die sich an die Erforschung von Emotionen durch naturwissenschaftliche Methoden (Ekman) wenden und nebenbei auch Äußerungen von Neurologen (Damasio) zu Kunstwerken kritisch befragen. Andererseits sucht Herding nach Möglichkeiten einer Kooperation, die sich besonders in der Gegenwart als ebenso notwendig wie schwierig erweist, da nun die Zuordnung von Emotionen zu eindeutigen oder auch komplexen Normen nicht nur von Künstlern, sondern auch von der Rezipientenseite aufgekündigt wird. Unter diesem Aspekt werden abschließend emotionale Interessen bei Warhol, Rauschenberg und auch bei Kevin Clarke untersucht, dessen Porträts gar keine Gesichter mehr zeigen und insofern den Facial Codes ebenso unzugänglich sind wie etwa Landschaftsbilder, die ebenfalls starke Emotionen enthalten können. Der Autor fragt: Wie gehen Naturwissenschaftler mit solchen emotionalen Mitteilungen um? Thomas Kirchner befragt grundsätzliche Bestimmungen von Emotionen auf deren Ausdruck in bildender Kunst. Kern ist der Einfluß der Rhetorik auf die Normenbildung der Kunsttheorie, sowohl für den Rezipienten als auch für den Künstler. Erst Du Bos entwickelt ein ästhetisches Konzept. Darin und in der Betonung der Imagination im 18. Jahrhundert berührt sich Kirchner sehr mit Brigitte Scheer. Die Aussagen über Chodowiecki schaffen die wünschenswerte Querverbindung zu Werner Hofmann. Besonders spannend ist die zeitgenössische Lektüre der Geißelung des hl. Andreas von Domenichino. Aus heutiger Sicht lädt das Bild fast zu einer Gegendarstellung ein: Es ist derart ruhig, dass man sich die beschriebenen Reaktionen kaum mehr vorstellen

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kann. Dies verweist auf die historische Konditionierung und Variabilität emotionaler Erfahrung und trägt somit zur Vorsicht gegenüber Aussagen über anthropologisch gültige Wahrnehmung bei. Beleg dafür ist u. a. eine Graphikfolge, die der Autor Domenichino entgegenhält, Chodowieckis Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens: Hier werden unterschiedliche Formen des Kunstgenusses und der Reaktion auf ein Kunstwerk zur Wahl gestellt. Daraus folgt, dass der Weg im 18. Jahrhundert zu einer Befreiung des Künstlers (und also des Kunstwerks) von normativ festgelegten Affekten führt – dadurch erst kommt Modernität zustande. Daran mag die Frage anschließen, inwieweit sich der schöpferische Künstler der Neuzeit nicht stets (zumindest auch) außerhalb der normativen Affektenlehren bewegt hat, gleichviel ob diese rhetorisch oder ästhetisch fundiert sind. Werner Hofmann untersucht das „bipolare Pathos der Moderne“. Mit Flaubert versteht er darunter die gezielte Mischung gegensätzlicher Formhöhen. Erforscht Flaubert „le sublime d’en bas“, so meint er, Hofmann zufolge, eine den Schönheitskanon persiflierende Groteskkoppelung. Damit rehabilitiere Flaubert (und mit ihm, könnte man anfügen, Baudelaire, Courbet, z. T. auch Millet) die „gestörte Form“, die zu seiner Zeit auch schon einmal dem Manierismus angelastet wurde. Zurückverfolgt wird die Flaubertsche „Doppelbödigkeit“ (über die Annäherung von Nobilität und Faktizität bei Winckelmann und erst recht bei Burke) bis zu Reynolds’ Verspottung der Schule von Athen. Überhaupt wird die Rolle der Karikatur als „dialektischer Widerspruch zur genormten Form“ in den Blick genommen und vor allem an Beispielen von Hogarth und Chodowiecki belegt. Man könnte anfügen, dass für die Annäherung von Nobilität und Faktizität im späteren 18. Jahrhundert Davids Marat das unübertroffene Beispiel ist. Interessant ist in diesem Kontext Lichtenbergs Einsicht in die „Mehrstimmigkeit von Formkomplexen“. Höhepunkt des Beitrags ist die Analyse von Hogarths Bathos, einer bildlich-verbalen Inversion des Begriffs Pathos. Die Vermengung der Gattungen, so Hofmann weiter, treibe die Durchmischung der „Höhenlagen“ jedoch über die Karikatur hinaus voran und relativiere die Normen. Mit dem Begriff des „delightful horror“ stabilisiert Burke diese Umwertung auch kunsttheoretisch. An dieser Stelle berührt sich Hofmann sehr fruchtbar mit dem Ansatz von Zelle. Abschließend wird überraschend bei Kandinsky, Klee und Duchamp der Versuch gesehen, die Gegensätze der Gattungen wieder zu versöhnen. Vor allem aber sieht Hofmann bei Breton den Versuch einer Synthese – ein unerwarteter Schlusspunkt!

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Carsten Zelle geht es um die pathogene Subjekterfahrung, verbunden mit der These, dass dieses Pathos, als Leiden an sich selbst verstanden, notwendig zur Konstituierung des Subjekts als eines sich selbst reflektierenden Wesens im 18. Jahrhundert gehört: Selbstbewusstsein ist untrennbar mit Selbstgefühl verbunden. Zelle verfolgt die Entstehung dieser Selbstreflexion von Descartes’ „émotion intérieure“ über Hobbes’ und Humes „joy of grief“ (Verwandlung von „pain“ in „pleasure“ als Vergnügen am Altruismus, aber auch als Mittel der Selbstbestätigung), bis hin zu Diderots Lehre von der „ästhetischen Attraktivität von Schrecken und Erhabenheit“ und zu einer Popularästhetik, welche die Selbsterfahrung der eigenen Kraft in den Mittelpunkt stellt. Denn im Wesentlichen geht es nicht um soziale Emotionen, sondern um eine selbstrefenzielle Struktur. Abschließend wird der destruktive Überschuss dieses Selbstgefühls bei Moritz und Büchner untersucht. Es ergibt sich, dass Autoreflexion im späteren 18. Jahrhundert konstitutiv für die emotionale ‚Bewältigung‘ der Gesellschaft und der eigenen Gefühlsökonomie wird. Barthélémy Jobert geht der Frage nach, was Delacroix über „passions“ und „sentiments“ in der Kunst notiert hat. Das Ergebnis ist ernüchternd: „passion“ kommt gar nicht vor, „sentiment“ nur in sehr eingeschränkter Bedeutung; so bleiben „effet“ und „expression“. Kunst versteht Delacroix als Brücke zwischen dem „état d’âme“ des Künstlers und einem verwandten Gefühl des Lesers oder Betrachters. Wo der Terminus „expression“ vorkommt, bezieht er sich vor allem auf die Tradition der „tête d’expression“, doch im Sardanapal vollzieht Delacroix den entscheidenden Bruch: Hier vermittelt er „expression“ nicht durch Gesichter, sondern durch Farbe, ebenso tritt der Gesichtsausdruck in anderen Bildern wie Le Christ au Jardin des Oliviers oder Doge Marino Faliero gegenüber der Haltung oder der Komposition insgesamt als Ausdrucksträger zurück. Dass der Gesichtsausdruck, ja der Ausdruck insgesamt, unbestimmt bleibt, versteht Delacroix als einen der großen Vorzüge der Malerei gegenüber Literatur und Musik. So lautet die luzide Schlussfolgerung: „For Delacroix, imprecision is therefore definitely a means for being more expressive“. Der Beitrag regt auch dazu an, Delacroix’ Schriften noch genauer nach dem Begriff der Emotion oder nach bestimmten Emotionen zu durchsuchen: Trauer, Entzücken, Melancholie kommen bei ihm häufig vor, wenn er eigene Gefühle oder den Ausdruck in Kunstwerken beschreibt. Den roten Faden in Rainer Wuthenows Abhandlung bildet die Heilung (mehr noch als nur die Zähmung) der Leidenschaften – bei La

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Bruyère, Diderot, La Rochefoucauld, Stendhal und Goethe. Der Anfang berührt sich mit Birgit Reckis Definition des Verhältnisses von Vernunft und Leidenschaft bei Kant. Auch mit der Verbindung der Leidenschaften zum Begriff des Lebens, der Lebendigkeit, geht Wuthenow ähnlichen Fragen nach. Überdies läßt sich der Beitrag gut mit dem von Thomas Kirchner verknüpfen. Als entscheidendes Mittel, die Leidenschaften zu lindern, wird die Liebe gesehen, „die heftigste und am weitesten verbreitete der Leidenschaften“, aber auch Verse und Musik werden als Mittel der Therapie untersucht. Die eigentliche Zuspitzung erfahren Liebe und Leidenschaften da, wo sie sich mit dem Tod verbinden, in Goethes Werther. Die einfach erscheinende, aber schwer zu begreifende Tatsache, „dass Leidenschaft Leiden bringt“, wird hier eindrucksvoll belegt. Zeitübergreifend, jedenfalls von Dante bis Goethe, lässt sich sagen: „Die verstörende, ja zerstörerische Gewalt der Liebe ist nicht zu leugnen; sie hat mit Eitelkeit, Eifersucht, mit Selbstgenuss und Wehleidigkeit nichts zu tun“. Kerstin Thomas unternimmt den verdienstvollen Versuch, Stimmung von Affekten zu unterscheiden. Stimmung wird von ihr nicht als spontane Gefühlsäußerung verstanden, sondern, bezogen auf Malerei, als eine emotionale Einkleidung oder Verhüllung, die der Aufhebung eines persönlichen Gefühls und einer zeitgebundenen emotionalen Qualität dienen kann. Es geht also nicht um „Gewitterstimmung“ usw., sondern um die Befindlichkeit, das Sosein der an der dargestellten Handlung beteiligten Personen – um einen Gleichklang, der sich auf den Betrachter übertragen soll. In diesem Sinn führt die Autorin den Begriff der Stimmung über die Romantik hinaus und untersucht ihn innerhalb der französischen Malerei bis zu Seurat weiter, wobei Millet das wichtigste Bindeglied darstellt. Stimmung kann der Ausdruckssteigerung dienen (diese Seite betonte Charles Henry), kann aber auch eine Reduktion der Mittel erfordern (z. B. durch Verzicht auf Buntfarbigkeit). Ein Vorzug des Beitrags ist, dass Stimmung nicht nur individuell, sondern auch sozial verstanden wird, als Gemeinschaftsgefühl einer Gruppe. Claudia Schmölders untersucht den Begriff der Scham von vier Quellen ausgehend: vom Alten Testament (wo die geschlechtliche Scham im Außenverhältnis zu Gott definiert wird), von der antiken Affektenlehre (wo Scham durch Abweichung von der sozialen Ehre definiert wird), von Darwin 1872 (der eigentlich an den sozialen Aspekt anknüpft) und von Freud vor 1906 (der im Grunde an das Alte Testament anschließt). Der erste Teil enthält von Darwin ausgehend einen Forschungsbericht, der u. a. Simmel, Leonhard, Goffman und Ag-

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nes Heller umfaßt. Freud gerät hingegen etwas ins Abseits. Interessant ist u. a. die Unterscheidung zwischen vermeintlicher und wirklicher Scham und der Begriff der positiven Scham bei Karl Leonhard. Die Behauptung von der Scham bei Tieren berührt sich mit Feststellungen von Damasio. Eine weitere Diskussion könnte sich an der Frage entzünden, seit wann in der Malerei als Ausdruck der Scham das errötende Gesicht eingeführt wurde. Im zweiten Teil wird Knut Hamsuns Roman Hunger als Paradigma für einen umfassenden Scham-Begriff gewählt. Doch dominiert auch hier der soziale Kontext von Scham. Daher geht bei Hamsun mit der Scham einher auch der Wunsch, verborgen bleiben zu wollen, sein Geschlecht zu verbergen oder auch seine soziale Identität zu verbergen. Die vierte Sektion greift unmittelbar auf die Gegenwart zu – dies geschah zwar auch in vorgängigen Beiträgen, aber nun steht die Auseinandersetzung mit dem Gefühlspotential heutiger Architektur, mit Film und Werbung im Mittelpunkt. Dabei spielen in verschiedenen Medien, auch in der Architektur, elektronisch erzeugte emotionshaltige Mitteilungen eine überraschende Rolle. Daniel Libeskind bietet drei Essays über eigene Werke in Osnabrück, Manchester und Berlin, die im Projektstadium beschrieben sind, so dass damit zugleich Einblick in deren Genese eröffnet wird. Jede der drei Architekturen ist symbolischer Art, zwei davon, das Felix Nußbaum-Haus in Osnabrück und das Jüdische Museum in Berlin, sind auf die Judenverfolgung bezogen, das Imperial War Museum in Manchester will Konflikte sichtbar machen und problematisieren. Dieses dritte Beispiel ist insofern besonders überraschend, als es der Tradition von Kriegsmuseen und wohl z. T. auch den Erwartungen der Auftraggeber widerspricht. Interessant ist, dass der Architekt ausdrücklich eine „sentimentale Behandlung des Holocaust-Themas umgehen“ will. Stattdessen will er Ereignisorte und Ereigniszeiten miteinander verketten. Als Mittel dienen ihm dafür, in Osnabrück wie in Berlin, Leere (als Zeichen für Tod und Verbrechen) und Fülle (Zeichen der Vielfalt jüdischen Lebens). Daher schafft er ein prekäres Gleichgewicht von symbolischen Freiflächen und symbolisch verdichteter Geometrie. Segmente, architektonische Brüche, lange Gänge unterstreichen die Ambivalenz und Vorläufigkeit, ja Gebrochenheit der Orte, in denen man diese Zeitwanderung unternimmt. Dagegen ist das Imperial War Museum, obwohl ausgehend von dem konfliktreichen Engagement der Einwohner von Manchester für Kriege, eher Ausdruck einer auf die

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Zukunft gerichteten Strategie der Kriegsvermeidung durch Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Weiterführendes Gedankenpotential ergibt sich aus der Frage, wie die Form diese Inhalte unterstützt. Zwar geht es Libeskind, wie er in der Berliner Ausstellung seines Œuvres 2003 zitiert wird, „nicht um die Form“, aber damit war eine von den Inhalten losgelöste Formgebung gemeint; wohl aber geht es ihm um Form als Ausdruck, als Widerspiegelung von Emotionen. In dieser Verzahnung liegt das Faszinierende seiner Kunst. Peter Eisenman befasst sich mit emotionalem Engagement unter dem Aspekt der Aufarbeitung kollektiver Vergangenheitstraumata. Er unterscheidet, ausgehend von Proust, nostalgia und memory und sieht in letzterem, als Gedenk-Leistung verstanden, eine umfassendere, weiter reichende Aktivität. Mit Derrida begreift er memory-Aktivität als Erweckung einer Spur (trace), in der das Abwesende Gegenwart gewinnen kann. Dafür bedarf es, wie bei der Verlebendigung von Bibelgeschichten, visueller Zeichen. Beispiel einer solch emotionalen Wiedererweckung im Bereich der Architektur ist Piranesis Stich des Campo Marzio, in dem das alte Rom zwar als alt evoziert wird, aber doch als von der Gegenwart durchdrungener, belebter Stoff Gestalt annimmt und auch gefühlsmäßig verarbeitet werden kann. Piranesis emotionsrelevante Leistung ist es, damit ein bewusst brüchiges Verhältnis von Raum und Zeit repräsentiert zu haben, „urbanism as a tissue of memory“ oder, mit Peirce, als „index“. Ebenso soll das Berliner Holocaust-Mahnmal, ohne hierarchische Anordnung, eine „interstitial trace in time and space“ bilden; die Pfeiler sollen als bewegte Spur auf bewegtem Boden Emotionen generieren und transportieren. Auch hier ist, wie bei Piranesi, der brüchige Grund wichtig – „no single ground plane as a datum reference“; nur deshalb können die Pfeiler als „notational reference“ wirken. Notation aber nicht mit dem Ziel der Objektivierung, vielmehr produzieren die Pfeiler eher Orientierungslosigkeit, ein Gefühl der Fremdheit (strangeness) und des Andersartigen (otherness). Durch verunsichernde Notationen dieser Art werden Affekte hervorgerufen, wobei der Autor mit Freud Gefühl als ersten emotionalen Zugriff und Affekt als dessen Vertiefung begreift. Jedoch will er die Prozessualität dieses Erlebnisses festhalten, daher ein Monument „without explicit meaning“ schaffen, denn eine festgelegte Bedeutung würde die emotionale Auseinandersetzung zu Statik gerinnen lassen. Damit propagiert er die (von Freud schon angesichts der Greuel des Ersten Weltkriegs für aporetisch gehaltene) Fortsetzung von Traum und Imagination. Bezüglich des riesigen Stelenfeldes wird

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weiterhin zu diskutieren sein, wie der Besucher von der Monumentalität der Betonpfeiler nicht nur überwältigt wird, sondern auch seine psychische Unabhängigkeit bewahren kann. Eisenman hofft, dass das Monument weniger überwältigen als vielmehr den Besucher anregen wird, mit seinen rationalen und emotionalen Fähigkeiten ein analoges tissue in sich selbst zu erschaffen. Lars Spuybroek versucht, eine architektonische Struktur des Unbestimmten (vagueness) zu entwerfen. Ausgangspunkt ist ein von Frei Otto in den 1970er Jahren entworfenes Verfahren, durch biegsame Materialien und deren flexible Anordnung die Anmutungsqualität von Architektur zu erhöhen. Spuybroek selbst konzentriert sich auf Methoden, mit deren Hilfe er vor allem urbanistische Strukturen besser sichtbar machen will. Dafür verwendet er nasse Wollfäden, die Verdichtungen, Überkreuzungen usw. visualisieren können, ohne sich zu einer starren Ordnung zusammenzuschließen. Erstrebt wird eine unbestimmte Ordnung (vague order), die aber zugleich präzise, weil trotz vieler Löcher in sich vollständig, ist. Vorbild ist die reale Bewegung des Wassers, die zugleich eine Struktur ausbildet. Wie im Wasser treffen in diesem Netz sich kreuzende Energien (a field of potentials) aufeinander, aus denen eine neue Qualität resultiert: Intensität. Das trockene Netz könnte man als das rationale bezeichnen, das nasse als das emotionale; das zweite ist dem ersten überlegen an Dichte und Fülle der Kombinationsmöglichkeiten. Unbestimmtheit in diesem Sinne setzt sich somit aus unterschiedlichen Feldern und Vektoren zusammen, die sich gegenseitig bedingen und halten; daher ist das Ergebnis eine „solide Unbestimmtheit“. Diese läßt sich vergleichen mit Pollocks action painting, wo nicht endende ‚Fäden‘ die Spuren zu einem Wegesystem markieren. Die eigenen Variationen über Frei Ottos System zeigen sich am deutlichsten im Pariser Projekt La Défense. Von Interesse wird sein, wie lange die Bewohner von Doetinchem im Gelderland die „network entities“ akzeptieren, in denen Emotionen mit dem Alltag verknüpft und vom Architekten spielerisch ‚verordnet‘ werden, so dass z. B. eine am D-Tower sichtbare Emotion wie Hass, Liebe, Glück und Furcht zur Number One eines Tages gewählt werden kann. Rudolf Herz untersucht kollektive Gefühlsregungen und deren Folgen am Beispiel der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Wie weit, fragt er, kann man kollektive Schuldgefühle durch Provokation stimulieren, und soll man das? Wieweit sind diese Schuldgefühle wirklich ‚Erbe‘ einer Nation, wieweit müssen sich die Nachgeborenen schuldig fühlen oder Reue-Bußen auf sich nehmen?

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Der ursprüngliche Gedanke, einen ‚Stolperstein‘ durch Pflasterung einer Autobahnkilometers (mit Zwang zur Verlangsamung) zu inszenieren, wird von Herz widerrufen, weil die Nachkommenden nicht zum Eingeständnis einer Schuld gezwungen werden dürften, für die sie keine Verantwortung tragen. Weiter diskutieren ließe sich die letzte These. Zwar trifft die Nachfahrenden keine unmittelbare Schuld, aber sie gehören doch zu einem sozialen Körper, der sich als Nation definiert; daher kann und soll auch die nachwachsende Generation Erinnerungsarbeit leisten, ja man darf ihr das sogar abverlangen und wird das wohl begrifflich trennen müssen von der konkreten Baumaßnahme, die in der Tat Zwang bedeutet hätte (und daher von vornherein nur als Provokation gedacht war). Régis Michel hat das Video als Gegenstand seiner Untersuchung gewählt, weil es nach Auffassung des Autors das Medium ist, das technisch besonders fortgeschritten und zugleich am offensten für die Aufnahme kritischer Positionen ist. Zugleich ist es nach Auffassung des Autors ein Medium, in dem nicht die traditionelle Männerherrschaft dominiert. Michel untersucht daher (anhand der drei Beispiele Faces as Masks, Passions as Affects, Bodies as Mummies) die in den Videobildern latent oder offensichtlich geübte Kritik an Standards und Normen, die vor allem von der maskulin dominierten Psychoanalyse hervorgebracht worden seien. Dabei greift der Autor eine Reihe von Freudschen Termini auf, wie Urszene, Urphantasie, Wiederholungszwang oder Trauerarbeit, die ihre Nützlichkeit für die Analyse von emotionalem Ausdruck erweisen – dies auch dann, wenn bestimmte Begriffe, wie Hysterie, als von Freud selbst produziert bezeichnet werden. Die Beweisführung erfolgt sehr eng am Bild, dazu in einem dichten, aphoristischen Sprachduktus. Weiter geführt werden könnte die Kritik des Mediums und der drei Beispiele nach Form und Inhalt, doch ist dies ein nächster Schritt – ebenso wie die Kritik an der Kritik der Freudschen Begriffe. Gertrud Koch untersucht den physischen Ausdruck einer multivalenten Emotion: das Weinen, dies aber in einem bestimmten Erlebnisund Rezeptionsrahmen, im Kino. Die Kernfrage, ob es spezifische Emotionen seien, die den Filmen anhängen und dort u. a. den Tränenausbruch hervortreiben, beantwortet sie mit der Feststellung, die Ursache dafür liege „im mimetischen Vermögen des Bewegungsbildes als Ausdruckssystem“. Da dieses System nicht allein auf das Weinen, sondern auf alle Emotionen Auswirkungen hat, wird weiterhin bedacht, dass das filmische Melodrama uns zum Weinen bringt, weil es von ei-

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nem moralischen Konflikt erzählt, „auf den es keine Antwort gibt“. Adorno, Wollheim, Plessner, Brooks und Carroll fundieren diese Theorie der Semantik des Weinens und seines dramatischen Ausdrucks. Paradimatisch werden Charles Chaplins A Dog’s Life, King Vidors The Crowd, Max Ophüls’ Sans Lendemain und Mervin LeRoys Quo Vadis analysiert. Über die Aufführung einer Tragödie hinaus könnte das Medium Film das Weinen anregen, weil im Melodrama „der Wunsch zu zergehen“ intendiert ist. Eine weiterführende Frage könnte sein, ob nun im Sinne Benjamins das Kino als Ort des zerstreuten Beieinanders diesen Effekt auslöst oder verstärkt, oder ob man ihn genauso vor dem Fernseher erleben kann. Josef Früchtl behandelt Coolness als „soziales Phänomen der Ästhetik“. Wie erklärt sich kaltblütig-geschäftlicher Auftragsmord ästhetisch, als Darstellung, welcher Typus des Helden tritt uns entgegen? Der Held ist hier, entgegen der von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein gültigen moralischen Definition, jemand, der Heldentum zur Schau stellt. Er ist Darsteller seiner selbst; zwischen Held und Heldendarsteller liegt also eine ästhetische Differenz (Entzweiung). Bei Aristoteles, bei Hegel, bei Baudelaire und bei Benjamin kündigt sich diese Entzweiung, zunächst innerhalb der Künste, dann auch in der Differenz zwischen Kunst und Leben, immer schärfer an, bis im Kino der Gegenwart der Schauspieler den Helden völlig imitiert und parodiert. Insofern ist der „coole Typ“ der Gegenwart die ‚Vollendung‘ des Helden, „die zelebrierte Imitation seiner selbst“. Dazu gehören Nonsense-Komik und Parodie des Individualismus – womit das Pathos der Neuzeit schlechthin auf den Prüfstand kommt. Richard Rorty, Georg Simmel und Helmuth Plessner liefern als Theoretiker dieses Phänomens (oder dessen Vorstufen) Definitionselemente: Blasiertheit als Bewertungsverweigerung, als Paradox einer ‚ethischen‘ Leistung, zugleich als „Entlastung und Verhüllung des Persönlichen“. Das steigert sich im Kino heute dazu, dass man „zum Zwecke der Selbsterhaltung Indifferenz zur Schau stellt“. Kennzeichen der Coolness ist daher Selbstreferenz, die „Tendenz, […] sich um sich selbst statt um eine Sache zu drehen“. Michael Schirner arbeitet bei der Erregung von Emotionen mit Paradoxien. Einerseits gestaltet er seine Werbungen kühl, reduziert, scheinbar emotionslos. Andererseits widmet er vor allem seine Aufklärungskampagnen hoch emotionalisierten Sujets: dem nackten Körper, Kindesmisshandlung, Tod und Krankheit. In der Konfrontation von Sachlichkeit und bewegender, negativer Thematik liegt das eigentlich aufrüttelnde Moment. So konterkariert Schirner beispielsweise in der

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Anti-Aids-Werbung das emotional stark besetzte Thema mit der lehrbuchartigen Darstellung vom Gebrauch eines Kondoms. Zu dieser Strategie gehört der Tabubruch, eine Anti-Aids-Kampagne als Pro-SexWerbung zu gestalten. Auch die Reklame für eine Kreditversicherung baut auf Kontraste: Hier unterläuft der Text die übliche Werbung. Denn er behauptet nicht eine Position, von Sicherheit und Gediegenheit etwa, sondern legt eine Negation offen: Tod und Verderben. Diese Negation wiederum bricht der Werbefachmann im Sinne des schwarzen Humors. So haben wir ein praktisches Beispiel für den Gebrauch vermischter Emotionen in einem visuellen Medium vor uns: Humor und Schrecken. Ähnlich paradox, doch in anderem Sinne, verfährt Schirner bei der Polit-Kampagne für die Grünen im Bundestagswahlkampf 1998. Er spielt Heiterkeit gegen politischen Ernst aus. Das einfache Ü – Bestandteil des Wortes Die Grünen – soll einerseits für Kompetenz auf allen politischen und wirtschaftlichen Gebieten stehen, andererseits bietet der Buchstabe nichts anderes als die physiognomische Allusion eines Lächelns. Diese Strategie vermag das für die Deutschen behauptete Klischee von Humorlosigkeit und Bierernst zu konterkarieren, das Fehlen eines Programms kompensiert sie allerdings nicht. Vielmehr scheint imageträchtiger Lifestyle gegen inhaltliche Auseinandersetzung gesetzt. Was für Produktwerbung neue Strategien eröffnet, mag für die Politik ergänzungsbedürftig sein. Bernhard Stumpfhaus untersucht den emotionalen Kontext zeitgenössischer Werbestrategien von der Produzenten- wie von der Rezipientenseite aus. Warnkes Forderung nach Analyse der „visuellen Gestaltungskultur“ ernst nehmend, fragt er nach ästhetischen Unterscheidungsmerkmalen zwischen Kunst und Werbung. Da Werbung durch „genuine Merkmale der Kunst“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit errege, bestreitet er eine grundsätzliche Unterscheidbarkeit. Am Beispiel des BVG-Urteils zur Benetton-Werbung der 1990er Jahre weist er nach, dass das Gericht nur die Faktizität bewertet hat, aber die – emotionsgenerierende – Formstruktur unbeachtet ließ. Damit wird vom BVG gerade das außer acht gelassen, was den Betrachter affiziert und die Anklagen provoziert hat. In der Werbung spiegelt sich nur die vorher von der Gesellschaft vollzogene Ächtung z. B. von AIDS-Kranken wider. Die Schockwirkung von Benetton-Werbung kann durch Vergleich mit herkömmlicher Produktwerbung geklärt werden. Die Nikon-Werbung z. B. hebt darauf ab, die von ihr produzierte Kamera in Kriegs- und Elendszeiten als das einzige Organ von Sicherheit und Zuverlässigkeit darzustellen. Katastrophenbilder sollen die gegenteilige

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Erwartung (Bannung von Angst und Schrecken) hervorrufen. Die Kamera wird dadurch zum magischen Objekt: Sie bietet Sicherheit in Zeiten des Schreckens. Benetton hingegen erfüllt die Erwartungen an Werbung nicht; Toscani brandmarkt, er beruhigt nicht. Dies gilt auch für die Werbung mit der blutverschmierten Uniform eines Serbo-Kroaten 1994 und für die Ölpest von 1992, bei der man nicht beruhigt, sondern von der Ästhetik des Bildes fasziniert wird, um dann dem Bild des Todes ausgeliefert zu werden. Ähnlich wirkt die rote Farbe in Blutfleck von 1999–2000, eine Werbung für den UNHCR. Toscani arbeitet hier wie in der Kampagne „David Kirby – A ‚Pietà‘ “ von 1992, die Stumpfhaus als weiteres Beispiel anführt, mit klassischen Mitteln der bildenden Kunst, wobei aber kampagnenübergreifend das gleich bleibende Firmenlogo zur bindenden, Vertrauen erzeugenden Kraft wird. Zwischen Erregung und Beruhigung hält die Werbung den Kunden jedoch im Zustand „permanenter Dissonanz“. Sie produziert Begehren und Verdrossenheit zugleich. Das, so diagnostiziert der Verfasser, hat über diese Branche hinaus fatale Folgen, da sie bei den Adressaten statt Wohlwollen emotionslose Distanz und unberechenbare Willkür erzeugt. Toscani reagiert mit seinen Werbestrategien bereits auf diese „Krise der Emotionen“.

Anmerkungen 1. Vgl. den Beitrag von Wolfgang Tunner im vorliegenden Band. 2. Vgl. den Beitrag von Birgit Recki im vorliegenden Band. Zum Terminus Empfindung um 1800 vgl. auch Ursula Franke, Dramaturgische Typik der Affekte. J. J. Engels Beitrag zur Ästhetik der Schauspielkunst um 1800, in: Sorgfalt des Denkens. Festschrift für Brigitte Scheer, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, von Siegfried Blasche und anderen, Würzburg 1995, 136–159, bes. 138. Weitere Literatur bei Odmar Neumann/Rainer Piepmeier, Empfindung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 456–474. 3. Vgl. ergänzend die philosophiehistorische Abhandlung von Karl Albert, Das Staunen als Pathos der Philosophie, in: Pathos – Affekt – Gefühl. Philosophische Beiträge, hg. v. Ingrid Craemer-Ruegenberg, Freiburg/München 1981, 149–171. 4. Vgl. u. a. Gerhard Roth, Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 279, 1.12.2003, 31 (mit Rückverweis auf eine Diskussion, an der sich Wolf Singer, Klaus Lüderssen, Hans-Ludwig Kröber, Eberhard Schockenhoff und Gerhard Roth selbst beteiligt hatten); vgl. schließlich Reinhard Olivier, Wonach sollen wir suchen? Hirnforscher tappen im Dunkeln, ebd., Nr. 290, 13.12.2003, 35. 5. Wolfhart Henckmann und Wolfgang Lenzen untersuchen in ihren Beiträgen im vorliegenden Band Intensität – aber aus philosophischer Sicht. Zum Begriff der Empfindung

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aus naturwissenschaftlicher Sicht vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain, New York 1994, dt. Ausg. Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995, 41999, 7. Kapitel: Gefühle und Empfindungen, 178–226, bes. 181, 198–201, 206–213, 220–226. Damasio versteht unter Empfindungen jedoch nur neuronale Vorgänge, durch die Veränderungen in unserer Wahrnehmung mit Auswirkung auf emotionale Reaktionen ausgelöst werden. Vgl. auch Anm. 11. – Zur Entlastung dieser Einführung sei ferner verwiesen auf Detlef B. Linke, Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren, Reinbek b. Hamburg 2001; Michael Pauen/Gerhard Roth, Neurowissenschaften und Philosophie. Eine Einführung, München 2001; Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a. M. 2001, 22003; ders., Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003; Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002, 22003; ders., Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003. 6. Der Tastsinn und das Gemeingefühl [1834], 2. Aufl. Leipzig 1905. Vgl. ferner Neumann/Piepmeier 1972 [Anm. 2].- Es versteht sich, dass an dieser Stelle nicht auf den, stärker eingegrenzten, Begriff der Empfindsamkeit eingegangen werden kann, den Lessing mit Blick auf Laurence Sterne, Samuel Richardson und James Macpherson zwar nicht als erster verwendet, aber entscheidend weiterentwickelt hat. 7. So etwa Wolfgang Singer gegenüber dem Vf. (mehrfach mündlich). 8. Ich beziehe mich hier auf das letzte Werk des Autors zu diesem Komplex: Antonio R. Damasio, Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain, New York 2003, dt. Ausg. Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München 2003, besonders 14, 37–40, 42–45, 65–67. 9. Ebd., 72–73, 86–87 Am Beispiel einer Patientin zeigt Damasio, „dass erst die Emotion Traurigkeit da war. Dann folgte das Gefühl der Traurigkeit […]“. „Zuerst kam die Emotion, dann das Gefühl“. Doch wenn es weiter heißt: „Bevor sich bei ihr eine Emotion namens Traurigkeit einstellte, […] empfand [sie] auch kein Gefühl der Traurigkeit“, dann ist damit streng genommen nur Gleichzeitigkeit, kein Vorher – Nachher bewiesen. 10. Ebd., 59. 11. Ebd., 51–58. Die Rubrizierung bleibt unklar: Unter den ‚eigentlichen‘ Emotionen versteht Damasio (S. 51) Ekel, Furcht, Glück, Trauer, Mitleidgefühl und Scham (wobei im Falle des Mitleids Emotionen und Gefühl synonym gebraucht werden); später (S. 55) werden die ‚eigentlichen‘ Emotionen unterteilt in ‚Hintergrundemotionen‘, ‚primäre‘ und ‚soziale‘ Emotionen. Hintergrundemotionen repräsentieren (S. 57) eine noch nicht näher bestimmbare Befindlichkeit (Entmutigung oder Begeisterung); unter den ‚primären‘ Emotionen werden (S. 57) Furcht, Wut, Ekel, Überraschung, Traurigkeit und Glück ‚am häufigsten‘ genannt; zu den ‚sozialen‘ Emotionen gehören (S. 58) Mitgefühl, Verlegenheit, Scham, Schuldgefühle, Stolz, Eifersucht, Neid, Dankbarkeit, Bewunderung, Entrüstung und Verachtung. Es handelt sich also in Wahrheit um einander vielfältig überlappende Begriffe. Wie wenig gefestigt diese Begrifflichkeit noch ist, zeigt sich auch darin, dass Damasio in Descartes’ Irrtum [Anm. 5] von „Hintergrundempfindungen“ sprach. 12. Damasio [Anm. 8], 160. 13. Manche dieser Verben haben sogar eine deutliche Zunahme an Verbreitung erfahren: „ich hasse das“ sagt man heute für jede Kleinigkeit, während „hassen“ bis etwa 1970, von hohem Pathos getragen, nur für Extremsituationen oder in dramatisch zugespitz-

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ten Szenen auf der Bühne verwendet wurde. Auch in der Politik erleben wir einen Ausverkauf von Emotionen, der nicht unproblematisch ist, weil er die auf rationale Diskurse angewiesenen demokratischen Gesellschaften erfaßt hat; darin wird ein Gefühlsdefizit sichtbar, das sich in Freizeitaktivitäten entlädt, zunehmend aber auch den Arbeitsalltag durchsetzt. „Spielstädte“ oder mit Spielen ‚imprägnierte‘ Städte (wie von Lars Spuybroek entworfen) lassen sich als Versuch verstehen, diesem Defizit zu begegnen. Vgl. auch Klaus Herding, Die Kunstgeschichte und die neue Sinnlichkeit: Das Beispiel von Disneyland’s Toontown, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter. Zeitschrift für Studium und Hochschulkontakt, H. 4, 2001, 5–16. 14. Natürlich korrespondiert Mimik mit gesellschaftlichen Konventionen und leistet insofern Übereinkunft, auch dann, wenn diese Mimik unverständlich bleibt (wir alle wissen, dass wir die Mimik eines anderen Kulturkreises, z. B. die Mimik der Mitspieler in einer chinesischen Oper, nicht ad hoc entziffern können; bei einer im Jahre 2002 im Fernsehen gezeigten China-Oper verblüffte, dass man aus den Mienen der Chinesen gar nicht auf ihre Gefühle schließen konnte: Ein lächelnder Gesichtsausdruck war nicht kompatibel mit der im Wortband gegebenen Simultanübersetzung, die oft konträre Gefühle ausdrückte. Wie schon Fritz Saxl betont hat (in der in Anm. 43 nachgewiesenen Untersuchung, dort S. 16), sind uns „die meisten Gebärden des Chinesen ohne Unterricht undeutbar“. Es gibt also tatsächlich einen grundverschiedenen westlich oder östlich geprägten Gefühlsausdruck, was ganz gegen allgemeine anthropologische Ausdrucks- oder auch Schönheitschiffren spricht (die, wenn auch differenzierten, Aussagen von Paul Ekman, Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, hg. und übers. v. Maria v. Salisch, Paderborn 1988, 36–41, zu dieser Frage sind immer noch zu oberflächlich, vielleicht gewollt optimistisch). Hier im Westen unterscheiden sich die Gefühle im 20./21. Jahrhundert wiederum grundsätzlich von früheren, weil sie ökonomisch nutzbar geworden und deshalb in die Werbung eingegangen sind. Aber trotz dieser Einschränkung fungiert Mimik als Außensignal. Nur ist sie in Relation zur Gestik stärker ein selbstbezogener Reflex als ein nach außen gerichtetes Programm, sie muss jedenfalls nicht programmatisch kodiert sein. 15. Zwar ist ‚Übereinkunft‘ kein unabdingbarer Bestandteil einer Definition von Emotion, weil viele Gemütsbewegungen gemischter Natur sind. Gleichwohl wirbt noch der Hassende, sogar der sich selbst Hassende, um Mitstreiter, um Zuwendung, um concinnitas, um das Verständnis anderer also, und im Ausdruck des Hasses wirbt er zugleich um ein freundliches Mitgefühl. 16. Zitate aus Damasios Vortrag über Neurobiology for Emotion and Feeling in der Siemens-Stiftung in München am 25.10.2001. Diese Position wird auch in Der SpinozaEffekt vertreten, vgl. dort [Anm. 8], 38: „Im Kontext dieses Buches sind Emotionen also Akte oder Bewegungen, die größtenteils öffentlich und sichtbar für andere sind […]. Dagegen sind Gefühle immer verborgen […]“. Wenn man aber, Damasio folgend, zwischen individuellen Gefühlen und sozialen Emotionen unterscheidet, dann gibt es in der Kunst nur Emotionen, weil sich Kunstwerke, abgesehen von vorbereitenden Skizzen, in aller Regel an ein Publikum, an einen Ansprechpartner, richten, also eine soziale Option verfolgen. 17. Michael Fried, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley 1980. 18. Brigitte Scheer, Gefühl, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Berlin 2000, 629–660. 19. Zu diesem Terminus vgl. wiederum Franke 1995 [Anm. 2], bes. 138 und 155. – Auch die deutsche Übersetzung von Charles Darwin, The Expression of the Emotions in

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Man and Animals [1872, Reprint Chicago 1965] verfährt so. Ihr Titel lautet: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, Stuttgart 1872. 20. Damasio [Anm. 8], 199–200: „Die wissenschaftliche Analyse der sozialen Emotionen steckt noch in den Kinderschuhen. 21. Rainer Krause, Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre, 2 Bde., Stuttgart 1997–98, hier Bd. 1 (Vorstellung der Gefühls- und Zeigeregeln sowie der Basiseffekte). Dem Lehrbuch liegt allerdings bereits das spezialisierte EMFACS (Emotion Facial Action Coding System) zugrunde, auf das FACS geht Krause nur in älteren Aufsätzen ein (Mimische Indikatoren von Übertragungsvorgängen [zusammen mit P. Lütolf], in: Zeitschrift für Klinische Psychologie 18, 1989, 1–13), sowie in seinem Beitrag in: What the Face Reveals. Basic and Applied Studies of Spontaneous Expression Using the Facial Action Coding System (FACS), hg. v. Paul Ekman, New York 1997. Grundlegend jedoch Ekman [Anm. 14]. 22. Vgl. Martin Walser, Über ein Geschichtsgefühl – Vom 8. Mai 1945 zum 9. November 1989: Die Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa, Rede über Nation. Patriotismus. Demokratische Kultur am 8.5.2002 im Berliner Willy Brandt-Haus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 107, 10.5.2002, 46; ferner: Schicksal und Genossen, in: Der Tagesspiegel, Nr. 17758, 10.5.2002, 1, wo der Anteil des Emotionalen und des Rationalen behandelt wird. 23. Dazu: Leibniz sagt: Ein und dasselbe Gefühl kann gut und schlecht sein – wohl als Kritik an René Descartes, Die Leidenschaften der Seele (Les passions de l’Ame, Paris 1649), hg. u. übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1996, Teil II, Art. 56 f., S. 97. 24. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle erkor diesen Ausdruck im Mai 2002 zu seinem Wahlkampfmotto. 25. Nachdem ein ehemaliger Schüler am 26.4.2002 in Erfurt 16 Personen und zuletzt sich selbst ermordet hatte, deutete Frank Schirrmacher, Die Haßindustrie – eine Emotion wird Ware: Das Internet gibt Mördern das Gefühl, nicht alleine zu sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 100, 30.4.2002, S. 47, einen möglichen Zusammenhang zwischen dieser Webseite und der Erfurter Bluttat an. Das hat sich zwar nicht wörtlich bestätigt; das hatedirectory.de wurde jedoch wenige Tage später aus dem Netz genommen. 26. Rede in der Frankfurter Paulskirche 1998. 27. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 20, 19.5.2002, Titelschlagzeile. 28. Robert Schlesinger: „Die emotionale Revolution“. Die Oper als Schlüssel zu den 150 Jahren des 19. Jahrhunderts, Wien 2001; besprochen von Ellen Kohlhaas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 118, 24.5.2002, 49. 29. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, zuletzt Frankfurt a. M. (Fischer Taschenbuch) 2002. 30. Ralph-Rainer Wuthenow, Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft, Heidelberg 2000; ferner Scheer [Anm. 18], 629–660. 31. Vgl. Descartes [Anm. 23], Teil I, Art. 50, S. 85 und 89: „Es gibt keine Seele, die so schwach ist, dass sie nicht, wenn sie richtig geleitet ist, eine absolute Macht über ihre Leidenschaften erlangen kann“. Vgl. auch Franke [Anm. 2], 136–159. 32. Aus dem Phänomen, dass in der hohen Politik oder im Arbeitsalltag emotionale Ausbrüche von Zorn und Langeweile, von Lust und Überdruss zunehmend gewollt sind, kann man noch nicht auf eine Verschiebung zugunsten der Emotionalität schließen; auch nicht aus dem Phänomen, dass Rockfans ihren Gefühlen freien Lauf lassen kön-

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nen, denn in der Regel geschieht das in abgeschotteten Bezirken und dient, als wohlberechneter Freilauf, der Erhöhung der Arbeitsproduktivität. 33. Mit Kant sieht Recki Gefühle nicht außerhalb, sondern innerhalb der Vernunft selbst integriert. Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001, 179, 303. 34. Gabriele Sprigath, Themen aus der Geschichte der römischen Republik in der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts, 2 Bände, München 1968. Angesichts des Bildes Der Tod des Brutus von Jean Harriet schrieb ein Kritiker 1793: „J’ai voulu pleurer […]“, aber auch: „David fait couler les larmes en abondance, et le tableau n. 3 [Harriet] a seulement fait venir les larmes aux bords de ma paupière“ (ebd., Bd. I, 193). 35. Ein signifikantes Beispiel bei Carolin Dieterich, Wenn ein Schraubenzieher das Herz anrührt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Rhein-Main-Zeitung), Nr. 144, 25.6.2002, 57. Hier wird der Texter der Frankfurter Agentur Michael Conrads & Leo Burnett, Andreas Stalder, wie folgt zitiert: „‚Emotionalisierung‘ heißt das Zauberwort. ‚Sie stellt eine Art persönliche Beziehung zwischen der Marke und dem Käufer her‘, weiß Stalder.“ Offensichtlich rückt das Bedürfnis nach emotionalen Offensiven stärker als früher in das Bewusstsein der Werbestrategen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Bernhard Stumpfhaus in diesem Band. 36. Die Sendungen unter Leitung von Volker Panzer sind einschließlich der Interviews mit seinen Gesprächspartnern wiedergegeben in der Publikation Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens, hg. vom ZDF-Nachtstudio, Frankfurt a. M. 2000. 37. Hier wird dieser Missbrauch der Emotionen als Gegenwartssymptom besonders betont. Damit soll wirkliches Mitgefühl freilich nicht ausgeschlossen werden. Der Anblick von geschändeten Kindern etwa weckt nach wie vor große Betroffenheit und enorme Rachegelüste, ja sogar Forderungen nach Zensur und Todesstrafe. Auch die Liveübertragung eines Schulmassakers kann zutiefst verstören und entsetzen. Aber die allabendliche Darbietung von Greueltaten inner- und außerhalb der Fernsehnachrichten erzeugt entweder einen Gewöhnungseffekt oder aber vitale Abwehr. So kann man z. B. als Mitglied der HPPNW (Health Physicians for the Prevention of Nuclear War) das Nachrichtenblatt dieser Vereinigung, deren Ziele man unterstützt, kaum mehr lesen. Die ständigen Bedrohungen und Menschenrechtsverletzungen, von denen dort berichtet wird, wirken paradoxerweise zugleich als emotional unerträglich und als permanente déjà vu-Erlebnisse, ja als langweilig, denn man kennt die Schlussfolgerung eines jeden Artikels im voraus. Zudem scheint die von Ursula Franke und Brigitte Scheer in diesem Band betonte moralische Komponente ästhetischer Gemütsbewegungen außerhalb des ästhetischen Bereichs, im heutigen Alltag, ineffektiv zu sein: Moralisches Engagement verbindet sich gegenüber schrecklichen Ereignissen eher mit dem Gefühl der Hilflosigkeit. 38. Vgl. Damasio [Anm. 5], 11. Kapitel: Eine Leidenschaft für das Denken, 325–333, Zitat 325. Dieser Versuch zeigt vor allem, wie aktuell das begriffliche Klärungsbedürfnis ist. Damasio bezieht sich hier auf Descartes [Anm. 23], Teil I, Art. 13, S. 25, wo dieser davon ausgeht, „dass die Töne, die Gerüche, die Geschmäcker, die Farbe, der Schmerz, der Hunger, der Durst und alle Gegenstände sowohl der äußeren Sinne (sens extérieurs), als auch unserer inneren Triebe (appétits intérieurs), bestimmte Bewegungen in unseren Nerven hervorrufen, die durch sie dem Gehirn zugeleitet werden. 39. Thomas Kirchner, L’Expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991. 40. Figures de la passion, catalogue rédigé par Emmanuel Coquery et Anne Piéjus, Paris 2001.

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41. Descartes [Anm. 23], Teil I, Art. 17, S. 33; vgl. auch ebd., Art. 20, S. 37 und vor allem Art. 27–29, 47–49, wo die Leidenschaften der Seele definiert werden als „Wahrnehmungen oder Empfindungen oder Emotionen“, S. 47 („des perceptions, ou des sentimens, ou des émotions de l’âme“, S. 46). Im Grunde sind wir über diese begriffliche Nichtunterscheidung kaum hinaus gediehen. Der heute primär geisteswissenschaftlich gebrauchte Begriff des Pathos wird ohnehin in den einzelnen Disziplinen ganz unterschiedlich gefasst. Vgl. auch Reinhard Meyer-Kalkus, Pathos, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 193–199. 42. Vgl. Martin Warnke, „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz“, in: Martin Warnke/Werner Hofmann/Georg Syamken, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980, 113–186. 43. Fritz Saxl, Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst, in: Bericht über den XII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg vom 12. bis 16. April 1931. Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Psychologie hg. v. Gustav Kafka, Jena 1932, 13–25. 44. Ebd. 21 (Warburgs Ausdruck). 45. Damasios These, dass die emotional besetzte Betrachtung eines Objekts nur dann zum Gefühl wird, wenn dadurch der Zustand des Objekts modifiziert wird, kann für Kunstwerke nicht akzeptiert werden. „Gefühle sind interaktive Wahrnehmungen“, schreibt der Autor in Der Spinoza-Effekt [Anm. 8], 110, und weiter: „Im Falle des Gefühls kann sich das Objekt selbst radikal verändern“ (ebd., 111). Hingegen: „Sie können Picassos Guernica so intensiv, so lange und so emotional betrachten, wie Sie möchten, das wird keinerlei Auswirkungen auf das Gemälde selbst haben. Ihre Gedanken dazu mögen sich natürlich verändern, doch das Objekt bleibt unversehrt, so ist zumindest zu hoffen. Im Falle des Gefühls kann sich das Objekt selbst radikal verändern. Gelegentlich ist es so, als nähme man einen Pinsel und frische Farbe und veränderte das Gemälde.“ Demnach scheint es so, als sei die emotionale Zuwendung zu einem Gemälde nicht unter „Gefühle“ zu subsumieren. Die physische Veränderbarkeit des Objekts ist jedoch keine notwendige oder gar hinreichende Bedingung für die Genese von Gefühlen gegenüber Kunstwerken. Die fiktionale Form des letzten Satzes lässt den Leser im Unklaren, ob Kunstwerke nach Damasios Auffassung nun doch Gefühle auslösen können. Zunächst sind für Damasio Gefühle Bestandteil innerhalb eines über das Gehirn vermittelten psychophysischen Vorgangs. In diesem Regelkreis gibt es nichts Äußeres. Mit Warburg ist aber zu fragen, ob Instrumente (wie der Pinsel) nicht doch gewissermaßen dem Körper einverleibt werden können. Damasio selbst spricht in vergleichbarer Weise vom Strand, der schon durch das Aufwühlen von Sand ‚angeeignet‘ und verändert wird. In diesem Sinne kann man ebenso gut Leinwand, Farbe und Pinsel als Teil einer psychophysischen Interaktion verstehen, die über das Gehirn Einfluss auf den erweiterten Körper nimmt. Es ist nicht einzusehen, dass man in dieser Hinsicht grundsätzlich zwischen Natur und Kunst unterscheidet. 46. Gleichnis versus Ereignis. Krieg und Frieden in den Künsten, in: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden, hg. v. Klaus Garber, Jutta Held, Friedhelm Jürgensmeier, Friedhelm Krüger und Ute Széll, München 2002, 981–998. 47. Giovanni Battista della Porta, Fisignomia, Venedig 1613, Kap. III, f° 132 r° (Occhi molto piccioli…), Kap. III, f° 138v° (Occhi rivolti alla destra…), Kap. IV, f° 160 v° (Capelli crespi…), Kap. IV, f° 161 v° (Capelli rari…).

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Klaus Herding

48. Herrn Prof. Dr. Hans Hacker, ehem. Direktor des Instituts für Neuroradiologie der Universitätskliniken Frankfurt a. M., sei an dieser Stelle für die Überlassung seiner Stellungnahme gedankt. 49. Aus Thomas Klings vielfältigem Werk seien wenigstens noch folgende Titel genannt: Erprobung herzstärkender Mittel. Gedichte, Düsseldorf 1986, Frankfurt a. M. 21994; Nacht, Sicht, Gerät, Frankfurt a. M. 1993; Morsch. Gedichte, Frankfurt a. M. 1996; Fernhandel, Köln 1999; Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, Köln 2001; Botenstoffe, Köln 2001. 50. Trotzdem müssen wir uns nicht darauf beschränken, die Gefühle der Rezipienten zu untersuchen. Zwar hat Heinrich Wölfflin am Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur [1899] die Reaktion des Betrachters mit den angenommenen Absichten des Urhebers in eins gesetzt; objektiv und über die Zeiten hinweg glaubte er seelische Qualitäten, ja sogar Stimmungsfaktoren einzelner architektonischer Formen bestimmen zu können. Aber trotz dieser Vermengung von Betrachter und Künstler war er der erste, der wenigstens die Frage stellte, warum sich jemand durch einen Bau angezogen oder abgestoßen fühlte. Die Diskussionen unter heutigen Architekten können als eine Fortsetzung dieser Frage verstanden werden. 51. Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Pathos – Affekt – Gefühl [Anm. 3], 131–148. 52. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 219, 20. 9. 2001, 49 (Der Mann, der am 11. September nicht vor dem Fernseher saß: Ein Interview mit Paul Virilio/Mit der Liveschaltung beginnt der Polizeistaat – die Wolkenkratzer werden geschleift werden wie einst die Stadtmauern: Erster Ausblick auf den Krieg). Vermutlich dachte Virilio an die abstumpfende Wirkung der Wiederholung, wodurch gerade die im Fernsehen gezeigten Bilder die Anmutung des Schreckens vernichten. Was die Schnelligkeit der Übermittlung angeht, so hat diese erstaunlicherweise gegenüber der Berichterstattung über die Ermordung Kennedys nicht zugenommen; wohl aber haben sich die Medienanteile verändert: Das Fernsehen hat das Radio, wie zu erwarten, bei weitem überrundet, während das Internet erst bei einem verschwindenden Bruchteil der Bevölkerung die Erstinformationsquelle darstellte (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 106, 8.5.2002, 55). 53. Grabmal des Dietrich von Fürstenberg, Bischof von Paderborn (1585–1618). 54. Bruce Nauman, Anthro/Socio, Video-Installation, vgl. documenta IX, Ausst.-Kat. Kassel 1992, Bd. 3, 396–397. 55. Dieser Abschnitt wird Bernhard Stumpfhaus verdankt.

Thomas Kling

Tumulus Muckibude. Das F…bergdenkmal im Dom zu P. DIe macht, ingleych der ruhm, verbreydten böse schmertzen / liehgst auf dem folter=tisch du erst der ew’gen peinn.. DAs ist die endlosspule, die zu hören ist – und nichts was knirscht? (vielleicht ein murmeln; seufzen und gestöhn) NIchts knirscht, da sich die gräber öffnen: ein junger tag, aus untersicht. EIn carmen schrillt, auf schwarzer platte goldne schrift, nach rechts geneigter meißel-ton, an eleganz nicht mehr zu toppen; zuoberst macht & ruhm. NIchts knirscht da sich die platten schieben; die todten ihre häute suchen und nicht finden; steigen, sind gestiegen, von a bis z gedopt. oh, schenkelumfangs ruhm & macht! sie posen, todtenkopfgesichtig; sind unter ihrer gold-allonge gestrählte poser für die ewigkeit. IN ihrem offnen, ihrem fleischbefreiten männer-thorax-käfig sind nauman’s bildschirme / von marmelstein / sind screens von sechzehnhundertachtzehn fest eingebaut. „und nichts, was knirschen könnte?“ „nur details.“

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Thomas Kling

detail. INFERNUS. in sechs meter höhe, rechts. der rote glühpunkt kreist, frontal, uns die verdammnis ein: der armen seele züngeln (endlostape, schwarzweiß) die flammen übern brustkorb hoch; bei unversehrtem hemd endlos ein fürchterlicher schrei. DAbey in sturer stellung kniet / als ob er stünde / gebetsformal / monumentale / hauptperson / der fürstbischof / erwartet was ihm zusteht / sei= ne auferstehung // DIes alles / knirschend / aus der untersicht ein endlostape DU / hörst es nicht

Thomas Kling Hombroich, 26. VII. 2002

I. Erkenntnistheoretische Voraussetzungen, historische und anthropologische Bestimmungen von Emotionen

Wolfhart Henckmann

Über das Verstehen von Gefühlen Das Verstehen von Gefühlen ist ein vielschichtiges Problem, von dem im folgenden nur einige Aspekte hervorgehoben werden können – das Ganze des Problems ist meines Wissens weder im disziplinären Kontext der Psychologie noch der Soziologie oder Philosophie ausgearbeitet worden.

1. Einige Unterscheidungen Ich möchte zunächst zwischen dem Verstehen der Gefühle, so wie wir sie unmittelbar erleben, und dem Verstehen der inneren und äußeren Ursachen unterscheiden, unter denen Gefühle entstehen und vergehen – diese letztere Fragestellung gehört in den Kontext einer kausalen Erklärung von Gefühlen, mit der ich mich nicht weiter beschäftigen werde. Sodann ist zu unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Verstehen von Gefühlen und seiner Beschreibung. Die Beschreibung beruht auf einem Verstehen des unmittelbaren Gefühlsverstehens. Die Verwendung ein und des gleichen Verbums ‚Verstehen‘ in zwei verschiedenen Kontexten kann darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit zwei verschiedenen Begriffen des Verstehens zu tun haben. Das unmittelbare Verstehen von Gefühlen ist ein Moment des emotionalen Erlebens selbst, der zweite Begriff ist jenem emotionalen Erleben, um dessen Verständnis es geht, gänzlich enthoben; es ist reflexiver Natur und ganz von der Erkenntnisabsicht geprägt, Klarheit darüber zu gewinnen, was es mit dem unmittelbaren Gefühlsverstehen auf sich hat; wir bezeichnen dieses reflexive Verstehen als ‚intentionales Verstehen‘. Das unmittelbare Verstehen nimmt alle die unterschiedlichen Formen an, zu denen sich das emotionale Leben entwickelt, das intentionale Verstehen ist hingegen insofern einförmig, als es eine Form des Erkennens

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Wolfhart Henckmann

ist, die gegenüber der Mannigfaltigkeit der Erkenntnisobjekte, nämlich den Formen des unmittelbaren Verstehens von Gefühlen, die Gleichförmigkeit eines bestimmten Erkenntnisaktes beibehält. Das unmittelbare Verstehen von Gefühlen und das intentionale Verstehen gehören ursprünglich ein und demselben ‚Bewusstseinsstrom‘ an. Sie sind unterschiedliche Ausformungen dieses Bewusstseinsstroms. Die Differenz zwischen ihnen ist festzuhalten, so sehr auch Formulierungen wie „Ich bin mir eines Gefühls bewusst“ suggeriert, dass es ein und der gleiche Bewusstseinsakt sei, der im emotionalen Erlebnis enthalten ist und der sich reflexiv auf das emotionale Erlebnis richtet. In diesem zweiten Falle kommt es jedoch allein darauf an festzustellen, welche Qualitäten das emotionale Erlebnis aufweist, in jenem Fall aber auf das Erleben der Qualitäten selbst. Das unmittelbare Verstehen ist an die Unmittelbarkeit des Erlebens eines bestimmten Erlebnis-Ichs gebunden, das intentionale Verstehen kann sich auch auf das Gefühlsverstehen richten, das sich in anderen Personen abspielt. Dabei ist es in Hinsicht auf die angesprochene Differenz von untergeordneter Bedeutung, ob die anderen Personen mit dem Subjekt des intentionalen Verstehens gleichaltrig und gleichartig sind oder nicht, also etwa einer anderen Kultur oder Generation, einem anderen Geschlecht oder einer anderen Rasse angehören. Die Eingebundenheit des unmittelbaren Verstehens in das emotionale Erlebnis bedeutet indessen nicht, dass es von einem Vorher und Nachher des emotionalen Lebens und des Bewusstseinslebens überhaupt isoliert wäre. Es ist sowohl ein Moment des proteusartig in vielerlei Akten und Zuständen lebenden einheitlichen Bewusstseins, als auch identifizierbar aufgehoben in der Erinnerung, wenn es auch im Erinnerungsmodus die Unmittelbarkeit des Erlebens meistens verloren hat. Der Erinnerungsmodus stellt einerseits nur ein Schattenbild des unmittelbaren Verstehens von Gefühlen dar, andererseits aber ist er soviel wie ein Schema, das es prinzipiell ermöglicht, neu auftretende Erlebnisse gegebenenfalls als gleichartig mit dem erinnerten Gefühlserlebnis zu verstehen – ‚prinzipiell‘, jedoch nicht mit unbezweifelbarer Evidenz. Auf dieses Problem werden wir später zurückkommen. Das intentionale Verstehen, so scheint es, kann es immer nur mit dem Erinnerungsmodus von emotionalen Erlebnissen zu tun haben. Dabei darf jedoch nicht das mit dem Erinnerungsmodus unauflöslich verbundene Moment übersehen werden, dass der Erinnerungsmodus auf das unmittelbare Erlebnis verweist, von dem es ursprünglich abstammt. Dieser Zeichencharakter ist mehr als bloß ein Sinngehalt oder

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auch strukturelles Merkmal des Erinnerungsmodus; er stellt vielmehr eine Art von Leerform dar, die auf eine neue Erfüllung durch unmittelbares Gefühlsleben angelegt ist, weshalb das erinnerte unmittelbare Erleben innerhalb gewisser Grenzen, die unter anderem durch die Lebendigkeit des individuellen Bewusstseinslebens bedingt sind, auf gewisse Weise wieder aufleben kann. Der Erinnerungsmodus kann jedoch, trotz des Moments der Leerform für ein gleichartiges emotionales Erleben, nicht das unmittelbare Gefühlserlebnis erzeugen – die Erinnerung bleibt in der Regel erinnertes Erleben, also bloßes Erlebnisschema, sie hat nicht die Kraft, ihren Modus als Erinnerung aufzulösen und den erinnerten Gefühlsgehalt in die Offenheit und Gegenwart aktuellen, unmittelbaren Erlebens zu überführen; es vermag nicht, den Modus, bloß Erinnerung zu sein, auszulöschen. Es sei denn, dass ihr z. B. die Kunst zu Hilfe kommt. Doch entsteht dann eher etwas Drittes – weder eine Repristination des unmittelbaren Verstehens von Gefühlen, noch eine Verlebendigung des erinnerten, intentionalen Verstehens von Gefühlen, sondern eine überraschende Potenzierung bestimmter Gefühle in Intensität und Bedeutsamkeit, wie sie zwar anthropologisch im Gefühlsvermögen des Menschen angelegt sein mögen, aber relativ selten im Lebenslauf eines Menschen Wirklichkeit und Ereignis werden. Sprechen wir also vom Verstehen von Gefühlen, so haben wir bisher zwischen drei Verständnishorizonten unterschieden: erstens dem Horizont unmittelbaren Verstehens von Gefühlen, zweitens dem Horizont intentionalen Verstehens erinnerter Gefühle, drittens dem Horizont künstlerischen Verstehens von anthropologisch möglichen Gefühlen. Mit der Unterscheidung dieser drei Horizonte ist zwar der Rahmen einer empirischen Emotionstheorie in verschiedenen Hinsichten überschritten, aber damit ist nicht die Behauptung verbunden, dass mit diesen Unterscheidungen bereits der Rahmen einer das Ganze der emotionalen Problemdimensionen umfassenden Theorie entworfen sei.

2. Gefühle verstehen sich von selbst Das Thema des Verstehens von Gefühlen scheint zunächst einfach genug zu sein: Jedermann weiß, was für ein Gefühl er hat, wenn er ein Gefühl hat: Freude, Ärger, Traurigkeit, Angst usw., alles, was wir im alltäglichen Sprachgebrauch als ‚Gefühl‘ bezeichnen. In diesem allgemeinen Sinn kann ohne weiteres von einem ‚Verstehen‘, von einem ‚an sich selber verständlich Sein‘ der Gefühle gesprochen werden. Der Satz

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Wolfhart Henckmann

„Ich freue mich!“ bedeutet deshalb soviel wie der umständlicher ausgedrückte Satz „Ich verstehe das Gefühl, das ich gerade erlebe, als Freude“, weil es nur darauf ankommt, dass Gefühle wie Freude usw. immer das Bewusst-Sein einer bestimmten Gefühlsqualität enthalten1; von unbewussten Gefühlen zu sprechen, ist demnach unsinnig; nicht hingegen, von latenten Dispositionen zu bestimmten Gefühlen zu sprechen. Die Fragen, was für eine Art von psychischer Realität die latenten Dimensionen von Gefühlen haben, wie weit und tief sie sich in das psychische Leben erstrecken, wie das Verhältnis zwischen dem Ausmaß und der Natur der latenten Dimensionen einerseits und dem bewussten Fühlen andererseits einzuschätzen ist, müssen hier übergangen werden. Für den Anfang macht es nicht viel aus, dass wir erst nach und nach gelernt haben, die allgemeinen und speziellen Gefühlswörter zu verwenden (das komplexe Verhältnis zwischen Sprache und Fühlen und umgekehrt lassen wir einstweilen außer Betracht), und auch das andere Bedenken, dass sich unser Gefühlsvermögen erst entwickeln musste, vielleicht auch schon alters- oder gewohnheitsbedingt an Frische und Differenziertheit verloren hat, wollen wir ausklammern – die Frage der anthropologisch angelegten und sozial bedingten Entwicklungsstadien des emotionalen Lebens soll hier nicht weiter erörtert werden, so wichtig diese Fragen auch für das Verstehen von Gefühlen sind. Es sei also ein Entwicklungsstadium menschlicher Individuen vorausgesetzt, in dem sie spontan verstehen, dass bestimmte Gefühle, die sie empfinden, eben Gefühle der Freude, des Ärgers, der Traurigkeit, der Angst usw. sind. Das vorausgesetzte Entwicklungsstadium muss der Theoretiker auch für sich selber in Anspruch nehmen. Diese und verwandte, uns im Verlauf unseres Lebens im Zusammenleben mit unseren Mitmenschen vertraut gewordenen Empfindungen bilden die empirische Basis, von der unsere Reflexionen über die Gefühle ausgehen und zu der sie immer wieder zurückkehren, um sich an ihnen überprüfen zu lassen und neue Frageimpulse zu erhalten. Das Wiedererkennen der Erfahrungsdaten im Lichte der Theorie, d. h. im Lichte des intentionalen Verstehens, ist ein wichtiges, aber auch problembeladenes Moment in der Überprüfung von Aussagen über die Gefühle. Soll das vorausgesetzte Entwicklungsstadium des Gefühlslebens eine hinreichend gesicherte Basis abgeben, so muss genauer bestimmt werden, inwiefern es zutrifft, dass die Gefühle sich von selbst verstehen. Das Aufwerfen dieser Frage ist bereits ein Indiz dafür, dass die emotionalen Erlebnisse so ‚selbstverständlich‘, wie gesagt wurde, gar nicht zu

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sein scheinen. In das unmittelbare Gefühlsverstehen, das primär von bestimmten Gefühlsqualitäten geprägt ist, gehen auch andere Erfahrungsgehalte ein, etwa das Wissen darum, dass Gefühle von sehr flüchtiger Natur sein können, wenn auch nicht alle, denn einige, wie z. B. Trauer oder Niedergeschlagenheit, können sich relativ lange erhalten, wenn sie auch gelegentlich in den Hintergrund unseres Bewusstseins treten. Wir wissen weiterhin, dass Gefühle schwer voneinander abzugrenzen sind und fließende Übergänge zu anderen, zum Teil ganz entgegengesetzten emotionalen Zuständen bilden, dass sie selten rein und einfach, sondern meistens gemischt in Erscheinung treten, in extremen Situationen außerordentlich widersprüchlich sein können (so heißt es z. B. in E. A. Poe’s The Fall of the House of Usher: A certain person felt „oppressed […] by a thousand conflicting sensations, in which wonder and extreme terror were predominant“), dass sie schwer zu beschreiben sind (weniger für Poeten, sicherlich aber für Wissenschaftler – ein handicap für jeden sprachanalytischen Ansatz) und dass sie sich, sobald man (z. B. im intentionalen Verstehen) die Aufmerksamkeit auf sie lenkt, zu verändern beginnen, dass sie außerordentlich anfällig für äußere Einflüsse, aber auch für die inneren persönlichen Bedürfnisse der Selbstbestätigung und für den Gesamtzustand einer Person sind, dass sie aufgrund unvorhergesehener Ereignisse plötzlich umschlagen können und mal in starker, mal in schwacher Intensität auftreten, dass sie als angenehm oder unangenehm empfunden werden, dass die innere Einstellung zu ihnen zwischen rückhaltloser Hingabe an ein Gefühl und dem Versuch seiner Unterdrückung schwanken kann, dass sie also insgesamt viel zu instabil und uneindeutig sind, außerdem kaum wertneutral aufgenommen werden können, um den elementaren Ansprüchen gerecht werden zu können, die ein empirisches Faktum zu erfüllen hat, nämlich bei Bedarf als ein und dieselbe Gegebenheit unserer Erfahrung unvoreingenommen zugänglich zu sein. Selbst wenn man sich alle diese Aspekte unseres ‚normalen‘, vortheoretischen Verständnisses vor Augen führt, können wir nicht von einem zuverlässig identifizierbaren Verständnis von Gefühlen sprechen. Dies beschreibt die deutlicher in Erscheinung tretenden Aspekte unseres alltäglichen Erfahrungswissens von Gefühlen. Es stellt aber in sich bereits eine – normalerweise unkritische – Verallgemeinerung unserer individuellen emotionalen Erlebnisse dar, es beruht weniger auf unserem unmittelbaren Verstehen von Gefühlen als vielmehr auf einer Anpassung und Interpretation unseres unmittelbaren Verstehens an das alltägliche Erfahrungswissen der Gesellschaft, in der wir groß gewor-

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Wolfhart Henckmann

den sind und die Art und Weise erlernt haben, wie und unter welchen Umständen über Gefühle gesprochen bzw. nicht gesprochen wird. Die Ambivalenz der alltäglichen Erscheinungsformen unseres Gefühlslebens wird einem in jedem Gespräch über Gefühle deutlich. Auf der einen Seite spürt man oft genug, dass sich unsere eigenen Gefühle nicht so recht auf das reimen, was jemand uns über seine Gefühle oder über Gefühle allgemein mitteilt, Gefühle sind nicht nur ‚subjektiv‘, sondern sind auch mitentscheidend für die Konstitution von Subjektivität; auf der anderen Seite brauchen wir das Gespräch über unsere Gefühle, um uns über sie klar zu werden, und indem wir über sie zu sprechen versuchen, spüren wir, dass unsere Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt sind und zusammen mit Klärungen auch Verfälschungen in unser subjektives emotionales Leben bringen – so zeichnet sich in Umrissen ein für das Sich-selbst-Verstehen eines Subjekts wichtiges subverbales Verstehen von Gefühlen ab, das mehr oder weniger sensibel unsere Rede über Gefühle begleitet. Daraus wird oft, unkritisch genug, die Konsequenz gezogen, dass man über Gefühle schweigen sollte, so lange man sich nicht klar über sie auszudrücken vermag. Schweigt man, so verzichtet man auf ein wichtiges Moment der Subjektwerdung. Unabhängig von solchen sensiblen Problemen verstehen sich Gefühle in einem sehr allgemeinen Sinne tatsächlich von selbst. Dass wir uns ihrer unmittelbar bewusst sind, wenn wir fühlen; dass ihre Existenz hier und jetzt uns evident gegeben ist. Diese ihre evidente Präsenz können wir als ihre ‚Aktualität‘ bezeichnen. Wir sind in diese Aktualität unmittelbar involviert, so dass wir fühlend auch unserer selbst als fühlende Wesen gewiss sind – „sentio ergo sum“. Die Aktualität stellt ein wesentliches Moment der spezifischen Seinsweise von Gefühlen dar. Sie sagt aber noch nichts darüber aus, wodurch sich ein aktuelles Erlebnis als ‚Gefühl‘ zu verstehen gibt. Wir müssen noch einige Merkmale aufzuweisen suchen, um einige Gewähr zu haben, dass wir das gleiche meinen, wenn wir über Gefühle sprechen. Erkenntnistheoretisch betrachtet ist besonders wichtig, dass Gefühle u. a. auch insofern ‚subjektiv‘ sind, als sie immer nur ‚in mir‘ erlebt werden. Sie verleihen meiner inneren Befindlichkeit, der Art, wie ich mich erlebe, eine bestimmte qualitative Tönung. Diese Tönung kann sehr vage und umfassend das Ganze meines Lebensgefühls betreffen, etwa wenn ich mich müde oder gesund fühle, sie kann sich auch auf die gesamte Umwelt erstrecken, wie bei der Schwermut, bei Heimweh, im Weltschmerz, sie kann sich inneren Ausblicken auf die Zukunft anschließen, wie in der Hoffnung auf Erfolg oder Genesung, oder sie kann sich vergangenen Erfahrungen

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anschließen, wenn man sich an bestimmte Situationen in der Kindheit erinnert. Wenn auch die qualitativen Tönungen meiner inneren Befindlichkeit auf die unterschiedlichsten Bereiche der menschlichen Existenz in der Ausprägung, die sie bei mir angenommen hat und die sie anzunehmen tendiert, bezogen sind, so lässt sich dennoch keine Eins-zueins-Zuordnung und keine Regelmäßigkeit in der Zuordnung zu den verschiedenen Existenzformen erkennen. Wie von kaum etwas gilt Heraklits Wort so genau wie vom emotionalen Leben, dass man nicht zweimal in denselben Fluss zu steigen vermag. Die Ufer des Flusses erstrecken sich zwischen den Grenzen der Umwelt und den Dimensionen der individuellen Existenz, die in der jeweils vorherrschenden Tönung der inneren Befindlichkeit eine sich nie wiederholende Verbindung eingegangen sind, wenn sich auch die Tönungen selbst unter veränderten Verhältnissen innerhalb gewisser Variationsspektren zu wiederholen scheinen, weshalb sie auch als die schon einmal erlebten spontan wieder erkannt werden können – genau genommen aber eine neue Form ihrer Aktualität annehmen. Das Problem der adäquaten Übereinstimmung zwischen aktuellem Erleben eines Gefühls und seinem wenn auch erinnernd inspirierten, ja dithyrambischen sprachlichen Ausdruck kann man sich an der Rede des weisen Eremiten Kamadamana über die Liebe in Thomas Manns Novelle von den Vertauschten Köpfen vor Augen führen: „Nun ja, nun ja, ich weiß es ja […]“, aber mit welchem Recht sagen die drei ungeduldigen Verliebten, dass sie das alles ja auch schon wissen und dafür nicht die Aufklärung durch einen altgewordenen Asketen brauchen? Die Aktualität des Fühlens schließt also noch keineswegs eine Eindeutigkeit des Soseins, der Qualität der Gefühle ein, so sehr auch die Aktualität immer nur in einem bestimmten Sosein auftritt. Es reicht nicht, Gefühle als empirische Fakten einfach zu konstatieren, vielmehr kommt es darauf an, ihre merkwürdige Seinsweise von evidenter Aktualität innerhalb des Horizonts eines mehrdeutigen Soseins, d. h. innerhalb eines wie auch immer beschaffenen aktuellen ‚Seins für uns‘ genauer zu verstehen. Dieses intentionale Verstehen ist, wie gesagt, ein anderes als dasjenige, das in dem Satz verwendet wurde, dass Gefühle sich von selbst verstehen. Das Verstehen eines Faktums gehört in den wissenschaftlichen Kontext einer Theorie, das Verstehen von Gefühlen gehört in den Kontext unseres unmittelbaren alltäglichen Lebens. Unsere Aufgabe besteht darin, unser alltägliches Verstehen von Gefühlen wissenschaftlich verständlich zu machen, verständlich zu machen auch dahingehend, ob un-

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Wolfhart Henckmann

ser alltägliches Verstehen von Gefühlen überhaupt ein den Gefühlen angemessenes Verstehen ist bzw. sein kann. Hat man erst einmal verstanden, dass die aktuelle Präsenz immer an ein ambivalentes und auf unerschlossene Dimensionen hin transparentes Sosein von Gefühlen gebunden ist, dann scheint das unmittelbare Verstehen von Gefühlen grundsätzlich den Doppel-Charakter von Offenheit und Verschlossenheit, von in sich saturierter Evidenz und transparenter Hintergründigkeit aufzuweisen. Lässt sich nicht die Frage des jungen Cherubino, ob seine Empfindung Liebe sei, im Sinne der Ambivalenz von Evidenz und Transparenz verstehen? Wie sehr ist er wirklich darauf angewiesen, von erfahrenen Frauen über seine Gefühle eine klärende Auskunft zu erhalten? Oder will er im Grunde gar nicht über seinen Zustand aufgeklärt werden, sondern seine Empfindungen in ihrem ambivalenten, schillernd erregenden Zustand erhalten und diesen Zustand so, wie er ist, auf Mitgefühl erregende Weise seinen Zuhörern mitteilen? Wir haben es also mit einem hermeneutischen Problem zu tun, das von einem phänomenologischen Ansatz, womit auch Agnes Hellers Theorie der Gefühle beginnt2, gar nicht zu trennen ist. Ich teile mit ihr den Ansatz, dass eine Theorie des Gefühls im Rahmen der Anthropologie zu entfalten ist. Doch gerade in einem solchen Rahmen wird die Problematik des Verstehens von Gefühlen akut. So sicher wir uns in unserem alltäglichen Erfahrungskontext über die Gefühle sind, so zeigt sich doch schon in diesem Horizont das Sosein der Gefühle in jener schwer aufzuklärenden Ambivalenz. Wir dürfen jedoch nicht vorschnell verallgemeinern. Erweist sich das eine oder andere der Gefühle als dunkel, so muss das nicht für alle Gefühle gelten. Wir kämen also nicht umhin, etwa aufgrund gewisser Familienähnlichkeiten, die sich unter den mannigfaltigen emotionalen Erscheinungen aufweisen lassen, oder aufgrund gewisser, analytisch gewonnener Merkmale, einzelne Gruppen von miteinander vergleichbaren Gefühlen zu bilden, um herauszufinden, ob sich nicht zwischen diesen Gruppen gewisse gesetzmäßige Unter-, Neben- und Überordnungsverhältnisse erkennen und dadurch eine Art von Grammatik und Semantik der Gefühle bilden lasse. Trotz all der Schwierigkeiten, die Gefühle oder Gruppen von Gefühlen hinreichend deutlich voneinander zu unterscheiden, hat als Klassifikationsmodell seit alters der Versuch Anerkennung gefunden, alle emotionalen Phänomene auf eine möglichst begrenzte Anzahl von Grundgefühlen zurückzuführen – diese Grundgefühle wären dann diejenigen, die am ehesten als Basis für die Entfaltung des Verstehensproblems in Frage kämen. Descartes

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hat in seiner Abhandlung über die Leidenschaften der Seele die in der Antike entwickelte und im Mittelalter weitergeführte Theorie der Affekte methodisch zu klären versucht, indem er nur noch sechs ‚einfache und ursprüngliche‘ Grundaffekte (Affekt, Leidenschaft, Passion, Gemütsbewegung konnten Jahrhunderte lang als Synonyme verwendet werden) zuließ: Staunen, Liebe und Hass, Begehren, Freude und Traurigkeit.3 Sein more geometrico bedingtes Interesse an einem Rückgang auf elementare Gefühle ließ ihn die Gefühle einfacher und homogener sehen, als sie sind. In der empirischen Psychologie führt man heute aufgrund eines faktorenanalytischen und strukturellen Ansatzes andere Grundgefühle an. Bei Plutchik sind es Furcht (fear), Ärger (anger), Freude (joy), Traurigkeit (sadness), Vertrauensbereitschaft (acceptance), Ekel (disgust), Erwartung (expectation), Überraschung (surprise)4, Izard hat noch Bindungsgefühl, Mitgefühl, Lust/Unlust, Neid und Eifersucht hinzugefügt5, doch schon das bloße Nebeneinanderstellen dieser Arten lässt erkennen, dass kaum Hoffnung besteht, zu einer konsensuellen Auffassung zu gelangen, nicht allein deswegen, weil die Klassifikationen abhängig sind von den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen und Grundannahmen, sondern auch wegen der individuellen Verschiedenheit der Erfahrungen, des unmittelbaren und intentionalen Verstehens der Gefühle. Dass sich auf das unmittelbare Verstehen von Gefühlen auch die kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse der Theoretiker auswirken, lässt sich den cross-cultural studies von Scherer/Wallbott/Summerfield entnehmen.6 In den Problemkreis des kulturell und sozial bedingten ‚unmittelbaren‘ Verstehens von Gefühlen wären deshalb auch die wissenschaftlich ausgearbeiteten Formen des intentionalen Verstehens aufzunehmen, insbesondere die vereinheitlichenden, faktorenanalytischen und strukturierenden Gesichtspunkte, die am deutlichsten in den Klassifikationen der emotionalen Phänomene zum Ausdruck kommen. Später werde ich auf diese Frage noch einmal zurückkommen. Ich möchte hier jedoch auf einen anderen Weg hinweisen, der in der phänomenologischen Gefühlstheorie besondere Aufmerksamkeit gefunden hat: die Beschreibung und Analyse einzelner, im alltäglichen Erleben hinreichend deutlich abgrenzbarer Gefühle, wie z. B. Liebe, Hass, Ekel, Mitgefühl, Scham und andere. Ich möchte mich einem Gefühl zuwenden, das in der Phänomenologie bekanntlich nicht unerörtert geblieben ist, dem Gefühl der Angst. Dabei stoßen wir sogleich auf weitere Probleme. Wenn gesagt worden ist, dass Gefühle sich von selbst verstehen, was aber, wie gesagt,

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cum grano salis zu verstehen ist, so ist zweierlei zu unterscheiden. Einerseits verstehen wir die Angst unmittelbar und evident als solche, andererseits verstehen wir die Angst als ein Gefühl. Das Verstehen der Angst ‚als Gefühl‘ ist etwas anderes als das Verstehen der Angst als solcher: die Angst wird auf etwas hin ausgelegt, von dem angenommen wird, dass es die Angst verständlich zu machen vermag, weil es selber hinreichend verständlich ist. Es kann aber sein, dass wir dem Erlebnis der Angst gar nicht gerecht werden, wenn wir sie ohne weiteres als ein Gefühl verstehen; dass wir Gefahr laufen, sie psychologistisch misszuverstehen. Es wäre allererst noch zu klären, mit welchem Recht wir von der Erfahrung der Angst dazu übergehen, die Angst als ein Gefühl zu verstehen und sie dadurch mit der Fröhlichkeit, dem Ärger, der Wehmut usw. auf ein und denselben Gattungsbegriff ‚Gefühl‘ zurückführen. Das ‚Gefühl‘ stellt eine sehr weit verzweigte Familie dar, die wohl auch eine Reihe von Adoptiv- und Stiefkindern und alle möglichen angeheirateten Mitglieder hat. Man spricht allzu leicht von ‚Familienähnlichkeiten‘, macht sich aber selten Gedanken über den Verwandtschaftsgrad. Ich will mich hier nun nicht auf eine umfassende Analyse der Angst und ihrer (Unter)Arten einlassen, sondern mich nur mit der Frage beschäftigen, als was sich uns die Angst zu erfahren und zu verstehen gibt. Hier ist auf eine weitere Differenz hinzuweisen. Sie besteht zwischen der Besonderheit der Angsterfahrung selber und der Allgemeinheit der Erfahrungsweise, die als ‚Erfahrungsweise‘ mit anderen, auch mit nicht-gefühlsartigen Erfahrungsweisen verglichen werden will und dadurch einen anderen Verstehenshorizont eröffnet, als allein den des ‚Gefühls‘. In beiden Fällen, d. h. mit dem Gefühl und mit der Erfahrungsweise, gibt man dem Verstehen der Angst einen ganz bestimmten Verstehenshorizont vor, innerhalb dessen, phänomenologisch mit verwandten Erscheinungen variierend, das Phänomen Angst genauer bestimmt werden soll. Wenn es sich dabei um verwandt erscheinende Phänomene wie Fröhlichkeit, Ärger usw. handelt, so würden auch diese alle auf den gemeinsamen Nenner von ‚Erfahrungsweisen‘ oder von ‚Gefühlen‘ zurückgeführt werden. Doch vielleicht erweist sich, dass die Angst bloß ein Adoptivkind dieser Familie ist. Wir haben deshalb darauf zu achten, dass der Kontext, dem wir die Angst zum Zweck eines besseren Verstehens zuordnen, sachlich angemessen ist. Ohne die Einordnung in einen Kontext ist Verstehen nicht möglich. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass der Entwurf eines Kontextes eine heuristische Funktion haben soll und nur eine hypotheti-

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sche Annahme darstellt. Die Kriterien für einen sachlich angemessenen Kontext können sich erst im Verstehen der Angst aufweisen lassen. Wir haben uns deshalb zu fragen, durch welche Eigenschaften die Angst verwandt ist mit gewissen anderen Erfahrungsweisen und Gefühlen. Hier deutet sich der unvermeidliche hermeneutische Zirkel an: die Kriterien für den sachlich angemessenen Horizont, aus dem heraus die Angst bestimmt werden soll, können nur aus der Angst selber stammen, doch um die Kriterien aufweisen zu können, brauchen wir den sachlich geeigneten Kontext. Der Kontext, der auf der Grundlage dieser Eigenschaften entworfen wird, sollte darüber hinaus kein willkürlich gewählter Kontext sein, sondern muss geeignet sein, die besondere Art und Weise hervortreten zu lassen, wie sich die Angst als solche manifestiert. Wir müssen also auf die Angst selber zurückgehen, um einen Horizont für ein kontextbezogenes Verstehen entwerfen zu können, und möglicherweise gibt es nicht bloß einen, sondern mehrere aufschlussreiche Kontexte.

3. Fingiertes Beispiel Wann haben wir Angst? Was empfinden wir, wenn wir Angst haben? Die Frage nach der Angst darf nicht zu eng gestellt werden. Zu eng wäre sie, wenn sie allein auf einen inneren Zustand des Subjekts abzielen würde. Demgegenüber weist jede Angsterfahrung aus, dass Angst situationsbedingt ist – es gibt keine situationsindifferente Angst. Subjekt und Umwelt sind in der Angst unauflöslich in einer beklemmend engen Weise miteinander verbunden. Die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht, die unter anderen von Heidegger in Sein und Zeit vertreten wurde und die allein die Furcht als situationsbedingt bestimmt hat7, stimmt mit den Erfahrungen und dem alltäglichen Sprachgebrauch zu wenig überein, weshalb wir sie außer Acht lassen wollen. Die Gebundenheit der Angst an die Situation würde bereits ausreichen, nicht bloß von einer Empfindung oder einem Gefühl der Angst mit den unvermeidlichen Konnotationen eines rein subjektiven inneren Erlebnisses zu sprechen, sondern von einer Erfahrung, die über das Subjekt hinaus die gesamte Situation mit ihren auf ganz besondere Weise erfahrenen Gegenständen, Eigenschaften, Zusammenhängen erfasst und auf eine bestimmte Weise zur Erscheinung kommen lässt. Gerade bei der Angst ist die Wahrnehmung, nein: die Erfahrung der das Subjekt umgebenden Situation so beherrschend, dass wir die Angst ge-

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radezu als eine Reaktion auf die konkrete, objektive Situation zu verstehen haben. Dies wäre jedoch eine These des ‚wissenschaftlichen‘, d. h. des intentionalen Verstehens. Wie aber sieht das mit der Angst selber gegebene Verstehen der Angst aus? Ich fingiere ein Beispiel: Ein Wanderer gelangt auf einem Bergpfad vor eine alte Holzbrücke, bekannt als ‚Teufelsbrücke‘, die über eine tiefe Schlucht hinweg zwei steile Felswände miteinander verbindet. Es ist die einzige Verbindung zur gegenüberliegenden Seite weit und breit. Die Brücke sieht mit ihren verwitterten, glitschig-nassen Bohlen morsch aus, man kann erkennen, dass sich einzelne Bretter bereits aus ihrer Befestigung gelöst haben, auch ist das Geländer an einer Stelle zerbrochen. Doch vielleicht lässt sich die Brücke trotz alledem noch überqueren. Unser Wanderer betritt vorsichtig die erste Bohle, sie hält, er rutscht nicht aus – soll er weitergehen? Auch die zweite und dritte Bohle halten, der Wanderer hat sich bereits vom sicheren Felsweg entfernt und befindet sich hoch über dem Abgrund. Ein Windzug steigt aus der Tiefe empor, das Rauschen des Wildbachs ist zu hören – plötzlich überfällt den Wanderer die Angst. Er wagt nicht, auf dem glitschigen, brüchigen Boden vor oder zurück zu gehen, jeden Augenblick könnten die Bretter nachgeben, alle seine Bewegungen erstarren, zwanghaft setzt sich in seinem Bewusstsein die Vorstellung vom Einbrechen der Brücke und dem Sturz in die Tiefe fest, sein Herz pocht bis zum Halse, der Atem stockt, kalter Schweiß bricht aus, gepresst schreit er um Hilfe. Damit löst sich seine Lähmung so weit, dass er mit sich fast überschlagenden Bewegungen zurück zum Felsweg springt. Außer Atem, bleich und am ganzen Leibe zitternd setzt er sich auf den Boden. Heben wir einzelne Momente hervor. Da ist die insulär aus dem bisherigen Lebensverlauf herausgehobene Angstsituation auf der Brücke. In diese Situation sind kognitive Elemente wie die Wahrnehmung der Beschaffenheit der Brücke, ihrer räumlichen Lage über dem Abgrund, die Wahrnehmung des Windzugs und des Rauschens des Wildbachs integriert, es gibt Momente des pragmatischen Verhaltens wie die Lähmung des Weitergehens, den zwanghaften Schrei um Hilfe und die Befreiung durch den impulsiven Sprung zurück auf den Felsweg. Der Wanderer erfährt einen heftigen, fast unüberwindlichen Widerstreit in sich selbst – einerseits ein absichtliches, planmäßiges Handeln (Fortsetzung der Wanderung über die Brücke hinweg?), andererseits eine instinktive und impulsive Auflehnung gegen die Überquerung der Brücke und die Flucht zurück. Unwillkürlich treten dann auch die bekannten

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physiologischen Begleiterscheinungen der Angst auf, und all dies ballt sich zusammen zu einer extrem konzentrierten, in sich geschlossenen Erfahrung, die den Wanderer vollständig beherrscht. Sie ist durchdrungen von einer beklemmenden, den innersten Lebensnerv erfassenden, übermächtigen Erlebnisqualität – es handelt sich, wie man wohl sagen kann, um eine besondere ganzheitliche Ausgestaltung des Existierens des Menschen in einer bestimmten Situation.

4. Theoriegeschichtliche Erläuterungen Einige dieser Momente seien nun in Beziehung auf einige überlieferte Gefühlstheorien erläutert. 1. Man hat die emotionale Sphäre, wie wir das Ganze von gefühlsartigen Erscheinungen und Vorgängen bezeichnen wollen, in die beiden Bereiche der Gefühle der Lust und Unlust eingeteilt, und schon bei Platon findet sich die Vorstellung eines graduellen Übergangs zwischen den beiden konträren Zuständen, der durch eine mittlere Phase der Gefühlsneutralität führt, so dass wir einen inneren Zusammenhang aller solcher Erscheinungen annehmen können. Die gesamte emotionale Sphäre würde sich dann zwischen zwei Momenten entfalten: den qualitativen Eigenschaften von Lust und Unlust und den quantitativen Verhältnissen von stärkeren und schwächeren Empfindungen. Lässt sich aber sagen, dass ein Mensch in Angst eine ‚Unlust‘ erlebt, und dass das Erreichen des festen Felsweges ‚Lust‘ erregt? Das würde beinahe zynisch wirken, so wenig trifft der sprachliche Ausdruck die Angsterfahrung selber. Die Erlebnisqualität ist nicht ‚Unlust‘, sondern existenzielle Angst, und dass der Wanderer besinnungslos getrieben wird, sich aus ihr zu befreien, ist nicht ein Vermeiden oder Minimieren der Unlust oder ein Streben nach der Lust, sich von Unlust befreit zu haben, sondern der impulsive Selbsterhaltungstrieb. Die Begriffe Lust/Unlust sind keine deskriptiven Begriffe, sondern Kategorisierungen im Dienst eines theoretischen Konstrukts, genannt ‚Emotionstheorie‘. Man versucht innerhalb dieser Theorie, eine Klassifikation aufzustellen, in der alle emotionalen Phänomene nach möglichst wenigen Kriterien eingeordnet werden können, ohne sich um die Einbettung der Angsterfahrung in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Existenz zu kümmern. Das kann dann auch dazu führen, bestimmte Phänomene, die von sich aus nicht ganz in die Klassifikation passen, durch kompa-

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tiblere zu ersetzen, in unserem Fall durch Angsterfahrungen, die nicht gar so existenziell sind. Die existenzielle Angst wird zu einer Ausnahme deklariert – die systematische Durchführung der Theorie ist wichtiger als das unmittelbare Verstehen der Phänomene selber. Es ist ebenso wenig angemessen, die Angst als ein negativwertiges Gefühl zu bezeichnen, denn sie erfasst den Menschen viel zu unmittelbar und vollständig, als dass er sich die Freiheit zu einer objektiven Wertung oder zu einer subjektiven Werterfahrung nehmen könnte. Solche Kategorisierungen verdecken die Angsterfahrung so sehr, dass man sie nicht mehr, oder nur extrem verfremdet, wiedererkennen kann. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, wie schon die Alten wussten, dass der Angst eine lebenserhaltende Funktion zukommt, die sie unabhängig von externen Wertsetzungen oder von unserem Willen spontan, aus der Selbstbejahung des Lebenswillens heraus ausübt. 2. Doch auch in dem Ausdruck ‚Verstehen‘ des Angstgefühls liegt etwas Missverständliches – als ob die Angst etwas Dunkles und schwer Verständliches sei, das erst noch besser verstanden werden solle. Das ist mit ‚Verstehen‘ hier jedoch nicht gemeint. ‚Verstehen‘ soll die Erfahrung der Angst in ihrer unmittelbaren Erschlossenheit als Angstsituation bezeichnen; man könnte auch mit Th. Lipps und anderen vom „Erlebnis“ der Angst sprechen, wenn dadurch nicht zu sehr nur die subjektive Erregtheit, ein irrationaler Zustand gemeint wäre. Th. Lipps versteht „Erlebnis“ als das besondere, dem Gefühl immanente und es in seiner Besonderheit erfassende Wissen um das, was in einer bestimmten Empfindungsqualität gegeben ist. Mit „Erlebnis“ will er nichts weiter als das ganz und gar gefühlsartige, nicht-reflexive InneSein des Verstehens im Fühlen selbst bezeichnen, und gemäß diesen Bedingungen soll auch hier das ‚Verstehen der Angst‘ verstanden werden. Ein solches Verstehen kann man dann aber nicht mehr mit dem ‚alltäglichen‘ Verstehen von Gefühlen gleichsetzen, das von vornherein das Fühlen unter die Bedingungen der gewohnten Lebenspraxis stellt. In der alltäglichen Lebenspraxis sind wir ständig voraus bei dem, was wir zu erledigen bzw. womit wir fertig zu werden haben, sie ist auf das auf uns Zukommende gerichtet, während ein Gefühl uns gerade auf sich und den gegenwärtigen Augenblick konzentriert. Wenn es also um das Verstehen von Gefühlen geht, dann müssen wir versuchen, das unmittelbare Fühlen, mit seinem sich selbst Inne-Sein als ein bestimmtes Fühlen, von den Bedingungen des alltäglichen Lebens freizulegen und

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es im Zuge eines zurückhaltenden Hinhörens hervortreten und sich selbst zur Geltung bringen zu lassen. Dieses hinhörende und aufnehmende Hervortreten-Lassen, das erst a posteriori möglich ist, ist als ein hermeneutisches und damit als ein wissenschaftliches Verfahren zu verstehen, das aber gerade die wissenschaftlichen Kategorien und präzisierten Intentionen systematischer Untersuchungen zurückzuhalten sucht. Das hinhörende Verstehen ist selber eine Art von Fühlen: ein dem gegebenen realen oder auch fingierten Fühlen nachgehendes, es in seinem Sosein erschließendes Nachspüren, das ein möglichst angemessenes, nachvollziehend erhelltes simulacrum des zu erschließenden Gefühls zu gewinnen sucht. 3. Kant hat den Gefühlen jeglichen Erkenntniswert abgesprochen. Im Unterschied zu den Objekt-zugewandten, in diesem Sinne objektiven Wahrnehmungen zeigen sie nur den je gegenwärtigen Zustand des Subjekts an, taugen aber nach Kant noch nicht einmal zur Selbsterkenntnis des Subjekts. In der Kantischen Tradition werden Gefühle als Prototyp der Irrationalität verstanden; entsprechend eng wird der Begriff der Rationalität der Verstandeserkenntnis aufgefasst. Der Lehre von der Irrationalität des Gefühls widerspricht aber, dass die Angst eine ganz spezifische Auslegung der ganzheitlichen, prägnant wahrgenommenen Erfahrungslage eines Menschen ist. Man kann aus der Angstsituation nicht die Situationsgebundenheit als irrelevant ausklammern und nur den Menschen, oder genauer: einen spezifischen, vorübergehenden Zustand des Menschen allein für relevant erklären, viel zu eng hängen die situativen Gegebenheiten und die Angst-Reaktion zusammen. Auch hier erkennt man wieder das Vorherrschen eines besonderen Erkenntnisinteresses: das Festhalten an der objektiven, kausal-mechanischen Naturerkenntnis, von der sich das endliche Individuum als einzelnes Lebewesen mit seinen schnell und äußerlich folgenlos wechselnden inneren Zuständen als eine nur ephemere Gegebenheit abhebt, die dann ihrerseits nach einer entsprechend modifizierten Naturerklärung verlangt. Die Angsterfahrung lässt für sich selber natürlich eine solche naturwissenschaftliche Betrachtungsweise nicht zu. Fragt man sich demgegenüber, was für eine kognitive Leistung die Angst eigentlich erbringt, dann muss man ihr zunächst grundsätzlich eine objektive Wahrnehmungsleistung zusprechen. Aber es handelt sich um eine Wahrnehmungsleistung, die (a) extrem eingeengt ist auf die Angst erregenden Merkmale der Situation, und (b) ist sie unfrei, fixiert, sozusagen eine Zwangsvorstellung.

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4. Die Enge und Fixiertheit lässt sich im Verhältnis zum Vorher und Nachher der Angsterfahrung genauer bestimmen. Vorher konnte der Wanderer in aller Ruhe den Zustand der Brücke wahrnehmen und das Risiko zusammen mit der Bewältigung des Risikos abschätzen. Er hätte seine Prüfung noch weiterführen und sich dann gegebenenfalls entscheiden können, lieber gleich umzukehren. Dadurch, dass er sich in die Gefahr des Absturzes begeben hatte, war keine ruhige Fortsetzung der Wahrnehmung mehr möglich. Wie gebannt fixiert der Wanderer nur dasjenige an der Situation, von dem die größte Gefahr ausgeht – der Boden unter den Füßen droht wegzubrechen. Jede Bewegung hätte das Einbrechen hervorrufen können – von daher erklärt sich die Lähmung und der dann schließlich doch erfolgende, waghalsige Sprung zurück. Das Nachher der Angsterfahrung ist anfangs noch ganz bestimmt von der überstandenen Gefahr. Keine Erfahrung von Lust, nur von Erleichterung und Entspannung – bekanntlich hat W. Wundt das Verhältnis von Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung zu den drei Dimensionen der Gefühle gerechnet – erneut eine Verwandtschaft zwischen Angst und Gefühl. Was Wundt aber nicht berücksichtigt hat, ist, dass sich solche Erfahrungen gleichsam einprägen in das Gefühlsleben des Menschen. Das so entstehende Gefühlsmuster wird sich bei ähnlichen Situationen wiederbeleben. Doch es bleibt offen, in welchem Maße ein solches Erlebnis das gesamte Gefühlsleben prägt und zu einem traumatischen Erlebnis wird. Wenn dies nicht eintritt, kann sich im Nachher der Angsterfahrung eventuell das Moment der Selbstbefreiung stärker entwickeln, bis hin zu der Neigung, sich erneut der Gefahr auszusetzen und es darauf ankommen zu lassen, ob und wie man mit ihr fertig wird. Oder aber das kognitive Moment entwickelt sich stärker: der Wanderer erkennt nachträglich, dass er einen kühlen Kopf hätte bewahren müssen, dann hätte er sich schon sicher über die Brücke gebracht, denn die Bretter haben ja auch den impulsiven Sprung ausgehalten. Das Nachher der Angst ist also wesentlich von der Verarbeitung der Erfahrung geprägt. Indem sich die zwanghaft fixierte Vorstellung lockert, treten verschiedene Möglichkeiten einer Einflechtung der Angst in die Fortsetzung der Lebenspragmatik zutage. Es ist meistens diese Sphäre, also weder die der wissenschaftlichen Erkenntnis der Angst noch die ihrer Wiederholung, die die Wiederherstellung des Erfahrungskontinuums leistet, das durch die Angst unterbrochen worden ist. Es nivellieren sich allmählich die extremen Erfahrungsmodifikationen, und es wird möglich, je weiter die

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Erfahrung zurückliegt, die Angst nur mehr als eine der normalen Gefühlserregungen zu betrachten; allerdings mit dem untergründigen Nachbeben, ob einen nicht bei nächster Gelegenheit, und dann noch durchschlagender, diese extreme Angst überfallen wird; denn vor einem plötzlichen Wiederaufbrechen der Angst kann sich so ein Wanderer nicht mehr sicher fühlen. Trotzdem darf man annehmen, dass sich die Gefühlstheorie gesamtgesellschaftlich gesehen einer Nivellierung und Regulierung des emotionalen Lebens verdankt, also ein Produkt der Zivilisationsgeschichte ist, und dass deshalb die psychologistisch reduzierten Problemstellungen in der Wissenschaft Karriere machen konnten. 5. Th. Lipps und andere haben die Auffassung vertreten, dass Gefühle als „Ichqualitäten oder Ichzuständlichkeiten“ zu verstehen seien8, wir können auch von ‚Befindlichkeiten‘ sprechen, wie Heidegger es tut. Was für ein Ich-Erlebnis liegt aber in der Angsterfahrung vor? Bei extremen Angsterfahrungen kommt überhaupt kein Bewusstsein des Ich zustande, es ist förmlich ausgelöscht in einem ekstatischen AngstZustand, der sich zu einer ausweglosen Existenzgefährdung zuspitzt. Von dem reflexiven ‚Bewusstseins-Ich‘ mit seinem pragmatischen Spielraum, die Situation zu studieren und wahlweise verschiedenen möglichen Interessen nachzugehen, bleibt nur der Rest einer schreckerstarrten, traumartig abgehobenen, gleichsam frei schwebenden, unpersönlichen Wahrnehmung der Situation übrig. Aus Erzählungen von E. A. Poe weiß man, dass dieses Residuum von rationalem Ich die einzige Chance bietet, einen Ausweg aus einer ausweglos erscheinenden Situation zu finden. Erst wenn die Angstsituation überwunden ist oder sich aufgelöst hat, kommt der Wanderer wieder zu sich zurück, d. h. zu seinem pragmatischen Ich, doch steckt ihm die Angst noch eine Zeit lang, wie man so plastisch sagt, in den Knochen. Retrospektiv kann er sich eingestehen, dass er ein extrem eingreifendes Erlebnis überstanden hat: ein ganz anderes, fremdes Wesen in ihm hat sich selbständig gemacht und sein rationales Ich außer Kraft gesetzt. Er hat sich als ein zwiespältiges, aus sich selbst heraus gefährdetes Wesen erfahren, das in Situationen geraten kann, in denen das überlegende und nach eigenem Ermessen handelnde Ich bis zur Ohnmacht geschwächt werden kann, dass aber gerade dann das ‚leibliche‘ Ich spontan in Aktion tritt. Mit den im Grunde harmlosen Gefühlen bzw. ‚Ichqualitäten‘ hat eine solche existenzielle Erschütterung nichts zu tun. Dem trug die frühere Emotionstheorie Rechnung, indem sie die Angst zu den heftig, aber

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kurzfristig auflodernden Affekten zählte und aus dem Bereich der Gefühle heraussetzte. Die Griechen haben die starken, jedoch nicht immer so übermächtig in Erscheinung tretenden Affekte, wie man in der Rhetorik des Aristoteles nachlesen kann9, als fundamentale Gefährdungen der Vernünftigkeit des Menschen erkannt. Diese Affekte als Gefühle zu verstehen, die mit dem alltäglichen Leben kompatibel sind, bedeutet, sie prinzipiell zu verharmlosen und zusammen mit ihnen die ausgesetzte, sowohl subjektiv als auch objektiv gefährdete Stellung des Menschen in der Welt zu verkennen. Affekte führen einen Riss im Selbstverständnis des Subjekts herbei. Das pragmatische Ich des Wanderers, der fröhlich seines Weges zieht, wird durch die Angst als eine gefährdete, eine unsichere Instanz erkennbar. Außer Funktion gesetzt, wird das Ich kompensiert durch impulsive Regungen des ‚Leib-Ich‘, das plötzlich und nach Regeln, von denen das pragmatische Ich nichts weiß, aktiv wird. Kann man es beim Dualismus dieser beiden Ichfunktionen belassen? Kann man es damit bewenden lassen, dass durch die Emotions- und Affekttheorie auf spezifische Weise das Problem der Subjektivität akut wird? Man kann es dann, wenn man dem pragmatischen Ich die Aufgabe anvertrauen möchte, die Brücke über den inneren Dualismus zu schlagen – die reduktionistische Emotionstheorie würde dazu die erforderlichen Dienste leisten. Eine ganz andere Problemebene eröffnet sich jedoch, wenn man sich die Frage stellt, ob denn immer nur die eine oder die andere Ich-Funktion herrschen solle, oder ob man nicht beiden eine relative Berechtigung nur nach Maßgabe einer übergeordneten ‚vollständigen anthropologischen Schätzung’10 des Menschen einräumen sollte. Das erforderte eine dritte Ich-Funktion, die der – recht verstandenen – Vernunft, die die Aufgabe hätte, das Maß zu finden für die Existenz des Menschen in der Welt. 6. Aus der Perspektive der Vernunft stellt sich auf eine veränderte Weise die Frage der Einstellung, die der Mensch gegenüber Affekten und Gefühlen einnehmen kann. Die Einstellung übt eine wesentliche Funktion aus, die emotionale Sphäre aus ihrer anthropologischen Ausgrenzung herauszuführen, in der sie entweder sich selbst überlassen wurde, solange jedenfalls, wie sie keinen Schaden anrichtete, oder einfach in den Dienst pragmatischer Interessen genommen wurde. Diese Alternative repräsentiert bereits zwei mögliche Einstellungen – sie haben die Funktion zu erfüllen, die emotionale Sphäre in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Existenz einzubinden. Unter den vie-

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lerlei möglichen Einstellungen kommt auch die der Wertung des emotionalen Lebens vor. Sie kann im Sinne der pragmatisch-sozialen oder der individuellen Interessen erfolgen, aber auch im Sinne jener vollständigen anthropologischen Schätzung: jedenfalls darf die Emotionstheorie diese Frage der Einstellung und der Rückbindung des emotionalen Lebens in das Ganze der menschlichen Existenz nicht unberücksichtigt lassen. Hermeneutisch betrachtet zeigen sich an den konkreten Gefühlserlebnissen wohl immer auch gewisse Spuren des Einflusses von Einstellungen auf das Gefühlsleben, z. B. als ein laisser aller des Auslebens, in den Formen der Regulierung des Gefühlsausdrucks, in der Unterdrückung oder Kultivierung der Gefühle usw. 7. Nun erfassen auch bestimmte Arten von Gefühlen, die in der Phänomenologie als die intentionalen Gefühle bezeichnet werden, von sich aus nicht irgendwelche ‚thoughts‘,11 sondern ihnen und nur ihnen korrelierende ‚Werte‘. Sie lassen wohl auch gewisse Rangstufen erkennen, die dafür sprechen, dass sich eine in sich spannungsreiche, komplexe, übergreifende Ordnung hinter all den verschiedenen Wertigkeiten aufbaut, doch ist das alles davon abhängig, dass der Mensch durch die Obliegenheiten des alltäglichen Lebens hindurch auf das hinhören lernt, was ihm die Gefühle zu verstehen geben, und dieses Hinhören hat die Vernunft zu leisten. All dies erhöht die Komplexität der emotionalen Sphäre: sie stellt sich selbst als ambivalent dar, doch offenbart sich durch sie auch eine für die Existenz des Menschen unverzichtbare Dimension, durch die er seine Stellung in der Welt sinnvoll auszugestalten, ja wohl schließlich auch zu rechtfertigen vermag. Man könnte all dies unter den Begriff der ‚Gefühlskultur‘ bringen, die im gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen von moralischen, politischen und religiösen Normen zu entwickeln wäre – die aber eben dadurch auch Gefahr läuft, ‚von außen‘ pragmatisch dirigiert zu werden. Die mit den sogenannten Gefühlen üblicherweise verbundenen Konnotationen von Lust oder Unlust, Irrationalität, Subjektivität, kognitive Leistung, Bewusstsein lassen sich also nur sehr bedingt auf die Angsterfahrung anwenden. Von einem ‚Gefühl‘ kann man streng genommen nur im Verhältnis zu der Erlebnisqualität sprechen, die die gesamte Situation durchdringt; das ‚Gefühl‘ der Angst wäre dann nur als ein Teilmoment der gesamten Angstsituation aufzufassen. Die Vertreter der eindimensionalen Gefühlstheorie, nach der die einzigen elementaren Bestandteile des Emotionalen das Gefühl der Lust und der Unlust sind, alles andere aber, das mit ihnen in Verbindung treten kann,

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wie Vorstellungen, sinnliche Wahrnehmungen, Begierden usw., als heterogene Bestandteile aufgefasst werden müssten, haben alle ihre Kunst empirischer Analyse darauf verwandt, eben diese letzten, irreduziblen Elemente des Emotionalen reinlich herauszuarbeiten.12 Eine solche abstrahierende Herauslösung aus dem Ganzen der Erfahrungssituation kann man auch mit den anderen Momenten durchführen: mit der sinnlichen Wahrnehmung, der Handlung, den physiologischen Merkmalen usw. Alle diese Faktoren lassen sich in die ihrer Natur entsprechenden disziplinären Kontexte einordnen, in die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, von der Handlung usw. Dadurch aber geht erstens die Sinneinheit der Erfahrungssituation verloren, die nur noch als Schnittpunkt unterschiedlicher elementarer Funktionen aufgefasst wird, und zweitens das Verständnis dieser Situation als eines funktionalen Zusammenwirkens aller Faktoren, die unter der wechselnden Dominanz und entsprechenden Umfunktionalisierung des einen oder anderen Faktors die anthropologische Verfassung des Menschen ausmachen. Außerdem geht verloren die Erfahrung, dass der Mensch in Situationen existiert, in und mit denen er sich gestaltend-umgestaltend im Rahmen der involvierten Faktoren und ihrer möglichen funktionalen Verhältnisse verändert und realisiert. Die Situationen wandeln sich unablässig. Sie sind jedoch nicht isolierte und zufällige Gegebenheiten, sondern stellen die unmittelbar aktuellen Verhaltens- und Handlungshorizonte unseres alltäglichen Lebens dar, in denen sich die allgemeinen gesellschaftlich und geschichtlich geprägten Weltverhältnisse zur Geltung bringen. Sie werden darüber hinaus in den Gesamtzusammenhang eines auf übergreifende, um nicht zu sagen auf universale Zwecke und Werte gerichteten individuellen Lebens eingeordnet, primär aus allen möglichen pragmatischen, dann aber, mit der Entwicklung der Kulturen, auch aus idealen Interessen. Sie verlangen gebieterisch wenn nicht die Unter-, so doch die Einordnung des emotionalen Lebens zugunsten der Realisierung der pragmatischen und idealen Interessen. Bei aller Anschmiegsamkeit und Willfährigkeit des emotionalen Lebens an die Situationen behält dieses jedoch auch seine Eigensinnigkeit, seine Unbotmäßigkeit, hat seine Toleranz Grenzen. Und es hat eine nur ihm eigentümliche, gleichsam seismographische Kundgabefunktion. Es gibt zu verstehen, wie sich der Mensch, als ein komplexer funktionaler Organismus, hier und jetzt in der gegebenen Situation ‚befindet‘, und ob die Situation ihm zuträglich ist oder nicht. Die Bekundung der Befindlichkeit eines Menschen in der jeweils gegebenen Situation zusammen mit ihrer mehr oder weniger deutlich

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wahrgenommenen Gebundenheit an die Vorgeschichte und an die unmittelbar bevorstehenden oder in absehbarer Zeit zu erwartenden Situationen scheint die eigentliche existenzielle Funktion des emotionalen Lebens zu sein. Zum Verstehen des emotionalen Lebens gehört deshalb auch ein Verständnis des Sinns, den das emotionale Leben für das Ganze des Vollzugs der menschlichen Existenz hat. Aus einer solchen Kundgabefunktion heraus erhalten die Möglichkeiten zu unterschiedlichen Einstellungen gegenüber den Emotionen eine gewisse Orientierung, eine Anmutung, sich diesen oder jenen Emotionen zu überlassen, sie zu kultivieren, möglicherweise auch, sie zu beherrschen, zu dämpfen oder schließlich gar sie vollständig zu unterdrücken.

5. Funktionale Zusammenhänge im emotionalen Leben Wir haben uns bisher hauptsächlich von der Angsterfahrung leiten lassen, wenn auch wiederholt den Blick auf das Ganze des emotionalen Lebens gerichtet. Dadurch wird die Frage nach den ‚Familienverhältnissen‘ innerhalb des emotionalen Lebens akut. Darauf möchte ich hier nur noch unter dem Blickwinkel des Zusammenwirkens verschiedener anthropologischer Funktionen im emotionalen Leben eingehen. Es hat immer wieder Versuche gegeben, eine geordnete Übersicht über die Emotionen des Menschen aufzustellen. Dies ließe sich jedoch nur dann erreichen, wenn der Mensch fest und invariabel in die Welt eingebunden wäre – in die Welt, nicht bloß in die Natur dieser unserer Erde. Eine solche Festlegung gibt es für uns nicht. Es ist schlechthin nicht absehbar, in welche Situationen die Menschen geraten können und welche Situationen sich die Menschen selber bereiten. Es ist auch nicht erinnerbar, in welche Situationen die Menschen seit ehedem geraten sind, ja nicht einmal jeder einzelne Mensch vermag sich an all die aus dem Alltag herausragenden Situationen zu erinnern, die er durchlebt hat, die ihn geprägt haben, und wie er sich in ihnen befunden hat. Doch die Erinnerung, ebenso wie die Erwartung von Befindlichkeiten in kommenden Situationen, also die zeitlichen Dimensionen des emotionalen Lebens, stellen eine eigene komplexe Thematik dar, die wir hier ausklammern müssen – bildet doch das Hier und Jetzt den Schwerpunkt des emotionalen Lebens. Wilhelm Dilthey hat in einer gedrängten Skizze die verschiedenen Gefühlskreise unterschieden und auf ihr Zusammenwirken hingewiesen, wie sie durch die Dichtung evoziert werden.13 Er geht von der

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strukturell festgelegten, aber innerhalb der verschiedenen Strukturebenen variablen Natur des Menschen aus, die er mit einem komplexen Gebilde wie der Poesie konfrontiert – an die Stelle der Poesie lassen sich auch andere, nicht-poetische Gebilde oder Ereignisse setzen, und bei allen wäre dann zu untersuchen, wie sie sich auf die Befindlichkeit, auf die Gefühlslage des Menschen auswirken. Man kann sein Verfahren, das er aber nur in seinen elementaren Grundzügen ausgeführt hat, als funktionsanalytisch bezeichnen. Dabei hält er sich weitgehend an die eindimensionale Auffassung von Gefühlen als Lust- oder Unlustempfindungen. Dilthey hat sechs von der Poesie aktivierbare Gefühlskreise unterschieden. Den ersten Kreis bilden die von physiologischen Vorgängen unmittelbar hervorgerufenen Reaktionen des ‚Gemeingefühls‘ (heute würde man eher von ‚Stimmungen‘ sprechen) und der sinnlichen Gefühle. Den zweiten Kreis bilden die elementaren Gefühle, „die aus den Empfindungsinhalten unter der Bedingung eines konzentrierten Interesses hervorgehen“ (150), z. B. die von Goethe untersuchten elementaren Wirkungen einfacher Farben. Den dritten Gefühlskreis machen Empfindungen aus, die durch die Beziehungen zwischen Sinnesdaten hervorgerufen werden, also Empfindungen von Harmonie und Kontrast, von Rhythmus, Proportion oder Symmetrie. Sind die ersten drei Gefühlskreise in der Leiblichkeit und den sinnlichen Wahrnehmungsvermögen des Menschen fundiert, so beruht der vierte Gefühlskreis auf dem Vorstellungsvermögen des Menschen, jedoch zunächst noch nicht auf den Vorstellungsinhalten, sondern allein auf den „bloßen Formen der Vorstellungs- und Denkvermögen“ (152), wie sie z. B. in der Verbindung einer Vielheit verschiedener Vorstellungen zu einer harmonischen Einheit, oder in antithetischen Beziehungen bestehen. Mit dem fünften Gefühlskreis wendet sich Dilthey denjenigen Gefühlen zu, die von den verschiedenen, während des gesamten Lebens des Menschen wirksamen Trieben und ihren Vorstellungsinhalten hervorgerufen werden, vom Nahrungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, Fortpflanzungstrieb, aber auch von den höheren Trieben wie dem Streben nach Selbstvervollkommnung und Anerkennung – auf ihnen beruhen Gefühle wie Ehrgefühl, Stolz, Eitelkeit, Scham usw. In den gleichen Gefühlskreis nimmt Dilthey auch die sozialen Gefühle wie Sympathie, Mitleid und Liebe auf. Den sechsten und letzten Gefühlskreis machen schließlich alle jene Gefühle aus, die, aus den bereits genannten Lebensmächten und Trieben hervorgehend, auf den inhaltlichen Willensbestimmungen des Menschen beruhen, angefangen vom Gefühl der eigenen Lebens-

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kraft bis hin zu den Gefühlen, die die höchsten Lebensideale im einzelnen und in der Gesellschaft hervorrufen. Man erkennt, dass Diltheys Interesse darin besteht, von einer anthropologischen Grundkonzeption des Menschen ausgehend die Grundzüge der Polyphonie der emotionalen Wirkungen zu umreißen, die durch die Poesie hervorgerufen werden, und es zeigt sich umgekehrt, dass durch die Dichtung nicht bloß die sogenannten ‚seelischen Empfindungen‘ angesprochen werden, sondern der gesamte Leib-Seele-Geist-Organismus des Menschen in Resonanz gerät. Dilthey zeigt, indem er bis auf die elementaren physiologischen Wirkungen der Poesie zurückgeht, dass das emotionale Leben insofern komplexer Natur ist, als es auf unterschiedlichen Funktionen des anthropologischen Leib-Seele-Geist-Organismus beruht. Wegen der unterschiedlichen genetischen Wurzeln bildet das emotionale Leben nur hinsichtlich des Momentes von Lust und Unlust einen Zusammenhang, hinsichtlich seiner Wurzeln jedoch eine Familie von heterogenen, eigenständigen Funktionen, so dass man mehrere nicht aufeinander zurückführbare Arten des emotionalen Lebens voneinander scheiden müsste – z. B. die (körperlich bedingten) Empfindungsgefühle, die Gemeingefühle (Stimmungen), die auf den Trieben beruhenden Affekte und Leidenschaften, die Vorstellungsgefühle, die geistigen (ästhetischen, moralischen, religiösen) Gefühle – sie alle entstehen und entwickeln sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten und bilden unterschiedliche Verstehenshorizonte aus. Die verschiedenen Arten des emotionalen Lebens können in mannigfaltige, teils harmonische (wie im Fall der Poesie), teils widersprüchliche und konflikthafte Beziehungen untereinander treten. Allgemein betrachtet lässt sich also sagen, dass sich die Gefühlslage des Menschen nicht auf einzelnen isolierbaren ‚Vermögen‘, etwa der Einbildungskraft oder der sinnlichen Wahrnehmung aufbaut, sondern auf einer von der Situation mitbestimmten je spezifischen Konstellation der existenziellen Funktionen des gesamten Leib-Seele-Geist-Organismus des Menschen. Fasst man die Gefühlslage als Resultante der verschiedenen Funktionen auf, die im Leben eines Menschen in unterschiedlichen Situationen aktiviert werden, so eröffnet sich hinter jedem einigermaßen klar zum Ausdruck kommenden, qualitativ vielfältig bestimmten LustUnlust-Erlebnis eine emotionale Tiefendimension, die wohl nie analytisch in ihrer jeweiligen Konstellation aufzuschlüsseln ist, aber verstehbar wird als eine dunkel mitschwingende funktionale Strukturiertheit der menschlichen Existenz. Wenn es also darum geht, eine Übersicht über die Gliederung des emotionalen Lebens zu gewinnen, durch die je-

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der einzelnen eine bestimmte Funktionsgesetzlichkeit und ein gewisser Verstehenshorizont zugeschrieben wird, dann muss man von der Grundformation des menschlichen Existierens in sich wandelnden Situationen ausgehen, wobei die Seite des Existenzvollzugs durch die anthropologische Grundstruktur umrissen ist, während die Situationen sich sowohl durch die jeweils gegebenen Weltverhältnisse als auch durch die Lebensinteressen des individuellen Menschen konkretisieren – zwischen diesen beiden Seiten, die funktional vermittelt sind, kann sich aus den emotionalen Reaktionsmöglichkeiten eine unabsehbare Vielzahl konkreter Befindlichkeiten entwickeln. Angesichts der funktionalen Komplexität und der Situationsbedingtheit des emotionalen Lebens kann man nicht mehr von ‚einfachen‘, ‚elementaren‘ Gefühlen sprechen, sondern nur noch von polyvalenten Mischungsverhältnissen, die sich von Zeit zu Zeit zu einer aus dem Erlebnisstrom insulär herausragenden Gesamtbefindlichkeit verbinden. Da anzunehmen ist, dass die Grundstruktur der menschlichen Existenz von den physiologischen Bedingungen an bis zu den höchsten Willensbestimmungen einem sich nicht mehr verändernden Muster unterliegt, stellt sich die Frage, ob die funktionalen Zusammenhänge, die zwischen Diltheys sechs Gefühlskreisen bestehen bzw. entstehen können, nicht ebenfalls einer gewissen invarianten Gesetzlichkeit unterworfen sind, etwa im Sinne von bestimmten epochalen oder sozial bestimmten allgemeinen ‚Gefühlsstilen‘, die, ähnlich wie die drei von Dilthey unterschiedenen Weltanschauungstypen, nicht mehr grundsätzlich neue Muster hervorbringen, sondern immer nur neue Variationen der drei grundlegenden Weltanschauungstypen. Zu dieser Dimension seiner funktionsanalytischen Konzeption des emotionalen Lebens hat sich Dilthey nicht mehr geäußert, doch ist anzunehmen, dass er in der Tat wohl eine Theorie solcher fundamentalen Gefühlsstile entwickelt und diese in seine Typologie der Weltanschauungen integriert hätte. Das Gefühlsproblem reicht damit weit hinaus über den Lebenshorizont eines Individuums – es hat allgemeine soziale und kulturgeschichtliche Dimensionen.

6. Zur sozialen Dimension des emotionalen Lebens Ausgehend von der Angsterfahrung stand bisher aus nahe liegenden Gründen das emotionale Leben des Individuums im Vordergrund, denn die Angst wirft den Menschen ganz auf sich selbst, auf den sozu-

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sagen anonym in ihm wirkenden Lebenswillen zurück. Hinterher, wenn die Angst vergangen ist, kann man das Vorher und Nachher jener ekstatischen Erfahrung wieder miteinander verknüpfen und die Angst nicht mehr als ein Grenz-, sondern als ein Randphänomen verstehen, als eine Ausnahmesituation, die man besser vermeiden sollte – man muss sich nicht der Angst aussetzen. Inwiefern es sinnvoll ist, sich emotionalen Grenzsituationen klug zu entziehen und einer Lebensmaxime des emotionalen Maßhaltens und einer asketischen Lebensreduktion zu folgen, sei dahingestellt. Es hängt wohl von dem Charaktertyp und dem Lebensmuster ab, das man angenommen hat. Problematisch wird einem eine ganz auf das Individuum zurückgenommene Betrachtung des emotionalen Lebens bereits dann erscheinen, wenn man von der Existenzangst absieht und zwei andere Grundtypen von Angst in Betracht zieht, denn die Angst ist ein vielgestaltiges Phänomen: die sogenannte „Leistungsangst“ und die „soziale Angst“, in den Augen anderer in irgendeiner Hinsicht als minderwertig zu gelten. Hier kommt ein Faktor zur Geltung, der bisher unberücksichtigt geblieben ist: In die Grundstruktur des emotionalen Funktionszusammenhangs zwischen dem Menschen und den sich durch Situationen hindurch wandelnden Weltverhältnissen ist auch der Mitmensch aufzunehmen, der, nebenbei gesagt, in Diltheys Konzeption keine maßgebliche Rolle spielt, bei Heidegger hingegen nur als das dem uneigentlichen In-derWelt-Sein verfallene ‚Man‘. Auch hier zeigt der Rückgang auf konkrete Erfahrungen andere Sachverhalte. Max Scheler hat die Auffassung vertreten, dass das individuelle Sich-selbst-Erleben gar nicht das Primäre ist, sondern einen genetisch abkünftigen Erfahrungsmodus darstellt. Primär sei das Sich-Erleben gegeben als Glied eines ‚Wir‘, einer Gemeinschaft.14 Dieses Wir-Erleben erfasst auch die uns umgebenden Weltverhältnisse, sie erscheinen uns nicht primär als entfremdete Objektwelt, sondern als die Verhältnisse der gemeinschaftlich erlebten Welt. Diese kann so beschaffen sein, dass sich alle emotionalen Verhältnisse mit ihren mehr oder weniger entwickelten Differenzierungen innerhalb der gemeinschaftlichen Welt, also im Rahmen gemeinschaftlich geteilter und so oder so verstandener Erfahrungsweisen und den von ihnen geprägten Empfindungen abspielen. Das bedeutet, dass wir unsere emotionalen Funktionen zu verstehen haben als wesentlich mitbestimmt durch das Verständnis unserer eigenen Funktion innerhalb der Gemeinschaft, in der wir leben, sozusagen nach Maßgabe unserer sozialen Stellung und Lebenspraxis.

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Es kann aber auch sein, dass die gemeinschaftlich erlebte Welt gerade die anthropologisch prinzipiell möglichen Tendenzen zur Individualisierung des emotionalen Lebens unterstützt. Die sogenannte ‚Subjektivität‘ des emotionalen Lebens wäre demzufolge als ein sozial unterstützter und sanktionierter Erlebnismodus zu verstehen. Dass dies sich so verhält, zeigt sich in der allgemein geteilten Selbstverständlichkeit, mit der wir die so unterschiedlichen Emotionen als rein subjektive Phänomene zu verstehen gelernt haben. Umso durchschlagender wirken sich in einer hoch individualisierten Gefühlskultur die schon an und für sich wirkungsvollen Formen der Wiederherstellung von Gemeinschaftlichkeit im emotionalen Leben aus. Die Gemeinschaftlichkeit des emotionalen Lebens vollzieht sich jedoch nicht auf ein und die gleiche Weise. Es lassen sich mehrere Gemeinschaftsformen im emotionalen Erleben unterscheiden, z. B. dionysische Rauschzustände, Formen von ‚Gefühlsansteckung‘, die emotional unterschiedlich geprägten Formen des Mitgefühls, die Angewiesenheit bestimmter Emotionen auf eine emotionale Antwort durch andere Menschen, wie es beim Ehrgefühl, vor allem aber in der Liebe der Fall ist. Wiederholungen von bestimmten Erfahrungsweisen etwa im kirchlichen oder politischen Leben, aber auch im persönlichen Lebensbereich können zu etwas wie emotionalen Gewohnheiten einer Gemeinschaft führen, von denen, je öfter sie vollzogen werden, schließlich nur noch die ritualisierte, entseelte Ausdrucksform bestehen bleibt, während die lebendige Erfüllung der Form ausbleibt – ohne dass das den Mitgliedern der Gemeinschaft auffallen muss; außerdem kann das aus der Vollzugsform des emotionalen Lebens heraustretende Hinhören auf die eigene Befindlichkeit von der Gemeinschaft desavouiert sein.

7. Über den Ausdruck von Gefühlen Die Ausdrucksform ist sicherlich das wichtigste Medium der sozialen Vermittlung des emotionalen Lebens. Im Laufe der Zivilisationsgeschichte der Menschheit hat sich eine große Mannigfaltigkeit von Ausdrucksformen und Ausdrucksmitteln entwickelt; die Ausdrucksverhältnisse sind jeweils aus ihrer geschichtlichen Situation heraus zu verstehen. Die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen lässt darauf schließen, wie vielfältig die Ausdrucksgehalte sind, die jeweils in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften vermittelt werden. Das Verhältnis zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksgehalt kann zwi-

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schen den Polen eindeutiger Übereinstimmung und vieldeutiger Divergenz schwanken, bis hin zu unausdrückbaren Gehalten und nichts mehr vermittelnden, entleerten Ausdrucksformen. Während die einen als Grundform ein natürliches Entsprechungsverhältnis zwischen Ausdrucksform und Gehalt annehmen, betonen andere, wie z. B. Plessner15, mit Recht die geradezu unübersehbar große Mannigfaltigkeit von emotionalen Gehalten, die hinter bestimmten Ausdrucksformen wie z. B. dem Lächeln stehen können. Goethe hat Tasso eine Hierarchie von vier Ebenen von Ausdrucksmöglichkeiten ansprechen lassen, und das führt uns schließlich zurück zum Anliegen dieses Kongresses. Für Tasso gehört der Ausdruck zum natürlichen Wesen der Gefühle. Bestimmte Gefühle sprengen jedoch die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten, sie drohen den Menschen zu zerstören. Tasso fühlt sich in eine Situation versetzt, die jenseits der Ausdrucksmöglichkeiten liegt, die Natur und gesellschaftliche Tradition dem Menschen verliehen haben. Als erstes erwähnt er die konventionellen Ausdrucksformen aus der Geschichte der Menschheit, doch Tasso weiß kein Beispiel für ein mit seinem eigenen Leiden vergleichbares Leiden anzugeben, die überlieferten Ausdrucksformen reichen nicht aus, das Übermaß von Leid, das ihn quält, in sich aufzunehmen und ihn davon zu befreien. Verzweifelt sucht er nach anderen Ausdrucks-, Entlastungs- und Heilungsformen: Nur Eines bleibt: Die Träne hat uns die Natur verliehen, Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles – Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide.16

Eine andere als die konventionelle Ausdrucksform hätte der unmittelbare, naturhafte Ausdruck des Schmerzes durch Tränen sein können, eine dritte Stufe der ebenfalls noch unter Naturgesetzen stehende, ganz auf den Schmerzensschrei reduzierte sprachliche Ausdruck, und letztlich als einzig angemessener, weder von der Natur noch von Konventionen geprägte, sondern allein durch eine über alle irdischen Möglichkeiten hinausgehende Ausdrucksform, nämlich die von Gott verliehene Gabe, in Melodie und dichterischer Rede zu bekunden, „wie ich leide“. Die drei anderen Ausdrucksformen vermögen nicht das zu erfassen, was Tasso die „tiefste Fülle“ seiner Not nennt. Von der tiefsten Fülle

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her ist zu verstehen, was das „wie ich leide“ in den beiden zum geflügelten Wort gewordenen Versen besagen soll (Büchmann fügt ausdrücklich in Klammern hinzu: „… [falsch: was] ich leide“)17: nicht, in welchem Maße ich leide, sondern wie sehr ich unter der tiefsten Fülle meiner Not leide. In diesem Sinne ist es dann gar nicht so falsch, „wie sehr ich leide“ zu ersetzen durch „was ich leide“. Hat Goethe sich doch selbst im Motto zur Elegie in der Trilogie der Leidenschaft so zitiert: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.18

Goethes Tasso, und so manche anderen Kunstwerke, geben der Emotionstheorie Problemartikulationen vor, denen sie sich zu öffnen hat – Kunst als Korrektiv gegen reduktionistische und nivellierende Gefühlstheorien. Die Kunst kann aber nur dann als Korrektiv wirksam werden, wenn sich die Theorie nicht das Organ zu einem Verstehen in anthropologisch vollständiger Schätzung verkümmern lässt – das Organ eines das Ganze der menschlichen Existenz erfassenden Verstehens, wie es sich etwa am Beispiel der Poesie ausbilden könnte. Deshalb kann man dem an der Dichtung entwickelten funktionsanalytischen Modell des Goetheverehrers Dilthey doch wohl mehr Sinn zusprechen, als nur an einem beliebigen Beispiel die funktionalen Zusammenhänge aufgewiesen zu haben, die in das Verstehen von Gefühlen eingehen.

Anmerkungen 1. Vgl. hierzu den Aufsatz von Moritz Geiger, Das Bewusstsein von Gefühlen, in: Münchener Philosophische Abhandlungen. Theodor Lipps zu seinem sechzigsten Geburtstag, gewidmet von früheren Schülern, Leipzig 1911, 125–162. 2. Agnes Heller, Theorie der Gefühle, ungekürzte Studienausgabe, Hamburg 1981. 3. René Descartes, Über die Leidenschaften der Seele (1646), Art. 69. 4. Robert Plutchik, A General Psychoevolutionary Theory of Emotion, in: Emotion. Theory, Research, and Experience, hg. v. Robert Plutchik und Henry Kellerman, New York 1980, 3–33. 5. Carroll Ellis Izard, Die Emotionen des Menschen, Basel 1981, 25. 6. Experiencing Emotion. A Cross-Cultural Study, ed. by Klaus R. Scherer, Harald G. Wallbott, and Angela B. Summerfield, Cambridge University Press 1986. 7. Martin Heidegger, Sein und Zeit (11927), 8., unveränd. Aufl. Tübingen 1957, 40. 8. Theodor Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch einer Theorie des Willens, 2. völlig umgearb. Aufl. Leipzig 1907, 3; Ders., Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1903, 16 f.: „Gefühle […] sind unmittelbar erlebte Qualitäten oder Bestimmtheiten des Ich. Sie sind also absolut subjektiv, sowie das Ich selbst das absolute Subjekt ist. […] In jedem Gefühl fühle ich das eine und selbe nur einmal vorhandene Ich.“ In der dritten,

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teilweise umgearbeiteten Auflage des Leitfadens betont Lipps, dass die gefühlten Zuständlichkeiten auf unser Streben, auf unser Tätigsein zurückgehen (Leipzig 1909, 36 f.) Alles unmittelbare Ich- oder Selbstbewusstsein sei „Tätigkeitsbewußtsein oder Tätigkeitsgefühl“ (ebd., 39). Vgl. Lipps, Das Selbstbewußtsein: Empfindung und Gefühl, Wiesbaden1901; ders., Das Ich und die Gefühle, in: Psychologische Untersuchungen 1, Heft 4, Leipzig 1907, 641–693. 9. Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, München 1980, 2. Buch. Aristoteles behandelt insbesondere Zorn und Sanftmut, Freundschaft und Feindschaft, Furcht und Mut, Scham, Freundlichkeit, Mitleid, gerechten Unwillen, Neid, Eifersucht. 10. Von einer vollständigen anthropologischen Schätzung spricht Friedrich Schiller, in kritischer Distanzierung von Kant und Fichte, in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). 11. Wie Quentin Smith behauptet: The Felt Meanings of the World. A Metaphysics of Feeling, Purdue University Press 1986. 12. Einen ausgewogenen Überblick über die Situation um 1900 gab Oswald Külpe, Gefühl, in: Handwörterbuch der Naturwissenschaften, Bd. 4, Jena 1913, 678–85. 13. Wilhelm Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887), in: Gesammelte Schriften Bd. 6, 4. unveränd. Aufl. Göttingen 1962, bes. 148 ff. Vgl. auch ders., System der Ethik (1890), in: Gesammelte Schriften Bd. 10, 4. Aufl. Göttingen 1981. 14. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1923), in: Gesammelte Werke Bd. 7, hg. mit einem Anhang v. Manfred S. Frings, Bern/München 1973. 15. Vgl. Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a. M. 1980, 201–387. 16. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), hg. v. Karl Richter, Bd. 6.1, hg. v. Victor Lange, München 1986, 748. 17. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, fortgesetzt von Walter Robert-Tornow (u. a.), durchgesehen von Alfred Grunow, Berlin 1964, 183. 18. Münchner Ausgabe [Anm. 16], Bd. 13.1, hg. v. Gisela Henckmann und Irmela Schneider, München 1992, 135.

Wolfgang Lenzen

Grundzüge einer philosophischen Theorie der Gefühle Einleitung Teil 1 enthält einen kritischen Kommentar zur „neurologischen Theorie“ der Gefühle, wie sie vor allem von Antonio Damasio und Joseph LeDoux entwickelt wurde. In Teil 2 wird meine eigene „philosophische Theorie“ vorgestellt. Dabei gehe ich in 2.1 zunächst auf das ontologische Verhältnis von Geist und Gehirn ein; in 2.2 zeichne ich eine „Landkarte des Geistes“, mit der insbesondere die begrifflichen Beziehungen analysiert werden, die zwischen Gefühlen und Emotionen auf der einen und sonstigen mentalen Vorgängen und Zuständen auf der anderen Seite bestehen. Abschnitt 2.3 enthält eine nähere Untersuchung von drei Hauptarten von Gefühlen: Körpergefühle, Emotionen und Stimmungen. Ein charakteristisches Merkmal der Emotionen – ihr so genannter „intentionaler“ Gehalt – wird in Abschnitt 2.4 näher analysiert, während sich 2.5 mit einem weiteren wichtigen Merkmal auseinandersetzt: der Werthaftigkeit, d. h. der Positivität bzw. Negativität von Emotionen. Im Schlussteil 3 gehe ich auf einige anthropologische Aspekte von Emotionen ein und betrachte insbesondere die außerordentliche Rolle, die Gefühle nicht nur für das menschliche Leben im allgemeinen, sondern auch für die intellektuellen Errungenschaften von Wissenschaftlern und Künstlern im besonderen spielen.

1.1 Anmerkungen zu Damasio Damasios Theorie der Gefühle, wie sie vor allem in Descartes’ Irrtum1 entwickelt wurde, lässt sich in zwei große Bereiche einteilen. Der „analytische“ Teil liefert Definitionen der wichtigsten Begriffe, während im

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„neurologischen“ Teil zu erklären versucht wird, wie Emotionen bzw. Gefühle im Gehirn (sowie gegebenenfalls in anderen Körperorganen) physiologisch realisiert werden. Die wesentlichen Ergebnisse der „analytischen“ Theorie lassen sich wie folgt zusammenfassen: (D1) Emotionen [emotions] sind Veränderungen innerer Körperzustände. (D2) Gefühle [feelings] sind die Wahrnehmungen solcher Emotionen, d. h. Wahrnehmungen von Körperzustandsveränderungen. (D3) Man kann zwischen primären und sekundären Gefühlen (und zusätzlich Hintergrundgefühlen) unterscheiden. Es gibt nur eine kleine Anzahl von primären Gefühlen wie Glück, Traurigkeit, Zorn, Furcht und Ekel. Alle sekundären Gefühle lassen sich als „Spielarten“ der primären auffassen. Nach Damasio entstehen Emotionen und Gefühle durch folgende neurologische Mechanismen: Emotionen werden durch biologisch determinierte Bündel neuronaler und biochemischer Reaktionen erzeugt, die von gewissen inneren Strukturen des Gehirns abhängen. Diese emotionalen Reaktionen ereignen sich in subkortikalen Bereichen des Gehirns, speziell im limbischen System und in einigen präfrontalen Bereichen. Die primären Emotionen sind im Gehirn fest „verdrahtet“, während die sekundären Emotionen davon abhängen, wie das Individuum die entsprechende Situation kognitiv bewertet. Die emotionalen Reaktionen bewirken grundlegende Veränderungen in der „Landschaft“ des Körpers. Die Gesamtheit der körperlichen Veränderungen bildet das Substrat der neuronalen Muster, die schließlich als gefühlte Emotionen, d. h. als Gefühle bewusst werden. Die Wahrnehmung der emotionalen Körperreaktionen erfolgt im limbischen System sowie in einigen somatosensorischen Feldern. Das fundamentale Prinzip D2, demzufolge Gefühle mit Wahrnehmungen von emotionalen Körperzustandsveränderungen gleichgesetzt werden, würde normalerweise so zu verstehen sein, dass wir uns unserer Gefühle stets bewusst sind, denn im üblichen Verständnis des Begriffs Wahrnehmung sind all unsere Wahrnehmungen bewusste mentale Vorgänge. In dem 2000 erschienenen Buch The Feeling of What Happens hat Damasio seine Konzeption (D2) jedoch wie folgt modifiziert: (D2*) (i) Gefühle sind nicht notwendigerweise bewusste Wahrnehmungen von Emotionen (bzw. von Körperzustandsveränderungen); (ii) Bewusste Gefühle entstehen erst, wenn sich an die Vorgänge der Emotion und des Gefühls noch nachträglich der „Prozess des Bewusstseins“ anschließt“.2

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Deshalb musste Damasio seine frühere Theorie der Emotionen um eine neurologische Theorie des Bewusstseins (und damit zusammenhängend: des „Selbst“) erweitern. Aus Platzgründen kann hierauf nicht näher eingegangen werden. Was jedoch seine Theorie der Emotionen betrifft, wären folgende Punkte kritisch anzumerken: (L1) Damasios dreifache Trennung von Emotionen, Gefühlen und „gefühlten Gefühlen“ erscheint unnötig kompliziert. Es reicht völlig aus, zwischen (i) dem bewussten Gefühl und (ii) der damit einher- bzw. vorausgehenden Körperzustandsveränderung zu unterscheiden. (L2) Damasios Theorie bleibt in mehrerlei Hinsicht unvollständig: (a) Sie lässt völlig unklar, wie die große Vielfalt der sekundären Emotionen als „Spielarten“ der primären aufgefasst werden könnten (z. B., in wiefern Hoffnung eine Spielart von Glück bzw. von Trauer darstellen sollte, geschweige denn eine Variante von Zorn oder von Furcht). (b) Sie berücksichtigt bzw. erklärt überhaupt nicht den jeweiligen („intentionalen“) Gehalt einer spezifischen Emotion (durch den sich z. B. die Hoffnung von A, dass morgen die Sonne scheint, von der Hoffnung von B unterscheidet, dass es morgen regnen möge). (c) Sie erklärt auch nicht die Intensität, mit der ein und dieselbe Emotion in verschiedenen Leuten oder bei verschiedenen Anlässen auftritt. (d) Sie bleibt letztlich auch eine genaue neurologische (bzw. physiologische) Erklärung dafür schuldig, woher die Werthaftigkeit, d. h. die Positivität bzw. Negativität der Emotionen resultiert. Selbst hinsichtlich der elementaren Gefühle von Lust und Schmerz bleibt unklar, welche Prozesse im Gehirn (bzw. möglicherweise in anderen Körperorganen?) für den unangenehmen Charakter des Schmerzes bzw. den angenehmen Charakter der Lust verantwortlich sind. Einige dieser Kritikpunkte treffen auch auf Joseph LeDoux’ verwandte Theorie der Emotionen zu, die nun kurz betrachtet werden soll.

1.2 Anmerkungen zu LeDoux Gleich zu Beginn des Buches The emotional brain3 formuliert Joseph LeDoux eine Reihe von wichtigen, philosophisch interessanten Fragen:

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„… worin besteht die Gemeinsamkeit von mentalen Zuständen wie [Liebe und Hass und Ärger und Freude], aufgrund derer wir sie alle als ‚Emotionen‘ bezeichnen? Was unterscheidet diese Klasse mentaler Zustände von anderen? Wie beeinflussen Emotionen die anderen Bereiche unseres geistigen Lebens, indem sie Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken und Träume formen? […] Kontrollieren wir unsere Emotionen, oder kontrollieren sie uns? Sind Emotionen durch unsere Gene ein für alle mal neuronal festgelegt, oder werden sie dem Gehirn durch die Umwelt anerzogen? Haben Tiere Emotionen, und wenn ja, welche Spezies? Gibt es unbewusste emotionale Reaktionen und unbewusste emotionale Erinnerungen?“4

Ich glaube nicht, dass LeDoux’ Theorie, die sich vorwiegend mit der Furcht-Konditionierung von Ratten beschäftigt, all diese Fragen ernsthaft zu beantworten versucht (oder gar erfolgreich beantwortet) hätte. Dennoch stellt der obige Fragenkatalog einen geeigneten Ausgangspunkt für unsere Überlegungen dar. Jedenfalls sollen durch die unten folgende philosophische Theorie der Emotionen einige dieser Fragen zumindest partiell beantwortet werden. Zunächst jedoch möchte ich auf einen methodologischen Punkt aufmerksam machen, den LeDoux folgendermaßen vorbrachte: „Nach meiner Auffassung sind Emotionen biologische Funktionen des Nervensystems, und eine Untersuchung der Art und Weise, wie die Emotionen in unserem Gehirn repräsentiert werden, verhilft uns zu einem besseren Verständnis. Dieser Zugang steht in scharfem Gegensatz zu dem traditionellen Vorgehen, bei dem Emotionen – unabhängig von den zugrunde liegenden Mechanismen des Gehirns – als psychologische Zustände untersucht werden. Die psychologische Forschung hat sich als äußerst wertvoll erwiesen, doch der Ansatz, Emotionen als Hirnfunktionen zu betrachten, ist noch viel stärker.“5

LeDoux scheint hier jedoch eine falsche Dichotomie aufzustellen, denn die Betrachtungsweisen von Emotionen als biologischen Funktionen des Gehirns einerseits und als psychologischen oder mentalen Zuständen des Individuums andererseits sind durchaus kompatibel. Die meisten zeitgenössischen Forscher, die sich aus psychologischer Perspektive mit Emotionen beschäftigen, gestehen selbstverständlich zu, dass mentale Zustände nicht „von den zugrundeliegenden Mechanismen des Gehirns“ unabhängig sind. Umgekehrt muss aber auch der Neurologe anerkennen, dass es sich bei Emotionen um mentale Zustände bzw. mentale Vorgänge handelt, deren Natur nicht allein durch physiologische Untersuchungen von Hirnprozessen, sondern auch durch psychologische Experimente (und eventuell sogar durch philosophische Analysen) bestimmt werden muss! Eine der wichtigsten Aufgaben für den Philosophen besteht darin, zunächst die „Ontologie“ des Geistigen aufzuklären.

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2.1 Leib und Seele Um es kurz zu machen: Das berühmt-berüchtigte Leib-Seele-Problem ist kein wirkliches Problem. Die „klassische“ Variante dieses Problems resultierte lediglich aus Descartes’ Konzeption des Geistes als einer speziellen nicht-ausgedehnten Substanz, die dennoch in der Lage sein soll, mit den materiellen Gegenständen der Außenwelt kausal zu interagieren. Auch modernere Varianten des Leib-Seele-Problems, denen zufolge das Entstehen „phänomenalen Bewusstseins“ prinzipiell nicht durch Gehirnvorgänge erklärbar sein soll, scheinen auf unhaltbaren Prämissen zu beruhen. Wie andernorts argumentiert wurde, ist die sogenannte „Erklärungslücke“ bzw. das „harte Problem“ des Bewusstseins eine Fiktion. Wenn es künftiger neurowissenschaftlicher Forschung gelingen sollte, alle „leichten Probleme“ des Bewusstseins zu lösen, die nach David Chalmers in den Fähigkeiten bestehen, „Umweltreize zu diskriminieren, zu kategorisieren und auf sie zu reagieren“ bzw. in der „Integration von Information durch ein kognitives System“, der „Steuerung der Aufmerksamkeit“ oder auch im „Zugang eines Systems zu den eigenen inneren Zuständen“6, wenn also die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für solche mentalen Leistungen wissenschaftlich exakt ermittelt wären, dann hätten wir bereits eine vollständige wissenschaftliche Erklärung des subjektiven Erlebens. Die Möglichkeit eines „Zombies“, in dessen Gehirn alle relevanten physiologischen Vorgänge stattfinden, während sein Geist dennoch völlig leer bzw. „dunkel“ bleibt, wäre dann nämlich allenfalls logisch möglich, real bzw. nomologisch jedoch unmöglich, d. h. mit den (u. a. neurologischen) Naturgesetzen unverträglich.7 Welche eigene ontologische Position vertrete ich nun konkret? Bin ich Materialist oder gar Vertreter einer Identitätstheorie, der das Gehirn mit dem Geist gleichsetzen möchte? Nun, zunächst einmal halte ich die traditionelle Etikette des Materialismus, des Idealismus oder des Dualismus für sachlich unangemessen und irreführend. Obwohl ich nicht an die Existenz von reinen Geistern, immateriellen Substanzen oder sonstigen übernatürlichen Dingen glaube, würde ich mich niemals als Materialisten in dem Sinne bezeichnen, dass ich behaupten wollte, alles im Universum bestünde ausschließlich aus materiellen Bestandteilen oder Atomen. Meiner Meinung nach sollte man eine dualistische – bzw. besser: polyistische – Ontologie akzeptieren, der zufolge unsere Welt außer physischen bzw. materiellen Dingen auch verschiedene Klassen nichtmaterieller Entitäten umfasst. Abstrakte Dinge wie Zahlen, mathemati-

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sche Funktionen oder geometrische Figuren sind sicher nicht materiell; aber auch mentale Entitäten wie Gedanken, Wünsche, Glaubensannahmen oder Gefühle sind selber nicht materiell. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere nicht-materielle „Dinge“ wie z. B. Spielregeln, soziale Konventionen, staatliche Gesetze, ethische Prinzipien, etc. Wenn in diesem Zusammenhang ein fundamentaler, kategorialer Unterschied zwischen mentalen und materiellen Entitäten behauptet wird, so impliziert das nicht, dass zwischen diesen ontologischen Bereichen keine logischen oder kausalen Beziehungen bestehen würden. Gemäß der von John Searle vertretenen Position des „biologischen Naturalismus“ lässt sich die zentrale Beziehung zwischen Geist und Gehirn z. B. folgendermaßen umreißen: „Das berühmte Leib-Seele Problem, die Quelle so vieler Kontroversen während der vergangenen zwei Jahrtausende, besitzt eine einfache Lösung. […] Mentale Phänomene werden durch neurophysiologische Vorgänge im Gehirn verursacht und stellen deshalb selber Merkmale des Gehirns dar“.8

Eine solche Auffassung des Geistes als eines natürlichen, biologischen Phänomens würde ich mit zwei Einschränkungen akzeptieren. Erstens ist es wohl adäquater, nicht immer nur das Gehirn allein in Betracht zu ziehen, sondern zu betonen, dass geistige Phänomene durch das gesamte zentrale Nervensystem – sowie gegebenenfalls durch weitere Körperorgane – „verursacht“ werden. Zweitens sollte man darauf hinweisen, dass, auch wenn bislang geistige Phänomene ausschließlich bei höher entwickelten Lebewesen beobachtet wurden, es dennoch logisch möglich erscheint, dass in anderen Teilen des Universums fremdartige Formen von Geist auch in nicht-biotischen Systemen realisiert sein könnten. Jedenfalls kann man nicht a priori ausschließen, dass eines Tages in technischen Artefakten echte „künstliche Intelligenz“ entsteht. Aus der Perspektive eines (im engeren oder weiteren Sinn) biologischen Naturalismus löst sich das philosophische Problem der allgemeinen Beziehung zwischen Geist und Gehirn jedenfalls vollständig auf. Übrig bleiben nur zahlreiche wissenschaftliche Detailprobleme, wie es (biologische) Gehirne im Einzelnen schaffen, spezifische geistige Zustände und Vorgänge wie Wahrnehmungen, Gefühle, Glaubensannahmen und Wünsche zu „verursachen“. Dies herauszufinden, ist Aufgabe der Kognitionswissenschaften, die meiner Ansicht nach als ein sehr weit reichendes interdisziplinäres Unterfangen aufgefasst werden sollte, bei dem die Hauptarbeit vermutlich von den verschiedenen Hirnwissenschaften wie Neurologie, Physiologie, Biochemie, Biologie und Me-

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dizin usw. zu leisten wäre, bei der jedoch auch die Geisteswissenschaften, insbesondere Psychologie, Sprachwissenschaft und Philosophie eine nicht unbedeutende Rolle mitspielen. Eine spezifisch philosophische Aufgabe besteht darin, die verschiedenen mentalen Vorgänge und Zustände zunächst einmal begriffsanalytisch zu sortieren.

2.2 Eine Landkarte des Geistes Auch wenn meine eigenen Forschungen normalerweise nicht philosophiegeschichtlich, sondern rein problemorientiert sind, möchte ich mit einem knappen historischen Abriss beginnen. Im frühen 17. Jahrhundert beschäftigten sich die beiden wichtigsten Strömungen der neuzeitlichen Philosophie, Rationalismus und Empirismus, vor allem mit einem gemeinsamen Thema: der menschlichen Natur, speziell dem menschlichen Geist. Descartes unterschied dabei zwei Hauptbereiche des Geistigen: Vernunft und Wille, wobei unter Vernunft intellektuelle Fertigkeiten wie Wahrnehmen, Sich Vorstellen, Denken usw. subsumiert werden, während der Wille nicht nur Wünsche und Bedürfnisse umfasst, sondern interessanterweise auch Glaubensannahmen bzw. Zweifel. Ähnlich geht John Locke von einer Zweiteilung des Geistigen aus: Auf der einen Seite werden als „Modi“ des Denkens Wahrnehmung, Gedächtnis, Träume und weitere mentale Aktivitäten aufgelistet; dem stehen andererseits Modi der Leidenschaften wie Lust (pleasure) und Schmerz, Wünsche, Hoffnungen, Ängste, etc. gegenüber. In neuerer Zeit hat z. B. Colin McGinn9 den Bereich des Mentalen etwas feiner in zweimal zwei Kategorien unterteilt: Zur Klasse der Wahrnehmungen (sensations) zählt er – ähnlich wie seinerzeit Hume – die Sinneseindrücke (impressions) der äußeren sowie Gefühle als Produkt der inneren Wahrnehmung. Daneben stellt er den Bereich der propositionalen Einstellungen, der in die Teilklassen von epistemischen bzw. kognitiven Einstellungen einerseits und von sog. konativen Einstellungen andererseits zerfällt. Andere Autoren haben ähnliche, mehr oder weniger abweichende Klassifikationsversuche vorgeschlagen. LeDoux erwähnt z. B. die „mentale Trilogie“ von Kognition, Emotion und Motivation, listet daneben aber auch Ideen, Sinneswahrnehmungen, Gefühle usw. auf.10 Insgesamt stößt man jedenfalls immer wieder auf die folgenden Haupttypen mentaler Zustände bzw. Vorgänge: 1. Perzeptionen oder Wahrnehmungen 2. Konative Einstellungen

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3. Kognitive Einstellungen 4. Gedanken 5. Gefühle. Dazu ein paar Anmerkungen. Erstens gibt es zwischen den jeweiligen Bereichen keine scharfen Trennlinien. Speziell ließe sich der Begriff des Gedankens in einem breiten Sinne so auffassen, dass er alle anderen Typen mentaler Zustände mit umfasst. Ferner haben viele Gedanken, Wahrnehmungen und konative Einstellungen eine emotionale Komponente. Wie in der Philosophie nur allzu häufig, liefert deshalb auch der obige Klassifikationsversuch keine saubere Unterteilung in gegenseitig sich ausschließende und zusammengenommen erschöpfende Teilklassen, sondern stellt eher das dar, was man im Anschluss an Wittgenstein als Gruppierung nach „Familienähnlichkeit“ bezeichnen könnte.11 Zweitens taucht in der Liste bei weitem nicht alles auf, was dem Bereich des Geistigen zuzuordnen wäre – z. B. ist nirgendwo von Bewusstsein, von Intelligenz oder von Kreativität die Rede. Das liegt daran, dass die Landkarte des Geistes nur die möglichen mentalen Inhalte zu erfassen beabsichtigt, nicht aber die Eigenschaften oder Merkmale solcher Zustände und Prozesse. Werfen wir nun einen näheren Blick auf die fünf obigen Kategorien. Der Bereich der Wahrnehmung oder Perzeption umfasst (beim Menschen) außer den „äußeren Sinnen“ des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Fühlens auch gewisse Fähigkeiten der „inneren Wahrnehmung“ wie Propriozeption, Nozizeption, usw. Insbesondere die Nozizeption, d. h. die Wahrnehmung einer (akuten oder drohenden) Verletzung bzw. Körperschädigung, könnte jedoch auch dem Bereich der Gefühle zugeordnet werden, weil sie in aller Regel mit einer Schmerzempfindung einhergeht (bzw. diese hervorruft). Die wichtigsten Arten einer epistemischen oder kognitiven Einstellung sind Glauben, Überzeugung und Wissen (mit den Varianten des Vermutens, des Für-Wahrscheinlich-Haltens, des Bezweifelns usw.). Zu den konativen Einstellungen rechnet man primär das Wollen und Wünschen, eventuell noch das Beabsichtigen, Intendieren oder Anstreben; Vorlieben und Abneigungen – bzw. genereller: Präferenzen – können aber ebenfalls darunter subsumiert werden. Bei Gedanken erscheint es sinnvoll, zwischen (mindestens) zwei grundsätzlich verschiedenen Formen zu unterscheiden. Im Alltag versteht man unter einem Gedanken primär das, was sich als „stummer Satz“ (einer natürlichen Sprache) beschreiben lässt. Ein solches Denken stellt das Paradigma des Geistigen dar, das z. B. Daniel Dennett vor Au-

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gen hat, wenn er in dem Buch Spielarten des Geistes [1999] dafür plädiert, „Denken“ mehr oder weniger exklusiv für in Sprache gekleidete Gedanken zu verwenden. Daneben gibt es aber auch einen zweiten Typus von nicht-sprachlichen, „bildhaften“ Gedanken, die man nach Damasio als Folgen oder Assoziationen von „geistigen Bildern“ (mental images) bzw. Inhalten irgendeiner anderen Sinnesmodalität (Töne, Gerüche, Geschmäcker, körperliche Empfindungen etc.) auffassen soll. Denken in diesem zweiten, nicht nur auf Menschen beschränkten Sinn bedeutet laut Damasio nur so viel wie in der Lage zu sein, mentale Bilder zu erzeugen und sie zu einem Prozess zu ordnen. Diese Gedanken stellen dann die Grundlage für auch bei Tieren zu beobachtende geistige Aktivitäten des Lernens, Planens, Entscheidens, Vorstellens, induktiven Verallgemeinerns etc. dar. Schließlich könnte man noch eine dritte Klasse von abstrakten, „höheren“ Gedanken betrachten, die als Folgen von Ausdrücken einer Symbolsprache (etwa der Mathematik bzw. der Physik) oder z. B. auch der Notensprache der Musik verstanden werden könnten und die allgemein die Grundlage für alle großen intellektuellen Errungenschaften in Wissenschaft und Kunst darstellen.

2.3 Gefühle Der Bereich der Gefühle lässt sich naheliegend in drei Teilklassen einteilen: 1. Körperliche Empfindungen 2. Emotionen 3. Stimmungen. Das gemeinsame Merkmal, durch das sie sich von anderen mentalen Zuständen unterscheiden, besteht in dem mit ihnen einhergehenden subjektiven Empfinden, das sich irgendwie angenehm oder unangenehm „anfühlt“. Gefühle werden in der Regel bewusst wahrgenommen bzw. empfunden, und dieses Erleben hat einen positiven oder negativen Charakter, auf den in Abschnitt 2.5 noch näher einzugehen bleibt. Die Hauptunterschiede zwischen den obigen drei Arten von Gefühlen wären in erster Annäherung folgendermaßen zu beschreiben. Elementare Körpergefühle wie Schmerzen, Hunger und Durst, Ekel, Erschöpfung, Frieren usw. treten bei vielen Arten von Lebewesen auf. Beim Menschen können noch komplexere Körpergefühle wie Nervosität, Angespanntheit, etc. hinzukommen. Nach einer zunächst von William James12 vorgebrachten und in neuerer Zeit von Damasio weiter

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entwickelten Theorie gehen Emotionen mit spezifischen Körperzuständen einher, die als bewusst erlebtes Gefühl wahrgenommen werden. Auch Emotionen besitzen also eine wesentlich körperliche Komponente. Dennoch besteht zwischen Emotionen und (reinen) Körpergefühlen ein entscheidender Unterschied, der z. B. von Aaron BenZe’ev wie folgt hervorgehoben wurde: „Einige Leute setzen Emotionen mit Gefühlen gleich. Das ist jedoch ein Fehler, denn Emotionen besitzen außer dem Gefühl noch eine intentionale Komponente. Im Gegensatz zu den Emotionen sind Gefühle nicht intentional; ihnen fehlt die evaluative, kognitive und motivationale Komponente, die für Emotionen so charakteristisch ist.“ 13

Dieser „intentionale Gehalt“ von Emotionen soll in Abschnitt 2.4 weiter unten näher analysiert werden. Die wichtigsten, von vielen Autoren14 als elementar bzw. „universal“ bezeichneten Emotionen, die auch bei höher entwickelten Tieren anzutreffen sind, umfassen Angst bzw. Furcht, Freude, Wut und Trauer. Darüber hinaus werden gelegentlich auch Ekel, Scham und Überraschung als elementar betrachtet. An komplexeren Emotionen, wie sie wohl nur beim Menschen auftreten, wären z. B. Stolz, Neid, Eifersucht, Hass, Zorn, Dankbarkeit und Liebe zu nennen.15 Bloße Stimmungen bzw. Hintergrundgefühle wie Zuversichtlichkeit, Melancholie, Heiterkeit, Depressivität usw. unterscheiden sich von echten Emotionen erstens dadurch, dass sie normalerweise weniger intensiv sind als die letzteren. Stimmungen sind länger anhaltende, eher flache Gefühlszustände, denen das für Emotionen so typische Merkmal starker Erregung fehlt. Zweitens besitzen Hintergrundgefühle, ähnlich wie Körpergefühle, keinen eigentlichen intentionalen Gehalt.16 Im Unterschied zu letzteren, die ja primär aus Mangelerscheinungen bzw. deren Behebung resultieren, haben Stimmungen jedoch in der Regel keine rein körperliche Ursache, sondern werden durch emotional bedeutsame geistige Erlebnisse ausgelöst. Wie Peter Goldie angemerkt hat, ist der Unterschied zwischen Stimmungen und Emotionen allerdings nicht immer sehr scharf. Stimmungen können sich manchmal in Emotionen verwandeln: „zum Beispiel Ängstlichkeit in Furcht, indem sie sich auf ein bestimmtes Objekt richtet“, und umgekehrt kann eine Emotion zu einer bloßen Stimmung abebben. 17 Weiter oben wurde betont, dass Gefühle generell bewusst erlebt werden. Dieser Punkt ist allerdings in der Literatur ziemlich kontrovers. Genauer wäre zu sagen, dass Emotionen und Stimmungen zwar in seltenen Fällen (mehr oder minder) unbewusst bzw. unbemerkt existieren

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können, in aller Regel jedoch vom Subjekt irgendwie als positiv oder negativ empfunden und also bewusst wahrgenommen werden. Dies gilt erst recht für Körpergefühle, die nach den obigen Begriffsbestimmungen als Wahrnehmungen spezifischer Körperzustände aufzufassen sind. Nach Ansicht anderer Autoren sollen hingegen selbst elementare Körpergefühle wie Schmerzen unbewusst auftreten können. Diese These scheint jedoch auf einem recht ungenauen Umgang mit dem Begriff Schmerz zu beruhen. Typischerweise bezieht man sich auf Situationen, wo Opfer eines Verkehrsunfalls oder Soldaten auf dem Schlachtfeld massive Verletzungen davongetragen haben, diese aber zunächst noch gar nicht (als Schmerz) empfinden. Erst nach der Behandlung im Krankenhaus bzw. im Lazarett – so deutet man das Phänomen – würde ihnen der Schmerz bewusst! Genauer wäre jedoch zu sagen, dass diese Leute zunächst trotz ihrer Verletzungen keinen Schmerz empfinden und dass ihnen erst später bewusst wird, dass sie sich verletzt haben. Doch solange die Verletzung nicht als schmerzhaft erlebt wird, liegt eben auch noch kein Schmerz vor – ein „unbewusster Schmerz“ ist einfach ein begriffliches Unding!18

2.4 Der „intentionale Gehalt“ von Emotionen Ganz allgemein lassen sich zwei logische Formen von Emotionen (bzw. Ausdrücken für Emotionen) unterscheiden. Mit der abstrakten Formel Ε (S,p) soll ausgedrückt werden, dass das Subjekt S die emotionale Einstellung Ε gegenüber der Proposition p hat, wobei – wie schon zuvor erläutert – unter einer Proposition nicht nur ein Satz einer natürlichen Sprache verstanden werden soll, sondern ein beliebiger Sachverhalt.19 Konkrete Beispiele für Emotionen dieses ersten, propositionellen Typs wären: • Anton bedauert, dass er das Auto der Nachbarin beschädigt hat; • Berta freut sich darüber, dass der Regen aufgehört hat; • Christoph ist empört darüber, dass Dorothee eine fremdenfeindliche Bemerkung gemacht hat. Die einzelne Proposition p, d. h. der durch den ‚dass‘- Satz beschriebene Sachverhalt, stellt dabei den „intentionalen“ Gehalt der jeweiligen Emotion dar. Eine zweite Art von Emotionen richtet sich hingegen nicht gegen einen (propositionellen) Sachverhalt, sondern gegen ein spezifisches Objekt. Diese Form von Emotionssätzen sei durch Ε(S,x) symbolisiert,

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wobei x für einen beliebigen Gegenstand steht. Als konkrete Beispiele könnte man erwähnen: • Erwin liebt Frieda; • Gerhard ekelt sich vor rohem Fleisch; • Hänschen fürchtet sich vor großen Hunden. Als „Gegenstände“ x könnten in E(S,x) nicht nur konkrete Einzeldinge, Tiere, Personen, etc. in Frage kommen, sondern gegebenenfalls auch Ereignisse.20 Bei einer solchen liberalen Ontologie verschwimmen allerdings die Grenzen zwischen den Emotionsformen E(S,p) und E(S,x). Z. B. ließe sich Isoldes Angst vor Gewittern in „gegenstandsbezogener“ Weise analysieren als: „Für alle x: Wenn x ein Gewitter ist, dann Hat-Angst-vor(Ines,x)“. Andererseits wäre aber auch eine Analyse der Form „Hat-Angst-dass(Ines,p)“ plausibel, wobei die Proposition p etwa besagen würde: ‚In Isoldes Nähe findet ein Gewitter statt‘. Im allgemeinen lassen sich Emotionssätze des Typs E(S,x) nicht in solche des Typs E(S,p) „übersetzen“ (und umgekehrt), während anscheinend alle weiteren, in der Umgangssprache vorkommenden Sätze von grammatikalisch abweichendem Typ auf eine dieser Standardformen reduziert werden können. Dass z. B. Isolde Trauer über den Tod von Tristan empfindet, ist gleichwertig mit der standardisierten Aussage: Isolde empfindet Trauer darüber, dass Tristan tot ist. Ebenso lassen sich Jakobs Sorgen wegen des Verlustes seiner Kreditkarte explizit in die Gestalt Ε(S,p) transformieren, z. B. „Jakob ist besorgt darüber, dass er durch den Verlust seiner Kreditkarte einen finanziellen Schaden hinnehmen muss.“ Am Rande sei vermerkt, dass der intentionale Gehalt einer Emotion identisch sein kann – aber keineswegs identisch sein muss – mit dem Gegenstand bzw. dem Sachverhalt, der diese Emotion beim Subjekt S auslöst. Im obigen Beispiel wurde Christophs Empörung über Dorothees fremdenfeindliche Bemerkung durch eben diese Bemerkung (bzw. etwas genauer: durch sein Hören dieser Bemerkung) ausgelöst. Doch in vielen Fällen kann es viel indirektere (manchmal recht abwegige) Zusammenhänge zwischen dem Auslöser einer Emotion und ihrem intentionalen Gehalt geben. Ines entdeckt in der Jackentasche von Julian ein Photo ihrer Freundin Karin mit der Signatur ‚Für meinen Schatz‘. Sie glaubt, Karin habe Julian das Photo geschenkt und entbrennt daraufhin in Eifersucht. Die Eifersucht bezieht sich natürlich nicht auf das Photo (bzw. auf die Tatsache, dass das Photo in Julians Tasche war), sondern auf den mutmaßlichen Sachverhalt, für den sie das Photo als Indiz ansieht, dass nämlich Karin ein Verhältnis mit Julian hat.

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Nach Auffassung von Robert M. Gordon besteht die intentionale Komponente von Emotionen generell in einer „Belief-Wish-Requirement“, d. h. in einer geeigneten Glaubensannahme plus einem entsprechenden Wunsch. Im Beispiel des Ärgers soll dieses Paar propositioneller Einstellungen folgendermaßen strukturiert sein: „Wenn S darüber verärgert ist, dass p, dann glaubt S, dass p, und er wünscht, dass es nicht der Fall sein möge, dass p, und die Konjunktion der Bedingungen (1) S glaubt, dass p, und (2) S wünscht, dass es nicht der Fall sei, dass p, und (3) gewisser weiterer bestehender Bedingungen ist hinreichend dafür, dass S verärgert darüber ist, dass p, während keine zwei der drei Konjunktionsglieder dafür ausreichen, dass S Ärger empfindet.“21

Eine derartige Analyse von Emotionen durch notwendige und hinreichende Bedingungen, die auf Glaubensannahmen und Wünsche des Subjekts rekurrieren, erscheint jedoch recht unbefriedigend. Zum einen funktioniert der Ansatz bestenfalls für Emotionen des Typs E(S,p), während er bei solchen der Form E(S,x) zwangsläufig versagen muss. Zum anderen bleibt gänzlich unklar, was es mit den „gewissen weiteren“ Bedingungen auf sich hat, die in Klausel (3) der „Belief-Wish-Requirement“ genannt werden. Nach Gordon soll die obige Analyse nicht nur für Ärger, sondern für beliebige andere negative Emotion wie Wut, Enttäuschung, Bedauern, Trauer, Scham, Abscheu, usw. gelten. Für die Analyse positiver Emotionen22 wäre hingegen anstelle der obigen Bedingung (2) entsprechend zu fordern (2*): S wünscht, dass es der Fall sein möge, dass p. Deshalb stellen die Forderungen (1) und (2) [bzw. (2*)] nur sehr schwache notwendige Bedingungen dar, die von jeder negativen bzw. positiven Emotion erfüllt werden. Somit besteht eine wichtige, in Gordons Theorie überhaupt nicht in Angriff genommene Aufgabe darin, für die einzelnen Emotionen Ei(S,p) unterschiedliche „weitere Bedingungen“ (3i) anzugeben, die zusammen mit (1) und (2) (bzw. 2*) für Ei(S,p) hinreichend sind und durch die sich die einzelnen Ei, Ej voneinander abgrenzen. In erster Annäherung ließen sich einige wichtige Unterschiede zwischen Ärger, Wut, Enttäuschung, Bedauern, Trauer, Scham und Abscheu folgendermaßen umreißen: Während man sich praktisch über jeden beliebigen Sachverhalt p ärgern kann, der einem „nicht in dem Kram passt“, d. h. in Gordons Worten gesprochen, „von dem man wünscht, dass es nicht der Fall sein möge, dass p“, sind die anderen negativen Emotionen wesentlich spezifischer. Wenn S über einen Sachverhalt p enttäuscht ist, dann stellt p im Normalfall das Nichteintreten von etwas dar, das S versprochen wurde; jedenfalls muss p das Resultat einer Handlung darstellen, und es hat auch zu gelten: S erwartete (bzw. hatte guten Grund zu erwarten), dass

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p nicht passieren würde. Um hingegen sagen zu können, dass S es bedauert, dass p, wird p in der Regel ein Sachverhalt sein, den S durch eigenes Handeln verursacht hat und der für andere einen Schaden darstellte; zudem muss hier gelten, dass S wünscht, dass er p (bzw. die Folgen von p für andere) rückgängig machen könnte. Trauer darüber empfinden, dass p, impliziert in der Regel, dass der Sachverhalt p für S einen (herben) Verlust bedeutet; Abscheu darüber empfinden, dass p, setzt hingegen voraus, dass p das Resultat einer fremden Handlung war, die S moralisch missbilligt. Sich dafür schämen, dass p, präsupponiert in der Regel, dass p das Resultat einer Handlung H darstellt, so dass S glaubt, dass andere ihn bei der Durchführung von H beobachtet haben, dass sie H missbilligen. Eine philosophische Theorie der Gefühle muss sich darum bemühen, über solche erste Approximationen hinaus detaillierte „WörterbuchDefinitionen“ bzw. Begriffsanalysen der einzelnen Emotionen Ei(S,p) zu erarbeiten, die in der Regel mindestens drei Komponenten enthalten. (1) Eine epistemische bzw. kognitive Komponente, die im allgemeinen wesentlich komplizierter ausfallen wird als Gordons schlichtes „S glaubt, dass p.“ (2) Eine konative Komponente, die in der Regel ebenfalls wesentlich komplexer ausfallen muss als Gordons einfaches „S wünscht, dass es nicht der Fall sei, dass p“.23 (3) Eine nähere Beschreibung des „Typs“ des intentionalen Gehalts p, die uns z. B. sagt, ob es sich bei p um ein schicksalhaftes Ereignis oder um eine absichtliche Handlung einer Person handelt; ob das Subjekt S selber diese Handlung ausgeführt hat oder Opfer der Handlung wurde. Darüber hinaus kann es noch notwendig sein, weitere Bedingungen hinzuzufügen, die spezifische Umstände oder Voraussetzungen für das Entstehen der fraglichen Emotion definieren. So wäre etwa die propositionale Emotion ‚S fühlt sich schuldig wegen p‘ annäherungsweise wie folgt zu analysieren: S fühlt sich schuldig wegen p bedeutet (ungefähr): Es gibt eine Handlung H und ein oder mehrere Individuen Xi, so dass (i) S H ausgeführt hat (ii) H bewirkt hat, dass p (iii) p für Xi einen Schaden darstellt (iv) S sieht ein, dass H (bzw. p) für Xi einen Schaden darstellt (v) S wünscht, dass er besser nicht H getan hätte. Ähnlich könnte eine nicht-propositionale Emotion wie z. B. die Eifersucht von S auf eine Person x (unter Voraussetzung der bereits zuvor

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definierten, basalen Emotion der Liebe) folgendermaßen „definiert“ werden: S ist eifersüchtig auf die Person x bedeutet (grob): Es gibt eine weitere Person y, so dass (i) S liebt y (ii) S glaubt, dass y x liebt (iii) S will nicht, dass y x liebt (iv) Es schmerzt S zu sehen, wie y x liebt. Derartige „Wörterbuch-Definitionen“ sind wohl um einiges adäquater als Robert Plutchiks „psychoevolutionäre Synthese“ der Gefühle24, die in Kap. 5 von LeDoux [1998] kurz referiert wird. Der Kerngedanke von Plutchiks Theorie besteht darin, dass die acht elementaren Emotionen Abscheu, Wut, Erwartung, Freude, Billigung, Furcht, Überraschung und Traurigkeit wie auf einem Farbkreis angeordnet und – je nach Nachbarschaft – unterschiedlich „gemischt“ werden. Als Mischung der „benachbarten“ Emotionen Furcht + Überraschung soll angeblich Beunruhigung resultieren, und Schuldgefühl ist für Plutchik, im Gegensatz zur obigen Analyse, schlicht „Freude + Furcht“! Zum Abschluss der Erörterung des intentionalen Gehalts sei betont, dass die hier skizzierte Konzeption keineswegs eine rein kognitive Theorie der Emotionen darstellt, wie sie in „klassischer“ Form von Robert Solomon und in neuerer Zeit von Martha Nussbaum verfochten wurde.25 Im Sinne der Klassifikation von Ronald A. Nash26 vertrete ich vielmehr eine Hybridtheorie, der zufolge körperliche Gefühle (bzw. körperlich induzierte Gefühle) einen weiteren, wesentlichen Bestandteil aller Emotionen ausmachen. Nun hat Peter Goldie gegenüber jeder „hybriden“ Theorie den Einwand vorgebracht, dass sie dem Phänomen der Emotionen nicht gerecht wird. Sie würde das Körpergefühl als bloßes add on betrachten, das zur jeweiligen kognitiven Komponente kontingent hinzukommen kann (oder auch nicht).27 Diese Kritik wäre sicher berechtigt, wenn man sich die einschlägigen kognitiven Zustände, speziell die fraglichen Glaubensannahmen, als nüchtern rational, kalt bzw. gefühlsneutral vorstellt. Gemäß Damasios Theorie der somatischen Markierung28 ist eine derartige Auffassung jedoch unhaltbar. Im Laufe der individuellen Entwicklung eines Menschen werden praktisch alle mentalen Zustände, Begriffe und Gedanken „automatisch“ gefühlsmäßig aufgeladen bzw. gefärbt. Die für eine Emotion einschlägigen epistemischen bzw. konativen Einstellungen gehen also immer schon mit (von Subjekt zu Subjekt möglicherweise verschiedenen bzw. verschieden starken) Körperempfindungen einher.

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2.5 Zur Werthaftigkeit von Emotionen Nach allgemeiner Auffassung ist jedes Gefühl entweder positiv (angenehm, lustvoll) oder negativ (unangenehm, schmerzhaft), und nach Ansicht mancher Autoren gibt es weit mehr negative Gefühle als positive. So spricht etwa O. Harvey Green davon, die (alphabetisch geordnete) Liste negativer Emotionen wie „Angst, Empörung, Groll, Hass, Kummer, Mitleid, Neid, Reue, Wut“ sei lang, während sie auf der Seite der positiven Emotionen mit „Freude, Hoffnung, Glück, Liebe und Vergnügen“ sehr kurz sei.29 Doch dieses Faktum betrifft nicht zwangsläufig die Emotionen bzw. das emotionales Erleben selber, sondern vorrangig unsere Sprache, die weit mehr Ausdrücke für negative als für positive Gefühle zu kennen scheint.30 Wenn wir aufgefordert werden, Emotionen (oder Emotionswörter) in positive oder negative einzuordnen, so bereitet uns dies jedenfalls in der Regel keinerlei Schwierigkeiten. So werden etwa – über Greens oben zitierte Beispiele hinaus – Beleidigtsein, Enttäuschtsein, Eifersucht, Frustration, Minderwertigkeitsgefühl, Trauer, Zorn usw. klar als negativ eingestuft, während Glück, Stolz, Dankbarkeit und Zufriedenheit eindeutig als positiv gelten. Was ist nun das Gemeinsame, aufgrund dessen die positiven Gefühle und Emotionen als positiv, die negativen jedoch als negativ beurteilt werden? Die Menge der negativen Gefühle ist offenbar sehr inhomogen und umfasst außer Körpergefühlen wie Hunger, Durst, Schmerzen etc. auch Emotionen wie Empörung, Enttäuschung, Verzweiflung, usw. Deshalb muss man sich mit Stuart Rachels fragen, ob all diese heterogenen Empfindungen überhaupt ein gemeinsames Merkmal haben, aufgrund dessen man sie als eine „natürliche Art“ betrachten darf?31 Als nächstliegendes Kriterium für die Positivität bzw. Negativität von Gefühlen bzw. Emotion wird man vermutlich ihren „hedonischen“ Charakter in Betracht ziehen. So heißt es bei Green kurz und bündig: „Negative Emotionen werden als unangenehm, positive Emotionen als angenehm erlebt“.32 Im Anschluss an diese Bestimmung stellt sich jedoch die weitere Frage, ob die mit positiven bzw. mit negativen Emotionen einhergehenden Körperzustandveränderungen jeweils auf dem gleichen neurophysiologischen Mechanismus beruhen. Sind tatsächlich alle negativen Emotionen nur „Spielarten“ der primären Emotionen Trauer und Furcht, und stellt jede Form eines „seelischen Schmerzes“ tatsächlich eine Abart des normalen, körperlichen Schmerzes dar? Ich hoffe, dass die Neurowissenschaft recht bald die folgenden Hypothesen bestätigen oder widerlegen kann:

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(L3) (a) Das Unangenehme eines Gefühls bzw. einer Emotion wird durch spezifische neuronale Strukturen im Gehirn (eventuell in Kombination mit spezifischen biochemischen Reaktionen) hervorgebracht. (b) Das Angenehme eines Gefühls bzw. einer Emotion wird durch andere neuronale Strukturen im Gehirn (in Kombination mit anderen biochemischen Reaktionen, z. B. Endorphinen) verursacht. Wenn sich diese Hypothesen als zutreffend erweisen sollten, hätte man zumindest eine partielle Erklärung für ambivalente Gefühle bzw. Emotionen wie z. B. die eines Masochisten, denn es scheint durchaus plausibel anzunehmen, dass beide neuronalen Strukturen, d. h. grob gesprochen: sowohl das Schmerz- als auch das Lustzentrum, simultan aktiv sind. Andere ambivalente Emotionen, die zugleich eine positive als auch eine negative Komponente zu besitzen scheinen, müssen hingegen vermutlich anders erklärt werden. Gemäß Greens „kognitivem Kriterium“ beurteilen wir oft Emotionen als positiv bzw. als negativ „auf der Grundlage der evaluativen Glaubensannahmen, die die Emotion verursachen bzw. die für die Emotion konstitutiv sind“.33 Demzufolge wäre eine Emotion des propositionalen Typs E(S,p) (kognitiv) positiv für die Person S, wenn S den Sachverhalt p als gut (für sich) bewertet, d. h. wenn S glaubt, dass p gut für sie selber ist. Deshalb können theoretisch die folgenden Fälle auftreten: Zum einen kann der emotionale Zustand E1 für das Subjekt S selber angenehm sein, obwohl der intentionale Gehalt p1 in der einen oder anderen Weise negativ für S ist, oder umgekehrt kann p2 in gewisser Weise positiv für S sein, während der emotionale Zustand E2 von S als unangenehm empfunden wird. Ein derartiger Kontrast bzw. Konflikt liegt z. B. bei Hoffnung und Sehnsucht vor. Wenn S sich danach sehnt, dass p2, dann ist der Sachverhalt p2 selber für S positiv – S wünscht sich ja, dass p. Doch die Unsicherheit, das bange Warten auf die Nachricht, ob p2 nun tatsächlich eintritt oder nicht, ist in der Regel unangenehm für S. Für die konverse Situation, wo der intentionale Gehalt einer Emotion negativ für S ist, der gefühlsmäßige Zustand von ihr aber trotzdem als angenehm empfunden wird, wäre primär an selbstzerstörerische bzw. masochistische Neigungen oder an das Frönen „verbotener“ Leidenschaften, z. B. Spielsucht, zu denken. Hier offenbart sich ein Konflikt im Bewertungssystem des Subjekts S. Einerseits weiß S, dass das Tun akut oder längerfristig schlecht für ihn selber ist, andererseits berei-

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tet es ihm offenkundig Lust. Bei solchen ambivalenten Handlungen handelt es sich jedoch nicht um Emotionen im eigentlichen Sinn, denn sie lassen sich offenbar nicht in die logische Gestalt E(S,p) oder E(S,x) transformieren. Die Ambivalenz einer echten Emotion wie der Schadenfreude muss hingegen anders analysiert werden. Zwar ist auch hier die gefühlsmäßig erlebte Komponente angenehm oder lustvoll für S – Schadenfreude stellt schließlich einen echten Spezialfall von Freude dar –, doch der Gegenstand bzw. Gehalt der Emotion, also das Missgeschick bzw. der Schaden, der jemand anderem zugestoßen ist, ist eben nur für den anderen negativ, nicht aber für S selber. Um ein echtes Pendant zur Sehnsucht darzustellen, müsste der intentionale Gehalt der Emotion für S „negativ“ sein und die Emotion dennoch als „positiv“ oder angenehm erlebt werden. Annäherungsweise lässt sich so etwas vielleicht bei optimistischen Frohnaturen beobachten, die ihr eigenes Missgeschick mit Galgenhumor hinnehmen. Mit einer wiederum anders gearteten Gruppe von „ambivalenten“ Emotionen haben wir es bei Reue, Bedauern und Mitleid zu tun. Hier ist das subjektiv erlebte Gefühl negativ oder unangenehm. „Positiv“ hingegen ist nicht der jeweilige Inhalt der Emotion, d. h. der Sachverhalt, der das Mitleid bzw. die Reue oder das Bedauern hervorgerufen hat, sondern gut, und zwar moralisch gut, ist allein die Tatsache, dass S die fragliche Emotion zeigt. Als Pendant hierzu wären sadistische Akte einzustufen, die moralisch schlecht bzw. verwerflich sind, dem jeweiligen Subjekt jedoch Lust bereiten. Auch ambivalente Stimmungen wie Melancholie oder Wehmut zeichnen sich durch einen Kontrast von positiven und negativen Elementen aus. Wer sich wehmütig an vergangene schöne Zeiten erinnert, für den ist der Inhalt der Erinnerung durchaus positiv, während das (leicht) negative Moment offenbar von dem begleitenden Gedanken bzw. Bewusstsein herrührt, dass diese Zeiten unwiderruflich passé sind. Ambivalente Stimmungen lassen sich in der Regel als Spezialfall einer häufig auftretenden Situation auffassen, wo nämlich das Subjekt eine Kette zusammenhängender Gedanken denkt, von denen einige positiv, andere jedoch negativ markiert sind. Schließlich bleiben noch mentale Zustände zu betrachten, die gelegentlich als Emotionen eingestuft werden, die jedoch per se weder positiv noch negativ zu sein scheinen. Z. B. ordnen Verhaltensforscher wie C. E. Izard und P. Ekman Überraschung bzw. Erstaunen aufgrund des charakteristischen Gesichtsausdrucks unter die Basisemotionen ein.34

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Die gefühlsmäßige Neutralität der Überraschung bzw. des Erstaunens kommt jedoch darin zum Vorschein, dass es für ein Subjekt S einerseits sehr positive, freudige Überraschungen geben kann, andererseits aber auch sehr negative, unangenehme. Dass S darüber erstaunt ist, dass p, ist also primär kein emotionaler, sondern ein rein kognitiver Zustand (bzw. genauer: die plötzliche Änderung eines kognitiven Zustandes), die wie folgt zu analysieren wäre: S ist darüber erstaunt, dass p bedeutet (grob): S glaubte (bis zum Zeitpunkt t), dass nicht-p; S erfuhr zum Zeitpunkt t, dass p. Die emotionale bzw. gefühlsmäßige Färbung einer Überraschung resultiert dann einzig daraus, dass der neue Sachverhalt p für S positiv bzw. negativ ist, also Freude bzw. Enttäuschung oder Trauer auslöst. Eine wichtige Aufgabe künftiger Forschung erblicke ich darin, die hier entwickelten begrifflichen Klärungen der „philosophischen Theorie“ mit den empirischen Befunden der „neurologischen Theorie“ zu vereinen und auf diese Art klare Kriterien dafür zu entwickeln, unter welchen Voraussetzungen ein Lebewesen (und eventuell sogar nichtbiotische Systeme wie z. B. Roboter) Gefühle und Emotionen zu entwickeln vermögen. Bezüglich nichtmenschlicher Lebewesen sollten wir uns insbesondere bemühen, möglichst genau die neuroanatomischen Voraussetzungen für das Auftreten von angenehmen und unangenehmen Gefühlen in Erfahrung zu bringen. Denn aus ethischer Perspektive sollten wir nicht nur jede Form von Behandlung vermeiden, die bei Tieren Schmerz, Angst oder andere unangenehme Empfindungen auslöst; sondern wir sollten uns auch ernsthaft mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass es – zumindest prima facie – unmoralisch ist, ein Tier zu töten, welches aufgrund seiner biologischen Konstitution eigentlich in der Lage ist, positive, angenehme Erfahrungen zu erleben und in diesem Sinne ein „glückliches Leben“ zu leben.35

3. Die Wichtigkeit von Emotionen und Gefühlen Einerseits besteht ein unübersehbarer, starker Konflikt zwischen Emotionen und Vernunft. Wie wir alle aus persönlicher, manchmal leidvoller Erfahrung wissen, verführen Emotionen und Leidenschaften uns oft zu „irrationalen“ Handlungen, die wir im Nachhinein bedauern und bereuen. Andererseits können – wie Damasio und LeDoux überzeugend argumentiert haben – Emotionen und Gefühle für das ein-

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zelne Lebewesen unentbehrliche Hilfen beim Kampf ums Überleben darstellen. Speziell beim Menschen sind gewisse Emotionen sogar unverzichtbare Komponenten oder Prämissen seiner Rationalität. Wie Beobachtungen am „klassischen“ Fall von Phineas Gage36 und anderen, durch Hirnverletzungen geschädigten Patienten gezeigt haben, setzt die Fähigkeit, im Alltag „vernünftige“ Entscheidungen zu treffen, voraus, dass die Konsequenzen der verschiedenen Handlungsalternativen rein intuitiv „aus dem Bauch heraus“ als positiv oder negativ bewertet werden. Wenn dieses „automatische“ Bewertungssystem im Gehirn gestört ist, schaffen es die Patienten trotz anscheinend unbeeinträchtigter kognitiver Fähigkeiten nicht, innerhalb praktikabler Zeiträume zu einer angemessenen Entscheidung zu gelangen. Über diese neurologischen (bzw. neuro-pathologischen) Erkenntnisse hinaus spielen Gefühle und Emotionen jedoch noch eine weitere, fundamentale Rolle für die menschliche Rationalität. Gemäß dem in der philosophischen Handlungstheorie entwickelten „praktischen Syllogismus“ erklären wir die Handlung A eines Subjekts S meist gemäß dem folgenden Schema: S will (wünscht sich), dass es der Fall ist, dass p S glaubt, dass p dann (und nur dann) der Fall sein wird, wenn sie A tut Deshalb: S tut A. Der Begriff echten Wollens oder Wünschens (bzw. allgemeiner: jeder intrinsisch konative Begriff) setzt jedoch voraus, dass das jeweilige Subjekt S überhaupt in der Lage ist, irgendwelche positiven und negativen Empfindungen zu verspüren. Genauer muss S fähig sein, sich in irgendeiner Weise darüber zu freuen, wenn p tatsächlich eintritt, es hingegen als unerfreulich, unangenehm, eventuell sogar schmerzhaft zu empfinden, wenn p nicht eintreten sollte. Wenn es für ein Wesen S gefühlsbzw. erlebnismäßig völlig gleichgültig ist, ob p eintritt oder nicht, dann kann man auch nicht davon sprechen, dass S sich wirklich wünscht, dass p. Jede rationale Erklärung der Handlung H eines Wesens S präsupponiert also, dass die Konsequenzen von H für S (unter anderem) auch irgendeine emotionale bzw. gefühlsmäßige Bedeutung haben müssen. Dieser Gedanke steht in engem Zusammenhang mit der folgenden These, deren philosophischer Gehalt vielleicht trivial erscheinen mag, die jedoch für die Beurteilung des Lebens von Pflanzen und Tieren sowie für die Einschätzung unserer eigenen menschlichen Natur von äußerster Wichtigkeit ist: (L4) Ohne irgendwelche positiven, angenehmen Gefühle ist das Leben eines Individuums S intrinsisch wertlos.

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Diese These ergibt sich aus dem Prinzip des „aufgeklärten Hedonismus“, das ich an anderem Ort verteidigt habe und das – grob gesprochen – besagt, dass der intrinsische (d. h., aus der Perspektive des betroffenen Subjekts selbst beurteilte) Wert des Lebens mit der Summe aller angenehmen (minus der Summe aller unangenehmen) Erlebnisse zusammenfällt.37 Man beachte, dass diese Form des Hedonismus Glück keineswegs auf körperliche Vergnügungen, Wohlempfindungen oder gar bloße „Lust“ zu reduzieren erachtet. Sie ist sich völlig des Faktums bewusst, dass im Laufe der Entwicklung eines Menschen geistige Vergnügen eine zunehmend wichtige Rolle spielen und dass künstlerische oder wissenschaftliche Betätigungen ebenso wie altruistische, soziale Aktivitäten weit mehr zum Gelingen eines befriedigenden, glücklichen Lebens beitragen können als die körperlichen Genüsse, die etwa durch gutes Essen, Genussmittel oder auch durch Sex vermittelt werden. Doch all die höheren intellektuellen und moralischen Tätigkeiten blieben intrinsisch wertlos, wenn der physiologische Mechanismus des menschlichen Körpers nicht sicherstellen würde, dass auch ein Einstein, ein Picasso oder eine Mutter Theresa tief innen ein Gefühl von Glück verspüren. Die sublimsten Formen intellektueller Vergnügungen setzen letztendlich voraus, dass auch die niedere, körperliche Maschinerie, die für das Entstehen von Gefühlen verantwortlich ist, speziell das in These L3 postulierte basale „Lustzentrum“, zuverlässig funktioniert. Nun ein paar abschließende Bemerkungen zum eigentlichen Thema: „Die Emotionen in den Künsten“. Wie Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus in der Einleitung zur Tagung betonten, sollten Künstler und Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Bereichen gemeinsam herausfinden, „wie Gefühle beim Einzelnen und Emotionen im sozialen Umfeld entstehen, wie sie auf die Menschen einwirken und sie zu musikalischen, bildkünstlerischen, literarischen oder performativen Leistungen befähigen“.38 Bezüglich der konkreten Teilfrage, wie Künste im allgemeinen und Musik im besonderen es schaffen, beim Rezipienten Affekte und Emotionen zu erregen, vermag meine oben entwickelte „philosophische Theorie“ keine nähere Auskunft zu geben.39 Die andere Frage, welche Gefühle einen Produzenten dazu motivieren (können), die langen und mühevollen Anstrengungen auf sich zu nehmen, die notwendig sind, um ein Kunstwerk zur Perfektion zu entwickeln, möchte ich hingegen hypothetisch wie folgt beantworten. Ich vermute, dass das, was einen Künstler dazu motiviert, seine kreative Tätigkeit trotz aller Mühen und Widrigkeiten zu Ende zu führen, im wesentlichen der Motivation gleicht, die einen Wissenschaftler (z. B.

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einen Philosophen) dazu bewegt, seine intellektuellen Forschungen und Publikationen trotz aller Mühen und Widrigkeiten zu Ende zu führen. Und ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass die dahinter stehende emotionale Motivationsstruktur vergleichbar ist mit der eines extremen Bergsteigers, der keine körperlichen Anstrengungen scheut, um seine Ziele zu realisieren, d. h. die ersehnten Gipfel zu bezwingen: Glück, Stolz und Zufriedenheit über – bzw. im Vorfeld: Hoffnung und Vorfreude auf – das Erreichen der je eigenen „magischen Ziele“.40

Anmerkungen 1. Vgl. Antonio Damasio, Descartes’ Error, New York 1994, hier zitiert nach der Paperback Ausgabe von 1996; vgl. ferner Antonio Damasio, The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, San Diego, New York, London 2000. 2. Vgl. Damasio 2000 [Anm. 1], 88: „adding the process of consciousness in the aftermath of the processes of emotion and feeling“; Damasio bezeichnet in diesem Zusammenhang ein bewusstes Gefühl etwas umständlich als „feeling of a feeling“. 3. Vgl. Joseph LeDoux, The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life, London 1988, sowie Joseph LeDoux, Synaptic Self. How Our Brains Become What We Are, New York 2002. 4. LeDoux 1998 [Anm. 3], 14. 5. LeDoux 1998 [Anm. 3], 14/15. 6. David Chalmers, Facing up to the Problem of Consciousness, in: Journal of Consciousness Studies (1995), 200. 7. Vgl. Wolfgang Lenzen, Zombies, Zimbos und das „schwierige Problem“ des Bewusstseins, in Bewußtsein und Repräsentation, hg. v. H.-D. Heckmann & F. Esken, Paderborn 1998, 255–281. 8. John Searle, The Rediscovery of the Mind, Cambridge, Mass. 1992, 1. 9. Vgl. Colin McGinn, The Character of Mind, Oxford/New York 1982, 8. 10. Vgl. LeDoux 2002 [Anm. 3], 175. 11. Dies hat schon William P. Alston bemerkt in Emotion and Feeling, in: The Encyclopedia of Philosophy, ed. by P. Edwards, New York/London 1967, Vol. II, 486. 12. Vgl. William James, What is an Emotion?, in: Mind 9 (1884), 188–205; Alston [Anm. 11] klassifiziert den Ansatz von James zurecht als „bodily upset theory“. 13. Aaron Ben-Ze’ev, The Nature of Emotions, in: Philosophical Studies 52 (1987), 407/ 408. Norton Nelkin argumentiert in Reconsidering pain, in: Philosophical Psychology 7 (1994), 325–343, dafür, dass auch (reine) Körpergefühle eine Art intentionalen Gehalt hätten. Im Falle von Schmerzen bestehe dieser in einer „spontaneous, non-inferential evaluation of that state as representing a harm to the body“. Dies ist aber wenig plausibel. Zum Beispiel spüren Kleinkinder auch dann schon Schmerzen, wenn sie noch nicht über den Begriff eines körperlichen Schadens verfügen. 14. Vgl. die Hinweise in LeDoux 1998 [Anm. 3], 121 ff.

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15. Für eine detaillierte Diskussion der „Subtilität der Emotionen“ vgl. Aaron Ben-Ze’ev, The Subtlety of Emotions, Cambridge, Mass. 2000. 16. Vgl. E. Lormand, Toward a theory of moods, in: Philosophical Studies 47, 388/9: „[…] emotions are directed toward objects and states of affairs […] moods do not seem to have Intentional objects“. Einen weiteren Unterschied erblickt Lormand darin: „Moods are not grounded in evaluative beliefs or goals, like emotions may be“; ebd., 390. 17. Vgl. Peter Goldie, The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2000, 17–18. 18. Im gleichen Sinn betont auch Ben Ze-ev [Anm. 13], 400–401: „It is meaningless to say that an agent is unaware of, or misidentifies, his feelings“. 19. Deshalb lassen sich solche Emotionen gegebenenfalls auch nicht-sprachbegabten Lebewesen zuschreiben. 20. Goldie [Anm. 17], betont im gleichen Sinn (S. 17), dass sich eine Emotion intentional richten kann auf „a particular thing or person“, oder auf „an event or an action“ oder auf „a state of affairs“. 21. Robert M. Gordon, The Aboutness of Emotions, in American Philosophical Quarterly 11 (1974), 29. 22. Als Beispiele hierfür erwähnt Gordon [Anm. 21] „delighted, glad, grateful, pleased“. 23. Oft wird nämlich die relevante epistemische Situation von S auch Glaubensannahmen über andere Sachverhalte q, r, … (sowie über die Meinungen anderer Leute über derlei Sachverhalte) umfassen. 24. Vgl. Robert Plutchik, Emotion: A Psychoevolutionary Synthesis, New York 1980. 25. Vgl. Robert Solomon, The Passions. Emotions and the Meaning of Life, New York 1976 und Martha Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. 26. Vgl. Ronald Alan Nash, Cognitive Theories of Emotion, in: Noûs 23 (1989), 481–504. 27. Vgl. Kap. 2 und 3 von Goldie [Anm. 17]. 28. Vgl. Kap. 8 und 9 von Damasio 1994 [Anm 1]. 29. Vgl. O. Harvey Green, The Emotions. A Philosophical Theory, Dordrecht 1992, 171/ 72. Die negativen Emotionen lauten im Original: „anger, dread, envy, fear, grief, hatred, indignation, pity, remorse, and resentment“, die positiven „gladness, hope, joy, love and pleasure“. 30. Vgl. die umfassende Untersuchung von James R. Averill: A Semantic Atlas of Emotion Concepts, in JBAS Catalogue of Selected Documents in Psychology 5, 1975, die insgesamt 558 emotionale Begriffe erwähnt, von denen 62% als negativ bewertet wurden. 31. Vgl. Stuart Rachels, Is Unpleasantness Intrinsic to Unpleasant Experiences?, in: Philosophical Studies 99 (2000), 187–210. 32. Green [Anm. 29], 172. 33. Green [Anm. 29], 172; darüber hinaus diskutiert Green noch ein drittes Kriterium demzufolge „positive emotions result in desirable behavior, negative emotions in undesirable behavior“. Dieses Kriterium scheint jedoch systematisch wenig bedeutsam. 34. Vgl. C. E. Izard, Human Emotions, New York 1977 und P. Ekman, Biological and cultural contributions to body and facial movement in the expression of emotions, in: A. O. Rorty (ed.), Explaining Emotions, Berkeley 1980. 35. Von weniger praktischem als eher akademischem Interesse ist demgegenüber die Frage, ob sich künstliche Systeme konstruieren lassen, die Gefühle nicht nur simulieren, sondern haben können. Vgl. hierzu Daniel C. Dennett, Why you can’t make a computer that feels pain, in: Synthese 38 (1978), 415–456; und Daniel C. Dennett,

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Cog: Steps towards consciousness in robots, in: Conscious Experience, ed. by Thomas Metzinger, Paderborn 1995. 36. Vgl. die Fallschilderung im ersten Kapitel von Damasio 1994 [Anm. 1]. 37. Vgl. Abschnitte 2.1 und 2.2 von Wolfgang Lenzen, Liebe, Leben, Tod. Eine moralphilosophische Studie, Stuttgart 1999. Der extrinsische Wert des Lebens von S besteht hingegen in der Summe der Vorteile (minus der Summe der Nachteile), die das Leben von S für andere Menschen hat. 38. Zitiert aus dem Programmheft der Tagung „Pathos, Affekt, Gefühl“, S. 3. 39. Nähere Auskünfte hierzu z. B. bei Henrik Walter, Musik und Emotionen. Ein Blick in die Werkstatt eines Komponisten, in : Moralität, Rationalität und die Emotionen, hg. v. Achim Stephan/Henrik Walter, Ulm 2004, 267–293; der Aufsatz wird durch musikalische Beispiele auf einer CD ergänzt, die dem Sammelband beigelegt ist. 40. Vgl. hierzu Wolfgang Lenzen, Die Paradoxie der freiwilligen Quälerei, in: Stephan/ Walter [Anm. 39], 201–232; sowie Wolfgang Lenzen, Magische Ziele. Erzählungen vom und philosophische Reflexionen zum Ausdauersport und Bergsteigen, im Erscheinen.

Martin Löw-Beer

Einfühlung, Mitgefühl und Mitleid1 Einleitung Kaum jemand wird bestreiten, dass Einfühlung wichtig sei für unser Zusammenleben. Ein Unmensch ist einer, der gefühllos ist, der keinen Anteil nimmt am Leben anderer, den das Leid anderer nicht rührt. Mitgefühl hat mit dem zu tun, was wir als ‚menschlich‘ bezeichnen. Ein Leben zu führen, in dem man nicht Situationen aus der Perspektive von Anderen sieht, in dem man sich nicht vorstellt, wie es wäre, ein Anderer zu sein, wäre armselig und beraubt auch um den Lernmechanismus für kulturelle Überlieferungen, die man sich ja nur dann aneignen kann, wenn man die eigene Perspektive durch die von anderen relativiert und erweitert. So erst – durch probeweise Identifikation mit der Perspektive von Anderen – beginnt der Prozess des Überlegens. Allerdings ist die Rolle von Einfühlung für das Überlegen umstritten. In diesem Zusammenhang wurden drei Einwände gegen die Rationalität von Einfühlung gemacht: In der Ästhetik ist vor allem von Brecht2 geltend gemacht worden, dass die auf Einfühlung abzielenden Darstellungstechniken illusionäre Rezeptionsweisen nahe legen, durch die das Publikum mit den Dargestellten identifiziert wird. Einfühlung schlucke die Distanz, die zu einer reflektierten Stellungnahme notwendig sei. Wie durch einen Tagtraum, werde man durch ästhetische Inszenierungen in eine andere Welt versetzt und der Möglichkeit, sich zu jener in Beziehung zu setzen, beraubt. In der Moral kann man argumentieren, dass Mitgefühl selektiv ist, da man in der Regel mehr Mitgefühl mit denen hat, die einem näher stehen. Das sei ungerecht. Außerdem könne man aus Mitgefühl niemals eine moralische Verpflichtung eingehen, denn Mitgefühl sei ein Gefühl und Gefühle könne man nicht wählen, sondern man sei ihnen unter-

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worfen. Dass man bestimmte Gefühle habe, sei deshalb nichts, was man jemandem vorwerfen könne. Schließlich kann man sich vorstellen, dass die Wirkung von Einfühlung auf die Lebensführung nicht immer gut sei. Sie könne dazu führen, dass wir am Leben eines anderen so eng partizipieren, dass wir aufhören, eine eigene Perspektive zu entwickeln. Wir leiden dann an dem, was ihn trifft, finden das gut bzw. schlecht, von dem wir meinen, dass er es gut oder schlecht findet, führen dann ein Leben völliger Abhängigkeit von diesem anderen, ein Leben aus zweiter Hand.3 Wir können uns auch vorstellen, dass Einfühlung dazu beiträgt, dass wir unoriginell wie Nachahmer leben oder dass wir die konformistischen Erwartungen von Anderen so stark erleben, dass wir ihnen nachgeben. Aber niemand wird im Ernst behaupten, dass Einfühlung allein diese Formen missglückter Lebensführung hervorbringe, höchstens dass sie ein kleiner Faktor sei, der im Zusammenhang mit vielen anderen Heteronomie begünstige. Wie steht es mit den anderen Einwänden? Ist Einfühlung ungerecht, weil in ihr Nahbeziehungen bevorzugt werden? Dagegen ist zu sagen, dass wir besondere Verpflichtungen gegenüber unseren Nächsten haben. Die eigenen Kinder im Stich zu lassen, ist schlimmer als Kinder, die uns fremd sind, zu vernachlässigen. Doch wäre es unmoralisch, anderen Kindern Chancen zu nehmen oder ihnen auf andere Weise zu schaden. Empathie liefert uns keinen moralischen Maßstab, sagt auch nichts Präzises über unsere Verantwortung aus, aber zu fühlen, wie anderen zumute ist, ist wichtig für die moralische Motivation. Einfühlung ist eine motivierende Wahrnehmung. In ihr berücksichtigen wir, wie es um das Wohl und Wehe von Anderen bestellt ist. Das Verhältnis von Moral und Einfühlung ist also komplex. Empathie begründet selbstredend nicht, was unter gerechten Verhältnissen zu verstehen ist und sie motiviert auch nicht hinreichend zu altruistischem Verhalten. Denn diese Motivation bedarf über die Empathie hinaus ein Schätzen des Werts von Anderen. Dass uns jemand Leid tut, ist damit verträglich, dass wir keinen Finger für ihn rühren, weil wir ihn in wichtigen Hinsichten verachten. Empathie liefert Anstöße zur Begründung von Moral und zur moralischen Motivation und sie ist in sich selbst moralisch in dem Sinn, dass Personen voneinander wollen, dass sie vor allem an ihrem Leid, aber auch an ihrer Freude Anteil nehmen. Aber, so lautete der nächste Einwand, ist Mitgefühl nicht zu passiv, um solche Rollen übernehmen zu können? Ist Mitgefühl nicht etwas, dem wir unterworfen sind, ob wir wollen oder nicht? Nein, Einfühlung

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ist eine Fähigkeit, die zum Teil unserer willentlichen Kontrolle unterliegt. Wir können aufmerken, wie es anderen geht, uns vorstellen, wie es wäre, in ihrer Lage zu sein, uns um andere sorgen. Aber wir können uns auch abwenden, buchstäblich unsere Augen und Ohren vor ihrem Gefühlsausdruck verschließen, uns nicht für ihre Lage interessieren. Wo das nicht ganz gelingt, können wir durch räumliche Distanz, Zensur usw. den Kontakt mit dem Leid von anderen vermeiden. Wenn man sich also von anderen wünscht, dass sie empathischer wären, dann hat die Antwort „Ich will es versuchen“ oder „Ich will nicht“ ihre Berechtigung. Mit dem Vorwurf der Unmenschlichkeit wollen wir ja nicht den Autisten treffen, der Gefühlausdrücke wie merkwürdig variierende Muster auf Gesichtern registriert, sondern Personen, die sich für das Wohl und Wehe von anderen nicht interessieren. Wie steht es schließlich mit dem ‚ästhetischen Vorwurf‘, dass Einfühlung unkritisch mache? Eben sahen wir, dass Einfühlung eine Art Wahrnehmung sei, die uns Leid und Freude von Anderen auf eine unersetzbare Weise nahe bringt. Es wäre nun ein Leichtes zu sagen, wer Andere so nicht sehen kann, tut sich schwer in der Beurteilung ihrer Lage. Letzteres ist aber eine Voraussetzung für Kritik. Der ästhetische Vorwurf kann also nur eine Abart von Einfühlung meinen, nämlich Techniken, die Illusionen hervorrufen. Einfühlung heißt dann soviel, dass man in einem starken Sinn mit dem identifiziert ist, was von Schauspielern bloß dargestellt wird. Starke oder illusionäre Identifikation meint, dass man wähnt, man sei zumindest für die Zeit eines Kino- oder Theaterbesuchs der Andere. Dabei verfällt man einer doppelten Illusion: Man glaubt, man sei der, der in Wirklichkeit nur von einem Anderen, dem Schauspieler, inszeniert wird, den es also nur als Rolle, nicht als wirkliche Person gibt. Wenn man so mit dem gespielten Bild einer Person identifiziert ist, dass man meint, diese zu sein, ist man natürlich unkritisch. Aber das scheint eher unwahrscheinlich und liegt weit ab von den Phänomenen, die wir üblicherweise mit Einfühlung verbinden. In diesen können wir sehr wohl zwischen uns und Anderen differenzieren, müssen es, damit wir an ihrem Leid und ihrer Freude teilnehmen können. Wenn man ästhetisch Dargebotenes so rezipiert, als ob es wirklich wäre, wenn also das Schauspiel aufhört, als Spiel zu erscheinen, stimmt etwas nicht. Das Urteil, etwas sei ‚ästhetisch‘, meint, man wird auf etwas als Erfahrung aufmerksam, und wenn es eine Kunsterfahrung ist, dann wird es uns deshalb gezeigt, damit wir eine bestimmte Erfahrung machen. Mit dieser verkürzten Bemerkung will ich nur sagen, dass Kunst und Ästhetik immer ein reflexives Element enthalten,

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wobei bei der Kunst die Inszenierung als Spiel, das erfunden ist, um etwas für uns darzustellen, hinzukommt. Eine ästhetische Technik, die diesen Charakter verwischt, ist möglicherweise eine ausgefeilte Betrugsstrategie oder geht auf eine psychotische Rezeptionshaltung zurück. Auf keinen Fall ist sie das Resultat einer ästhetisch gelungenen Rezeption.

Das Verhältnis der Einfühlung zu Gründen Kritisch ist man, wenn man die Gründe für Verhaltensweisen prüft. Wenn man sagt, dass Einfühlung unkritisch mache, dann meint man, dass Einfühlung und das Prüfen von Gründen Gegensätze sind. Aber auch das stimmt nur zum Teil. Eine Perspektive bleibt uns so lange fremd, als wir uns nicht vorstellen können, sie einzunehmen. So kann man verstehen, dass das Motiv von Harakiri Ehrverlust sei, aber wir können dies nicht für uns als Grund akzeptieren. Bei der Einfühlung spielt eine bestimmte Sorte von Gründen eine Rolle, nämlich solche, die erklären, warum einem etwas wichtig ist. Warum erschüttert etwas eine Person? Warum lässt sie etwas kalt? Warum triumphiert sie, wenn sie das erreicht? Warum deprimiert sie ein bestimmtes Ereignis? Warum kränkt sie sich so stark über ein anderes? Ein Beispiel: Wenn für eine Person Rückzugsmöglichkeiten unwichtig sind, so wird auch eine Diskussion, die sich bemüht, den Wert der Privatheit zu artikulieren, an dieser Person wie ein Geräusch vorbeigehen.

Warum führt die Übernahme der Perspektive des Anderen nicht zu ihrer Selbstzuschreibung? Wie ist nun zu verstehen, dass man fühlen kann, was der andere fühlt, ohne sich diese Gefühle selbst zuzuschreiben? Wie weiß ich, dass ich seine Trauer und nicht meine Trauer fühle? Warum führt die Identifikation mit der Perspektive des Anderen nicht dazu, dass man seine Gefühle teilt? Wenn man im Kino Platz nimmt, sich in eine Illusionen herbeisehnende Zuschauerposition begibt und die Perspektive des anderen konkurrenzlos in den Mittelpunkt rückt, kann sich der Effekt herstellen, dass man selbst zu dem zu werden scheint, der die Gefühle und die Perspektive des Protagonisten darstellt. In diesem illusionären

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Spiel, vor dessen Unterbrechung man durch Dunkelheit abgeschirmt wird, liegt schon die Antwort auf die Frage, warum diese Verwechslung gewöhnlich nicht eintritt. Üblicherweise enthält nämlich die emotionale Erfahrung sowohl die eigene wie die Perspektive des Anderen. So enthält die Sicht des Beleidigten auch die des Kränkenden. Wenn letzterer die Perspektive des Beleidigten teilt und den Schmerz der Kränkung nachfühlt, hat er damit nicht das Problem des Beleidigten, sondern das, wie er gutmachen kann, was er verschuldet hat oder wie er trotz oder gar wegen dieses Schmerzes weiter hinter der Beleidigung stehen könne. Gewöhnlich hat also Identifikation mit der Perspektive des Anderen nicht ihre Selbstzuschreibung zur Folge, was daran liegt, dass man mehrere Perspektiven zu koordinieren hat. Die Identifikation mit einer Perspektive, wenn man darunter versteht, dass man sie nachvollzieht, bewirkt zwar häufig eine Veränderung der eigenen Perspektive, führt aber nicht zu deren Aufhebung. Besonders deutlich wird das, wenn man über Einfühlung als bloße Haltung hinausgeht und auf einfühlsame Beziehungen Bezug nimmt. Das Kriterium für letztere scheint mir zu sein, dass man sich wechselseitig identifiziert, um aus der Perspektive des jeweils Anderen Vorschläge zu machen. In empathischen Beziehungen findet man sich nicht unbedingt mit der Perspektive des Objekts der Einfühlung ab. Denn Perspektiven und entsprechende Gefühle, die sie begleiten, können einsehbar und dennoch problematisch sein. So mag es einleuchten, dass eine Person sich irrationale Hoffnungen macht oder die schlechten Seiten ihrer Situation verleugnet oder angesichts einer schlimmen Realität die Flucht antritt. Es macht kein Problem, die Ängste und Wünsche, die hier im Spiel sind, nachzuvollziehen. Dennoch wäre es besser, wenn die Person ihrer Situation ins Auge schauen könnte. Ob eine Perspektive nachvollziehbar ist, fällt nicht automatisch damit zusammen, dass sie der Realität angepasst ist, bzw. dass sie ermöglicht, Probleme am besten zu bewältigen.

Begriffsbestimmung von Einfühlung Ich will im Folgenden drei aufeinander aufbauende Formen von ‚Einfühlung‘ unterscheiden, wobei aus den eben getroffenen Unterscheidungen klar wird, dass diese Formen unterkomplex sind: 1. Der primitivste Begriff von Einfühlung beschränkt sich darauf, dass man fühlt, wie anderen zumute ist. Man kann verstehen, wie es ei-

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nem anderen geht, ohne zu verstehen, warum. Oft fühlt man bloß, dass jemand aufgeregt, friedlich, aggressiv, traurig oder fröhlich ist, ohne die Ursachen dieser Zustände zu kennen. 2. Wer nicht versteht, warum jemand wütend wird, kann sich nicht an seine Stelle versetzen. Dazu muss man die Gründe, die eine Perspektive hervorrufen, kennen und darüber hinaus nachvollziehen können. Dies bedeutet, dass man sich vorstellen kann, ähnlich zu reagieren. Einfühlung heißt danach so viel wie der gelingende Nachvollzug von Perspektiven, der es erlaubt, die Gefühle, die mit ihnen einhergehen, zu verstehen. 3. Ein noch anspruchsvollerer Sinn von Einfühlung erlaubt es, sich nicht nur in die Gefühle und Perspektiven von Anderen einzufühlen, sondern auch in seine Lebenssituation. Jemand kann fröhlich sein und einem dennoch leid tun, sei es, dass er körperlich oder geistig krank ist oder sein ökonomisches Überleben nicht gesichert ist, sei es, dass durchsichtig wird, dass er mit seiner Fröhlichkeit nur tragische Umstände überspielt.4 Schließlich ist in diesem Zusammenhang auf eine weitere wichtige Unterscheidung hinzuweisen, nämlich die zwischen der einfühlenden Haltung eines Beobachters und einfühlsamen Beziehungen. In diesen begnügt man sich nicht damit, sich in Gedanken die Situation des Anderen zu versetzen, vielmehr wird die Rücksicht auf die nachvollzogene Perspektive und Situation des Anderen zu einem Handlungsmotiv.

Einfühlung, Mitgefühl, Mitleid Mitgefühl ist die moralische Form der Einfühlung. Für sie ist charakteristisch, dass man am Wohl des anderen interessiert ist. Auch der Sadist fühlt sich ein, wenn er die Qualen seines Opfers genießt. Ebenso derjenige, der seinen Feind studiert, der verstehen möchte, wie dieser ‚tickt‘, was ihn aufregt, was er mag, was er verabscheut. Die Fähigkeit zur Einfühlung kann strategisch eingesetzt werden. In Beziehungen kann der Einfühlsame die emotionalen Wirkungen des eigenen Verhaltens auf andere verstehen. In der Einfühlung ist man also nicht notwendig am Wohl des anderen interessiert; das ist man nur, wenn man Mitgefühl hat. Allerdings verwende ich den Ausdruck breiter als gewöhnlich. Üblicherweise hat man nicht Mitgefühl angesichts der Freude des anderen. Der Begriff

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scheint auf das Leiden am Leid von anderen spezialisiert zu sein. In solchen Fällen will ich von ‚Mitleid‘ sprechen, während ich das ganze Spektrum des emotionalen Verstehens, das verbunden ist mit einem Interesse am Wohl des anderen, mit ‚Mitgefühl‘ bezeichnen möchte. Der Oberbegriff ist also ‚Einfühlung‘, die moralisch relevanten Begriffe sind ‚Mitgefühl‘ und ‚Mitleid‘.

Stärke des Mitgefühls Dass der Empathische nicht die gleichen Gefühle haben muss wie der, in den er sich einfühlt, kann man sich am Besten am Beispiel empathischer Mutter-Kind-Beziehungen klar machen, die, so die Hypothese, nötig sind, um Kindern zu Bewusstsein zu bringen, was sie fühlen. Eine prominente entwicklungspsychologische Hypothese behauptet, dass empathische Spiegelung von Gefühlen nötig ist, damit das Baby versteht, wie es sich fühlt.5 Erwachsene haben eine Disposition, mit ihren Babys verbal und averbal auf eine Weise zu kommunizieren, die von Psychologen „Ammensprache“(„motherese“) genannt wird. Sie zeigen den Babys, wie diese sich fühlen, indem sie deren Affektausdruck übertrieben nachahmen, z. B. dessen melodischen Verlauf und seine Intensität verstärken. Die Hypothese ist, dass das Kind an der übertriebenen Art der Darstellung erkennt, dass sich die Mutter mit ihrem Gefühlsausdruck nicht auf ihre eigenen Gefühle bezieht, sondern auf die des Kindes. Der ‚markierte‘ Gefühlsausdruck trägt so zum Selbstbewusstwerden des bis dahin nicht bewussten emotionalen Zustands bei. Das Kind bemerkt auf diese Weise, dass der Erwachsene mit seiner Wut mitfühlt, was nicht nur wichtig ist, um ein Bewusstsein der eigenen psychischen Zustände zu bekommen, sondern auch, weil darin eine Anerkennung seiner Haltung enthalten ist. Wenn dagegen der Erwachsene mit eigener Wut auf die Wut des Kindes reagiert, wird dessen Gefühl als Unerträgliches unartikulierbar. Empathische Anerkennung ist notwendig für bewusstes Erleben, das eine Voraussetzung für verbale Selbstzuschreibung ist.

Drei Modelle von Einfühlung Wie hat man sich Einfühlung genauer vorzustellen? Im Folgenden will ich drei Modelle vorstellen.

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Sich in die Situation des Anderen versetzen Es ist common sense, sich Einfühlung so vorzustellen, dass sie dadurch ausgelöst wird, dass man sich in die Situation des Anderen versetzt. Sofort meldet sich der Vorwurf des Egozentrismus: Was hat, wie ich mich in der Situation des Anderen fühle, mit diesem zu tun? Ich will Einfühlung aus der Perspektive der ersten Person abgekürzt Einfühlung in der ersten Person nennen. Diese scheint, wenn man die Verzerrung durch Egozentrismus in Rechnung stellt, nur unter bestimmten Voraussetzungen Erfolg versprechend, die ich im Folgenden nenne: A. Objektive Einfühlung Man ist gar nicht interessiert daran, was das Objekt der Einfühlung fühlt, sondern man beurteilt dessen Situation aus der eigenen Perspektive. D. h. man beurteilt die Situation des Anderen nach Informationen, die dieser möglicherweise nicht hat und nach Werten, die dieser möglicherweise nicht teilt. Man denke an das Mitleid mit einem Todkranken, der keine Ahnung von seinem Zustand hat. B. Konkrete Ähnlichkeiten Man kennt den Anderen gut und kann dadurch die Annahme stützen, dass dieser einem ähnlich ist und die Tendenz hat, so wie man selbst zu reagieren. Diese induktive Evidenz kann noch härter werden durch die Gelegenheit, die Reaktionsweise des Anderen zu beobachten und festzustellen, dass der Andere sich so verhält, wie man sich selbst verhalten würde. C. Kulturinvariante Übel, negativ existentielle Situationen Einfühlung in existentielle Situationen: Kennen wir Andere nicht näher, sei es durch Freundschaft oder Kunstwerke, wie vor allem durch Romane, Theater und Kino, dann scheint Einfühlung unkontrolliert in Projektion überzugehen. Denkt man dagegen an den moralischen Appell, der mit Bildern und aufrüttelnden Berichten verbunden wird, dann ist vor allem die Einfühlung in Opfer gemeint, die hungern, die unterdrückt oder ermordet werden. Aufgerufen werden hier negative existentielle Situationen, universelle Übel, in dramatisch zugespitzten Formen. Solchen Situationen werden, zumindest prima facie und in ihren schematischen

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Formen, von jedem als Übel beurteilt werden. In solche Verletzungen kann und sollte man sich, so die allgemeine Ansicht, einfühlen. D. Empathische Einstellung Schließlich kann man Einfühlung in der ersten Person als ‚supererogatorisches Programm‘ oder, altmodisch ausgedrückt, als edle Denkungsart verstehen. Sie ist die Praxis, die dem Slogan: „Nichts Menschliches ist mir fremd“ entspricht und die umstrittene These vom Zusammenhang zwischen Verstehen und Verzeihen bejaht, ohne damit die Negativität von bestimmten Handlungsweisen zu beschönigen. Gemeint ist, dass man abstoßende Verhaltensweisen von Anderen so zu verstehen versucht, dass sie für einen selbst, unter bestimmten Umständen, zu einer nachvollziehbaren Handlungsoption werden. Der folgende Imperativ gilt hier: „Verstehe den Anderen so, als ob seine Handlungsoptionen für Dich einleuchtend wären.“ Während Einfühlung in der ersten Person normalerweise als egozentrisch betrachtet wird, ist sie in D) mit einer tiefen selbstüberwindenden Offenheit verbunden. Was „edle Denkungsart und Selbstüberwindung“ hier heißt, kann man sich an Umständen verdeutlichen, die gewöhnlich Einfühlung bremsen. Ich denke vor allem an das Verhältnis zwischen Einfühlung und Schuld.

Exkurs über nachvollziehende Einfühlung und Schuld Können wir nur mit dem Mitgefühl haben, der unschuldig ist? Mitgefühl zu haben mit einem, der der eigenen Familie oder Gruppe etwas Schreckliches angetan hat, scheint über die Grenzen von vielen von uns zu gehen. In der athenischen Demokratie wurde Schuld durch Entzug von Empathie geahndet. So hatten die Angeklagten die Möglichkeit, vor dem Prozess ins immerwährende Exil zu gehen. Ihr Name wurde dann aus der Polis ausradiert, sie waren so gut wie nie da gewesen. Das Schuldigsprechen führte zu einem Ausschluss, der schuldig Befundene wurde in einem wörtlichen Sinn von den Mitbürgern verlassen. Jeder wendete sich ab, das Todesurteil bestand in der Versenkung in eine tiefe Höhle und wurde ohne Öffentlichkeit vollzogen. Schuldurteil, Ausschluss und Abwendung gingen zusammen.6 Ist es gut, Einfühlung dort zu verweigern, wo Schuld im Spiel ist? Nur Heuchler oder Personen, die selbst kein Mitgefühl wollen, könn-

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ten die folgende Maxime unterschreiben: „Sei nur mit dem mitfühlend, der keine Schuld auf sich lädt.“ Wenn Schuld zum Abbruch empathischer Beziehungen führte, würde die normativ elementare Rolle, die Empathie für unser Zusammenleben spielt, gekappt. Empathie ist nämlich ethisch wertvoll, weil sie die Tendenz hat, hinauszugehen über das Verhalten, das man billigt. Man kann viel mehr Verhaltensweisen nachvollziehen als man billigt, was nicht unbedingt impliziert, dass man meint, man hätte unter jenen Umständen ebenso gehandelt, sondern nur, dass einem die Motive und Versuchungen so zu handeln, nahe liegen. Einfühlung im Sinn von nachvollziehender Perspektivenübernahme entspricht ein Verstehen, das das Verhalten des Anderen als Möglichkeit für einen selbst erschließt. Wenn man sich vorstellen kann, auch so zu werden wie der Andere, der einem Unrecht angetan hat, ist man nahe daran, ihm zu verzeihen. Gelingende Einfühlung bedingt nicht Verzeihung, aber sie ist die Grundlage für echtes Verzeihen. Andere Formen beruhen auf der Annahme, dass der, dem man verzeiht, nun ein anderer geworden sei. Mit einem solchen Verzeihen ist eine Ausgrenzung von dem, was eine Person war, verbunden. Dagegen ist das Verzeihen, das auf Einfühlung und Bereuen beruht, mit der Vorstellung verbunden, dass man selbst auch so hätte handeln können. Es ist dieses vermutlich christliche Verständnis, das nicht nur für das Zusammenleben von Einzelnen, sondern auch von Gruppen wichtig ist. Wenn diese sich nicht so weit wechselseitig miteinander identifizieren, dass sie die Haltungen der jeweils anderen nachvollziehen können, dann ruht ihr Zusammenleben auf tönernen Füßen. An die Stelle der Empathie kann auch die ideologische Verteufelung treten, in der die anderen so negativ beurteilt werden, dass Versuche, sich an ihre Stelle zu versetzen, scheitern müssen. Der Fremde ist dann der, dessen Schlechtigkeit man nur bekämpfen kann. Ideologie im Sinne einer zuschreibenden Konstruktion, die sich empathischer Erfahrung entzieht, ruft einen Prozess wechselseitiger Verteufelung hervor, zumal wenn die Zuschreibungen in den Sog von verletzenden Handlungsvollzügen geraten. So wird aus der Fiktion des angeblich Bösen gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Akteure stellen sich auf die schlimmste Reaktion des jeweils Anderen ein, machen diese also zur Voraussetzung ihres Handelns. Diese grobe Skizze will andeuten, dass empathische Beziehungen nicht auf Intimität beschränkt sein sollten, sondern von eminent politischer Bedeutung sind. Die Konstruktion von Einfühlung als anspruchsvolle Perspektivenübernahme wird manchmal als egozentrisch kritisiert. Man verbleibe

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im Umkreis der eigenen Person, wenn man versucht, das Handeln von anderen so zu verstehen, dass es für einen nachvollziehbar wird. Dieser Vorwurf übersieht die ethische Pointe von Einfühlung. Gerade dadurch, dass man die Anderen an sich angleicht, versteht man sie so, dass man mit ihnen unter Einschluss ihrer und unserer Fehler zusammenleben kann, ohne einander auszugrenzen oder gleichgültig nebeneinander zu leben. Die Betonung der ersten Person in der Einfühlung hat den normativen Sinn, zu solchen Auffassungen von sich zu gelangen, welche noch die entferntesten, problematischen Verhaltensweisen als solche verstehen, die uns unter anderen Umständen näher lägen.

Sich in sich einfühlen? Alle diese Variationen von Einfühlung beruhen auf der Annahme, dass Einfühlung mit Bezug auf sich selbst kein Problem sei oder zumindest viel weniger schwierig sei, als Einfühlung mit Bezug auf Andere. Es wäre kein Problem, wenn die Rede vom selbstbezüglichen Einfühlen sich als begrifflicher Unsinn herausstellte. Ist das der Fall? Man kann dies höchstens mit Bezug auf die Gegenwart und Zukunft der ersten Person vermuten, im Verhältnis zur Vergangenheit ist solche Sprachkritik von vornherein unplausibel. Was könnte falsch daran sein zu fragen, ob man sich zurückversetzen kann in die Zeit, als man Schüler oder Kleinkind war? Kann man noch fühlen, wie man sich damals fühlte? Mit Bezug auf die Zukunft mag man Einfühlung unplausibel finden, weil man sich ja in der Regel in Personen einfühlt und die zukünftigen Personen noch nicht existieren. Jedoch, wenn man sich in Andere einfühlt, spielt das Verhältnis zur Zukunft eine unverzichtbare Rolle. So kann man häufig nachvollziehen, dass sich eine Person Illusionen macht, oder dass sie ihre Situation als hoffnungslos einschätzt oder den Ehrgeiz hat, „es den Anderen zu zeigen“. Da Personen als Handelnde und meistens auch als Fühlende auf Zukunft bezogen sind, wäre es unsinnig zu sagen, man könne sich in den Zukunftsbezug von anderen nicht einfühlen. Warum soll das nicht auch für den Selbstbezug gelten? Vielleicht weil man glaubt, dass dies eine absurde Verdoppelung einschließt. Was soll es heißen, sich einzufühlen in Gefühle, Pläne, die man hat? Mit Bezug auf die Gegenwart ist folgendes gemeint: Hört man auf die eigenen Wünsche und Gefühle? Oder bedient man sich gängiger Beschreibungsvorschläge für die eigene Situation? Schätzt man die eigenen Gefühle gering, bemüht man sich, sie zu verleugnen. Oder

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aber man nimmt sie ernst, dann versucht man, sie zu artikulieren. Mit Bezug auf die Zukunft kann man sich fragen, ob man sich vorstellen kann, wie es für einen sein wird, wenn bestimmte Pläne wahr werden oder wenn Katastrophen eintreten. Letztlich kommt es nicht darauf an, ob man die Rede von der Einfühlung in sich selbst für glücklich hält. Man kann den problematischen Sachverhalt auch ohne diesen Terminus beschreiben. Wenn man sich in die Situation des Anderen versetzt, dann meint man meistens, dass der erste Schritt unproblematisch sei, nämlich sich vorzustellen, wie es für einen wäre, in einer solchen Situation zu sein. Das Problem beginne erst beim zweiten Schritt, wenn es nämlich darum geht, sich in die Perspektive und die Gefühle des Anderen zu versetzen. Diese Beschreibung gründet auf der Annahme, dass man sich selbst besser als Andere kenne. Ich halte dieses Modell für ungeeignet und arrogant. Man tut so, als wüsste man, wie es ist, unter Umständen zu sein, die einem völlig fremd sind. Selbst in Bezug auf Situationen, die uns bekannt sind, haben wir oft vergessen, wie es ist, in ihnen zu sein. Wer, der nicht gerade in diesen Rollen ist, kann sich zurückfühlen in seine Rolle als Kleinkind oder als Schüler? Manchmal werden emotionale Erinnerungen durch die Teilnahme am Erleben der eigenen Kinder wachgerufen. Noch mehr tappen wir im Dunklen, wenn es um uns gänzlich unbekannte Situationen geht. Wer kann schon von sich behaupten, er wüsste, wie er sich verhielte, falls nur, wenn er bei einer schlimmen Sache mitmachen würde, seinen Kindern gravierende Nachteile erspart blieben? Wer weiß schon, ob er in kollektiv ausweglosen Situationen nicht die Flucht ins Verbrechen wählen würde oder sein Ohr den politischen Versprechen einer Heilslehre leihen würde usw. Erst wenn wir uns auf andere einlassen, die unmittelbar mit dem Tod konfrontiert sind, erfahren wir ein bisschen, was Todesangst ist. Erst wenn wir einen Film wie Breaking of the waves sehen, bekommen wir eine Ahnung davon, was Opfer in der Liebe bzw. Glaube an Gott heißen kann. An vielen, wenn auch nicht allen Beispielen des Fremdverstehens lässt sich zeigen, dass es sich mit dem Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbezug in der Einfühlung in Wirklichkeit umgekehrt verhält, als wir dachten: Erst indem wir uns auf die Perspektive des anderen einlassen, bekommen wir eine Ahnung davon, was es für uns hieße, in seiner Situation zu sein. Manchmal täuschen uns Darstellungen über die Fremdheit von Situationen. Beliebt sind die folgenden Kunstgriffe: Man lässt eine Geschichte in einer Alltäglichkeit beginnen, in der wir uns wiederfinden

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können. Entweder verhüllt diese Alltäglichkeit Abgründe und das legt nahe, dass wir, die wir unser Triebleben nur unzureichend kennen, sei es in der Innenwelt, sei es in der Außenwelt, Leichen im Keller haben, oder dass das Unheimliche unerkannt unter uns weilt. Oder das Unheimliche bricht in das Alltägliche ein, so, wie es jedem passieren könnte. Auch der umgekehrte Kunstgriff ist gängig: Das regungslose Narbengesicht, der Finger mit der überragenden Intelligenz, das Biest, kurzum das Unheimliche wird im nächsten Schritt auf das Bekannte reduziert: indem sich diese Gebilde als uns zugehörig entpuppen, die geliebt werden wollen, einsam sind, Heimweh haben etc. Hier wird so getan, als könne man das Fremde nach dem Muster des Eigenen und Gewohnten erfassen. Es bedürfe nur des Zugehens auf das Unheimliche, der ausgestreckten Hand, damit sie auf vertraute Weise geschüttelt wird. Das von mir favorisierte Modell behauptet, dass wir erst durch das Sicheinlassen auf die fremde Perspektive uns selbst kennen lernen, dass Empathie nicht aus einer Erweiterung der eigenen Perspektive hervorgeht, sondern umgekehrt die eigene Perspektive sich erst durch das Kennenlernen und Nachvollziehen der fremden Perspektive entwickelt. Ich will kurz auf zwei weitere einflussreiche Modelle von Empathie eingehen.

Lebensgeschichtliches Übersetzungsmodell Wenn ich verstehen möchte, wie bedeutsam etwas für den anderen ist, dann sollte ich mich an Ereignisse erinnern, die ähnliche Emotionen bei mir auslösen, wie die Ereignisse, die ich bei ihm einfühlend verstehen möchte. Wenn ein Kind unglücklich über den Verlust seines Kuscheltiers ist, könnte einer, dem an Kuscheltieren nichts liegt und der sich direkt in die Situation des Kindes versetzt, das Kind emotional nicht verstehen. Um sich einzufühlen, könnte der Betrachter in seiner eigenen Geschichte nach Objekten suchen, die von ebenso großer Bedeutung für ihn sind wie das Kuscheltier für das Kind. Er stellt sich vor, welcher Verlust für ihn mit einer ähnlichen gefühlsmäßigen Reaktion verbunden wäre. Wenn es dem Betrachter gelingt, sich an ein Verlusterlebnis zu erinnern, dann wird er von ähnlichen Gefühlen wie das Kind bewegt werden und kann sich auf diese Weise in es einfühlen. Das erinnert an Stanislavskis Vorstellung davon, wie Schauspieler ihre Rolle lernen sollten. Sie sollten Darstellungen von solchen dramatischen Situati-

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onen, die sie noch nicht erlebt hatten, mit Gefühlen unterfüttern, die sie bei der Erinnerung an Erlebnisse bekommen, die eine ähnliche emotionale Valenz haben. Stanislavski nimmt an, dass Personen ein emotionales Gedächtnis haben, das vergangene Erlebnisse verdichtet unter emotionale Kategorien wie Katastrophen, Liebe oder Hass bringt. Erlebnisse, die unter dieselbe Kategorie fallen, gelten als vergleichbar: z. B. kann man versuchen, den Tod eines Freundes mit einer schmerzvollen Trennung zu vergleichen. Die erinnerten Ereignisse sollen nun Gefühle erwecken, die zu den Darstellungen passen. Es ist ein Nachteil dieses Modells, dass ‚der Übersetzer‘ dem engen Kreis seiner eigenen Erlebnisse verhaftet bleibt. Das Unvertraute wird dem Vertrauten angeglichen. Erfahrungserweiterung mit anderen lässt sich in diesem Modell nur im Sinne der vorgestellten Steigerung oder Schwächung von Erlebnissen denken: „Deinen Schmerz stelle ich mir so vor wie meinen, nur viel stärker oder schwächer“. Übersetzung kann höchstens ein erster Schritt in Richtung Einfühlung sein. Das zeigen Beispiele: „Du benützt diese Person, wie ich nur Sachen verwende.“ Wer so vergleicht, versteht möglicherweise, wie sich der Andere verhält, aber um sich einfühlen zu können, müsste die Perspektive des Anderen für den Einfühlsamen nachvollziehbar sein. Voraussetzung dafür wäre, dass man versteht, warum jemand sich so instrumentell verhält.

Problembezogene Übersetzung oder Theorie geleitete Empathie Auf der Ebene von tiefen Konflikten, existentiellen Erwartungen gleichen sich Personen. Das kann man an Beispielen zeigen: Man denke an den Konflikt zwischen Streben nach Selbstständigkeit und der Angst vor dem Verlust von Bindungen. So mag es geschehen, dass jenes Streben von denen, an die eine Person gebunden ist, als Aggression verstanden wird, was zur Folge hat, dass diese Person Angst vor Erfolgen bekommt. Wenn beim Einfühlenden der Wunsch nach Selbstständigkeit nicht besteht, könnte er dann die Unterwerfung als solche überhaupt verstehen? Nehmen wir einmal an, in seinem Leben dominiert absolut der Wunsch, mit Gefühlen des anderen im Gleichklang zu sein. Für ihn müsste der Kampf um anerkannte Selbstständigkeit wie ein Irrweg erscheinen und er müsste das, was wir Unterwerfung nennen, als ersten Schritt in ein glücklicheres Dasein verstehen.

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Verwandlungsobjekte Das empathische Verstehen beruht nicht nur auf dem Wachrufen eines unterirdischen gemeinsamen Problemhorizonts, sondern ebenso auf der Identifikation gemeinsamer Erwartungen. Als Beispiel mag der tiefe Wunsch dienen, Personen und/oder Kunstwerke zu finden, die uns, indem sie uns verwandeln, glücklich machen. Der Psychoanalytiker Bolas führt diesen Wunsch auf seinen vorsymbolischen Ursprung zurück, die Erfahrung des Babys mit der versorgenden Mutter, die noch gar nicht als eigenständige Person wahrgenommen wird, sondern vor allem als Prozess, der die Welt unseren Bedürfnisse anpasst. Der Andere wird als ‚verwandelndes Objekt‘ gebraucht7, wobei schon beim Baby die Veränderung durch sich selbst und durch Andere amalgamieren. Die für Einfühlung nötige Gemeinsamkeit wird in diesen Beispielen durch die Entdeckung gemeinsamer Probleme und Erfahrungen hergestellt. Oft sind diese unbewusst und das Verhalten bleibt ohne diesen Kontext unverständlich.

Einfühlung als elementare Fähigkeit zu emotionalen interaktionellen Erfahrungen Bisher haben wir Einfühlung so verstanden, dass ihr Ausgangspunkt entweder die Rezeption der Erfahrung des anderen in seiner Situation ist oder dass Einfühlung, verstanden als Nachvollzug von Erfahrungen anderer, voraussetzt, dass man wichtige Gemeinsamkeiten mit dem anderen entdeckt. Nun wenden wir uns einer Auffassung zu, die die umstrittene Rangordnung der ersten oder zweiten Person in der Empathie zugunsten einer Gleichordnung aufgibt. Hier wird die These vertreten, dass die Identifikation der eigenen und der fremden Perspektive in der Empathie zusammengehören. Die eine ist ohne die andere nicht zu haben. Ohne Berücksichtigung der Perspektive des anderen erscheinen die eigene Perspektive und die mit ihr einhergehende emotionale Erfahrung unvollständig und unverständlich. Vorarbeiten für diesen Ansatz finden sich in modernen Gegenübertragungstheorien der Psychoanalyse. Unverständliche eigene Gefühle führen einige Analytiker auf unbewusste Interaktionen mit ihren Patienten zurück. So könnte ein Überfall durch das Gefühl einer unver-

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ständlichen Hoffnungslosigkeit auf Induktion durch einen Patienten zurückgehen, der den Analytiker in eine Gefühlslage bringt, die der eigenen ähnelt. Diese Deutung von Gefühlen als zurückgehend auf ein interaktionelles Geschehen hat nur eine begrenzte Anwendung: Sie bezieht sich ausschließlich auf unbewusste emotionale Kommunikationsprozesse, deren Erschließung sich an emotionale Erfahrungen knüpft. Wenn man diese nicht szenisch vervollständigt, erscheinen sie unverständlich. Radikaler ist der Ansatz des norwegischen Entwicklungspsychologen Bråten8, der davon ausgeht, dass Kinder bereits mit Fähigkeiten zu interaktionellen emotionalen Erfahrungen geboren werden.9 Er vertritt die Ansicht, dass schon Kinder im vorsprachlichen Alter nicht nur erleben, wie es ist, gefüttert oder geschlagen zu werden, sondern diese Erfahrung nicht nur ihre passive Seite, sondern auch die aktive Perspektive des Interaktionspartners enthält. D. h. sie erleben nicht nur, wie es ist, gefüttert zu werden, sondern zugleich, wie es ist, zu füttern, sie erfahren nicht nur, wie es ist, Opfer von Misshandlungen zu werden, sondern auch, wie es ist, zu misshandeln. Naturgemäß ist die Stützung dieser These mit Bezug auf vorsprachliche Erfahrungen schwierig und braucht uns zum Glück hier nicht zu kümmern; denn wenn man sich unter diesem Blickwinkel sprachfähigen Personen zuwendet, erscheint die Evidenz überwältigend. Wenn wir jemanden beleidigen, spüren wir die Kränkung, die das Objekt erfährt. Wenn wir jemanden lieben, vermuten wir zugleich, was es für den Anderen bedeutet, von uns geliebt zu werden. Wenn wir in einer Gemeinschaft Neuankömmlinge ostentativ nicht beachten, können wir nicht umhin zu fühlen, was es heißt, als Nichts, als jemand, durch den man hindurchschauen kann, behandelt zu werden.10 Genau so wenig wie man die Wahl hat, nicht zu kommunizieren, kann man die Perspektive von anderen ignorieren. Denn der Versuch, Andere zu ignorieren, impliziert selbst eine bestimmte emotionale Beziehung zu denjenigen, die man nicht umhin kann zu beachten. Vielleicht ist Gleichgültigkeit eine Alternative zu der Notwendigkeit, empathische Erfahrungen zu machen. Vetlesen11 vertritt diese Ansicht, die ich hier nicht diskutieren kann. Sollte sich herausstellen, dass auch Indifferenz ein empathisches Moment hat, in dem Sinn, dass sie nicht umhin kann, die Wirkungen dieser Erfahrung auf Andere zu reflektieren, dann müsste man sagen, dass Einfühlung auf einer universellen interaktiven Fähigkeit beruht, die nur in pathologischen Fällen wie Autismus ausfällt.

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Martin Löw-Beer

Fazit Wir haben zum Schluss zu fragen, ob die Annahme, dass unsere emotionalen Erfahrungen zumindest Vermutungen über die Perspektiven von Anderen einschließen, die vorher diskutierten Ansätze, Empathie zu erläutern, falsifizieren. Ich glaube nicht. Die Einbeziehung des Anderen schließt ja nicht aus, dass man über ihn wie über sich selbst falsche Annahmen macht. Die Schwierigkeit, sich und andere emotional zu verstehen, die Fremdheit von Situationen und der in ihnen entwickelten Lebensformen wird dadurch, dass wir immer schon interaktionelle Erfahrungen machen, nicht aufgehoben. Empathie ist eine elementare Fähigkeit, deren Anwendung wir uns nicht entziehen können. Das schließt nicht aus, dass wir uns und Andere wenig kennen, dass es in wichtigen Fällen Anstrengungen bedarf, fremde Perspektiven nachzuvollziehen und eigene zu entwickeln. Wer will das leugnen? Auch bleibt die Kluft zwischen Empathie als interaktioneller Erfahrung, in die die eigene und die Perspektive des Anderen eingebaut ist, und Einfühlsamkeit als eine Praxis, die auf einem Schätzen und Ernstnehmen des Anderen und seiner Perspektive beruht.

Anmerkungen 1. Ich danke meinem Freund Martin Dornes für die Mühe um meinen Text; darüber hinaus hat er mir wertvolle Anregungen und Literaturhinweise gegeben. 2. Bertolt Brecht, Der Messingkauf, in: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1967, Bd. XVI, 541 f. 3. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bonn 1999, 31. 4. Hoffman, der diesen Bezug der Empathie auf Lebenssituationen plausibel macht, schlägt die folgenden Definitionen von Empathie vor: „Empathy defined as an affective response more appropriate to another’s situation than one owns“… „empathy is the vicarious affective response to another person“. Mich stört an diesen Ausdrucksweisen, dass sie nahe legen, dass die empathische Reaktion inadäquat wäre, weil sie eine Reaktion ist, die besser zur Situation eines Anderen als zur eigenen passe. Im Buch spielt allerdings eine solche Annahme keine Rolle; s. Martin L. Hoffman, Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge University Press 2000, 4, 29. 5. Peter Fonagy, György Gergely, Elliot Jurist and Mary Target, Affect Regulation. Mentalization and the Development of the Self, New York 2002, 292–301. Dornes diskutiert diesen Ansatz anhand von vorher erschienenen Aufsätzen im Zusammenhang mit anderen entwicklungstheoretischen Ansätzen zur Entwicklung eines Bewusstseins von Gefühlen. Martin Dornes: Die emotionale Welt des Kindes, Frankfurt 2000, 194–206. Seine ausgezeichnete Diskussion des Buches ist noch nicht erschienen. Martin Dornes, Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst, Manuskript, Frankfurt 2003.

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6. Lilly Kelperi hat mich auf dieses historische Beispiel und auf die damit verbundene Problematik aufmerksam gemacht. 7. Christopher Bollas, Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung, Stuttgart 1997, 26. 8. Dornes hat mich durch einen instruktiven Aufsatz auf Bråten aufmerksam gemacht. Martin Dornes, Der virtuelle Andere. Aspekte vorsprachlicher Intersubjektivität, in: Forum der Psychoanalyse 18 (2002), 303–33. 9. Stein Bråten, What enables children to give care? Prosociality and Learning by Altercentric Participation, in: Dialogue in Infant and Adult (zweisprachig), ed. by Stein Bråten, Bergen 2000, 231–243; Intersubjective Communication and Emotion in Early Ontogeny, ed. by Stein Bråten, Cambridge 1998; ders., Infant learning by altercentric participation, o. O. 1998, 105–124; ders., Intersubjective communion and understanding. Development and perturbation, o. O. 1998, 372–382. 10. Axel Honneth, Die Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M. 2003. 11. Arne J. Vetlesen, Perception, Empathy and Judgement. An Inquiry into the Preconditions of Moral Performance, Pennsylvania State University Press, 1994, 179–203.

Wolfgang Tunner

Emotion, Phantasie, Kunst Emotion Emotionen sind Bewegungen und gehören zum Leben wie Wachsein und Schlaf. Sie sind mit vitalen Bedürfnissen, mit Wahrnehmungen und Gedanken, Vorstellungen, Denk- und Entscheidungsprozessen sowie mit dem motorischen Verhalten verwoben und von diesen Vorgängen zwar unterscheidbar, aber nicht trennbar. Was Isolierbarkeit und Statik bisweilen vortäuscht, ist ihr hauptwörtlicher Gebrauch in der Sprache. Eingeordnet in Begriffsbezeichnungen heißen Emotionen dann die Furcht, der Zorn oder die Trauer und verlieren dadurch den zeitlichen Bezug zur Bewegung mit ihren immer nur ähnlichen, nie aber gleichen Erscheinungen. Zeitwörtlich formuliert, wie zum Beispiel: „Er fühlt sich bei ihrem Anblick heiter und erfrischt!“ lässt das Wechselspiel vegetativer, motorischer und mentaler Vorgänge bewusst werden. Man erkennt nicht nur, dass es Emotionen gibt, sondern auch, dass sie organisiert sind, Richtung haben, auf etwas bezogen sind, das ihre Erregung auslöst. Qualität, Intensität, Ausbreitung und Tiefe der Emotionen variieren in Zeitgestalten. Sie brauchen daher Zeit, um sich zu entfalten. Ihr vegetativer und motorischer Teil beispielsweise kann langsamer sein als die Sprache, so dass von Angst, Freude oder Mitleid die Rede ist, ehe sie körperlich voll zur Geltung kommen. Das Gefühl bleibt dadurch verzerrt. Umgekehrt können Worte für bereits vorhandene körperliche Erregung fehlen. Emotionen leiten manchmal in die Irre. Es gibt echte falsche Gefühle, die nicht nur unvernünftig wirken, sondern auch ihren eigenen Weisungen widersprechen. Wenn Aggression der Liebe, Angst dem Mut und Scham der Begierde dienen sollen, ist dies von sonderbarer Bedeutung. Auch in ihrem Zusammenhang von außen und innen sind

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Emotionen oft schwer verständlich. Mimik und Gestik halten uns nicht selten zum Narren. Oft sind sie bloße Masken, die zwar anfänglich das Innere verbergen, es allmählich aber abflachen oder im Sinne der Maske verändern. Was daher Eindruck macht, muss dem Ausdruck nicht entsprechen. Da wir die Fähigkeit der Reflexion besitzen, lassen sich Emotionen zuweilen wie in einem Spiegelkabinett betrachten. Reflektieren bedeutet hier, sich im Widerschein des anderen brechen – und zwar so, dass wir uns selbst im Schein des anderen begegnen. Auf diese Weise wird Distanz von jener Perspektive geschaffen, mit der man sich gewöhnlich untrennbar verbunden fühlt. Der eigene Zorn kann dadurch lächerlich erscheinen. Die gedankliche Rekonstruktion beim Reflektieren gibt die Möglichkeit, die Bedeutung der Emotion wie in einem Experiment zu variieren. Oft genügt es, eine einzige Bedingung zu verändern, und Emotionen verkehren sich ins Gegenteil. Wer beispielsweise glaubt, der andere wolle ihn mit Absicht kränken, und dadurch Hass gegen ihn verspürt, der stelle sich einmal vor, der andere sei aus Not und Schwäche selbst dazu gezwungen worden und würde es im Grunde schon bereuen. Man wird, wenn der gedankliche Versuch gelingt, bemerken können, dass sich der Hass dabei verringert und schließlich überhaupt verschwindet. Emotionen sind also von der Deutung einer Situation abhängig, in der sie auftreten. Und sie können umso wirkungsvoller modifiziert werden, je mehr es gelingt, andere Emotionen an ihre Stelle zu setzen. Wenn zum Beispiel Hass dem Mitleid weicht, ist seine Überwindung gelungen. Häufiges Thema der Emotionspsychologie ist die Abgrenzung der Gefühle von den Erregungen der vitalen Bedürfnisse. Aber die Grundqualitäten wie Spannung und Lösung, Lust und Unlust gehören zum vitalen Trieb wie zum Gefühl. Triebe sind an instinktiv festgelegte organische Reize gebunden und setzen ein, sobald die Stimulation dafür gegeben ist. Der Trieb hat daher etwas Unnachgiebiges, Zyklisches, bewusstseinsmäßig Dumpfes. Das Gefühl hingegen ist flexibel und klarer bewusst und bindet sich an die Inhalte, die wir wahrnehmen oder vorstellen können. Sobald ein vitaler Trieb auf etwas bezogen ist, das zum wahrnehmbaren und vorstellbaren Erlebnisinhalt werden kann, ist auch ein Gefühl vorhanden, das ihn verstärkt oder dämpft oder unterdrückt. Triebe sind mit den Gefühlen also nicht gleichzusetzen. Sobald aber Triebe auf einen bestimmten Inhalt gerichtet sind, der die Auseinander-

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setzung mit den variablen Bedingungen der Außenwelt und der Phantasie erfordert, werden Emotionen wirksam. Für den vitalen Antrieb, der die Körpertemperatur oder den Blutdruck aufrechterhält, sind Emotionen nicht nötig. Es ist die ‚Weisheit des Körpers’, die sagt, worauf sich der Trieb zu richten hat. Steigt jedoch der Hunger und richtet sich die Aufmerksamkeit auf ein variables Angebot an Nahrung, spielen Gefühle dabei eine bedeutsame Rolle. Menschliche Emotionen wurden mit solchen von Tieren verglichen. Evolution macht dabei Gemeinsamkeiten verständlich. Phylogenetisch alte Emotionen sind nicht spurlos verschwunden, sondern wuchsen mit später gebildeten zusammen. Auch sind uralte Emotionen wie Furcht, Wut, Ekel ebenso uralte Formen des Erkennens. Durch sie beispielsweise wird verständlich, was Gefahr bedeutet. Fühlen ist hier eine Erkenntnisleistung, die sagt, was zu tun und zu lassen nötig ist, um Selbsterhaltung zu sichern. Der Versuch, Emotionen aus der Evolution zu verstehen, hat tiefgreifende Verwandtschaften zwischen Mensch und Tier erkennen lassen. Aber er hat auch über Unterschiede hinweggetäuscht. Es gibt beim Menschen keine Instinktsicherheit. Genetisch festgelegt ist – psychologisch gesehen – nur die Fähigkeit zu lernen. Alles andere ist variabel. Der Mensch kann nicht nur lernen, sondern er muss es auch. Andernfalls ginge er zugrunde. Sein Repertoire angeborener Verhaltensweisen ist so geschwächt, dass er damit allein keine Orientierung finden könnte. Natürlich brauchen die Lernprozesse instinktgebundene Impulse, damit eine kommunikationsfähige Selbstregulation überhaupt stattfinden kann. Auch bei hoch entwickelten Leistungen wie der Sprache ist dieses Zusammenspiel gelernter und ungelernter Fähigkeiten noch deutlich erkennbar. Spracherwerb setzt spezialisierte biologische Bedingungen voraus, die zwar artspezifisch sind, aber ein hohes Maß an Möglichkeiten für individuelle Variationen offen lassen. Die Sprache selbst ist eine gelernte Fähigkeit, die sich sogar innerhalb derselben Gesellschaft in relativ kurzer Zeit so sehr verändern kann, dass ein entsprechender biologischer Wandel in dieser Zeitspanne gar nicht hätte stattfinden können. Lernprozesse brauchen Emotionen: Lust und Unlust, Spannung und Lösung charakterisieren das Erleben bei Erfolg und Misserfolg, bei Belohnung und Bestrafung. Man kann nicht lernen ohne sie. Auch Interesse, das für höhere Lernprozesse nötig ist, ist eine Bewegung, die in der Neugier deutlich Eigenschaften zeigt, die Emotionen charakterisieren. Aus den erwähnten Merkmalen lassen sich zusammenfassend folgende Aussagen zur Psychologie der Emotionen formulieren:

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(1) Das Emotionale ist ein Grundmerkmal fast aller psychischen Vorgänge. Auch der kalkulierende Verstand einer Schachpartie arbeitet innerhalb der Strategie einzelner Züge im Wechsel von Spannung und Lösung, angenehm und unangenehm. (2) Emotionen sind dem Erkenntnisvermögen nicht hierarchisch untergeordnet, sondern sind selbst eine Form des Erkennens. Der Drehund Fallschwindel beim offenen Blick in einen Abgrund beispielsweise sagt leiblich, was geschehen würde, wenn der Sturz erfolgte. (3) Im Vergleich zum Tier haben sich menschliche Emotionen von ihren schwach gewordenen Instinkten gelöst und agieren nicht selten auf lebensbehindernde Weise. Lustgefühle können zum Selbstzweck destruktiver Rituale werden. (4) Vitale Triebregungen unterscheiden sich von Gefühlen durch ihre erlebnismäßig eher dumpfen, an zyklische Körperabläufe starr gebundenen Erregungen. (5) Emotionen sind nicht nur Verstärker der Lernprozesse, sondern sie werden selbst von Lernprozessen gefördert oder abgeschwächt und gelöscht. Was zum Beispiel mit Freude belohnt wird, bleibt im Gedächtnis, und wenn Freude bestraft wird, hört sie auf zu sein. (6) Es gibt archetypische Auslöser für Emotionen; ob sie aber wirken oder nicht, hängt vom Bedeutungsrahmen ab, innerhalb dessen sie wahrgenommen werden. Blut, das aus der Wunde des eigenen Körpers fließt, lässt die Gefäße reflexartig verengen, und es kann Ohnmacht eintreten. Auf das blutige Fleisch beim Metzger hingegen reagieren manche mit Gefäßerweiterung und Appetit. (7) Die Bewusstseinsfähigkeit zur Reflexion und perspektivischen Variation löst Emotionen von der unmittelbaren Wirkung ihrer auslösenden Reize und gibt uns die Möglichkeit, sie mit innerer Distanz wahrzunehmen. (8) Zwar können störende Emotionen durch Reflexion beeinflusst werden, ihre dauerhafte Überwindung jedoch ist nur mit Unterstützung durch andere Emotionen möglich, die mit den störenden unverträglich sind. Zur Kontrolle der Furcht braucht man Mut. Und Freude bringt Angst zum Erlöschen.

Phantasie Phantasie ist die Fähigkeit, Ereignisse bei nach außen verschlossenen Sinnen wahrzunehmen und, ohne konkret zu handeln, auf sie einzuge-

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hen. Der Gegenstand ist dabei in doppelter Weise subjektiv. Auch was von ihm als Außen erscheint, ist im Subjekt innen. Phantasie muss sich auf keinen äußeren Blickpunkt einstellen. In diesem Sinne ist sie eigenständig. Aber Phantasie und greifbare Außenwelt sind aufeinander bezogen. Sie wirken aufeinander ein und es besteht oft das Verlangen, das Vorgestellte ins Reale umzusetzen und dieses wiederum in Vorgestelltes zu verwandeln. Die Erscheinungen der Phantasie werden aus Sinnesempfindungen gebildet: Der Blindgeborene stellt keine Farben vor und der Taubgeborene keine Klänge. Aber die Phantasie verbindet nicht nur Sinnesempfindungen, um Vorhandenes und früher Wahrgenommenes nachzubilden, sondern schafft eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit neuer Vorstellungen. Dadurch unterscheidet sich Phantasie von der reproduktiven Gedächtnisleistung und bloßen Gedankenassoziation. Phantasie ist ein Denken in Bildern, Klängen, Gerüchen, Geschmäckern und motorischen Bewegungen, das sich aktiv auf Zukünftiges und kontemplativ auf das Gegenwärtige beziehen kann. Sie wird dabei wie das Denken von Stimmungen und Gefühlen angetrieben und von Gedanken und Ideen gelenkt. Im Spiel der Phantasie sind ihre Inhalte meist logisch aufeinander bezogen. Sie wirken zwar oft absurd, haben aber ihre innere Ordnung. Auch der Traum verblüfft durch seine logische Stringenz, wirkt aber dennoch oft absurd. Der Ameisenkönig, der im Märchen mit dem Reiter spricht, ist nicht unlogisch, sondern unwirklich. Wenn jemand sagt, Mondkälber seien größer als Elefanten und Elefanten größer als Heinzelmännchen und diese daher kleiner als Mondkälber, ist das logisch korrekt, jedoch absurd. Nur Elefanten gibt es auch in greifbarer Wirklichkeit. Die Phantasie ändert das Neben- und Nacheinander der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse auf ungewohnte Weise. Sie verkehrt die Perspektiven der Zeit und vertauscht die Ordnung des Raumes. Was schon gewesen ist, kann als Zukünftiges vorgestellt werden, und von einem Ereignis, das morgen stattfinden wird, ist heute vorstellbar, dass es gestern erlebt wurde. Die Unumkehrbarkeit der Zeit ist in der Phantasie kein Gesetz. Im Raum der Phantasie können Ereignisse beliebig hinzu- und hinweggeträumt werden. Es ist, als gäbe es keine Schwerkraft, oben und unten sind beliebig vertauschbar. Phantasie ist kaum vorhersagbar und lässt sich daher auch nicht kontrollieren. Das Wissen um reale Verhältnisse und die gleichzeitige Hingabe an die Phantasie ist ein Merkmal des Spiels. Kinder beispielsweise

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geben einfachen Gebrauchsgegenständen verschiedene Bedeutungen: Ein Pappkarton kann eine Pferdekutsche, ein Haus, ein Schiff oder ein Flugzeug sein. Phantasie gibt hier dem Kind die Kraft der Verwandlung, und darin liegt besonderes Vergnügen. Der Karton wird zum fliegenden Haus und dieses wieder zu einem kreisenden Vogel, obwohl das Kind weiß, dass der Karton weder Haus noch Vogel ist. Ein solches Spiel zeigt nicht nur die besondere Leistung der Phantasie, sondern auch ihre Grenzen. Denn einen Pappkarton in einen Vogel zu verwandeln, ist nur möglich, wenn man den Vogel kennt. Und diese Kenntnis vermittelt die Wahrnehmung in der realen Welt. Man hat angenommen, ein Mensch, der seine vitalen Bedürfnisse zu befriedigen vermag, phantasiere nicht. „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasie und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit.“1 Der kausale Zusammenhang von Phantasie und wunschgemäßer Veränderung greifbarer Wirklichkeit gilt jedoch nur für eine der möglichen Beziehungen, nicht aber für das ganze Phänomen. Andernfalls wären Phantasien lediglich Ersatzbefriedigung und alles, was daraus hervorgeht, Kompromiss. Phantasie ist auch Inszenierung für den Ernstfall in realer Welt. Sie ist eine Art Probebühne, auf der Wahrgenommenes und Vorgestelltes zum Nutzen der realen Handlung miteinander agieren. Phantasie befriedigt nicht nur, sondern sie schafft auch Lust, reale Welten zu gestalten. Und es ist anzunehmen, dass Phantasie umso stärkeren Einfluss auf die greifbare Wirklichkeit hat, je eindringlicher die Sinneswahrnehmungen sind, aus denen die Vorstellungen gewonnen werden. Es lassen sich zur Phantasie die folgenden Aussagen zusammenfassen: (1) Phantasie ist die Fähigkeit, Ereignisse in der Vorstellung erscheinen zu lassen. (2) Sie ist eine Art des Denkens in Sinnesempfindungen, das seine Materialien zwar aus vorausgegangenen Wahrnehmungen bezieht, sie dann aber in eigenständiger Weise kombiniert. (3) In der Phantasie können naturgesetzliche Zusammenhänge aufgelöst werden. (4) Phantasie ist eine Probierbühne für den Ernstfall in realer Welt, aber sie produziert auch absurde Dinge, die uns in Wirklichkeit nicht immer nützen. (5) Phantasie befriedigt nicht nur Wünsche, sondern schafft sie auch.

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Kunst Kunst ist eine Form des Erkennens. Da ihre Inhalte anschaulich vermittelt werden, ist sie eine sinnliche Erkenntnisform. Der Verstand bleibt hier an die Wahrnehmung gebunden. Er sucht die an Empfindungsqualitäten gefühlsmäßig gewonnenen Erfahrungen zu ordnen, logisch zu formulieren und der Kommunikation zugänglich zu machen. Kunst entsteht am Material, das als Pigment, Holz, Stein, Papier, fotografisch oder filmisch gewonnenen Bildern usw. gegeben ist. In der Kunst wird Immaterielles anschaulich. Ideen und Motive werden wahrnehmbar. Philosophisch gesehen kommt das Metaphysische in der Kunst durch das Wahrnehmbare zum Ausdruck. Unsichtbares wird am Sichtbaren deutlich. Ein Merkmal der Kunst ist ihre ganzheitliche Sicht. Wie sehr sie auch ins Detail geht, sagt sie doch mehr, als die Summe ihrer Teile bedeutet. Sie folgt der Idee von der notwendigen Einheit der Dinge. Ihre Werke wirken zwar oft fragmentarisch, aber nicht isoliert. In dieser Hinsicht gleicht Kunst dem Gefühl selbst, das sie hervorruft: Auch Gefühle haben ganzheitliche Wirkung. Sie sind mit einem Tropfen farbiger Tinte vergleichbar, der in das Glas fällt, das mit klarem Wasser gefüllt ist. Seine Farbe färbt die gesamte Flüssigkeit. Kein Teil des Wassers bleibt davon isoliert. Ohne direkten Bezug auf das Empfundene sind Aussagen über Kunst mangelhaft. Die Begriffe sind leer. Wer Farbe nicht empfindet, wird ihr Licht nicht fühlen und ihren Klang nicht vernehmen. Versuche, Kunst allein durch Kommentare zu vermitteln, geben daher Einsicht in die Form der Kommentare und nicht in die Qualität der Kunst. Wer beispielsweise glaubt, eine künstlerische Arbeit könne durch ihre historischen Daten verstanden werden, irrt. Sie verlangt zu ihrem Verständnis die Hingabe an ihre wahrnehmbaren Merkmale. Aber so verständlich diese Forderung im Rahmen der Psychologie sinnlicher Erkenntnis in der Kunst auch sein mag, praktisch wird sie selten befolgt. Misstraut wird eher den eigenen Empfindungen als den fremden Kommentaren. Das Empfundene gilt als Quelle von Täuschung. Aber genau genommen trügt nicht die Empfindung, sondern das Urteil über sie. Außerdem kommt es darauf an, welches Maß verwendet wird, um zu bestimmen, was Täuschung ist. Im Allgemeinen gilt als richtig, was am Gegenstand objektiv gemessen werden kann. So täuscht der Vollmond, der am Horizont größer als im Zenit erscheint, und wenn im Bild die Farbe Blau räumlich tiefer als

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das Rot empfunden wird, gilt dies als Täuschung, da die Wirkung an der Farbe objektiv nicht nachzuweisen ist. Diese ungleiche Geltung von Subjekt und Objekt lässt Ergebnissen der Sinneserkenntnis außerhalb der Ästhetik wenig Möglichkeit, die ihnen gebührende Anerkennung in der Erkenntnislehre zu finden. Man sucht sich vom Subjekt zu distanzieren, obgleich jede Erkenntnis naturgemäß subjektiv ist. Um den Einflüssen einer allzu objektivierenden Beurteilung zu entgehen, ist es nötig, die eigene Wahrnehmung selbst auf ihre Empfindungsintensität und -qualität zu prüfen. Das geschieht über die Aufmerksamkeit, die auf die subjektive Distanz und Nähe zum Gegenstand der Wahrnehmung gerichtet ist. Hierzu ein Beispiel: Das Glas dort auf dem Tisch nehme ich deutlich als ein Ding der Außenwelt wahr. Seine Distanz vom Auge ist messbar, und es besteht für mich kein Zweifel, dass es unabhängig von mir für sich bestehen kann. Die Positionen von innen und außen sind klar getrennt. Was objektiv erscheint, wird dem Objekt zugeordnet. Geht man aber auf Form und Farbe des Gegenstandes ein, so dass die Qualität der Sinneseindrücke gefühlsmäßig erlebt wird, hebt sich subjektiv die objektive Distanz zum Gegenstand auf, und es ist nicht einfach zu entscheiden, ob er sich nun außerhalb von mir oder in mir befindet. Tatsächlich sind ja Empfindung und Gefühl und alles, was physiologisch und psychologisch daran teilhat, Vorgänge in mir, die vom Gegenstand zwar ausgelöst, aber objektiv an ihm nicht festgestellt werden können. Durch Hingabe und Konzentration auf den Gegenstand und durch die dabei auftretenden Gefühle rückt das objektiv Ferne subjektiv nahe. Diese Veränderung der Distanz ist das Maß, an dem subjektiv geprüft werden kann, ob im Urteil über den Gegenstand dieser erlebnismäßig präsent ist oder ob es sich lediglich um Urteile handelt, die durch objektivierende Informationen und nicht durch die eigene Empfindung gefällt wurden. Sinnliche Hingabe braucht Zeit. Gefühle entwickeln ihre Merkmale oft erst allmählich. Die vegetativen Reaktionen der Empfindungsgefühle sind im Vergleich zur Fähigkeit, einen Gegenstand nur namentlich zu benennen und einer schon bekannten Bedeutung zuzuordnen, langsam. Gesehenes gilt oft schon als erkannt, bevor es in seiner vollen sinnlichen Qualität zur Geltung kommt. Es bleibt beim bloßen Benennen. So lässt sich beispielsweise ein roter Kreis rasch wahrnehmen, ohne dass seine ästhetische Wirkung im Bild zur Geltung kommt. Die geometrische Figur wird lediglich als solche wahrgenommen oder im Sinne eines bereits vorhandenen Wissens beurteilt. So kann die von einem Kritiker geäußerte Meinung die Reaktion auf das Bild bestimmen, und nicht der

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sinnliche Erkenntnisvorgang. Ganze Kunstrichtungen können auf diese Weise vom Publikum angenommen oder abgelehnt werden, wobei nicht sichergestellt sein muss, ob nicht auch jene Experten ebenfalls nur indirekt auf die Werke bezogen sind, über die sie das Urteil fällen. Die Organisation der Sinneseindrücke, die nötig ist, um von einer Erkenntnisleistung sprechen zu können, lässt sich in Qualitäten wie Einheit und Vielheit, Rhythmik und Monotonie, Dichte und Zerstreutheit, Flachheit und Tiefe, Farbe und Licht, Rauheit und Glätte usw. beschreiben. Mit Genauigkeit können solche Qualitäten mit Hilfe der fraktalen Geometrie, wie sie im Rahmen der Chaosforschung entwickelt wurde, bestimmt werden. Ihre Daten stützen sich nicht auf Objektivierung der sinnlichen Eindrücke mit Hilfe von quantitativen Maßen wie Länge, Breite oder Zeitintervall, sondern auf jene intuitiv erfassbaren Qualitäten, wie sie oben genannt wurden. Wie Experimente zur Gestaltwahrnehmung zeigen, werden solche Merkmale auf unmittelbare Weise zu Gestaltqualitäten verarbeitet, lange bevor man sie logisch und begrifflich zu spezifizieren imstande ist. Sinneserkenntnis ist also das Ergebnis der Konzentration auf die Empfindungs- und Gefühlsqualitäten bei der Konfrontation mit dem Gegenstand. Der Verstand ist dabei in seiner Funktion als ordnende und kalkulierende Instanz auf die Empfindungen und Empfindungsgefühle bezogen, so dass seine Urteilsbildung in der Wahrnehmung und im Gefühl begründet bleibt. Auf Sinneserkenntnis basiert ein Wissen, das aus den Elementarqualitäten der Wahrnehmung gefühlsmäßig gewonnen wird. Sowohl für die kreative Aufnahme von Kunst als auch für ihre schöpferischen Leistungen ist die Sinneserkenntnis mit ihrem Bezug auf die Empfindungsqualitäten der Wahrnehmung von grundlegender Bedeutung. Ohne die Bereitschaft, auf das Wahrnehmbare einzugehen, kann Kunst weder entstehen noch rezipiert werden. Anschauliches wird durch Anschauung erkannt, und dafür sind primär Wahrnehmung und Phantasie zuständig. Auf ihrer Basis kommen die Erlebnisse zustande, welchen die schöpferische Leistung ihre Faszination verdankt. Man hat kreativen Personen Eigenschaften zugeschrieben, welche ihre Arbeiten verständlich machen sollen. Zum Beispiel eine besondere Fähigkeit, auf divergierende Weise zu denken, die durch ein hohes Maß an Flexibilität, konträre Perspektiven einzunehmen, gekennzeichnet ist. Divergentes Denken soll außerdem dazu befähigen, Ideen in flüssiger und origineller Weise zu produzieren. Man hat ferner schöpferisch tätigen Personen die Fähigkeit zugeschrieben, einander polar entgegen-

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gesetzte Merkmale in sich zu vereinen, ohne sie zu vermischen. Nicht der Mittelweg, sondern das Bestehen in Extremen sei für sie charakteristisch. In testpsychologischen Untersuchungen ergaben sich in der Gruppe der als kreativ eingestuften Personen ungewöhnliche Reaktionen. Sie waren aber nicht bizarr, sondern durchaus realistisch. Des Weiteren stellte man fest, dass kreative Personen sich zwar revolutionär, gleichzeitig aber auch traditionsbewusst verhalten. Außerdem wurde bei ihnen sowohl vehemente Leidenschaft als auch sachliche Distanz beobachtet. Dazu kommt großer Fleiß, sich mit den Werken zu beschäftigen und sich mit ihnen zu identifizieren. So aufschlussreich solche Zusammenhänge auch sein mögen, wie und wodurch die schöpferische Arbeit zustande kommt, erklären sie nicht. Man fragt sich, was flüssig produzierte Ideen in der Kunst bedeuten, worin Originalität besteht und welche Motive sie hervorbringt. Sind psychologische Tests, die auf das Lösen von Problemaufgaben gerichtet sind, überhaupt geeignet, Wesentliches der künstlerischen Tätigkeit zu analysieren? Und ist nicht die konvergierende Art zu denken, mit ihrer Konzentration auf eine einzige Idee, ebenso bedeutsam wie jenes divergierende Umherschweifen und auf Originalität bezogene Produzieren? Was bewirkt die Fähigkeit, das Mittelmaß zu meiden und polare Gegensätze bestehen zu lassen, und was treibt zu dem Fleiß, die Arbeit trotz großer Hindernisse weiterzuführen? Lassen sich der Aufwand an Energie, der ununterbrochene Einsatz, die leidenschaftliche Überzeugung, der zermürbende Zweifel und die Unbestechlichkeit mit der Aussicht auf soziale Anerkennung und materiellen Erfolg allein erklären, oder müssen hier nicht existenzielle Motive angenommen werden, die unter anderem auch mit der Faszination, eigenständigen Ausdruck zu schaffen, zusammenhängen? Sich selbst und seine Welt darzustellen, ist eine Eigenschaft, die wohl so alt ist wie der Mensch überhaupt. Man wird ihr eine eigene Dynamik zusprechen können, die ihre Beweggründe selbstverstärkend und weitgehend unabhängig vom äußeren Erfolg aufrechtzuerhalten imstande ist. Es ist heute üblich, als kreativ zu bezeichnen, was mit dem Namen Kunst versehen wird und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Umgekehrt fällt auf, dass als künstlerisch gilt, was lediglich ein ungewöhnlicher Einfall ist, der entsprechend überrascht. So ist weder das Wort Kunst eine Garantie für kreative Leistung, noch der Begriff Kreativität eine solche für Kunst. Beide Begriffe werden inflationär verwendet und gelten nicht selten nur für Erfolg, auf welche Art auch immer er erreicht wird. Dieses macht Ergebnisberichte über kreative Leistungen psycho-

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logischer Untersuchungen fraglich und erfordert die genaue Kenntnis über die Bedingungen, unter denen die Ergebnisse zustande kommen, ehe man sie zu deuten vermag. Es ergeben sich aus dem Kapitel Kunst zusammenfassend folgende Aussagen: (1) Kunst vermittelt Erkenntnis, bei der Sinnesempfindung, Emotion und kombinierender Verstand untrennbar miteinander verwoben sind. Diese Erkenntnisweise wird als Sinneserkenntnis bezeichnet. (2) Sinneserkenntnis braucht Zeit, um sich mit ihren Empfindungsgefühlen und Gefühlsempfindungen vegetativ, motorisch und mental entwickeln zu können. Die raschen Folgen von Bildern beispielsweise, die durch Massenmedien dargeboten werden, lösen daher oft nur Gedanken an Emotionen und nicht die Emotionen selbst aus. (3) Die psychologische Basis der Sinneserkenntnis ist das Vertrauen auf den Erkenntniswert der Empfindung und der dabei auftretenden gefühlsmäßigen Reaktionen. Empfindungen sind Elementarqualitäten der Wahrnehmung, und es wird davon ausgegangen, dass nicht die Empfindungen täuschen, sondern die Urteile über sie. (4) Sinneserkenntnis zielt auf ein Wissen aus dem direkten Bezug zur Kunst und nicht aus indirekt gewonnenen Informationen über sie. (5) Das Maß für die Intensität, Ausbreitung und Tiefe des kunst-ästhetischen Erlebens ist das Gefühl für subjektive Nähe und Distanz zum Werk. (6) Das maximale Verständnis für Kunst spiegelt sich im Erleben der Einheit mit ihr. (7) Im Prozess der sinnlichen Erkenntnis erfolgt die Organisation der Empfindungen und Empfindungsgefühle primär nach gestaltbildenden Gesetzen und nicht nach bewusst gesteuerter begriffslogischer Kombinatorik. Wissenschaftliche Psychologie sucht nach allgemeingültigen, zeitüberdauernden Merkmalen von Emotion, Phantasie und Kunst. Aber sie muss auch annehmen, dass psychologische Inhalte historisch wandelbar und kulturell stärker geprägt sind, als dass universelle Gültigkeit angenommen werden kann. Zur psychologischen Analyse schöpferischer Leistungen sind sehr unterschiedliche Wege beschritten worden. Forscher und Forscherinnen haben sich in Laboratorien kreativer Wissenschaftler und in Ateliers von Künstlern begeben. Sie haben biographische Zeugnisse gesammelt und Teiloperationen kreativer Handlungen experimentell untersucht: zum Beispiel Methoden der Problemfindung und Problemlösung bei

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komplizierten Denkaufgaben und Handlungen. Solche Experimente haben gezeigt, dass produktives Denken ein oft spontanes, intuitives und emotionales Geschehen ist, das mit den vorhersagbaren Mechanismen, wie man sie nach erdachten Modellen erwartete, nur wenig gemein hat. Emotionale und geistige Vorgänge sind dabei miteinander verwoben, und die Erfahrungen und Vertrautheit mit Tradition und Gegenwart sowie die Liebe zu den Inhalten der Aufgaben sind von wesentlicher Bedeutung. Solche Erkenntnisse erklären zwar nicht die schöpferische Tätigkeit, aber sie verweisen im Vergleich zum Berechenbaren und Reproduktiven auf das Vielfältige und Besondere. Im Kreativen ist eines nie die Kopie des anderen. Stets ist Variation gegeben: in den äußeren Erscheinungen wie im inneren Geschehen. Und in den Gegensätzen und Spannungen dieser Vielfalt selbst, die wir umso mehr bewundern, je weniger wir sie enträtseln können, liegen wohl auch die Motive, welche Wissenschaft und Kunst zu immer neuen Leistungen antreiben.

Anmerkung 1. Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908), in: Gesammelte Werke. Band 1 – 17, London, 1940–1952, Bd. 7, 1947, 217.

Rainer Krause

Ist Kunst heilsam für denjenigen, der sie macht? Kafka und Rilke Franz Kafka schreibt am 24. November 1912 an seine damalige Geliebte Felice Bauer: „Liebste, was ist das doch für eine ausnehmend ekelhafte Geschichte, die ich jetzt wieder beiseite lege, um mich in den Gedanken an Dich zu erholen. Sie ist jetzt schon ein Stück über die Hälfte fortgeschritten und ich bin auch im allgemeinen mit ihr nicht unzufrieden, aber ekelhaft ist sie grenzenlos und solche Dinge, siehst Du, kommen aus dem gleichen Herzen in dem Du wohnst und das Du als Wohnung duldest. Sei darüber nicht traurig, denn wer weiß, je mehr ich schreibe und je mehr ich mich befreie, desto reiner und würdiger werde ich vielleicht für Dich, aber sicher ist noch vieles aus mir heraus zu werfen und die Nächte können gar nicht lang genug sein für dieses, übrigens äußerst wollüstige, Geschäft“.1 Die Vorstellung durch Läuterung, die mit Wollust verbunden ist, geheilt zu werden, hat sich zumindest in Bezug auf Kafka und sein Liebesleben nicht erfüllen können. Eine länger andauernde Liebesbeziehung war ihm nie möglich und sein Sexualleben fand – wenn überhaupt – in einem von ihm selbst als ekelhaft beschriebenen Umfeld statt. Seinen frühen Tod hat er vorhergesagt und psychosomatisch gedeutet. In einem Brief an seinen Freund Oscar Baum schreibt er: „Es ist eben medizinisch […] ein aussichtsloser Fall. Die körperliche Krankheit ist hier nur ein Aus-den-Ufern-Treten der geistigen Krankheit; will man sie nun wieder in die Ufer zurückdrängen, wehrt sich natürlich der Kopf, er hat ja oben in seiner Not die Lungenkrankheit ausgeworfen, und nun will man sie ihm wieder aufdrängen“.2 In einem Brief an Max Brod heißt es: „Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. So geht es nicht weiter hat das Gehirn gesagt. Nach fünf Jahren hat sich die Lunge be-

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reit erklärt zu helfen“.3 Fünf Jahre zuvor wurde eben jener Brief an Felice Bauer geschrieben. Bei Rainer Maria Rilke findet man ebenfalls das Motiv der Schaffung eines künstlerischen Werks als „Gewinnung eines heileren Zustandes in der Mitte des eigenen Wesens“: „Denn so sehr der Künstler in einem auch das Werk meint, seine Verwirklichung, sein Dasein und Dableiben über uns hinaus – ganz gerecht wird man ihm erst, wenn man einsieht, dass auch diese dringendste Realisierung einer höheren Sichtbarkeit, von einem äußersten Ausblick aus, nur als Mittel erscheint, ein wiederum Unsichtbares, ganz und gar Inneres und vielleicht Unscheinbares – einen heileren Zustand in der Mitte des eigenen Wesens zu gewinnen.“4 Rilke führte einen ewigen Kampf gegen eine destruktive Identifikation mit der vor seiner Geburt gestorbenen Schwester. Er wurde gewissermaßen als Wiedergeburt dieser Toten ins Leben geschickt, was ihm unter anderem den Namen „René Maria“ durch die Mutter verschaffte. Die Umwandlung in Rainer war einer der vielen, letztendlich vergeblichen, Versuche einer heilenden Maskulinisierung. Durch sein Werk zieht sich eine künstlerische Beschwörung von Engeln als höchst ambivalenten, schützenden, aber auch zerstörerischen, in der Geschlechtsfrage nicht festgelegten Figuren zwischen Selbst und Nicht-Selbst, und zwischen Tod und Leben.5 „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“6

Er war nach dem durch die mütterlichen Projektionen bestimmten Modell der idealisierten, aber leider toten Schwester geformt worden und hatte so im echten Sinne ein tödliches falsches Selbst. Ohne den Einbau dieser Projektionen in die Selbstrepräsentanz konnte er mit der Liebe der Mutter nicht rechnen. Spätestens mit dem Aufbau der Männlichkeit verlor er sie denn auch, da sie nicht bereit war, diese Entwicklung mitzutragen. Das Fehlen eines positiven Vaterbildes und der leibliche Tod des Vaters mündeten zusätzlich in die Unmöglichkeit einer männlichen, stabilen Identifikation ein. Rilke verblieb in einem Schwebezustand in Bezug auf das Geschlecht, das Leben und den Tod. Er bat Gott um einen eigenen Tod und das wäre sicher nicht der durch Leukämie gewesen. Wenn er nicht schrieb, neigte er zu schweren hypochondrischen Beschwerden und Depressionen, die in Hilf- und Hoff-

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nungslosigkeit einmündeten. Hilf- und Hoffnungslosigkeit erhöhen die klinische Manifestation autoimmuner Erkrankungen, auch wenn die Vulnerabilität genetisch bestimmt ist. Auch hier geht es um den Zeitpunkt der Exazerbation eines scheinbar vorherbestimmten Zerstörungsvorganges. In den Duineser Elegien sowie den Sonetten an Orpheus kommt es zur Verschmelzung der verschiedenen Selbstanteile. Er steigt wie Orpheus in das Reich der Toten, um die Geliebte zu holen und muss erkennen, dass er ihrem Anblick nicht entkommen kann. In diesem sich aufbäumenden, orgastischen Werk erzeugt und gebiert er sich selbst und indem er dies tut, zerstört er sich, weil er die für ihn tödliche weibliche Identifikation vervollständigt. Er fällt in tiefe Erschöpfung und betrachtet seinen schöpferischen Auftrag als beendet. Die Leukämie verzehrt ihn sehr schnell.7 Aus dieser Sicht hat das Schreiben die Zerstörung sogar beschleunigt. Eine ähnliche Entwicklungslinie lässt sich für Thomas Mann und die Veränderung seiner seelischen Probleme aufzeigen, so dass ich fürs erste die These vertrete, zumindest für die Dichter hätte der Schaffensprozess im besten Falle schmerzlindernde, sedierende Wirkungen; die krankheitswertigen seelischen Prozesse änderten sich nicht. Dass in diesem Prozess der Sedierung Geschenke für die gesamte Menschheit entstanden sind und entstehen können, ist für uns alle ein großes Glück und für mich gehören die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus zu den schönsten deutschsprachigen Gedichten überhaupt. Gleichwohl kann man sich fragen, ob und inwieweit sich die betreffenden Künstler nicht ein anderes Schicksal gewünscht hätten. Von Rilke und Kafka ist dies bekannt, wie ein letztes Schreiben von Rilke an seinen behandelnden Arzt zeigt. Gleichwohl haben sie Psychotherapie, speziell Psychoanalyse, stets als für sich nicht praktikabel gesehen, unter anderem wegen des Generalverdachtes, diese Verfahren würden den Schöpfungsprozess zerstören. Ehe wir auf die so begründete Ablehnung von Psychotherapie bzw. speziell Psychoanalyse durch Künstler zu sprechen kommen, will ich in Kürze versuchen, die drei verschiedenen Gründe zu erläutern, warum ein wie immer geartetes Erzählen des eigenen Schicksals auch in Form eines Kunstwerkes allein keine kurative Wirkung in Bezug auf die Veränderung von pathogenen unbewussten Konflikten haben kann. Alle drei Gründe hängen miteinander zusammen.

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Über die therapeutische Beziehung und das Annehmen von künstlerischen Geschenken Das eigentliche kurative Moment einer Psychotherapie liegt in der andersartigen Beziehung zum Therapeuten. Das zentral neue einer guten therapeutischen Beziehung liegt darin begründet, dass sie die Tendenzen des Patienten, die auf die unbewusste Bestätigung seines Lebensentwurfes angelegt sind, konterkariert. Das ist sehr schwierig, weil dem sogenannten Wiederholungszwang folgend alles, was der Patient tut, darauf angelegt ist, seine unbewussten Überzeugungen zu stützen. In normalen Alltagsinteraktionen gelingt ihnen dies auch. In erfolgreichen Therapien nehmen die Therapeuten eine komplementäre Form der Beziehungsgestaltung vor allem im affektiven Austausch mit dem Patienten ein.8 Komplementär heißt, dass die unbewussten Verführungen des Patienten durch Abstinenz und durch eine reflektierte Form der Klarifikation, Konfrontation und Deutung des Verhaltens gewissermaßen in eine benevolente Leere läuft, die manchmal container genannt wird und der dazugehörige Vorgang containing. Dies gilt auch für künstlerische Produkte: Bilder, Erzählungen und Auftritte. Sie müssen behandelt werden wie jede andere Übertragungsmanifestation auch und unterscheiden sich beispielsweise nicht von einem Traum als Gegenstand des therapeutischen Diskurses. Die Erzählung ist ein wichtiges Element der Therapie, aber wem sie wie und warum erzählt wird, hat Priorität vor dem Inhalt. Damit zusammenhängend ist die Frage von Bedeutung, ob und inwieweit Kunstwerke Adressaten im Entstehungs- und Mitteilungsprozess haben. Die Erzählung in der Therapie bzw. der Analyse hat als ersten Adressaten zumindest bewusst den Therapeuten. Kunstwerke sind eher kollektive Liebesobjekte. Sie sind selten zumindest bewusst an eine Person gerichtet. Diese kollektiven Liebesobjekte provozieren – was ein Gütemerkmal von Kunstwerken ist – bei unterschiedlichen Adressaten recht unterschiedliche Reaktionen. Ein solches ‚Publikum‘ ist kein geeigneter Adressat für das oben beschriebene containing, also die im weitesten Sinne entgiftende Form der Rückgabe des künstlerischen Produktes. Das Publikum ist auf teilnehmende identifikatorische Partizipation am künstlerischen Prozess angelegt. Dies ist für den Schöpfer des Werkes ein hoch ambivalentes Geschehen.

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Das künstlerische Produkt als Selbstobjekt Dies ist so, weil die wirklich großen schöpferischen Objekte den Status von sogenannten Teil- oder Partialobjekten haben, d. h. sie sind seelisch Teil des Selbst des Künstlers und gleichzeitig doch für die Öffentlichkeit bestimmt. Aus dieser Spannung zwischen Selbstnähe und Öffentlichkeit kommt die große Verletzlichkeit und die heftige affektive Reaktion sowohl des Schöpfers wie auch der Rezipienten, und aus eben diesem Grunde kann man von Künstlern keine vernünftige Antworten über ihren Schöpfungsprozess, wenn man die rein handwerkliche Ebene verlässt, erwarten. Wenn sie in einem emotional umfassenden Sinne wüssten, warum sie solche ‚Partialobjekte‘ herstellen, entfiele die Notwendigkeit für deren Herstellung. Herstellung und Präsentation eines Kunstwerks sind von daher zumindest in Teilen immer ein Stück narzisstischer Selbstwertregulation. Vor diesem Hintergrund verweise ich auf eine Paradoxie, die ich in der nun langjährigen therapeutischen Erfahrung mit künstlerisch tätigen Menschen gemacht habe. Früher oder später wurde mir vorgeworfen, ich sei in künstlerischen Dingen ein ungebildeter stumpfer Mensch. Ich habe mich über diese Vorwürfe sehr geärgert und sie trafen mich selbst in meinem Narzissmus. Ich hielt sie für ungerechtfertigt. Es stellte sich aber heraus, dass die Annahme meiner mangelnden Resonanz in künstlerischen Dingen einen unbewussten Wunsch auf Seiten der Patienten reflektierte, den man so formulieren könnte: Ich (ihr Patient) möchte nicht (nur) auf Grund meiner glänzenden schöpferischen Akte von ihnen geliebt werden, sondern auch als jemand, der wie eine graue Maus unscheinbar und unbedeutend ist. Ich mache Sie zur grauen Maus. Wenn Sie selbst das nicht aushalten, kann ich nicht bei Ihnen bleiben. Viele künstlerisch Tätige haben ein unbewusstes Wissen über die narzisstische Abwehrfunktion des schöpferischen Prozesses. Um nicht missverstanden zu werden: All dies hat nicht notwendigerweise mit der Qualität des entstandenen Produktes zu tun. Krankheit und künstlerische Befähigung sind nicht direkt verkoppelt. Zwar scheint die Inzidenzrate psychischer Störungen bei hoch kreativen Schriftstellern, so wie sie in Fragebögen gemessen wird, höher als bei weniger kreativen9, dafür haben sie aber auch eine sehr viel höhere Ichstärke und eine sehr viel höhere Resistenz gegenüber Konformitätsdruck aufzuweisen. Die höhere Rate sogenannt psychischer Störungen hat auch eine positive Bedeutung, denn wenn man etwas darstellen bzw. erzählen will, muss man etwas erlebt haben, sonst geht es einem wie B. Skinner, dem berühmten Schöpfer des radi-

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kalen Behaviorismus, der zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere nach Paris gekommen war, um Schriftsteller zu werden, jedoch bald wieder abreisen musste, weil er herausgefunden hatte, „that I had nothing to say“.

Über das Verhältnis von Verstehen und Handeln Der dritte Grund, der wiederum mit den beiden schon genannten eng zusammenhängt, liegt darin, dass das Verstehen der eigenen Geschichte ebenso wie deren Erzählen nicht notwendigerweise änderungsrelevant sein muss. Der Wiederholungszwang kann nur durchbrochen werden, wenn man sich selbst und anderen gegenüber anders verhält. Wir kennen von daher viele Fälle misslungener Behandlungen, die bei hohem selbstreflektiven Umgang mit sich und Anderen nichts Entscheidendes an ihrem sonstigen Verhalten geändert haben. Vom Verstehen zum Handeln bedarf es eines qualitativen Sprunges10, sodass viele Künstler die Ursachen ihrer Störungen in ihren Figuren vorzüglich beschrieben haben und sich gleichwohl unfähig sehen, im Umgang mit ihren Nächsten anders zu agieren. Dies trifft beispielsweise auf die erwähnten Künstler Rilke, Kafka, Thomas Mann und Max Frisch zu. Die Schlussfolgerung, dass die Herstellung von künstlerischen Produkten für das Wohlbefinden der betreffenden Personen nutzlos oder gar schädlich sei, trifft natürlich nicht zu. Erstens können sie unter bestimmten Randbedingungen mit diesen Produkten ihr Leben bestreiten. Zweitens sind die im Schöpfungsprozess enthaltene Freude und der primäre narzisstische Gewinn so groß, dass sie zumindest temporär schwere seelische Probleme sedieren können. Oft ist der künstlerische Höhenflug dann allerdings wieder die Ursache für umso tiefere Stürze. Ein sehr begabter – um nicht zu sagen – begnadeter Schauspieler, der sich in seinem Spiel völlig entäußerte und entblößte, blieb nach solchen Triumphen drei Tage im Dunkeln im Bett liegen, um die Entleerung und die mit der Entäußerung verbundenen Schamgefühle zu überwinden und um sich wieder „aufzutanken“, wie er dies nannte. Aus der Psychodramatherapie, mit der ich früher öfters gearbeitet habe, wissen wir, dass diejenigen der Gruppe, die am ehesten bereit sind, eine diskutierte Problematik darzustellen, hinterher diejenigen sind, die sich am meisten für dieses ‚Vorpreschen‘ schämen, weil die Notwendigkeit sich entblößen zu müssen, mit der langen Geschichte von narzisstischen Demütigungen und Beschämungen dieser Menschen verkoppelt ist.

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Schließlich verwandeln sich viele der Opfer, die Künstler im Schaffensprozess auf sich nehmen, in Geschenke für andere Menschen, was wieder ein Geschenk für den Künstler ist. Wenn man die Analogie vom Kunstschaffen zum Gebären und Kinderaufziehen macht, was ja sehr vernünftig ist, könnte man die Herstellung von Kunst durchaus mit der Zeugung und Aufzucht von Kindern gleichsetzen. Kulturen, die beides nicht wertschätzen, und ich fürchte, wir gehören immer noch dazu, verweigern sich selbst die Fähigkeit zur Selbsterneuerung. Ich würde also meinen, man sollte nicht nur die Familien besser unterstützen, sondern die schöpferisch Tätigen insgesamt.

Kunst und Trauma Nach dieser eher zurückhaltenden Einschätzung der Herstellung von Kunst für die seelische Gesundung muss ich eine in letzter Zeit sehr viel stärker bedeutsam gewordene Einschränkung machen. Die Künstler, die ich bisher besprochen habe, könnte man als im weitesten Sinne mit den unbewussten Anteilen der eigenen Biographie Ringende verstehen. In einer mehr technischen Sprache würde ich sie im weitesten Sinne den Psychoneurosen zuordnen, und da schließe ich die narzisstischen Störungen ein. Für die traumatischen Störungen gilt dieser Vorbehalt in Bezug auf das Erzählen und die Kunst nicht bzw. sehr viel weniger. Wir wissen, dass die wichtigste Behandlungsmöglichkeit nach traumatischen Ereignissen unter anderem im „Ausdrücken“ des Erlebten besteht. Das schließt Erzählen, Gestalten, Träumen, Theater und vieles andere ein. Hier hat also das, was man Katharsis nennt, sicher eine zentrale Bedeutung. Warum dies so ist, wissen wir nicht genau, aber man kann sich vorstellen11, dass es wie im Traumgeschehen selbst Reprogrammierungsversuche von Lebensepisoden, Szenen und Erinnerungen sind, die eine Art affektive Warnmeldung bekommen haben, dass der Umgang mit ihnen hoch gefährlich sei. Da es sich aber gleichzeitig um unverzichtbare Formen der Begegnung bzw. der Beziehungen handelt, geraten die Personen in einen nicht auflösbaren existentiellen Konflikt. Durch den Darstellungsprozess besteht die Möglichkeit einer Reaktivierung in situ des traumatischen Geschehens. Hier spielt auch das Theater – wie ich meine – eine größere Rolle als bei den anderen Störungen, weil viele der traumatischen Erinnerungen in einem motorischen Gedächtnis gespeichert sind und nur über den reaktivierenden Nachvollzug in der Körperlichkeit Zugang möglich ist. Wir kennen das aus den großen Konver-

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sionsphänomenen der Hysterien, die ja häufig inszenierte motorische Nachbildungen von traumatischen Begegnungen mit wechselnden Personen, Tätern und Opfern darstellen. Der gemeinsamen Herstellung von Musik würde ich große Bedeutung in der Herstellung von affektiven Verbindungen bei Patienten – die aus welchen Gründen auch immer – keine solchen herstellen können, zumessen. In Zeichnungen von Patienten, die zeitlebens eine Thematik des Missbrauchs inszenieren, gleichzeitig aber in Bezug auf mögliche relevante Kindheitsereignisse eine vollständige Amnesie aufzuweisen haben, findet man oft Elemente einer traumatisierenden Situation dargestellt. Die Zeichnungen selbst sind sehr hilfreich, in fast dissoziierten Momenten der Reaktivierung die unerträglichen Gefühle zu absorbieren, sie sind allerdings nicht geeignet, die Probleme der Patienten zu bessern. Ein gemeinsames Betrachten dieser Kunstwerke, das die Übertragungs- und Beziehungswirklichkeit, in der sie entstanden sind und in der sie betrachtet werden, außer Acht lässt, ist wenig hilfreich. In dem hier vorgestellten Fall hatten wir einen Kunstgriff ersonnen: Wenn es denn nicht möglich war – und dies war zu Beginn der Behandlung immer der Fall – die Übertragungsphantasien und Gefühle, die mit dem Gewaltvorgang zusammen hingen, in die Beziehung einzubringen (wenn es denn passierte, musste sie regelmäßig davonlaufen), konnten die abgespaltenen Anteile der therapeutischen Beziehung in diesen Kunstwerken dargestellt werden. Das geschah in Momenten großen Hasses und großer Vernichtungswut in Bezug auf sich selbst, aber auch auf den Therapeuten. Zu Beginn vernichtete die Patientin diese Darstellungen. Durch ein weiteres Arrangement konnten wir diese für das therapeutische Geschehen so relevanten und auch manchmal sehr beeindruckenden Werke erhalten. Ich bot ihr an, die Werke, ob es nun Gedichte, Briefe oder Bilder waren, unmittelbar nach der Entstehung, was häufig nachts war, in den Briefkasten an mich zu adressieren und sie würde dann erst in der Stunde entscheiden, ob sie sie ansehen, ob sie sie wieder nach Hause nehmen wollte oder ob man sie auf der Stelle vernichten sollte. Es ist nur wenige Male vorgekommen, dass sie etwas wieder nach Hause mitgenommen hat. Vernichtet hat sie in diesen Settings nichts und man konnte die destruktiven Anteile zumindest teilweise in das Behandlungsgeschehen miteinbeziehen, ohne die Beziehung selbst zu gefährden. Aber auch hier muss man festhalten, dass ich ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung der Behandlung, der Abstinenzregel folgend, verlangen musste, dass nun nicht mehr gemalt, sondern gesprochen wird. Dann habe ich auch keine Briefe und Bilder mehr angenommen, was von der

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Patientin als schwere narzisstische Kränkung erlebt wurde, die aber schließlich einen Entscheid erzwang in Bezug auf das, was wichtig und unverzichtbar ist. Von daher möchte ich damit abschließen, dass wie alles im Leben die Frage, ob Kunst heilsam für denjenigen ist, der sie macht, eine Indikationsfrage darstellt, wobei die Indikation natürlich auch Aussagen machen muss, ob und inwieweit die Beziehung zwischen Therapeut und krankem Künstler geeignet ist, solche Besonderheiten des therapeutischen Prozesses zu tragen. Im Moment, meine ich, hätten wir eine Überschätzung der Reichweite der Kunsttherapie, die mit der Funktionalisierung von Kunst in unserem kulturellen Verständnis zusammenhängt. Im Internet findet man unter Kunsttherapie unglaublich viele Eintragungen von höchst unterschiedlicher Solidität. Da gibt es eine staatlich anerkannte Fachhochschule für Kunsttherapie in Nürtingen, die gut schwäbisch durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst genehmigt wurde und drei Hauptschwerpunkte kennt, nämlich die Kunst, die kunsttherapeutischen Praxisfächer und die wissenschaftlich theoretischen Fächer. Dazu gehört Medizin, Psychologie und Kunstwissenschaft. Man muss externe Selbsterfahrung machen, um die eigene psychische Struktur kennenzulernen. Kurzum, all dies sieht sehr geordnet aus. Ob die sich anschließenden Behandlungen auch von Erfolg geprägt sind, ist bisher nicht nachgewiesen. Dazu müssen wohl auch erst Erfahrungen gesammelt werden. Auf der anderen Seite finden wir Institute für Kunst- und Körpertherapie, bei deren Studium man sofort auf die Problematik der guruhaften Indoktrination stößt. Am Institut für Kunst- und Körpertherapie hat ein Therapeut namens Al Baumann ein neues Verfahren entdeckt: „Streaming Theatre ist eine Form der Körperarbeit in der Vertikalen; eine Synthese aus Reichianischer Körperarbeit und Schauspieltraining; jedermann kann es mit Gewinn für sich nutzen – für das Theater des eigenen Lebens. Streaming Theatre zielt darauf ab, mit Hilfe vielfältiger Bewegungs-, Ausdrucks- und Stimmimprovisationen, die mechanischen, ‚unwahren‘, der Panzerung entstammenden Bewegungsmuster zu unterscheiden von den ‚wahren‘, dem Kern entstammenden Ausdrucks- und Bewegungsimpulsen, diesen Raum zu geben und schließlich den ganzen Körper als Instrument des eigenen Strömens fortdauernd einzusetzen, sich den ureigensten pulsatorischen Körperbewegungen hinzugeben und damit in der Welt zu sein. Körperarbeit und Streaming Theatre ergänzen sich und können parallel zueinander laufen. Allerdings ist oft ein längerer Prozess der di-

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rekten panzerlösenden Arbeit am Körper notwendig, damit die vertikale Arbeit von höchstmöglichem Nutzen sein kann.“12 In Kenntnis solcher Gruppierungen und Schulungen darf man sich auf die schlimmsten organisierten Chronifizierungen seelischer Störungen gefasst machen. Da in unserer Kultur Kunsterziehung die Anbindung an das handwerkliche Können oft verloren hat, ist die Wahrscheinlichkeit eines narzisstischen Missbrauchs des kreativen Prozesses nicht gerade gering. Es gibt creative bakery, pastery, fucking und anderes mehr. Diese angespannte Dauerkreativität entpuppt sich oft als submanische Abkehr gegen endemische Depressionen.13 Wir sollten auch festhalten, dass die Mehrzahl von Produkten, die im Laufe von Kunsttherapien hergestellt werden, nicht die Qualität von ‚Kunstwerken‘ haben. Sie dazu hochzustilisieren, nützt letztendlich auch den Patienten nicht. Bisher bin ich dem Problem, Kunst zu definieren, ausgewichen. In meinen früheren Publikationen14 habe ich mich damit sehr intensiv auseinandergesetzt. Ich meine, dass wir von einem sozialen Prozess der Definition ausgehen müssen. Ich habe damals von den 5 Ws der Kreativitätsforschung gesprochen, die lauten: Wer (Mäzene, Lehrer, Hochschulprofessoren, Eltern, Vorgesetzte) gibt Warum (finanzielle Machtverhältnisse, Statusfragen, ästhetisches Wohlgefallen, Zuneigung) Wem (Schülern, Künstlern, Studenten, Wissenschaftlern, Kindern, Soldaten, Arbeitern, und jetzt füge ich hinzu Patienten) Auf Grund welchen Produkts (Handlungen, Ideen, Kunstwerke, Aufsätze, Tests usw.) Was (Preise, Lob, Zuneigung, Entwöhnung, Entwertung, Vernichtung usw.)?

Hier definiert vorwiegend die Rezipientenseite, was Kunst ist. Werkimmanent kann man folgende hierarchische Kriterien vorschlagen: Ein kreatives Produkt muss neu sein und von daher auch eine gewisse Originalität haben, es muss weiters irgendwie realitätsangepasst sein zumindest für die Verstehensrealität der Adressaten. Drittens muss es eine gewisse Vollkommenheit der Lösung der unbewussten und bewussten Probleme aufweisen. Viertens muss es neue Existenzmöglichkeiten für mögliche Rezipienten des Produktes eröffnen und schließlich muss es einen hohen Verdichtungsgrad aufweisen. Es geht also nicht nur um die Lösung einer Frage, vielmehr sind in den großen Kunstwerken immer viele Dinge gleichzeitig angesprochen. Es ist klar, dass die Erfüllung dieser Kriterien nicht gerade einfach ist und die Produkte aus Kunsttherapien kommen fast nie in Frage. Aber man kann die Kriterien weniger restriktiv handhaben, in dem man die Rezipientengruppe verkleinert. Man kann die Frage stellen: neu und ori-

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ginell für wen (beispielsweise für den Produzenten selbst, für den Therapeuten), realitätsangepasst (für wessen Realität), ästhetisch vollkommen (auf dem Hintergrund welcher Vorstellung vom Schönen), neue Existenzmöglichkeiten (für wen, für eine Person oder die ganze Menschheit). So gesehen müssen Patienten- und Kinderprodukte nicht notwendigerweise als Kunst betrachtet werden, und trotzdem erfüllen sie in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, Lehrern und Schülern, Therapeuten und Patienten alle Bedingungen eines schöpferischen Geschehens.

Anmerkungen 1. Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe, Kommentierte Ausgabe, hg. v. J. Born, & G. Neumann, Bd. 1, 1900/1912. Frankfurt a. M., 1999, 257. 2. Ebd., 242. 3. Ebd., 161. 4. Rainer Maria Rilke, Brief an Gertrud Ouckama Knoopsen, 1921, in: F. Meerwein, Starb Rainer Maria Rilke seinen eigenen Tod?, in: Psychoanalyse, hg. v. d. Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, Neuchâtel: Editions de la Baconnière 1985, 137. 5. Ebd., 160. 6. Rainer Maria Rilke (1923) Gedicht-Zyklen, Band 1 und 2, Duineser Elegien, Frankfurt a. M. 1984, 441. 7. Meerwein 1985 [Anm. 4], 182. 8. Rainer Krause, Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre. Band 1. Grundlagen, Stuttgart 1997; ders., Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre. Band 2. Modelle. Stuttgart 1998; J. Merten, Beziehungsregulation in Psychotherapien. Maladaptive Beziehungsmuster und der therapeutische Prozess, Stuttgart 2001, 51 ff. 9. Rainer Krause, Produktives Denken bei Kindern, Weinheim 1977, 15. – Rainer Krause, Kreativität. Untersuchungen zu einem problematischen Konzept. München 1972, 59 f. 10. K. Grawe, Psychologische Therapie, Göttingen 2000, 47. 11. T. J. Scheff, Catharsis in healing, ritual and drama, Berkeley, University Press 1979; dt. Ausgabe: Explosion der Gefühle, Weinheim 1983. 12. www.skan-koerperarbeit.de/was_ist_skan.htm. 13. Rainer Krause, Zusammenhänge zwischen psychiatrischer Gesundheit, Sozialisation und Kreativität, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 1979, 27, 52. 14. Ebd.

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Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters Knapp über die Bedeutung von Emotionen in einer fernen Epoche wie der des Mittelalters zu informieren, ist sicher kein ganz leichtes Unterfangen. Begonnen sei daher mit Bemerkungen zu den Anforderungen, die wir heute an öffentlich geäußerte Emotionen stellen, um damit den mittelalterlichen Gebrauch der Emotionen, der in entscheidenden Punkten unterschiedlich war, zu kontrastieren. Der Unterschied soll schließlich am Beispiel der Inszenierung von Freiwilligkeit und den hierbei benutzten emotionalen Ausdrucksformen detaillierter und konkreter herausgearbeitet werden. Betrachten wir also zunächst die Moderne. Wir sind es heute gewohnt zu differenzieren: Emotionen – so wissen wir – kommen spontan, sie überfallen die Menschen, man ist durch Emotionen ‚außer sich‘, wird von ihnen beglückt oder auch gepeinigt, jedenfalls verändert. Emotionen werden aber auch als Mittel der Kommunikation bewusst eingesetzt. Man spielt auf dem Klavier der Emotionen, führt Emotionen auf und erzielt beträchtliche Wirkung durch den Einsatz emotionaler Ausdrucksformen. Das eine vom anderen zu unterscheiden – die echten von den aufgeführten Emotionen zu trennen, – fällt nicht immer ganz leicht. Es ist aber unser erklärtes Ziel, diese Unterscheidung zu treffen, weil wir nur die erste Art von Emotionen akzeptieren: nämlich die echten oder authentischen. Als Mittel der Selbstinszenierung lehnen wir gespielte Emotionen nämlich ab.1 Ein Lehrstück war in dieser Hinsicht jene Bundesratssitzung vom März 2002, als CDU-Politiker bei der Debatte des Einwanderungsgesetzes ihren Emotionen freien Lauf ließen; der Entrüstungssturm aber in den Verdacht geriet, abgesprochen und inszeniert worden zu sein. Als dann noch einer der vermeintlichen Schauspieler von ‚legitimem Theater‘ sprach, war die öffentliche Aufregung groß.2 In allen Medien wurde

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daraufhin eine Sache verhandelt, die auch uns interessieren muss: Debattiert wurde die Frage, ob man Gefühle/Emotionen als Kommunikationsmittel bewusst einsetzen darf, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Die Antwort lautete ziemlich einhellig: nein. Und in der Tat akzeptieren wir nicht nur bei Politikern Gefühle ausschließlich als echte, als authentische. Der Stellenwert, den dieser Authentizitätsanspruch in unserer Gesellschaft hat, sei lediglich mit dem Hinweis auf den Siegeszug des umgangssprachlichen Wörtchens ‚echt‘ angedeutet, mit dem von ‚echt betroffen‘ über ‚echt ätzend‘ bis zu ‚echt, echt‘ die geradezu allgegenwärtige Authentizitätsbehauptung greifbar wird. Die Aufgabe des Historikers in einer solchen Debatte über den erlaubten bzw. unerlaubten Einsatz von Gefühlen ist es nun, die einfache, aber nicht unwichtige Frage zu beantworten, ob menschliche Emotionen schon immer unter dem Anspruch standen, authentisch/echt sein zu müssen, oder ob dieser Anspruch erst das Ergebnis von historischen Entwicklungen und Prozessen war. Genau letzteres ist der Fall. Und damit sind natürlich die Rahmenbedingungen solcher Prozesse ebenso von Interesse wie die andersgearteten Einstellungen der Menschen früherer Epochen zu Emotionen und ihren Ausdrucksformen. Als Mittelalterhistoriker möchte ich dieses Zeitalter als eine Epoche vorstellen, in der Emotionen selbstverständliche und viel genutzte Mittel gerade der öffentlichen Kommunikation waren. Von der privaten ist im Folgenden nicht die Rede, da man sich ihr gänzlich anders nähern müsste.3 Man nutzte im Mittelalter Emotionen in der Öffentlichkeit als Zeichen, die verbindliche und verständliche Botschaften zu transportieren in der Lage waren; ob die Zeichen der wirklichen Gesinnung derer entsprachen, die sie benutzten, fragte man dagegen nicht. Die Emotionen erfüllten ihre Funktionen auch ohne diese Gesinnungsprüfung, nämlich diejenigen an die Aussagen zu binden, die sie auf diese Weise gemacht hatten.4 Johan Huizinga und ihm folgend Norbert Elias haben von einer anderen Windstärke der Emotionen im Mittelalter gesprochen und die Menschen dieser Zeit mit Kindern unserer Epoche verglichen, weil beide Emotionen völlig ungehemmt ihren Lauf ließen. Erst im Prozess der Zivilisation sei es dann zur Disziplinierung und Kontrolle der Affekte gekommen.5 Diese Disziplinierung und Kontrolle geschieht in der Moderne in der Tat nicht zuletzt dadurch, dass Emotionen der Echtheitsprüfung unterworfen werden. Werden die Äußerungen als übertrieben, als unangemessen eingeschätzt, hat dies negative Konsequenzen für denjeni-

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gen, dem falsches Verhalten attestiert wird: „Führ Dich nicht so auf“, „Sei nicht so theatralisch“, sind heute gängige Redewendungen für diesen Vorwurf. Es wäre aber eine Fehleinschätzung, attestierte man Emotionen in der Zeit des Mittelalters lediglich, dass sie unkontrolliert und irrational seien, weil sie dieser Prüfung nicht unterworfen wurden. Im Mittelalter benutzte man das breite Spektrum emotionaler Ausdrucksformen vielmehr, um der beabsichtigten Äußerung die nötige Eindeutigkeit und Nachhaltigkeit zu verleihen. Die erhebliche Windstärke der geäußerten Emotionen, die Huizinga und Elias auffiel, war somit zielund zweckorientiert und keineswegs unkontrolliert. Jubel und überschwängliche Freude waren etwa Zeichen für Zustimmung. Um der Zustimmung die gewünschte Eindeutigkeit zu verleihen, war der Jubel eben grenzenlos und ekstatisch. In solchem Jubel kulminierte der Wahlakt eines neuen Königs, mit der überschwänglichen Akklamation wurde die Zustimmung zu seiner Erhebung verbindlich gegeben. In Einzelfällen hob man ihn denn auch noch auf einen Schild und trug ihn lärmend herum.6 Jubelnd empfing man auch den Stadt- oder Landesherrn bei seinem Herrschaftsantritt – dies aber nur, wenn man mit seiner Übernahme der Herrschaft einverstanden war und er die alten Privilegien bestätigt hatte. Darüber verhandelte man zuvor sehr hartnäckig, unter Umständen jahrelang. Den inszenierten Jubel gab es nur im Falle der Einigung.7 Jubel, der nach einer anfeuernden Rede des Anführers aufbrandete, signalisierte vor einer Schlacht nicht nur die Kampfbereitschaft der Krieger, sondern auch das Versprechen, sich gegenseitig zu unterstützen. Der Jubel stiftete Gemeinschaft und stärkte Vertrauen. Die Nationalsozialisten haben mit dem skandierten Sieg-Heil solche vormodernen Rituale kopiert und sich die Wirkungskraft kollektiven Jubels zunutze gemacht. Freude war auch wesentlicher Bestandteil der Begrüßungsrituale, wenn sich im Mittelalter Vertraute und Freunde begegneten.8 So signalisierten sie gleich zu Beginn der Begegnung, dass die Beziehung die alte Intensität behalten hatte. Emotionale Hochstimmung gehörte konstitutiv auch zum Zusammensein unterschiedlichster Gruppen. Sie bewiesen sich etwa in den zahllosen und lang dauernden convivia, den Mählern und Gelagen, durch frohes Bechern und Tafeln, durch Lachen und Scherzen in forciert gelöster Stimmung, dass ihr Zusammenhalt intakt sei und man einander vertrauen könne.9 Das tun wir übrigens auch heute noch, ohne uns dessen immer bewusst zu sein.

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Wut- und Zornesausbrüche fungierten dagegen als Zeichen für Ablehnung. Man trampelte öffentlich auf Briefen herum, deren Inhalt nicht passte und jagte zornig die Überbringer dieser Briefe fort, indem man sie wüst beschimpfte, mit Dreck bewarf und an Leib und Leben bedrohte. Wem eine Entscheidung nicht passte, der schrie und tobte noch in ihre Verkündigung hinein so laut und emotional, dass sein Widerspruch sozusagen landeskundig wurde. Dies taten etwa alle geistlichen und weltlichen Reichsfürsten im Jahre 1111, als ihnen Papst Paschalis II. öffentlich den Vertrag vorlas, den er mit König Heinrich V. geschlossen hatte.10 Der Hauptinhalt dieses Vertrages war, dass der König auf die Einsetzung der Bischöfe verzichten wollte, diese ihm aber alle Güter und Privilegien zurückzugeben hätten, die sie je von ihm oder seinen Vorgängern empfangen hatten. Da den Bischöfen wie den weltlichen Fürsten diese gewaltige Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Königtums, die den Fürsten einen Großteil ihrer Herrschaftsgrundlagen nahm, alles andere als genehm war, veranstalteten sie noch während der Verlesung einen Tumult, der es dem Papst unmöglich machte, zu Ende zu sprechen. Schweigen hätte ja Zustimmung bedeutet, also machte man den Widerspruch mit allem emotionalen Nachdruck deutlich. Wenn solch ein Präzedenzfall anstand, scheute man auch nicht davor zurück, derartige Wutanfälle während der heiligen Handlung des Gottesdienstes zu inszenieren, wie die frommen Nonnen von Gandersheim, die dem Bischof Bernward bei der Messe die Opfergaben vor die Füße warfen, um so sein Recht zu bestreiten, in Gandersheim die Messe zu lesen.11 Andere kirchliche Würdenträger haben lieber eine Schlacht in der Kirche mit Toten und Verwundeten in Kauf genommen, als einen Sitz aufzugeben, auf den sie Anspruch zu haben glaubten. Auch hier war der vermeintlich unkontrollierte Wutanfall ein kalkulierter Akt der Statusbehauptung, der mit demonstrativen Zeichen arbeitete.12 Mönche und Nonnen anderer Klöster beschimpften Visitatoren wüst und scheinbar hocherregt, und verwehrten ihnen mit Drohungen und Steinwürfen den Eintritt ins Kloster. Ihre Empörung und die benutzten Ausdrucksformen unterstrichen aber lediglich ihren Rechtsstandpunkt, der den Visitatoren das Recht bestritt, im Kloster Amtshandlungen vorzunehmen – die Wutanfälle waren alles andere als Irrationalismen.13 Die kleine Schwester des Wutanfalls war gewissermaßen die finstere Miene, die drohendes Unheil sicher ankündigte. Schon an den Mienen der Bischöfe sah Kaiser Heinrich II., dass sie seinen Wunsch, in Bam-

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berg ein Bistum zu gründen, abschlägig bescheiden würden. Er verhinderte dies dadurch, dass er sich noch vor der Verkündigung diesen Bischöfen einfach wortlos zu Füßen warf. Mit dieser scheinbar emotionsgeladenen Geste legte er sehr kalkuliert sein ganzes Prestige in die Waagschale und erreichte so, dass sie ihren Spruch nicht verkündeten, sondern noch einmal berieten. Es wird berichtet, dass sich dieser Vorgang mehrfach wiederholte, bis die Bischöfe dem Kaiser schließlich nachgaben.14 In vielfältigen Funktionen begegnen auch Tränen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters.15 Auch hier ist die Frage, ob sie denn echt waren, eine anachronistische. Tränen konnten Reue über frühere Missetaten, Bereitschaft zur Verhaltensänderung und Friedenswillen ebenso signalisieren wie Milde und Erbarmen; von Freudentränen hört man sehr häufig dann, wenn das Gute über das Böse siegte, wenn ein Konflikt gütlich beendet wurde. Zu den Ritualen der Konfliktbeendigung gehören die Tränen aller Beteiligten so konstitutiv wie das Amen zur Liturgie. Bewiesen zunächst die sich Unterwerfenden mit ihren Tränen ihren Sinneswandel, so zeigten die Sieger durch Tränen, dass sie von Barmherzigkeit gerührt und zur Verzeihung bereit seien. Diese Ausweise von Friedenswillen und Milde rührten dann aber, wie vielfach berichtet wird, alle Anwesenden zu Freudentränen.16 Die Frage, ob all diese Tränen echt seien, wurde dabei nicht gestellt, auch wenn man sich allzu deutliche Hinweise auf Heuchelei und taktisch-hinterhältigen Gebrauch solcher Zeichen nicht erlauben durfte: So erregte es schon höchstes Aufsehen und Empörung, dass ein Erzbischof von Ravenna, der sich dem Papst zum Zeichen seiner Reue zu Füßen geworfen hatte, um vom Bann gelöst zu werden, nach seiner Rekonziliation hämisch grinsend aufstand und so deutlich machte, dass er nur taktiert hatte.17 Emotionale Äußerungen von Freude oder Wut, Trauer oder Erbarmen fungierten im Mittelalter also als verbindliche Zeichen für unterschiedlichste politische Aussagen. Man konnte so Friedens- wie Konfliktbereitschaft, Freundschaft wie Feindschaft, Huld wie Ungnade zum Ausdruck bringen, den Zustand von Beziehungen zeichenhaft abbilden und einiges andere mehr. Mit der Emotionalität der Aussagen steigerte man deren Wirkung und deren Verbindlichkeit. Dass es eine Diskrepanz geben konnte zwischen den Zeichen und der wirklichen Gesinnung, war dagegen weniger wichtig. Die Zeichen allein hatten bereits verpflichtenden Charakter und mit der zum Teil übergroßen Windstärke dieser Emotionen erhöhte sich der Verpflichtungsgrad – aber genau das war beabsichtigt.

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Es gab im Mittelalter aber noch eine zweite Technik, den Verpflichtungsgrad von zeichenhaften Handlungen zu erhöhen, und dies geschah dadurch, dass man zum Ausdruck brachte, dass die Handlungen freiwillig durchgeführt würden. Diese Eigenart soll im Folgenden in ihrem Zusammenhang mit emotionalen Äußerungen dargestellt werden. Vorweg sind allerdings einige Bemerkungen darüber sinnvoll, warum der Freiwilligkeit in der politischen Kultur des Mittelalters ein zentraler Stellenwert zukam. Man muss in Rechnung stellen, dass in den vorstaatlichen Ordnungen des Mittelalters nicht Gesetz und Gericht, nicht Befehl und Gehorsam, sondern Konsensherstellung die politischen Verfahren bestimmte, an denen selbstredend nur Angehörige der Führungsschichten beteiligt waren. Die Zustimmung dieser Getreuen (fideles), der consensus fidelium, war die Basis jeder Herrschaftsausübung.18 Deshalb beriet man geradezu permanent alle anstehenden Fragen, stellte Konsens her und setzte ihn dann in Handlungen um. Der König oder Herr befahl nicht, sondern führte das aus, worauf man sich geeinigt hatte. Der Vorgang der Zustimmung reflektiert das ausgeprägte Ehrbewusstsein der adligen Helfer des Königtums, die sich weit mehr als Partner denn als Untergebene verstanden. Mit ihrer Ehre waren eben Verfahren der eigenverantwortlichen Entscheidungsfindung und der freiwilligen Ausführung weit eher vereinbar als solche des erzwungenen Gehorsams. Aus dem ausgeprägten Ehrgefühl aller Beteiligten resultierten – zugespitzt formuliert – Formen des Umgangs miteinander, die Freiwilligkeit und Eigenverantwortung aller Handlungen und Entscheidungen in den Vordergrund stellten und zudem eine Kultur entwickelten, dies demonstrativ zum Ausdruck zu bringen.19 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei klargestellt, dass es sich in vielen Fällen um Freiwilligkeitsfassaden handelte, die den Zwang und Druck, unter dem die Entscheidung zustande gekommen war, mehr oder weniger gut bemäntelten. Ein romantisches Verständnis dieser Kultur der freiwilligen Zustimmung ist also fehl am Platze. Vielfach war es nichts anderes als eine Konsensfiktion, wenn derjenige verbal und nonverbal beteuerte, dass er seine Zustimmung freiwillig und gerne gebe, dem man sie mit massivem Druck unterschiedlichster Art abgerungen hatte. Aber dieses Verfahren hielt man für unverzichtbar, um einerseits Gesicht und Ehre in der adligen Standesgesellschaft zu wahren, andererseits den höchsten Grad an Verbindlichkeit der Entscheidung zu erreichen. Auf diesem Felde leisteten emotionale Ausdrucksformen wichtige Dienste, weil sie wohl am besten in der Lage waren, den Verpflich-

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tungsgrad sichtbar zu machen und hoch zu halten: Wer mit hoher emotionaler Windstärke zugestimmt oder abgelehnt, sich in theatralischen Formen geäußert hatte, hatte es sicher schwer, sich den Aussagen zu entziehen, die er so öffentlich getätigt hatte. Zum Alltag der mittelalterlichen Gesellschaft gehörten die geregelten Übergänge vom bewaffneten Konflikt, von der Fehde, vom Krieg zum Frieden. Sie eröffneten den Konfliktparteien die Möglichkeit des Einlenkens, der gütlichen Beendigung des Konfliktes durch die Unterwerfung, deren Eigenart in den Quellen als freiwillig akzentuiert wird: Deditio spontanea.20 Wer einem Waffengang ausweichen wollte, wer seine Situation als unterlegen einschätzte, wer seine Interessen und seine Ehre im Konflikt bereits gewahrt hatte, besaß jederzeit die Möglichkeit, in Verhandlungen über seine Unterwerfung einzutreten. Unterwerfung aber bedeutete, dem Gegner Genugtuung, satisfactio, zu leisten. Sehr häufig bestand die satisfactio im Kern aus einem öffentlichen Fußfall vor dem früheren Gegner und der Bitte um Vergebung.21 Die Freiwilligkeit dieser rituellen Handlungen wurde häufig schon dadurch betont, dass sie zeitlich und räumlich getrennt vom eigentlichen Konfliktgeschehen durchgeführt wurden. Bei der Belagerung einer Burg oder Stadt, beim Zusammentreffen zweier Heere einigte man sich, dass die eine Partei Wochen später an einem bestimmten Ort der anderen Genugtuung leisten würde. Bis zu diesem Zeitpunkt trennte man sich, so dass der sich Unterwerfende wirklich aus freiem Entschluss und ohne jeden Zwang zu dem Ort der Abmachung zu kommen schien. Wehe aber, wenn er nicht gekommen wäre. Auch im Ritual der Unterwerfung selbst vermittelten alle Handlungen den Eindruck, Ergebnis und Ausdruck freier Entschlüsse zu sein. Regelmäßig zog der sich Unterwerfende hierbei alle Register demonstrativer Ausdrucksweisen: Mit Barfüßigkeit und ärmlicher Gewandung verwies er auf seine erbärmliche Lage und Schuld, mit Gegenständen in den Händen, Schwert oder Rute, deutete er auf die Strafen, die er durch sein Tun eigentlich verdient habe, mit einem Fußfall und begleitenden Worten, zitternd und stammelnd vorgebracht, lieferte er sich scheinbar auf Gedeih und Verderb dem Gegner aus. Dass dies alles von Tränenströmen begleitet wurde, versteht sich fast von selbst. Um anschaulich zu machen, welch großer Wert hier auf perfektes Rollenverhalten gelegt wurde, sei auf folgende Beispiele verwiesen. Der Sohn Ottos des Großen, Herzog Liudolf, beendete 954 den bewaffneten Kampf gegen seinen Vater wie folgt: „Als sich der König der Jagd

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wegen an einem Ort, Saufelden genannt, aufhielt, warf sich sein Sohn mit bloßen Füßen vor dem Vater nieder, von tiefster Reue ergriffen, und durch klägliche, flehende Worte presste er erst seinem Vater, dann auch allen Anwesenden Tränen ab. So wurde er in väterlicher Liebe wieder zu Gnaden angenommen“.22 Aus Italien hören wir aus dem Jahre 1162 folgende Beschreibung des gleichen Rituals: „Da fielen Krieger und Volk [von Mailand vor Friedrich Barbarossa] einmütig auf ihr Antlitz, wehklagten und flehten um Erbarmen. Als hierauf einer der Konsuln um Barmherzigkeit bat, warf sich nach dem Schluss der Rede die Menge abermals nieder, streckte die Kreuze, die sie trug, empor und flehte unter großem Klagegeschrei im Namen des Kreuzes um Gnade. Davon wurden alle, die es hörten, heftig bis zu Tränen gerührt; aber das Antlitz des Kaisers veränderte sich nicht. Zum dritten redete der Graf von Biandrate als Fürsprecher für jene, seine früheren Freunde, und zwang alle zu Tränen, indem er selbst das Kreuz empor hielt und die ganze Menge sich mit ihm zugleich demütig bittend niederwarf; aber der Kaiser allein ließ sein Antlitz unbeweglich wie einen Stein“.23 Man könnte die Reihe solcher Beispiele nahezu beliebig verlängern. Im Ritual der Unterwerfung wird immer der Eindruck einer selbstbestimmten spontanen Handlung erweckt, die ihre Eindringlichkeit durch die Verwendung emotionaler Ausdrucksformen erzielt. Durch diese Art des freiwilligen Bekenntnisses von Schuld, Reue und Sinneswandel erzeugt man aber wohl die stärkste Art der Bindung an das, was zum Ausdruck gebracht wird. Das Spektrum der Möglichkeiten, dieses Ritual speziellen Gegebenheiten anzupassen, war dabei durchaus groß. Anhand des Mailänder Beispiels ist zu zeigen, dass man die Verzeihung auch verweigern – Ungerührtheit inszenieren – und so die Genugtuungsleistungen verlängern konnte. Im Normalfall reagierte derjenige, dem die Genugtuung zuteil wurde, aber wie Otto der Große im ersten Beispiel. Durch die reuige Unterwerfung zu Barmherzigkeit und Tränen gerührt, verzieh man dem Gegner und besiegelte den Frieden mit einem Kuss oder ähnlichen Gesten. Auch solche Reaktionen vermitteln immer den Eindruck einer spontanen Eingebung, scheinen freiwillig, selbstbestimmt und von spontanen Emotionen geleitet zu sein. Weder die Aktion noch die Reaktion aber waren so spontan, so freiwillig und selbstbestimmt, wie es der Verlauf des Rituals suggeriert. In unter Umständen langen und zähen Verhandlungen waren vielmehr vor der Durchführung des Rituals die einzelnen Schritte abgesprochen und der Ausgang festgelegt worden. Vieles von

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dem, was dann so spontan und freiwillig ausgeführt wurde, war vertraglich vereinbart und wurde etwa durch den Eid der Vermittler, die das Ganze arrangiert hatten, gesichert. Man legte jedoch größten Wert darauf, die Fiktion der Freiwilligkeit und der Spontaneität aufrecht zu erhalten, und die so errichtete Fassade riss niemand ein, wohl weil das freiwillig Durchgeführte eben die stärkste Bindungskraft hatte. Dabei ist erstaunlich, wenn nicht bedrückend, zu welchen Äußerungen scheinbar freiwilligen Sinneswandels man im Mittelalter Personen brachte, ohne dass die benutzten Zwangsmittel noch sichtbar gewesen wären. Ein frühes Beispiel ist jener Bayernherzog Tassilo, dem Karl der Große mehrfach den Prozess machte, und zwar in einer Art und Weise, dass sein Vorgehen noch jüngst als makabrer Schauprozess bezeichnet wurde.24 Und in der Tat brachte man Tassilo mehrfach zu aktiver und scheinbar völlig freiwilliger Mitwirkung an seiner Entmachtung. Er formulierte nicht nur weitgehende Selbstbeschuldigungen wie die, er habe geprahlt, er wolle lieber zehn Söhne verlieren, als noch einmal Karl dem Großen zu dienen. Er wirkte auch aktiv an symbolischen Akten mit, durch die er seine Herrschaft verlor. Er wählte ferner freiwillig das Mönchsleben, allerdings erst in dem Moment, als alle von Karl die Vollstreckung des Todesurteils forderten; und schließlich legte er, bereits zum Mönch geschoren, öffentlich auf einer Synode reinen Herzens allen Zorn gegen Karl ab – wie immer man sich das konkret vorzustellen hat.25 Auch Karl wurde daraufhin von Barmherzigkeit ergriffen und gab Tassilo seine Huld vollständig zurück. Die knappen Aussagen des Protokolls der Synode verweisen auf eine Versöhnungsszene, die man sich durchaus emotionsreich vorstellen darf, allerdings nicht im modernen, sondern im mittelalterlichen Verständnis: etwa Umarmung und Kuss der früheren Gegner als Zeichen der Versöhnung.26 Nicht weniger signifikant war das Verhalten des Erzbischofs Ebo von Reims, der ein halbes Jahrhundert später intensiv an der Entmachtung Ludwigs des Frommen und an den Versuchen beteiligt gewesen war, den Kaiser zum freiwilligen Klostereintritt zu bewegen. Nachdem dies gescheitert war und Ludwig die Macht zurückgewonnen hatte, inszenierte man eine liturgische Feier der Wiedereinsetzung, zu der man nun Ebo aus der Haft herbeiholte und dazu brachte, in einer Predigt die Ungerechtigkeit der Absetzung und seine eigene Schuld verbal zum Ausdruck zu bringen. Im anschließenden kanonischen Verfahren erklärte er sich schließlich selbst des bischöflichen Amtes für unwürdig und entsagte ihm aus freien Stücken. Man darf sicher sein, dass er hier-

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bei die entsprechenden emotionalen Verhaltensweisen zeigte, die in dieser Situation üblich waren. Später hat er sich bezeichnenderweise bitter darüber beklagt, welch großer Druck hierbei auf ihn ausgeübt worden wäre. Der blieb in der öffentlichen Inszenierung jedoch vollständig verborgen.27 Der war auch bei der öffentlichen Kirchenbuße Kaiser Ludwigs nicht erkennbar gewesen, als der Kaiser freiwillig und öffentlich seine vielen schweren Sünden bekannte. Hierzu hatte er sich im Büßergewand in der Kirche von Soissons vor dem Altar zu Boden geworfen, mehrfach ein Verzeichnis seiner Sünden verlesen und die anwesenden Bischöfe unter Tränen um Buße gebeten. Eine Quelle deutet die Art des Drucks, der auf Ludwig ausgeübt wurde, mit der Bemerkung an, es habe schon ein Vatermord gedroht. Während des öffentlichen Ritus fiel jedoch kein Schatten des Zweifels auf die Freiwilligkeit der Mitwirkung Ludwigs, die durch die emotionalen Ausdrucksformen nur unterstrichen wurde.28 Ganz ähnlich inszenierte man im 10. Jahrhundert die Absetzung eines Papstes, den die Römer gegen den Willen Kaiser Ottos des Großen erhoben hatten. Unter Beteiligung des Kaisers führte man im Rahmen einer Synode ein Devestiturritual durch, das durch die freiwillige Teilnahme des Devestierten charakterisiert ist. Überdies spielte der Kaiser selbst eine sehr aktive Rolle, die durch die emotionalen Register, die er zog, beeindruckt: „In dieser Versammlung erschien Benedictus, der Eindringling auf den römischen Stuhl, geführt von den Händen derer, die ihn erwählt hatten, angetan mit den päpstlichen Gewändern. Ihn redete Benedictus, der Kardinal-Archidiakon mit folgenden Worten an: „Mit welcher Vollmacht, nach welchem Gesetz hast du, Eindringling, dieses päpstliche Gewand dir angemaßt, da dieser, unser hier gegenwärtiger ehrwürdiger Papst Leo noch lebt, den du gemeinschaftlich mit uns […] zur höchsten apostolischen Würde erwählt hast? Kannst du bestreiten, dem hier gegenwärtigen Kaiser eidlich versprochen zu haben, dass du samt den anderen Römern niemals einen Papst erwählen noch weihen würdest ohne seiner und seines Sohnes, des Königs Otto, Zustimmung?“ Benedictus erwiderte: „Habe ich gefehlt, so erbarmt euch meiner.“ Da bat der Kaiser die Synode unter Tränen – und damit zeigte er seine große Barmherzigkeit –, den Benedictus nicht ungehört zu verdammen. Wenn dieser es wolle und könne, so möge er auf die Fragen antworten und seine Sache verteidigen; wenn er es aber nicht könne noch wolle und sich schuldig bekenne, so möge man ihn dennoch um

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Gottes Willen einige Barmherzigkeit finden lassen. Als Benedictus dies vernahm, warf er sich eilig Papst Leo und dem Kaiser zu Füßen und rief, er habe gesündigt, er sei ein Eindringling auf den römischen Stuhl. Hierauf nahm er sich selbst das Pallium ab und übergab es nebst dem Bischofsstab, den er in der Hand trug, dem Papst Leo. Dieser zerbrach den Stab und zeigte die Stücke dem Volk. Dann befahl er dem Benedictus, sich auf die Erde zu setzen und nahm ihm das Messgewand samt der Stola ab. Darauf sprach er zu allen Bischöfen wie folgt: „Den Benedictus, den Eindringling auf den heiligen römischen und apostolischen Stuhl, entsetzen wir aller bischöflichen und priesterlichen Würde; aber aus Erbarmen des Kaisers Otto… lassen wir ihn die Weihe des Diakonats behalten, doch nicht mehr zu Rom, sondern an dem Ort, an den er verbannt wird.“29 Zwar geht aus der Schilderung nur hervor, dass der Kaiser Otto seine Rolle als Fürsprecher mit emotionalen Mitteln verstärkte, doch dürfen wir einigermaßen sicher sein, dass auch der devestierte Eindringling sein Schuldeingeständnis samt seinem Fußfall mit allen Zeichen der Zerknirschung ausgestaltete, wie dies eine solche Rolle vorsah. Denn es kann angesichts vieler Parallelfälle kein Zweifel daran bestehen, dass die aktive Beteiligung an den rituellen Akten und das freiwillige Eingeständnis der Schuld die Voraussetzung für die Begnadigung gewesen war. Mit solcher Aussicht erreichte man die Bereitschaft der unterlegenen Partei zur freiwilligen Mitwirkung. Knapp 150 Jahre später verweigerte ein Kaiser diese freiwillige Mitwirkung bei seiner Absetzung und schrieb überdies Hilfebriefe in alle Welt, in denen die Art und Weise beschrieben wird, mit der man ihn gefügig zu machen versucht hatte. Die Rede ist von Heinrich IV., den sein gleichnamiger Sohn 1105/06 aus der Herrschaft verdrängte.30 Gäbe es diese Briefe nicht, glaubten die Historiker bis heute wohl der Geschichtsschreibung des Siegers, in der von einer freiwilligen und emotionalen Übergabe der Reichsinsignien vom Vater an den Sohn berichtet wird, die in einer Handschrift gleich noch ins Bild umgesetzt ist: „Er (Heinrich IV.) stimmte dem Rat beider Seiten zu und übergab die königlichen und kaiserlichen Insignien, nämlich Kreuz und Lanze, Zepter, Weltkugel und Krone in die Gewalt des Sohnes; er wünschte diesem Glück, empfahl ihn unter zahlreichen Tränen den Fürsten und versprach, von nun an gemäß den Verfügungen des Papstes und der ganzen Kirche für seine Seele zu sorgen.“31 So hätte man es gerne gehabt, können wir auf Grund der Selbstzeugnisse dieses Heinrich und einiger anderer Hinweise sagen.

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Heinrich wehrte sich in seinen Briefen nämlich heftig gegen diese Freiwilligkeitsfiktion: „Außerdem klagen wir Dir, [dem Abt Hugo von Cluny], dass unser Sohn in seinen Schreiben überall verkündet, wir hätten alle Reichsrechte freiwillig ausgeliefert. Deine Heiligkeit wisse, dass das nicht wahr ist.“32 In dem Brief an seinen Taufpaten und in allen anderen berichtet er vielmehr von psychologischem Druck, der auf ihn ausgeübt worden war. Er habe sich diesem Druck dadurch zu entziehen versucht, dass er seinen Bedrängern zu Füßen fiel. Sein Sohn habe dies aber durch seinen Fußfall vor dem Vater konterkariert. In den Briefen ist die Rede von Lebensgefahr und Todesangst und schließlich davon, dass er zwar die Insignien aufgab, aber selbst entfloh. Dennoch hielt man offiziell die Version von der freiwilligen Übergabe der Herrschaft mit ihren konsensualen und emotionalen Formen aufrecht, was wohl beweist, wie unverzichtbar sie zur Legitimation des neuen Herrschers war. Freiwilligkeitsfiktionen mit gespielter Emotionalität sind jedoch nicht nur in Krisen mittelalterlicher Herrschaft zu beobachten, weitere Horizonte können aber nur noch angedeutet werden: Da alle Interaktionen zwischen den Königen und ihren Getreuen grundsätzlich freiwillig geschahen, und niemand sich sozusagen im Eifer für den anderen übertreffen lassen wollte, durchsetzt die Behauptung, man tue etwas freiwillig und gern, geradezu stereotyp die einschlägige Überlieferung. Und Vokabular aus dem Bereich der Emotionen unterstreicht diese Behauptung. Keiner Herrscherurkunde sieht man an, unter wie viel Druck und politischer Einflussnahme eine Schenkung oder Privilegierung zustande gekommen ist. Gerne und gnädig neigt vielmehr der Herrscher sein Ohr den inständigen Bitten seiner Getreuen und freut sich, die zu belohnen, die sich unablässig für ihn abgemüht haben. Die Formelsprache der Urkunden verbirgt jede Auseinandersetzung zugunsten eines harmonischen Miteinander: Sie inszeniert die expressiven Umgangsformen verbal.33 Keinem ‚Ehrendienst‘, den Magnaten dem Herrscher bei festlichen Anlässen zu leisten pflegten, ist anzusehen, dass das Dienen erzwungen und mit dem Selbstverständnis der Dienenden manchmal nur schwer vereinbar war. Wer in solchen Situationen an der Tafel diente, als Schwert- oder Schildträger fungierte, den Strator- oder Marschalldienst ausführte, machte symbolisch klar, dass er bereit war, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Und dabei hatte er Eifer aufzuführen. Wie es im Inneren des Dienenden aussah, interessierte nicht, so

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lange er die äußeren Formen nicht verletzte. Die äußeren Formen sahen aber vor, dass zum Ausdruck gebracht wurde, wie bereitwillig und gern man diente.34 Die Betonung der Frei- und Bereitwilligkeit aller Handlungen innerhalb der unterschiedlichsten Verbände des Mittelalters, sei sie nun im Einzelfall eine Fiktion oder nicht, bewirkte notwendig einen hohen Bedarf an expressiv-emotionalen Ausdrucksformen, weil nichts besser als Zeichen für Freiwilligkeit fungieren konnte. Hilaritas, die unbeschwerte Heiterkeit, iocunditas, die Bereitschaft zu Fröhlichkeit, gratia, die huldvolle Zuwendung, markieren in solchen Zusammenhängen Prinzipien des Umgangs miteinander, die es möglich machten, das Vertrauen in die Qualität der Beziehung abzubilden, oder zumindest eine Fassade ungetrübter Verhältnisse aufrecht zu erhalten, so lange es eben ging. Immer wieder hören wir deshalb, dass ein Empfang honorifice oder benignissime, dass der Herrscher iocundus oder hilaris gewesen sei und man seine gratia maxima empfangen habe. Man kann sicher sein, dass viele die diesbezüglichen Zeichen zu lesen verstanden, und man an ihrer emotionalen Windstärke ablas, wer der familiarissimus im Kreis der familiares war. Und wenn ein Herrscher bei der Ankunft eines solchen Vertrauten so außer sich war, dass er ihm mit nur einem Schuh an den Füßen entgegenrannte – wie es einmal berichtet wird, dann kann es sein, dass wir hier wirklich einmal von einem Spontaneitätsanfall hören. Wahrscheinlicher ist aber, dass ein Autor hier eine emotionale Verhaltensweise konstruiert hat, die wirklich an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig und keinen Zweifel daran ließ, dass hier wirklich der familiarissimus, d. h. der Einflussreichste, begrüßt wurde.35 Wir müssen also vorsichtig sein, wenn wir davon hören, dass mittelalterliche Menschen jubeln oder toben, in Tränen zerfließen oder mit den schlimmsten Schimpfworten um sich werfen. Zu ihren innersten Empfindungen stoßen wir damit gewiss nicht vor. Wir sehen vielmehr einen Zeichengebrauch, der von Authentizitätsansprüchen noch nicht beherrscht wird. Die große Bandbreite und die vielen verschiedenen Windstärken emotionaler Ausdrucksweisen werden vielmehr genutzt, um mit den performativen Akten in der öffentlichen Kommunikation eine Differenziertheit zu erzeugen, die diskursiv aus verschiedensten Gründen nicht zu erzeugen war. Von einem Mittelalterhistoriker ist jedoch nicht zu verlangen, dass er auch erklärt, wie es im Verlauf der Neuzeit dann zu Ansprüchen an die Emotionen kam, die ihnen Authentizität und Echtheit abverlangten.

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Soviel ist jedoch anzudeuten: Man muss gewiss der Reformation den Charakter einer Epochenschwelle auf diesem Gebiet zubilligen, weil sie die Gesinnung zur alleinigen Richtschnur allen Handelns machte.36 Dies legte die Axt an die Wurzel der expressiv-dramatischen Ausdrucksformen. Sie waren nun nicht mehr nötig und überdies: je stärker ihre Windstärke war, desto größer der Verdacht, dass sie nicht der wahren Gesinnung entsprachen. Auch die Aufklärung hat mit ihrem Aufrichtigkeits- und Innerlichkeitspathos dann im 18. Jahrhundert dazu beigetragen, die Ansprüche an emotionale Äußerungen zu erhöhen. Seit dieser Zeit wird öffentlich und privat geprüft, ob die gezeigten Emotionen authentisch und echt sind. Es gibt Standards der Angemessenheit, von denen man nicht zu weit nach oben oder unten abweichen darf, will man nicht riskieren, als theatralisch angesehen zu werden, in den Verdacht zu geraten, ‚eine Show abzuziehen‘ oder sich selbst zu inszenieren. All diese Wertungen haben einen deutlich negativen Beigeschmack. So unbefangen wie im Mittelalter nutzen die emotionalen Zeichen heute lediglich die Kinder, deren herzzerreißende und markerschütternde Tränen- und Schreiorgie lediglich ein Zeichen dafür sein kann, wie gerne sie eigentlich das Stück Kuchen äßen, das ihnen von den Eltern gemeiner Weise vorenthalten wird.

Anmerkungen 1. Vgl. allg. zum Ideal der Authentizität in der Moderne Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, 34 ff. 2. Es handelte sich um den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, der am Tag nach der Bundesratssitzung das Verhalten der CDU zu rechtfertigen versuchte. Vgl. dazu Legitimes Theater, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 72, 26.3.2002, 4; Nicht nur Theater, in: FAZ, Nr. 73, 27.3.2002, S. 1; Peter Müller, „Das haben wir dann gemacht“. Warum Politik Theater veranstaltet, in: FAZ, Nr. 74, 28.3.2002, 11. 3. Zur Unterscheidung von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ im Mittelalter vgl. Horst Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds „Tristan“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), 335–361. 4. Vgl. dazu Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, 258–281. Zum Forschungsfeld der Emotionen s. auch Barbara H. Rosenwein, Worrying about Emotions in History, in: American Historical Review (June 2002), 821–845. 5. Vgl. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 111975, 8, 11; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a. M., 41979.

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6. Vgl. H.-W. Thümmel, Schilderhebung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Sp. 1401–1404. Außerdem Reinhard Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 3), Stuttgart 1972, 217. 7. Vgl. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 36), Stuttgart/New York 1991; Klaus Tenfelde, Adventus: Die fürstliche Einholung als städtisches Fest, in: Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, hg. v. Paul Hugger u. a., Unterägeri/Stuttgart 1987, 45–60. Ders., Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), 45–84. 8. Vgl. zum Ritual der Begrüßung allg. Horst Fuhrmann, „Willkommen und Abschied“. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter, in: Ders., Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, 17–39. 9. Dazu Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), 370–389, bes. 380 ff. 10. S. dazu allg. Monika Minninger, Von Clermont zum Wormser Konkordat. Die Auseinandersetzungen um den Lehnsnexus zwischen König und Episkopat (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii 2), Köln/Wien 1978, 159–176; „Cum ergo supradictae postulationi insisterem, scilicet ut cum iustitia et auctoritate promissam mihi conventionem firmaret, universis in faciem eius resistentibus et decreto suo planam heresim inclamantibus, scilicet episcopis, abbatibus, tam suis quam nostris, et omnibus ecclesiae filiis, hoc, si salva pace ecclesiae dici potest, privilegium proferre voluit.“ Tractatus cum Paschali II. et coronatio romana, in: MGH Constitutiones, Bd. 1, Hannover 1893, Nachdruck 1963, Nr. 100, 151. 11. Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi, cap. 17, MGH Scriptores, Bd. 4, Hannover 1841, Nachdruck 1963, 766 (dt. Übersetzung in: FSGA 22, 303/305). 12. Vgl. dazu allg. Hans-Werner Goetz, Der ‚rechte‘ Sitz. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im Hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel, hg. v. Gertrud Blaschitz, Graz 1992, 11–47. 13. Vgl. dazu Dieter Mertens, Klosterreform als Kommunikationsereignis, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. Gerd Althoff (Vorträge und Forschungen, 51), Stuttgart 2001, 397–420, hier bes. 415. 14. Dazu zuletzt Stefan Weinfurter, Heinrich II. (1002–1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 1999, 250–268, hier bes. 258. 15. Vgl. Barbara H. Rosenwein [Anm. 4], 844. 16. Beispiele in Gerd Althoff [Anm. 4], 269 ff.; Klaus Schreiner, ‚Nudis pedibus‘. Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation [Anm. 13], 53–124, hier bes. 66 f., 100 ff. 17. Vgl. Ernst Steindorff, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich III., Bd. 2, Darmstadt 1963, 138. 18. Vgl. dazu Jürgen Hanning, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreichs (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 27), Stuttgart 1982, für das Frühmittelalter; für die spätere Zeit Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in

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Gerd Althoff

Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. v. Paul-Joachim Heinig u. a. (Historische Forschungen, 67), Berlin 2000, 53–87. 19. Vgl. hierzu Jean-Marie Moeglin, Fürstliche Ehre und verletzte Ehre der Fürsten im spätmittelalterlichen Deutschen Reich, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff, Köln u. a. 1995, 77–91, hier bes. 80; außerdem Gerd Althoff, Compositio. Wiederherstellung verletzter Ehre im Rahmen gütlicher Konfliktbeendigung, ebd., 63–76, hier bes. S. 64 ff. 20. Vgl. z. B. „Et missa legatione pro spontanea deditione spondet se per hoc sibi amicum affuturum, non hostem experturum.“, in: Widukindi res gestae Saxonicae I 24, in: MGH Scriptores rerum Germanicarum, Hannover 1904, 31 (dt. Übersetzung in: FSGA 8, 54). 21. Vgl. dazu Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: ders. [Anm. 4], 99–125; ders. [Anm. 19]. 22. „Exercitandi gratia venationem agens rex in loco qui dicitur Suveldun, filius patri nudatis plantis prosternitur, intima tactus poenitentia, oratione flebili patris primum, deinde omnium presentium lacrimas extorquet. Amore itaque paterno susceptus in gratiam spondet […].“ Widukindi res gestae saxonicae III 40, (Anm. 20), 104 (dt. Übersetzung in: FSGA 8, 150). 23. Gerd Althoff, deditio [Anm. 21], 104. 24. Ebd., Anm. 23, 115. 25. Vgl. Synodus Franconofurtensis, in: MGH Capitularia, Bd. 1, Hannover 1893, Nachdruck 1963, Nr. 28, 73–78; die einschlägigen Passagen s. dort S. 74 in Abschnitt 3. 26. Vgl. zu diesen Zeichen Klaus Schreiner, ‚Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes‘ (osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. v. Hedda Ragotzky/Horst Wenzel, Tübingen 1990, 89–132. 27. „Und Ebo, der frühere Erzbischof von Reims, der gleichsam der Bannerträger jener Partei gewesen war (d. h. der Absetzungspartei), bekannte jetzt, indem er auf einen erhöhten Platz in dieser Kirche trat, vor allem Volk freimütig (libera voce), dass dieser Kaiser widerrechtlich abgesetzt und alles, was gegen ihn vorgenommen worden, dem Gesetz und allen Geboten der Gerechtigkeit zuwider geschehen sei, und dass nun der Kaiser nach Verdienst und in gerechter und würdiger Weise wieder auf seinen Thron gesetzt sei“. Vgl. Annales Bertiniani, in: MGH Script. rer. Germ., Hannover 1883, a. 835, 10 f., (dt. Übersetzung in: FSGA 6, Teil 2, 29). 28. Vgl. dazu Gerd Althoff, Die Macht der Rituale, Darmstadt 2003. 29. Liudprandi opera, Liudprandi de Ottone rege, 22, in: MGH Script. rer. Germ., Hannover 1877, 135 f. (dt. Übersetzung in: FSGA 8, 520 ff.). 30. Vgl. dazu Volkhard Huth, Reichsinsignien und Herrschaftsentzug. Eine vergleichende Skizze zu Heinrich IV. und Heinrich (VII.) im Spiegel der Vorgänge von 1105/6 und 1235, in: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), 287–330. 31. „[…] ipse partis utriusque consiliis annuens regalia vel imperialia insignia, crucem scilicet et lanceam, sceptrum, globum atque coronam, filii potestati tradidit, prospera illi imprecans, illum primatibus multo fletu commendans et extunc iuxta summi sacerdotis totiusque ecclesie decreta sue consulturum anime promisit.“ Ekkehardi Chronica I, in: FSGA 15, 204 f.

Freiwilligkeit und Konsensfassaden

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32. „Preterea conquerimur pietati tue, quod filius noster litteris suis mandat ubique regalia omnia sponte nos reddidisse; quod noverit sanctitas tua omnino verum non esse.“ Epistolae Heinrici IV. (dt. Übersetzung in: FSGA 12, 120). 33. Vgl. dazu Hagen Keller, Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: Frühmittelalterliche Studien 35 (2001), 23–59. 34. Gerd Althoff/Christiane Witthöft, Les services symboliques entre dignité et contrainte, in: Annales 58, Nr. 6 (2003), 1293–1318. 35. Vgl. Gerhard, Vita sancti Oudalrici, cap. 21, in: MGH (Anm. 11), 407, (dt. Übersetzung in: FSGA 22, 126). 36. Vgl. hierzu demnächst Barbara Stollberg-Rilinger, Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser, in: Zeichen-Rituale-Werte, hg. v. Gerd Althoff.

II. Zur Genese einer Theorie der Emotionen in der Geschichte der Ästhetik

Ursula Franke

Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustras Vorrede.)

„Sind Gefühle verhandelbar?“ Diese Frage, die den Teilnehmern des Podiums beim Kongress Pathos, Affekt, Gefühl gestellt war, irritiert zunächst. ‚Verhandelbar‘ und Gefühle, wie passt das zusammen, was heißt hier ‚verhandelbar‘ – sollen Gefühle wie in einer Gerichtsverhandlung judiziert werden oder ist über ihren Marktwert zu verhandeln? Vielleicht gar nicht so abwegig. „Verhandeln“ – so Grimms Deutsches Wörterbuch – heißt „etwas eingehend besprechen“. Als ein Gewährsmann unter anderen wird Goethe zitiert: „So thun wir wohl uns umsehen, ob nicht in der Geschichte des Denkens und Begreifens schon etwas ähnliches verhandelt worden“. Oder, noch einmal Goethe: „[…] da die Vertrauten völlig ermangeln, so muß zuletzt alles in Monologen verhandelt werden“. Oder Heyse: „[…] desto mehr verhandelten sie zusammen […] die letzten Räthsel der Welt“.1 Wenn die Verhandelbarkeit von Gefühlen auch nicht zu den letzten Rätseln der Welt gehört, so ist es doch angesichts der facettenreichen Stichworte Pathos, Affekt, Gefühl und ihrer Verwendung in den Diskursen der Ästhetik durchaus lohnend, sich danach umzusehen, wo in der Geschichte des Denkens und Begreifens etwas ähnliches verhandelt wurde und wird2 und in dieser Perspektive auch die fachspezifisch akzentuierten Beiträge zu diesem Band zu sehen. Der suchende Blick fällt – im Horizont der abendländischen Philosophie – auf die traditionsmächtigen Leidenschaftsdiskurse3 der antiken Affektenlehre (z. B. Aristoteles) und ihre neuzeitliche Ausprägung (Descartes, Kant). Pathos, Affekt, Gefühl, kurz, die Emotionen, werden in

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diesen Diskursen hinsichtlich ihrer Bedeutung oder Funktion für das Leben des Menschen als Individuum sowohl, als auch für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft erörtert und bewertet. Mit diesen Überlegungen soll ein geistesgeschichtlicher Horizont gespannt und ein Diskussionsfeld eröffnet werden, in dem eine Reihe von Beiträgen dieses Bandes ihren je eigenen Ort behaupten. Die Beiträge fokussieren Affekte und Leidenschaften im Hinblick auf erkenntnistheoretische, historische oder anthropologische Aspekte der Leidenschaftsdiskurse und im Hinblick auf die Diskurse der Ästhetik, d. h. den Ausdruck der Emotionen in Mienen und Gebärden und ihre Repräsentation in den Künsten und den neuen Medien. Zudem wird im Kontext der Neurophysiologie bzw. der Neurobiologie, welche die materielle Grundlage unserer Gefühle und Emotionen in ihrer Bedeutung für Kognition und Erkenntnis erforscht4, die Relevanz dieser Forschungen für den Diskurs der Ästhetik, sprich für die Produktion und Rezeption von Kunst, geltend gemacht.5 Bevor ich auf Diskurse, in denen Menschen in der Geschichte des Denkens und Begreifens sich über ihre Leidenschaften verständigen, eingehe, versuche ich im folgenden erstens, die aufgrund ihrer semantischen Färbungen facettenreichen, ja schillernden Begriffe Emotion, Affekt, Pathos bzw. Leidenschaft und Gefühl wortgeschichtlich zu differenzieren. Der Diskurs über die Leidenschaften, m. a. W. die Affektivität oder Emotionalität des Menschen, wird zweitens bei Aristoteles und Descartes verfolgt, und zwar auch hinsichtlich einer Auffassung vom Menschen, die orientiert ist an der auf die Antike zurückgehenden Humanitas, der Humanität des Menschen, seiner Menschlichkeit.6 Auf diesem Hintergrund können dann drittens der künstlerische Ausdruck der Affekte und des Pathos und viertens die Rolle des Gefühls, zugespitzt auf das ästhetische Gefühl, beleuchtet werden. Abschließend ist nach dem gegenwärtigen Stellenwert der Emotionen und ihrer künstlerischen Repräsentation bzw. Präsenz zu fragen, nachdem die traditionelle, an der Humanitas orientierte und in dieser Hinsicht humanistische Auffassung vom Menschen obsolet geworden ist.

Wortgeschichtliche Aspekte der Emotionen Emotion, Affekt und Gefühl werden alltagssprachlich synonym verwendet7; als bedeutungsähnliche Begriffe gelten sie als gegenseitig austauschbar. Emotion kommt in deutschen Lexika selten vor, während der

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Begriff in ausländischen philosophischen Handbüchern durchaus zu finden ist.8 Über eine allgemein anerkannte Definition von Emotion finden erhebliche Auseinandersetzungen statt. Der Begriff hat seinen Ort bisher vornehmlich in der Psychologie9, der Pädagogik und neuerdings auch in der Neurophysiologie, die den Emotionsbegriff allerdings mehr oder weniger auf die körperliche Komponente einengt, so dass die Erlebnisseite der Emotionen zu kurz kommt.10 Emotionen in den Künsten stellen erst seit wenigen Jahren eine eigene Forschungsrichtung dar.11 Hält man fest, dass wortgeschichtlich affectus die Übersetzung von pathos12, des griechischen Wortes für Leidenschaften ins Lateinische ist, und bestimmt man Emotionen lexikalisch als „Sinnesempfindungen (z. B. optische, akustische oder haptische Empfindungen)“ einerseits und andererseits als „Erlebnisqualitäten des Menschen in der Individuum-Weltbeziehung“13, dann lassen sich Affekte und Leidenschaften wie auch das Gefühl als vorzügliche Spielarten von Emotionen, d. h. von Gemütsbewegungen14 im weitesten Sinn auffassen. Im Unterschied zum griechischen pathos und zum lateinischen affectus ist das deutsche Wort Gefühl begrifflich wie auch der Sache nach bemerkenswert unscharf.15 Als eigenständiger philosophischer Begriff wird Gefühl, das sich nach Grimm erst am Ende des 17. Jahrhunderts in den Wörterbüchern findet, zuerst im 18. Jahrhundert reflektiert und terminologisch schärfer umrissen als moralisches Gefühl und als ästhetisches Gefühl.16 Diese, im Kontext der Ästhetik ausgearbeitete, Rolle des Gefühls setzt die Abgrenzung nicht nur von den Gemütsbewegungen, von Affekten und Leidenschaften voraus, sondern erfordert auch die Unterscheidung von den Sinnesempfindungen. Weder die Antike noch die mittelalterliche Philosophie kannten eine besondere ästhetische oder moralische Sensibilität. Das Gefühl wurde ineins mit Gemütsbewegungen und Leidenschaften wie Freude, Trauer, Liebe, Hass, Neid, Furcht, Mitleid usw. als Leiden (passio) begriffen oder durch die weitgehend synonymen Ausdrücke affectus und affectio bezeichnet.17 Auch in der neuzeitlichen Affektenlehre geht das Gefühl mehr oder weniger unspezifisch in der Frage nach den Leidenschaften und ihrem Einfluss auf das menschliche Handeln auf; zudem wird die Empfindung der Sinne (sensatio) mit dem Namen des Gefühls belegt. Nicht zuletzt diese Mehrdeutigkeit erschwert die Bildung einer konsistenten Theorie des Gefühls.18 Dem deutschen Wort Gefühl kommt erst in der Bedeutung des englischen, auch des französischen sentiment die schärfere Kontur des ästhetischen Gefühls zu, dem zugleich eine moralische Komponente zugesprochen wird.19 Es ist eine noch uner-

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ledigte Aufgabe, den Ort des ästhetischen Gefühls in die Philosophie der Gefühle einzuschreiben, während soziale, politische oder auch soziologische Aspekte der Affektivität des Menschen auch in philosophischer Perspektive behandelt werden.20

Die Emotionen bei Aristoteles und Descartes Über die skizzierten definitorischen und wortgeschichtlichen Aspekte hinaus sollen nun im Blick auf die, für die ästhetischen Diskurse aufgrund ihrer Traditionsmächtigkeit exemplarischen, Positionen der antiken Auffassung der Emotionen, der Affekte, bei Aristoteles und einer Skizze ihrer neuzeitlichen Erörterung bei Descartes weitere Kontexte des Nachdenkens über die Emotionen umrissen werden. Dabei sind auch die Gesichtspunkte, unter denen die Emotionen in den Diskursen der Ästhetik Bedeutung gewonnen haben, sachlich schärfer zu fassen. Aristoteles, der Maßgebliches für die theoretische Erfassung der Affekte geleistet hat, thematisiert die Affekte bekanntlich im Zusammenhang mit der Rhetorik, also in ihrer Funktion für den Redner, dessen Glaubwürdigkeit davon abhängt, dass die Zuhörer ihm Wohlwollen und Freundschaft entgegenbringen, aber auch davon, dass er die Affekte kennt und sie im Hörer hervorzurufen weiß. Die Disposition, aufgrund derer wir zürnen, begehrlich oder neidisch sind, Furcht, Freude oder Mitleid, Hass oder Liebe empfinden usw., liegt für Aristoteles grundsätzlich darin, dass diese Affekte solche Bewegungen der Seele sind, die uns veranlassen, etwas zu meiden oder aber etwas zu erstreben: Affekte sind Regungen des Gemüts, die Menschen in unterschiedlichen Situationen zu unterschiedlichen Urteilen, „denen Schmerz bzw. Lust folgen“, veranlassen.21 Aristoteles hat, so Quintilian, „aufs genaueste ausgeführt, was zu jedem Ding und zu jedem Menschen gewöhnlich gehört sowie welchen Dingen und welchen Menschen die Natur selbst zueinander Zu- oder Abneigung verliehen hat, z. B. welche Folgen der Reichtum hat, der Ehrgeiz oder Aberglaube, was anständige Menschen loben, was schlechte Menschen suchen, […] und wie man jeweils gewöhnlich etwas meidet oder erstrebt.“22 Die Macht des Redners über die Affekte der Zuhörer, des Publikums, bringt Cicero (mit Aristoteles) auf den Punkt: Die Wirkung beruhe auf der Fähigkeit des Redners, dass er „das Herz sowohl zum Zorn, Hass oder Schmerz antreiben, wie auch von diesen Regungen in eine Stimmung der Milde und des Mitleids zurückversetzen kann“.23

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Für die Diskurse der Ästhetik, die in differenzierter Weise an die rhetorische Affektenlehre anknüpfen, ist es nun entscheidend, dass sie in ethischer Perspektive geführt werden, und zwar im Sinne von Jürgen Habermas, der den ethischen vom pragmatischen und moralischen Gebrauch der Vernunft unterscheidet. Wenn Aristoteles die Affekte, in ihrer Funktion für den Redner, unter einem ethischen Gesichtspunkt, d. h. in Bezug zum Guten, zu dem, was als gut für das Leben des Menschen erachtet wird, betrachtet, dann pocht er auf den rechten Umgang mit den Affekten – ein glückliches Leben erfordert im Umgang mit den Affekten das rechte Maß. Und eben darin, d. h. in der Beherrschung des rechten Maßes – das ist für Aristoteles unstrittig – besteht die erstrebenswerte Tugend.24 Den auch für die Diskurse der Ästhetik maßgeblichen ethischen Aspekt hat die Stoa zum Dreh- und Angelpunkt des Nachdenkens über die Affekte gemacht: „Die Affekte entstehen durch die Vorwegnahme oder Vermutung (πληψις) des Guten und des Bösen.“ Das vorgestellte gegenwärtige oder erwartete Gute erweckt den Affekt der Freude, während das vorgestellte gegenwärtige oder erwartete Böse Trauer erregt: „[…] bei erwartetem Guten tritt Begierde ein […], bei erwartetem Bösen ist der eintretende Affekt Furcht.“25 Wenn die Stoa fordert, die Affekte zu zügeln, sie nicht ungehindert losbrechen zu lassen26, so ist mit der Zügelung der Affekte ihre Kultivierung gemeint und damit die Möglichkeit der Vervollkommnung des Menschen, Perfektibilität vorausgesetzt, ein Ideal, das mit einer, am antiken Denken orientierten, humanistischen Auffassung vom Menschen und mit der Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Lebewesens (animal rationale) verbunden ist.27 Eine weitere Perspektive soll nun im Blick auf die einflussreiche Abhandlung über die Emotionen, die Descartes vorgelegt hat, verfolgt werden. Der ethische Aspekt, der bereits die Affektenlehre der aristotelischen Rhetorik wie auch der Stoa kennzeichnet28, steckt dabei – freilich in differenzierter und auch in den Bereich des Moralischen ausgreifender Weise – bis heute den Rahmen ab.29 Wenngleich Descartes keine Ethik geschrieben hat, so kommt er doch nicht aus ohne eine – so die berühmte Formulierung – morale provisoire, in deren Begriffsfeld Gut und Böse/Übel, also diejenigen Begriffe von ihm gedacht werden, an denen auch er seine Untersuchung über die Emotionen orientiert. Aus ihrem Verhältnis zu einem Gut, das man begehrt oder einem Übel, das man zu vermeiden trachtet, ergibt sich die, von Descartes zum ersten Mal vorgenommene, Klassifi-

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kation oder Ordnung der Emotionen (Hoffnung, Furcht, Mut, Freude, Trauer, Neid und Mitleid, Zorn, Ruhmsucht, Scham30 usw.) (Art. 57). An der Spitze der Ordnung und Aufzählung der Leidenschaften (l’ordre et le dénombrement des passions) aber steht für Descartes – das sei hervorgehoben – die Verwunderung (l’admiration), und zwar deshalb, weil sie mit Überraschung verbunden ist: „Wenn etwas, das sich uns darbietet, nichts in sich besitzt, das uns überrascht (qui nous surprend), erregt es uns nicht und wir betrachten es ohne Leidenschaft“.31 Mit der Verwunderung sind Achtung und Missachtung, Edelmut (générosité) und Hochmut, Verehrung und Geringschätzung, Liebe und Hass verbunden (Art. 53–56, vgl. Art. 70–73, 75–78). Grundsätzlich grenzt Descartes seine Untersuchung der Leidenschaften sowohl von Aristoteles als auch von der Stoa und ihrem Nachdenken über die Affekte ab. Denn ihm geht es weder um ihre rhetorische Funktion noch – wie den stoischen Moralisten – um eine gleichsam kosmische Betrachtungsweise der Affekte, sondern um ihr Begreifen aus der menschlichen Natur, und zwar sowohl aus der körperlichen bzw. leiblichen als auch aus der geistigen bzw. seelischen Verfassung des Menschen und um die Beschreibung der Leidenschaften. Die Leidenschaften der Seele werden als Wahrnehmungen (perceptions) oder Empfindungen (sentimens) oder, allgemein, als Gemütsbewegungen (émotions de l’âme) von ihm definiert (Art. 27).32 Empfindungen, die nach innen gerichtet sind (sentimens) werden von Empfindungen (perceptions), die auf äußere Objekte (objets externes), auf Gerüche, Töne oder Farben oder aber auf körperliche Empfindungen wie Hunger, Durst und Schmerz bezogen sind, unterschieden. Sentimens sind für Descartes „in besonderer Weise“ auf die Seele bezogen, sentimens sind eigentümliche, durch die Leidenschaften erregte und aufgewühlte émotions de l’âme. Descartes unterstreicht: „Von allen Gedanken (pensées), welche die Seele haben kann, gibt es keine anderen, welche sie so sehr wie die Leidenschaften erregen und aufwühlen“ (Art. 28).33 Mit der Bestimmung von sentiment als innere Empfindung gewinnt Descartes einen Begriff, der auch für die kunsttheoretischen Diskurse relevant geworden ist34 und in dieser Bestimmung nicht zuletzt auch der Bestimmung des ästhetischen Gefühls nahe kommt. Folgt man Descartes darin, dass die Dinge uns durch die inneren oder äußeren Sinne repräsentiert werden, und zwar so, dass wir uns ihnen in Liebe zu- oder aber hasserfüllt von ihnen abwenden, so ergibt sich daraus unser Urteil über den Bezug dieser Emotionen auf das Schöne und

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das Gute: „wir nennen gewöhnlich gut oder böse das, was unser innerer Sinn oder unsere Vernunft als unserer Natur angemessen oder konträr zu ihr beurteilt. Aber wir nennen schön oder häßlich, was sich durch unsere äußeren Sinne darstellt“ („nous appellons communement bien ou mal, ce que nos sens interieurs ou nôtre raison nous font juger convenable ou contraire à nôtre nature; mais nous appellons beau ou laid, ce qui nous est ainsi representé par nos sens exterieurs“) (Art. 85). Daraus entspringe die Liebe zu den guten und diejenige zu den schönen Dingen. Diese Emotionen, so Descartes, seien gewöhnlich viel stärker als andere Arten der Liebe oder des Hasses. Zuwendung bzw. Abkehr äußern sich in den Emotionen, den Leidenschaften des Wohlgefallens und des Schauders (passions d’ agrément et d’ horreur)35 (ebd.). Aus Descartes’ Sicht muss man sich freilich vor den durch die Sinne erregten Emotionen hüten, denn sie enthalten weniger Wahrheit (moins de vérité) und täuschen (ce sont celles-cy qui trompent le plus, et dont on doit le plus soigneusement se garder) (ebd.). Wenn die Emotionen von Descartes auf die Ideen des Guten, aber auch des Schönen und des Wahren, bezogen werden, so ist damit ebenso wie für die Auffassung und Bewertung der Affekte bei Aristoteles und in der Stoa, eine in dieser Hinsicht bestimmte Vorstellung vom Menschen36 und davon, wie er leben sollte, vorausgesetzt, die als solche nicht weiter problematisiert, geschweige denn in Frage gestellt wird. Wenngleich dieses auf die Antike zurückgehende humanistisch geprägte Menschenbild seine orientierende Kraft inzwischen eingebüßt hat und die historische Distanz, die uns vom Denken früherer Jahrhunderte trennt, nicht zu übersehen ist, ist in unserem Zusammenhang der Gedanke einer dem Menschen seit der Antike zugedachten Humanitas37 festzuhalten.38 Denn dieser Gedanke wird in Verbindung mit der allmählichen Enttheologisierung des Bildes vom Menschen, die in Europa seit dem 17./18. Jahrhundert die Moderne heraufführt, festgeschrieben. Dabei kommt es hier darauf an zu sehen, dass diese Verbindung gleichbedeutend ist mit einer anthropologischen Wende, in der sich die neuzeitliche Subjektivität emanzipiert. Subjektivität, Kultur, Bildung, auch Individualität oder Identität sind so gesehen ausgezeichnete Stichworte, welche die Kontexte der ästhetischen Diskurse über die Emotionen markieren.39 Dabei knüpfen sowohl die philosophische Ästhetik, als auch die Theorien der einzelnen Künste, der bildenden Künste, der Schauspielkunst, der Architektur und die Musiktheorie an die Rhetorik an40 und nehmen, mehr oder weniger, auch die Beschreibung der Emotionen auf, die Descartes vorgenommen hat.

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Der künstlerische Ausdruck der Emotionen Affekte und Leidenschaften interessieren in den Diskursen der Ästhetik unter dem Gesichtspunkt ihres künstlerischen Ausdrucks. Der künstlerische Ausdruck der Emotionen wird vorzüglich in und seit dem 17. und 18. Jahrhundert thematisiert, und zwar insoweit, als die Emotionen den Dichtern, Malern, Bildhauern, Komponisten oder Schauspielern den Stoff, das Material ihrer Arbeit boten (und bieten), und sie finden seit dem 20. Jahrhundert – mehr oder weniger – auch in der Rezeptionsästhetik Beachtung.41 Die Theorie und die Praxis des künstlerischen Ausdrucks der Emotionen sollen jetzt anhand des Kompendiums Allgemeine Theorie der schönen Künste42, das Johann Georg Sulzer am Ende des 18. Jahrhunderts zusammengestellt hat43, problematisiert und mit der Praxis der Künste konfrontiert werden. Sulzers Kompendium spiegelt exemplarisch die Position, die von der klassischen philosophischen Ästhetik behauptet wird. Es ist eine Position, die, wiederum am Gedanken der Humanitas orientiert, die Vorstellungen der Perfektibilität des Einzelnen und der menschlichen Gesellschaft44, wie auch die Aufgabe der Bildung des Menschen und die Forderung nach einer Kultivierung seiner Emotionen zum Tragen bringt: Durch ihre Wirkung auf den Menschen, der sich ihnen zuwendet, sie genießt, an ihnen sein Vergnügen hat, können und sollen die Künste zur Bildung und Kultivierung und damit zur Vervollkommnung des Menschen beitragen. Diese Wirkung, so lautet das Argument, entfalten Kunstwerke unter der Bedingung, dass sie den Kriterien der Schönheit genügen, dem konsequenterweise auch der Ausdruck, den die Emotionen in den Künsten erfahren, unterworfen wird. Es ist in diesem Sinne gemeint und zu verstehen, wenn Sulzer betont, dass die Emotionen oder wie er sagt, die Leidenschaften, einen „so großen Anteil an den Werken der schönen Künste haben und darin eine so beträchtliche Rolle spielen, dass sie in der Theorie derselben eine besondere […] Betrachtung verdienen“. Für seine Betrachtung übernimmt er kurz und bündig die herkömmlichen Bestimmungen: „Die Leidenschaften sind im Grunde nichts anderes, als Empfindungen von merklicher Stärke, begleitet von Lust oder Unlust, aus denen Begierde, oder Abscheu erfolget.“45 Zur Aufgabe des Künstlers gehöre es, „daß er Leidenschaften erwecke oder besänftige; daß er sie in ihrer wahren Natur und in ihren Äußerungen schildere, und die mannigfaltigen gu-

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ten und schlimmen Wirkungen derselben auf das lebhafteste vorstelle“ und sie „in einem vorteilhaften Maß“ schildere.46 Das vorteilhafte Maß, so ist mit Sulzer zu betonen, meint einen maßvollen künstlerischen Ausdruck der Emotionen. Nur unter dieser Bedingung könne der Künstler der Aufgabe der Künste gerecht werden, von denen man zu allen Zeiten geglaubt habe, dass sie die „eigentlichen Mittel“ seien, um „die Gemüter der Menschen zu bilden, und […] zu lenken“.47 Die „eingewurzelten Unarten, wodurch besondere Leidenschaften bei jeder Gelegenheit aufwachen“, solle der Künstler „schwächen, z. B. den jähzornigen Menschen sanftmütiger“ machen und die „Herrschaft nützlicher Leidenschaften“ den Menschen durch den Ausdruck entsprechender „Empfindungen einpflanzen“.48 Die für den künstlerischen Ausdruck notwendige Kenntnis der Leidenschaften aber, so erklärt Sulzer lapidar, müsse der Künstler „hauptsächlich von dem Philosophen erlernen“.49 Die von den Philosophen vermittelte Kenntnis der Emotionen vorausgesetzt, besteht schließlich „die ganze Arbeit des Künstlers“ in der „glücklichen Erfindung“ der „Vorstellungen der Empfindungen“, also der Emotionen und „im guten Ausdruck derselben“.50 Das Wort Ausdruck – so ist weiter mit Sulzer festzuhalten – braucht man „in der Kunstsprache“, wenn man von Vorstellungen spreche, die durch Zeichen hervorgerufen werden. ‚Ausdruck‘ nenne man bald die Zeichen, die die Vorstellungen bewirken, bald die Wirkung, die von den Zeichen, also von einem Gemälde, einem Lied oder einem Gedicht ausgelöst werden.51 Die Künste verfügen, wie Sulzer im Anschluss an die antike Rhetorik (Cicero, Quintilian) und Poetik (Horaz) wie z. B. auch auf Franciscus Junius’ De pictura veterum (1637) darlegt, zur Darstellung oder Repräsentation der Emotionen über unterschiedliche Ausdrucksmittel: „Diese Mittel sind in den redenden Künsten die Wörter und die Sätze der Rede; in der Musik die Töne und die daraus zusammengesetzten Tonsätze; in den zeichnenden Künsten Gesichtszüge, Gebärden, selbst die Gesichtsfarbe; im Tanz Stellung, Gebärden und Bewegung.“52 Als Norm wird das Kriterium des Schönen, das für Jahrhunderte als Norm des künstlerischen Ausdrucks galt, von Sulzer auch für den „maßvollen“ künstlerischen Ausdruck der Emotionen in Anspruch genommen, und es soll durch entsprechende Kunstregeln gewahrt werden. Die Kenntnis solcher Regeln sei dem Künstler nützlich. Sulzer hält aber auch fest, dass „angesehene Männer“, die sich mit der Kritik abgeben, die Nützlichkeit von Regeln für „ein altes Vorurteil“ halten. Man

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habe die Regeln „mit Krükken verglichen, die dem Lahmen wenig helfen, dem Gesunden aber hinderlich sind“. Sulzers Antwort an diejenigen, „die mit einer Art von Triumph die Regeln wegreißen, und gleichsam mit Füßen treten, sie für schädlich halten“, ist unentschieden. Einerseits erklärt er, es sei nicht seine Absicht, „den ganzen Kram der Regeln, die man in allen Rhetoriken, Poetiken und andern Büchern über die Kunst antrifft, für notwendig zu halten“. Andererseits heißt es, Regeln, „wahre Regeln“, dienen dem Künstler, d. h. sie lehren ihn, was zur „Vollkommenheit seines Werks notwendig ist“. Was der Künstler in der Hitze der Begeisterung erfinde, müsse hernach mit Hilfe der Regeln, die das „Mechanische der Kunst“, den „Geist“ und den „Geschmack“ betreffen, bearbeitet werden. Kurz, Regeln dienen dazu, „Fehler“ zu vermeiden.53 Sulzer nennt in seinem Artikel über die Kunstregeln weder Namen von Kritikern, von ‚Kunstrichtern‘, die er im Sinn hat, noch die von Künstlern. Nimmt man das Beispiel der bildenden Künste, so wären die Überlegungen, die er im Rahmen seines Kompendiums einer Allgemeinen Theorie der schönen Künste anstellt, ganz offenkundig am ehesten mit der auf den Akademien gelehrten Kunst in Einklang zu bringen. Hier nun ist ausdrücklich zu betonen, dass die Praxis der Künste gegenüber der klassischen, auf den Regeln des schönen, des maßvollen Ausdrucks fußenden Position der klassischen philosophischen Ästhetik, die Sulzers Kompendium spiegelt, sich gerade durch das Abstreifen der Regeln auszeichnet und eben daraus ihre innovative Kraft bezieht. Für die Praxis des künstlerischen Ausdrucks der Emotionen, insbesondere der Malerei, sind die Pathosfiguren initiativ gewesen, die Charles Lebrun, selbst Akademiedirektor, in seiner Conférence sur l’expression (1668) vorstellte. Lebrun knüpft, wohl ohne ihn zu nennen, an Descartes’ Beschreibung der Emotionen an und versucht einen Zusammenhang herzustellen zwischen Descartes’ Beschreibung und ihrem mimisch-gestischen Ausdruck. Lebrun bietet ein „Nachschlagewerk“ zum künstlerischen Ausdruck der Emotionen und „eine Art Baukastensystem der Gesichtsteile“ an, derer sich die Künstler bedienen können, die sie aber nicht, wie den von Sulzer apostrophierten „Kram der Regeln“, übernehmen müssen.54 Der künstlerische Ausdruck der Emotionen, der an die Regeln des Schönen nicht mehr gebunden ist und sozusagen sich einem Regelverstoß verdankt55, lässt die Ikonographie oder, wie in der Musik, die Affektfiguren56 hinter sich und erzielt durch ungebundene Erfindungen emotional eindringliche, ja überwältigende Wirkungen57; diese

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Wirkungen können auch, als Ausdruck der Befindlichkeit des Künstlers, im Malakt selbst gesehen werden.58 Der, sagen wir regelfreie, künstlerische Ausdruck der Emotionen, den Sulzer aus dem Blickwinkel der klassischen Position seines Kompendiums lediglich vage und sehr unentschieden in Betracht zieht, dürfte auf der Ebene einer alle Künste übergreifenden ästhetischen Theorie nicht mehr einzuholen sein. Hier sind vielmehr die Theorien der einzelnen Künste gefragt.59 Wenn nun weiter für den künstlerischen Ausdruck der Emotionen aus einem klassisch orientierten Blickwinkel die Vorstellung vom Menschen, der seine Emotionen zu zügeln, zu bändigen imstande ist, von einer nicht zu unterschätzenden Relevanz ist, so sind auch für die jetzt noch zu behandelnde Rolle des Gefühls drei, mit der Auffassung vom Menschen eng verknüpfte, Aspekte hervorzuheben, und zwar Humanitas, Menschlichkeit im Sinne von Kultur oder Bildung (Paideia)60 und Menschlichsein, aufgefasst als Mitmenschlichkeit.61

Die Rolle des Gefühls Die Rolle des Gefühls wird durch den Begriff des ästhetischen und moralischen Gefühls konturiert und ist, in dieser Bestimmung, im geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit dem, vor allem auf Cicero zurückgehenden, Konzept der Humanitas als Bildung zu sehen, das bekanntlich bereits in der Antike mit den Künsten in Verbindung gebracht wurde. Der ethische Aspekt ist von der englischen Moralphilosophie (Shaftesbury, Hutcheson, Hume u. a.) in der Affinität von ästhetischem und moralischem Gefühl thematisiert und argumentativ im Rückgriff auf die Ideen des Guten und Schönen begründet worden.62 Hutcheson z. B. problematisiert in seiner Abhandlung An inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue (1725) die Verwandtschaft zwischen dem ästhetischen Gefühl, dem ‚Sinn für die Schönheit‘ und dem moralischen Gefühl unter den Stichworten sense of beauty und sense of virtue. Die Affinität grundiert – geistesgeschichtlich gesehen – in prominenter Weise terminologisch wie sachlich das Profil des Gefühlsbegriffs, verstanden eben als ästhetisches wie auch als moralisches Gefühl. Für die Rolle, die das Gefühl im Zusammenhang mit der Bildung des Menschen spielt, ist es entscheidend, dass das ästhetische Gefühl in der Rücksicht auf seine Affinität mit dem Moralischen als Reflexionssinn

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(reflected sense) aufgefasst wird, über den jeder Mensch verfügt und der ausgebildet und geübt wird im Umgang mit der Literatur, den bildenden Künsten und der Musik. Der Sensibilität, die aus der Begegnung mit den Künsten entspringt, wird zugetraut, dass sie die Urteilsfähigkeit sowohl in ästhetischen als auch in moralischen Dingen stärkt. Exemplarisch für die Auffassung des Gefühls als Reflexionssinn, dem zugetraut, besser zugemutet wird, unsere ästhetische wie auch unsere moralische Sensibilität zu schärfen, ist es, dass Kant – auf dem Hintergrund der abendländischen Opposition von Vernunft und Gefühl – dem Gefühl im Sinne eines Organs der ästhetischen Erfahrung und moralischen Empfindlichkeit den Rang eines Komplementes der Vernunft zuweist63 oder, in der Bestimmung des Geschmacks, das Gefühl als Organon der Kritik, d. h. als Fähigkeit zu unterscheiden und zu wählen, ins philosophische Gespräch bringt. Nur unter der Bedingung einer derart reflektierten und geschärften Sensibilität gilt in den Künsten wie im Leben: De gustibus est disputandum.64 Mit diesem Diktum tritt Kant ausdrücklich dem Gemeinplatz de gustibus non est disputandum entgegen und nimmt so ein Thema auf, das bekanntlich im 18. Jahrhundert zunächst in Italien, England und Frankreich und dann auch in der deutschen Literaturkritik und Poetik eine hervorragende Rolle gespielt hat.65 Dagegen hat Kant das Gefühl im Horizont der rationalistischen Tradition „als besonderes Sensorium, als ein Organ der Wertung und Schätzung geltend gemacht“, wenngleich es „keine begriffliche Rechenschaft über Wertungskriterien abgeben kann“.66 Die behauptete Verwandtschaft zwischen dem ästhetischen und dem moralischen Gefühl betrifft nach Kant nun aber nicht zuletzt auch die Empfindlichkeit im Umgang mit und das Verständnis für den oder die anderen. Kant, der Affekte als der Natur des Menschen zugehörig von kulturell geprägten Leidenschaften unterscheidet67, bestimmt die Leidenschaften nach dem „Prinzip des Gebrauchs oder Mißbrauchs, den Menschen von ihrer Person und Freiheit unter einander machen“; Habsucht, Ehrsucht, Rachsucht, Herrschsucht gehen aus der „Kultur der Menschen“, d. h. aus der Art des Umgangs miteinander hervor.68 Das Ideal der Toleranz und eines „gesitteten“, freundlichen Umgangs der Menschen miteinander, „Geselligkeit“, wie Kant sagt, wird von ihm mit besonderem Nachdruck geltend gemacht. Geselligkeit und Toleranz gehören unverzichtbar zu seinem Entwurf von Humanität.69 Das Gefühl, „Geschmack“ genannt, spielt in dieser Hinsicht eine besondere Rolle.70 Der Geschmack enthält, so Kant, „eine Tendenz zur äusseren Beförderung der Moralität“, will sagen, Geschmack habe es

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mit der „Darstellung der eigenen Person“ zu tun und setze daher den „gesellschaftlichen Zustand“, d. h. „Geselligkeit“ als „Teilnahme an der Lust anderer“, voraus, im Unterschied zum barbarischen Geschmack, der „ungesellig und bloß wetteifernd ist“.71 Das hier im Zusammenhang mit der Geschmacksdiskussion des 18. Jahrhunderts skizzierte Verständnis des Gefühls gibt auch für heutige Debatten über die Reichweite des Gefühls für ein einfühlendes Verstehen72 oder im Sinne eines Organs der ästhetischen Erfahrung einen zentralen Gesichtspunkt ab. Herbert Marcuse z. B., der im Antagonismus von Gefühl und Vernunft die bewegende und prägende Kraft der westlichen Zivilisation und Kultur sieht, knüpft bei seinem Entwurf der, wenn man so will, Utopie einer „Neuen Sensibilität“ an die Gefühlsdebatten der ästhetischen Diskurse des 18. Jahrhunderts an.73 Neuerdings macht der amerikanische Philosoph Richard Rorty geltend, „daß die Bereitschaft zur ästhetischen Betrachtungsweise der Dinge […] in der neueren Geschichte der liberalen Gesellschaften ein wichtiges Vehikel des moralischen Fortschritts gewesen ist“.74 Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher auf diese Debatten einzugehen.75 Allerdings ist die Frage unumgänglich, wie eine Begegnung mit den Künsten, die solch schöne Früchte der Bildung zu Geselligkeit und Toleranz zeitigt, im wirklichen Leben überhaupt zustande kommen kann. Schwer zu beantworten ist es auch, wie ästhetische Erfahrung und damit das Gefühl, aus dem diese Erfahrung gespeist wird, eine Orientierung im Handeln bieten, sich also praktisch in die Lebenswelt einschreiben kann76, zumal das ästhetische Gefühl nicht anders als das moralische pervertierbar und täuschbar ist.77 Im Ergebnis wurden bisher die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der, mit den Ideen der Bildung, Kultur, Perfektibilität eng verknüpften und daran orientierten, differenzierten Bestimmungen der Emotionen beleuchtet und in diesem Licht die Regeln ihres künstlerischen Ausdrucks wie auch deren Überschreitung erörtert. Pathos, Affekt und Gefühl wurden dabei, in der Differenz ihrer semantischen Färbungen, als Spielarten der Emotionen, von Gemütsbewegungen, aufgefasst. Es sollte deutlich werden, inwiefern in dieser Hinsicht die mit dem Gedanken der Humanitas verbundene traditionelle Bestimmung des Menschen eine Rolle gespielt hat. Angesichts der gegenwärtigen Infragestellung der herkömmlichen Auffassung vom Menschen stellt sich heute die Frage nach dem Stellenwert der Emotionen und ihrer künstlerischen Repräsentation aufs Neue, und zwar in einem veränderten Problemhorizont, der abschlie-

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ßend wenigstens noch skizziert werden soll, wobei der Weg, den die Überlegungen bisher genommen haben, sich noch weiter verästelt.

Die Emotionen und die ‚vernutzte Substanz des Humanen‘ Für die Feststellung, dass die an der antiken Humanitas orientierte humanistische Auffassung vom Menschen als der geistesgeschichtliche Horizont, in dem im Laufe der Geschichte des Nachdenkens über die Emotionen verhandelt wurde, ihre Eindeutigkeit wie auch ihre das Leben der Menschen leitende Funktion verloren hat, braucht man nicht unbedingt so weit zu gehen wie Peter Sloterdijk. In seinem vieldiskutierten und äußerst umstrittenen, zuerst in der ZEIT erschienenen, Text Regeln für den Menschenpark stellt er den humanistischen Gedanken, nicht zuletzt im Blick auf seine missbräuchliche Verwendung durch die Nationalsozialisten78, radikal in Frage. Sloterdijk, auf dessen Argumentation hier nicht weiter eingegangen werden kann, bezieht sich auf Heideggers Humanismusbrief (1946), mit dem Heidegger „einen trans-humanistischen und post-humanistischen Denkraum“ eröffnet habe, dem, ungeachtet der „peinlichen, ja linkischen Außerordentlichkeit“ seiner Darstellung und Diktion, doch das Verdienst zukomme, die „Epochenfrage“, was heute vom Menschen zu denken ist, gestellt zu haben. Nachdem Platons „Leitbild des Weisen“ verloren gegangen sei und uns anstelle der Weisen nur noch ihre Schriften geblieben sind, „in ihrem rauhen Glanz und in ihrer wachsenden Dunkelheit“, verschwindet dieses Leitbild in der Geschichte – und in den Bücherregalen. Auch dies habe „der humanistischen Bewegung das meiste von ihrem einstigen Schwung genommen“.79 Verschwunden ist auch, was im Zusammenhang des humanistischen Gedankens der Humanitas unter der ‚Würde des Menschen‘ begriffen wurde (wenn auch nur der Doktrin nach). In unserem Zusammenhang ist in der Perspektive der derart ins Wanken geratenden traditionellen Auffassung vom Menschen an die gegenwärtigen Debatten über den modernen, an der abendländischen Kultur und ihrem Menschenbild orientierten Kunstbegriff und die Wiederkehr des Schönen zu denken, dessen Bestimmung nunmehr lebensweltlich konturiert ist. Die lebensweltlich akzentuierte Vorstellung des Schönen steht unter der Devise ‚zu schön, um wahr zu sein‘.80 Die Trias des verum, bonum, pulchrum, des Wahren, Guten, Schönen, ist gelöst: Schönheit, für Platon eine unsterbliche Idee, ist sterblich, weltläufig geworden, ja ein Label.

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Die mit der beginnenden Postmoderne von der Pop Art der 60er Jahre wieder entdeckte Schönheit lässt sich als eine dem Kitsch – durchaus auch in kritischer Absicht – nahe Schönheit der Oberfläche beschreiben. Die ‚kosmetische Schönheit‘ begegnet uns in den Bildern der Werbung, des Kinos und Fernsehens und der Künste gleichermaßen81; es gibt eine mediale Omnipräsenz der Körperschönheit, die den Lifestyle, das Lebensgefühl stimuliert.82 Die skizzierte Wiederkehr des Schönen in der Lebenswelt zeigt wohl auch eine Sehnsucht der Menschen nach Ordnung und Orientierung in unübersichtlichen Zeiten an.83 Mehr noch – emphatisch gesagt – eine Sehnsucht nach Glück, die das Schöne zu erfüllen verspricht.84 Die Debatten über den modernen Kunstbegriff werden u. a. im Blick auf die Stellung der Künste in der Postmoderne geführt,85 und die Künste selbst haben ihre angestammten Orte verlassen: Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen finden z. B. oftmals in stillgelegten Fabrikhallen oder auf Plätzen unter freiem Himmel statt – die Zukunft der Künste, die gegenwärtig überall sind, scheint offen. Um die Zukunft der Künste, verbunden mit der Frage nach dem Menschen und seiner Darstellung in der zeitgenössischen Kunst, geht es heute immer wieder. Dabei wird bekräftigt, dass „die Eindeutigkeit dessen, was der Mensch sein soll, uns abhanden gekommen ist“: Die so genannte postmoderne Kultur „globalisiert den westlichen Menschen als Erfolgstyp, Konsumenten, Staatsbürger und Privatmann, als Popidol und Ikone […] unseres Systems“ und „vernutzt zugleich die Substanz des Humanen“.86 Bedenke man, dass die Künste in einer „künstlerischen Sensibilität“, einer „unverwechselbaren Individualität“ des „sich ästhetisch ausdrückenden Menschen“ wurzeln und dass Kunstwerke insofern ein Ausdruck des menschlichen Selbstverständnisses sind, dann stellt sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Zukunft des Humanen auch die Frage nach der Zukunft der Kunst. Angesichts des zu konstatierenden „Bilderverlusts des Menschlichen“ – jedenfalls im industrialisierten Westen – stellt sie sich mit besonderer Schärfe; und welche Antworten hier möglich sind, ist kaum abzusehen.87 Nimmt man in diesem veränderten Horizont spezielle Phänomene wie z. B. die Trivialisierung der Pathosformeln in den Blick, die sich heute in der volkstümlichen Musik oder auch im vielfältigen Genre der Popmusik finden, so könnte man fragen, in welcher Weise es sich dabei um eine Transformation der alten Gedanken einer Evozierung oder sogar einer Kultivierung der Emotionen handelt, wobei ‚Kultivierung‘ nicht als ‚Disziplinierung‘, sondern als ‚Entlastung‘ zu denken wäre.

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Künstlerische Auseinandersetzungen mit menschlichen Grenzerfahrungen des Todes, der Gewalt, der körperlichen Verwundungen, des Schmerzes bieten demgegenüber einen gänzlich gegensätzlichen Aspekt des Umgangs mit den Emotionen. Dem Selbstverständnis der Künstlerinnen und Künstler zufolge werden in den Inszenierungen solcher Grenzerfahrungen, bei denen der eigene Körper eingesetzt wird, Emotionen in direkten, unverhüllten Präsentationen unmittelbar und bedrängend evoziert – liegt das Schöne im Schrecken?88 Ein neuer Weg jedenfalls müsste eingeschlagen werden, um den verschlungenen Fährten des Umgangs und der Konfrontation mit den Emotionen in den gegenwärtigen Künsten nachzugehen.

Anmerkungen 1. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Über die Spiraltendenz der Vegetation (Vorarbeit aphoristisch), in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (Nachdruck der Ausg. Weimar 1887– 1919, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1987), 2. Abt., Bd. 7 (1892) (Naturwissenschaftliche Schriften), 37. Vgl. ders., Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, II. Teil., 3. Buch, 2. Kap. (Hersilie an Wilhelm), in: Goethes Werke, W. A., 1. Abt., Bd. 25, 1 (1895), 77. Vgl. Paul Heyse, Grenzen der Menschheit (1882), in: ders., Buch der Freundschaft und andere Novellen, Gesammelte Werke, 1. Reihe, Bd. IV, Stuttgart 1924, Nachdruck Hildesheim u. a. 1984, 106–162, hier: 139. 2. Während heute z. B. die Sprechakttheorie für das „Reden über Gefühle“ als wenig ergiebig angesehen wird (vgl. Clemens Kopp, Mittels Sprechakttheorie über Gefühle philosophieren – eine Fehlanzeige? In: Ingrid Craemer-Ruegenberg [Hg.], Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge, Freiburg/München 1981, 327–332), erörtert Martin Bauer, den die Konsequenzen interessieren, „die sich aus den Diskussionen der Psychoanalyse für eine philosophische Anthropologie ergeben“, inwiefern und inwieweit „das Gefühl […] in der intersubjektiven Sprachlichkeit“ gründet, und zwar „vom Symbol in seiner Vielstimmigkeit gesehen“ (vgl. Bauer, Sprache als Feld des Gefühls, in: Craemer-Ruegenberg, 271–292, hier: 271, 291f.). 3. Die theoretischen und methodischen Grundlagen der Leidenschaftsdiskurse werden im Anschluss an Michel Foucault und Norbert Elias grundsätzlich erörtert von Matthias Luserke, Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1995, 33–52. Aus dem Blickwinkel der Ästhetik erörtert die Leidenschaftsdiskurse Dieter Kliche, Passion/Leidenschaft, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhard Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Stuttgart/Weimar 2000ff., Bd. 4, 2002, 684–724. 4. Zur Sache vgl. Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Aus dem Englischen von Heiner Kober, 6. Aufl. München 1997 (Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain, 1994). Marc Neuberg (Le Traité des Passions de l’Âme de Descartes et les Théories modernes de l’ émotion, in:

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Archives de Philosophie 53 (1990), 479–508) hat bereits die Bedeutung der ‚Passions de l’Âme‘ für gegenwärtige Fragestellungen der Emotionsforschung hervorgehoben und gezeigt, inwiefern der cartesische Text auf exemplarische Weise die Schwierigkeiten illustriert, die der physiologischen und kognitiven Erörterung der Emotionen innewohnen. 5. Vgl. in diesem Band die Beiträge von Wolfgang Tunner, der die Phantasie im Blick hat, und von Wolfgang Lenzen, der sich im Blick auf seinen Entwurf einer philosophischen Theorie der Emotionen mit Damasio (s. Anm. 4) auseinandersetzt. In Lenzens Entwurf spielen Stimmungen (moods), die Kerstin Thomas in ihrem Beitrag zu diesem Band als Kategorie der Beschreibung moderner Gemälde heranzieht, eine gewichtige Rolle. 6. Vgl. R. Rieks, Humanitas, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, 12 Bde., Basel/Stuttgart 1971– 2004, Bd. 3, 1974, 1231f. 7. Eine empirische Analyse der semantischen Dimensionen, „die dem Wortfeld des Gefühlsbegriffs gemeinsam sind“, findet sich bei Wolfgang Marx, Das Wortfeld der Gefühlsbegriffe, in: Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie 29 (1982), H. 1, 137–146. Hier wird das sprachliche Inventar der 20, von den Versuchspersonen am häufigsten genannten Gefühlsbegriffe (Liebe, Hass, Trauer, Freude, Angst, Wut, Schmerz, Mitleid, Ekel, Neid usw.) als ein Spiegel der in unserer Kultur ausgebildeten Möglichkeiten und Gewohnheiten unseres Fühlens aufgefasst (ebd., 139ff.). 8. Vgl. z. B. William P. Alston, Emotion and Feeling, in: Encyclopedia of Philosophy, hg. v. Paul Edwards, Bd. II, New York 1967, 479–486; dt. in: Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle, hg. v. G. Kahle, Frankfurt a. M. 1981; s. a. Alston, Feelings, in: The Philosophical Review 78 (1969), 3–34. 9. Vgl. zur Klärung der Begriffe ‚Gefühl‘, ‚Emotion‘, ‚Emphatie‘ und ‚Affekt‘ als ‚Keywords‘ der psychologischen Debatten über die Emotionen z. B. Rainer Krause, Die Gefühle – eine Einführung, in: Zeitschrift für psychosomatische Medizin und Psychoanalyse 42 (1996), 194–204, bes. 197ff. 10. Vgl. Hans Hermsen, Emotion/Gefühl, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. v. Hansjörg Sandkühler in Zusammenarbeit u. a. mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici Napoli, 4 Bde., Hamburg 1990, I, Sp. 661–677, hier: 663b u. 677ab. 11. Hier ist z. B. das Frankfurter Graduiertenkolleg „Psychische Energien bildender Kunst“ zu nennen, das seit 1996 am Kunstgeschichtlichen Institut der J. W. GoetheUniversität Frankfurt a. M. angesiedelt ist. 12. Vgl. M. Kraus, Pathos, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, 6 Bde., Tübingen 1992–2003, Bd. 6, 2003, Sp. 689–703. – Das Wort ‚Leidenschaften‘ ist im Deutschen erstmals 1647 für das vor allem seit dem Mittelalter geläufige ‚passio‘ nachgewiesen. Vgl. Wolfgang Matzat, Leidenschaft, ebd., Sp. 151–164, hier: 151. 13. Vgl. Hermsen [Anm. 10], Sp. 663b. 14. Vgl. P. Schmidt-Sauerhöfer, Gemütsbewegung, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 3, 1974, Sp. 264–267. Zu affectus animi vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica (1739), 7. Aufl. 1779 (Nachdruck Hildesheim 1963), § 678. 15. Vgl. den einer Studie gleichkommenden Artikel von Brigitte Scheer, Gefühl, in: Ästh. Grundbegr. [Anm. 3], Bd. 2, 2001, 629–660. 16. Vgl. Ursula Franke, Günter Oesterle, Gefühl, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 3, 1974, Sp. 82–89.

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17. Vgl. E. Lerch, Passion und Gefühl, in: Archivum romanicum 22 (1938), 320–348, bes. 336f. Vgl. Erich Auerbach, ‚Passio‘ als Leidenschaft, in: Ges. Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern 1967, 161–175. – Zum Umgang des antiken Menschen mit den Affekten und dem Leiden vgl. den Beitrag von Wulf Raeck und zu emotionalen Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters vgl. den Text von Gerd Althoff in diesem Band. 18. Vgl. Wolfhart Henckmann, Gefühl, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, II, 520–536; s. a. den Beitrag von Henckmann über das Verstehen von Gefühlen in diesem Band. 19. Das spezifische philosophische Erkenntnisinteresse, das mit dieser Bestimmung von ‚Gefühl‘ auf einen Begriff gebracht wird, der vom weiten und unspezifischen alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes zu unterscheiden ist, spricht aus der Sicht der Diskurse der Ästhetik gegen eine Übersetzung von emotion durch ‚Gefühl‘ im Unterschied zu feeling (Empfindung), wie sie von Damasio (vgl. Anm. 4, 325ff. und Kap. 7) vorgeschlagen und aus dem Blickwinkel der Physiologie auch plausibel gemacht wird. 20. Vgl. Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993 (mit ausführl. Lit. verz., insbes. auch zur anglo-amerikanischen Forschung seit 1975). Die Herausgeber vermerken ausdrücklich, dass die Rolle von Gefühlen in der Ästhetik ausgespart bleibe, da eine angemessene Berücksichtigung eine eigene Publikation erfordere (vgl. ebd., S. 13, Anm. 21). Die Aufsätze des Sammelbandes behandeln u. a. das Verhältnis von Affektivität und Moral und gehen auf soziale, politische wie auch auf psychoanalytische Aspekte der Affektivität ein. 21. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1378a (zit. nach Aristoteles, Rhetorik, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von G. Sieveke, München 1980, s. a. S. 242, Anm. 47). Zur schillernden Bedeutung des Begriffspaares Lust/Unlust im Wissenschafts- wie im Alltagsverständnis vgl. Otto Kruse, Lust/Unlust, in: Europ. Enzyklop. zu Philosoph. und Wiss. [Anm. 10], Bd. 3, 106–110. 22. Vgl. Quintilian, Institutiones Oratoriae V 10. 17. 23. Vgl. Cicero, De Oratore I 12,53; vgl. Friedrich Solmsen, Aristotle and Cicero on the Orator’s Playing upon the Feelings, in: Classical Philology, Vol. XXXIII (1938), 390– 404; vgl. Marcus H. Wörner, ,Pathos‘ als Überzeugungsmittel der Rhetorik des Aristoteles, in: Craemer-Ruegenberg [Anm. 2], 53–78. 24. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 9, II, 1106b,22ff. Vgl. Klaus Jacobi, Aristoteles über den rechten Umgang mit Gefühlen, in: Craemer-Ruegenberg [Anm. 2], 21– 52. – Jürgen Habermas differenziert im Rückblick auf die Tradition: „Die praktische Vernunft, die […] nicht nur auf das Mögliche und das Zweckmäßige, sondern auf das Gute abzielt, bewegt sich, wenn wir dem klassischen Sprachgebrauch folgen, im Bereich der Ethik.“ Vgl. Jürgen Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, 100–118, hier: 103. 25. Zitiert nach Jakob Lanz, Affekt, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 1, 1971, Sp. 90b; (vgl. Chrysipp, Stoicorum veterum fragmenta III, 386). Vgl. Karl Bormann, Zur stoischen Affektenlehre, in: Craemer-Ruegenberg [Anm. 2], 79–102. 26. Vgl. Lanz, ebd. 27. Vgl. Gottfried Hornig, Perfektibilität, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 7, 1989, Sp. 238ff.; s. a. ders., Perfektibilität, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), 221–257.

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28. Vgl. J. Wisse, Affektenlehre (I), in: Histor. Wörterb. der Rhetorik [Anm. 12], Bd. 1, 1992, Sp. 218–224. 29. Die „Präferenz der Einheit von Gefühl, Denken und Moral“ ist für Agnes Heller ein zugleich „ordnender“ und „organisierender“ Wert, der ihre „Theorie der Gefühle“ (Hamburg 1980) strukturiert (vgl. ebd., 15). In ihrem Beitrag zu diesem Band erörtert Heller im Raster dieser Einheitsstruktur unter dem Gesichtspunkt der Rezeption die Neugruppierung und Neuformung der Emotionen: „The original disconnection of feelings from all the ego-centric emotions of everyday life, as well as their cognitive co-determination and their emotional re-arrangement in reception, happens in the encounter with all kinds of artworks, be they dramas, concertos, statues, buildings, operas, poems or else“ (S. 249), übrigens bezeichnenderweise nicht ohne einleitend ihr Verständnis der Begriffe (emotion, feeling) darzulegen. 30. Zur gegenwärtigen Diskussion der Affekte (z. B. Zorn, Scham, Angst, Furcht) als Selbstgefühle im Grenzbereich von moralischen und nichtmoralischen Schuldgefühlen vgl. Andreas Wildt: Die Moralspezifität von Affekten und der Moralbegriff, in: Fink-Eitel/Lohmann [Anm. 20], 188–217. – Den Wandel der Auffassung, der Bewertung und Physiognomik und auch die soziologischen Aspekte der Scham verfolgt Claudia Schmölders in ihrem Beitrag zu diesem Band. Ausgehend von Descartes wird das Mitleid von Carsten Zelle in seinem Beitrag thematisiert und diese Emotion unter dem modernen Aspekt des Selbstgefühls problematisiert. 31. In seiner Einleitung zu diesem Band unterstreicht Klaus Herding die Bedeutung und Funktion, die der Verwunderung im Sinne des Staunens, des „thaumazein“, also der Überraschung, heute beizumessen sei. Da die für Descartes wie für Aristoteles noch gültige Prämisse, von vornherein zu wissen, was für den Menschen gut sei, heute nicht mehr zutrifft, müsste eigentlich, so Herding, die Überraschung in all unseren Lebensäußerungen viel größer sein als zu seiner Zeit: Jemand handelt, aber wir wissen nicht, was er dabei im Schilde führt. Jemand spricht, aber wir ahnen nicht, ob es Gutem oder Schlechtem dient. Jemand schreit, aber normlos, wie wir sind, wissen wir nicht mehr, ob dies aus Glück oder aus Verzweiflung geschieht. S. a. Karl Albert, Das Staunen als Pathos der Philosophie, in: Craemer-Ruegenberg [Anm. 2], 149–172. 32. Vgl. René Descartes, Die Leidenschaften der Seele (Les passions de l’âme, 1649), hg. und übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984 (Philosophische Bibliothek, Bd. 345) (im Text und in den Anmerkungen zitiert mit Angabe der Artikel).- Die Emotionen werden durch die „Bewegung der Lebensgeister“ (quelque mouvement des esprits) veranlasst, unterstützt und verstärkt (Art. 27). Descartes betrachtet die sogen. ‚Lebensgeister‘ als eine gasförmige Absonderung des Bluts, die sich hauptsächlich im Gehirn vollzieht, vgl. Hammacher, ebd., 330, Anm. 11 (die Orthographie des Französischen wurde weitgehend der heutigen Schreibweise angepasst). Hinsichtlich der von Descartes aufgeworfenen Fragen „Was ist der Mensch“ und „Wie soll er leben“ erscheine ‚passions‘ durch ‚Emotionalität‘ adäquater als durch ‚Leidenschaften‘ oder ‚Gefühle‘ in die Gegenwart übersetzt, betont Paul Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Tübingen 1997, 47. 33. Descartes hat in seinem ‚Compendium Musicae‘ (1618), das bisher selten Gegenstand der musikhistorischen Forschung gewesen ist, die Affektwirkungen, die in den ‚Passions de l’âme‘ ausführlich beschrieben werden, zumindest andeutungsweise mit einbezogen, so dass von einem „cartesianischen musiktheoretischen Ansatz der rezeptiven Subjektivität“ gesprochen werden kann (vgl. Günter Moseler, Descartes’ ‚Compendium Musicae‘ und der Prolog der ‚Platée‘ von J.-Ph. Rameau. Techniken der

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(Selbst-)Beherrschung und Selbst(er)findung, in: Descartes im Diskurs der Neuzeit, hg. v. Wilhelm Friedrich Nebel, Angela Horn und Herbert Schnädelbach, Frankfurt a. M. 2000, 167–185, bes. 170–173). 34. Vgl. Peter Eckhard Knabe, Sentiments, in: Knabe, Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich, Düsseldorf 1972. Vgl. L’ Invention du Sentiment, Ausst.-Kat. Paris, Musée de la Musique, 2002. 35. Zur ästhetischen Attraktivität des Schreckens vgl. Carsten Zelle, Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987. 36. Vgl. Anton Hügli, Mensch, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 5, 1980, Abschn. II, bes. Sp. 1066–1068. 37. Zur Sache vgl. Hans Erich Bödeker, Menschheit, Humanität, Humanismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck, 8 Bände (Stuttgart 1972–1997), Bd. 3 (1982), 1079–1083. 38. Im Vorübergehen sei hier daran erinnert, dass das humanistische Selbstverständnis der Renaissance insbesondere auch die Hochschätzung nachhaltig geprägt hat, die in dieser Epoche den Künsten entgegengebracht wurde, vgl. August Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg/München 1987, bes. 253ff.; s. a. Paul O. Kristeller, Das moderne System der Künste [urspr. englisch 1951–52], in: Kristeller, Humanismus und Renaissance II (Philosophie, Bildung und Kunst), hg. v. Eckhard Keßler, übers. aus dem Englischen von Renate SchweyenOtt, Universitäts-Taschenbuch 915, München o. J. (1975), 164–206. Kristeller erörtert den Zusammenhang, der zwischen der allmählichen Klassifizierung des menschlichen Wissens, der Entstehung der studia humanitatis in der italienischen Frührenaissance und der Herausbildung des Systems der schönen Künste besteht. 39. Vgl. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 2 Bde., Berlin/New York 1998, bes. Bd. 1, 1–79. 40. Vgl. z. B. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, 111–162 u. pass. Vgl. Erika FischerLichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, hg. v. Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, 59–70. 41. Thomas Kirchner verbindet in seinem Beitrag zu diesem Band mit den Aspekten der Werkästhetik und der Rezeptionsästhetik auch den Gesichtspunkt der Produktionsästhetik und thematisiert in diesem Zusammenhang die Gefühle der Künstler, der Produzenten. Zur literaturwissenschaftlich akzentuierten Rezeptionsästhetik vgl. den Sammelband: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, München 1975. 42. Zur Bestimmung der schönen Künste im Zusammenhang mit dem Ausdruck ‚Schöne Wissenschaften‘ auf dem Hintergrund der ‚studia humanitatis‘ vgl. Werner Strube, Die Geschichte des Begriffs ‚Schöne Wissenschaften‘, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 33 (1990), 136–216. 43. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Theile, Leipzig 1771, 1774. In den Zitaten wurde die Orthographie der heutigen angepasst. 44. Vgl. John Passmore, Der vollkommene Mensch – Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1975, 13–30

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u. pass. Passmore zeichnet den Gedanken der Perfektibilität auch im Blick auf das christliche Menschenbild nach und geht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Auffassung vom Menschen in der Antike ein. 45. Vgl. Sulzer [Anm. 43], Leidenschaften, II, 692b–693a, 693b. 46. Ebd., II, 693a. 47. Ebd. 48. Vgl. ebd., II, 693ab. 49. Ebd., II, 693b. 50. Vgl. Sulzer [Anm. 43], Ausdruck, I, 101a. 51. Vgl. ebd., I, 100b–101a. 52. Vgl. ebd., I, 101a. Vgl. Ursula Franke, Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Semiotik. Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hg. v. Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok, 2. Teilband, Berlin/New York 1998, 1232–1262, bes. 1255f. 53. Vgl. Sulzer [Anm. 43], Regeln. Kunstregeln, II, 966b, 970b–971a. 54. Vgl. Thomas Kirchner, L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991, 35f. An Lebrun knüpft auch Johann Jakob Engel für seine weitergehende Beschreibung der „Ausdrucksgebärden“ an, vgl. Ursula Franke, Dramaturgische Typik der Affekte. J. J. Engels Beitrag zur Ästhetik der Schauspielkunst um 1800, in: Sorgfalt des Denkens. Festschrift für Brigitte Scheer, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Siegfried Blasche u. a. in Verbindung mit Josef Früchtl, Würzburg 1995, 136–159, bes.: 145–150. 55. Vgl. den Beitrag von Werner Hofmann in diesem Band. 56. Vgl. Werner Braun, Affekt, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume, 2. neubearb. Ausg., hg. v. Ludwig Finscher, 20 Bde., Kassel u. a./Stuttgart u. a. 1994, Sachteil 1, Sp. 31–41. Braun, der sich übrigens ebenfalls auf Sulzers „Theorie der schönen Künste“ bezieht, hebt hervor, die „klassische Einstellung zum Ausdrucksproblem“ erscheine „seltsam unscharf“ (ebd., 39). 57. Dazu insbesondere die Beitrage von Thomas Kirchner, Helga de la Motte und Jörg Zimmermann in diesem Band. 58. Hierzu der Beitrag von Michael Fried in diesem Band. 59. Zur Problematisierung einer den klassischen Standpunkt aus literaturwissenschaftlicher Sicht überwindenden ästhetischen Theorie, vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, 3–24 u. pass. Dieter Kliche, der die Emotionen ausdrücklich in der Absicht behandelt, die große Bedeutung sichtbar zu machen, die den Emotionen in der „Produktions- und Wirkungsästhetik der ausdrucksstarken Künste Musik und Literatur, aber auch Malerei und Plastik“ zukommt, muss, um der künstlerischen Praxis gerecht werden zu können, z. B. auf die Pathosformel, also auf einen Begriff des kunsttheoretischen Diskurses zurückgreifen, vgl. Kliche [Anm. 3], 684b u. 696b ff. 60. Vgl. Alois Halder, Von der Kunst, von der Wirklichkeit und der Menschlichkeit des Menschen, in: Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer Philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag, hg. v. Heinrich Rombach, Freiburg/Münschen 1966, 156–172.

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61. Vgl. Fritz Graf, Die Humanismen und die Antike. Überlegungen zu einem gespannten Verhältnis, in: 2000 Jahre Humanismus. Der Humanismus als historische Bewegung, hg. v. Frank Geerk, Basel 1998, 11–30, hier: 18. 62. Vgl. Rosemarie Pohlmann, Gefühl, moralisches, in: Histor. Wörterb. der Philos. [Anm. 6], Bd. 3, 1974, Sp. 96–98. Vgl. Scheer [Anm. 15], 634–640; vgl. Amélie Oksenberg Rorty, From Passions to Emotions and Sentiments, in: Philosophy. The Journal of the Royal Institute of Philosophy, Vol. 57 (1982), 159–172. S. a. Astrid von der Lühe, David Humes ästhetische Kritik, Hamburg 1996. 63. Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Craemer-Ruegenberg [Anm. 2], 131–148. Zur Sache s. a. Wolfhart Henckmann, Vernunft und Gefühl, in: Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, hg. v. Christian Bermes, Wolfhart Henckmann und Heinz Leonardy, Würzburg 2003, 9–24. 64. Vgl. Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute. Studien zur Aktualität von Kants Kritik der Urteilskraft, hg. v. Ursula Franke, Hamburg 2000, Einleitung und 1–55 (Diskussion zwischen Jürgen Stolzenberg, Jens Kulenkampff und Christel Fricke). 65. Vgl. z. B. Hannelore Klein, There is no disputing about taste. Untersuchungen zum englischen Geschmacksbegriff im achtzehnten Jahrhundert, Münster 1967. 66. So Brigitte Scheer, die in ihrem Beitrag zu diesem Band „Können Gefühle urteilen?“ nach der Rolle fragt, die „das spezifisch ästhetische Gefühl“ für die Wahrnehmung und Bewertung der Kunst spielt. Vgl. Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, bes. 130–184. 67. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft, Heidelberg 2000, bes. 133–141 und den Beitrag von Wuthenow in diesem Band. 68. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796), 2. verb. Aufl. Königsberg 1800, §§ 78 u. 79 (vgl. Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998, Bd. VI, 605 u. 602). – Das Gefühl oder der Geschmack kann mit HansGeorg Gadamer als ein „humanistischer Leitbegriff“ aufgefasst und ihm eine emanzipatorische Funktion für die Gesellschaft zugesprochen werden, vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), in: ders., Gesammelte Werke, 10 Bde., Tübingen 1999, Bd. 1 (Hermeneutik I), 15–24. 69. Vgl. Birgit Recki, Ästhetik der Sitten, Frankfurt a. M. 2001; in ihrem Beitrag zu diesem Band „Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen“ widmet Recki dem Zusammenhang von Selbstgefühl und dem Gefühl der Teilnahme am Zustand der anderen ihre besondere Aufmerksamkeit. 70. Zur Sache vgl. Luc Ferry, Der Mensch als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie, aus dem Französischen von Petra Braitling, Stuttgart/Weimar 1992, bes. 95–138. 71. Kant, Anthropologie, § 66 u. § 64 (vgl. Kant, Werke [Anm. 68], Bd. VI, 569f. u. 564f.). Vgl. Martin S. Reuber, Kants Begründung der Humanität in der kommunikativen Vernunft, in: Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1999, hg. v. Gerhard Funke, Bonn/Berlin 1991, Bd. II 2, 179–191. 72. Hierzu der Beitrag von Martin Löw-Beer in diesem Band. Zur Fähigkeit „des emotionalen Nachvollzugs der situativen Befindlichkeit eines anderen Menschen“ vgl. Hartmut Böhme, Empathie, in: Europ. Enzyklop. zu Philosoph. und Wiss. [Anm. 10], Bd. 1, 682a-683a.

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73. Vgl. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1965, bes. 171–194. 74. Vgl. Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, 108. 75. Vgl. dazu Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt a. M. 1996, 114–239. 76. Vgl. Ursula Franke, Bildung / Erziehung, ästhetische, in: Ästh. Grundbegr. [Anm. 3], Bd. 1, 2000, 696–727, bes. 718b–726b. – S. a. Doris Schumacher-Chilla, Ästhetische Sozialisation und Erziehung. Zur Kritik an der Reduktion von Sinnlichkeit, Berlin 1995, pass. 77. Vgl. Franke, Bildung [Anm. 76], 702a-703a. – S. a. Jürgen Sprute, Moral sense bei Shaftesbury und Hutcheson, in: Kant-Studien 71 (1980), 221–237. 78. Vgl. Klaus Herding, Humanismus und Primitivismus. Probleme früher Nachkriegskunst in Deutschland, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Bd. 4 (1988), 281–311. 79. Vgl. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortbrief über den Humanismus, in: Neue Wege des Humanismus, hg. v. Frank Geerk, Basel 1999, 273–296, hier: 280, 284, 295. Erstveröffentlichung in der ZEIT, Nr. 37, September 1999, 35. 80. Vgl. Beauty now – Die Schönheit in der Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Hirshhorn-Museum, Washington u. Haus der Kunst, München, Ostfildern 1999. 81. Auf dieser Folie, wie auch im Kontrast dazu, fokussieren Josef Früchtl, Bernhard Stumpfhaus und Lars Spuybroek in ihren Beiträgen zu diesem Band eine veränderte Auffassung der Emotionen, einen veränderten Umgang mit ihnen und deren neue mediale Repräsentation im Kino und in der Werbung. 82. Vgl. Hubertus Gassner, B. Schmidt, Aufkündigung des Schönheitsvertrags in den Künsten, in: schon schön. Schönheit – Ästhetik – Geschmack (Themenheft: Kunst und Kirche 2/2001), 78–83. 83. Vgl. B. Guggenberger, Eine Himmelsmacht? Das Ärgernis Schönheit – eine not-wendige Herausforderung, in: NZZ Folio. Die Zeitschrift der Neuen Züricher Zeitung. Sondernummer Schönheit, 5. Mai 1993. 84. Vgl. Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a. M. 2003. Im Kontext der Biologie, Evolutionstheorie, Psychologie, auch der Primatenforschung, Ethnologie oder Gender-Theorie, wie auch der Rückbindung an die philosophische Ästhetik und ihre Verknüpfung von Wahrnehmung und ästhetischem Urteil werden hier elementare Bestimmungen und Eckdaten der Geschichte des Schönen, auch hypothetisch und humorvoll, behandelt und durchgespielt. 85. Vgl. Wolfgang Ullrich, Kunst/Künste/System der Künste, in: Ästh. Grundbegr. [Anm. 3], 556–616, bes. 556b–571a. 86. Vgl. Justus H. Ulbricht, Über Menschen – Übermenschen, in: Über Menschen, Kolloquium des Kollegs Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen in Zusammenarbeit mit der ACC Galerie und der Stadt Weimar u. a., mit Unterstützung des Programms der Kultur 2000 der Europäischen Union, Weimar 2000, 116–135, hier: 118. 87. Vgl. ebd., 119–121. S. a. Unser Jahrhundert. Menschenbilder – Bilderwelten, hg. v. Marc Scheps, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, München, New York 1995, bes.: Barbara M. Thiemann, Auf der Suche nach der verlorenen Menschlichkeit, 20–33.

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88. Vgl. Plötzlich nicht nur Spiel. Pathos und Emotion in der aktuellen Kunst (Themenheft: Kunst und Kirche 2/2002), bes.: Andreas Mertin, Bohemian Rhapsody, 94–96 und die Gespräche, die Johannes Rauchenberger und Alois Kölbl geführt haben mit Mark Wallinger, mit dem Künstlerpaar Muntean/Rosenblum und mit Edgar Honetschläger, 97–113. – S. a. den Beitrag von Klaus Herding in diesem Band.

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Anmutung – Wirkung – Überwältigung Der Musikschriftsteller Friedrich von Hausegger1 publizierte 1885 eine Schrift, die in Form eines Traktates angelegt ist und den Titel trägt: Die Musik als Ausdruck. Darin befindet sich eine unübliche und doch sehr einleuchtende Analyse der Rachearie der Donna Anna aus Mozarts Don Giovanni. Hausegger kannte Darwins Rudimententheorie der Emotionen, die behauptet, dass Gefühlszustände Rest ursprünglich biologisch sinnvoller Handlungen seien und mit körperlichen Begleiterscheinungen einhergehen, zum Beispiel Zorn mit einer schnelleren Herztätigkeit und einer erhöhten Respiration. Hausegger hatte sich für seine Analyse zusätzlich noch physiologisch-medizinisch kundig gemacht. Donna Anna schwört Rache für den Mord, den Don Giovanni an ihrem Vater verübt hat. Die Musik hat sich den Zorn regelrecht inkorporiert: Der Puls der Musik ist mit 120 recht schnell, öfter als üblich atmet die Sängerin, ein bisschen schrill und von zitterndem Tremolo begleitet. Sängerin und Orchester brauchen nur Mozarts Partitur getreu zu folgen, um den Zustand „Zorn“ erscheinen zu lassen. Gemäß der Stanislawskischen Lehre für Schauspieler spielt die Sängerin den Zorn nicht nur; sie ist durch körperliche Induktion davon affiziert, was auch psychologische Untersuchungen bestätigen. Es ist eine weit verbreitete Idee, dass Musik als Herzenssprache Gefühle ausdrückt, die leicht nachzuvollziehen sind. Gemeint ist damit aber meist nur eine dem Verständnis leicht zugängliche Simulation von Affekten. Auch Hausegger – ein Vertreter der Programmästhetik – hatte eigentlich einen darstellenden inhaltlichen Aspekt von Musik im Sinn, dafür war das gewählte Beispiel hervorragend geeignet. Mozarts Arie der Donna Anna ist teilweise noch der barocken Tradition der Nachahmung von Affekten verpflichtet und nicht dem im 18. Jahrhundert neuen Ausdrucksideal. Solche Nachahmung war in der Programmästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts erneut wie-

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der ein sinnfälliges Mittel, um der Musik einen überzeugenden Inhalt zu geben. Der Wandel zur Vorstellung, Musik sei Ausdruck eines seelischen Inneren, vollzog sich im Aufklärungszeitalter. Abgelöst wurde die Idee einer gestisch malenden Imitation durch die einer musikalischen Repräsentation innerer Gefühle. Dies war mit veränderten Auffassungen über den Ursprung der Musik verbunden. Einen wichtigen theoretischen Bezug bedeuteten Jean-Jacques Rousseaus und Herders (bzw. Forkels) Überlegungen über die Entstehung von Sprache und Musik aus den ursprünglichen, dem Kleinkind schon mitgegebenen, Affektlauten, die in sublimierter Form zur Wortsprache einerseits werden können (als Kommunikationsmittel über die äußere Welt) und zur Musik andererseits als Möglichkeit des Ausdrucks eines Inneren. Im Barockzeitalter hingegen wurde Musik nicht als Ausdruck eines Inneren verstanden, sondern als Möglichkeit zur Nachahmung von Naturerscheinungen begriffen, d.h. auch zur Nachahmung von Gefühlszuständen. Dazu schienen fast natürlich wirkende musikalische Elemente bereitzustehen, signes naturels, wie der Abbé Du Bos 1719 in einer der wichtigsten Schriften zur Nachahmungsästhetik ausführte.2 Mit schnellen Repetitionen oder dem Tremolo wurde bereits seit Monteverdis Tancredi & Clorinda das Zittern im Zorn angezeigt. Sorgen, Klagen, Zagen ging nicht nur bei Johann Sebastian Bach mit dem fallenden Tonfall des Seufzens eine Verbindung ein. Diese Indikatoren verschwanden später nicht. Aber die Versuche einer Elementarlehre wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Skepsis bedacht. Im empfindsamen Zeitalter glaubte man, dass der Komponist unmittelbar seine Seele in Tönen auszuhauchen habe. Dem Interpreten fremder Stücke wurde die Kunst des „Verstellens“ zugebilligt, wie Johann Joachim Quantz 1752 in seiner berühmten Flötenschule3 meinte, und zwar im Unterschied zu den sonstigen Höflingen – als legitime Verstellungskunst. Carl Philipp Emanuel Bach allerdings forderte ein Jahr später vom Interpreten4, dass er nicht nur so zu wirken habe, als ob er aus der Seele spiele, sondern sich in die Affekte der Musik hineinsteigern müsse. Die Auffassung vom unmittelbaren Gefühlslaut änderte sich bald dahingehend, dass hinter der Musik ein transpersonales Subjekt vermutet wurde, das mit erschütternden Wirkungen zum Zuhörer spreche; vorausgesetzt wurde eine prophetisch visionäre Gabe des Komponisten. Beethoven entsprach bereits voll und ganz diesen Vorstellungen einer göttlichen Inspiration. Die der Musik abverlangte Expressivität führte sowohl zur Differenzierung auf der Ebene des Tonsatzes, als

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auch auf derjenigen der Darstellungsmittel. Artikulation, Dynamik und die agogischen Vorschriften wurden immer stärker verfeinert. Crescendo und Diminuendo hielten Einzug in die Instrumentalmusik. Wovon die Musik sprach, war auf Seiten des Hörers an Erbauungen und Erschütterungen spürbar, die er im Auf und Ab der emotionalen Wogen der Musik erlebte. Aber es war begrifflich schwer zu fassen, hatte man doch nicht mehr wie zu Zeiten des barocken Docere, Movere und Delectare im Wort einen Bezug für eine Deutung. Unbestimmt im Sinne begrifflicher Benennung, aber doch fühlbar im Nachvollzug, drückte sich in der Instrumentalmusik etwas Absolutes aus. Sie wurde zur Sprache über der Sprache, vermittelte sie doch zusammen mit ihrer Struktur, die logisch und grammatikalisch wirkte, etwas, das die Anmutung und Ahnung des Ungeheuren und Unendlichen weckte. Eine reiche Metaphorik wurde zur Beschreibung notwendig. Jene weltgeschichtlich einmalige Steigerung der Musik zur Sprache des Inneren, die nur den kurzen Zeitraum von 1750 bis 1910 betrifft, verhält sich recht sperrig gegenüber der gegenwärtigen an Form und Struktur orientierten Konzeption von Musikwissenschaft, die einer Wahrnehmungs- und Wirkungsanalyse mit äußerster Skepsis begegnet. Ein Sprechen über die Wirkungen ist meist nur den an Laien gerichteten Texten in Programmheften vorbehalten. Dennoch hat sich der Wirkung halber ein so reiches Musikleben entfaltet, wie wir es heute kennen. Was an der Musik als Ausdruck und Expression, als Pathos, Affekt und Gefühl empfunden wurde und empfunden wird, lässt sich psychologisch und historisch differenzieren in Anmutung, Wirkung und Überwältigung. Das Ausmaß an Ich-Beteiligung (an Ego-Involvement) des Hörers ist dabei verschieden groß. Dies wird schon deutlich bei der Wahrnehmung physiognomischer Qualitäten, denen der erste der folgenden 3 Abschnitte gewidmet ist.

1. Anmutungen und physiognomische Qualitäten als mögliche Grundlage des musikalischen Ausdrucks Es handelt sich um Synonyme für empfundene emotionale Qualitäten oder semantische Konnotationen. Sie haften an allen Dingen und Phänomenen und lassen uns diese als lieblich, angenehm, sanft, bedrohlich, als mächtig oder erschreckend usw. erscheinen. Ihr Anteil an den Bedeutungen von Informationen ist groß. Speziell für das Zustandekommen von Lautsymbolik wurden sowohl lerntheoretische Erklärungen

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als auch Hypothesen über anthropologische Universalien herangezogen. Ein großes Volumen ruft z. B. eher mächtige Töne hervor. Zusammenhänge zwischen dem Klang von Stimmen und affektiven Situationen könnten ebenfalls gelernt sein. Dagegen steht die wichtige entwicklungspsychologische Annahme, dass die Wahrnehmung beim Kleinkind weitgehend noch ohne eine distanzierende Subjekt-Objekt-Trennung verläuft, – in einer älteren Terminologie ausgedrückt, gefühlsganzheitlich ist, das heißt, dass jede Wahrnehmung automatisch an eine affektive Erfahrung gebunden ist. Mit dieser Theorie lässt sich auch gut erklären, warum wir bei einer entwickelten Objektwahrnehmung ohne große emotionale Beteiligung noch Konnotate identifizieren können. Sie haften seit der Kindheit ohnehin an Ereignissen, auch solchen, die uns als Erwachsene nicht mehr intensiv berühren. Die Entwicklungspsychologie hat den fundamentalen Wahrnehmungsprozess als ähnlich bedeutungshaltig leibnahe beschrieben, wie man heute mit dem Atmosphärenbegriff versucht, die Grundlagen der ästhetischen Wahrnehmung zu bestimmen. Zum ersten Mal taucht übrigens dieser Atmosphärenbegriff bei Umberto Boccioni 1912 in seinem Manifest zur futuristischen Malerei auf. Boccioni ist auch den Musikern durch sein berühmtes Portrait von Ferruccio Busoni gut bekannt. Beim Hören spielen Anmutungen eine große Rolle. Das Ohr ist zwar wie das Auge ein Fernsinn, aber akustische Ereignisse werden immer ins Verhältnis zum subjektiven Standort gesetzt. Diese starke emotionale Beteiligung rückt das Hören in den Bereich der Nahsinne. Vor allem die Berührbarkeit bei der zwischenmenschlichen Kommunikation spielt im Bereich der Musik eine Rolle. Es ist überraschend festzustellen, dass die Intonation von Sprache beim Ausdruck von Freude, Furcht, Trauer, Zorn, Zufriedenheit und Ungewissheit, d.h. beim Ausdruck von Grundgefühlen, im Hinblick auf das Tempo, die Lage, die Frequenzbreite, die Lautstärke eine große Ähnlichkeit mit melodisch musikalischen Gestalten besitzt. Zwar singen wir nicht so schön im Zorn wie Donna Anna, aber unser zackiger, schneller Stimmverlauf ist doch ähnlich. Freude beim Sprechen geht – wie in der Musik – mit Intervallsprüngen und etwas Lautstärke einher. Die Trauer ist leise und mit einem fallenden Gestus verbunden. Vielleicht hatten Rousseau und Herder recht mit der Annahme einer gemeinsamen Wurzel von Sprache und Musik im Affektlaut. Hinzuweisen wäre auch darauf, dass eine elementare EindrucksAusdrucks-Verschränkung existieren könnte, die dem Verstehen zugrunde liegt. Sie ist begründet in der ursprünglichen Einheit von Ereig-

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nissen und emotionaler Anmutung. Ein sehr schönes Beispiel für diese direkte Eindrucks-Ausdrucksverschränkung findet sich in den Briefen eines aufmerksamen Reisenden von Friedrich Reichardt, einem Zeitgenossen von Goethe, im Zusammenhang mit der dynamischen Intensivierung von aufsteigenden und absteigenden musikalischen Emotionen. Er schreibt: „Dass Jomelli (italienischer Komponist) als erster das Crescendo angewandt habe und sich die Zuhörer dabei allmählich von den Sitzen erhoben und beim Diminuendo wieder Luft geschöpft und bemerkt hätten, dass ihnen der Atem ausgeblieben wäre und diese Wirkung habe er an sich selbst empfunden“.5 Anmutungen betreffen Basisprozesse des Erlebens. Wenn die körperlichen Vorgänge so stark sind, wie dies einmal bei dem Crescendo der Fall gewesen war, ist die Ich-Beteiligung sehr groß. Eine regelrecht mitreißende Wirkung entsteht. Anmutungen können aber durchaus „blass und farblos“ sein (wie William James gesagt hätte) und nur als Zusatzqualitäten als überindividueller affektiver Ausdruck bzw. Konnotation an einem Objekt oder Vorgang erlebt werden; d.h. sie können ohne körperlichen Einbezug, ganz distanziert, wahrgenommen werden. Die doppelte Bestimmung menschlicher Gefühle als kognitive Bewertung einerseits und körperliche Reaktion andererseits (Atem, Puls, wie bei Donna Anna, können schneller werden) lässt eine breite Palette an Differenzierungen zu. Gleich ob objektiviert oder als subjektiver Einbezug erlebt, erklären jedoch Anmutungen bzw. physiognomische Qualitäten (weil es sich um Basisprozesse handelt), dass Musik als Gefühlsausdruck verstehbar ist und dabei den Charakter einer Weltsprache annehmen konnte, zeitweilig!

2. Wirkungen Eine Ich-Beteiligung zu erzielen war zu verschiedenen Zeiten verschieden motiviert. Solange die Kunst nur die Natur nachzuahmen hatte, daran Freude zu wecken und zum Lob Gottes zu dienen hatte, sprach der Komponist quasi von Mensch zu Mensch. Sein Talent zeichnete ihn zwar vor anderen aus, so dass er belehren, bewegen und erfreuen konnte. Aber sein Genie war noch nicht dazu gedacht, etwas hervorzubringen, wozu sich keine bestimmten Regeln geben lassen, es war nicht zum Unaussprechlichen befähigt. Die ältere Wirkungsästhetik setzt eine Kunst voraus, bei der Schönes zugleich nützlich ist, besser zu sagen, dass Nützliches schön zu sein

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hatte. Kunst war damit funktional bestimmt, die Musik hatte zu unterhalten oder gar zum Tanz zu stimulieren. Sie hatte im religiösen Kontext moralische Aufgaben zu erfüllen. Im 20. Jahrhundert haben Komponisten erneut manchmal versucht, eine wirksame und zugleich lebensdienliche Musik zu schreiben. Meistens aber blieben die Auftraggeber aus; die Vorstellung, Musik sei nützlich, hatte sich aufgelöst. Die im 18. Jahrhundert erfolgte Emanzipation der Kunst aus den fürstlichen und kirchlichen Diensten machte die Kunst, und dabei vor allem die Musik, zu einem für sich selbst bestehenden Ganzen, das, wie angedeutet, im aufklärerischen Prozess der Säkularisierung mehr und mehr die Aufgabe übernahm, eine quasi religiöse Weltdeutung zu offenbaren. Die Frühromantiker umschrieben die Rezeption von Kunst mit dem Wort Andacht. Diese schwärmerischen Äußerungen der 1790er Jahre beschworen ein Heraustreten aus der miserablen Welt, einen Zustand wie in einer Kirche oder einem Heiligtum. Aber (ein nachdrücklich zu betonendes Aber): Werk und Rezipient stehen sich in dieser Zeit noch gegenüber. Nur starke unabschließbare Reflexion, Konzentration sind gefordert. Die ästhetische Idee veranlasst, wie Kant trocken formulierte: „viel zu denken, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann“.6 Solch „aktive Rezeption“ schafft bereits Ich-Beteiligung. Sie setzt Wissen und Anstrengungsbereitschaft voraus. Aber sie löscht nicht die Subjekt-Objekt-Differenz. Sie geht nicht mit einer regelrechten Identifikation einher. Eine ganz andere Form der Ich-Beteiligung wurde jedoch verlangt, nachdem Schellings Idee, dass die Kunst das Allerheiligste öffne, Anerkennung fand. Für Kunst als regelrechte Offenbarung war eine konzentrierte kognitive Rezeption nicht mehr angemessen, sondern nur eine passive Hingabe. Noch die Einfühlungstheorie (1905) von Theodor Lipps, die den Prozess ästhetischer Aneignung beschreibt, zehrt von der Schopenhauerschen Tilgung des subjektiven Bewusstseins durch das Eintauchen in eine künstlerische Idee, das mit Überwältigungserlebnissen einhergehen konnte. Möglicherweise unter dem Eindruck der sehr bekannten Schriften von Theodor Lipps7 kommt es jedoch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer noch nicht hinreichend aufgearbeiteten Verschmelzung der die Wirkung reflektierenden und der eher emotionaleinfühlenden Haltung. Dies ist im Denken und in der hingebungsvollen Praxis des Pfeifens von Musik bei Ludwig Wittgenstein der Fall.8 Dabei wird das, von dem man im 18. und 19. Jahrhundert glaubte, dass es sich offenbarend in einem Sagen ausdrückt, zum Gegensatz vom Sagen, nämlich zum Zeigen. Es zeigt sich in der Musik das Unaussprech-

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liche als Grenzerfahrung des Denkens. Obwohl Wittgenstein einen sehr konservativen Musikgeschmack besaß, wurde damit ein wichtiger neuer Begriff für die Ästhetik des 20. Jahrhunderts geschaffen.

3. Überwältigung Bleiben wir aber bei dem Erlösungsanspruch, der an die Kunst herangetragen wurde. Er verband sich fast zwangsläufig mit einem 3. Aspekt: der Überwältigungsästhetik. Sie drängte jedoch die Auffassung einer reflexiv-kognitiven Rezeptionshaltung des distanzierten Identifizierens von musikalischem Ausdruck nie völlig zurück. Sie geriet vielmehr damit in Konkurrenz. Im Bereich der Musik im 19. Jahrhundert kam es zu einem regelrechten Kunstkampf. Pathologische Gefühlswirkungen wurden von Eduard Hanslick, dem einflussreichen Wiener Kritiker, heftig gegeißelt. Sein bis zum heutigen Tag viel gelesenes Büchlein Vom musikalisch Schönen (1854) war vor allem gegen Wagner gerichtet, der seinerseits in den Meistersingern Hanslick mit der Figur des Beckmessers karikierte. Wagners Ideen wiederum konvergierten mit Schopenhauers Auffassungen. Dies ging mit einer Verabschiedung der Konzeption, Musik sei subjektiver Empfindungslaut oder Ausdruck eines fremd-seelischen Inneren einher. An deren Stelle tritt der Aufruhr der eigenen Gefühle des Hörers. Die Musik ist nach Schopenhauer fähig, alle Regungen unseres Wesens abstrakt wiederzugeben. Die Musik ist damit nicht mehr als subjektiver Empfindungslaut zu verstehen. Sie ist ein Abbild des Willens jener energetischen Bewegung, die, als metaphysische Instanz gedacht, der Welt zugrunde liegt und vom Einzelsubjekt unabhängig ist. Diese Annahme der Repräsentation eines Weltprinzips im Bewegungsvorgang der Musik machte es für Wagner nach und nach unmöglich, Musik als sprachanalogen Ausdruck eines Subjekts aufzufassen. Aufhebung von Individualität war die Voraussetzung, um Identität mit dem Urgrund des Daseins zu verspüren und damit Erlösung von den widerstrebenden Impulsen, die die Ausformung des Willens in das reale Dasein mit sich brachte. Die Idee des Sich-Verlierens, des Vergessens aller Individualität führte bei Wagner zu einer Wirkungsästhetik, mit der letztlich intendiert war, die kognitiven Aktivitäten des Rezipienten zu überwältigen. Die Kompositionstechniken Wagners, die seine Musik zum Inbegriff eines unendlichen Bewegungspotentials machen, sind

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vielfach beschrieben und analysiert worden. Die unendliche Melodie missachtet das Bedürfnis des Hörers nach überschaubaren Abschnitten. Klangfarbengewebe und Scheinpolyphonie setzen aktives Hören außer Kraft. Die „Beschwörung der Mythologie“ und „Demagogie des Gefühls“, die Theodor W. Adorno Wagner vorgeworfen hat9, wird durch eine Musik bewirkt, die die Fassbarkeit von Wahrnehmung und Gedächtnis übersteigt, stattdessen Hingabe an wechselnde Zustände verlangt. Ein Bewusstsein dafür wecken allerdings die Wiederholungen der Leitmotive. Sie suggerieren Überblick, Wiedererkennbarkeit und lassen die Überforderung und Überwältigung des kognitiven Apparats noch stärker spürbar werden. Die mächtigen Wirkungen der Musik, die in biblischen und antiken Zeiten Stadtmauern erschütterten, haben die Jahrhunderte überdauert. Mit dem Lautsprecher und steigenden Dezibelwerten sind auch Formen für eine regelrecht körperliche Überwältigung entstanden. Die Musikindustrie macht damit gute Gewinne. Weiter ausgestaltet in der Neuen Musik wurden jedoch jene von Wagner vielleicht zuerst verwendeten Techniken, die das kognitive Fassungsvermögen übersteigen. Sehr bewusst ist dies bei Olivier Messiaen geschehen, und zwar aus einem religiös-weltanschaulichen Bedürfnis heraus. Intendiert ist ein musikalisches Eblouissement, eine Blendung wie durch gleißendes Licht, die zum Eindruck einer mystischen Erkenntnis führen soll. In den Trois petites liturgies de la présence divine, deren Text vom Komponisten stammt, ist im dritten Satz eine Farbvision komponiert: Violettgelb, Vision, weiße Segel, orange-blaue Subtilität, Kraft und Freude, azurne Pfeile, das Grün unserer Liebe. Die ganze Passage endet mit dem Wort Klarheit. Die Zuordnung der Farben ist nicht gemäß der Goetheschen Lehre, sondern im Hinblick auf die Theorien von Michel Eugène Chevreul und Robert Delaunay komplementär. Je zwei Farben ergeben in der Musik von Messiaen das chromatische Total. In sich ist die Stelle durch Ostinati verschiedener rhythmischer Faktur in vier Schichten aufgeteilt, die zusätzlich durch die Klangfarbe und auch die Intervallfarbe differenziert werden. Ein Zustand ohne Zäsuren ist komponiert, der sich trotz des Streichertremolo nicht zu einer einzigen Farbe mischt, sondern ständig neuartig schillert und changiert. Den Gesamtvorgang kann der Hörer, obwohl Symmetrien vorhanden sind, nicht auf einmal fassen; der Hörer wird in ein irisierendes Spiel hineingezogen, in den der Text mit seinen vielen Repetitionen leise hineingestammelt ist. Er verweist auch darauf, dass es eigentlich keine Sprache und keine benennenden Worte mehr gibt.

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Nicht nur diese Farbvision ist als Eblouissement (vergleichbar dem Eindruck gotischer Kirchenfenster) mehr auf passives Erleben gerichtet, auf ein Hingerissensein, das dem Hörer nur erlaubt, sein Staunen festzustellen. Die Musik von Messiaen setzt, von ganz wenigen Stücken abgesehen, die um 1950 entstanden sind, grundsätzlich keine distanzierte kognitive Informationsverarbeitung voraus, bei der emotionale Anmutungen als objektive, disjunkte Charaktere identifiziert werden könnten. Sie will stattdessen den Hörer bannen. Er soll selbstvergessen sich in der Musik verlieren. Bei Messiaen finden sich Spielvorschriften wie „mit einer delirierenden Freude“, die auch dem Musiker eine maximale Identifikation und nicht bloße Darstellung vorschreiben. Wagner und Messiaen trennt nicht nur fast ein Zeitraum von 100 Jahren. Zwischen ihnen liegen kulturelle Welten. Dennoch scheint mir zweifellos, dass sie eine wirkungsästhetische Position eint. Sie ist bestimmt von kompositionstechnischen Mitteln, die zwar nicht stilistisch vergleichbar, aber auf einer abstrakteren Ebene formal ähnlich sind. Ecken und Kanten, Zäsuren im Klangfluss werden vermieden. Hierarchien im Tonsatz sind nur stellenweise zu finden. Was wiederkehrt und den Eindruck der Erkennbarkeit vermittelt, dient dazu, das Sich-Einlassen auf Musik zu intensivieren, zugleich abzurücken von der nur passiven Berieselung, weil die Anstrengung des erinnernden Identifizierens doch stimuliert wird. All diese Merkmale finden sich auch in der Musik von Morton Feldman, und zwar vor allem in den überlangen Stücken seines Spätwerks. Im kontinuierlich sich ändernden Klangfluss nähren nicht nur die direkten Wiederholungen, ähnlich wie Wagners Leitmotive, im Hörer die Hoffnung, er könne die Musik damit seinem kategorialen System fassbar machen, obwohl sie ihm das Erlebnis des Unfassbaren vermittelt. Die Erinnerungsbruchstücke schärfen nur das Bewusstsein, dass das Erkennen eines festgefügten Baus verwehrt ist. Feldman hat im Zusammenhang mit seinem Stück Triadic Memories von einer religiösen Erfahrung gesprochen, damit auch eine Selbsterfahrung angesprochen, die er zuweilen als abstrakt bezeichnete. Unabhängig von den persönlichen ideologischen oder religiösen Überzeugungen von Komponisten sollte man die letztgenannten Beispiele nicht als Sprache der Gefühle missverstehen. Sie sind nicht als emotionale oder physiognomische Qualitäten einem distanzierten Verstehen zugänglich. Sie setzen stattdessen maximale Ich-Beteiligung voraus, die durch Überforderung der kognitiven Informationsverarbeitung hervorgerufen werden soll. Indem die Leistungsfähigkeit der Wahrnehmung überschritten wird, soll der Rezipient von einer Situa-

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tion überwältigt werden, die zur Stimulation aller Ressourcen der Aufmerksamkeit führt und darüber hinausführen soll. Eine Konzentration kann entstehen, die bis zur Überwindung der Ich-Grenze führt. Ein Zustand von Flow entsteht. Dort gibt es keine Sprache und benennenden Worte mehr, aber es wird musikalisch hingezeigt und vielleicht auch für Momente gezeigt, dass es Bedingungen unserer Wirklichkeit gibt, die mit der Logik der raumzeitlichen Anschauung, dem reflexivbegrifflichen Bewusstsein sowie dem distanziert interpretierenden Verstehen von Gefühlen und Affekten nicht fassbar sind. Reiht man noch einmal die Begriffe Anmutung, Wirkung, Überwältigung nebeneinander, so erweist sich der Begriff Anmutung als ästhetisch unspezifisch. Denn alle Objekte und Ereignisse unserer Umwelt sind mit Anmutungen verbunden. Aber zum Verständnis des musikalischen Ausdrucks sind sie auch unerlässliche Voraussetzungen. Musikalische Wirkungen sind zu allen Zeiten möglich. In ihnen spiegelt sich Ich-Beteiligung. Ein musikalischer Ausdruck kann umso stärker erlebt werden, je massiver der Hörer involviert ist. Überwältigungen setzen die Musik-Hörer-Distanz, die Subjekt-Objekt-Relation der Wahrnehmung außer Kraft. Ein Ausdruck oder ein Empfindungslaut wird dann nicht mehr identifiziert, wohl aber Selbstbefindlichkeit. Im Aufruhr der Gefühle kann es möglich werden, der Grenzen der eigenen Wahrnehmung ansichtig zu werden.

Anmerkungen 1. Friedrich von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, Wien 1885. 2. Jean-Baptiste Du Bos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719), 3 Bde, 7. Aufl., Paris 1770, Bd. 2, 21 f. 3. Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiève zu spielen, Berlin 1752, Reprint Kassel 1992, XVII. Hauptstück, § 17, 248. 4. Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753, Reprint Berlin 1957, § 13, 122. 5. Johann Friedrich Reichardt, Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend, 2 Teile, Frankfurt a. M./Leipzig 1774–76, Teil 1, 11. 6. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1995, § 49, S. 249. 7. Theodor Lipps, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bde, Hamburg/ Leipzig 1903–06. 8. Martin Alber, Wittgenstein und die Musik, Innsbruck 2000. 9. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner, München 1964, 14.

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Variations of Liebestod. Tristan, Turandot, Salome With Romanticism, music changes its role: it is no longer a mere accompaniment of the message delivered in speech, it contains/renders a message of its own, ‘deeper’ than the one delivered in words. It was Rousseau who first clearly articulated this expressive potential of music as such, when he claimed that, instead of merely imitating the affective features of verbal speech, music should be given the right to “speak for itself” – in contrast to the deceiving verbal speech, in music, it is, to paraphrase Lacan, the truth itself which speaks. As Schopenhauer put it, music directly enacts/renders the noumenal Will, while speech remains limited to the level of phenomenal representation. Music is the substance which renders the true heart of the subject, which is what Hegel called the “Night of the World,” the abyss of radical negativity: music becomes the bearer of the true message beyond words with the shift from the Enlightenment subject of rational logos to the Romantic subject of the “night of the world,” i. e., with the shift of the metaphor for the kernel of the subject from Day to Night. Here we encounter the Uncanny: no longer the external transcendence, but, following Kant’s transcendental turn, the excess of the Night in the very heart of the subject (the dimension of the Undead), what Tomlison called the “internal otherworldliness that marks the Kantian subject.”1 What music renders is no longer the “semantics of the soul,” but the underlying “noumenal” flux of jouissance beyond the linguistic meaningfulness. This noumenal is radically different from the pre-Kantian transcendent divine Truth: it is the inaccessible excess which forms the very core of the subject. In the history of opera, this sublime excess of life is discernible in two main versions, Italian and German, Rossini and Wagner – so, maybe, although they are the great opposites, Wagner’s surprising private sympathy for Rossini, as well as their friendly meeting in Paris, do bear witness to a deeper affinity. Rossini’s great male portraits, the

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three from Barbiere (Figaro’s “Largo il factotum,” Basilio’s “Calumnia,” and Bartolo’s “Un dottor della mia sorte”), plus the father’s wishful self-portrait of corruption in Cenerentola, enact a mocked selfcomplaint, where one imagines oneself in a desired position, being bombarded by demands for a favor or service. The subject twice shifts his position: first, he assumes the roles of those who address him, enacting the overwhelming multitude of demands which bombard him; then, he feigns a reaction to it, the state of deep satisfaction in being overwhelmed by demands one cannot fulfill. Let us take the father in Cenerentola: he imagines how, when one of his daughters will be married to the Prince, people will turn to him, offering him bribes for a service at the court, and he will react to it first with cunning deliberation, then with fake despair at being bombarded with too many requests… The culminating moment of the archetypal Rossini aria is this unique moment of happiness, of the full assertion of the excess of Life which occurs when the subject is overwhelmed by demands, no longer being able to deal with them. At the highpoint of his “factotum” aria, Figaro exclaims: “What a crowd /of the people bombarding me with their demands/ – have mercy, one after the other /uno per volta, per carità/!”, referring therewith to the Kantian experience of the Sublime, in which the subject is bombarded with an excess of the data that he is unable to comprehend. The basic economy is here obsessional: the object of the hero’s desire is the other’s demand. This excess is the proper counterpoint to the Wagnerian Sublime, to the “höchste Lust” of the immersion into the Void that concludes Tristan. This opposition of the Rossinian and of the Wagnerian Sublime perfectly fits the Kantian opposition between the mathematical and the dynamic Sublime: as we have just seen, the Rossinian Sublime is mathematical, it enacts the inability of the subject to comprehend the pure quantity of the demands that overflow him, while the Wagnerian Sublime is dynamic, it enacts the concentrated overpowering force of the ONE demand, the unconditional demand of love. One can also say that the Wagnerian Sublime is the absolute Emotion – this is how one should read the famous first sentence of Wagner’s “Religion and Art,” where he claims that, when religion becomes artificial, art can save the true spirit of religion, its hidden truth – how? Precisely by abandoning the dogma and rendering only the authentic religious emotion, i. e., by transforming religion into the ultimate aesthetic experience. (And the paradox of Parsifal is that it turns Tristan around: the intimate metaphysical experience is again forcefully externalized, turned into, pre-

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cisely, ritual – the highpoint of Parsifal are undoubtedly the two Grail rituals). Nietzsche was right in conceiving Meistersinger as complementary to Tristan: if we are to survive in the everyday world of social reality, one has to renounce the absolute claim of love, which is precisely what Hans Sachs does, thereby enabling the only semblance of a happy end in Wagner. By adding to this list Parsifal, one obtains three versions of the redemption which follow the logic of the Kierkegaardian triad of the Aesthetic, the Ethical and the Religious. In all these three Kierkegaardian “stages”, the same sacrificial gesture is at work, each time in a different “power/potential” (in Schelling’s sense of the term). The religious sacrifice is a matter of course (suffice it to recall Abraham’s readiness to sacrifice Isaac, Kierkegaard’s supreme example), so we should concentrate on the renunciation that pertains to the “ethical” and the “aesthetic”: The ethical stage is defined by the sacrifice of the immediate consumption of life, of our yielding to the fleeting moment, in the name of some higher universal norm. In the domain of erotics, one of the most refined examples of this renunciation is provided by Mozart’s Cosi fan tutte. If his Don Giovanni embodies the Aesthetic (as was developed by Kierkegaard himself in his detailed analysis of the opera in Either/ Or), the lesson of Cosi fan tutte is ethical – why? The point of Cosi is that the love that unites the two couples at the beginning of the opera is no less “artificial”, mechanically brought about, than the second falling in love of the sisters with the exchanged partners dressed up as Albanian officers that results from the manipulations of the philosopher Alfonso – in both cases, we are dealing with a mechanism that the subjects follow in a blind, puppet-like way. Therein consists the Hegelian “negation of negation”: first, we perceive the “artificial” love, the product of Alfonso’s manipulations, as opposed to the initial “authentic” love; then, all of a sudden, we become aware that there is actually no difference between the two – the original love is no less “artificial” than the second. So, since one love counts as much as the other, the couples can return to their initial marital arrangement. This is what Hegel has in mind when he claims that, in the course of a dialectical process, the immediate starting point proves itself to be something already-mediated, i. e. its own self-negation: in the end, we ascertain that we always-already were what we wanted to become, the only difference being that this “always-already” changes its modality from In-itself into For-itself. Ethical is in this sense the domain of repetition qua symbolic: if, in the Aesthetic, one endeavors to capture the moment in its uniqueness,

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in the Ethical a thing only becomes what it is through its repetition. In the aesthetic stage, the seducer works on an innocent girl whom he considers worthy of his efforts, but at a crucial moment, just prior to his triumph, i. e. when for all practical purposes her surrender is already won and the fruits of his labor have only to be reaped, he has not only to renounce the realization of the sexual act but, over and above, to induce her to drop him (by putting on the mask of a despicable person and thus arousing her disgust). Why this renunciation? The realization of the process of seduction in the sexual act renders visible the goal the seducer was striving at in all its transiency and vulgarity, so the only way to avoid this horror of radical “desublimation” is to stop short of it, thereby keeping awake the dream of what might have happened – by losing his love in time, the seducer gains her for eternity. One must be careful here not to miss the point: the “desublimation” one tries to avoid by renouncing the act does not reside in the experience of how realization always falls short of the Ideal we were striving for, i. e. of the gap that forever separates the Ideal from its realization; in it, it is rather the Ideal itself that loses its power, that changes into repugnant slime – the Ideal is, as it were, undermined “from within”, when we approach it too closely, it changes into its opposite. In all three “stages”, the same gesture of sacrifice is thus at work in a different “power/potential”: what shifts from the one to the other is the locus of impossibility. That is to say, one is tempted to claim that the triad Aesthetic-Ethical-Religious provides the matrix for the three versions of the impossibility of sexual relationship. What one would expect here is that, with the “progression” (or rather leap) from one to the next stage, the pressure of prohibition and/or impossibility gets stronger: in the Aesthetic, one is free to “seize the day”, to yield to enjoyment without any restraints; in the Ethical, enjoyment is admitted, but on condition that it remains within the confines of the Law (marriage), i. e. in an aseptic, “gentrified” form that suspends its fatal charm; in the Religious, finally, there is no enjoyment, just the most radical, “irrational” renunciation for which we get nothing in return (Abraham’s readiness to sacrifice Isaac). However, this clear picture of progressive renunciation immediately gets blurred by the uncanny resemblance, noticed by many a sagacious commentator, between Abraham’s sacrifice of Isaac (which, of course, belongs to the Religious) and Kierkegaard’s own renunciation to Regina (which belongs to the aesthetic dialectics of seduction). On a closer look, one can thus ascertain that, contrary to our expectations, the prohibition (or rather inhibition)

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loosens with the leap from one to the next stage: in the Aesthetic, the object is completely lost, beyond our reach, due to the inherent instability of this level (in the very gesture of our trying to lay our hands on the fleeting moment of pleasure, it slips between our fingers; in the Ethical, enjoyment is already rendered possible in a stable, regular form via the mediation of the Law; and, finally, in the Religious… what is the religious mode of erotic, if its aesthetical mode is seduction and its ethical mode marriage? Is it at all meaningful to speak of a religious mode of erotics in the precise Kierkegaardian sense of the term? The point of Lacan is that this, precisely, is the role of courtly love: the Lady in courtly love suspends the ethical level of universal symbolic obligations and bombards us with totally arbitrary ordeals in a way which is homologous to the religious suspension of the Ethical; her ordeals are on a par with God’s ordering Abraham to slaughter his son Isaac. And, contrarily to the first appearance that sacrifice reaches here its apogee, it is only here that, finally, we confront the Other qua Thing that gives body to the excess of enjoyment over mere pleasure. If the aesthetical endeavors to seize the full moment end in fiasco and utter loss, paradoxically, the religious renunciation, the elevation of the Lady into an untouchable and unattainable object, leads to the trance of enjoyment that transgresses the limits of Law. And is not this extreme point at which radical ascetic renunciation paradoxically coincides with the most intense erotic fulfillment, the very topic of Wagner’s Tristan? One can also see why Nietzsche was right in claiming that Parsifal is Wagner’s most decadent work and the antithesis to Tristan. In Parsifal, the normal, everyday life totally disappears as a point of reference – what remains is the opposition between the hysterically overexcited chromatics and the asexual purity, the ultimate denial of passion. Parsifal thus offers a kind of spectral decomposition of Tristan: in it, the immortal longing of the two lovers, sexualized and simultaneously spiritualized to extremes, is decomposed into its two constituents, sexual chromatic excitation and the spiritual purity beyond the cycle of life. Amfortas and Parsifal, the suffering king who cannot die and the innocent “pure fool” beyond desire, are the two ingredients which, when brought together, give us Tristan. We can see, now, in what precise sense Tristan embodies the aesthetic solution: refusing to compromise one’s desire, one goes to the end and willingly embraces death. Meistersinger counters it with the ethical solution: the true redemption resides not in following the immortal passion to its self-destructive conclusion; one should rather learn to over-

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come it via creative sublimation and to return, in a mood of wise resignation, to the “daily” life of symbolic obligations. In Parsifal, finally, the passion can no longer be overcome via its reintegration to society in which it survives in a gentrified form: one has to deny it thoroughly in the ecstatic assertion of the religious jouissance. The triad Tristan-Meistersinger-Parsifal thus follows a precise logic: Meistersinger and Tristan render the two opposite versions of the Oedipal matrix, within which Meistersinger inverts Tristan (the son steals the woman from the paternal figure; the passion breaks out between the paternal figure and the young woman destined to become the partner of the young man), while Parsifal gives the coordinates themselves an anti-Oedipal twist – the lamenting wounded subject is here the paternal figure (Amfortas), not the young transgressor (Tristan). (The closest one comes to lament in Meistersinger is Sachs’s “Wahn, Wahn!” song from Act III.) Wagner planned to have in the first half of Act III of Tristan Parsifal to visit the wounded Tristan, but he wisely renounced it: not only would the scene ruin the perfect overall structure of Act III, it would also stage the impossible encounter on a character with (the different, alternate reality, version of) itself, as in the time travel science fiction narratives where I encounter myself. One can even bring things to the ridicule here by imagining the third hero joining the two – Hans Sachs (in his earlier embodiment, as King Marke who arrives with a ship prior to Isolde), so that the three of them (Tristan, Marke, Parsifal), standing for the three attitudes, debate their differences in a Habermasian undistorted communicational exchange… This triad Tristan-Meistersinger-Parsifal presupposes the notion of woman as the object of exchange between men, whose logic was elaborated by Levi-Strauss in his Structures élémentaires de la parente (1949). Already the first truly Wagnerian opera, The Flying Dutchman, is about the exchange of Senta between her father and the Dutchman – a false exchange, for sure, since, instead of the young hunter Erik, her “normal” partner, Senta gets the incestuous Dutchman about whom she was dreaming, and who is more her father’s colleague. The final catastrophe occurs because the dream that haunted her is realized: it is as if Eva in Meistersinger were to marry Hans instead of Walter. And the three operas on which we focused not stage the three versions of how the “normal” exchange can be disturbed: – In Tristan, the exchange fails, the mediator takes over the bride. Responsible for this failure is the fact that the exchange itself was a wrong one: Isolde is given to a wrong man (to the paternal figure), i. e. Tristan

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should have been Isolde’s partner in a “normal” exchange. What, however, would have happened in that case? The answer is simple: if their love were to be left free to realize itself in a marital link, deprived of its transgressive dimension, Tristan and Isolde would have been an ordinary couple, with Isolde engaged in transgressive dreams about whom? About King Marke, of course, which brings us to the next opera: – In Meistersinger, the exchange is “normal,” the winner of the song contest gets Eva; however, in her incestuous outburst in Act III, Eva makes it clear that her true love is the paternal Hans Sachs himself (who, in his answer to her outburst, compares himself explicitly to the unfortunate Marke!). – And, finally, in Parsifal, Kundry is the object of exchange, manipulated by Klingsor. Is Klingsor not a kind of false father who offers Kundry to men not to redeem them, but to destroy them? In a kind of mocking synthesis of Tristan and Meistersinger, Kundry is offered first to the older Amfortas (i. e. Marke-Hans), and then to the younger Parsifal (Tristan-Walter). Klingsor, who wins the first time, is vanquished when no exchange takes place, since Kundry’s advances are rejected by Parsifal. This, then, is how we are to interpret Wagner: the “meaning” of Tristan becomes visible when we establish the connection between it and the two other music dramas (in short, when we apply to it the structural interpretation of myths elaborated by Claude Levi-Strauss, himself a great Wagnerian). What really matters is not the pseudo-problem of which of the three solutions reflects Wagner’s “true” position (did he really believe in the redemptive power of the orgasmic Liebestod? did he resign himself to the necessity of returning to the everyday world of symbolic obligations?), but the formal matrix which generates these three versions of redemption. What defines Wagner’s position is not any of the three determinate solutions, but the underlying deadlock to which these three operas (Tristan, Meistersinger, Parsifal) provide each its own solution, the unstable relationship between the “ethical” universe of socialsymbolic obligations (“contracts”), the overwhelming sexual passion which threatens to dissolve social links (the “Aesthetical”) and the spiritualized self-denial of the Will (the “Religious”). Each of the three operas is an attempt to compress this triangle into the opposition between two elements: between the spiritualized sexual passion and the sociosymbolic universe in Tristan, between sexual passion and the spiritual sublimation of socialized art in Meistersinger, between sexualized life and pure ascetic spiritualism in Parsifal. Each of these three solutions re-

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lies on a specific musical mode which predominates in it: the chromaticism of Tristan, the choral aspect of Meistersinger, the contrast between chromaticism and static diatonics of Parsifal. One is tempted to claim that this triad of Tristan-MeistersingerParsifal is reproduced in three exemplary post-Wagnerian operas: Richard Strauss’ Salome, Puccini’s Turandot and Schoenberg’s Moses und Aaron. Does Salome not offer an alternative outcome of Tristan? What if, at the end of Act II, when King Marke surprises the lovers, he were to explode in fury and order Tristan’s head to be cut off; the desperate Isolde would then take her lover’s head in her hands and start to kiss his lips in a Salomean Liebestod… (And, to add yet another variation of the virtual link between Salome and Tristan: what if, at the end of Tristan, Isolde would not simply die after finishing her “Mild und leise” – what if she were to remain entranced by her immersion in the ecstatic jouissance, and, disgusted by it, King Marke would give the order: “This woman is to be killed!”?) It was often noted that the closing scene of Richard Strauss’ Salome is modelled on Isolde’s Liebestod; however, what makes it a perverted version of the Wagnerian Liebestod is that what Salome demands, in an unconditional act of Caprice, is to kiss the lips of John the Baptist (“I want to kiss your lips!”) – not the contact with a person, but with the partial object. Salome is first fascinated by another partial object, John’s voice – throughout most of the opera, we just HEAR his voice singing “off,” and her first comment is “Whose voice is that?”, so that one can conceive of Salome’s fixation on John’s head (more precisely: his lips which she wants to kiss) as the materialization, embodiment, of John’s voice. This capricious fixation is emphasized when, after the famous “dance of the seven veils,” Herod is horrified and dismisses Salome’s demand; he offers Salome in exchange all manners of riches and valuables, even the curtain of the Holy Sacrament, but she stubbornly rejects this substitution, insisting that her wish be fulfilled, repeating seven times “I demand the head of Jochanaan!”, as a kind of perverted Antigone who cannot be talked out of burying properly her brother. This demand, although formulated only after her Dance of the Seven Veils, resonates in a simple orchestral motif made up of a third and a triton, first heard after Jochanaan brusquely rejects Salome’s advances and then frequently repeated, till, 34 minutes after it was first played by the orchestra, it finally acquires a text: “I demand the head of Jochanaan!” – the unconscious desire finally explodes into an open demand.

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Which is why it is totally wrong to read her revengeful demand to Herod as the demand to kill John – what she demands is, precisely, his head on a silver plate, the partial object which she then starts to kiss once she gets it. (One cannot but recall here the very first sentence of Patricia Highsmith’s acerb Kafkaesque short story “The Hand” from her Little Tales of Misogyny: “A young man asked a father for his daughter’s hand, and received it in a box – her left hand”). One should oppose the “dance of the seven veils” to Salome’s final ecstatic immersion into jouissance of the partial object: the first is the spectacle staged for the male gaze, the slow revealing of the feminine mystery concealed beneath the veils, while the second is the jouissance of the woman herself, the “Richard the Second”’s perverted version of the “Richard the First”’s Liebestod. THIS is what horrifies Herod so that he orders the guards to kill Salome: her ecstatic enjoyment of the partial object (the head), with music fully rendering her sexual fervor; it is to this excess that he reacts with his order: “Man töte dieses Weib.” / “This woman should be killed.” (Significantly, this order is impersonal – the Heideggerian “Man” instead of “I order this woman to be killed!”, so its proper translation is thus: “This woman is to be killed.”) The ensuing slaughter of Salome is simultaneously the death of a woman and of music – in Salome, “Herod has a final word.”2 What follows Herod’s spoken words is no longer the melodic music, but something which is “more noise than music /…/, the traditional sonoric inscription of male authority, the military sounds of brass and percussion, rhythmically punctuated at the loudest possible volume”3 – as if the male word is not enough to stifle the outburst of the woman’s sexualized musical jouissance, but has to be sustained by the violent flare-up of the crashing noise. If Salome is a counterpart to Tristan, then Turandot is the counterpart to Meistersinger – let us not forget that they are both operas about the public contest with the woman as the prize won by the hero. The impoverished Tatar prince Calaf, accompanied by Timur, his blind father and deposed king, and the faithful servant maid Liu, enters Beijing in order to challenge Princess Turandot, the Emperor’s daughter. Turandot is an ice-cold frigid femme fatale: her suitors have to answer her three questions – if their answers are correct, they get her hand, if not, they are beheaded (and there is a long row of heads displayed on the wall of her palace). After Calaf answers correctly, Turandot explodes in an impotent fury and wants to renege on her terms; in order to break this dramatic deadlock, Calaf then remembers Lohengrin and makes Turandot an additional offer: if, till next morning, she divines his

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name, she can behead him, otherwise she has to marry him. In despair, Turandot orders the faithful Liu (who was seen with Calaf) to be tortured so that she will betray the contestant’s name; however, Liu loves Calaf so much that, rather than to tell his name, she stabs herself to death in order to avoid unbearable pains. While the observing crowd is shocked and experiences fearful guilt, Turandot remains cold; although Calaf is mad at her, the faithful Liu’s death makes him desire her even more, so he simply grabs her and violently kisses her, and the male touch works wonders – Turandot suddenly melts down, discovers her feminine tenderness and agrees to marry Calaf… This story of Turandot is, of course, rooted in old oriental tales – with the significant exception of the figure of Liu, which was invented by Puccini and his librettist. Perhaps, the only way to describe what happens in the last scene of Turandot is via the reference to the Freudian notion of isolation: it can happen that the traumatic experience “is not forgotten, but, instead, it is deprived of its affect, and its associative connections are suppressed or interrupted so that it remains as though isolated and is not reproduced in the ordinary process of thought.”4 Although Liu’s suicide is not directly obliterated, it has to be “deprived of its affect” if we are to have the happy ending, i. e. if Calaf is to pursue Turandot as if nothing happened. The counterpoint to this isolation is the uncanny non-psychological character of Turandot herself: rarely do we encounter the fantasy of a Woman-Thing in such a pure form: Turandot is a pure fantasy, “less a character than a complex: a vagina dentata.”5 No wonder her symbol is the moon, described as a bloodless, pale severed head in transit across the sky – the monstrous specter of a detached partial object freely floating around. The libretto itself suggests that she “exists only in the haunted minds of men,” that “there is no such person, that she is only the void in which Calaf will be annihilated – or the vacancy in which he sexually spends himself”6 – is this not a succinct definition of the Lady in courtly love, of this “feminine object /…/ emptied of all real substance”7? This abstract character of the Lady has nothing to do with spiritual purification; it rather points towards the abstraction that pertains to a cold, distanced, inhuman partner – the Lady is in no way a warm, compassionate, understanding fellow-creature: “By means of a form of sublimation specific to art, poetic creation consists in positing an object I can only describe as terrifying, an inhuman partner. /…/ she is as arbitrary as possible in the tests she imposes on her servant.”8 The relationship of the knight to the Lady is the relationship of the subject-bondsman, vassal, to his feudal

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Master-Sovereign who subjects him to frustratingly senseless capricious ordeals. The Lady is thus as far as possible from any kind of purified spirituality: she functions as an inhuman partner in the sense of a radical Otherness which is wholly incommensurable with our needs and desires; as such, she is simultaneously a kind of automaton, a machine which at random utters meaningless demands. This coincidence of absolute, inscrutable Otherness and of pure machine is what confers on the Lady her uncanny, monstrous character: the Lady is the Other which is not our “fellow-creature,” no relationship of empathy is possible with her – this traumatic Otherness is what Lacan designates by means of the Freudian term das Ding, the Real Thing. A further coincidence of the opposites characterizes the Lady: precisely as such a Real – as a cruel, inhuman, partner who obeys no rules, with whom no compromise is possible, who is totally oblivious of the suffering she causes, with whom no shared compassion is possible, who never shows any consideration, whose wishes are unconditional orders on which she all the more insists, the more they express her pure caprice… in short, as a monstrously perverted version of a Kantian ethical machine, whose message to us is “You can, because you must!” –, the Lady is purely fantasmatic, a spectral entity without substance, a mirror onto which the subject projects his narcissistic ideal. In other words – those of Christina Rosetti whose sonnet “In an Artist’s Studio” speaks of Dante Gabriel Rosetti’s relationship to Elizabeth Siddal, his Lady – the Lady appears “not as she is, but as she fills his dream.” The structural counterpart to Turandot the Woman-Thing is Liu, the woman of suffering flesh and blood, the faithful and compassionate servant, the “vanishing mediator” whose sacrifice renders possible the happy end. It is, however, precisely this ending which is problematic – what does it actually amount to? Let us imagine the same story in a contemporary noir setting, with the hero split between the icy femme fatale and the silent compassionate friend for whose profound unobtrusive love he is blind. The compassionate woman sacrifices herself for the hero, tortured by the accomplices of the femme fatale on her command; after her death, the hero, although shocked by this act of utmost fidelity, simply goes on to seduce the frigid femme fatale (who is set on the revenge on all men because of a past trauma: her best friend was raped and killed in front of her eyes). He violently embraces her, halfraping her, and she is magically cured, turned into a warm loving woman – is Kerman not right when he defines Turandot as “depraved,

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and the adjective is carefully chosen”?9 The problem Puccini wasn’t able to resolve is: how should the Thing subjectivize itself? His solution is a sordid one: beneath the icy appearance, there is an ordinary sentimental woman who surrenders herself before potent male advances: “The inescapable central message of the piece, then, is that the way to proceed with a frigid beauty is to get your hands on her.”10 It is thus easy to mock the stupidity of Turandot’s ending, and the total lack of justification for the final “normalization” of Turandot; it is much more difficult to tackle the underlying deadlock. The surprising element is here the very fact of the happy end: what compelled Puccini to opt for such a ridiculous and unconvincing dénouement, for the worst case of the deux ex machina? Since he was no stranger to tearjerking pathetic finales (from La Bohème to Tosca), why did he not choose one of the tragic options? The obvious one would have been that, as a consequence of Liu’s suicide, the specter of Turandot disintegrates: when it is already too late, after Liu’s death, the broken Calaf becomes aware of how he already had right in front of his eyes, in Liu, what he was looking for in the elusive Turandot… or: the shattering experience of Liu’s death breaks Turandot down, compelling her to rediscover her humanity… or: after Liu’s suicide, Calaf explodes in rage, killing Turandot and himself, so that, at the opera’s end, Timur remains alone on the stage, a blind and embittered Oedipus-at-Colonus figure… In short, the opera should have ended with Turandot herself singing Liu’s pathetic “Tu che di gel sei cinta” which announces her suicide, assuming this designation of herself in the first person singular (“I who was made of ice…”). The musical-dramatic problem of Turandot is that the scene of Liu’s suicide already is a climactic Puccini finale – what follows is a worthless stuff not even composed by Puccini himself. This failure of Turandot is dramatic (“Drama is entirely out of the question,” as Kerman put it with his usual ruthlessness11) as well as musical: in the ears of today’s listener, the combination of a couple of overexploited “good melodies” with the uninventive, mechanically composed, material which fills in the space between the “hits” cannot but evoke the name of Andrew Lloyd Webber. However, the ultimate paradox is that Puccini was right to abandon the pathetic-tragic finale which served him so well in his earlier works – let us not forget that Turandot was composed in the early 20s, when Puccini already heard the music of Schoenberg and Stravinsky, when Freud’s discovery already exerted its impact. Within these coordinates (which do leave their trace in the very figure of

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Turandot – there is no place for such a ghastly femme fatale in the late Romantic universe), the standard Puccini pathetic finale is structurally impossible: the only way to avoid the happy ending would have been to accomplish the fateful passage into the properly modern post-tragic universe, a universe whose horror undermines the very possibility of tragic dignity, and in which monstrous figures like Lulu and Salome abound – a step Puccini was not ready to do. “Character” is not something which goes by itself in the opera: it emerged with Mozart and disappeared with the modernist break. This is the reason why a figure like Turandot belongs to the space of modernism: it is already a post-psychological entity. The unfinished status of Turandot thus obeys a deeper necessity: Puccini’s unexpected death was a godsend which enabled him to save his face, i. e. to avoid the acknowledgment of a humiliating defeat, by way of letting his pupil Franco Alfano to orchestrate the lacklustre final scene. Turandot’s happy ending is simultaneously a sign of Puccini’s artistic failure and integrity: the very obvious ridicule of the last scene signals that something else should have been there, something Puccini didn’t dare to encroach upon, but whose absence he was nonetheless honest enough to render palpable. Which, then, would be the counterpart to Parsifal? Parsifal was from the very beginning perceived as a thoroughly ambiguous work: the attempt to reassert art at its highest, the proto-religious spectacle bringing together Community (art as the mediator between religion and politics), against the utilitarian corruption of modern life with its commercialized kitsch culture – yet at the same time drifting towards a commercialized aesthetic kitsch of an ersatz religion, a fake, if there ever was one. In other words, the problem of Parsifal is not the unmediated dualism of its universe (Klingsor’s kingdom of fake pleasures versus the sacred domain of the Grail), but, rather, the lack of distance, the ultimate identity, of its opposites: is not the Grail ritual (which provides the most satisfying aesthetic spectacle of the work, its two “biggest hits”) the ultimate “Klingsorian” fake? (The taint of bad faith in our enjoyment of Parsifal as similar to the bad faith in our enjoyment of Puccini). For this reason, Parsifal is the traumatic starting point which allows us to conceive of the multitude of later operas as reactions to it, as attempts to resolve its deadlock. The key among this attempts is, of course, Schoenberg’s Moses und Aaron, the ultimate pretendent to the title “the last opera,” the meta-opera about the conditions of (im)possibility of the opera: the sudden rupture at the end of Act II, af-

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ter Moses’ desperate “O Wort, das mir fehlt!”, the failure to compose the work to the end. Moses und Aaron is effectively anti-Parsifal: while Parsifal retains a full naïve trust into the (redemptive) power of music, and finds no problems in rendering the noumenal divine dimension in the aesthetic spectacle of the ritual, Moses and Aaron attempts the impossible: to be an opera directed against the very principle of opera, that of the stage-musical spectacle – it is an operatic representation of the Jewish prohibition of aesthetic representation… Is the buoyant music of the Golden Calf not the ultimate version of the bacchanalia music in Wagner, from Tannhaeuser to the Flower Maidens’ music in Parsifal. And is there not another key parallel between Parsifal and Moses? As it was noted by Adorno, the ultimate tension of Moses is not simply between divine transcendence and its representation in music, but, inherent to music itself, between the “choral” spirit of the religious community and the two individuals (Moses and Aaron) who stick out as subjects; in the same way, in Parsifal, Amfortas and Parsifal himself stick out as forceful individuals – are the two “complaints” by Amfortas not the strongest passages of Parsifal, implicitly undermining the message of the renunciation to subjectivity? The musical opposition between the clear choral style of the Grail community and the chromaticism of the Klingsor universe in Parsifal is radicalized in Moses und Aaron in the guise of the opposition between Moses’ Sprechstimme and Aaron’s full song – in both cases, the tension is unresolved. What, then, can follow this breakdown? It is here that one is tempted to return to our starting point, to Rossinian comedy. After the complete breakdown of expressive subjectivity, comedy reemerges – but a weird, uncanny one. What comes after Moses und Aaron is the imbecilic “comic” Sprechgesang of Pierrot Lunaire, the smile of a madman who is so devastated by pain that he cannot even perceive his tragedy – like the smile of a cat in cartoons with birds flying around the head after the cat gets hit on the head with a hammer. The comedy enters when the situation is too horrifying to be rendered as tragedy (which is why the only proper way to do a film about concentration camps is a comedy). Is, however, this the only way out? What if Parsifal also points in another direction, that of the emergence of a new collective? If Tristan enacts redemption as the ecstatic suicidal escape from the social order and Meistersinger the resigned integration into the existing social order, then Parsifal concludes with the invention of a new form of the Social. With Parsifal’s “Disclose the Grail!” (“Enthüllt den Graal!”), we pass from

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the Grail community as a closed order where Grail is only revealed, in the prescribed time a ritual, to the circle of the initiated, to a new order in which the Grail has to remain revealed all the time: “No more shall the shrine be sealed!” (“Nicht soll der mehr verschlossen sein!”). As to the revolutionary consequences of this change, recall the fate of the Master figure in the triad Tristan-Meistersinger-Parsifal (King Marke, Hans Sachs, Amfortas): in the first two works, the Master survives as a saddened melancholic figure; in the third he is deposed and dies. Why, then, should we not read Parsifal from today’s perspective: the kingdom of Klingsor in the Act II is a domain of digital phantasmagoria, of virtual amusement – Harry Kupfer was right to stage Klingsor’s magic garden as a video parlor, with Flower Girls reduced to fragments of female bodies (faces, legs…) appearing on dispersed TV-screens. Is Klingsor not a kind of Master of the Matrix, manipulating virtual reality, a combination of Murdoch and Bill Gates? And when we pass from Act II to Act III, do we not effectively pass from the fake virtual reality to the “desert of the real,” the “waste land” in the aftermath of ecological catastrophy which derailed the “normal” functioning of nature. Is Parsifal not a model for Keanu Reeves in The Matrix, with Samuel Jackson in the role of Gurnemanz? One is thus tempted to offer a direct ‘vulgar’ answer to the question: what the hell was Parsifal doing on his journey in the long time which passes between Acts II and III? That the true ‘Grail’ are the people, its suffering. What if he simply got acquainted with human misery, suffering and exploitation? So what if the new collective is something like a revolutionary party, what if one takes the risk of reading Parsifal as the precursor of Brecht’s Lehrstuecke, what if its topic of sacrifice points towards that of Brecht’s Die Maßnahme, which was put to music by Hans Eisler, the third great pupil of Schoenberg, after Bert and Webern? Is the topic of both Parsifal and Die Maßnahme not that of learning: the hero has to learn how to help people in their suffering. The outcome, however, is opposite: in Wagner compassion, in Brecht/Eisler the strength not to give way to one’s compassion and directly act on it. However, this opposition itself is relative: the shared motif is that of cold/distanced compassion. The lesson of Brecht is the art of cold compassion, compassion with suffering which learns to resist the immediate urge to help others; the lesson of Wagner is cold compassion, the distanced saintly attitude (recall the cold girl into which Parsifal turns in Syberberg’s version) which nonetheless retains compassion.

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And what about the misogynism which obviously sustains this option? Is it not that Parsifal negated the shared presupposition of the first two works, their assertion of love (ecstatic courtly love, marital love), opting for the exclusive male community? However, what if, here also, Syberberg was right: after Kundry’s kiss, in the very rejection of (hysterical-seductive) femininity, Parsifal turns into a woman, adopts a feminine subjective position? What if what we effectively get is a dedicated ‘radical’ community led by a cold ruthless woman, a new Joan of Arc? – And what about the notion that the Grail community is an elitist closed initiatic circle? Parsifal’s final injunction to disclose the Grail undermines this false alternative of elitism/populism: every true elitism is universal, addressed at everyone and all, and there is something inherently vulgar about initiatic secret gnostic wisdoms. There is a standard complaint of the numerous Parsifal lovers: a great opera with numerous passages of breathtaking beauty – but, nonetheless, the two long narratives of Gurnemanz (taking most of the first half of Acts I and III) are Wagner at his worst: a boring recapitulation of the past deeds already known to us, lacking any dramatic tension. Our proposed ‘Communist’ reading of Parsifal entails a full rehabilitation of these two narratives as crucial moments of the opera – the fact that they may appear ‘boring’ is to be understood along the lines of a short poem of Brecht from the early 1950s, addressed to a nameless worker in the GDR who, after long hours of work, is obliged to listen to a boring political speech by a local party functionary: “You are exhausted from long work / The speaker is repeating himself / His speech is longwinded, he speaks with strain / Do not forget, the tired one: / He speaks the truth.”12 This is the role of Gurnemanz: no more and no less than the agent – the mouth-piece, why not – of truth. In this precise case, the very predicate of “boring” is an indicator (a vector even) of truth as opposed to the dazzling perplexity of jokes and superficial amusements. (There is, of course, another sense in which, as Brecht knew very well, dialectics itself is inherently comical). Wagner a proto-Fascist? Why not leave behind this search for the ‘proto-Fascist’ elements in Wagner and, rather, in a violent gesture of appropriation, reinscribe Parsifal in the tradition of radical revolutionary parties? Perhaps, such a reading enables us also to cast a new light on the link between Parsifal and The Ring. The Ring depicts a pagan world, which, following its inherent logic, has to end in a global catastrophy; however, there are survivors of this catastrophy, the nameless crowd of humanity which silently witnesses God’s self-destruc-

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tion. In the unique figure of Hagen, The Ring also provides the first portrait of what will later emerge as the Fascist leader; however, since the world of The Ring is pagan, caught in the Oedipal family conflict of passions, it cannot even address the true problem of how this humanity, the force of the New, is to organize itself, of how it should learn the truth about its place; THIS is the task of Parsifal, which therefore logically follows The Ring. The conflict between Oedipal dynamics and the post-Oedipal universe is inscribed within Parsifal itself: Klingsor’s and Amfortas’ adventures are Oedipal, and what happens in Parsifal’s big Kehre (rejection of Kundry) is precisely that he leaves behind the Oedipal incestuous eroticism, opening himself up to a new community.

Notes 1. Gary Tomlison, Metaphysical Song, Princeton 1999, 94. 2. Richard Leppert, The Sight of Sound, Berkeley, California 1995, 150. 3. Ibid., 150–151. 4. Sigmund Freud, “Inhibitions, Symptoms and Anxiety,” in: The Pelican Freud Library, Volume 10: On Psychopathology, Harmondsworth 1979, 276. 5. Peter Conrad, A Song of Love and Death, London 1989, 200. 6. Ibid., 201. 7. Jacques Lacan, The Ethics of Psychoanalysis (The Seminar, Book VII), London 1992, 149. 8. Ibid., 150. 9. Joseph Kerman, Opera as Drama, Berkeley, California 1988, 205. 10. Ibid., 206. 11. Ibid., 207. 12. Bertolt Brecht, Die Gedichte in einem Band, Frankfurt 1999, 1005.

Dieter Schnebel

Die Oper als Liebesmusik. Ein Essay I In Nietzsches Zarathustra findet sich eine Passage, die mich seit je fasziniert. Ich habe sie verdichtet: „Und siehe, da kam ein großes Ohr, an dem ein gedunsenes Seelchen baumelte.“1 Dies surrealistische Bild sei abgewandelt: Ein großer Mund in ständiger Verwandlung, dem faszinierende Klänge entquellen, getragen von einer stattlichen Gestalt, sich kostümiert auf einer Bühne bewegend – nein mehrere, viele solcher Münder, die sich gesanglich äußern. Also bewegte und bewegliche Stimmen, umhüllt vom Klang vieler Instrumente, eine Etage tiefer. Das ist Oper: ein Stimmtheater großer Mäuler auf dem Goldgrund von Instrumentalmusik. Und das geheime und zunehmend offene Grundthema, ja Urthema solchen Theaters ist die Liebe – Liebeslust, Liebesschmerz und Liebestod. Zunächst ein – natürlich grober – Überblick der Geschichte der Kunststimme in unserem Kulturbereich. Solche war zunächst in den Kirchen (auch an den Höfen) angesiedelt – liturgische Musik: einstimmig, also Kultivierung der Melodie; Ausgewogenheit der Intervalle, Betonung der geistlichen Texte, deren Ausdruck die Linien dienten. Die Gregorianik hatte ihre Wurzeln im synagogalen Gesang und in der griechischen Musik. Wir haben keine genaue Kenntnis, wie gesungen wurde; vor allem welche Bedeutung die sinnliche Qualität der Stimme hatte – und die hat sie stets. Andererseits war die Schönheit des Gesangs wichtig. Aber überschießende Sinnlichkeit war in der Kirche immer problematisch. Um 1000 kam es zur Mehrstimmigkeit – zunächst vielleicht nur eine Konsequenz der neuen halligen Dome: Auskomposition der lang dauernden Klänge in Basistönen, mit denen die darüber sich bewegenden Melodien Zusammenklänge bildeten; Wonne der Intervalle – die schönen reinen wie Oktav, Quint, Quart, die sinnlich attraktiven, deshalb

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aber auch problematischen Terzen, die schwierigen Sekunden und der teuflische Tritonus. Man unterschied Konsonanzen und Dissonanzen. Die anfängliche Zweistimmigkeit addierte sich: um 1200 erschienen in Notre Dame die ersten vierstimmigen Kompositionen – zwei Graduale von Perotin: rauschhafte Klänge in zügiger Rhythmik, eine Musik, die sowohl faszinierte als auch wegen ihres sensuellen Wesens schockierte. Allmählich wurde die wilde Musik gebändigt durch Kunst; es entstand der Kontrapunkt, der im 14. und 15. Jahrhundert zu spekulativ mystischer Musik führte und wohl auch zu einer Vergeistigung des stimmlichen Lauts. Die Hauptformen waren Messe und Motette. Die Vokalmusik der Renaissance entdeckte den Ausdruck neu, nun den des Individuums, überbordend zumal in den Madrigalen etwa Gesualdos. Um 1600 entstand dann die Oper, die in den Theatern des Barocks zur beherrschenden Form wurde. Es kam zur Ausbildung des Belcanto, einer neuen Gesangsart, welche den sinnlichen Wohllaut kultivierte: die Stimme wurde zum erotischen Phänomen – Einbeziehung der Frauenstimme, die Kastraten –, und die Opernhäuser wurden Stätten der Lust. Zugleich kam es zur Instrumentalisierung der Stimme: sie stand den Instrumenten an Virtuosität nicht nach. Die geistlichen Formen passten sich der Oper an: Gliederung in Nummern, Arien als Prachtstücke. Und es entstanden opernähnliche Formen – Kantaten, Oratorien, Passionen. In der Oper der Aufklärung – also in der der Klassik – wurde die stimmliche Virtuosität zugunsten einer neuen Expressivität reduziert, ohne dass man auf die erotischen Valeurs verzichtete. Das Ideal einer „absoluten“, autonom strukturierten Musik bereicherte den orchestralen Part. Die Liebe, in den barocken Opern eher ein geheimes Thema, das in großen Arien und Duetten aufstrahlte, wurde nun zum Thema eins: Glucks Orpheus, Mozarts Hauptwerke: Entführung, Figaro, Don Giovanni, Cosi fan tutte, Zauberflöte, Cherubinis Medea, Beethovens Leonore/Fidelio – um nur Wichtigstes zu nennen.

II Das 19. und beginnende 20. Jahrhundert aber ist die Hoch-Zeit der Liebesopern. Abermals wird die Stimme sexualisiert, nun um urtümliche und extreme Töne erweitert: dunkle, rauhe Klänge, oder Gekreisch und Schrei – oder auch die abseitigen Klänge von Hysterie und Wahnsinn. Das führte zu einer weiteren Psychologisierung, die schon bei

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Mozart sensibel und tiefsinnig anhob, nun aber oft wüst und ekstatisch die Gefühle aufriss oder untergründig wabern ließ – was sich meist im Orchester abspielt. Große Liebesduette aber bilden Zentren, in denen die Stimmen zunehmend realistisch geführt werden: die Höhepunkte der Liebesszenen sind oft nur noch erotisches Lautieren – und im Orchester tobt es nicht weniger. Hier hört man quasi Seismogramme von libidinösen Spannungsverläufen: Kon- und Extraktionen in der zunehmend chromatischen Harmonik, stoßende Rhythmik, Lustkurven in der Dynamik. Zwei Beispiele der Antipoden Verdi – Wagner, beide aus der gleichen Zeit: Ein Liebesakt: Richard Wagner, Tristan und Isolde, Zweiter Akt, zweite Szene2 S. 402

Ein Vorspiel: Die dunkle Tiefe eines gehaltenen Tons, aus der ein melodisches Gebilde hervortreibt, begleitet von zarS. 403 tem, gleichwohl nervösem Pochen. Das hält inne, regt sich S. 403/4 wieder und stockt nochmals. Erneut kommt der tiefe Ton und mit ihm die heraufdrängende melodische Regung, die nun zu schweifen beginnt, wie auch das Pochen zu einem warmen S. 404 Pulsieren wird. Atmend entfaltet sich ein wogendes Auf und Ab, welches höher und höher steigt, dabei an Kraft zunimmt wie an Fülle. Dann erscheinen oben aufstöhnende Figuren, die sich rasch zu atemloser Heftigkeit beschleunigen, währenddessen auch die unteren Regungen immer stürmischer aufwogen. S. 407 Die Steigerung mündet in einen wohlig aufwallenden Klang, welcher gleich darauf quellend weitertreibt, während es nun in der Tiefe stark pocht und oben ziehend zuckende Gebilde erscheinen; was alles erneut wie eine anschwellende Flut höher S. 408 steigt, die dann an einer Stelle gleichwohl weiterschäumend verharrt, derweilst das Pochen gewaltig andrängend wird S. 409 und ebenfalls nach oben tost; bis endlich die weitertreibende Flut gleichsam alles überschwemmend sich in rauschhafte S. 410/11 Klangschwälle ergießt. S. 411 In den Klangentladungen werden nun auch die Stimmen im Wortsinn laut: wilde Schreie der Vereinigung; und die Musik tobt wie alles wegwerfend – und als ob das Herz bis zum

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Hals klopfte. Dann geht ihr gleichsam die Luft aus; sie wird plötzlich leise, aber bleibt überhetzt, und die Stimmen klingen S. 421 atemlos, wie sich überschlagend. Dann kommt es zur zweimal ansetzenden letzten Steigerung: wieder unten jenes nun heftig stoßende Pochen und drüber der warm pulsierend ansteigende Blutstrom der Harmonik mit den aufzuckenden Regungen der Melodik, dazu die wonneäußernden Laute der Stimmen. S. 426/33 Das erfüllt sich im Überschwang von zwei aufeinanderfolgenden Höhepunkten, in denen die Musik sich synkopisch ausdehnend und zusammenziehend, eindringend und aufnehmend verströmt, während sich die Stimmen strahlend und gänzlich verausgaben: Klang gewordener Orgasmus – Vereinigung in einer letzten, alles übersteigenden wie allem zugrundeliegenden verschmelzenden Einheit. Die Begegnung der Liebenden: Giuseppe Verdi, Un Ballo in Maschera, Zweiter Akt, zweite Szene3 S. 252

Aufschreckende Gesten, erschreckte Worte in den Stimmen (Er: „Teco io sto!“; sie: „Gran Dio!“): die nächtlich überraschende S. 253 Begegnung der Liebenden. Gleich darauf eine Musik, deren durchbrochene Linien und gehetzte Rhythmik verhaltenes Zittern und Beben verrät (Amelia: „Son la vittima che germe …“); S. 254 Atemlosigkeit auch in den Stimmen, die bald danach ins Drängende, fast Panische ausbrechen (Amelia: „Conte, abbiatemi pietà…“). S. 255/56 Dann gerät die Musik ins Stocken: innehaltende Momente im Zeitverlauf und abwehrende Gebärden in der Melodik (A: „Ma, Ricardo, io son d’altrui…“). S. 257 In einer neuen Phase erscheint Musik von seufzendem und werbendem Gestus (Er: „Non sai tu che se l’anima mia il S. 258 rimorso dilacera e rode…“). Nach einiger Zeit wird sie überschwänglich – leuchtender Klang der männlichen Stimme: S. 260 „Quante volte dal cielo implorai la pietà che tu chiedi da me!“ Die weibliche Stimme antwortet im gleichen Rhyth-

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mus und doch in eigener, eben weiblich abgewandelter Melodik: „Ah! deh soccorri tu, cielo…“. Dem folgt eine zögernde Passage in flehendem Ton (Er: „La mia vita, l’universo per un detto…“), und die Antwort kommt fast schüchtern in einer stillen Stelle (Sie: „Ebben, si, t’amo…“), die indes von einer großen weitausschwingenden Instrumentalmelodie gleichsam aus sich herausgehend durchzogen wird, wobei auch die Stimmen sich erheben, um dann doch wieder in die frühere Stille zurückzusinken. Nach einem erregten und sehr sprechenden Übergang beginnt die Musik zu wogen (Er: „Oh qual soave brivido l’acceso petto irrora!“): über dem Herzschlagrhythmus in den Harfenklängen eine erst zärtlich kosende Melodik, die bald in groß umarmende Gebärden umschlägt („Astro di queste tenebre…“) und dazu die Worte der männlichen Stimme. Die weibliche nimmt sie auf, stimmt in die gleiche Musik ein, gibt sich ganz in den Fluß der Gefühle („Ahi! sul funereo letto ov’io sognava spegnerlo…“). Das mündet in einen Höhepunkt von rauschhaftem Klang und einem ekstatisch ausgreifenden Melodiebogen, wo beide Stimmen sich vereinigen (Sie: „Si… t’amo.“; er: „Irradiami d’amor“). Schließlich ein Abgesang, in welchem nun beide Stimmen nochmals die wogende Musik von zuvor aufnehmen und steigernd und drängend zum Ende führen.

III Die Opern nach den Titanen Wagner und Verdi erschließen der musikalischen Erotik gleichzeitig mit den Anfängen der Psychoanalyse Fin-deSiècle-Valeurs. In Puccinis Manon, auch in La Bohème sind es äußerste Verlorenheit und Einsamkeit, aber auch – hier Verdis La Traviata fortsetzend Töne gesellschaftlicher Oberflächlichkeit. Toscas Liebe aber äußert narzisstische Theatralik und von Seiten ihres Widerparts die schwarze Melodik von Sadismus. In Debussys Pelleas und Melisande, eine Art Antioper zu Wagners Tristan und Isolde, erscheinen die fragilen Liebesklänge von hypersensiblen Charakteren. Bei Janácek (Jenúfa und

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Eifersucht) aber sind es ähnlich wie vordem ansatzweise bei Mussorgskij und später bei Schostakowitch (Lady Macbeth von Mzensk) proletarisch ungezügelte, aber auch archaisch erdige Töne, die am Ende von Katja Kabanowa mit den Klangströmen des großen Flusses symbolisch verschmelzen. Die Opernsinfonien von Richard Strauß, Salome und Elektra, fügen der spätromantischen Oper die sehrenden Klanglinien der Perversion zu. Schönbergs große erotische Szene, das Monodram Erwartung, aber ist das musikalische Protokoll einer hysterischen Liebe. Das letzte Werk der Tradition Oper als Liebesmusik, zugleich die komplexe und grandiose Zusammenfassung der Gattung ist Bergs Wozzeck. Die nachfolgende Lulu, der nochmalige Versuch im Genre, konnte nicht mehr recht gelingen. Die Möglichkeiten der Oper als Theater der erotischen Stimmen waren erfüllt. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts sind denn auch keine großen Werke der Art mehr entstanden – es sei denn als neoklassizistische bzw. überhaupt als Neo-Reprisen.

IV Das abrupte Ende der Liebesoper in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mag mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zusammenhängen. Analog zu Adornos Problemstellung, wie nach Auschwitz noch Gedichte schreiben, ließe sich nach dem Grauen des großen Schlachtens fragen: wie danach noch Liebe in einer Musik der betörenden Stimmen ausdrücken? Freilich, vielleicht wäre es gerade nötig gewesen… Dass man es weder vermochte noch versuchte, mag mit dem Siegeszug des Films zusammenhängen. Die erotische Oper wanderte dahin aus, zumal sie hier eine bessere Bühne fand und Komponisten wie Wagner, Strauß, Puccini, auch Debussy im Grunde schon Filmmusik geschrieben, auch eigentlich schon Drehbücher verfasst hatten. Die Musik der erotischen Opernszenen war stets Musik zu imaginären Filmen, die kaum zu inszenieren waren. Was in der Musik drastisch vorging, konnte nicht gezeigt werden. Nachdem dies in der realistischen Oper des Films möglich wurde, hatte die Kunstoper der Bühne zunächst keine Chance mehr. Allerdings bleibt der Film doch hinter der Oper zurück. Ihre großen Liebesmusiken, wie sexuell sie sich auch aufführten, stellten doch primär psychische Vorgänge dar, mochte es da noch so sehr stürmen. Was also innen geschieht, vermag auch der Film nicht zu zeigen. Wo aber Liebe und – ja gerade Sexualität – so unverhüllt vorgeführt werden

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kann wie im Film, bleibt der Musik nur die Möglichkeit, einen akustischen Hinter-, im besten Fall einen Untergrund zu schaffen – eben als Filmmusik. Was auch nicht zu verachten wäre. Indessen wurden weiter Opern geschrieben, vielfach schlicht in Fortsetzung des Bisherigen, als ob nichts gewesen wäre (Strauß z. B. komponierte unbeirrt in seiner Weise weiter). Aber es wurden auch andere – neue – Richtungen eingeschlagen: Strawinskys oratorienhafter, archaisierender Oedipus Rex (dessen Richtung später Orff in seinen Antikendramen folgte); Schönbergs ritualhaftes Glaubensdrama Moses und Aaron; Brecht-Weills Kolportagen-Stücke mit politischem Einschlag – und herb schlagerhafter Musik und hie und da ordinärer Erotik; in Amerika Gershwins schmissige Jazzoper Porgy and Bess (mit Liebe!).

V Nach der Tabula-rasa-Situation 1945 ging es mit der Oper bald weiter: z. B. Henze mit seinen Nachkriegsstücken (Boulevard Solitude) und später mit richtiggehenden großen Literaturopern in glänzendem Klang und großem Metier. Die Avantgarde verhielt sich zunächst opernfeindlich – siehe Boulez’ berühmten Spruch: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ Indessen wagte sich Nono schon bald auf die Bühne mit seinem politischen Musikdrama Intoleranza, eher einer Antioper. Berio versuchte sich an neuen Opernformen mit nicht-linearem Inhalt (La vera storia). Pousseur bezog in Votre Faust das Publikum bei der Entscheidung des Handlungsverlaufs ein. Ligeti setzte im Grand Macabre sein dadaistisches Kammertheater der Aventures ins Große um. Kagel schuf in Staatstheater eine radikale Dekomposition von Oper und Bühne. Später ließ Cage in Europeras die Elemente der Opernhistorie und ihres Fundus per Zufallsoperationen eine fröhlich chaotische Auferstehung feiern. (Und während der Proben brannte – freilich durch die wiederum zufällige Tat eines Gestörten – das Frankfurter Opernhaus ab …) Nochmals boomte die unverwüstliche Gattung: Seit den 80er Jahren wurden zumal von einer jungen Generation auf Teufel komm raus Opern geschrieben, und neue Institutionen wie die von Henze kreierte Münchener Biennale bildeten Gewächshäuser. Vor allem blühte die Literaturoper. Rihm beschritt da in seinen Artaud-Stücken neue Wege. Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern, eine seltsame Nichtoper-Oper, steht erratisch abseits.

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In Amerika entstand mittels der neuartigen Technik der Minimal Music und ihrer rhythmischen Faszination gar ein neues Genre (soll man’s „Minimal Opera“ nennen?) – die Operas von Glass, Adams, Reich. Letzterer bezog dabei auch neue Medien wie das Video ein, so erst recht Ashley. Die Stoffe reichen von Archaik (Echnaton/Abraham) bis zu brandneuer Aktualität (Klinghofer). Die zunehmend sich globalisierende Situation eröffnet akustische Blicke in nicht westliche Regionen, deren Produkte sich freilich dann doch den Weltstandards mit ihren Glamour-Maßstäben einpassen. In Festspielen werden ChinaOpern geboten – Kabuki, Bunraku und Nô gibt es allerdings spärlich schon seit längerem. Der in New York lebende Chinese Tan Dun erregt Aufsehen mit einer Marco Polo-Oper, in deren betörenden Klängen neben original Chinesischem doch auch Puccini-Reminiszenzen vorkommen, vielleicht adäquate Replik auf dessen auch schon etwas kommerzialisierte Japan-Anklänge. Inmitten solcher Vielfalt des Opernparks aber stehen ragend – und verstörend – Solitäre: Nonos philosophischer Prometeo, Feldmans nihilistisch-mystisches Beckett-Monodram Neither und Messiaens erotisch-hymnische Opernliturgie auf die himmlische Liebe: St. François d’Assise – eine letzte Rettung der Oper als Liebesmusik?

Anmerkungen 1. „Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: ,Das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!‘ Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele – der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte …“ Als Zarathustra so zu dem Bucklichten geredet hatte und zu Denen, welchen er Mundstück und Fürsprecher war, wandte er sich mit tiefem Unmuthe zu seinen Jüngern und sagte: ‚Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen!‘“ Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I-IV, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 4, Berlin/New York 1988 (11967–77), 178, Z. 11 ff. 2. Die folgenden Passagen sind zitiert nach Dieter Schnebel, Die schwierige Wahrheit des Lebens. Zu Verdis musikalischem Realismus, in: Musikkonzepte, 10, München 1979, 54–56. – Die im Text angegebenen Seitenzahlen aus: Edition Eulenburg, Taschenpartitur, Mainz, London, Zürich, New York o. J. 3. Seitenzahlen aus: Große Partitur Ricordi, Mailand, o. J.

Jörg Zimmermann

Musik als Wissen durch das Gefühl an den Grenzen der Sprache. Philosophische Variationen im Anschluss an ein Thema von Richard Wagner Thema: Richard Wagner und Arthur Schopenhauer. Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ (1865) Erste Variation: fantaisie Carl Philipp Emanuel Bach und Jean-Jacques Rousseau Freye Fantasie fis-moll für Klavier und Violine „Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen“ (1787) Zweite Variation: ouverture Wolfgang Amadeus Mozart und Sören Kierkegaard Ouvertüre zu „Don Giovanni“ (1787) Dritte Variation: prélude Frédéric Chopin und Friedrich Nietzsche „Prélude für Klavier es-moll“ (1839) Vierte Variation: bagatelle Anton Webern und Theodor W. Adorno „Bagatelle für Streichquartett“ op. 9 Nr. 3 „Mäßig fließend“ (1913) Fünfte Variation: aventure György Ligeti und Umberto Eco Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten (1963) Sechste Variation: passion Johann Sebastian Bach und Hans Blumenberg „Matthäuspassion“ (1729) Siebente Variation: sentiment Billy Holiday und Jean-Paul Sartre „Some of These Days“ (1938)

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Philosophische Aussagen haben zwischen empirischen Fragestellungen der Wissenschaft und den Ausdrucksformen der Kunst einen durchaus dubiosen Status. Gleichwohl drängt es Wissenschaftler wie Künstler immer wieder zur Philosophie, wenn es um begriffliche Verallgemeinerungen, um umfassendere theoretische Perspektiven oder um normative Orientierungen geht, die den „Sinn“ eines Phänomens zu bestimmen versuchen. Dies gilt nun in besonderem Maße für den ebenso faszinierenden wie diffusen Bereich des Gefühls. In der Frage nach der ästhetischen Bedeutung des Gefühls spielt wiederum die Erfahrung der Musik eine herausragende Rolle. Hier scheint Emotionalität zumindest in ihrer kulturell sublimierten Form ein Höchstmaß an Intensität zu verbürgen, darin fast nur noch der Macht der Liebe zu vergleichen. Werden beide gar in einer Kunstform wie der Oper zusammengeführt, so wäre das Optimum erreicht. In diesem Sinne pries der Philosoph Sören Kierkegaard die Kategorie des Musikalisch-Erotischen, und nahezu zeitgleich begann der Komponist Richard Wagner über die Musik als „Wissen durch das Gefühl“ an den Grenzen der Sprache zu philosophieren. Er orientierte sich dabei zunächst an Feuerbach, dann an Schopenhauer. Schließlich assistierte ihm der junge Nietzsche, der seinem musikalischen Mentor bescheinigte, dass er tatsächlich „in Tönen philosophiere“ und in dem Liebesdrama Tristan und Isolde das „eigentliche opus metaphysicum aller Kunst“ geschaffen habe. Wir befinden uns im Zentrum jenes Diskurses über die Musik als Sprache der Empfindung, des Gefühls, des Herzens und des Ausdrucks eines Inneren, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzt und dessen außerordentliche Wirkung auch noch in der Musikphilosophie des 20. Jahrhunderts bei Adorno, Bloch, Sartre oder Wittgenstein zu verspüren ist. Es ist heute im skeptischen Rückblick ein Leichtes, die historische Bedingtheit und Begrenztheit einer solchen Auffassung zu erkennen. Es gab und gibt verschiedene Begriffe, Vorstellungen, Verständnisweisen, Paradigmen, Begründungsmuster von Musik und dies schon auf dem Boden der eurozentrischen Tradition, also nicht erst mit dem heute gebotenen Blick auf die soziale und interkulturelle Diversität musikalischer Kulturen. Gleichwohl scheint die Verbindung von Musik und Gefühl zumindest für die herrschende Form der Rezeption auf allen ästhetischen Niveaus immer noch einen exklusiven Stellenwert beanspruchen zu können. Sie spottet geradezu den Einsichten kritischer Reflexion, zu denen neben

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der historischen Aufklärung vor allem auch die Erfahrung der Moderne gehört. Strawinskys kühles Prinzip aus der „musikalischen Poetik“ faßt diese Distanz in den Satz: „Komponieren bedeutet für mich, eine gewisse Zahl von Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen.“1 Wenn ich mich im Folgenden mit Aspekten eines „expressiven“ Verständnisses von Musik beschäftige, so geschieht dies eher im Sinne einer „unwissenschaftlichen Nachschrift“. Es geht – emphatisch gesprochen – um bestimmte existentielle Konstellationen im Zeichen der Verbindung von Musik und Gefühl, die zu ihrer Bestätigung einer durchaus persönlichen Beglaubigung bedürfen, als „Widerklang“ im Subjekt, das sich solcher Resonanz jedoch in der spezifischen Intersubjektivität des ästhetischen Diskurses bewußt werden kann. Die Erfahrung von Nähe und Ferne bestimmter Paradigmen von Expressivität ist hier eine gänzlich andere als im chronologischen Diskurs des Historikers. Es geht also um philosophische Gedanken zur Musik als durchaus fragile ästhetische Vergegenwärtigung von Geschichte, und dies in einer Form, die eine Reihe von Beispielen als Variationen eines Grundthemas vorführt, das Richard Wagner besonders wirkungsvoll vorgegeben hat, allerdings mit dem Anspruch auf überhistorische Wahrheit, der gemäß das Wesen der Musik analog zum Wesen des Mythos als vergegenwärtigende und sogar in die Zukunft vorlaufende „Rückkehr zum Ursprung“ zu deuten sei: „jederzeit wahr“ und „bei dichtester Gedrängtheit für alle Zeiten unerschöpflich“.2 Daran soll auch die Sprache partizipieren, so dass das den Mythos vergegenwärtigende Musikdrama als das „vollendetste Kunstwerk“ erscheint, das seine Wahrheit wiederum zunächst, letztendlich und vor allem im Gefühl offenbart. Wird jedoch in begründeter Skepsis gegenüber einem solchen Fundamentalismus das Grundthema als etwas verstanden, das in seinem Anspruch vom vieldeutigen und offenen Prozeß seiner Variation abhängig bleibt, also nie ein für allemal „gesetzt“ ist, dann entspräche der ganze Diskurs eher jener „indirekten Mitteilung“, der Kierkegaard seine Erfahrung des Musikalisch-Erotischen anvertraute, einer Form der Reflexion, von der er sagt, sie solle die Musik „gleichsam ängstigen, bis sie hervorbricht“, ohne dass er doch mehr über sie sagen könne als „Hört!“ – „Ich meine damit das Höchste gewollt zu haben, was die Ästhetik zu tun imstande ist.“

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Thema: Richard Wagner und Arthur Schopenhauer Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ (1865) Die vollständigste Formulierung des Grundthemas lautet bei Wagner folgendermaßen: „Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist.“3 Zu den vielen, begrifflich nicht immer konsistenten Erläuterungen gehört die These, dass wir im Musikdrama „Wissende werden durch das Gefühl“, dass die Musik als „reines Organ des Gefühles“ das für Verstand und seine Begriffe „Unaussprechliche“ in der ihr eigenen Artikuliertheit dennoch „klar und verständlich“ ausspreche. In seinen späten Schriften beruft sich Wagner dabei ausdrücklich auf „jenes von Schopenhauer hingestellte tiefsinnige Paradoxon für die philosophische Erkenntnis“, dass nämlich allein die Musik befähigt sei, jedem Menschen auf nichtdiskursive Weise das „Wesen der Welt“ unmittelbar verständlich zu machen. Was die Philosophie metaphysisch als „Willen zum Leben“ bestimmt, soll also durch die Musik im innersten Gefühl widerklingen. Wagners Ehrgeiz als philosophierender Komponist besteht nun darin, am Beispiel seines Musikdramas Tristan und Isolde die Flucht des Philosophen Schopenhauer vor der Allgewalt des von ihm selbst ausgezeichneten bewegenden Prinzips als Schein zu entlarven. Nicht in der Verkehrung leidenschaftlicher Motive zu asketischen Quietiven liegt die Lösung des existentiellen Problems, sondern in der ekstatischen Verbindung von Liebe und Tod. Wagner sagt, es gehe ihm darum, „den von keinem Philosophen, namentlich auch von Sch.[openhauer] nicht, erkannten Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens durch die Liebe, und zwar nicht einer abstrakten Menschenliebe, sondern der wirklich, aus dem Grunde der Geschlechtsliebe, d. h. der Neigung zwischen Mann und Weib keimenden Liebe, nachzuweisen.“ Die Musik gewinnt hier also geradezu eine philosophisch-demonstrative Bedeutung, die sich allein im musikalischen Vollzug als „Wissen durch das Gefühl“ enthüllen kann. In einem Brief vom 24. August 1859 an Mathilde Wesendonck rühmt Wagner die expressive Gewalt seiner Liebesund Todesmusik dahingehend, dass sie „mit ihren feinen, feinen, geheimnisvoll-flüssigen Säften durch die subtilsten Poren der Empfindung bis auf das Mark des Lebens eindringt, um dort alles zu überwältigen, was irgend wie Klugheit und selbstbesorgte Erhaltungskraft sich

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ausnimmt, alles hinwegschwemmt, was zum Wahn der Persönlichkeit gehört, und nur den wunderbar erhabenen Seufzer des Ohnmachtsbekenntnisses übrigläßt“. Dies ist im übrigen eine Variante der später von Nietzsche nach seiner – allerdings nie vollkommen gelingenden – Abkehr von Wagner kritisierten Phantasmagorie, dass Musik als Ausdruck einer großen romantischen Passion in ihrem Wesen ein vom Manne geschaffenes „Weib“ sei und sich deshalb der Komponist, um solches zu vollbringen, notwendigerweise des Weibes als Medium seiner Inspiration bedienen müsse. Erste Variation: fantaisie Carl Philipp Emanuel Bach und Jean-Jacques Rousseau Freye Fantasie fis-moll für Klavier und Violine „Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen“ (1787) Die erste Variation ist sinnvollerweise der historischen Genese des expressiven Musikbegriffs gewidmet, wie sie sich relativ genau und in Übereinstimmung mit der musikgeschichtlichen Forschung rekonstruieren und am Selbstverständnis eines bestimmten Komponisten exemplifizieren lässt. Im Umfeld dieser Komposition, eines zärtlich vorzutragenden Klaviersatzes – Andante con Tenerezza – aus der Sonate A-Dur Wq. 70/1, veröffentlichte Carl Philipp Emanuel Bach seinen „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“, in dem er in Abkehr von der eher objektivierenden barocken Form der Affektdarstellung und ihrer regelgeleiteten Rhetorik das neue, seit Beginn des 18. Jahrhunderts sich herausbildende Prinzip des individuellen Ausdrucks von Empfindungen, Gefühlen und Leidenschaften gleichsam kanonisch macht: „Aus der Seele muss man spielen“, lautet die Anweisung an den Interpreten wie an den Komponisten. „Indem der Musickus nicht anders rühren kan, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affeckten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestallt am besten zur Mit-Empfindung.“ Der gebildete musikalische Reisende Charles Burney bezeugt den Anspruch anläßlich eines Besuchs in Hamburg: „Wenn er [Carl Philipp Emanuel Bach] in […] pathetischen Sätzen eine lange Note auszudrücken hat, weiß er mit großer Kunst einen beweglichen Ton des Schmerzes und der Klagen aus seinem Instrumente zu ziehen, der nur auf dem Clavichord und vielleicht nur ihm möglich ist hervorzubringen.“ Was könnte er damals

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gespielt haben? Als freieste individuelle Form des Ausdrucks, die der neuen Expressivität besonders entgegenkommt, hob Carl Philipp Emanuel Bach in seiner Musiktheorie die Fantasie hervor. Im Kontrast zum barocken Verständnis wird diese Gattung nunmehr direkt im subjektiven Prinzip ihrer Hervorbringung als Medium einer dem Genie gemäßen Originalität des Ausdrucks verankert. Exemplarisch dafür ist die Freye Fantasie fis-moll (Wq 67), die den Titel trägt: „Carl Philipp Emanuel Bachs Empfindungen“. Eine solche programmatisch verkündete Offenbarung des eigenen Seelenlebens entspricht wiederum der ebenfalls explizit geäußerten Überzeugung des Komponisten, als „Genie“ aller faktischen Heteronomie zum Trotz letztlich nur „für sich selbst“ schreiben zu wollen. Der „Selbstausdruck“ soll also vom Bedürfnis des Publikums nach sympathetischer Einfühlung grundsätzlich unabhängig sein. Seitdem – so könnte man im Rückblick böse kommentieren – leidet das zur Originalität des Selbstausdrucks verdammte Kollektiv der Künstler unter dem Trauma dieses selbst verschuldeten Anspruchs auf Autonomie. Denn dem Kriterium des „Originalgenies“ können fortan nur noch ganz wenige genügen. Es ist dieses einfache Modell der „inneren“ Verbundenheit von Komponist, Interpret und Hörer im Gefühl, das später mit Recht als „affektiver Fehlschluß“ bzw. „intentionalistischer“ oder „biographischer Fehlschluß“ kritisiert worden ist. Es hat sich andererseits vor allem unter dem Eindruck der nächsten „Umwälzung“ des Geschmacks im Zeichen der Beethovenschen „Ausdrucksmusik“ zu komplexeren Modellen weiterentwickelt, etwa der Art, dass nun zwischen konkretem individuellem Subjekt und ästhetisch konstruiertem Subjekt als „Held“ einer Symphonie sowie zwischen konventionalisierten expressiven Schemata wie dem sogenannten „Seufzermotiv“ und singulären musikalischen Ausdrucksgesten unterschieden wird, die dem Genie nicht unmittelbar – etwa durch freies Fantasieren auf dem Klavier – „eingegeben“ werden, deren Erfindung vielmehr ein Höchstmaß an kunstvoller kompositorischer Arbeit verlangt, in deren Verlauf der vermeintlich „ursprüngliche“ Einfall variiert, umgebildet, revidiert oder gar vollständig verworfen wird. Denkwürdig bleibt in jedem Falle der Umstand, dass diese naive Begründung des expressiven Kunstverständnisses wider alle vernünftige Einsicht bis heute die Erwartungen eines Publikums prägt, das seine Emotionsbedürftigkeit wiederum in besonderem Maße der Musik zuwendet, wenngleich auf ganz verschiedenen Niveaus, die – in Variation

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eines Satzes von Wittgenstein – die hermeneutische Grundeinsicht dokumentieren, dass zu einem differenzierten Verständnis expressiver „Sprachspiele“ die zumindest imaginative Teilnahme an den Lebensformen „ganzer Kulturen“ gehört.4 Die Philosophen des 18. Jahrhunderts haben diesen am Beispiel von Carl Philipp Emanuel Bach erläuterten Wandel des leitenden Musikbegriffs durch Adelung des ästhetischen Dilettanten und seines „Herzensanspruchs“ erfolgreich unterstützt. Die Musik wird dadurch zu einem entscheidenden anticartesianischen Argument: Nicht die Aussage „Ich denke, also bin ich“ sondern die Aussage „Ich fühle, also bin ich“ charakterisiert nun die condition humaine, die existentielle Grundsituation. Als Philosoph konnte dies niemand überzeugender beglaubigen als Jean-Jacques Rousseau, der als nebenberuflicher Komponist und als Verfasser zahlreicher musikästhetischer Artikel für die große französische Enzyklopädie auch direkt diese Brücke zwischen Philosophie und Musik zu schlagen vermochte. Die Reflexion auf die Grenze der Sprache angesichts der Expressivität von Musik wird von ihm allerdings nur beiläufig angedeutet. Denn er begreift das musikalische Ausdruckspotential zunächst noch nach dem Prinzip der Nachahmung der affektiven Dimension der Sprache, d. h. „aller stimmhaften Zeichen der Leidenschaft“ in jedweder Sprechweise. Andererseits fordert er in Antizipation des romantischen Musikdenkens, dass die Musik auch das Recht haben solle, „selbst zu sprechen“. Dann habe „ihre unartikulierte, aber lebhafte, feurige, leidenschaftliche Diktion hundertmal mehr Kraft als das bloße Wort“.5 Diese Auszeichnung der Musik entspricht wiederum Rousseaus sentimentalistischer Kritik des gesamten Zivilisationsprozesses als Entfremdung von der ursprünglichen Einheit des Menschenwesens im Gefühl. Mit der emphatischen Auszeichnung der Musik als eigentlicher „Sprache des Herzens“ im Kontrast zur gesellschaftlich konventionalisierten bzw. wissenschaftlich disziplinierten „Sprache des Verstandes“ kommt dem expressiven Musikbegriff sogar eine Schlüsselrolle für die Philosophie der Aufklärung und ihrer Dialektik zu. In diesem Sinne wird Johann Gottfried Herder zu Rousseaus wichtigstem Dolmetscher in Deutschland. Ich verweise auf eine einzige Aussage, die sich zugleich als direktes Echo des Selbstverständnisses von Carl Philipp Emanuel Bach verstehen lässt: „Die Musik spielt in uns ein Clavichord, das unsre eigne innigste Natur ist.“6

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Zweite Variation: ouverture Wolfgang Amadeus Mozart und Sören Kierkegaard Ouvertüre zu „Don Giovanni“ (1787) Die erstaunlichste aller nicht nur abstrakt gesetzten, sondern konkret exemplifizierten Verbindungen zwischen Musik und Philosophie vor Adorno bleibt für mich Sören Kierkegaards 1843 in seinem frühen Hauptwerk „Entweder – Oder“ vorgetragene Exegese von Mozarts 1787 uraufgeführter Oper Don Giovanni. Ich erinnere hier an sie einzig anhand der äußersten Engführung seiner neuartigen existentialistischen Deutung des menschlichen In-der-Welt-Seins mit einer Deutung musikalischer Expressivität, die auf gänzlich andere Weise als Wagner den Überschwang der Liebe zum Zentrum erklärt, und zwar inkarniert in der Opernfigur Don Juan, dessen allgegenwärtige musikalische Präsenz für den Philosophen die Zeitlichkeit von Existenz als Flucht von Augenblicken vor dem Hintergrund des Nichts enthüllt. Dass daraus die Erfahrung einer Verzweiflung resultiert, die uns nötigen soll, die ästhetische Existenz zugunsten einer ethischen und religiösen Existenz zu überwinden, – dieses philosophische Grundproblem Kierkegaards muss hier allerdings gänzlich ausgespart bleiben. Als Opernfigur ist Don Juan medial gesehen ein Zwitter: Während die Figur literarisch ein Individuum mit einer bestimmten Geschichte darstellt, das in der Maßlosigkeit seines Begehrens schließlich an seiner Endlichkeit scheitern muss und deshalb nur Stoff für Komödien abgibt, verkörpert sie musikalisch wie später bei Wagner einen Mythos, eine Idee, ein inneres Prinzip. Die Opernfigur existiert – wie Kierkegaard sagt – „schwebend“ zwischen Musik und Sprache.7 Allerdings ist das Interesse des Philosophen ganz der musikalischen Erscheinung zugewandt: Es gehe um die Einheit der Stimmung, den „Grundton, der das Ganze trägt“ und dieser sei die „ganze Unendlichkeit der Leidenschaft“.8 Ich beschränke mich auf die kühne Auslegung der Ouvertüre, weil sie aufzeigen möchte, warum Don Juan der Sprache gar nicht bedarf und dem Bericht über seinen Untergang zum Trotz siegreich bleibt. Der „steinerne Gast“ als das die „Sprache des Gesetzes“ repräsentierende Prinzip wird schon in der Ouvertüre, die nach gängiger Meinung ja sprachlos die Essenz der ganzen Oper enthalten soll, mit Mitteln musikalischer Expressivität widerlegt, – eine Auslegung, die zugegebenermaßen nur denen plausibel klingen dürfte, die – wie Kierkegaard sagt – mit spekulativ-erotischen Ohren hören.

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Selbstironisch warnt er davor, „die energische und bündige Kürze der Ouvertüre in eine weitschweifige und nichtssagende Bildersprache zu übersetzen“.9 Das ganze musikalische Geschehen der Ouvertüre wird zunächst im Sinne der in Hegels Ästhetik dargelegten dialektischen Auffassung eines klassischen Sonatenhauptsatzes als „Kampf“ gegeneinander gerichteter Kräfte, drastischer noch: als „elementarisches Rasen“10 bezeichnet. Getreu seiner These von der musikalischen Dominanz Don Juans behauptet Kierkegaard, dass der Kampf, der sich in der Ebene des Wortes und damit nach ethischen Kriterien zugunsten des Steinernen Gastes entscheidet, nach ästhetischen Kriterien gerade umgekehrt verläuft: Die durch Don Juan verkörperte Macht erotischer Genialität reißt die Macht der Moral, des Rechts und der Vernunft mit sich. Dass diese mit ihrem würdevollen Idiom dennoch das Geschehen intoniert, erklärt sich dann so: „Die eine Macht ist Sieger schon vor der Schlacht, zwar flieht sie und entweicht, aber diese Flucht ist gerade ihre Leidenschaft, ihre brennende Unruhe in ihrer kurzen Lebensfreude, der jagende Puls in ihrer leidenschaftlichen Hitze“.11 Kierkegaard hört also gleichsam zurück und verlängert das Geschehen ins Imaginäre einer chaotischen Geburt Don Juans aus dem erotischen Wesen der Musik, lange bevor die Ouvertüre faktisch mit der feierlich-ernsten Sphäre des Steinernen Gastes anhebt. Also wartet das spekulativ erotische Ohr auf ein erstes Zeichen, das jene Projektion möglich macht. Haargenau angeben könne er diese Stelle nicht, da er ja kein der Musik in einem wissenschaftlichen Sinne Kundiger sei. Doch vermute ich, dass Kierkegaard mit dem „unendlich fernen Wink“, der „als wäre er zu früh gekommen, im selben Augenblick widerrufen wird“12, jenen ersten selbständigen Melodiebogen in den Violinen (Takt 11 ff.) gemeint hat, dem das geistige Prinzip unmittelbar darauf durch ein wiederholtes Sforzato zu „widersprechen“ scheint. Hier verdichtet sich wiederum die eigentlich philosophische Deutung Don Juans; denn jener Wink wird zum musikalischen Index einer existentialistischen Grunderfahrung des Menschen. Er deutet an, was es heißt, als vor aller Reflexion die Welt je schon im Gefühl erschließendes Individuum „dazusein“. Solches immer nur indirekt mitteilbare „Wissen durch das Gefühl“ enthüllt sich konkret als Ineins von Liebe und Angst. „Wie das Auge hier in diesem ersten Aufblitzen die Feuersbrunst ahnt, so ahnt das Ohr in jenem hinsterbenden Bogenstrich die ganze Leidenschaft. Es ist eine Angst in jenem Aufblitzen, es ist, als würde es in der tiefen Finsternis in Angst geboren solchergestalt ist

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Don Juans Leben. Es ist eine Angst in ihm, aber diese Angst ist seine Energie. [… Es] ist die ganze Macht der Sinnlichkeit, in Angst geboren, und Don Juan selbst ist diese Angst, aber diese Angst ist eben die dämonische Lebenslust.“ Wie ein über die Wasserfläche hüpfender Stein tanze Don Juan über den Abgrund hin – „jubelnd in seiner kurzen Frist“.13 Was sich später bei Heidegger zur existentialistischen Formel der „Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst“ verfestigen wird, ist hier in einem Bild eingefangen, das sich an einer flüchtigen melodischen Wendung in Mozarts Ouvertüre zum Don Juan entzündet hat: Wie weit entfernt sich eine solche Weise der Rezeption vom Buchstaben des Notentextes. Wie fühlbar macht dieses Bild andererseits das erotische Defizit des thetischen Existentialismus in der Art von Sein und Zeit. Wie viel also hat die Philosophie noch von der Musik – und nicht nur der Musik – zu lernen. Wer nun die ganze Oper hört, findet dann doch eine erstaunliche Korrespondenz zu ihrer existentialistisch gedeuteten Essenz in jenem „hinsterbenden Bogenstrich“ der Ouvertüre: Diese knappe musikalische Geste einer Angst, die das Leben als Dasein selbst „ist“, kehrt kurz vor dem Schlußtableau der Oper wieder. Eben an dieser Stelle offenbart Don Juan für einen Augenblick auch im Wort seine bis dahin latent gebliebene Angst: Niemals habe er geglaubt, dass der Steinerne Gast seiner Einladung Folge leisten würde. Vor dem ihn vernichtenden Handschlag jedoch sagt Don Juan – und im Orchesterhintergrund erscheint erneut der musikalische „Wink“ – : „A torto di viltate tacciato mai sarò! Ho gia risolto! Ho fermo il core in petto, non ho timor; verrò!“ Während der unter ganz profaner Angst leidende Diener Leporello ihm zurät, Nein zu sagen, antwortet Don Juan auf die Aufforderung des Steinernen Gastes, ihm die Hand zu reichen: „Eccola!“ Der Rest der Geschichte ist bekannt. Camus hat es als späterer philosophischer Deuter der Gestalt des Don Juan im Zeichen der Absurdität menschlicher Existenz lapidar so zusammengefaßt: „D o n J u a n hat gewählt, nichts zu sein. […] Was zuletzt kommt, das Ende, erwartet, aber nie gewünscht, das endgültig Letzte, ist verächtlich“.14 Dritte Variation: prélude Frédéric Chopin und Friedrich Nietzsche „Prélude für Klavier es-moll“ (1839) Friedrich Nietzsche inspirierte die Gestalt des Don Juan, die er, ähnlich wie Kierkegaard, vor allem durch Mozarts Musik erfahren haben dürfte,

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zur Idee eines „Don Juan der Erkenntnis“, der „das absolut Wehetuende“ sucht und deshalb letztendlich nach der Hölle als dem Ort der äußersten Verführung verlangt. Nach dem Bruch mit Wagner war Nietzsche unermüdlich auf der Suche nach einer neuheidnischen Musik des Südens jenseits der Romantik. Als Erfüllung proklamierte er vor allem ein anderes tönendes Liebesdrama, nämlich George Bizets Oper „Carmen“. Die Erfahrung dieser vollkommenen Musik habe ihn selbst zum „Meisterstück“ werden lassen. „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist frei macht? dem Gedanken Flügel gibt? dass man umso mehr Philosoph wird, je mehr man Musiker wird?“15 Entsprechend erschien ihm nun das Musikalisch-Erotische als Ausdrucksform des von ihm zum Weltprinzip erklärten „Willens zur Macht“: Diese „in die Natur zurückübersetzte Liebe“ sei keine romantische Sentimentalität, sondern „Liebe als Fatalität“, – „zynisch, unschuldig, grausam“. Ihr Mittel sei der Krieg und ihr tiefster Grund der „Todhaß der Geschlechter“. Nietzsche wußte andererseits, wie tief er selbst bis zum Ende dem expressiven Musikbegriff wider bessere Einsicht verhaftet blieb. In einem seiner letzten Briefe qualifiziert er sein Plädoyer für „Carmen“ als „ironische Antithese gegen Wagner“. „Tristan und Isolde“ sei für ihn immer noch „das kapitale Werk und von einer Faszination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohnegleichen ist.“ Als Philosoph war Nietzsche der verhinderte Komponist par excellence. Er brauche den „musikalischen Exzeß“, gesteht er Cosima Wagner, und diesen realisiert er durch Fantasieren auf dem Klavier. Als Hans von Bülow seine als kritische Antwort auf Schumanns ManfredOuvertüre komponierte Manfred-Meditation rundweg als „bedauerliche Klavierkrämpfe“ und „Notzucht an der Euterpe“ bezeichnet, rechtfertigt sich der Philosoph mit dem therapeutisch unerläßlichen „Affektionswert“ seiner eigenen Musik. Es bleibe ihm „ewig sonderbar“, „wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Charakters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, dass auch der Mann daran nichts geändert wünscht.“ Dieses Grundwesen aber tönt ihm zugleich aus Wagners Musik. Von solcher Identifikation vermag er sich nicht zu lösen. Noch im Parsifal glaubt er seine eigenen kindlichen Versuche wiederzuerkennen, „das Mysterium auf die Bühne zu bringen“. Die derart in doppelter Weise personifizierte Verfallenheit an die metaphysische Botschaft der Musik als „Wissen durch das Gefühl“ dokumentiert schließlich in spektakulärster Form sein 1882 vergeblich unternommener Versuch, seinen aus einer Jugendkomposition kompilierten „Hym-

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nus auf das Leben“ als ein von Lou von Salomé in lyrische Form gebrachtes „Glaubensbekenntnis in Tönen“ zur Quintessenz seiner Philosophie zu erklären und verbreiten zu lassen. Von der Wirkung dieser Musik erhoffe er sich, dass sie die Menschen zu seiner Philosophie „verführen“ könne. Noch 1887 äußert Nietzsche in einem Brief an den Dirigenten Felix Mottl den dringlichen Wunsch, „daß dieses Stück Musik ergänzend eintreten möge, wo das Wort des Philosophen nach der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der Affekt meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus.“16 Nietzsche, der den Widerspruch liebte und sich offen zu ihm bekannte, überrascht in seiner späten autobiographischen Schrift Ecce Homo mit einer Alternative zu Wagner, die auf andere Weise ein Bekenntnis zum expressiven Musikbegriff in seiner hochromantischen Variante formuliert: „Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben.“ Jahre zuvor hatte er ihn den „Unnachahmlichen“ genannt: „Alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht“. Abenteuerliche Urteile eines Philosophen über Musik jenseits aller rationalen Begründung. Aber vielleicht ist Evidenz wiederum einzig als „Wissen durch das Gefühl“ im Hören zu erlangen, ebenso unbeweisbar wie in spezifischer existentieller Aneignung unbestreitbar. Als sich Nietzsche im Namen Voltaires und der Aufklärung von Wagner abwandte, formulierte er die auf die Moderne vorausdeutende entscheidende Kritik an dem in der Romantik kulminierenden Anspruch des expressiven Musikbegriffs: „Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Inneren und käme aus dem Inneren.“ In der langen Entwicklung der Verbindung von Musik und Sprache sei „endlich die musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen“ worden. An sich sei „keine Musik tief und bedeutungsvoll“. „Der Intellekt selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt.“ 17 Aus dieser Perspektive, die nicht die der existentiellen Aneignung, sondern die eines historisch-kritischen Konventionalismus ist, folgt als Warnung: Cave musicam. „Solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr Ewig-Weibliches zieht uns – hinab!“ Ja, er geht so weit zu behaupten, dass die expressiv-musikalische „Minimal-Ausschweifung“ fortwährend wiederholt zur „Untergrabung der geistigen Ge-

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sundheit“ führen könne, darin „irgendeinem groben Exzeß“ nicht unähnlich. Sie kommt „wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters“ für den der Zukunft zugewandten Philosophen entschieden zu spät. „Die Musik ist eben nicht eine allgemeine überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaß, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Kultur als inneres Gesetz in sich trägt.“18 Dieses Gefühlsmaß steht in Überwindung aller romantischen Dekadenz im Zeichen der geforderten „Umwertung der Werte“ entschieden zur Disposition. „Die Musik erlangt ihre große Macht nur unter Menschen, welche nicht diskutieren können oder dürfen“19, sagt nun der Philosoph, der der eigentlichen Sprache des Begriffs wieder mächtig sein will. Warum aber blieb es für Nietzsche ganz persönlich nicht einmal bei einer „Minimal-Ausschweifung“, sondern beim „großen Exzeß“? Widerspruch über Widerspruch. Vierte Variation: bagatelle Anton Webern und Theodor W. Adorno Bagatelle für Streichquartett op. 9 Nr. 3 „Mäßig fließend“ (1913) Die Kategorie des Widerspruchs prägt auf andere Weise auch Adornos Philosophie, der die vierte Variation gewidmet sei. Er möchte den expressiven Musikbegriff im dialektischen Gang durch die Geschichte für die Moderne retten, die sich doch – wie eingangs am Beispiel Strawinskys erläutert – auch abseits der radikalen Avantgardebewegungen eher gegen diese Tradition wendet. Wie bekannt, versucht Adorno dieses Problem dadurch zu lösen, dass er in der „Philosophie der Neuen Musik“ Schönberg und seinen Kreis als Hort des legitimen Fortschritts der Moderne auszuzeichnen versucht. Der seinerseits schon aus historischen Gründen nahezu obsolet gewordene normative Absolutismus sei hier nicht weiter diskutiert. Interessant bleiben die spezifischen Argumente für eine Fortdauer des expressiven Musikbegriffs. Er wird zunächst im Sinne einer dialektischen Bewegung mit seinem Gegenbild, dem konstruktivistischen Musikbegriff, verschränkt, der im 19. Jahrhundert in Hanslicks zeitgenössisch vor allem an der Brahmsschen Satzkunst bewährter Formel von der Musik als „tönend bewegter Form“ einen Vorläufer hatte. Vereinfacht gesagt, gewinnt Adorno den höchsten Begriff einer Kunst der Moderne aus dem Heroismus einer äußersten Spannung von expressivem und konstruktivem Pol, für die – um an das Schicksal des

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musikalischen Liebesdramas zu erinnern – als herausragendes Beispiel die ästhetische Komplexität von Alban Bergs Oper Wozzeck zu nennen ist. Eine vergleichbare Dialektik sieht Adorno im Verhältnis von Musik und Sprache am Werk. Die Erfahrung einer der Sprache des Begriffs inkommensurablen Bestimmtheit des Unbestimmten, als Signatur des „Rätselcharakters“ von Kunst insgesamt, ist mit Wagners These durchaus kompatibel. Adorno sagt selbst, „eine Dimension der romantischen Erfahrung“ habe hier eine bleibende Stätte. Deshalb verwundert es nicht, dass das „Wissen durch das Gefühl“ bei aller, solches Wissen vorgängig, begleitend und nachträglich schärfenden, kognitiven Anstrengung des Begriffs das entscheidende Kriterium für das ästhetische Urteil bleibt. „Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos, ihr sprachloses Moment hat Vorrang vor dem signifikativen der Dichtung“, lautet einer der vielen paradoxalen Aussagen, mit denen Adorno diese Dialektik umkreist.20 Zur Abwehr eines reinen Subjektivismus dient wiederum eine dritte Dialektik, die die folgende These formuliert: „Ausdrucksvoll ist Kunst, wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht. Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke.“21 Wiederum denkt Adorno hier vor allem an die Physiognomik musikalischen Ausdrucks. Was nun die Konkretion des Expressiven in der Musik der Moderne betrifft, so sei diese an einer vierten Dialektik vorgeführt, die vereinfacht besagt, dass die einzig noch authentische expressive Geste diejenige ist, die sich allen historischen Reminiszenzen, allen Versatzstücken, aller Wiederholung verweigert. Aufs äußerste konzentriert ist sie daher von der „Furie des Verschwindens“ bedroht. Sie nähert sich gleichsam asymptotisch dem Schweigen. Adorno sah diese Tendenz vor allem bei Anton Webern am Werke. Dieser jedoch war weniger für solche negative Dialektik als für andere Formen philosophischer Aufladung der Musik empfänglich. Zuletzt ist es Platons Nomos, der ihm den „tiefen, unergründlichen, unausschöpfbaren Sinn“ vermittelt, wie er als ewiges Naturgesetz in seiner eigenen Musik widerklingen soll. Andererseits gibt es ein Webern-Wort, das das romantische Gefühl in seiner kürzesten Formel beruft: „… meine unsagbare Sehnsucht!“ Adorno kommentiert die hier erreichte äußerste „Intensivierung des Ausdrucks“ mit einer Variante der Grundthese: „Solche Prägnanz des musikalischen Sinns ist die Frucht einer Reduktion des Erklingenden, die dem Differenziertesten Raum schafft durchs Verschweigen.“ Dem Philosophen bleibt die schwierige Aufgabe überlassen, uns darüber

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aufzuklären, warum die Logik des Verschwindens nicht mit dem realen pluralistischen Entwicklungsprozeß der Moderne zur Deckung zu bringen ist. Einem Schüler blieb es vorbehalten, anlässlich der Schallplattenaufnahme von Weberns Bagatellen im Jahr 1971 über einen Zeitraum von fast sechs Jahrzehnten hinweg zu behaupten: „Kritischere und daher wahrere Musik wurde nie geschrieben.“ Spätwirkungen emphatischer Expressivität. Fünfte Variation: aventure György Ligeti und Umberto Eco „Aventures für drei Sänger und sieben Instrumentalisten“ (1963) Ein anderer Bewunderer Weberns machte demgegenüber die Expressivität der Musik im Sinne der vielfältigen metakritischen Tendenzen der Moderne zum Thema einer Analyse, die sich jeder direkten „Fühlungnahme“ verweigert. György Ligetis 1963 uraufgeführte Aventures sezieren eine Vielzahl von Ausdrucksgesten, indem sie diese als Lautsequenzen einer asemantischen Sprache vorführen. Verschiedene expressive Schichten werden derart musikalisch freigelegt, in manchen Episoden für sich, in anderen tumultuarisch übereinandergelegt. Schon nach ca. 25 Sekunden taucht nach einem „tiefen Seufzer“ die Vortragsbezeichnung „mit Sehnsucht“ auf. Die Romantik wird als historisches Klischee zitiert und durch eine Baritonstimme „molto espressivo“ vorgeführt. Die damalige Situation der Neuen Musik charakterisierte Ligeti selbst in seinem Vortrag Über Aventures im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse 1964 mit dem Satz: „Wenn man über Expressivität gesprochen hat, das hatte ein bisschen einen schlechten Geruch. Es schickte sich nicht, sozusagen, expressiv zu sein.“ Wenn man diese Metamusik der Expressivität, die ausdrücklich die seit Kierkegaard von Philosophen so stark beachtete Schicht des Musikalisch-Erotischen einschließt, mit neuerer Philosophie assoziieren möchte, so ist der Verweis auf die semiotische Denkweise in allen Fragen der Ästhetik naheliegend. Umberto Eco hat immer wieder darauf verwiesen, dass wir es im Grunde nie mit Entitäten, sondern immer nur mit Zeichen zu tun haben, die auf andere Zeichen verweisen, ein bewegliches und vieldeutiges Spiel der „Intertextualität“ bzw. „Intermedialität“, das alle Aspekte der Kultur umfasst, ohne je zur Ruhe zu kommen. Auch das Subjekt, das wie Carl Philipp Emanuel Bach sein innerstes Gefühl offenbaren möchte, erweist sich aus semiotischer Perspektive lediglich als eine spezifische Kette von Zeichen.

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So gesehen kann es nie jene Erfüllung geben, wie sie der expressive Musikbegriff ursprünglich suggeriert und wie sie das naive Publikum bis heute erstrebt, wenn es zum Beispiel in die Oper geht und sich von „Don Giovanni“, „Tristan und Isolde“ oder „Carmen“ überwältigen lässt. Die von ihm geschichtsphilosophisch auch als „postmodern“ qualifizierte Haltung bestimmt Eco demgegenüber als eine solche „mit Ironie“ und „ohne Unschuld“. Der semiotisch aufgeklärte Hörer, der mit Ligeti die „Abenteuer des Ausdrucks“ weniger mitempfindend als mitreflektierend als semiotische Gesten erkennt, weiß dann, dass man heute z. B. die Liebe nicht mehr im strikten Sinne als Gefühl „erleben“ kann. Eco paraphrasierend weiß ein solcher Hörer, dass es sich nur um eine potentiell unendliche Verschiebung eines Zeichens bzw. einer ganzen „Grammatik der Liebe“ (Roland Barthes) handelt und als romantische Geste einzig noch der Satz gestattet wäre: Früher hätte man in dieser Situation sagen können: „Ich liebe dich“. Doch ist auch die semiotische Auflösung des Problems ästhetischer Expressivität auf Dauer gesehen zu einfach, um wahr zu sein. Ligeti selbst hat jenes inzwischen auch in einem ästhetischen Sinne historisch gewordene Stadium seines musikalischen Schaffens längst verlassen, sich später gegen die angebliche Dogmatik der Avantgarde gewandt, und wird seit dem Horntrio, das durchaus ohne Ironie starke expressive Gesten von Beethoven und Brahms zitiert, sogar mit Neoromantik assoziiert. Heute, zu Beginn des neuen Jahrtausends, sind die Verbindungen zwischen Tradition und Moderne im übrigen längst so komplex und gleichzeitig so diffus geworden, dass sie sich von keiner Philosophie mehr in eine bestimmte Formel bannen lassen. Hinzu kommt die interkulturelle Entgrenzung, die Ligeti selbst bewußt gefördert hat, indem er Elemente anderer Musikkulturen, des Jazz, der Pop-Musik und vor allem der Ethnomusik vom Liebeshecheln der Eskimos bis zur eigentümlichen Polyphonie der Aka-Pygmäen in sein kompositorisches Denken einbezog. Für beide Blickrichtungen seien abschließend noch zwei Variationen des Wagnerschen Ausgangsthemas als Dialog von Musik und Philosophie vorgeführt. Sechste Variation: passion Johann Sebastian Bach und Hans Blumenberg „Matthäuspassion“ (1729) Würde heute unter sogenannten gebildeten Hörern eine Umfrage stattfinden, welches Musikwerk für sie ein Höchstmaß an Expressivität be-

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sitze und in der Verbindung von Musik und Sprache zugleich dem Gefühl „Unaussprechliches“ mitteile oder zumindest suggeriere, so dürfte Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion einen der vordersten Ränge, wenn nicht gar die erste Stelle einnehmen. Dies wäre vordergründig ein Triumph des expressiven Musikbegriffs, weil dadurch auf schlagende Weise seine Verallgemeinerungsfähigkeit demonstriert wäre: Galt Johann Sebastian Bachs Werk zur Zeit der Genese des neuen, in der Romantik kulminierenden Musikbegriffs mit einigem Recht als „ekelhafte Prahlerei mit harmonischen Künsten“ „ohne Ausdruck, ohne Gesang“, so hat sich diese Bewertung mit der Differenzierung ästhetischer Expressivität fern der von Rousseau und Herder beschworenen Gefühlssphäre des einfachen volksliedhaften Gesangs inzwischen geradezu umgekehrt. Die im Schlager überlebenden expressiven Schemata gelten längst als trivial, während sich die Bachsche Passion nunmehr sogar als Argument gegen alle geschichtsphilosophische Skepsis ins Feld führen lässt. Werden wir mit diesem Beispiel also nicht doch auf die Evidenz eines alle historischen Relativierungen sprengenden „Wissens durch das Gefühl“ an den Grenzen begrifflicher Sprache zurückverwiesen, wie sie Wagner im Grundthema formulierte? Als Mauricio Kagel als der große Ironiker der Musik des 20. Jahrhunderts zum Jubiläum des Jahres 1985 die St. Bach-Passion schrieb, wählte er als Motto den Satz „An Gott zweifeln – an Bach glauben“. In diesem Sinne gestand der atheistische Philosoph und Schriftsteller Cioran: „Wenn wir Bach hören, sehen wir Gott aufkeimen, sein Werk ist gottheitgebärend. […] Sonst wäre das gesamte Werk des Kantors eine zerreißende Illusion. […] Wenn man bedenkt, dass so viele Theologen und Philosophen Tage und Nächte damit verloren haben, nach Gottesbeweisen zu suchen, und den eigentlichen vergessen haben …“22 Dies wäre zunächst ganz im Sinne der Romantik und ihrer Vision der Kunstreligion als innigster Verbindung der Sphären von Kunst und Religion im Zeichen des ästhetischen Gefühls. Hatte ein anderer atheistischer Philosoph, nämlich Nietzsche, die wohlkalkulierte Ausbeutung dieser Vision in Wagners christlich gestimmtem Bühnenweihfestspiel Parsifal scharf kritisiert, so blieb er für Bachs Botschaft offenbar emphatisch empfänglich. Berühmt ist sein Bekenntnis in einem Brief aus der Basler Zeit: „In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedesmal mit demselben Gefühl der unermeßlichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium.“23

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Hans Blumenberg hat in seiner 1988 erschienenen philosophischen Matthäuspassion solche Erfahrungen – gleichsam als neue Variation des Wagnerschen Grundthemas – zu einer vehementen historisch-kritischen Abrechnung mit der paradoxalen Sprache der christlichen Philosophie und Theologie genutzt: Die Präsenz der Bachschen Musik und ihrer Expressivität lasse uns die Zumutungen der Sprache „überhören“, die uns von einem Gott berichtet, der sich durch die Sünden der Menschen derart beleidigt fühlt, dass er seinen eigenen Sohn der schlimmsten Passion unterwirft. Im Grunde stellt dieses humane „Wissen durch das Gefühl“ wider die eigene Überzeugung des Komponisten die Botschaft des Christentums in Frage. Denn müßte sich nicht Gott selbst, wenn er existierte, am Ende mit Tränen niedersetzen, „als einer der Fassungslosen, zu denen die Gewalt der Passionsmusik die Gemeinde gemacht hat“? Damit aber würde er seinen „eigenen unergründlichen Beschluß“ in Frage stellen. Er würde sich in seiner Allmacht negieren. Auch das gehört in der Tat zur romantischen Vision des expressiven Musikbegriffs und seines mythischen Anwalts Orpheus: dass solches „Wissen durch das Gefühl“ angesichts der gewalttätigen Aktion zur Passion anderer Art führen möge: der endgültigen Befriedung unter dem Eindruck eines unverbrüchlichen Liebesverhältnisses. Siebente Variation: sentiment Billy Holiday und Jean-Paul Sartre „Some of These Days“ (1938) Ausgelöst durch das Gefühl der Fremdheit einer Hand, die bei einer Begrüßung „wie ein großer weißer Wurm“ in seiner eigenen Hand liegt, erfährt Antoine Roquentin das Dasein, das Leben, die Existenz als etwas gänzlich Zufälliges, Grundloses, Absurdes. Er stößt damit zugleich auf die Grenze der Sprache und ihrer vermeintlichen Erklärungsmächtigkeit, von der vor allem die philosophische Suggestion der Möglichkeit einer Beantwortung existentiell bedrängender Fragen zehrt. Kurz vor dem Schluß des 1938 erschienenen Romans La Nausée von Jean-Paul Sartre konstatiert sein Held: „Alles, was an Wirklichem in mir verbleibt, ist Existenz, die fühlt, dass sie existiert.“24 Die Alltäglichkeit, die ihn umgibt, spiegelt die Beiläufigkeit der eigenen Existenz zurück. Dies gehört zum Wesen des Alltäglichen, den völlig unspektakulären erotischen Kontakt zur Kellnerin Madeleine inbegriffen. Die Lehre solcher Faktizität ist eindeutig. Sie entlarvt vor allem die permanente Verdrängungsarbeit der Hochkultur. „Die Konzertsäle sind brechend voll von

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Gedemütigten, Beleidigten, die mit geschlossenen Augen versuchen, aus ihren bleichen Gesichtern Empfindungsantennen zu machen. Sie bilden sich ein, dass die eingefangenen Töne, milde und erbaulich, in sie einfließen und dass ihre Leiden Musik werden. […] Diese Idioten“.25 Beim Abschied von Bouville will ihm Madeleine noch eine Freude machen und ihm ein letztes Mal „seine“ Platte vorspielen. Doch ihn bedrängen weiterhin „diese peinigenden Gedanken, die die Form von nichtformulierten Fragen, von stummem Erstaunen angenommen haben“ und ihn nicht verlassen. Die Existenz der Welt erscheint ihm so häßlich wie „diese schmutzigen Gläser auf den Tischen“ der Brasserie. „Aber jetzt ist da das Saxophon. Und ich schäme mich. Ein kleines Leid, ein vorbildliches Leid ist da soeben zur Welt gekommen. Vier Saxophonnoten. Sie gehen und kommen, sie scheinen dir zuzurufen: ‚Du mußt es machen wie wir: du mußt im Takt leiden!’“ Und er ertappt sich bei dem Gedanken, die Existenz aus sich austreiben zu wollen, – „um schließlich den reinen, sauberen Ton einer Saxophonnote“ von sich zu geben.“26 Nun singt die Stimme: „Some of these days / You’ll miss me honey.“ Dann schweigt die Stimme der Sängerin. Roquentin möchte sie noch einmal hören. Sein Problem gewinnt eine neue Form; er wendet sich von der eigenen Existenz ab und hin zu der Existenz eines anderen Menschen, deren einziges Lebenszeichen für ihn die Spurrillen dieser Schallplatte sind. „Die Negerin singt. Kann man also ihre Existenz rechtfertigen? Ein klein wenig?“ Er verlässt das Lokal mit einem „unbestimmten Gefühl“, wie es heißt.27 Wagner ist nun am Ende meiner Ausführungen fern. Diese Gegenwärtigkeit eines Mythos ist gewiß nicht die von ihm gemeinte. Im Gegenteil. Doch besteht der Sinn von Variationen ja gerade darin, dass sie ein Thema weiterentwickeln, neu fassen und darin auch kritisieren, so dass es an dieser Stelle nicht noch wiederholt werden muss.

Anmerkungen 1. Igor Strawinsky, Musikalische Poetik, Wiesbaden 1960, 27. 2. Wagner, zitiert nach: Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a. M. 1994, 215. 3. Wagner, zitiert nach: Jürgen Kühnel, Wagners Schriften, in: Richard-Wagner-Handbuch, hg. v. Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart o. J. [1985], 518. 4. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Göttingen 1968, 29.

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5. Rousseau, zitiert nach: Musik. Geschichte ihrer Deutung, hg. v. Hermann Pfrogner, Freiburg 1954, 211. 6. Johann Gottfried Herder, Kalligone, in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. XXII, Berlin 1880, 68. 7. Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, hg. v. Hermann Diem und Walter Rest, Köln und Olten 1960, 112. 8. Ebd., 142/129. 9. Ebd., 156. 10. Ebd., 154. 11. Ebd., 154. 12. Ebd., 156. 13. Ebd., 156 f. 14. Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos (1943), Reinbek 1959, 61 ff. 15. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München 1955, 907–908. 16. Brief an Felix Mottl vom 20.10.1887, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe der Briefe, Bd. 8, München 1986, S. 172 f. 17. Ebd., Bd. 1, München 1954, 573. 18. Ebd., 801. 19. Ebd., 939. 20. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 171. 21. Ebd., 170. 22. Zitiert nach Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988, 109. 23. Friedrich Nietzsche, Brief an Erwin Rohde vom 30. April 1870. in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe der Briefe, Bd. 3, München 1986, 120. 24. Jean-Paul Sartre, Der Ekel, Reinbek 1963, 178. 25. Ebd., 182. 26. Ebd., 183. 27. Ebd., 186.

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The Role of Emotions in the Reception of Artworks Emotions, as feelings in general, have been regarded as suspect in the metaphysical tradition from Plato to Kant. Emotions, like all the things constantly in motion, and thus transient and contingent, were destined to be overcome by things eternal, immortal and necessary. Emotions were regarded as objects of philosophical inquiry in close relation to mere opinions. If one casts only a cursory glance on the œuvre of Aristotle, one will immediately perceive the difference in his treatment of emotions and feelings in Ethics or Metaphysics on the one hand and his Rhetoric on the other. In the normatively constructed Metaphysics and in Ethics emotions played the role of mere matter and the emphasis was put at molding them into virtues, in the more empirical Rhetoric they were discussed in their own right. Something similar happens in Kant’s pragmatic Anthropology. There is, hwever, one exception from the general rule. And the exception is the phenomenon we have since termed ‘art’. Aristotle secures in his Poetics a pride of place right beside philosophy for tragedy and the reception of tragedy. And Kant will relate, in The Critique of Aesthetic Judgment, the faculty of pleasure/displeasure to the a priori reflective judgment, and it is as such inserted as an equal player into the system. It is presupposed, although not always spelled out, that the delight experienced by the sight of beauty, including the beauty of art, is somehow miraculously exempt of the low and blameworthy character of sensuality and feelings. While in the quest for truth and in the realm of practical and pragmatic action, in the world of knowledge, goodness and even usefulness, feelings play allegedly – at least – a problematic part and should be subjected to the governance of spirit or reason, when it comes to the delight taken at the reception of works of art and beauty, just the opposite is the case. Emotions and feelings elicited by

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works of art do not impede but rather enhance the possibility to overcome our particularity, contingency and limitedness, and let us turn towards the Eternal, the Highest. I must add, that the subtle, elevated emotions related to artworks are attributed – from Aristotle to Kant – solely to the recipient. The attitude of the recipient is contemplative, immobile, all ears and all eyes, above and beyond pragmatic and practical ends, actions and choices. It is only in the sate of pure reception that sensuality can become the trigger towards the development of higher, subtler, more spiritual emotions. It happened fairly late in the 19th century that the role of feelings and emotions in the process of creativity became also systematically addressed. Surely, there were forerunners and not even minor ones, like Plato’s remarks on poetic madness, or Ficino’s interpretation of the holiness of the possessed poet. Yet the increasing domination of non-mystical rationalism has marginalized those early approaches. At the time when the relation of emotions and creativity became systematically scrutinized, it turned out that there is something in our mental/psychological outfit which is equally crucial both in reception and creation, and this is imagination, fantasy. I need to confess in advance that I will not even try to offer an answer to the question of the relation between emotional life and creativity, for at least one reason. The question cannot be answered generally, least in a philosophical theory, since the emotional input in creativity is idiosyncratic, unique in each and every case. Whether great passions, madness or rather impassibility and keeping a cold distance are the condition of innovative creativity cannot be decided. The question is, in this generality, simply futile. In referring to ‘simple’ feelings one has already simplified the issue of feelings, and still, one cannot help to begin the discussion with simple feelings. I will call feelings simple if they are genetically programmed, if their presence or absence is not dependent from concrete situations or provocations, although they normally answer to concrete stimuli. Such so called simple feeling-qualities are the ‘substrates’, the raw materials of all complex feelings, emotions and emotional dispositions. There are two kinds of such simple feelings. First, the feelings of pleasure/displeasure or pain, in other words: the so called good or bad feelings. Most philosophies begin the analysis of feelings with such simple feeling-qualities. In addition to the elementary feelings, one distinguishes also a few genetically programmed affects like fear, anger, shame and disgust, and also innate drives, like hunger, thirst, sexual drive/libido.

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The simple feelings begin to differentiate and to combine with one another right after our birth, and they soon establish feeling/chains and begin to be transformed into emotions and emotional dispositions via the use of language, the integration of cognition and situation – through experience and education – into the raw material of simple feelings. In everyday life, all emotions, drives and also all emotional dispositions – love, hatred, jealousy, envy and the like – are ego-centered, at least in so far as they orient our Ego in the world. They are judgments and also road-signs. For example, I am not afraid in general, I am afraid of something, and I must find out from what I should be afraid of. Fear as emotion assesses – judges – the situation and orients our ego. Such a judgment and road-sign is not like linking a feeling to a cognitive assessment, for the emotion itself judges and is the road-sign. This means that the situation and the cognitive assessment of the situation, of the values, and of the drive co-constitute the emotion. Fear of the wolf is not the same fear as fear from the examination or fear of the loss of honor. The emotion of fear itself is different in each of these cases. This is why it is so difficult, or rather impossible, to describe or to define singular emotions. Being aware of the difficulty, Aristotle supported in his Rhetoric all his definitions or descriptions with the presentation of several paradigmatic cases. ‘Paradigmata’ are representative expositions which accompany in Aristotle’s Rhetoric the analysis of single emotions. To put a long story short: all everyday emotions are complex combinations of simple feelings, so that cognition and situation, that is knowledge and beliefs, judgments concerning true and false, right and wrong, inhere in the emotions themselves. Each everyday emotion and emotional disposition which orients us in practical situations are directly ego-related: either to our personal Ego, that is our Self, or to our broader Ego, to our enlarged Ego, that is, the We. Thus all pragmatic and practical emotions – especially emotional dispositions such as love and hatred – represent the Ego-interests, be they egoistic or altruistic in their orientation. It does not make any difference whether the feeling makes good or bad, useful or harmful judgments, since all judgments can be right or wrong. Everyday emotions – emotions in everyday life – are thus not universal, not general; they are to be understood under the category of particularity, of difference, mostly un-reflected difference. What happens then with our emotions in turning around and contemplating a work of art? What happens if we face a work of art while assuming the attitude of a recipient? We are abstracting from our every-

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day situation, we suspend our pragmatic and practical interests, we abandon ourselves. Self-abandon is an erotic gesture. The erotic attraction, which appears in practical and pragmatic everyday life – with the sole exception of passionate love – mostly in heterogeneous relations, will be concentrated in one singly point, one single experience. Concentration is accompanied – as also in cognitive tasks – with intensification. I am whole ear or whole eye and, simultaneously, I expose myself to the provocation – so to speak – naked, without reservations. This means that I let myself provoked by the work and this is what we call Beauty. When the lovers establish a reciprocal relation, the erotic contact will also become bipolar. In reverse, if it does not come to a mutual erotic attraction, one can hardly speak of delight in the strict meaning of the word. Experiencing delight in art is thus a mutual erotic relation, where the work of art too abandons itself to the single recipient. The work of art acts as if it were a person, for only souls can reciprocate our love. When we are falling in love with a work of art and it reciprocates our feeling, there is a relation. When the work of art is leaving us cold, there will be none. This means that a work of art cannot harm us, never hates us, does not promote its own interests against ours, will never steal our beloved or destroy our country etc. This is the reason why in the state of receptive orientation we can suspend all our concrete emotions, which otherwise orient us in our everyday practical and pragmatic activities. Although they are only suspended, they vanish insofar as they get decomposed into original simple feelings. They are falling back into their original simplicity while in this state of unique self-abandon, precisely because they get disconnected from all life situations, from all knowledge- and belief dependent evaluations, that is from their ego-relatedness. They become free floating feelings. What remains preserved in those free floating feelings, since they are human feelings, is the openness, the readiness to reconstitute themselves again into concrete emotions or emotional dispositions. The readiness to emotion-constitution is preserved not just because this readiness inheres in human feelings, yet because the disconnection of everyday emotions is triggered also by an emotion, the sudden infatuation into a work of art. This love is not related to the pragmatic-practical ego, but to the contemplative ego, the ego of the spectator. This love does not serve interests. Among all the emotional dispositions love alone is here preserved because all the other emotional dispositions, such as hatred, envy, jealousy have been suspended and as a result they vanish as long as the ego-orientation will

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remain contemplative. Love, however, preserves its quality as an emotional disposition. It does not appear only directly as an occurrence, an isolated event, yet it is also preserved during the sequences of several and different concrete emotional occurrences. All those emotional occurrences are then the indirect situation dependent manifestations of the direct situation independent disposition: love. Emotions, as we know, are also judgments. All the concrete emotional occurrences are thus judgments triggered by the presentation of a work of art, and all of them inhere in the mutual love between recipient and work. Very similar thing happens here as in everyday life. We see how the simple freefloating feelings become co-determined through situations and cognition. But those situations, meanings, are presented not by the everyday context of action, but by the work of art itself. I am inclined to say that even the Kantian norm of aesthetic judgment, that it should be ‘without interest’, can be interpreted in the spirit of the above conception. In their readiness to reception, in their openness and love for an artwork, the emotions in the situation of the absence of situations are no more ego-related and in this sense they are free of interest. One can also describe this situation as a no-situation, where all the cognitively co-constituted emotions are simultaneously suspended. What remains here, left from the emotional world, are but simple feelings without concepts. Yet, as already mentioned, exactly these free floating, undetermined, interest and concept free feelings will be transformed into new kinds of emotions in the process of the reception of a work of art. Those emotions, albeit no ego-related, are selffurthering all the same. Without self-furthering, there can be no delight. Yet this kind of self-furthering differs essentially from ego-relatedness in daily life, since it is not egocentric. Needless to say, altruism has as little to do with this pure self-furthering emotionality as egoism does. The delight experienced in our encounter with a work of art is not a kind of moral praxis. The new emotions which emerge from the free floating feelings after the recipient has assumed the situation of contemplation will be different and will also be constituted in different ways, dependent on the kind or character of the work of art we contemplate. They will appear in different orchestrations whether we read a novel, listen to music, look at a painting and so on. Not only because of this, yet also because of this, I do find it problematic to speak of works of art as such, in general. The different kinds of arts are essentially different also in this respect. Yet, and this paper is chiefly about this ‘yet’, it is still meaningful

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to refer to art as such. The original disconnection of feelings from all the ego-centric emotions of everyday life, as well as their cognitive codetermination and their emotional re-arrangement in reception, happens in the encounter with all kinds of artworks, be they dramas, concertos, statues, buildings, operas, poems or else. The sole relevant analogy to the re-arrangement of free floating feelings in the reception of art would be the case of religious contemplation or mystic experience. I am aware of the dangers of over-generalization, but I cannot avoid them when in the following I will discuss briefly – too briefly! – some few specificities of the re-arrangement of emotions in the reception of literature, fine arts and music separately. Since language is the medium of literature, the cognitive moment must remain an unavoidable aspect of the reception. When one listens to the recital of a poem in a foreign tongue, one can enjoy the music of the verses, but this is by no means identical with the reception of the poem as a poem, among others also because the free floating feelings are lacking the cognitive crutches which could serve as the vehicles of their re-arrangement into emotions. As far as a drama or a tale is concerned, they cannot be enjoyed even in their sheer musicality, for the assessment of the situation presented in their plot plays an important part in the new-constitution of emotions or emotional dispositions. We must for example understand the situation where Richard III hires murderers to kill his brother for getting to know his character and develop emotions like terror and disgust. Emotions are, as in all cases, motions. Emotions are in motion; they are as elastic during the reception of literature as in daily life. Thus every new interpretation of certain situations will modify the quality and intensity of vested emotions. We all know from experience that the re-interpretation of literary works, characters and situations will modify the quality and intensity of our emotional involvement. Something else plays an important role in the rearrangement of emotions in case of literature what has to do with our identification with the characters, most frequently with the main character. Whether we read a book or follow an action on the stage, we are tempted to look at the development of the plot from the position of one or the other chief character. Whenever one of these characters is thrown into a pleasant or unpleasant situation, be he a Don Quixote, a Hamlet, a Wilhelm Meister, a Marcel or a Hans Castorp, we will perceive their situation as if it were our own, whether we are similar or dissimilar to them, whether we are men or women. Let me repeat: evaluation

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through emotions is not a moral evaluation, at least if the moral effect is not intended by the author, and mostly also even if it is. We sympathize mostly with the central characters in spite of their follies, as in case of Tom Jones, their missteps and weaknesses, as in the cases of Emma or Marianne – in Jane Austen –, yet one is often positively anxious about the fate of main characters even if they are not particularly attractive, such as Raskolnikov or Dimitrij Karamazov. Anxiety can also be blended with hope. We hope for a satisfying – although not happy – outcome, satisfying not just for the main characters, yet also for their world, which became ours. After having mentioned anxiety and hope for a satisfying outcome I need to mention in bracket, that when Aristotle says that fear is one among the two emotional occurrences tragedy effects in the soul of the spectator, he must have had also anxiety in mind, for he could not have insisted otherwise, that the kind of fear elicited by tragedy will purify or relieve our soul from fear as is felt in pragmatic daily life. The other emotion mentioned by Aristotle in this context is empathy. Empathy is in fact one of the most generally occurring emotions during the reception of all kinds of artistic narratives. Others – to enumerate just a few – are: terror, disgust, sorrow, gayness, grief, love, astonishment, pity, amusement and despair. The emotional disposition of love is duplicated in case of literature. There is the primary love relationship with the artwork itself, and there is love vested in a character or in several characters. We all love Rosalind and may love Emma, Pierre Bezuhov, Swann, Tony Buddenbrook and all the others. Thus there are numerous emotions in pragmatic and practical life to get defused in the receptive situation just in order to re-group themselves and to resume a similar yet different quality. Yet there are emotions which will be entirely dissolved and never reappear in the state of reception. These are the exclusively ego-related emotions. One can experience anxiety, love, pain, grief, sadness, satisfaction or gayness in the reception of a drama or a novel, yet one cannot develop the emotions of jealousy or envy. No reader is envious in place of the character she sympathizes with. There are wishes yet no desires normally; one does not experience carnal desire for a literary character. Resentment and vanity are in principle excluded from the possible emotions of a spectator. Spectators can hardly compare themselves with fictitious characters. Yet without factual or possible comparison, there can be neither envy, nor can be vanity, resentment or jealousy. I am not ashamed before the characters of a drama, nor do I hate anyone, not even the mur-

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derer since I cannot take revenge, not even mentally. The recipient is in this sense helpless, lame. Normally artists do not aim at one or the other emotional reception. As a possible exception to this rule one can mention literature with political or moral intent. During the times of high modernism rather the opposite became typical: artists aimed at the absence of any emotional kind of reception, at mere cerebral reception. Brecht’s so-called ‘alienating principle’ is a case in point. One could aim at impassibility through the through and through ironical treatment of the literary material, devising the program of coldness and distancing. Needless to say, the program met with little success. One could avoid to develop certain emotions as the typical effects of an encounter with a certain kind of artworks – e. g. sentimentalism –, yet one cannot circumvent emotionality in general. There are cerebral emotions, which appear often in the reception of the comic, the ironical, the sudden, the perplexing. In addition, the titillating satisfaction, the delight in the play of language is itself an emotion. When a work does not elicit any emotions at all we cannot speak of reception of a work of art. One reads a text then as a scientific tractate. Our relation to a painting has always been similar to our relation to a so-called modern ‘text’ in literature, and dissimilar to our relation to traditional narrative genres. One can become infatuated for example into Vermeer’s canvas titled Young woman reading a letter without developing the emotion of love or even sympathy for the maiden on the canvas – true there are also fetish-objects as the Venus of Milo or Mona Lisa. This obvious difference would already suffice to treat the general description of ‘art’ as such with a kind of suspicion. The re-grouping of feelings into emotions happens also if one faces a painting, and it can be entirely unique in each and every case, moreover, at each and every encounter, yet it does not depend on our emotional involvement in one or the other figurative representations of a Rembrandt or a Van Gogh painting. In this respect our relation to a work by Mondrian or Kiefer does not differ from our relation to a portrait by Ingres. It happens, however, in the reception of fine arts that certain emotions although they have been constituted before our encounter with a work of art, will not dissolve entirely into simple feelings and will co-determine our pleasure or displeasure at the sight of the artwork. This is the case e. g. when a religious man enters a cathedral and experiences delight at the sight grandiosity or elegance of the interior of the building. One can hardly distinguish then the religious sentiments from the aesthetic

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feelings. The frequently misused concept ‘aura’ refers exactly to this entanglement and can be thus meaningfully used precisely in case of the reception of fine arts. The example of the emotional impressions of a religious man while entering the building of a cathedral can be expanded and enlarged. There are holy images in all genres of fine arts, first and foremost in the representation of stories from the Bible in painting and sculpture. One encounters seldom a similar aura in literature. One does not read the Bible as a recipient of an artwork, even if the Bible is, among others, also literature. What is an exception in literature can be typical in fine arts: works of art can themselves thus elicit religious emotions. Yet this religious sentiment is neither practical nor pragmatic, it will melt into the aesthetic feeling, which on its part has already presupposed the attitude of pure contemplation, the state of a situation – a free situation. As a result, not just believers yet also disbelievers are overpowered by religious sentiments whenever they abandon themselves to an ‘auratic’ work. This is almost always the case when the life of Jesus and especially his sufferings are presented on the canvas. Hegel is to be praised for attributing above all fine arts, and especially sculpture, to the period identified as that of Kunstreligion – religion of art. Although I do not share Hegel’s Historismus nor his ideologically underpinned preference for the Greek plastic art and the statues of the Olympians, I still believe that it is most meaningful to speak about “religion of art” in a strict sense when our love is invested in visual images of certain kinds. Walter Benjamin attributed ‘aura’ to pre-modern art and called modern art proper post-auratic. I do not need to go along with him in his interpretation to share his intuition that the visual presentation of the sacred is surrounded by an aura. And this is so not just during the encounter with art in the pre-modern world, but also in our encounter with modernist and post-modern fine arts. The above described conception follows from the presupposition that situation and cognition get reintegrated into feelings in the reception of works of art. When we look at the presentation of Christ on the Cross, the regard of the recipients will wait in readiness for the impact of the aura, and thus their emotions will blend aesthetic and religious sentiments. A recipient, who has never heard about the Man of Sorrow, will in all probability experience emotions like sadness mixed with an aesthetic pleasure, yet without religious co-determinations. For him the scene of Visitation will be no more or less auratic than a Bonnard interior. Where nothing sacred is presented one can hardly speak of religion of art. The so-called subject matter remains in fine arts mostly undeter-

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mined. Lukács spoke of an undetermined objectivity or representation. Thus contrary to literature, the presentation does not offer a clear road-sign to indicate the situation or to suggest the formation of specific ideas, although both are the necessary condition for the re-constitution of relatively steady emotions. Sensuality impresses the recipient in an almost unmediated manner. It is in fine arts that the Platonic thoughts sound most true: it is beauty that we love, and what we do love is beautiful. Moreover, beauty presented for the sight is the most beautiful among all kinds of sensual beauties. I think that the concept of the beautiful has been mishandled when attributed to all kinds of art. It is misused in the sense that it was made redundant, since it could be replaced by concepts such as perfection or ‘unity of form and content’ and the like. Yet in fine arts, the concepts of beautiful and ugly cannot be sidestepped or meaningfully replaced whether human faces or bodies, animals, plants, landscapes, in one word Life, is presented or where sensuality is directly addressed as in colors, lines and their relations. This is why it may not sound too pretentious or as an exaggeration that if pure feelings are re-constituted into emotions in the contemplation of a work of fine art, this emotion will be a purely aesthetic one, except in case of the auratic works. This is not so in literature in general, perhaps only in listening to certain kind of poetry. True, even this pure aesthetic emotion is not pure in the metaphysical and not even in the Kantian sense. Since ‘pure’ in this strict sense, are only the simple and unmediated qualitative feelings, yet none of the co-constituted emotions, even if they are entirely undetermined. It needs to be added that the situation presented on a canvas is by no means always or even mostly an aspect of representation. Also a brush-stroke, a color, a trace can work as a situation. A canvas by Rothko presents situations no less than a still life by Teniers. Several emotions triggered by works of literature in the recipients are either entirely or almost entirely absent in the reception of fine arts. As I mentioned, we do not follow with love or sympathy here anyone. One rarely laughs at the sight of a building, unless it is ugly or misconstrued. Even comic images elicit rather smile, the emotion of curiosity, quiet mirth, the pleasure at riddle-solving or perhaps a bitter taste. Yet we do not burst out of laughter. An aesthetic feeling, or rather an aesthetic emotion, is, as we know, a judgment. This judgment values the work as a whole and not the situations presented in the work – again, with the exception of auratic artworks. I suggested that the presentation in fine arts is undetermined. I

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would now add that it is relatively undetermined. For example, it is not just beauty as such which is presented, but a specific kind of beauty, the beauty of a form of life or way of life. Something is suggested by a way of life what hits the recipient in her emotional epicenter. Incipient in the emotional judgment is the relation of the recipient to the way of life on canvas, in marble or in stones. The way of life thus presented can be a long bygone one, yet it can be also ours. The elementary emotions triggered by a way of life which we recognize as ours are comeliness or the emotion of the uncanny – in German: heimlich-unheimlich –, while the elementary emotion triggered by a way of life of bygone ages is nostalgia. Thus the emotional effect of a work can be entirely different dependent on hermeneutical position of the recipient. I assume that interiors of Dutch genre painters or the plain air canvases of French impressionists elicited in their own time emotions such as astonishment, embarrassment, followed soon by contentment, familiarity, bliss, musing, fun. These are all comely – heimliche – feelings. What is comely to the contemporary is, however, not necessarily also comely for the later generations. Their emotions can be mostly described with the word nostalgia. Moderns for example feel the attraction of the peaceful life of the peasant villagers of Hobbema or the modest forests of Corot, not due to their comeliness, but to their alterity. They would like to be there, to walk among those trees, to share those lives. This has little to do with general nostalgia. The spectators are imbued by the sentiment of nostalgia only as long as they stand before the painting, and not before or after. The nostalgia is the non-mediated answer to the provocation of the painting, without concept and without interest. Very similar things, although not the same thing, can be said about the uncanny – das Unheimliche. The uncanny presented on the canvas is uncanny for the contemporaries. We may assume that the deformed creatures of the hell in a Bosch painting looked uncanny for those who believed in their existence and the evil spell, whereas in our eye they look rather funny or even hilarious. Temporal distance to the comely produces the effect of nostalgia, temporal distance to the uncanny produces a comic effect. Yet this happens only in fine arts. Music is, without reservations, the genre of undetermined message. Naturally, this is unconditionally true only about the so-called ‘pure music’. Songs of Schubert, Schumann or Mahler, carry a certain message through the poetic texts and the expressively composed music. Opera is even less pure music since it has been a kind of Gesamtkunst-

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werk, a total artwork from the times of its conception and centuries before the invention of music drama. Today music, interpretation of music in playing, text, plot, singing, acting, staging, directing, conducting, all those together make the opera what it is, what we enjoy in the opera-theater. To listen to an opera on a record or in the opera-theater where it just happens, where it is in the making, are not the same kinds of listening and even less do they produce the same kind of emotional involvement. Music can also be auratic, like in case of sacred music, oratories or requiems and if it is, it will elicit feelings of sublime, grief and also piety. There are liturgies, themes, sacred stories and their textual interpretations. One can empathize with Händel’s Samson or not, yet one cannot entirely abstract from Milton’s text. Let me briefly return to ‘pure music’, although in a very simplified way. This music has played from the 18th century onwards until the present moment an exquisite role in the creation of modern emotional culture through the creation a group of strong and emphatic lovers. It was Rousseau – among others – who hailed music as the vehicle and medium of emotional expression. His theory is no more persuasive, and several modern composers revolted against it. Still, the question remains open: why was music for centuries praised as the artistic organ of emotional expression, why was it believed that music triggers affections and emotions, that music differentiates our emotional life, why was music associated with emotions for such a long time, and why is this no more the case? Is the statement that music enables the recipient more than other genres to liberate their unconscious feelings and make to mute speak true or not? The trust in the healing effect of music, in music as therapy, in the moral power of music that transforms the cold heart into a feeling heart, the wicked into a sentimentalist and so on, is as old as perhaps music itself. The stars of the myth of music are Orpheus and King David. Is the reversal of the ancient creed true or false? Is it true or false that, as Thomas Mann once said, music is politically – and also ethically – suspect, is it true or false that insofar music elicits emotions we are confronted with inauthentic, regressive listening as Adorno expressed? That the healing power, the moral power of music is a lie, and not even a pious lie? It is easy to use the lash on the recipient, yet the emotional effect of music cannot be whipped out by the use of a lash. Plato was the first to try it and not with great success. True, the emotional effect of music can be used for the good and the bad alike. It can lend force to lies, strengthen bad instinct, even murderous instincts, yet it can also heal

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and make friends of enemies. What Freud has called ‘emotional ambivalence’ cannot be circumvented. Not in music, not anywhere. I dare to insist that contemporary music elicits undetermined emotions as well as the traditional melodies or harmonies, whether the composers would agree or disagree. Perhaps traditional – classical or romantic – music is more comely for the majority of the listeners and they will react to modern or contemporary music as the uncanny, yet both are typical emotional answers to the challenge of a work. Yet I would like to go further in this direction, relying on nothing else but my own emotions and on the emotional utterances, statement of people I know. I think that the emotional answer to the provocation of the artworks, if not also the emotional quality, remains structurally the same, whether one listens to a work by Mozart or by Gubaidulina, Telemann or Boulez, Monetverdi or Sostakovitsh, not even to mention Martynov or Glass. One may object that I left out of consideration the ‘hard’ composers like Stockhausen or Cage. Perhaps this is true, perhaps not. Yet whatever one thinks about these two radical composers, it still remains true that Ligeti, Schönberg on the one hand, Händel and Strauss on the other hand, can equally trigger emotional answers. Whether they do it and what kind of emotional answers these answers will be, depend also, or rather mostly, on the cultural background, musical experience, taste, personality of the recipient. Surely, speaking about recipients I do not have in mind musicologists, music writers or critics, composers themselves or their fellow composers. I have in mind only lovers, the music lovers. Since music offers the lover an entirely undetermined presentation, the naive recipient does not receive solid centers, not even indications, such as situations, concepts ideas, guiding or orienting the re-crystallization of emotions. The simple feeling, these chaotic splitters of the decomposed practical or pragmatic emotions which under the impact of music seek the point for crystallization yet without finding any, circulate in the psyche, which on its part offers them fantasy-images as substitutes for a presented point of crystallization. Those images can also burst out freely from the unconscious of the lover. The impact of unconscious desires can intensify our delight in the music, which on its part, again, furthers the emotional structuring around the images of fantasy. It is emotion, the emotional evaluation which will lead eventually to conceptualization. The emotional lived experience will determine the undetermined objectivity through conceptualization. No one can answer the question as to whether the second motion in Beethoven’s Sym-

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phony number 7 is a funeral march or slow dance music. Moreover, this is not even a question. One listener feels grief, the other playful merry, and both listen to the music as lovers in self abandon intensively. When someone turns to a piece of music with certain expectations, the music will satisfy exactly this expectation. Thus if one has once experienced the second motion of Symphony 7 by Beethoven as a Trauermarsch, she will expect to feel sadness, grief also the second or the third time. Although one never ‘feels’ exactly the same – and not only in case of listening to music –, one can conceptualize the indeterminate emotions several times in the same manner, as one does it also in case of more, although never entirely, determined emotions, for example when one addresses the other with the sentence: “I love you.” The music lover turns towards music as a lover. In this respect music reception does not differ from the reception of arts in general. In all love relationships, and thus also in the love relationship with an artwork, there is a difference between the first, the second, the third, and the many times repeated encounter. The first encounter can be extremely intensive, yet it still remains abstract. The first repetition, especially if it results from a strong desire for a second encounter, is the confirmation of love. Yet not all encounters confirm the first love. Disappointment is possible also in the love relation to one or the other work of art. Yet the true lover although she might become disappointed in one work of art, will go on longing for a new encounter, and will turn with high expectations to the kind of works which have been the objects of her first love. This is the case with the lovers of any kind of arts, yet chiefly with music lovers. Music lovers are always longing for repetition, they will never be satiated. To cut a long story short: the longing for repetition, for a renewed encounter with the beloved work, is the typical emotional state in the ‘before’ and ‘after’ of the receptions of artworks. Longing is, however, in practical and pragmatic life, not a simple feeling, not even a complex emotion, yet a kind of desire. To express myself in Kant’s vocabulary: unlike emotions, longing does not belong to the faculty of pleasure/displeasure, yet to the faculty of desire. However longing as the ‘before’ and ‘after’ of the pleasure taken in an artwork, is not longing as desire for possession. As an objectless longing, it does not fulfill the telos of a desire, but the telos of the faculty of pleasure/displeasure. For it is the longing for the repetition of a receptive experience, a longing for contemplation, a contemplative longing. It is an emotion. I have presupposed that the pragmatic-practical emotions of daily life once deconstructed into simple feeling qualities in their openness for the

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reception of a work of art, are re-constructed into no more ego-centered emotions in the process of the reception. I made also mention of the eventual refinement and differentiation of feeling qualities through reception. One could conclude from all this that after experiencing the delight at the reception of an artwork, we will return to our pragmaticpractical life with less egoistic and more refined emotions. Aristotle shared this opinion in his theory of catharsis, and so did Schiller in some of his aesthetic writings. Yet this hope turned out to be one of the philosopher’s illusions. Not just because some telling, yet merely empirical evidence. We know for example that Hitler was infatuated in Beethoven and Wagner and that Stalin has loved modernistic poetry, he himself practiced in his youth. Such mere empirical examples could also be seen as exceptions from the rule. The problem lies deeper, and as in so many things, Kant has detected it. The ego-related and ego-centered emotions of practical-pragmatic life are either imbued by, or in constant interplay with, morals and with culture of human commerce. The emotions triggered by works of art are, however, not, because in the situation of the absence of situations all the ego-centered emotions will become deconstructed. Yet they do not disappear for good, they are just suspended. Since they are suspended, morality and the culture of human commerce are also suspended. They have nothing to do with the emotions to be newly constructed in and through the reception of a work of art. The same emotions suspended during reception of an artwork, return in the very moment the recipient returns to her daily life. It is, of course, not impossible that a person will change his attitude and lifestyle radically to the better under the influence of an artwork, yet this can happen to us under the influence of all kinds of life experiences. Art has no privileged position if compared to love, friendship, the advice of a teacher, the loss of illusions, religion, a historical event, a trauma and so on. Precisely because delight taken in great works of art has no moral implication, and does not even influence the culture of human commerce, is there some justification in Thomas Mann’s dictum. To censure sheer sensual delight taken in colors, musical tunes, stories, and first and foremost the warmth of emotions as they are re-arranged around images of fantasy, daydreams and free imagination, is a misbegotten idea. Yet to keep a skeptical distance to our own love relationship with works of art is another thing. We abandon ourselves to a work, our soul is entirely absorbed, and this is not a minor miracle. Yet, take care: no one is that subtle, that sublime, that loving, that open for non-egoistic pleasure, to behold beauty without interest, no one is that

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free of envy and vanity, jealousy, anger, resentment or pride, and of all kinds of drives and desires which dissolve into totally innocent feelingmosaics in the emotional world of a spectator or a listener. One should never identify oneself with oneself as a spectator or a listener. From this perspective even Brecht’s method of alienation makes sense.

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Können Gefühle urteilen? Mannigfach lassen sich Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Gefühl thematisieren. Mir geht es hier um einen rezeptionsästhetisch orientierten Beitrag, in dem das Verhältnis von Kunst und Gefühl im Prozess der ästhetischen Wertschätzung beleuchtet werden soll. Dabei steht in Frage, ob das ästhetische Gefühl bei Aufnahme und Wirkung der Kunstwerke über Evidenzbedingungen verfügt, die ihm eine urteilsanaloge Funktion sichern, oder ob es sogar ganz in die systematische Stelle des Urteils einzurücken vermag.1 Historisch betrachtet ist das produktive Verhältnis von Kunsturteil und Gefühl eine Konsequenz der Aufwertung der Eigenständigkeit des Subjekts im Zuge der europäischen Aufklärung, einer Aufwertung, die nicht nur die Intellektualität, sondern auch die emotiven Kräfte des Subjekts betrifft. Ich möchte im Folgenden einige historisch-systematische Entwicklungsschritte aufzeigen, durch die das Gefühl als berechtigt in den Beurteilungsprozess der Kunst einbezogen wurde und schließlich in Kants Ästhetik zu einem Höhepunkt seiner begründeten Geltung gelangen konnte.2 Da die Kantische Position in der Ästhetik maßgeblich durch angelsächsische Denker vorbereitet und beeinflusst wurde, beschränke ich mich bei der Erläuterung der Geschichte des ästhetischen Gefühls und seiner Urteilskompetenz auf einige Theoreme dieser Autoren. Aber zunächst könnte grundsätzlich gefragt werden: Können Gefühle urteilen? Würde man unter diesem Titel eine allgemeine Umfrage unter philosophischen Laien3 durchführen, so erhielte man wohl drei Klassen von Antworten, die man in etwa wiederum drei verschiedenen philosophischen Positionen oder Schulen zuordnen könnte: Die erste und wahrscheinlich umfassendste Klasse der Antworten wird die überwiegend schroffe Verneinung des Erfragten sein. Es wird vorausgesetzt werden, dass Gefühle irrational, unberechenbar und dunkel seien und folglich zum Urteilen als rationalem Prozess in völligem Gegensatz stünden. Auch wird den Gefühlen kein intentionaler Charakter zuge-

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standen, wodurch sie zur Diskursivität des Denkens und Urteilens in Kontraposition geraten. Sie könnten dieser Auffassung zufolge also keinesfalls urteilen, eher noch das Urteil beeinträchtigen. Diese Antwortreaktion wird durch die Haupttradition der abendländischen Theorie der Gefühle gestützt. Gefühle werden bis zum Beginn der Neuzeit wesentlich als das passiv Hinzunehmende und zu Erleidende verstanden, das eher als Indiz der animalischen als der intellektuellen Natur des Menschen angesehen wurde. Eine Kontrolle des inneren Geschehens der Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften schien daher unmöglich. Der neuzeitliche Rationalismus ist im Wesentlichen bei dieser seit der Antike herrschenden Auffassung geblieben. Die eben erwähnte Antwortreaktion auf die Frage, ob Gefühle urteilen können, ist dieser Position des Rationalismus verpflichtet. Eine zweite Klasse von Antworten dagegen wird sich auf ganz persönliche Intuitionen stützen, die den Urteilscharakter von Gefühlsreaktionen tatsächlich zum Erlebnis haben. Zugleich werden aber die Antwortenden ihre Skepsis hinsichtlich der Verallgemeinerungsfähigkeit solcher ‚Gefühlsurteile‘ vortragen. Bei dem hier wahrgenommenen Urteilen aus dem Gefühl ist eine entscheidende Bedeutungsverschiebung im Begriff des Gefühls eingetreten: Das Gefühl wird nicht mehr nur als inneres Geschehen oder innere Bewegtheit erlebt, sondern als besonderes Sensorium, als ein Organ der Wertung und Schätzung, das jedoch keine begriffliche Rechenschaft über ‚Wertungskriterien‘ abgeben kann. Umgangssprachlich ist diese Bedeutung von ‚Gefühl‘ präsent, wenn wir sagen, jemand habe ein Gefühl für Technik, ein Gefühl für die Natur oder ein Gefühl für Anstand, welch Letzteres soviel wie Takt bedeutet. In diesen Verwendungen heißt ‚Gefühl‘, sich auf etwas verstehen, sensibel sein für etwas, eine ganzheitliche Einschätzung vornehmen auch da, wo die Einmaligkeit der Situation oder das als individuell erfahrene Ding eine Bestimmung durch einen bereitliegenden Begriff nicht erlauben. Die Antwortenden dieser zweiten Klasse von Gefühlseinschätzungen zeigen eine Nähe zur Position der kritischen Transzendentalphilosophie, denn hier gibt es eine Urteilsform, die, anders als das bestimmende Urteil, gegebene Anschauung nicht durch allgemeine Merkmale als bestimmt ansehen muss, um Gegenstandserkenntnis zu erwirken, sondern die eine Rückwendung zum urteilenden Subjekt vollzieht, also ein reflektierendes Urteil darstellt. Die reflektierende Beurteilung des Gegebenen lässt dessen Anschauung in ihrer Eigenwertigkeit bestehen; diese bleibt begrifflich herausfordernd, aber zugleich begrifflich ‚unerledigt‘. Das Urteil wird nicht durch eine Gegenstandsbestimmung fina-

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lisiert oder zu Ende gebracht. Vielmehr schließt sich an die reflektierende Beurteilung eine Befragung des Subjekts hinsichtlich seiner Befindlichkeit an. Das Gefühl wird zum Indikator der Wertigkeit dessen, was in seiner anschaulichen Besonderheit reflektierend betrachtet wurde. Insofern hat hier das Gefühl zwar nicht den ersten Zugriff, aber das letzte Wort in der Bewertung des Besonderen. Eine dritte Gruppe von Antworten auf die oben gestellte Frage nach der Urteilskompetenz von Gefühlen schließlich versucht, sich vom strengen Dualismus von Gefühl und Intellekt zu lösen und spricht den Gefühlen oder zumindest bestimmten Gefühlen eine Durchlässigkeit oder Verbindung zur Vernunft zu und unterstellt hierbei auch ihre selbständige Urteilsfähigkeit hinsichtlich von Wertungen. Diese Position zeigt eine Nähe zur aktuellen Phänomenologie und zugleich zu den Ergebnissen der Neurobiologie und ihrer Forschungen zum Verhältnis von Kognition und Emotion. Das Spektrum dieser drei Klassen von Antworten auf die Frage, ob Gefühle urteilen können, ist sicher ergänzungsfähig. Es kam mir hier jedoch zunächst auf die Darstellung klarer Alternativen an: Auf der einen Seite die Unterbestimmung der Gefühle als bloßer Widerfahrnisse und folglich vernunftferner Instanzen, auf der andern Seite die Anerkennung des kognitiven Moments der Gefühle, insofern sie mit Bewertungen einhergehen, sich aber von kognitiven Urteilen unterscheiden. Ich möchte im Folgenden das Verhältnis von Kunst und Gefühl rezeptionsästhetisch erörtern und dabei die Kantische Position in den Mittelpunkt stellen. Die Frage wird sein, welche Rolle das spezifisch ‚ästhetische Gefühl‘ in der Wahrnehmung und Bewertung der Kunst spielt, sofern die Kunst Darstellung „ästhetischer Ideen“ ist, das heißt, Darstellung inexponibler Vorstellungen der Einbildungskraft. Kant hat in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft einen zweifachen Ansatz zur Bestimmung der Kunst vorgetragen: Zum einen den Gesichtspunkt der Beurteilung, der sich auf seine zuvor ausgeführte Analytik des ästhetischen Urteils stützen kann, zum andern den Gesichtspunkt der Produktion, wonach Kunst, die diesen Namen verdient, Kunst des Genies ist. Ich konzentriere mich hier auf den Gesichtspunkt der Beurteilung und Wertung der Kunst und des dabei ins Spiel gebrachten ästhetischen Gefühls, wobei ich zeigen will, dass die Kantische Konzeption dieser Zusammenhänge eine längere Vorgeschichte, vor allem in der englischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts besitzt, aufgrund derer Kant, im Endpunkt dieser Entwicklung stehend, eine wohl ausgearbeitete Strategie zur Überwindung der Aporien in den Theorien seiner Vorgänger an-

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bieten kann. Dieses methodische Verfahren scheint mir unter anderem dadurch gerechtfertigt, dass Kant selbst keine unbedingte Originalität für seine Philosophie reklamierte. In seiner Logik-Vorlesung merkt Kant zum Charakter der individuellen philosophischen Arbeit an: „Jeder philosophische Denker baut, so zu sagen, auf den Trümmern eines Andern sein eigenes Werk, nie aber ist eines zu Stande gekommen, das in allen seinen Theilen beständig gewesen wäre.“4 Die „Trümmer“ der andern, auf denen Kant seine Theorie des ästhetischen und des moralischen Gefühls zu bauen versucht, sind die Versuche der englischen und schottischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die ein besonderes Gefühlsvermögen (sense, sentiment oder feeling) der Wertwahrnehmung im ethischen und ästhetischen Bereich begründen wollen und aus ihm eine Verbindlichkeit der ethischen und ästhetischen Urteile ableiten möchten. Aus Kants Sicht ist dieser Versuch gescheitert; das Verlangen nach verbindlicher Wertung in Ästhetik und Moral ist allerdings auch für Kant ein dem sinnlich-vernünftigen Wesen angemessenes Streben, das daher erneut und gründlicher fundiert werden soll. Zunächst bleibt zu erinnern, wie es überhaupt im achtzehnten Jahrhundert zu einer ausdrücklichen Thematisierung des Gefühls kommt. Noch immer gibt es ja das Vorurteil, dass die Philosophie der Aufklärung ihr Interesse ganz und gar auf die Emanzipation der Vernunft im Sinne der Rationalität konzentriert. Dabei wird verkannt, dass die neuen Wissenschaften mit ihrer empirischen Ausrichtung ebenso zu einer Rehabilitierung der Sinnlichkeit und einer zunehmenden Ablösung des scholastischen Begriffs vom Menschen geführt haben. Die Aufwertung des Zeugnisses der Sinne, wie sie bei Bacon und Newton zur Fundierung der Naturerkenntnis vorgenommen wird, wirkt sich auch auf die Rolle des Gefühls innerhalb eines säkularisierten Konzepts vom Menschen aus. Die Begriffsgeschichte weist das ‚Gefühl‘ (ebenso wie das englische feeling und das französische sentiment) zunächst als äußere Sinnesempfindung aus; erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erhält der Begriff seinen selbstreflexiven Gehalt.5 Von der allgemeinen Emanzipation der menschlichen Sinne konnte folglich auch das Gefühl profitieren, dem nun nicht mehr fraglos Irrationalität unterstellt werden konnte, vielmehr war der Boden bereitet, um sich den emotiven Fähigkeiten des Menschen zuzuwenden und ihren Beitrag zur erkennenden Weltaneignung zu erforschen. – Einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung hatte John Locke mit seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) getan: Locke weist die Vorstellung eingeborener Ideen als Wissensfundierung ab und sieht die empirische Methodik der Naturwissen-

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schaften als einzig sicheren Weg des Wissenserwerbs an. Dabei wird das zur Erfahrung fähige Subjekt selbst zunehmend Gegenstand empirischer Erforschung. Die intentio recta, die die Erkenntnisabsicht der Scholastik beherrscht hatte, wird durch eine stärkere Hinwendung zum Subjekt, zur intentio obliqua, verschoben. Deutlicher Ausdruck dieser Entwicklung ist Lockes Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten der Gegenstände der Erkenntnis. Die sekundären Qualitäten der Gegenstände sind als Wirkungen auf den menschlichen Organismus aufzufassen, wobei unsere Vorstellungen, die wir bei dieser Einwirkung erhalten, keine direkten Entsprechungen in den Dingen haben. Es ist wichtig festzuhalten, dass die solcher Weise eingeleitete Subjektivierung der Wahrnehmung bereits den systematischen Ort vorbereitet, an dem das ästhetische Gefühl wirksam werden kann. Eine erste, ideengeschichtlich sehr folgenreiche Fassung erhält das ästhetische Gefühl in den Schriften Shaftesburys. Es ist hierbei auffallend, dass die Herausforderung zur Thematisierung des Gefühls im England der Frühaufklärung sowohl im empiristischen wie im idealistischen Lager, dem Shaftesbury angehört, empfunden wird. Sofern das Gefühl als Wertempfinden verstanden wird, ist diese Entwicklung wesentlich aus der politischen Situation zu erklären. Nach der Glorious Revolution von 1688 gab es eine freie Verfassung zusammen mit den Gefahren der politischen Aufspaltungen und Parteiungen. Was nun Not tat, waren freie Konsensbildungen hinsichtlich der Wertvorstellungen und die Besinnung auf Funktionen oder Organe, die eine Wertwahrnehmung leisten können. Geschmack (taste) und Gefühl (sentiment) als Instanzen solchen Wertempfindens zur Fundierung des einvernehmlichen Umgangs der Menschen im Sinne der politeness waren noch nicht auf den engen Bereich des Ästhetischen festgelegt, sondern betrafen die Werthaltungen im Umgang der Menschen überhaupt, einschließlich der politischen Kultur.6 Shaftesbury führt sein Konzept eines Gefühls (sense) für das Schöne und Angemessene in seiner Inquiry Concerning Virtue, or Merit (1699) vor allem gegen Hobbes’ mechanistische Auffassung von der menschlichen Seele und gegen die Fundierung der Moral im Egoismus ins Feld. Zugleich ist es ein Einspruch gegen subjektivistische Fassungen der Erkenntnis, wie sie bei Hobbes und Locke gegeben sind. Shaftesbury, der den Platonisten der Schule von Cambridge verpflichtet ist, entwirft eine neuplatonische Vorstellung vom in sich wohl geordneten Weltganzen im Sinne des Platonischen Dialogs Timaios, wonach die zur Einheit geführte Vielheit des Seienden sich hierdurch als schön und gut ausweist. Wenn Platon zufolge der wahre Grund dieser Vollkommenheit

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in den Ideen anzusetzen ist und zu ihm nur im Modus einer unmittelbaren Schau der Ideen selbst vorzudringen ist, so schaltet Shaftesbury an dieser Stelle quasi ein empiristisches Moment dazwischen, indem er eine Vermittlungsinstanz der menschlichen Seele ausmacht, die am gegebenen äußeren Erfahrungsmaterial die werthaften Qualitäten wahrnimmt und an den Geist (mind) als dem eigentlichen Organ für die Erkenntnis der Ideen des Guten und Schönen weitervermittelt. Diese Vermittlungsinstanz nennt Shaftesbury ‚sense‘ oder ‚sentiment‘. Sie ist, als Gefühl, die Anzeige, dass etwas schön oder gut oder von einer anderen Qualität ist, ohne dass ihr das Warum offen liegt, das nur dem Geist mit seiner Ideenerkenntnis zugänglich ist.7 Somit erweist sich das Gefühl für Wertqualitäten als der säkularisierte oder naturalisierte Eros des Platonischen Symposion oder Phaidros, als ein Bote zwischen der Welt der Erscheinungen und den Ideen. Die hier gemeinte Emotion ist noch nicht bewusst erkenntnishaltig, aber sie hat schon die Vorzeichnung des zu Erkennenden im Modus des Fühlens und ist daher das spezifische Eingangstor zur Erkenntnis für den Menschen als sinnlich-geistig organisiertem Wesen. Neben der Wertempfindlichkeit des Gefühls ist eine zweite Eigenschaft dieses Organs für die Systematik und geschichtliche Ausprägung des ästhetischen Gefühls von ausschlaggebender Bedeutung, nämlich sein reflektierter Charakter, der das Gefühl deutlich von der Sinnesempfindung abgrenzt. Die Sinnesempfindung ist eine unmittelbare Objektantwort; das wertwahrnehmende Gefühl dagegen hat es mit Vorstellungen von solchen Objekten zu tun, die schon jenseits der Sinneswahrnehmung im Bewusstsein liegen. Das wertende Gefühl zielt also auf Gegenstände „which have been already felt, and are now become the Subject of a new Liking or Dislike“.8 Daher nennt Shaftesbury dieses Gefühl ein Reflexionsgefühl, einen „reflected Sense“. In der Art der Beurteilung ist unschwer die Struktur zu erkennen, die auch Kant dem ästhetisch reflektierenden Urteil angesichts von Kunstwerken zusprechen wird. In ihm werden aus der Wahrnehmung gewonnene Vorstellungen nicht durch bereitgehaltene Begriffe auf Gegenstände bezogen, sondern diese Wahrnehmungsvorstellungen werden in ihrem Zusammenspiel mit dem gesamten Begriffsvermögen dem Gefühl der Lust und Unlust überantwortet. Hier endet aber bereits die Parallele zwischen den ästhetischen Urteilsprozessen bei Shaftesbury und Kant, denn Shaftesbury, als platonistischer Ontologe, räumt dem Gefühl ein Sensorium für an sich seiende Wertqualitäten des Kosmos und der Artefakte ein, während der kritische Transzendentalphilosoph Kant den Zugang zu einem Ansich-

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sein verneinen und die Subjektivierung des Ästhetischen so weit treiben muss, dass er erklären kann, dass durch „das Gefühl der Lust und Unlust […] gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern […] das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt.“9 Während für Shaftesbury von seiner Position her das Problem einer intersubjektiven Gültigkeit von Werturteilen noch nicht virulent werden muss10, da ein täuschungsfreies Wertempfinden zwar nicht gegeben ist, das natürliche Organ oder Talent der Wertauffassung, das jedem Menschen eigen ist, aber durch Übung perfektioniert und zum sicheren Geschmack entwickelt werden kann, muss für Kant die Intersubjektivität ästhetischer Beurteilung ausdrücklich zum Problem werden. Falls die Bewertung durch das Gefühl der Lust und Unlust in den ästhetischen Solipsismus führen sollte, wären für Kant die vernünftigen und humanen Züge ästhetischen Weltverständnisses, um die es ihm vorrangig geht, verloren. Shaftesburys Theorie des wertempfindenden Gefühls wird von den Vertretern der Schottischen Schule aufgenommen und weiter ausgearbeitet. Dabei fällt auf, dass die Theorie der Gefühlsfunktion immer mehr zu einer Theorie des Gefühlsvermögens wird. Francis Hutcheson, der sich in seiner „Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue“ von 1725 ausdrücklich zum Verteidiger der Prinzipien Shaftesburys erklärt11, qualifiziert das Gefühl nun näher als eigenständigen ‚sense of beauty‘, sofern die ästhetische Bewertung im Spiel ist, als ‚moral sense‘, sofern es um moralische Wertschätzung geht.12 Der ‚sense of beauty‘ wird als ein ‚internal sense‘ von den Sinneswahrnehmungen als ‚external senses‘ unterschieden.13 Während die Sinneswahrnehmungen durch passive Aufnahme gekennzeichnet sind, eignet dem inneren Sinn oder dem Gefühl für Schönheit ein aktives Fühlen. Hutcheson verteidigt den Ausdruck ‚sense‘ als Bezeichnung für das ästhetische Schätzungsvermögen mit dem Hinweis darauf, dass unsere Überzeugung von Schönheit ebenso wenig aus begrifflichem Wissen stammt wie die intuitiven Wahrnehmungen der äußeren Sinne. Hinzu kommt die Erfahrung, dass das Vergnügen am Schönen durch Wissensoperationen nicht gesteigert wird.14 Der ‚sense of beauty‘ besitzt unbedingten Evidenzcharakter, was sich unter anderem in der Notwendigkeit und Plötzlichkeit der Wertschätzung durch das Gefühl zeige. Auch Kant wird von dem begriffslosen Wohlgefallen am Schönen handeln und erklären, dass „Schönheit […] kein Begriff vom Objekt“ ist.15 Er wird dies aber nicht als selbstverständliche Auffassungsweise eines eigenen Schönheitssinnes ansehen, sondern als disziplinierte Leistung auf Grund einer ästhetischen Einstellung, zu der sich ein Betrachter von Kunst und Natur bereit finden kann, wenn er sich der begrifflichen Ver-

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arbeitung des anschaulich Gegebenen enthält, wenn er nicht fragt, was etwas ist, sondern wie etwas ist und damit die anschauliche Gegebenheit als solche oder die ‚Form‘ zur Geltung kommen lässt. Für Hutcheson ist das Evidenzvermögen des ‚sense of beauty‘ durch keinerlei Interessenaspekte zu stören oder aufzuheben. Das Gefühl für Schönheit ist einer uninteressierten Aufmerksamkeit, einer ‚uninterested attention‘ fähig, wie schon Shaftesbury betont hatte. Während diese beiden Autoren die uninteressierte Betrachtungsweise des Gefühls als eine dogmatisch behauptete natürliche Eigenschaft ansehen, hat Kant diese Bedingung ästhetischer Betrachtungsweise wiederum zu einer eigenen Leistung des ästhetisch rezipierenden Subjekts erklärt.16 Ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen ist Kant zufolge nur möglich, wenn sich der Betrachter aller Intentionen auf Besitz, Veränderung oder Konsum des als schön Erfahrenen enthält, das heißt, wenn seine Betrachtungsweise nicht unmittelbar von der Existenz des Beurteilten abhängig ist. Das Begehrungsvermögen soll sich in die ästhetische Betrachtung und das darin aufkommende ästhetische Gefühl nicht einmischen können.17 Es geht Kant um die Begründung des reinen ästhetischen Urteils oder des Geschmacksurteils, das sich nicht, wie die schottischen Gefühlstheoretiker meinen, naturwüchsig ergibt, sondern an Bedingungen geknüpft ist, für die das ästhetische Subjekt selbst verantwortlich ist. Die Absicht des Aufklärers, auch den Geschmack oder das ästhetische Gefühl von bloßen Naturbedingungen wie auch von fremder Autorität zu befreien, wird hier deutlich. Hatten die englischen Vorgänger Kants das ästhetische Gefühl bereits als ein inneres qualifiziert und von bloßem Objektfühlen unterschieden, so verstärkt Kant noch einmal die Innerlichkeit des ästhetischen Gefühls anlässlich seiner Erläuterung der interesselosen Schätzung dessen, was wir schön nennen. Er erklärt über die Verarbeitung des anschaulich Gegebenen in ästhetischer Einstellung: „Man sieht leicht, dass es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack.“18 Dasjenige, was ich aus gegebenen Vorstellungen in mir selbst mache, ist dem Inhalt nach das ästhetische Gefühl, das Gefühl des Schönen, des Erhabenen oder anderer ästhetischer Qualitäten, die man nicht draußen ‚an sich‘ antrifft, die vielmehr Resultanten der sinnlich-geistigen Verarbeitung der jeweiligen Anschauung sind. Das ästhetische Gefühl, das angesichts der Natur oder bedeutender Kunstwerke aufkommt, ist also Kant zufolge kein Gefühl, das uns als Rezipienten exzentrisch hinreißt, uns aus unserer Mitte rückt. Es ist vielmehr ein Gefühl, das die Selbstheit in ihrem produktiven

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Verhältnis zur beurteilten Natur oder Kunst intensiv erleben lässt und die Zweckmäßigkeit des Beurteilungsvermögens in diesem Verhältnis anzeigt. Hier ist an die viel zitierte Reflexion Kants zu erinnern, wonach die schönen Dinge anzeigen, dass der Mensch in die Welt passe.19 Kants Gedanke, dass es in ästhetischer Beurteilung darauf ankomme, was wir aus den gegebenen Vorstellungen machen, wird bei Hutcheson insofern präludiert, als er den Eindruck des Schönen zwar von bestimmten Strukturverhältnissen der gegebenen Anschauung abhängig macht, die er höchst allgemein und konventionell als ‚uniformity admist variety‘ kennzeichnet, aber diese Struktur ist nicht selbst das Schöne, sondern nur Vorbedingung dafür, dass der ‚sense of beauty‘ diese Struktur als schönheitlich interpretiert und erlebt. – Kant wird auch diesen dogmatischen Rest der Vorbedingung für die ästhetische Schätzung fallen lassen, denn das Erhabene in der Kunst und mehr noch in der Natur entspricht einer solchen strukturellen Vorbedingung der ‚uniformity admist variety‘ gerade nicht. Die Gestalteinheit ist dort für die Wahrnehmung nicht garantiert, was zunächst ein Gefühl der Unlust provoziert. Entscheidend ist aber auch hier, wie beim Schönen, was das beurteilende Subjekt aus diesen Anschauungsvorstellungen des mathematisch oder dynamisch Erhabenen in sich selbst macht. Es erlebt, dass dort, wo die gestaltbildende Einbildungskraft resignieren muss, zur Fassung des Nichtendlichen, des Übergroßen, die Ideenbildung der Vernunft eintritt und das zunächst aufkommende Unlustgefühl von der Lust am Zusammenspiel von Einbildungskraft und Vernunft abgelöst wird. Für Hutcheson hatte sich das Problem einer Intersubjektivität des ästhetischen Gefühls noch nicht gestellt, weil er die natürliche und gleichartige Disposition eines ‚sense of beauty‘ bei allen Menschen unterstellte. Erst der skeptische Empirist David Hume widmet sich diesem Problem ausdrücklich in seiner Schrift Of the Standard of Taste (1757). Hume weist auf die Unterschiede des Geschmacks im Kulturvergleich hin, aber auch auf die Differenzen in Geschmacksäußerungen, etwa über die Kunst, innerhalb einer bestimmten Kultur. Da auch Hume den Geschmack auf das ästhetische Gefühl zurückführt und dieses innere Gefühl in seinem Selbstbezug unbedingte Evidenz besitzt („all sentiment is right“20), fragt es sich, wie eine gewisse Verbindlichkeit in Sachen ästhetischer Bewertung überhaupt beansprucht werden kann. Ist hier nicht der Relativismus ästhetischer Bewertung vorgezeichnet? In der Gesellschaft beobachtet Hume allerdings das Interesse, gewisse Standards des Geschmacks zu suchen, und in der Tat gibt es auch einen beachtlichen Grad der Übereinstimmung in ästhetischen Wertäußerungen. Aus heutiger

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Sicht mag diese Übereinstimmung vor allem auf die definierten Bildungsideale der höheren Stände des achtzehnten Jahrhunderts zurückgeführt werden. Hume selbst vertraut auf eine normierende Wirkung der vielfachen Erfahrung mit ästhetischer Bewertung, wie sie dem Kunstkritiker zugesprochen werden kann. Der Geschmack, dem das Gefühl zuarbeitet, kann durch Übung und Kennerschaft entscheidend verbessert werden. Anders als Hutcheson geht Hume jedoch von einer Störbarkeit des inneren, ästhetischen Gefühls aus.21 Durch Vorurteile kann es in seiner Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt werden, ebenso wie der Verstand durch Vorurteile eingeschränkt sein kann. Hume folgert daraus, dass die Geschmacksbildung, die einigen Anspruch auf Verbindlichkeit machen kann, nicht allein dem Gefühl vertrauen kann, obgleich das ästhetische Gefühl die originäre Quelle für den Geschmack darstellt. Der Geschmack bedarf auch der Kontrolle durch die Vernunft.22 Für den hier zu verfolgenden Zusammenhang ist es interessant zu sehen, wie weit David Hume der Kantischen Subjektivierung des Schönen bereits vorgearbeitet hat: „Though it be certain, that beauty and deformity […] are not qualities in objects, but belong entirely to the sentiment, internal or external; it must be allowed, that there are certain qualities in objects, which are fitted by nature to produce those particular feelings.“23 Einerseits wird das Gefühl als der eigentliche Ort des Schönen ausgemacht, ohne dass aber dessen Konstitution durch die Subjektivität geklärt wäre, andererseits bleibt ein dogmatischer Rest objektiver Bestimmtheit des Schönen durch „certain qualities in objects“, die nur durch Beobachtung und Erfahrung gefunden werden können. Das Schwanken zwischen einer quasi transzendentalen Fassung des Schönen und seiner empirischen Verankerung führt in die Aporie und löst das Problem einer Verbindlichkeit ästhetischen Fühlens und Urteilens nicht. Aus Kants Sicht besitzt die empirisch begründete Intersubjektivität ästhetischer Wertung von Kunst und Natur keinerlei Notwendigkeit. Sie bleibt zufällig und unzuverlässig ebenso wie das hier gemeinte ästhetische Gefühl, dessen Zeugnis zugrundegelegt wird. Für Kant steht fest, dass sich strenge Verallgemeinerung und damit allgemeine Mitteilbarkeit nur auf „Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört“, gründen kann.24 Diesen Grundsatz bringt Kant im Paragraphen 9 seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft in Erinnerung, den er als „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ bezeichnet, denn hier muss sich entscheiden, ob das ästhetische Urteil allein empirisch oder aber prinzipiell begründet werden kann. Die Entscheidung muss in der Beantwortung der Frage liegen, die den Titel meines Beitrags bildet: Kann das Gefühl die ästhetische

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Schätzung leisten, das heißt, kann das Gefühl urteilen? Kant fasst die zu lösende Aufgabe in der Frage, „ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener (d. h. der Lust, B. S.) vorhergehe“ (Überschrift des § 9). Das in Führung gehende unmittelbare Gefühl würde Kant zufolge allein auf die direkte Sinnenempfindung ansprechen und daher nur „Privatgültigkeit“ haben. Geht dagegen die reflektierende Beurteilung in Führung, und sind in dieser Beurteilung keine anderen Vorstellungskräfte im Spiel als die, die auch die Erkenntnisurteile konstituieren, nämlich Einbildungskraft und Verstand, dann ist dem Gefühl als Form der Selbstbewertung des Bewusstseins in diesem Prozess der Interaktion der Erkenntniskräfte bereits der Boden der subjektiven Allgemeinheit bereitet, und ein solches ästhetisches Gefühl lässt sich als ein Reflexionsgefühl auch allgemein mitteilen. – Es zeigt sich, dass Kants Lösungsstrategie für das bei Hume ungelöste Problem der Verbindlichkeit von ästhetischen Gefühlen und Wertungen in der Unterscheidung einer Erkenntnis von Gegenständen auf der einen Seite und einer „Erkenntnis überhaupt“ auf der anderen besteht. Von „Erkenntnis überhaupt“ will Kant dort sprechen, wo allein die subjektiven Bedingungen für das Erkennen, das heißt die Funktionen der Gestaltbildung in der Anschauung und die Funktionen der Begriffsfassung interagieren, ohne dass eine dieser Funktionen herrschend würde, vielmehr regen sie einander gegenseitig an und steigern sich dadurch in ihrem Vermögen. Diese Steigerung und Verlebendigung der Erkenntnisvermögen wird vom ästhetisch reflektierenden Subjekt als lustvoll empfunden, und wir haben keinen Anlass, diesem Gefühl der Lust zu misstrauen, da es Kant gerade am Beispiel der ästhetischen Kunstrezeption überzeugend entwickelt. „Erkenntnis überhaupt“ meint hier das Gleiche, was wir in gegenwärtiger Terminologie als „ästhetische Erfahrung“ bezeichnen. Sie ist die Erfahrung der Sinnbildungskompetenz, die jedes Kunstobjekt ermöglicht, sofern ein artikuliertes Material Sinnbahnungen erlaubt, sich aber auf einen bestimmten Sinn nicht festlegen lässt, sondern stets ein Surplus an Bedeutung einräumt. Solche Erfahrung erschließt sich Kant zufolge im gleichberechtigten Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand (oder Begrifflichkeit), und die daraus hervorgehende Lust ist als Erkenntnislust zu qualifizieren. Freilich nicht als Lust am Gewinnen von Gegenständen der Erkenntnis, sondern als Lust an der ganzheitlichen Beanspruchung und Kompetenzerfahrung, die ein gehobenes Lebensgefühl erzeugen.25 Dieses Sich-selbst-Spüren und Erfahren in Beurteilung eines Werkes der Kunst ist das eigentlich ästhetische Gefühl. Kant begreift das Kunstwerk als „Darstellung der ästhetischen Idee“, das heißt mit einem

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Konzept, das nach Kants bisherigem Sprachgebrauch paradox verfasst ist, denn bis dahin galt ihm die Idee als eine regulative Vorstellung von Totalität, wie sie niemals sinnlich gegeben sein kann. Der Begriff ästhetisch führt aber gerade dieses sinnliche Gegebensein mit sich. Kants paradoxe Formel ist gleichwohl verständlich, vor allem wenn die Rezeptionsweise von Kunst in ‚ästhetischer Einstellung‘ betrachtet wird. Werden nämlich Einbildungskraft und Verstand von ihrer Verpflichtung zur Vergegenständlichung des anschaulich Gegebenen entbunden, wird ihre ‚freie‘ Interaktion zu einem – im Falle des Schönen – lustbringenden, prinzipiell unabschließbaren Prozess. Dieser nicht-endliche Prozess angesichts einer gleichwohl als Gestalt gegebenen Sinnlichkeit vereint das Moment des Nicht-Endlichen der Vernunft-Idee mit dem Endlichen der Anschauungsdinge und provoziert so die paradoxe Strukturbestimmung des Kunstwerks. Die ästhetische Idee ist für Kant „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“26 Das vermeintliche ‚Scheitern‘ eines erkennenden Zugriffs auf das Kunstprodukt verkehrt sich unmittelbar in die gegenseitige Belebung und Steigerung der Erkenntniskräfte, die in freier Aktion das gegebene Sinnliche seinen möglichen Sinnbildungen zuführen im Bewusstsein davon, dass es auf die Fixation einer Sinnstruktur nicht ankommt. Auf diesen Prozess antwortet wertend das ästhetische Gefühl, das Gefühl des Schönen. Es ist auf die spezifischen Material- und Formmomente des Kunstwerks nur noch mittelbar bezogen, aber es reagiert auf diejenigen Werke, die Kant zufolge ‚Geist‘ besitzen und daher „das belebende Prinzip im Gemüte“.27 Das Gefühl selbst ist somit keine kritische Instanz, sondern eine aufzeigende für die Verfassung der Subjekte. Diese Verfassung ist in sich selbst zweckmäßig; und eine Kunst, die diese Selbsterfahrung ermöglicht, nennt Kant „schöne Kunst“. Wider alle gängigen Missverständnisse über diesen Begriff des Schönen soll erinnert werden, was Kant deutlich sagt, dass nämlich Schönheit „kein Begriff vom Objekt“ ist. Nicht die Kunst selbst, weder in ihrer inhaltlichen Gestaltung noch in ihrer Formgebung, wird mit dem Attribut des Schönheitlichen belegt, vielmehr ist „schöne Kunst“, wie Kant und der allgemeine Sprachgebrauch seiner Zeit sie gleichwohl nennt, „eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist.“28 Das Gefühl der Lust gibt Anzeige auf solche Zweckmäßigkeit. Die Rezeption der eigentlichen, und das heißt bei Kant der „schönen Kunst“ bedeutet, Gefühle der Erkenntnislust erleben. Das ästhetische Gefühl vollzieht also

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nicht selbst den diskursiven Akt des Urteilens, aber es zeigt an, dass dieser mit einem bestimmten Wertergebnis vollzogen wurde. Das Gefühl entscheidet nicht selbständig über den ästhetischen Wert von Kunstwerken, aber es vollendet das Werterlebnis. Dass im ästhetischen Gefühl ein besonderes Gefühl gegeben ist, das sich allgemein mitteilen lässt, feiert Kant in enthusiastischer Sprache als wichtiges Moment der Humanisierung. Dass der Mensch sich selbst in Bereichen des Sinnlichen allgemein machen kann, beweist die Vernünftigkeit der menschlichen Sinnlichkeit und das kognitive Moment seiner ästhetischen Gefühle.

Anmerkungen 1. Gegenwärtig wird die Urteilsnatur der Affekte, Emotionen oder Gefühle (die semantischen Abgrenzungen sind hier fließend), vor allem in der angelsächsischen Philosophie bearbeitet. Dabei werden gewisse Ansätze aus der Antike (Aristoteles, die Stoa) und der frühen Neuzeit (Spinoza) wieder aufgenommen. Vgl. z. B. Ronald de Sousa, The Rationality of Emotion, Cambridge, Mass./London 1987; dt.: Die Rationalität des Gefühls, übers. von H. Pape, Frankfurt a. M. 1997; Explaining Emotions, ed. by Amélie Oksenberg Rorty, Berkeley/Los Angeles/London 1980; Robert C. Solomon, The Passions, New York 1976; ders.: The Joy of Philosophy. Thinking Thin versus the Passionate Life, New York/Oxford 1999. – Solomon charakterisiert seine eigene Position in letzterem Werk wie folgt: „Spinoza, following the Stoics, more prominently suggested that the emotions are not so much feelings as ‚judgments‘ or ‚thoughts‘ about the world and oneself. I locate myself in this ‚cognitive‘ tradition.“ (50) 2. Eine ausführliche Darstellung der Begriffsgeschichte des Gefühls im ästhetischen Kontext bietet von Verf. der Artikel ‚Gefühl‘ in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius et al., Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, 629–660. 3. Insbesondere für die Erforschung der Gefühle, deren intersubjektiver Status problematisch ist, ist die Philosophie auf vortheoretische Einsichten angewiesen, die sie begrifflich präzisieren und an denen sie ihre Hypothesen bewähren kann. 4. Kants Logik-Vorlesung, hg. v. Gottlob Benjamin Jäsche, Akademie-Ausgabe Bd. IX, Berlin u. Leipzig 1923, 25. 5. Vgl. ‚Gefühl‘ in: Grimmsches Wörterbuch Bd. IV, 1/2 (1897), 2167. 6. Hans-Georg Gadamer hat nachdrücklich auf diese umfängliche gesellschaftlich-politische Bedeutung des Geschmacks (taste, bzw. sense) und des ‚sensus communis‘ bei Shaftesbury hingewiesen. Vgl. Wahrheit und Methode, Ges. Werke I, Tübingen 61990, 29 ff. 7. Dabei unterstellt Shaftesbury schon auf Seiten der Emotion ein klares UnterscheidenKönnen zwischen gegenteiligen Wertqualitäten: „the Heart cannot possibly remain neutral.“ Shaftesbury, Inquiry Concerning Virtue, or Merit, Complete Works/Sämtliche Werke, Standard Edition, hg. u. übers. v. W. Benda et al. II, 2, Stuttgart/Bad Cannstatt 1984, 68. 8. Ebd., II, 2, 66. 9. Kant, Kritik der Urteilskraft 21799 (künftig KU) § 1, 4.

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10. Ernst Cassirer beschreibt die Struktureigenschaften des ästhetischen Urteils bei Shaftesbury wie folgt: „Das ästhetische Urteil ist ein Urteil des Geistes und der ‚Vernunft‘, ohne ein Urteil der Logik und des Begriffs zu sein.“ Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Darmstadt 41975, 85. 11. Zum Verhältnis der beiden Autoren und der bei ihnen entwickelten Theorie der Parallelisierung von ‚moral sense‘ und ‚sense of beauty‘ vgl. Jürgen Sprute, Der Begriff des Moral Sense bei Shaftesbury und Hutcheson, in: Kant-Studien 71 (1980), 221–237. 12. Vgl. Ursula Franke, Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Pathos, Affekt, Gefühl. Philosophische Beiträge, hg. v. I. Craemer-Ruegenberg, Freiburg/München 1981, 131–148. 13. Francis Hutcheson, An Inquiry Concerning Beauty, Order, Harmony, Design (1725) hg. v. P. Kivy, Den Haag 1973, 87 f. 14. Ebd., 36. 15. Kant, KU, § 38, 152. 16. Die anfänglich starke Beeinflussung Kants durch Hutcheson sowohl auf dem Gebiet der Moraltheorie wie in der Ästhetik und Kants antidogmatische Umbildung der Konzepte der Moral-sense-Philosophen zeigt Dieter Henrich auf: Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49 (1957/58), 49–69. 17. Kant, KU, § 2, 5; § 3, 9 f. 18. Ebd., § 2, 6. 19. Kant, Nachlaßreflexion 1820 a. 20. David Hume, Of the Standard of Taste, in: D. Hume, Philosophical Works, ed. by Green and Grose vol. III, 268. 21. Hume spricht davon, dass die „finer emotions of the mind are of a very tender and delicate nature, and require the concurrence of many favourable circumstances to make them play with facility and exactness.“ Ebd., 270. 22. „[…] reason, if not an essential part of taste, is at least requisite to the operations of this latter faculty.“ Ebd., 277. 23. Ebd., 273. 24. Kant, KU, § 9, 27. 25. „Es ist die Lust an einem Überschuss an Sinnlichkeit gegenüber jedem Urteil, das in Ansehung einer der Urteilsformen überhaupt gebildet werden kann, und am verbleibenden ‚intellektuellen Vermögen‘ als der prinzipiell verbleibenden Freiheit der Umbestimmung. Das Subjekt verliert sich nicht in seinen eigenen Naturbestimmungen.“ Josef Simon, Erhabene Schönheit. Das ästhetische Urteil als Destruktion des logischen, in: Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’esthétique de Kant, hg. v. Herman Parret, Berlin/New York 1998, 246–274, hier: 264. 26. Kant, KU, § 49, 192 f. – Gerhard Krämling macht auf ein wichtiges Moment der ästhetischen Idee aufmerksam: „Das Entscheidende an der Lehre von den ästhetischen Ideen ist […], dass sich an ihnen zeigt, dass es eine Möglichkeit gibt, die Erfahrung im Hinblick auf einen Sinn von Ganzheit zu übersteigen, ohne dabei von der Sinnlichkeit selbst absehen zu müssen, wie dies jederzeit bei der theoretischen Vernunft der Fall ist, die sich in ihrem Anspruch auf absolute Totalität immer nur über den diskursiven Verstand vermittelt auf die Sinnlichkeit beziehen kann.“ Gerhard Krämling, Die systembildende Rolle von Ästhetik und Kulturphilosophie bei Kant, Freiburg/München 1985, 284 f. 27. Kant, KU, § 49, 192. 28. Kant, ebd., § 44, 179.

Birgit Recki

Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? Immanuel Kant über ästhetische und moralische Gefühle In einem Aufsatz, den wir seit seinem ersten Erscheinen 1974 inzwischen zu den klassischen Texten der analytischen Philosophie des Geistes zählen, hat Thomas Nagel unter dem Titel What is it like to be a bat? zu begründen versucht, wieso eine reduktionistische Behandlung des Leib-Seele-Verhältnisses am eigentlich spannenden Problem vorbeigeht – am Problem des Bewusstseins. Wenn man zusieht, wie Nagel das Spezifikum des Bewusstseins, an dem seiner Auffassung nach jeder Reduktionismus scheitern muss, auf die Wahrnehmung und davon ausgehend auf die gesamte empfindungsgetragene Befindlichkeit eines Wesens bezieht, dann hat man den Eindruck, die Titelfrage könne noch prägnanter wiedergegeben werden, als dies in der wörtlichen deutschen Übersetzung geschieht: Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?1 Sie müsste vielmehr lauten: „Wie fühlt man sich als Fledermaus?“ Auf das unabhängig vom Wortlaut gemeinsame Sachproblem hat Nagel eine ebenso einfache wie einleuchtende Antwort gegeben: Um sagen zu können, wie man sich als Fledermaus fühlt, müsste man eine Fledermaus sein. Man müsste das Bewusstsein und damit die Wahrnehmung und damit das ihr zugehörige Sensorium haben, so dass eine der Pointen dieser Antwort ist: Man müsste mit dem Bewusstsein einer Fledermaus auch den Körper einer Fledermaus haben. Die Fragestellung erweist sich als exemplarisch; Nagel hat uns damit auf denkbar einfache Weise etwas sehr Wichtiges klargemacht: dass wir uns Geist und seine Funktionen, also prominent: Bewusstsein – immer nur in der Beziehung auf einen zugehörigen Körper sinnvoll vorstellen können. Wenn wir nach dem Muster dieser Formulierung danach fragen, wie man sich denn – laut Kant – als vernünftiges Wesen fühlt, dann ist dabei

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von vornherein klar, dass wir zu ihrer Beantwortung anders als auf die Frage nach der Befindlichkeit der Fledermaus die allerbesten Chancen haben, denn wir sind nach Kant, dessen gesamte kritische Philosophie der Selbstexplikation der Vernunft durch die Analyse ihrer Funktionen dient, vernünftige Wesen. Auch für Kant, der mit seiner erkenntniskritischen Unterscheidung zwischen den Dingen an sich selbst betrachtet und den Dingen als Erscheinungen unter anderem auch vertritt, dass wir nur über eine einzige Innenperspektive verfügen: unsere eigene, dürfte damit unstrittig sein: Wir können nicht sagen, wie man sich als Fledermaus, wohl aber, wie man sich als vernünftiges Wesen fühlt. Und obwohl sie nirgends in dieser Formulierung gestellt ist, können wir auch tatsächlich in seinem Werk verfolgen, dass sich Kant mit dieser Frage beschäftigt und verschiedene Antworten darauf gibt, die einander ergänzen. Anders als ein gängiges Vorurteil über die Kantische Vernunftkritik es weiß, läuft diese Theorie der reinen Vernunft keineswegs darauf hinaus, den Menschen bloß als ein Vernunftwesen zu begreifen. Es geht Kant vielmehr um einen verlässlichen Begriff von den vernünftigen Leistungen, und die lassen sich nur ermitteln in einer Analyse, die zugleich die Grenzen der Vernunft bestimmt, die in uns selber als nicht allein durch Vernunft bestimmten Wesen liegen. Eine der Pointen dieser Kritik der Vernunft besteht von daher in der Einsicht, die wir uns zu Beginn im Rekurs auf Thomas Nagel klargemacht haben: Die Vernunft, von deren Leistungen wir hier sprechen, ist die Vernunft eines zugleich sinnlichen und von daher nicht rein vernünftigen Wesens. Es ist insbesondere die Erörterung des Gefühls, die uns dies klarmachen kann, denn wie weit wir in irgendwelchen abstrakten Gedankenexperimenten auch kommen mögen, um uns einen reinen Geist vorstellen zu können – spätestens das Gefühl muss uns an die Grenze solcher steriler Spekulation bringen: Fühlen kann nur ein sinnliches und damit körperliches Wesen. Eine weitere Pointe ist aber darin zu sehen, dass das Gefühl, das ohne das Element der Sinnlichkeit nicht möglich wäre, selbst mit zu den Leistungen der Vernunft gehört.2

Über Affekte und Leidenschaften Für die Kantische Vernunftkonzeption sind die Gefühle von integraler Bedeutung. Gleiches wird man für die anderen beiden Begriffe, die dem Projekt zuzuordnen sind, in dessen Rahmen die gegenwärtige Ausein-

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andersetzung steht, nicht behaupten können. Die Affekte kommen für Kant nur als defiziente Modi in Betracht: „Wem der Affect wie ein Raptus anzuwandeln pflegt, der ist, so gutartig jener auch sein mag, doch einem Gestörten ähnlich“, so heißt es 1798 in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht3, in der Kant den Menschen unter dem Gesichtspunkt dessen beschreibt, was er im Umgang mit seinen Anlagen und Vermögen aus sich selber machen kann. Nach dieser Einschätzung muss es praktisch vor allem darum gehen, mit den Affekten fertig zu werden. Kein Wunder also, dass Kant auch theoretisch mit ihnen schnell fertig ist. Der Affekt, so definiert er, ist „das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt“.4 Er besteht nämlich in einer „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths […] aufgehoben wird.“5 Kant veranschaulicht den Affekt und seine Wirkung in ständiger spezifischer Unterscheidung von der auf Pathos beruhenden Leidenschaft, die er als eine „durch die Vernunft des Subjects schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung“6 definiert. Während die Leidenschaft einem Strom vergleichbar ist, „der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt“, wirkt der Affekt „wie ein Wasser, was den Damm durchbricht“; die Leidenschaft wirkt wie die Schwindsucht oder Auszehrung, der Affekt dagegen wie ein Schlaganfall7; der Affekt ist wie ein Rausch, die Leidenschaft wie ein Wahnsinn.8 Wir sehen an dieser Anordnung der Vergleiche, dass hier zwei vernunftwidrige oder mindestens nichtvernünftige, emotive Arten der Handlungsmotivation im Hinblick auf ihre kurzfristige oder nachhaltige, spontane oder habituelle Wirkungsweise unterschieden werden. Auf der Grundlage der Einschätzung, dass der Affekt mit seinem nur „augenblicklichen Abbruch an der Freiheit“9 etwas Vorübergehendes sei, mag man dann noch im Hinblick auf die situativ wünschenswerte Wirkung etwa eines reinigenden Gewitters oder einer disziplinierenden Einschüchterung wie Sokrates abwägen, „ob es nicht auch manchmal gut wäre zu zürnen“.10 Man mag sich sogar wie Kant selber auf die nahe liegende Frage bringen lassen, wieso denn die Natur die Anlage zu solchen Anwandlungen in uns gepflanzt habe; und Kant sieht sich hier zu der entwicklungspsychologischen Konzession gehalten, in den gutartigen Affekten handle es sich um ein „einstweiliges Surrogat der Vernunft“, durch das ein pathologischer Anreiz zum Guten dort gegeben sei, wo die Vernunft noch nicht „zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen“.11 Man mag hier schließlich Einsatzstellen wahrnehmen für eine systematische Revision. Für Kants ei-

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gene thetische Stellungnahme jedenfalls ist daraus nichts zu gewinnen, denn für ihn bleibt es dabei, dass der Affekt „für sich allein betrachtet, jederzeit unklug“ ist.12 Apodiktisch gilt: „Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths; weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.“13 Deshalb findet Kant auch, das „Princip der Apathie“ als das der „Affectlosigkeit“14 sei ein „ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule“.15 Und in dieser Auffassung liegt der Grund dafür, dass wir in Kants Anthropologie zwar einige Bemerkungen über die Affekte im Allgemeinen wie im besonderen finden16, aber keine Theorie der Affekte.

Kants Theorie der Gefühle Wenn wir mit dieser Feststellung gleichwohl noch nicht am Ziel aller Einsichten sind, dann liegt das daran, dass sie im Blick auf das Gemeinsame an den verschiedenen emotiven Antriebsfaktoren, die Kant am Menschen wahrnimmt, nur die unwichtigere Hälfte der Wahrheit darstellt. Es gibt eine andere Art von emotiven Einstellungen, von ‚Gefühlen einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande‘, zu denen Kant durchaus eine Theorie anbietet: Er entwickelt im Rahmen seiner Vernunftkritik eine Theorie der Gefühle, und hier kann man auch Perspektiven finden, die man von einer Theorie der Affekte erwartet hatte. Im Blick auf seine Definition des Affekts müssen wir uns nicht nur klarmachen, dass Kant den Ausdruck „Gefühl“ für genus und species gleichermaßen verwendet, sondern auch, was es ist, das Kant an dieser Art von „Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande“ kritisiert. Es sei noch einmal wiederholt: Es lässt „im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen“. Nicht alle Gefühle einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande aber sind, so hat sich für Kant schon früh herausgestellt, von dieser Art. Es gibt Gefühle, und für sie reserviert Kant schließlich terminologisch den Begriff, welche die Überlegung durchaus zulassen, sei es weil sie selbst als gleichermaßen genuine wie konstruktive Vermögen etwas Vernunftanaloges haben, sei es weil sie sogar auf Vernunftwirkungen zurückgehen; Kant spricht in diesem letzten Fall von vernunftgewirkten oder durch Reflexion gewirkten Gefühlen, und eben darin liegt der Grund, wieso er sie im systematischen Kontext einer Kritik der Vernunft für theoriefähig hält.

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Gefühle in diesem emphatischen Sinne, auf die sich die folgenden Ausführungen konzentrieren werden, spielen in der moralischen Orientierung wie in der Weltorientierung eine wichtige Rolle. Vom Gefühl als Medium der Weltorientierung handelt die Kantische Ästhetik, für die im Laufe der mehr als 200jährigen Rezeptionsgeschichte mehr oder weniger treffende Charakterisierungen gefunden worden sind – dass sie eine Geschmacksästhetik, eine epistemisch begründete Ästhetik, eine formalistische Ästhetik, dass sie die Grundlegung der modernen Autonomie des Ästhetischen überhaupt und zugleich eine ästhetische Grundlegung der Hermeneutik ist. Die treffendste Beschreibung liegt nach meiner Auffassung in der Einsicht, dass sie eine Ästhetik des reinen Gefühls ist.17 Obwohl es daraufhin nahe liegt, den Schwerpunkt der Darstellung auf die ästhetischen Gefühle zu legen18, sei deren Theorie um der Vollständigkeit und des besseren Verständnisses halber in den Kontext der Auseinandersetzung mit den moralischen Gefühlen gestellt. a. Das Gefühl in der Moral Für den Kritiker der Vernunft gilt grundsätzlich, dass es in der Begründung der gesicherten Erkenntnis wie des einsichtigen Handelns allein auf Prinzipien ankommt. In der praktischen Philosophie ist dies in der Abgrenzung gegen attraktive Ansätze einer Begründung aufs Gefühl eine prägnante Position. Für Kant, der in den 60er Jahren selbst experimentelle Versuche mit dem Moralsensualismus unternommen hat, ist es in den 80er Jahren eine ausgemachte Sache: Die verlässliche Grundlegung der Moral kann nur ein apriorisches Prinzip und die Begründung einer Handlung im Sinne argumentativer Auseinandersetzung im Rahmen moralischer Beurteilungen kann nur ein einsichtiger Grund leisten. Und der kann, da es zu seiner Funktion als Grund gehört, jedem Subjekt gleichermaßen einsichtig zu sein, nur durch einen Begriff gegeben werden. Angesichts des Anspruchs der Moral auf allgemeine Geltung lässt sie sich allein auf „Vernunft als das Vermögen der Principien“ gründen.19 Auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, die für Kant mit der Kopernikanischen Wende zum methodischen Prinzip geworden ist, lautet im Falle der praktischen Erfahrung, also der Frage nach dem Handeln und seiner angemessenen Beurteilung, dass ihre Bedingung in jenem rationalen Vermögen liegt, welches Kant mit den Synonymen „praktische Vernunft“ und „Wille“ bezeichnet. Die Instanz der Moral ist der

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Wille als das Vermögen der Zwecksetzung nach Gründen. Das Gefühl kommt für Kant als Prinzip der Moral ebenso wenig wie als Kriterium für den moralischen Wert von Handlungen in Betracht. Ja, sich darauf in Fragen der Moralität zu berufen, gilt ihm geradezu als „seicht“ und als ein asylum ignorantiae: Nach seinem Verdacht sind es „diejenigen, die nicht denken können“, welche versuchen, „selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs Fühlen auszuhelfen“.20 Wieso? Das Gefühl ist die Instanz der Lust und Unlust, die wir mit der Realisierung unserer Zwecke gemäß wechselnden sinnlichen Neigungen verbinden. Gefühle sind dadurch nicht allein durch Individualität und Wechselhaftigkeit charakterisiert, wodurch allein schon die Verlässlichkeit in Frage gestellt ist, durch die Grundsätze ihre Funktion als Konstante erfüllen können. Vor allem ist dadurch der Anspruch auf Autonomie aus reiner Vernunfteinsicht bedroht. Sie bringen die Gefahr der Fremdbestimmung durch das mit sich, was Kant die „Materie des Begehrungsvermögens“ nennt, das heißt durch die wechselnden sachlich bestimmten Zwecke, die wir immer im Bezug auf irgendein Interesse, ein Bedürfnis, eine Neigung unserer Sinnlichkeit verfolgen. Behauptet wird auf diese Weise der bloß empirische Charakter des Gefühls. Und Empirisches taugt schlechthin nicht als Instanz allgemeiner Begründungen.21 Kurz: Die Grundlegung der Moral und die allgemeine Geltung des Urteils über das, was gut und richtig wäre, ist auf diesem Wege nicht zu erreichen. Wollte man bei diesem Stand der Einsicht von Kant eine Antwort auf unsere Titelfrage bekommen, dann würde sie wohl lauten: Als vernünftiges Wesen fühlt man sich überhaupt nicht. So scheint es jedenfalls, solange wir uns auf der Ebene der rein begrifflichen Begründung bewegen. Wenn Kant auf diese Weise das Gefühl als Prinzip wie als Kriterium der Moral verabschiedet, dann bedeutet dies jedoch nicht, dass es daraufhin in keiner Hinsicht mehr eine Rolle spielte. Einer Konzeption der Moral aus reiner Vernunft, in der alles darauf ankommt, aus eigener und gut begründeter Einsicht zu handeln, stellt sich ein Problem, das Kant durchweg ebenso ernst genommen hat wie das Problem der Begründung von Freiheit: Es ist das Problem der zureichenden Motivation zum Handeln – der Motivation zur tätigen Verwirklichung dessen, was man nur aus reiner Vernunft einsehen kann. Es ist das Problem der Spannung zwischen praktischer Einsicht und wirklicher Praxis, zwischen Grundsätzen, die ich als richtig durchdacht habe und ihrer Umsetzung in die Tat. Und dieses Problem markiert den systematischen Ort des Gefühls in der Kantischen

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Moralkonzeption. Zum ersten Mal artikuliert Kant dies in der Moral Mrongovius 1782: „Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut sey, so fehlet noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilet habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, daß ich die Handlung thue, so ist es das Moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urtheilen kann der Verstand zwar freylich, allein diesem Urtheile Kraft geben, daß es eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, werde, dieses einzusehen ist der Stein der Weisen.“22

Wir sehen, dass hier in der systematischen Funktion der subjektiven Motivation zur Umsetzung der moralischen Einsicht vom Gefühl die Rede ist. „Das Moralische Gefühl“, so sagt Kant hier, „ist eine Fähigkeit, durch ein Moralisches Urtheil afficirt zu werden.“ Es ist die „Triebfeder“ des Handelns. Und in ebendieser Funktion, so dürfen wir zusammenfassend festhalten, bleibt das Gefühl auch in der gesamten kritischen Moralkonzeption in Kraft. Noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bekräftigt Kant die Notwendigkeit der Annahme eines solchen subjektiv-praktischen Prinzips, einer – wie es auch hier heißt – subjektiven „Triebfeder“ zum Handeln. „Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Kausalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß zu bestimmen.“23

Auf diese Weise spricht Kant dem Gefühl nachdrücklich eine Wirkung in der Moral zu. Es taugt nicht als Grund, nicht als Prinzip, auch nicht – wie er sagt – als „Richtmaß“ der Moral – wohl aber ist es unabdingbar als Motiv. Aber er sieht selbst noch nicht, wie das genau zugehen soll. Allzu deutlich steht ihm das Problem vor Augen, dass an dieser wichtigen Systemstelle keine fremde, das heißt der Vernunft äußerliche Triebfeder angenommen werden darf, wenn man nicht den Anspruch gefährden will, Moralität in allen ihren Aspekten wirklich nur als vernunftabhängig zu erweisen, und so sagt er hier auch ausdrücklich, worin die schwierige Aufgabe besteht: Man müsste darlegen können, dass die Vernunft aus eigener Kraft ein Gefühl hervorbringen kann, damit klar ist, dass sie auch in der Ursache-Wirkungsrelation der guten Gründe ganz bei sich ist. In der Kritik der praktischen Vernunft hat er diesen gesuchten „Stein der Weisen“ schließlich gefunden: Es ist das Gefühl der Achtung fürs Gesetz, das er im Kapitel über die Triebfedern der reinen praktischen

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Vernunft als dieses rein vernünftige und dabei emotionale Motiv unseres moralischen Handelns analysiert. Von diesem Gefühl ist auf einer ersten Ebene der Beschreibung zu sagen: Das Ursprüngliche ist das Bewusstsein von der Geltung des Sittengesetzes, und der Eindruck, den dieses Gesetz auf den Willen des Handelnden macht, löst ein Gefühl der Achtung aus, das in nichts anderem besteht als der Anerkenntnis des Gesetzes, aber im Blick auf die damit einhergehende Beschränkung aller möglichen anderen Motive des Handelns, die im Inbegriff unserer Neigungen zusammengefasst sind, den Charakter eines Gefühls annimmt, wodurch erst das bewegende Moment und damit die Dynamik des Handelns erklärt ist. „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist aufs Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht), ist selbst Gefühl“, so argumentiert Kant umständlich.24 Diese Argumentation scheint auch nötig zu sein. Denn bliebe es allein bei dieser Bestimmung – wir würden finden, dass die Vorstellung, hier sei von einem Gefühl die Rede, über ein trockenes Versichern nicht hinauskäme. Doch auf einer zweiten Ebene wird der Effekt dieses Gefühls ein wenig anschaulicher. Im Bewusstsein des moralischen Gesetzes wird „unser pathologisch bestimmbares Selbst“, durch das „unsere Natur als sinnlicher Wesen“ ihre Ansprüche geltend macht25, in seine Schranken verwiesen: Die permissive Einstellung zu den eigenen Neigungen in der Selbstliebe wird „nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze“ eingeschränkt26, der selbstgefällige Eigendünkel erfährt „unendlichen Abbruch“.27 Indem das moralische Gesetz unsere Neigungen in Schranken weist, bewirkt es ein Gefühl von „Schmerz“28, von „Unannehmlichkeit“29, eine „Empfindung der Unlust“.30 Wir erfahren eine Demütigung „in unserem Selbstbewußtsein“31, die sich gleichsam durch ein Gesetz der Anerkennung des Stärkeren zwangsläufig in einem Gefühl der Achtung für ihre Ursache auswirkt. Diese Achtung ist aber insofern zugleich ein „positives Gefühl“, als „die Demüthigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d. i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen“ ist, an der aber das Selbst in seiner Eigenschaft als vernünftiges Selbst teilhat.32 Der Kränkung unserer Selbstliebe33 entspricht durch die Beförderung der reinen Vernunfttätigkeit, also dadurch, dass dem Gesetz Eingang in die Maximen verschafft wird, eine Erhebung in der Selbstachtung. Im Gefühl der Achtung beschränkt das Gesetz das sinnliche, von Neigungen bestimmbare und entgrenzt das vernünftige Selbst, das sich im Handeln nach Gesetzen bestimmt.

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Nicht nur durch den empfindlichen Charakter des Abbruchs an unserer Selbstliebe, sondern sicher auch durch die Phänomenologie der Macht, die Kant hier gibt, wird der Gefühlscharakter anschaulicher. Und – wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen in diesem Gefühl? Aufgrund der Ambivalenz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, in der das Subjekt steht, ist es weder reine Unlust noch reine Lust, was in der Achtung empfunden wird, sondern es ist eine Dynamik der Lust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Unterwerfung ergibt. Das Subjekt fühlt sich im Gedanken an die Größe und den Anspruch des Gesetzes schwach und stark zugleich. Es fühlt sich klein, nichtig, ja nichtswürdig in dem, worin es dessen Anspruch nicht entspricht, und es fühlt sich zugleich groß und mächtig im Blick auf seine eigene Fähigkeit, alle nichtswürdigen Kleinlichkeiten seiner empirischen Privatperson, also: alle individuellen Neigungen dem übergeordneten Gesichtspunkt des Gesetzes zu unterwerfen und seiner Rationalität mit der eigenen Vernunft zu entsprechen. Bei allem empfindlichen Widerstand fühlt es sich doch imstande, dem selbstgesetzten Anspruch der Moral zu genügen. Man fühlt sich, kurz gesagt, zwar unter Druck, aber ganz gut.34 b. Das ästhetische Gefühl Es soll sich aber zeigen, dass der Begriff von diesem Gefühl der Achtung noch in einem anderen Sinne den „Stein der Weisen“ darstellt. Diesen Fall eines durch ein vernünftiges Reflexionsgeschehen gewirkten Gefühls nimmt Kant nämlich als Modell, wenn es darum geht, das ästhetische Gefühl zu analysieren. In der gleichen Einschätzung, die Kant seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gegen den Begriff eines moralischen Gefühls geltend zu machen wusste, hatte er es in der Kritik der reinen Vernunft auch für ausgeschlossen erklärt, ein allgemeines Vernunftprinzip des Ästhetischen ausweisen zu können. Bis 1787, noch bis zur Arbeit an der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, war der Alleszermalmer der strengen Auffassung gewesen, dass die ästhetischen Gefühle, denen er sich noch als vierzigjähriger eleganter Magister ganz im Geiste des Zeitalters und mit erkennbarem Sinn für die Phänomene zugewendet hatte35, nicht ernsthaft theoriefähig wären – jedenfalls nicht im Rahmen einer Kritik der Vernunft. Da hatte es geheißen: dass es eine „verfehlte Hoffnung“ und vergebliche Bemühung wäre, „die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben“ – weil die Quellen dieser Regeln „bloß empirisch“ wären.36 Wir

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erkennen sofort das Problem wieder. Es war also dasselbe Argument vom bloß empirischen Charakter des Gefühls, mit dem Kant das Gefühl als Prinzip moralischen Handelns und als zureichenden Grund für moralisches Urteilen verworfen hatte, das auch eine prinzipielle Vernachlässigung des ästhetischen Geschmacks mit sich gebracht hat: Auch der Geschmack schien als Gefühl dazu verurteilt, bloß psychologisch von Interesse zu sein. Mit der Analyse der Achtung fürs Gesetz liegt das theoretische Szenario schlagartig in einem anderen Licht. Hier hat Kant mit einemmal ein vernunftgewirktes Gefühl, und von hier aus lässt sich trefflich extrapolieren. Es ist der im Kontext der praktischen Philosophie entwickelte Gedanke, dass überhaupt für ein Gefühl Bedingungen in der Vernunft ausgewiesen werden können, der in der Analyse des ästhetischen Gefühls die Theorie der Vernunft für die Wahrnehmung des großen Anteils öffnet, den das Gefühl an unserem vernünftigen Selbstverständnis hat. Wie der erste Teil der Kritik der Urteilskraft, die Analytik des Schönen, zeigen wird, heißt dies, dass Kant die Aufnahme des ästhetischen Gefühls in die Vernunftkritik von seiner apriorischen und damit von seiner epistemischen Verfassung abhängig macht: Auch im Erleben des Schönen wirken Kräfte, die nicht empirisch erklärbar sind, sondern ihrerseits am Ursprung der Erfahrung wirken. Es sind der Verstand als das Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft als das Vermögen der Anschauungen, die im ästhetischen Urteil und damit zu einem ästhetischen Gefühl zusammenwirken. Kant fasst sie in ihrem Zusammenwirken unter dem neuen Funktionstitel einer ästhetisch reflektierenden Urteilskraft und greift darin auf, was die Zeitgenossen – und auch wir noch – den Geschmack nennen. Was ist nun aber dieses durch den moralischen Präzedenzfall analysierbar gewordene ästhetische Gefühl? Es sind genauer zwei Gefühle: das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen. Das Gefühl des Schönen schildert Kant als ein interesseloses, das heißt durch keinerlei Bedürfnis abgenötigtes, insofern freies Wohlgefallen an einem Gegenstand. Über diesen lässt sich nichts weiter sagen, als dass er unserem Vorstellungsvermögen irgendwie ansprechend entgegenkommt – in einem ‚Irgendwie‘, das sich prinzipiell nicht in Eigenschaften fixieren lässt, weil das ästhetische Urteil, in dem dieses Gefühl entsteht, kein Erkenntnisurteil und „Schönheit […] kein Begriff vom Object“ ist.37 Schönheit ist kein Prädikat, sondern ein Reflexionsbegriff. Angesichts eines Gegenstandes oder, wie Kant sagt: angesichts einer „Vorstellung der Einbildungskraft“, die uns viel zu denken gibt, „ohne daß ihr doch

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irgend ein bestimmter […] Begriff adäquat sein kann“, als Effekt also einer Reflexion stellt es sich ein, dieses Gefühl. Kant nennt diese Reflexion ein freies Spiel der Erkenntniskräfte, die im Prinzip unendlich ist, da sie auf kein bestimmtes Ziel aus ist, und es ist ebendieser unterminierte, spielerische Umgang mit dem Gegenstand, durch den das Lustgefühl ausgelöst wird. Denn wir werden uns in dieser durch keinen Zweck beschränkten spielerischen Einstellung auf den Gegenstand jener Zweckmäßigkeit bewusst, mit der unsere Erkenntniskräfte wie zu jeder Erkenntnis überhaupt, hier aber ohne den Zweck der Erkenntnis zusammenwirken. Im Bewusstsein dieser zweckfreien Zweckmäßigkeit besteht die ästhetische Lust. Verselbständigte Funktionslust, dürfen wir hier mit Arnold Gehlen sagen. Kant schreibt mit Blick auf den Effekt eines Lustgefühls aus einem Reflexionsprozess ausdrücklich von „Lust durch reflectirte Wahrnehmung“.38 Und er spricht, von vielen Lesern unbemerkt, ausdrücklich vom „Lebensgefühl“ des Subjekts!39 Wenn wir an dieser Stelle wiederum kurz innehalten, um uns zu fragen, wie man sich denn als vernünftiges Wesen hier fühlt, dann können wir vorläufig sagen: Man fühlt sich animiert, denn die ästhetische Reflexion, das freie Spiel der Erkenntniskräfte, bewirkt ein Gefühl, in dem die eigene Lebendigkeit bewusst wird.40 Und dieses Lebensgefühl ist zugleich ein Gefühl der Harmonie, zunächst jener internen Harmonie im zweckmäßigen Zusammenspiel unserer Erkenntniskräfte, aber da wir – ohne über dessen Eigenschaften dadurch etwas ausmachen zu können – dieses Erleben im Blick auf den Gegenstand haben, ist es auch ein Gefühl der Harmonie mit den äußeren Bedingungen: Im Blick auf das Schöne, in dem Gefühl, das dieser Blick in uns auszulösen vermag, haben wir unweigerlich die Intuition, dass die Dinge uns entgegenkommen – sie scheinen geradezu wie für die Aufnahme durch uns gemacht. Kant sagt es genauer: Das Schöne, angesichts dessen sich das freie Spiel der Erkenntniskräfte einstellt, dessen Effekt jenes Gefühl der Lust ist, ist so, wie wir es selbst zum Zweck der Wahrnehmung gemacht hätten. Wir erleben auf diese Weise eine Entsprechung, eine Korrespondenz, eine Angemessenheit unserer sinnlichen und intellektuellen Verfassung an die Verhältnisse der äußeren Welt: „Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe.“41 Wie fühlt man sich da als vernünftiges Wesen? Man fühlt sich bei sich selbst und in der Welt gut aufgehoben. Der wichtigste Ertrag von Kants Analyse des Schönen aber dürfte in einer Spekulation liegen, die er erst am Ende der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, im Paragraphen 59 anstellt. Das Schöne ist das Symbol des

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Sittlichguten – mit dieser Einsicht überrascht uns hier am Ende des Buches ausgerechnet der Denker, der mit dem Anspruch aufgetreten ist, mit seiner Analyse des ästhetischen Urteils das Ästhetische als autonom zu bestimmen. Es stellt sich jedoch heraus, dass mit der Formel vom Schönen als dem Symbol der Sittlichkeit das Ästhetische keineswegs auf den Geltungsanspruch der Moral zurückgeführt wird. Das sittlich Gute, das ist für Kant die Freiheit des Willens, sich selbst das Gesetz des Handelns zu geben, und Symbolisierung besteht in nichts anderem als in analogischer Reflexion. Im Schönen, das weder in einem Gegenstand noch in einer Substanz noch in einer Eigenschaft besteht, sondern in einem lustvollen Reflexionsvollzug, vollziehen wir mit anderen Worten eine analogische Reflexion auf den Charakter der Freiheit – es ist der Charakter der freien Reflexion selbst, durch den sich dieser Bezug auf die Freiheit einstellt. Auf diese Weise wird schließlich die zentrale Vernunftidee, von der Kant in der praktischen Philosophie hatte zugeben müssen, dass von ihr keine Erkenntnis qua Erfahrung und damit kein Beweis möglich ist, doch noch zum Thema einer – Darstellung. Diese Darstellung erfolgt nicht durch irgendein einzelnes Ding oder Bild, sondern durch das Gefühl selbst. Das Schöne ist darin das Symbol des Sittlichguten, dass die an ihm erlebte Freiheit der Gefühlsreflexion auf die Idee der Freiheit verweist. Wie fühlt man sich demnach hier als vernünftiges Wesen? Man fühlt sich frei. Im Prinzip das Gleiche ist nun aber auch für das Gefühl des Erhabenen zu behaupten. Im Gefühl des Erhabenen erleben wir nach Kants Analyse keine reine Lust; es ist ein gemischtes Gefühl. Das Erhabene hat nicht wie das Schöne etwas Entgegenkommendes für unsere Vorstellungskraft, es hat vielmehr für unsere Einbildungskraft – und damit aufgrund deren Zusammenwirkens im freien Schematisieren der ästhetischen Reflexion auch für den Verstand etwas Überwältigendes. Der Gegenstand ist zu groß, als dass wir ihn in einem Akt der Anschauung darstellen könnten (Kant nennt dies das Mathematisch-Erhabene), oder er ist von einer so bedrohlichen Übermacht und Gewalt, dass wir ihm nicht in ruhiger Betrachtung standhalten könnten (Kant spricht hier vom Dynamisch-Erhabenen). Er beschreibt das Gefühl des Erhabenen als den klassischen Fall einer Faszination, als wechselweise Abstoßung und Anziehung, und in diesem Wechselbad der emotiven Regungen, in deren Dialektik gerade besteht das Gefühl. Vermögenstheoretisch rekonstruiert er diese Widerspruchsdynamik als das Scheitern von Einbildungskraft und Verstand, eine Erschütterung, die aber aufgehoben wird in einer Gegenbewegung unseres Gemüts, indem die Vernunft als das

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Vermögen zu schließen, das Vermögen also der gedanklichen Totalitätsstiftung, gleichsam einspringt. Anders als im Verhältnis zum Schönen ergibt sich hier keine spielerische Reflexion zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern eine agonale Reflexion zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft, die den unbewältigten Eindruck auf ihre totalisierenden Vorstellungen bezieht. Angesichts einer enormen Größe – etwa des bestirnten Himmels – beziehen wir die Vorstellung der Einbildungskraft auf die Idee des unendlich Großen, angesichts einer gewaltigen Übermacht, die uns unsere eigene physische Zerbrechlichkeit vor Augen führt – etwa des gewaltigen Ozeans im Aufruhr eines Gewitters – auf die Idee unserer übersinnlichen Freiheit. Wir sind auf diese Weise hin und her gerissen zwischen Schaudern und Beglückung oder zwischen Bestürzung und Versicherung, denn wir werden uns gerade angesichts der abgründigen Herausforderung unserer Einbildungskraft, wie Kant sagt, eines „Vermögens zu widerstehen von ganz anderer Art“ bewusst. Von dieser durch Bedrohung und Schrecken ausgelösten Widerstandsregung einer Vergegenwärtigung des übersinnlichen Moments unserer Bestimmung sagt Kant ausdrücklich: Wir haben das „Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben“.42 Wir erleben hier, nur eben angesichts eines sinnlichen Eindrucks und in ästhetischer Distanz, ganz ähnlich vorstellbar wie beim Gefühl der Achtung fürs Gesetz, eine Dynamik der Lust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Erniedrigung ergibt. Wie im Gefühl des Schönen aber wird uns bei aller spezifischen Differenz im Medium dieses Gefühls unsere Freiheit bewusst. Es ist im Prinzip dieselbe Freiheit, auf die uns das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen aufmerken lässt; doch im einen Fall werden wir uns ihrer bewusst als des praktischen Universalmediums der Erschließung der Welt, im anderen als dessen der agonalen Auseinandersetzung mit der Welt. Wo uns die Dinge nicht anzuzeigen scheinen, dass der Mensch in die Welt passe, da wird uns bewusst, dass er doch das Vermögen hat, sie sich notfalls passend zu machen. Hier, da die Welt einem nicht in ansprechenden Gestalten entgegenzukommen scheint, sondern eher den Eindruck der Feindlichkeit macht, da wir uns der Kehrseite der Harmonie im agonalen Charakter unseres Weltverhältnisses bewusst werden müssen – wie fühlt man sich da als vernünftiges Wesen? Man fühlt sich gewappnet durch ein Selbstverständnis, mit dem es sich aushalten lässt. Wie also fühlt man sich nun alles in allem als vernünftiges Wesen? Lässt sich diese Frage generell beantworten? Versuchen wir es auf dem Wege einer abschließenden Reflexion, in der auch deutlich werden

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kann, dass die Frage doppelsinnig angelegt ist: Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen? – damit fragen wir nicht nur, wie das Gefühl beschaffen ist, durch das ich mich als vernünftiges Wesen auszeichne, sondern auch, wie es möglich ist, dass ich mich als vernünftiges Wesen überhaupt fühle. Um die wohl wichtigste Erkenntnis über die Rolle der Gefühle im Kontext des vernünftigen Selbstverständnisses, wie Kant es erörtert hat, zusammenfassend zu charakterisieren und ihren systematischen Ort anzudeuten, genügt es eigentlich, zu kennzeichnen, in welchem Zusammenhang Kant überhaupt mit dem Problem des Gefühls zu tun bekommt – dass für ihn die Gefühle des vernünftigen Wesens ursprünglich und nachhaltig bei der methodischen Antwort auf die Frage nach dem Handeln und nach dem Guten, also im Bereich der Moral, zum Thema werden. Und es ist gewiss eine Pointe, die sich im Prospekt der gesamten kritischen Philosophie ergibt, dass wir auf diese praktische Funktion der Gefühle nicht nur in der Moralphilosophie treffen, sondern auch in der Ästhetik – und zwar ohne dass die Autonomie der ästhetischen Reflexion damit preisgegeben wäre. Wir fühlen uns im Gedanken an das moralische Gesetz so, dass wir nicht anders können, als unsere kleinlichen Privatgesichtspunkte der Einsicht in den Anspruch des Allgemeinen unterzuordnen, und wir fühlen uns im Blick auf das Schöne und Erhabene so, dass wir zugleich eine Vorstellung von unserer Freiheit zu der Selbstbestimmung bekommen, die allein durch solche Unterordnung möglich ist. Das moralische und das ästhetische Gefühl: sie exemplifizieren im Prozess ihrer Erfahrung damit die Freiheit des Handelns. Wie aber ist das möglich? Eine weitere Pointe von Kants Auseinandersetzung mit den Gefühlen eines vernünftigen Wesens und eine Erkenntnis über die Rolle der Gefühle im Kontext des vernünftigen Selbstverständnisses besteht schließlich in der prinzipiellen Einsicht, dass es sich bei der Vernunft, die Kant in ihren theoretischen und praktischen Funktionen die ganze Zeit gemäß ihrem reinen Begriff analysiert hat, das heißt unter Abstraktion von allem Sinnlich-Empirischen, allemal um die Vernunft eines sinnlichen Wesens handelt. Denn Gefühl, wie auch immer vernunftgewirkt, ist nicht anders denkbar denn als sinnliches Befinden. Fühlen kann überhaupt nur ein sinnliches, und das heißt ein körperliches Wesen. Damit aber sind wir in der Frage, wie es möglich ist, dass wir uns als vernünftige Wesen fühlen, bei der Einsicht, dass wir uns diese Vernunft sinnvoll nur im Bezug auf einen zugehörigen Körper vorstellen können. Wie sehr die Vernunft bei Kant auf ihre

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Leistung im Zusammenhang eines Körpers eingestellt ist, das wird wohl schlagend deutlich an der Vorstellung, auf die er aus systematischen Gründen den größten Wert legen muss: dass die Vernunft selbst imstande ist, ein Gefühl auszulösen. Denn damit ist sie, so darf man sagen: immer schon auf die Wirkung in dem ihr eigenen Medium der Sinnlichkeit bezogen. In der Theorie der Gefühle, die Kant im Rahmen seiner Kritik der Vernunft gibt, haben wir somit einen schönen und, wie ich denke, über alle Einwände erhabenen Beleg dafür, dass die Vernunft, über die Kant hier handelt, auch wirklich dem Anspruch standhält, unsere Vernunft zu sein. Als vernünftiges Wesen fühlt man sich nämlich demnach nur, indem man zugleich ein sinnliches Wesen ist, dann aber, wie wir in den Stationen gesehen haben, durch die uns der Nachvollzug des Kantischen Gedankens geführt hat, – im Prinzip gut.

Ausblick auf eine Theorie des Genusses in den Grenzen der bloßen Vernunft Von einem Denker, der das Wesentliche des menschlichen Selbstverständnisses im Blick auf dessen normative Elemente und damit auf die Vernunft abstellt, muss man keine Philosophie des Genusses erwarten. Zwar hat Kant einen klaren und deutlichen Begriff vom Genuss, in dem wir den unseren unschwer wieder erkennen: „Die Lust des Genusses“ ist diejenige, welche „durch den Sinn in das Gemüth kommt und wir dabei also passiv sind“.43 Die Rede ist hier nicht von Sinn als der Reflexionskategorie der Bedeutung, sondern von Sinn als Organ unserer Wahrnehmung, also von der Sinnlichkeit im Verhältnis zur Außenwelt. Zu diesem Sinnengenuss finden sich bei Kant nur ganz wenige Äußerungen, die zudem das geläufige Bild von einem strengen Theoretiker der Vernunft zu bestätigen scheinen. Biographisch passen dazu die weithin bekannten Anekdoten von der Pedanterie des Professors, nach dessen pünktlichem Spaziergang die Königsberger ihre Uhren stellen konnten und der nicht anfangen konnte mit der Arbeit, wenn nicht sämtliche Bleistifte angespitzt in Reih und Glied vor ihm ausgerichtet lagen. Unter Sinnlichkeit verstehen wir mit Freud und auch nach Freud in der Regel etwas anderes. Zwar hat Kant offenbar eine tiefe Einsicht in die plastische Bedürfnisnatur des Menschen: Sie ist nach seinem Verständnis „nicht von der Art, irgendwo im Besitze

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und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“.44 Doch die mit dieser Unersättlichkeit konzedierte unendliche Vielfalt und Steigerungsfähigkeit unserer Genüsse reizt ihn nicht zu der ausgiebigen Phänomenologie, die in dieser Einsicht ihren Ausgang nehmen könnte. Denn ihm stehen die Neigungen des Genusses, „welche mehr der Thierheit in uns angehören“, im Zweifelsfall „der Ausbildung zu unserer höheren Bestimmung am meisten entgegen“.45 Das heißt nichts anderes, als dass die Orientierung am Genuss uns unfrei macht, weil sie uns hindert, das als richtig Eingesehene auch unter Absehen von unseren Neigungen zu tun. Wir variieren unsere anfängliche Warnung: Von einem Theoretiker der Freiheit als Autonomie müssen wir keine Philosophie des Genusses erwarten. Nach Kant schätzen wir, wenn wir uns und unseresgleichen nur ernst nehmen, den Wert des menschlichen Lebens nicht nach dem ein, was einer sich an Genuss zu verschaffen, sondern was er aus sich selbst und seiner Freiheit zu machen weiß. „Daß aber eines Menschen Existenz an sich einen Werth habe, welcher blos lebt (und in dieser Absicht noch so sehr geschäftig ist), um zu genießen, sogar wenn er dabei Andern, die alle eben so wohl nur aufs Genießen ausgehen, als Mittel dazu aufs beste beförderlich wäre und zwar darum, weil er durch Sympathie alles Vergnügen mit genösse: das wird sich die Vernunft nie überreden lassen. Nur durch das, was er thut ohne Rücksicht auf Genuß, in voller Freiheit und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, giebt er seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Werth.“46

‚Durch das, was er tut‘, ‚in voller Freiheit‘: in dieser Disziplin und Kultur der eigenen Freiheit ist die Orientierung an vernünftiger Einsicht, die Kant im Begriff des Sittengesetzes zusammenfasst, immer schon als konstitutiv mitgedacht. Wenn es einem aufgrund der damit beschriebenen Einstellung gelingt, ein selbstbestimmtes moralisches Leben zu führen, dann löst dies aber eine Billigung, auch eine Lust in der Zustimmung aus, die Kant jedenfalls nicht dem Begriff des Genusses zuordnet. „Das Wohlgefallen an einer Handlung um ihrer moralischen Beschaffenheit willen ist dagegen keine Lust des Genusses, sondern der Selbstthätigkeit“, heißt es in Fortführung der damit getroffenen Unterscheidung auch.47 Die Lust des Genusses als Herausforderung an die moralische Selbstdisziplin: Da hätten wir fürs erste einen ganz netten Holzschnitt, der vor allem den Vorzug eines flächendeckenden Wiedererkennungserlebnisses bietet. Denn in den meisten Fällen, so werden wir im Blick auf die Gemeinplätze der Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie finden, bleibt es dabei.

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a. Die sublimen Genüsse Dabei liegt – den festgefahrenen Vorurteilen der Rezeptionsgeschichte zum Trotz – zum einen die systematische Konsequenz einer nachdrücklichen Theorie der Vernunft, wie sie Kant vertritt, nicht in der Verachtung des Genusses, sondern in seiner Sublimierung. Das ist etwas anderes. Zum anderen können uns vernünftige Orientierung und vernünftige Tätigkeit selbst Genuss verschaffen. Um so reden zu können, müssen wir freilich eine Konzession machen – dass wir sinnvoll auch dort von Genuss sprechen dürfen, wo es nicht ausschließlich um bloß passiv aufgenommenen sinnlichen Reiz geht. Wir dürfen oder müssen nur annehmen, dass unsere vernünftige Orientierung und vernünftigen Tätigkeiten mit sinnlichen Eindrücken und Reizen einhergehen oder auf sie hinauslaufen. Es ist zu zeigen, dass Kant genau dies annimmt. So unterscheidet er in einer jener bei ihm ganz selten begegnenden erkenntnistheoretischen Reflexionen in genealogischer Perspektive selbst an verschiedenen Typen von Erkenntnissen den Grad der Freude, die sie uns vermitteln – und beginnt mit solchen ganz geläufigen, bei denen wir auf Grund der Routine des Verstandes „nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen“: „[…] so ist andrerseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust […]. Zwar spüren wir an der Faßlichkeit der Natur und ihrer Einheit der Abtheilung in Gattungen und Arten, wodurch allein empirische Begriffe möglich sind, durch welche wir sie nach ihren besonderen Gesetzen erkennen, keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählig mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden.“48

Vernunft begreifen wir dann nicht nur als die Instanz eines kontrollierenden, korrigierenden, mäßigenden und gestaltenden Umgangs mit dem Sinnengenuss, sondern sie kommt in den ihr eigenen Leistungen auch selbst als Ursprung bestimmter sublimer Genüsse in Betracht – solcher Genüsse, ohne deren Verständnis und Anerkenntnis wir uns nicht als die verstehen würden, die wir in dem Maße, als wir sie sein können und sein wollen, auch immer schon sind. Für diesen zweifachen Aspekt der Sublimierung: für den sublimen Genuss wie die Sublimierung des Sinnengenusses, scheint Kant ein Spezialist zu sein. Das erstere zeigt sich in seiner Theorie der Gefühle, in der wir, gleichsam als ein Nebenprodukt, auch eine Theorie des sublimen Genusses sehen dürfen. In der Achtung fürs Gesetz findet Kant den Begriff eines von

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der Vernunft selbst erzeugten Gefühls. Und dass dieses Gefühl trotz seiner inneren Dynamik, ja trotz seiner existentiellen Dramatik der simultanen Demütigung und Erhöhung etwas mit Genuss zu tun hat, braucht man nicht erst in ideologiekritischer oder sonstwie reduktionistischer Absicht gegen Kant geltend zu machen: Der Selbstgenuss, der sich in der gelingenden Bewältigung einer großen Herausforderung einstellt: in der Selbstüberwindung und Selbststeigerung am Leitfaden des eigenen Anspruchs, liegt auf der Hand – und jenen Selbstgenuss, der sich durch solches Gelingen aufs Ganze einer moralischen Lebensform in der grundsätzlichen Übereinstimmung mit sich selbst einstellt, zeichnet Kant ausdrücklich im Begriff der (Selbst-)Zufriedenheit aus.49 Und das ästhetische Gefühl ist in seinem Charakter eines freien Reflexionsspiels, in dem das Subjekt sich lustvoll der Zweckmäßigkeit im Zusammenwirken seiner Erkenntniskräfte bewusst wird, zugleich als auffälligster Fall einer sublimen Form des Selbstgenusses zu erkennen. Es geht somit in Kants Theorie der Gefühle immer auch um den Aspekt eines verfeinerten Genusses – eines Selbstgenusses, der sich moralisch in der Selbststeigerung durch Selbstüberwindung und ästhetisch im Selbstbewusstsein der eigenen harmonischen Stimmung einstellt. Obwohl damit ein Genuss in den Blick gerät, der sich aus den höchsten der Gefühle ergibt, könnte man an dieser Stelle doch das Bewusstsein eines Mangels haben. Bedeutet die damit angezeigte Konzentration auf die sublimen Genüsse im ästhetischen Gefühl des Schönen und Erhabenen sowie in der heiteren Selbstzufriedenheit aufgrund der Achtung vor dem Gesetz nicht zwangsläufig, dass wir die weniger anspruchsvollen und verfeinerten Genüsse am bloß Sinnlichen ganz aufzugeben und der Nichtachtung preiszugeben haben? Es könnte so aussehen, ist aber nicht ganz Kants Konsequenz. b. Die Sublimierung der Genüsse Diese Konzentration zeigt stattdessen die Richtung an, wie nach Kant mit ihnen umzugehen wäre: Sie wären ihrerseits zu sublimieren. Das stimmt nebenbei auch besser überein mit dem, was wir von Kants Lebensführung wissen – von dem ungewöhnlich engagierten Studenten, der sich seinen Lebensunterhalt zu beträchtlichen Anteilen mit virtuosem Billardspiel zu verdienen wusste, von den hohen Weinrechnungen des eleganten Magisters, von Sprüchen wie „Besser aber ist es doch immer, ein Narr in der Mode als ein Narr außer der Mode zu sein“50, und schließlich von der Gewohnheit des alten Kant, täglich zum Mittages-

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sen einen Kreis von anregenden Gesprächspartnern in seinem Haus zu versammeln, die er auf das großzügigste zu bewirten und auf das geistreichste zu unterhalten verstand. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die als eine Summe gelesen werden darf, heißt es: „Junger Mann! versage dir die Befriedigung (der Lustbarkeit, der Schwelgerei, der Liebe u. d. g.), wenn auch nicht in der stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu wollen, sondern in der feinen epikurischen, um einen immer noch wachsenden Genuß im Prospect zu haben. Dieses Kargen mit der Baarschaft deines Lebensgefühls macht dich durch den Aufschub des Genusses wirklich reicher, wenn du auch dem Gebrauch derselben am Ende des Lebens großentheils entsagt haben solltest. Das Bewußtsein, den Genuß in deiner Gewalt zu haben, ist wie alles Idealische fruchtbarer und weiter umfassend als Alles, was den Sinn dadurch befriedigt, daß es hiemit zugleich verzehrt wird und so von der Masse des Ganzen abgeht.“51 Die Stelle gibt viel zu denken. Insbesondere ist nicht ganz eindeutig aufzulösen, ob die konditionale Formulierung „wenn du auch großenteils entsagt haben solltest“ die Bedingung des ungünstigsten aller Fälle oder den intentional vorgesetzten Zweck der Übung ins Auge fasst. Plädieren möchte ich für das erstere, denn anders würde die Favorisierung der feinen epikurischen vor der stoischen Absicht wenig Sinn ergeben. Zudem steht die gesamte Überlegung unter dem bezeichnenden Titel Die Steigerung bis zur Vollendung ganz offensichtlich im Zeichen der Einsicht, dass eine Lust, die man warten lässt, größer wird. Wie viele Fragen hier auch offen bleiben – eine Frage lässt sich daraufhin mit einiger Sicherheit beantworten: Wie fühlt man sich in dem damit beschriebenen Umgang mit der Sinnlichkeit – als vernünftiges Wesen? Nun – man fühlt sich unter Spannung. In solcher Spannung ist ohnehin nicht allein die Differenzbedingung eines jeden Genusses zu sehen, es dürfte darin auch ein Ferment für viele unserer produktiven Leistungen zu sehen sein, in denen wir uns und einander wiederum großen Genuss bereiten. Nicht zufällig findet sich diese Reflexion in der Anthropologie unter der Überschrift einer Didaktik. Es geht in den hier angestellten Betrachtungen nicht mehr schlichtweg darum, ein vernünftiges Wesen zu sein, sondern spezifischer, sich zu bilden, etwas aus sich zu machen. Und wenn wir nur bedenken, was dies heißt, dann können wir auf unsere Leitfrage, wie man sich als vernünftiges Wesen fühlt, schließlich auch antworten: Man fühlt sich in Form.52

Wie fühlt man sich als vernünftiges Wesen?

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Anmerkungen 1. Thomas Nagel, Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? in: Analytische Philosophie des Geistes, hg. v. Peter Bieri, Königstein/Ts. 1981, 261–275. 2. S. ausführlicher Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001. 3. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. VII, Berlin 1968 (photomech. Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften) (im Folgenden zitiert unter Angabe der Bandzahl), 253. 4. VII, 251. 5. VII, 252. 6. VII, 251. 7. Kant spricht wörtlich von „Abzehrung“ und „Schlagfluß“ ([Anm. 3], 252). 8. VII, 253. 9. VII, 267. 10. VII, 253. 11. VII, 253. 12. Ebd. 13. VII, 251. 14. VII, 252. 15. VII, 253. 16. Auf die Gegenwart bezogen: Freude und Traurigkeit, Zorn, Bangigkeit und Scham, Fröhlichkeit und Wehmut – auf die Zukunft bezogen: Hoffnung und Furcht. 17. So in schöner Anspielung auf die in eigener systematischer Absicht gebrauchte Formel des Neukantianers Hermann Cohen Jens Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt a. M., 2., erw. Auflage 1994. 18. Besonders angemessen erscheint dies zudem, weil der Kongress, aus dem der hier vorliegende Textband hervorgegangen ist, mit Bedacht und gutem Grund in der Frankfurter Oper stattgefunden hat: Mit Alexander Kluge und sicher mit vielen der Teilnehmer an dieser Veranstaltung teile ich die enthusiastische Einschätzung, dass die Oper ein „Kraftwerk der Gefühle“ ist. 19. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie-Ausgabe Bd. V (im Folgenden zitiert als KpV unter Angabe der Bandzahl), 119. 20. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademie-Ausgabe Bd. IV (im Folgenden zitiert als GMS unter Angabe der Bandzahl), 442. 21. „Empirische Bestimmungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äußeren Gesetzgebung, aber auch eben so wenig zur innern; denn jeder legt sein Subject, ein anderer aber ein anderes Subject der Neigung zum Grunde, und in jedem Subject selber ist bald die, bald eine andere im Vorzuge des Einflusses.“ (KpV, V, 28). 22. Immanuel Kant, Moral Mrongovius, Akademie-Ausgabe Bd. 27/II, 1428. 23. GMS, IV, 460. 24. KpV A 129. 25. KpV V, 74. 26. KpV V, 73. 27. KpV V, 74. 28. KpV V, 73.

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29. KpV V, 75. 30. KpV V, 78. 31. KpV V, 74. 32. KpV V, 79. 33. KpV V, 74. 34. In der Metaphysik der Sitten, der Anwendungsschrift der Moral, wird Kant dies moralische Gefühl der Achtung mit dem Gewissen, der Nächstenliebe und der Selbstachtung zusammenfassen unter den Begriff einer „Ästhetik der Sitten“ und damit die These verbinden, dass es dieses Gefühl sei, welches den humanen Charakter des Menschen ausmache (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1796), Akademie-Ausgabe Bd. VI, 406). 35. Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Akademie-Ausgabe Bd. II. 36. KrV III, 50 f./B 35 f. Anm. 37. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V (im folgenden zitiert als KU unter Angabe der Bandzahl), 290. 38. KU, V, 191. 39. KU, V, 204. 40. S. dazu Birgit Recki, ‚Lebendigkeit‘ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant, in: Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, hg. v. Barbara Naumann/Birgit Recki, Berlin 2002, 195–219. 41. Refl. 1820a, Akademie-Ausgabe Bd. XVI, 127. 42. KU, V, [B 98]; H. v. m. 43. KU, V, 292. 44. KU, V, 430. 45. KU, V, 433. 46. KU, V, 208 f. 47. KU, V, 292. 48. KU, V, 187. 49. KpV, V, 117 f. 50. Kant, Anthropologie [Anm. 3],VII, 245. 51. Ebd., 165. 52. In der Sache sind wir damit auf den Zusammenhang verwiesen, den Kant im Rahmen seiner Geschichtsteleologie zwischen Kultivierung und Moralisierung herstellt; s. dazu: Birgit Recki, Die Idee der Kultur. Über praktisches Selbstverständnis im Kontext, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen (XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie: 23.–27. September 2002 in Bonn), Kolloquiumsbeiträge, hg. v. Wolfram Hogrebe, Bonn 2004.

III. Das Kunstwerk als Feld des emotionalen Ausdrucks

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Barbarenangst und Sklaventrauer Emotionskontrolle als kulturelles und soziales Unterscheidungsmerkmal in der griechisch-römischen Kunst und Kultur Wer anhand von Wochenschauausschnitten und Fernsehsendungen das Verhalten von Fußballspielern nach errungenem Erfolg vergleicht, wird Veränderungen registrieren: Während man sich früher meist auf die Schulter klopfte und allenfalls nach wichtigen Siegen in die Arme fiel, reißt man sich heute nach jedem Tor in einem Punktspiel das Trikot vom Leib, schüttelt die geballte Faust und rutscht auf dem Bauch übers Spielfeld. Gefühle gibt es immer wieder, aber ob und wie man sie zeigt, zeigen darf, zeigen soll, das ist gravierenden Veränderungen unterworfen, und diese Veränderungen sind offenbar kulturell bedingt. Aber auch zur gleichen Zeit und in der gleichen Gesellschaft gehen nicht alle auf gleiche Weise mit ihren Emotionen um. Ein Politiker wird sich – anders als der Fußballprofi – nach gewonnener Wahl in der Öffentlichkeit nicht das Hemd vom Leibe reißen. Er zeigt seine Freude auf andere Weise. Der Umgang mit Emotionen verändert sich nicht nur, er ist auch von der sozialen Zuordnung der Betroffenen abhängig. Dass beides auch für die griechisch-römische Antike gilt, ist keine überraschende Feststellung, wird jedoch bei der Erklärung der antiken Denkmäler nur selten berücksichtigt. Ein erstes Beispiel soll zeigen, worum es geht. Ein vom Vasenmaler Sophilos bemaltes Gefäßfragment aus dem 6. Jh. v. Chr. zeigt eine Szene aus der Ilias, nämlich ein Wagenrennen im Rahmen der Wettkämpfe, die Achill zu Ehren des getöteten Patroklos veranstaltet (Abb. 1). Rechts sind die Zuschauerränge zu sehen, auf denen man erregt gestikulierende, also Emotion auslebende Personen erkennt. Es handelt sich um die griechischen Krieger vor Troja, nach der Vorstellung des 8. ebenso wie nach der des 6. Jh.s v. Chr. also um Aristokraten.1

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Abb. 1: Leichenspiele für Patroklos, attisch schwarzfigurige Gefäßscherbe, gegen 570 v. Chr., Athen, Nationalmuseum

Auf dem 390 n. Chr. (über 900 Jahre später) in Konstantinopel aufgestellten Theodosiusobelisken (Abb. 2) sieht man über der – hier im Bild nicht sichtbaren – Darstellung der Aufrichtung des Obelisken die nach Rangklassen gestaffelten Zuschauer im Hippodrom und deren sozial gestufte emotionale Teilnahme am Geschehen: Die Kaiser thronen in regloser Frontalität, die Senatoren in der Toga stehen unbewegt und halten ihr Zeremonialtüchlein (mappa) vor die Brust, aber in der nächst niederen Rangstufe werden diese Tücher emphatisch geschwenkt..2 Was auf dem archaischen Vasenbild auch der obersten Gesellschaftsschicht und vermutlich allen Zuschauern möglich war, ist bei dem spätantiken Beispiel erst von einem bestimmten Rang an abwärts denkbar. Derartige Veränderungen mögen als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, zusammenhängend sind sie bisher nicht thematisiert und bei der Beurteilung zentraler, auch für die nachantike Rezeption wichtiger Denkmäler oft nicht beachtet worden. Hier mag zunächst der Hinweis genügen, dass die gerade für die klassische Kunst so oft als typisch empfundene Kälte und fehlende Lebendigkeit in erster Linie erklärt werden kann als Visualisierung zentraler Werte der Eliten in der griechischen Polisgesellschaft, wozu insbesondere Selbstbeherrschung und Emotionsdämpfung gehören.3 Im Folgenden möchte ich der Frage „Wer darf oder soll welche Emotionen in welchem Zusammenhang haben (= zeigen)?“ jeweils mit Blick auf Veränderungen und Kontinuitäten unter folgenden drei Aspekten nachgehen:

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Abb. 2: Istanbul, Sockelrelief des Theodosiusobelisken, Marmor, 390 n. Chr.

1. Abhängigkeit von sozialer Gruppenzugehörigkeit 2. Abhängigkeit von ethnischer Zuordnung. Diese beiden Punkte sind kaum sauber voneinander zu trennen, vor allem entspricht diese Trennung gewöhnlich nicht antiker Vorstellung. Wenn Aristoteles formuliert, der Barbar sei von „Natur aus Sklave“ (physei doulos)4, dann setzt er ja ein biologisches (auf ethnische Unterscheidung zielendes) und ein soziologisches Kriterium in eins. Das Verbindende ist für den Griechen der Charakter, aus dem sich ein bestimmtes Ethos ableitet. Diese Wesensmerkmale werden an bestimmten äußerlich erkennbaren Zügen festgemacht, denn nach verbreiteter Vorstellung fallen äußere Schönheit und ethische Qualität zusammen.5 Diese Auffassung ist schon in der Antike nicht unkritisiert geblieben6, hat aber ihre Geltung dennoch nicht eingebüßt. 3. Emotionalität als Bestandteil visualisierter Eliteideale: Erwartet man z. B. von einem Monarchen bestimmte Emotionen und stellt sie dementsprechend etwa im Herrscherporträt dar? Vor der Behandlung dieser Fragen sei daran erinnert, dass wir es mit einem Zeitraum von ca. 1000 Jahren zu tun haben und uns deshalb mit wenigen Schlaglichtern begnügen müssen. Außerdem gilt es zu beden-

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ken, dass die antiken Bilder nicht als quasi fotografische Dokumente missverstanden werden dürfen. Sie zeigen nicht, ob jemand emotional reagiert hat, sondern liefern Hinweise darauf, ob dies als angemessen angesehen wurde. In der wohl im 8. Jh. v. Chr. niedergeschriebenen Ilias Homers weinen die adligen oder gar königlichen Helden bei jeder sich bietenden Gelegenheit: Als Agamemnon dem besten Kämpfer der Griechen, dem Achill, die kriegsgefangene Briseis wegnimmt, weint Achill, weniger, weil er an dem Mädchen hängt, sondern aus Zorn über die Demütigung – es entsteht der Zorn des Achill, das Grundmotiv der Ilias. Als sein Freund Patroklos nach unglücklichem Schlachtverlauf versucht, den schmollenden Helden zur Teilnahme am Kampf zu überreden, tut er dies weinend, aus Verzweiflung über die Notlage des griechischen Heeres. Am Ende des Epos hat Achill den trojanischen Helden Hektor getötet und den Leichnam geschändet. Hektors Vater, der alte König Priamos, kommt zu Achill ins feindliche Heerlager und bittet unter Tränen um die Herausgabe des Leichnams. Achill muss beim Anblick des Priamos an seinen eigenen alten Vater denken und fängt zu weinen; beide weinen sozusagen um die Wette. Etwa gleichzeitig mit der Ilias sind die späten Grabgefäße der sog. ‚geometrischen‘ Epoche hergestellt worden – so genannt, weil der Dekor und auch die Figuren vorwiegend aus geometrischen Elementen zusammengesetzt sind. Eine solche Kunst scheint zur Wiedergabe von Emotionen wenig geeignet. Zu ihrem überschaubaren Repertoire gehört aber die immer im gleichen Schema gegebene Darstellung der Prozession mit dem aufgebahrten Toten zum Grab und der ritualisierten Totenklage, also öffentlich zelebrierter Emotion. Man erkennt Personen im Klagegestus, sowohl weibliche, deren Geschlecht manchmal durch Striche am Oberkörper verdeutlicht wird und die als Klagefrauen interpretiert werden, aber auch männliche, denen diese Striche fehlen und die manchmal Waffen tragen oder mit dem Wagen beschäftigt sind.7 Deutlich zur Schau gestellte Trauer bei beiden Geschlechtern wird auch am Ende der archaischen Epoche noch gezeigt, wie die berühmten Verkleidungsplatten eines Grabbaus aus Athen in Berlin belegen, die Exekias ca. 200 Jahre später bemalt hat.8 Eine einschneidende Veränderung scheint sich in den darauf folgenden Jahren zu ereignen, politisch die Zeit, in der etwa in Athen die sog. Demokratie ausgebildet wurde – eine Staatsform, die durch Teilhabe der gesamten freien männlichen Bevölkerung einer Stadt an der politischen Macht gekennzeichnet war und damit völlig neue Anforderun-

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gen an Entscheidungskompetenzen und an Kriterien zur Beurteilung von Menschen und Fähigkeiten erforderte. Nach allgemeiner Überzeugung ließ sich die charakterliche Eignung etwa zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben an der Einhaltung bestimmter Verhaltensregeln in der Lebensweise und im öffentlichen Auftreten ablesen, die besonders auf die Kontrolle von Emotionen zielten. Prägnant formulierte Euripides dies am Ende des 5. Jh.s v. Chr. in der Tragödie Iphigenie auf Aulis: Der verzweifelte Agamemnon, vom Willen der Götter und der Staatsräson veranlasst, seine eigene Tochter zu opfern, damit die griechische Flotte nach Troja segeln kann, klagt darüber, dass er seine kaum beherrschbaren Gefühle verbergen muss: „Weit besser hat es der geringe Mann. Er darf ja weinen, darf, was ihm das Herz bedrückt, aussprechen. Für den Hochgeborenen ist das nicht schicklich. Steife Würde regelt das Leben uns“ (Hans von Arnim).9 Diesem Zeugnis lassen sich andere an die Seite stellen. Die attische Grabkunst der Zeit bestätigt diese Tendenz, allerdings nicht auf den ersten Blick: Die großen Reliefbilder, die die Schaufassaden der Grabbezirke athenischer Bürger bildeten, thematisieren vor allem die Verbundenheit der Familie über mehrere Generationen hinweg. Die Bilder zeigen Hinterbliebene und auch Verstorbene oft mit erkennbaren Trauergesten, die im Vergleich zum früher Üblichen merklich verhaltener sind. Am deutlichsten fallen die Trauergesten bei sozial niedrig eingestuftem Personal aus.10

Abb. 3: Theseus und Skiron, attisch rotfiguriger Kantharos, gegen Mitte des 5. Jh.s v. Chr., München, Staatliche Antikensammlungen

Deutlicher wird die Bewertung von Emotionen bei gezielt kontrastiven Personenkonstellationen wie etwa den Darstellungen der Theseussage (Abb. 3). Hierbei steht die allgemein pejorative Charakterschilderung der Schurken im Vordergrund. Ihre Vernichtung ist eine der

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Heilstaten des prototypischen attischen Helden Theseus, auf den man zahlreiche athenische Institutionen und Bräuche späterer Zeit zurückgeführt hat. Die Gegenüberstellung mit dem athenischen Modellhelden Theseus zeigt seine Kontrahenten als physiognomische Gegenbilder zum jugendlichen Ideal dieser Identifikationsfigur, sie haben Stirnglatzen, verwahrloste Haar- und Barttracht, bizarres Profil und Gesichtsfalten, sind mithin Prototypen der Häßlichkeit. Darüber hinaus geben sie aber auch ihrer Furcht nach, haben also die Emotionen nicht unter Kontrolle. Sie versuchen fortzulaufen und krümmen sich schon vor dem Kampf ängstlich zitternd vor dem späteren Sieger zusammen, der selbstbewusst und ‚cool‘ in der Haltung des Überlegenen auftritt, wie sie aus späterer Zeit etwa für Herrscherstatuen üblich ist. 11 Mythenhistorisch sind die entlang des saronischen Golfes lokalisierten Wegelagerer, die von Theseus zum Wohle der Bevölkerung aus dem Weg geräumt werden, entweder lokale Heroen, die nach athenischer Lesart zu Schurken umgeformt wurden, oder anscheinend bei der für die Vasenbilder maßgebenden Redaktion des Mythos neu erfundene Bösewichter. Sie haben meist einen respektablen Stammbaum (oft von Poseidon)12, können also nicht unter die Rubrik ‚sozial bedingter Mangel an Affektkontrolle‘ eingeordnet werden. Dieser Aspekt ist vielmehr eine von verschiedenen Komponenten eines generellen und vor allem auf den Charakter bezogenen Gegenbildes zum Ideal des Atheners: Hässlichkeit und Ungepflegtheit, Mangel an Körperbeherrschung und Kampftechnik und eben an Emotionsbeherrschung. In die oben eingeführte moderne Kategorie der ‚ethnischen‘ Zuordnung von Emotionalität gehören die Darstellungen von Kämpfen zwischen Griechen und Persern – eines der ganz wenigen nach unseren Begriffen historischen Themen, die in der bildenden Kunst der Klassik aufgegriffen wurden. In den Jahren nach der persischen Invasion, als der Kampf außerhalb des griechischen Festlandes noch fortgesetzt wurde, betonte man die Unterlegenheit der Perser in einer Deutlichkeit, die bei prinzipiell gleichrangigen Kontrahenten nicht üblich war. Besonders bei Darstellungen, die Perser auf der Flucht zeigen, wird, wie bei den Theseus-Gegnern, der Aspekt der Angst deutlich. Auf einem Krater in Basel ist eine ganze Gefäßseite der Darstellung eines fliehenden Persers vorbehalten, der außer sich vor Angst frontal aus dem Bild herausblickt.13 Die emotionale Unausgeglichenheit von Barbaren gehört zu den Topoi, die sich bis ans Ende der Antike nachweisen lassen, meist unter Bezugnahme auf das Klima, in dem die betreffenden Völker wohnen. Kelten und Germanen gelten als tollkühn beim ersten Ansturm, lassen aber

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schnell den Mut sinken, wenn sich nicht sofort Erfolg einstellt, und geraten bei Misserfolg sofort in Panik und Verzweiflung. Afrikaner werden oft als ängstlich und feige bezeichnet.14 Dies wird besonders anschaulich in den Darstellungen der Geschichte von Herakles und dem Ägypterkönig Busiris visualisiert: Der Held soll wie andere Fremde geopfert werden, zerreißt aber seine Ketten und tötet den König und sein Gefolge. Die Ägypter – sehr oft mit negroiden Zügen ausgestattet – sind nicht nur hoffnungslos unterlegen, sondern stieben auch panisch auseinander.15 Exemplarisch sind Furcht und Schrecken der unterlegenen Orientalen auf dem berühmten Alexandermosaik in Pompeji ausgemalt, das nach übereinstimmender Ansicht der Experten ein Gemälde aus der Zeit um 300 v. Chr. kopiert (Abb. 4).

Abb. 4: Alexandermosaik aus Pompeji, nach einem Gemälde um 300 v. Chr., Neapel, Nationalmuseum

Man könnte als eines der Hauptthemen dieses Werkes geradezu die ‚Panik der Barbaren beim Ansturm Alexanders‘ benennen: Der Makedonenkönig führt persönlich die Attacke gegen Darius III. an und sucht den Großkönig auf dem Wagen mit der Lanze zu treffen. Ein Perser wirft sich in die Bahn des Angreifers und wird selbst durchbohrt. Die gesamte rechte Hälfte des Bildes schildert den Schrecken des persischen Heeres: Der Wagenlenker peitscht das Gespann zu abrupter Kehrtwendung und Flucht; der Großkönig selbst auf dem Wagen wendet sich machtlos mit entsetzter Miene und wohl schreiend (!) dem Angreifer zu;

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sein Pferdehalter blickt mit ähnlicher Mimik in die gleiche Richtung; persische Soldaten rechts davon haben sich zur Flucht gewendet (?) und blicken mit Entsetzen im Blick ebenfalls auf die anstürmenden Feinde und recken ihre erschrocken hochgeworfenen Arme ausdrucksstark über die Köpfe.16 Die Bedeutung der entsetzt sich zur Flucht wendenden Perser für die Gesamtaussage des Bildes ist von der bisherigen Forschung, die entweder vornehmlich an ikonographisch – antiquarischen Fragen und dem historischen Bezug der Darstellung interessiert war, oder in neuhumanistischem Geiste den Respekt vor dem Gegner ausgedrückt fand, meist übersehen worden. Die schriftliche Überlieferung und die Bildquellen machen aber den topischen Charakter dieses Aspektes deutlich, der dem Betrachter gut vertraut gewesen sein muss. Mit dem Alexandermosaik bzw. dem ihm zugrunde liegenden Original ist die traditionelle Epochengrenze zum Hellenismus bereits überschritten. Es mag als Beleg dienen, dass der für die Klassik festgestellte Topos der Barbaren, die ihrem Schreck unterliegen, weiter Bestand hat. Die bildende Kunst des Hellenismus wird oft mit geradezu barockem Pathos assoziiert. In der Tat zeigen Werke wie die Laokoongruppe oder der besiegte Gallier von Delos bzw. Mykonos eine neue Qualität der Emotionsschilderung.17 Ob sich aber in der Zuordnung von Emotionalität zu bestimmten Gruppen gegenüber der Klassik Wesentliches ändert, und wenn ja, was, ist schwierig zu beurteilen, weil die Überlieferungssituation eine andere ist. So fällt das Medium der figürlich dekorierten Gefäße weg. Daher kennen wir aus dem Hellenismus keine Perserkampfschilderungen nach Art der klassischen Vasenbilder mehr. Es haben sich aber römische Kopien von hellenistischen Siegesdenkmälern erhalten, die besiegte Barbaren darstellen – sei es als Zusammenstellung mythischer und historischer Exempel wie beim sog. Kleinen attalischen Weihgeschenk oder als Zusammenstellung von einzelnen real erfochtenen Siegen wie beim Großen attalischen Weihgeschenk im Athenaheiligtum von Pergamon aus dem 3. Jh. v. Chr.18 Auf dieses Siegesdenkmal werden u. a. der Sterbende Gallier im Kapitolinischen Museum und die Galliergruppe Ludovisi zurückgeführt, die einen Keltenfürsten zeigt, der soeben seine Frau getötet hat und nun sich selbst umbringt. Wenn auch diese Darstellungen sich auf konkrete Kämpfe mit keltischen Verbündeten der Seleukiden beziehen, so haben doch die Kelten insgesamt im Hellenismus das Erbe der Perser als griffigstes Feindbild angetreten und diese Rolle auch noch bis in die römische Kaiserzeit gespielt. Der historische Hintergrund war der, dass im frühen 3. Jh. keltische Stammesverbände bis nach Griechenland vorgedrungen

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und dann von hellenistischen Fürsten als militärische Verbündete nach Kleinasien geholt worden waren.19 In dieser Rolle waren sie ebenso gern gesehen wie vom jeweiligen Feind gefürchtet und vor allem wegen ihres gewöhnungsbedürftigen Äußeren – groß, blond, weißhäutig und lärmend – trefflich geeignet als Kinder- und Bürgerschreck. Ihnen schrieb man – wie später auch den Germanen – Eigenschaften zu, die im Gegensatz zum eigenen Idealbild standen: Stark und verwegen bis zur Torheit beim ersten Angriff, schnell ermattet und bei Misserfolg panisch und verzweifelt bis zum Verlust jeder Rationalität.20 Das Siegesdenkmal der pergamenischen Könige, zu dem die Gruppe wahrscheinlich gehörte, muss man sich als knapp 20 m lange Basis vorstellen, auf der Siege über verschiedene Gegner durch Darstellungen von Vertretern der jeweiligen besiegten Völker repräsentiert wurden: Eine lange Reihe von Toten, Verwundeten, Sterbenden oder eben: sich aus Verzweiflung Umbringenden – so ähnlich wie die ausgelegte Strecke nach einer Jagd. In diesem Spektrum der Niederlagen in ihren verschiedenen Stadien vertritt unsere Gruppe, wie schon gesagt, den Aspekt des Selbstmords aus Verzweiflung, eine Verhaltensweise, die in griechischer und römischer Sicht als typische Konsequenz unkontrollierter Emotionalität bei Barbarenvölkern galt. Soviel zum Hellenismus. In Bezug auf die römische Kaiserzeit müssen noch weniger Stichworte ausreichen, die die anhand der griechischen Beispiele entwickelten Gesichtspunkte aufgreifen.21 Bei Darstellungen von Geldgeschenken der Kaiser an die Bevölkerung wird auf der Seite der Empfänger nicht nur das Haben, sondern auch das Erzeugen von Emotionen geschildert, und zwar von Mitleid. Ähnlich wie vor Gericht wird die Bedürftigkeit der zu Beschenkenden anschaulich gemacht, auch wenn sich die Berechtigung zum Empfang der Zuwendung sozusagen aus der Aktenlage ergibt. Die emotionale Gebärdensprache der Bedürftigen, wie sie z. B. auf dem Trajansbogen von Benevent zu sehen ist, illustriert vor allem die euergetische Tugend der Spender, also meistens des Kaisers.22 Das Zeigen von Emotionen als Bestandteil von Barbarenstereotypen wird in der römischen Kaiserzeit zumindest nicht weniger drastisch geschildert als in der griechischen Kunst. Topisch sind die Bilder von um Gnade flehenden Feinden – hier unterworfene Daker auf der Trajanssäule vom Beginn des 2. Jh.s –, bei denen nicht nur der Unterwerfungsritus formal korrekt abgebildet, sondern darüber hinaus das ängstliche Flehen um Gnade in Physiognomie und Körperhaltung detailliert geschildert wird (Abb. 5).

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Abb. 5: Rom, Trajanssäule: Unterwerfung von Dakern, Marmor, frühes 2. Jh. n. Chr.

Emotionale Anteilnahme des Siegers wird – abgesehen von der sozusagen rituell bedingten Handbewegung – nicht thematisiert, allerdings dienen solche Bilder nach allgemeiner Auffassung generell der Veranschaulichung der Herrschertugend der clementia, der beispielsweise von den Zeitgenossen schon bei Caesar gerühmten Milde.23 Geradezu zeichenhaft hervorgehoben erscheint der um Gnade bittende Barbar auf einem Bild der Marcussäule aus den 80er Jahren des 2. Jh.s, das die Plünderung feindlicher Siedlungen und die Versklavung der Bevölkerung zeigt. Eine andere Szene der Marcussäule zeigt unter den besiegten Feinden, die von den Römern abgestochen werden, einen frontal gegebenen Krieger, der wohl in Schmerz und Todesangst den Mund schreiend geöffnet hat (Abb. 6).24 Die Beispiele sind zu wenige, um die Frage zu beantworten, ob sich in der Kaiserzeit die Darstellung von Emotionen unter den oben formulierten Aspekten gegenüber den griechischen Epochen grundlegend geändert hat. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass es Kontinuitäten gibt. Ein abschließender Blick auf die vor allem in Herrscherporträts visualisierten Eliteideale von der Klassik bis in die späte Kaiserzeit soll die Frage nach Kontinuität und Veränderung von sozial normgerechter Emotionalität noch einmal vorführen. Bei den Porträts handelt es sich ausschließlich um rühmend gemeinte Bilder, die die Dargestellten als konform mit geltenden gesellschaftlichen Idealen schildern und zumindest nicht absichtlich gegen die Intention des Geehrten verstoßen. Die führende politische Figur der athenischen Klassik des 5. Jh.s v. Chr., Perikles, gilt als exemplarische Verkörperung des Polisbürgers. An ihm rühmte man die extreme Affektkontrolle. Sie sei so weit gegan-

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Abb. 6: Rom, Marcussäule: Tötung von Barbaren durch römische Soldaten, um 180 n. Chr.

gen, dass er fast nie gelacht und z. B. einen politischen Gegner, der ihn mit seinen Beleidigungen bis vor die Haustür verfolgt habe, von seinem Sklaven mit der Laterne habe nachhause begleiten lassen, damit er in der Dunkelheit keinen Schaden nehme. Das ist natürlich in Plutarchs Periklesvita eine Prägung der römischen Kaiserzeit, aber sie bedient sich der klassischen Wertvorstellungen.25 Das in mehreren römischen Kopien überlieferte Periklesporträt (Abb. 7) zeigt ein völlig unbewegtes, eben ‚klassisches‘ Idealgesicht, das man nicht für das Porträt eines Individuums halten müsste, wenn uns nicht die Inschriften darüber informierten.26 Ich übergehe aus Platzgründen die interessanten Ausnahmen, die die Frage aufwerfen, ob es zu dem im Periklesbildnis verkörperten Ideal zeitgleich Alternativen gab27, und komme zu Alexander d. Gr., der für uns die Reihe der hellenistischen Herrscherporträts einleitet. Alexander und seine Nachfolger hatten kein Interesse daran, in ihrem Habitus den Anschein von „Polisbürgerlichkeit“ aufkommen zu

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Abb. 7: Bildnis des Perikles, Marmor, römische Kopie, Original um 430 v. Chr., Rom, Vatikanische Museen

Abb. 8: Bildnis Alexanders d. Gr., aus Pergamon, Marmor, 2. Jh. v. Chr., Istanbul, Archäologisches Museum

lassen und damit den Verdacht zu nähren, sie seien den gleichen Normen unterworfen wie die demokratisch legitimierten Funktionsträger. Vor diesem Hintergrund sind wohl auch Ausbrüche von schrankenlosem Jähzorn zu verstehen, bei denen es zur Ermordung ihm sehr nahe stehender Personen kam.28 Der Monarch konnte sich seinen Gefühlen hingeben, wenn er wollte. Zumindest musste dies gelegentlich demonstriert werden. Die Schriftquellen heben an ihm positiv den pothos hervor, die Sehnsucht nach fernen Ländern und den Trieb, sie zu erobern. Seine besonderen Eigenschaften und Merkmale hätten nach seiner eigenen Auffassung unter den Porträtkünstlern zu seinen Lebzeiten vor allem der Bildhauer Lysipp und der Maler Apelles darzustellen vermocht, weshalb er diese privilegiert habe.29 Wir besitzen in römischen Kopien ein Alexanderporträt, das mit Lysipp in Verbindung gebracht wird. Für seine Entstehungszeit ungewöhnlich ist das lange, ungebärdige Haar, nach der Auffassung antiker Physiognomiker ein Zeichen seiner löwenhaften Natur, der Gesichtsausdruck scheint aber eher verhalten.

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Eine hochhellenistische Redaktion dieses Porträts aus der Zeit des Pergamonaltars zeigt allerdings eine sowohl in Kopfhaltung wie Mimik stark bewegte und dadurch auch den Eindruck von Emotionalität hervorrufende Arbeit (Abb. 8).30 Ich erinnere an die oben gezeigten Beispiele hellenistischer Emotionsschilderung. Offenbar gehört Emotionalität – oder vielleicht sollte man hier eher von Pathos sprechen – zur hellenistischen Vorstellung vom Herrscher, die ältere Muster umprägt. Der erste römische Kaiser Augustus betrieb eine sehr gezielte Kulturpolitik, bei der die moralische Erneuerung, auch durch Belebung alter Kulte und Bräuche, eine bedeutende Rolle spielte. Dabei kam es, wie P. Zanker gezeigt hat, zur Auswahl von Stiltendenzen, die zwar sicher nicht verordnet, aber als angemessen empfunden wurden.31 Vor diesem Hintergrund erklärt sich das im Vergleich zu hellenistischen und vielen spätrepublikanischen Porträts unbewegte und emotionslose – eben klassizistische – Gesicht des Herrschers, das im Laufe seiner – gerechnet von der Schlacht von Actium an – 45jährigen Regierungszeit keine Alterszüge annimmt (Abb. 9).

Abb. 9: Bildnis des Kaisers Augustus, Marmor, frühes 1. Jh. n. Chr., München, Glyptothek

Abb. 10: Bildnis des Kaisers Caracalla, Marmor, frühes 3. Jh. n. Chr., Rom, Vatikanische Museen

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Aber Augustus bleibt in dieser Hinsicht nicht verbindlich. Am Beginn des 3. Jh.s n. Chr. lässt sich Kaiser Caracalla mit für unser Empfinden bedrohlich gerunzelter Stirn darstellen, die wahrscheinlich die schriftlich überlieferte Mimik Alexanders d. Gr. – des Eroberers schlechthin – zitieren soll (Abb. 10).32 Was mit der trux frons wirklich gemeint ist, lässt sich schwer sagen. Gewöhnlich wird von Strenge, Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen gesprochen – sicher scheint jedenfalls, dass man eine solche Miene nur aufsetzt, wenn man eben nicht gelassen und emotionsfrei ist. Wie im Hellenismus erscheint also auch hier Emotion als Bestandteil des Herrscherideals. Den Schluss mag ein Blick auf den ersten christlichen Kaiser Konstantin I. bilden, hier vertreten durch das Kolossalbildnis im Hof des Konservatorenpalastes in Rom (Abb. 11).33 Die Unbewegtheit, ja Abstraktheit der Gesichtsformen ist oft mit der spätantik-byzantinischen Herrschervorstellung begründet worden, die den Kaiser oberhalb jeder menschlichen Sphäre angesiedelt und ihm daher menschliche Züge wie Emotionen sozusagen vorenthalten habe. Auch die Vorstellung einer zeittypischen Transzendenz, die von zufälligen Formen der irdischen Natur zu abstrahieren habe, wird immer wieder formuliert. Deutlich scheint in jedem Falle auch hier die soziale Fixierung von Emotionslosigkeit und ihrer Verbildlichung, wie der Vergleich zu etwa zeitgleichen Beamtenporträts zeigen kann.34 Was gemeint ist, wird deutlich in einem bekannten Abschnitt des Historikers Ammianus Marcellinus, in dem dieser den feierlichen Einzug des Konstantinssohnes Constantius II. im Jahre 357 in Rom schildert (16, 10, 9–11): „Glückverheißende Zurufe begrüßten den Kaiser, und er erschauerte nicht bei dem Widerhall, den Berge und Ufer zurückwarfen, sondern zeigte sich so unbeweglich, wie man ihn in seinen Provinzen sah. Sooft er durch eins der hohen Tore fuhr, bückte er sich, obwohl von kleiner Statur, sonst richtete er wie mit gepanzertem Hals den leuchtenden Blick geradeaus und wandte das Gesicht weder nach rechts noch nach links. Wie ein menschliches Standbild schwankte er nicht, wenn ein Rad einen Stoß verursachte, und er spuckte nicht aus und rieb oder wischte sich nicht die Nase, und nie sah man ihn auch nur eine Hand bewegen. Freilich nahm er diese Haltung bewußt ein, doch waren dies und manches andere im diesseitigen Leben Anzeichen für eine überdurchschnittliche Selbstbeherrschung, die, wie man zu verstehen gab, ihm allein zustand.“ (Wolfgang Seyfarth)

Ich bin am Ende meines Überblicks. Er hat mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet und noch mehr gar nicht erst gestellt. Nur andeuten konnte ich die Erwartung, dass eine konsequente Verfolgung des As-

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Abb. 11: Kolossalbildnis Konstantins I., Marmor, um 315 n. Chr., Rom, Konservatorenpalast

pektes der sozialen Zuordnung des Zeigens von Emotionen die traditionelle Lesung bekannter Werke der antiken Kunst verändern könnte. Ferner wären Differenzen im Zeigen von Emotionen zwischen weiteren Personengruppen, beispielsweise zwischen den Geschlechtern, systematisch zu untersuchen. Der Aufsatz versteht sich auch als Beitrag zur Vorbereitung eines entsprechenden Forschungsprogramms.

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Anmerkungen 1. Homer, Ilias 23. – Fragment eines attisch schwarzfig. Dinos, Athen, Nationalmuseum 15499. John Boardman, Schwarzfigurige Vasen aus Athen, Mainz 4 1994, Abb. 26. 2. Frank Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001, 225–242 Abb. 42. 3. Burkhard Fehr, Bewegungsweisen und Verhaltensideale, Bad Bramstedt 1979, 16–24. 4. Aristoteles, Politik 1252 b 5–9. 1285 a 20 f. 5. Fehr [Anm. 3] 1 f. und passim. 6. Aristoteles, Physiognomica, übersetzt und kommentiert von Sabine Vogt, Berlin 1999, 59. 83 f. (Archilochos, Sokrates). 7. Geometrische Amphora, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum B 2674. Corpus Vasorum Antiquorum Karlsruhe I, München 1951 Taf. 3,1; vgl. z. B. Hirschfeld-Krater Athen, Nationalmuseum 990. Erika Simon, die griechischen Vasen, München 1976, Taf. 8. 9. 8. Berlin, Staatl. Museen, Antikensammlung. Boardman [Anm. 1], Abb. 105,1. 9. Euripides, Iphigenie auf Aulis 446–451; vgl. Fehr [Anm. 3]. 10. Ingeborg Huber, Die Ikonographie der Trauer in der griechischen Kunst, Möhnesee 2001, 151–156. Zur Thematik attischer Grabkunst allgemein Nikolaus Himmelmann, Attische Grabreliefs, Opladen/Wiesbaden 1999. 11. Zu Rolle und Erscheinungsbild des Theseus Ralf von den Hoff, Die Posen des Siegers. Die Konstruktion von Überlegenheit in den attischen Theseusbildern des 5. Jh.s v. Chr., in: Ders., S. Schmidt (Hg.), Konstruktionen von Wirklichkeit, Stuttgart 2001. Beispiele für Darstellungen der Theseustaten: Karl Schefold, Franz Jung, Die Urkönige, Perseus, Bellerophon, Herakles und Theseus in der klassischen und hellenistischen Kunst, München 1988, 236–251, Abb. 287, 288, 297, 301. Das abgebildete Beispiel: München, Antikensammlungen, attisch rotfig. Kantharos, 3. Viertel 5. Jh. v. Chr.; Thermenherrscher: R. R. R. Smith, Hellenistic Sculpture. A Handbook, London 1991, Abb. 3; Tivoli-Feldherr: ebd., Abb. 319. 12. Zu den Theseus-Gegnern Hans Herter, Theseus, in: Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Suppl. XIII, Stuttgart 1973, 1061–1064. 13. Perserkampfdarstellungen: Wulf Raeck, Zum Barbarenbild in der Kunst Athens im 6. und 5. Jh. v. Chr., Bonn 1981, 101–133; Krater Basel, ebd. 119, Abb. 54 f.; T. Hölscher, Antike Kunst 17, 1974, 78–85 Taf. 18. 14. Die Geschichte der Barbarentopoi zusammengestellt bei Julius Jüthner, Hellenen und Barbaren. Aus der Geschichte des Nationalbewusstseins, Leipzig 1923; Friederike Fless, Zur Konstruktion antiker Feindbilder. Das Beispiel der „Großen Gallier“, in: Hans-Ulrich Cain, Sabine Rieckhoff (Hg.), Fromm – fremd – barbarisch. Die Religion der Kelten, Mainz 2002, 59–87. 15. Busiris-Geschichte und ihre Ikonographie: Anne-France Laurens, Bousiris, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae III 1 (Zürich 1986), 147–152. 16. Neapel, Archäologisches Nationalmuseum. Katherine M. D. Dunbabin, Mosaics of the Greek and Roman World, Cambridge 1999, 40–43, Abb. 41. 42. Farbabb. 6; Ada Cohen, The Alexander Mosaic, Cambridge 1996. 17. Smith [Anm. 11] Abb. 143. Gallier aus Delos, Athen, Nationalmuseum, in: Bernard Andreae, Skulptur des Hellenismus, München 2001, Taf. 195. 18. Kleines attalisches Weihgeschenk, ebd., Taf. 146–157. Großes attalisches Weihgeschenk, ebd., Taf. 46–48.

Barbarenangst und Sklaventrauer

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19. Jörg-Dieter Gauger, Kelten, in: Kleines Wörterbuch des Hellenismus, hg. v. Hatto-H. Schmitt und Ernst Vogt, Wiesbaden 1988, 340–345. 20. Hans-Joachim Schalles, Untersuchungen zur Kulturpolitik der pergamenischen Herrscher im 3. Jh. v. Chr., in: Istanbuler Forschungen Bd. 36, Tübingen 1985, 97–100; Fless [Anm. 14]. 21. Die Trauer als wesentlicher Aspekt des römischen Umgangs mit Emotionen wurde von Paul Zanker behandelt und bleibt deshalb hier außer acht. 22. Benevent, Trajansbogen. Niels Hannestadt, Roman Art and Imperial Policy, Aarhus 1988, 181, 183, Abb. 116. 23. Ebd., 158 f., Abb. 98. 24. Rom, Marcussäule. Hannestad [Anm. 22], 240, Abb. 149, 239, Abb. 148. 25. Plutarch, Perikles 5; Ralf Krumeich, Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im 5. Jh. v. Chr., München 1997, 122 f. 26. Ebd. 114–125, Abb. 56–62; Gisela M. A. Richter, The Portraits of the Greeks. Abridged and revised by R. R. R. Smith, Oxford 1984, 173–175, Abb. 136 f. 27. Zur Herausbildung des griechischen Individualporträts zuletzt Emmanuel Voutiras, Individuum und Norm: Bemerkungen zum griechischen Menschenbild der frühen Klassik, in: Gab es das griechische Wunder?, hg. v. Dietrich Papenfuß und Volker Michael Strocka, Mainz 2001, 21–37; Wulf Raeck, Rolle und Individuum im frühen griechischen Porträt, in: Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, hg. v. Martin Büchsel und Peter Schmidt, Mainz 2003, 29–42; sowie Nikolaus Himmelmann, Das realistische Porträt als Gattungserscheinung in der griechischen Kunst, ebd., 19–28. 28. Jakob Seibert, Alexander der Große, Darmstadt 1972; Andrew Stewart, Faces of Power. Alexander’s Image and Hellenistic Politics, Berkeley 1993. 29. Zusammenfassend zum Alexanderporträt R. R. R. Smith, Hellenistic Royal Portraits, Oxford 1988, 57–64; Stewart [Anm. 28], 21–41 zu den Schriftquellen über Alexanders Aussehen und seine Hofkünstler. 30. Alexander Schwarzenberg, München, Glyptothek. Stewart [Anm. 28], Abb. 40 f. Alexanderkopf in Istanbul, Archäologisches Museum, aus Pergamon; ebd., Abb. 128 f. 31. Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1986. 32. Zum Caracallabildnis im „1. Alleinherrschertypus“ Klaus Fittschen, Paul Zanker, Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom I, Mainz 1985, 105–108, Taf. 110–113. 33. Fittschen-Zanker [Anm. 32], 147–152. Zusammenfassend zum spätantiken Kaiserporträt: Marianne Bergmann, Zum römischen Porträt des 3. Jh.s n. Chr., in: Herbert Beck, Peter C. Bol, Spätantike und frühes Christentum, Frankfurt a. M. 1983, 41–60; Urs Peschlow, Zum Kaiserporträt des 4. bis 6. Jh.s n. Chr., ebd. 61–69. 34. Paul Zanker, Herrscherbild und Beamtenporträt, in: Ritratto ufficiale e ritratto privato, hg. von Nicola Bonacasa und Giovanni Rizza, Rom 1988, 105–109.

Michael Fried

Severed Representations in Caravaggio First I want to compare two pictures: Caravaggio’s early Boy Bitten by a Lizard (ca. 1596–97)1 in the National Gallery in London (Plate I) and Henri Matisse’s Self-Portrait of 1918 in the Musée Matisse in Le Cateau-Cambrésis (Fig. 1).

Fig. 1: Henri Matisse, Self-Portrait, oil on canvas, 1918, Le Cateau-Cambrésis, Musée Henri Matisse

The comparison obviously has no historical force but just for that reason it serves to throw into relief an underlying structure or (to use the

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helpful French term) dispositif shared by both works. I want to call attention to two points: first, Matisse’s use of a mirror has resulted in an image of the right-handed painter wielding a brush in his left hand; and second, the painter is shown working on a canvas a small sliver of which we can just glimpse at the bottom right of the Self-Portrait. If we now direct our attention to the Boy Bitten by a Lizard, it becomes possible to see that painting as an analogous mirror-representation of the painter in the act of painting his own self-portrait but one that has been disguised and distorted just enough (indeed more than enough) for it to have escaped being understood in those terms until now. Thus the boy’s upraised left hand near the right-hand edge of the picture, which has always been viewed merely as gesturing with surprise, makes a different kind of sense especially with respect to its place in the composition if it is seen as a disguised mirror-image of the artist-viewer’s right hand in the act of wielding a brush (the brush itself having been omitted); while the boy’s right hand, which not only is not shown gripping a palette but appears to be in the wrong position to do so (i. e., palm down rather than palm up), nevertheless is roughly where it ought to be in order to be read as a mirror-image of the artist-viewer’s left hand engaged in its necessary though subordinate task. Another conspicuous feature of the composition, the way in which the boy’s upper body turns away from the viewer, also takes on new meaning if it is seen as reflecting the actual orientation of the artist-model as he turned from the mirror to his canvas and back again (it’s as though the boy’s head remains fixated on the mirror while his upper body pivots toward the canvas), though here too commentators have been prevented from considering that possibility by the exaggerated upward thrust of the boy’s right shoulder as well as by the fact that the latter is provocatively bare. Indeed nothing has seemed more foreign to the presumably virile agency involved in the act of painting than the ‘ambivalent’ or ‘ambiguous’ sexuality of Boy Bitten by a Lizard’s protagonist. If the basic terms of the comparison are provisionally granted, several key differences between the two works come at once to the fore. First, in Boy Bitten by a Lizard we are not shown even a partial side view of the canvas on which, in my account, the boy is to be understood as working; rather, the implication is that the canvas is just beyond the right-hand framing edge of Boy Bitten by a Lizard itself. Second, whereas Matisse has portrayed himself looking at the canvas on which he is working, Caravaggio has represented himself staring, if that is the word, at his image in the mirror, which is why the boy appears to be looking more or

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less directly at the viewer standing before the picture. To generalize my point, modern commentators have rightly stressed the forcefulness with which Caravaggio’s paintings at all stages of his career thematize or otherwise draw attention to their relation to the viewer. But what by and large has not been recognized is that Caravaggio is one of those rare painters (Courbet is another) whose paintings must be understood as evoking a primary, even primordial, relationship to the painter himself, who afterwards is succeeded, but never quite supplanted, by other viewers, by the viewer in general, in a word by us. One scholar who never loses sight of that aspect of Caravaggio’s art is Sydney J. Freedberg in the marvellous chapter on Caravaggio in his last book, Circa 1600.2 But because Freedberg doesn’t treat the self-portraits, he never addresses the equally crucial question of the relation to Caravaggio of paintings bearing his own image, or rather of the many paintings in his œuvre that in one way or another thematize the primordialness of that relationship. And third, whereas Matisse’s Self-Portrait depicts the artist as occupied or absorbed in a single protracted action (painting) or sequence of similar actions (applying paint to canvas), Boy Bitten by a Lizard appears to evoke a sharply distinct instant of pain, surprise, and shock – an instant of strongly negative or aversive affect – as the boy recoils from the unexpected bite. Needless to say, the evocation of such an instant goes a long way toward masking or distorting what I am arguing is the painting’s underlying subject. But there is another, deeper sense in which instantaneousness, pain, and shock are inseparable from that subject as I have come to understand it. Simply put, I suggest that what ultimately Boy Bitten by a Lizard portrays – what we are, if not quite invited to see in it, at least enabled to see in it once we understand it as a disguised self-portrait – is not one but two ‘moments’ in its production. The first is a ‘moment’ of extended duration, of the painter’s engagement over time in the protracted, repetitive, partly automatistic act of painting; I shall call that ‘moment’ immersive, imagining the painter as so caught up, so immersed, in this phase of his work as to be less than fully aware of any sharp distinction between the work and himself. The second is a ‘moment’, notionally instantaneous, of separating or indeed recoiling from the painting, of becoming detached from it, which is to say of no longer being immersed in work on it but rather of seeing it as if for the first time; I shall call that ‘moment’ specular, meaning thereby to emphasize the strictly visual or optical relation between the artist or artist-viewer and the image he has just produced. The contrast between the two ‘mo-

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ments’ we may say, is between the artist’s being ‘in’ the painting or at least ‘continuous’ with it in the ongoing process by which the painted image was laid down on the canvas; and finding himself ‘outside’ the painting, or discovering that he has become not just detached but distanced from it, in a relationship of mutual facing (also mutual freezing) that first establishes the painted image as an image and with it the painting as a picture, as fundamentally addressed to a viewer – in the first instance, to Caravaggio himself. In the Boy Bitten by a Lizard, as elsewhere in his œuvre, the second or specular ‘moment’ is dramatized to the extent of largely eclipsing the first, which I have tried to recover, to make intuitable, by means of a pointedly ahistorical juxtaposition with Matisse. My larger claim, which this essay can only gesture toward, is that precisely such a double or divided relationship between painter and painting – at once immersive and specular, continuous and discontinuous, prior to the act of viewing and thematizing that act with unprecedented violence – lies at the heart of much of Caravaggio’s art. In the book on Caravaggio I am currently writing I develop this point with the help of a sustained comparison (which turns out to involve a sustained contrast) with the art of the great nineteenth-century realist, Gustave Courbet. Obviously there isn’t time for me to do this here. But I will say that in my account of Courbet, as put forward in my book Courbet’s Realism3, the artist, or artist-viewer, labours to achieve a relationship of quasi-corporeal merger with the painting on which he is working, whereas Caravaggio, in the second, more conspicuously thematized ‘moment’ in the production of his work – the specular ‘moment’ as I call it – finds himself compelled if not actually to seek to remove himself from the painting then at any rate to dramatize the shock of separation and withdrawal from it (that’s the meaning of the depicted affect), thereby establishing the painting not exactly as theatrical (the Diderotian problematic of theatricality and anti-theatricality doesn’t yet apply), but in a new and highly polarized relation to the general issue of spectatordom. Of course, to claim that Courbet and Caravaggio are very nearly antithetical figures in the sense I have just summarized is also to say that they were concerned with intimately related issues. For one thing (and I will settle for this), the self-portrait, not just in its own right but more importantly in the form of a disguised or inexplicit mode of self-representation, occupies a privileged place in both artist’s œuvres. Since they are the two archrealists in all Western painting, this is, to put it mildly, a deeply interesting fact.

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Before going further, let me make two theoretical observations. First, what I have been calling two ‘moments’ in the production of Caravaggio’s paintings are not quite to be thought of as succeeding one another in time. We might say that his paintings invite us to consider them in that light and it may be that it is only with the aid of a temporal metaphor that they can be conceptualized at all. But the distinction I am after is structural rather than temporal, and is best imagined as potentially in play throughout the production and perhaps also the contemplation of Caravaggio’s paintings. In this respect the ‘moments’ in question are not unlike those in certain psychoanalytic scenarios, to which indeed they bear a relation. Second, my proposal that Boy Bitten by a Lizard (Colour Plate I) be viewed as essentially a self-portrait is not meant to imply that the boy’s facial features are necessarily those of the painter (and no one else, so to speak). Creighton Gilbert, for example, invoking a suggestion by Frommel, believes that the faces of the “soft boys” in certain early Caravaggios, including the Uffizi Bacchus (Fig. 2), the Musicians4

Fig. 2: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Bacchus, oil on canvas, ca. 1598, Florence, Galleria degli Uffizi

in the Metropolitan Museum of Art, and the Lizard pictures may all be based on a single model, the young painter Mario Minniti who seems to

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have lived with Caravaggio in the early 1590s.5 But this if true in no way tells against the structural features of the Boy Bitten by a Lizard that have been the focus of my analysis, features that infallibly refer back, as I hope is becoming clear, to the maker of the paintings. These considerations bring me to a further point, a crucial one, concerning the precise structure or dispositif that is plainly operating in the Matisse Self-Portrait of 1918 and that I have invited you to imagine at work in Caravaggio’s Boy Bitten by a Lizard as well. Looking again at the Matisse (to begin with the work whose self-portrait status is unimpeachable) our initial impression, once we take in the sliver of the canvas at the lower right, is not only that the painting portrays what the artist saw in a mirror but also that the painting has eclipsed the mirror, as if there were space on the wall before us for one or the other but not both. But if we think harder about the implied arrangement – if we take the painted image as a reliable guide to the circumstances under which it was made, which of course it may not be (but what matters is that the painting positively entices us to understand the image in those terms) – we soon realize that the canvas and the mirror were never exactly competitors for the same space (in the same time period, so to speak). According to the structure or dispositif – the elementary technology – I have been describing, we are asked to visualize the canvas and the mirror as having ‘originally’ been at right angles to one another, with the seated artistviewer positioned between them so as to be able to study his reversed image in the mirror and then, pivoting to his right, to transpose it onto the painting gradually being realized under his brush. Only after the painting was completed was it hung where the mirror had been; only then did the painting replace the mirror, though of course by virtue of doing so it also preserved the ‘original’ mirror image in a way that perhaps no other kind of self-portrait could have done as well. Put slightly differently, the logic of this particular mode of mirror-representation, which for obvious reasons I want to call ‘right-angle’, is such that the painting appears to insist on its virtual identity with the absent mirror while at the same time representing itself – itself ‘originally’ in the process of being painted – as non-identical with the picture surface, indeed as rotated 90 degrees into the picture space in the immediate vicinity of the right-hand or left-hand framing edge. It may also be the case, as in the Boy Bitten by a Lizard, that the painting represents itself ‘originally’ not only as rotated 90 degrees into the picture space but also – I am deliberately stretching the notion of representation here – as placed just beyond the right- or left-hand framing edge, that is, as just barely excluded

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from the representational field, which however must be thought of as oriented to that excluded element fully as much as to the implied mirror. We are now equipped to turn very briefly to two other works by Caravaggio. Consider, for example, the most compelling of the early halflength single-figure paintings, the Uffizi Bacchus, also of around 1596– 97. A young man of distinctly ‘soft’ appearance reclines on one elbow on pillows covered with grayishwhite drapery, an arrangement presumably meant to replicate the setting of a classical symposium – but of course the artist could not resist showing us a bit of pillow with its light blue ticking, thus deliberately undercutting the classical effect. The young man himself, who gazes composedly at the viewer with slightly inclined head, is only partly draped in a similar ‘toga’ which is to say that his right shoulder and arm and much of his chest are completely bare; he wears a garland of grapes and leaves in his thick black hair (a wig?), and extends a goblet of wine toward the viewer. The fingers of his right hand seem to be playing with the black bow of a sash. On the grayish tablelike surface before him sits a basket of fruit, many of which are blemished and overripe (the pomegranate, for example, has already burst), along with, to the left, a carafe of wine from which presumably the wine in the goblet has just been poured (the surface of the wine in the carafe seems still to be in motion, with tiny bubbles at its circumference). Judging by the protagonist’s facial features, the Bacchus is not literally a self-portrait, though it has sometimes been taken for one. But it has always been viewed as close in spirit to Boy Bitten by a Lizard, and if we think of it in the context of the general question of self-representation with the aid of a mirror, imagining the mirror this time to have been not at right angles to the canvas but in effect as coinciding and in a sense competing with it, we realize that Bacchus’s gesture of extending his left arm and hand holding a goblet of wine toward the beholder may be seen as a disguised mirror-image of the painter’s (the artist-viewer’s) right arm and hand extending directly toward the picture surface and wielding the brush with which the picture was painted. Moreover, if we look more closely at the arm, hand, and wineglass, we are struck by what seems to be (what seems to be; I shall come back to this) a pattern of concentric ripples on the surface of the wine, a striking detail that brilliantly evokes the movement of Bacchus’s arm and hand toward the viewer. Mina Gregori indeed has described the ripples as “enhancing the effect of instantaneousness”6, and one sees what she means. But I am impressed by something else as well: the strong analogy between the seeming ripples in the wine and the concentric folds in the drapery covering Bacchus’s left arm, an

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analogy I take as suggesting a certain continuity between the two, as if the ripples are to be seen (are also to be seen) as prolonging the gesture of the arm – indefinitely, as it were – rather than as simply or univocally signifying the freezing of that gesture in an effect of pure instantaneousness. To be more exact, and recalling the distinctly non-instantaneous tenor of the depicted Matisse’s action in his Self-Portrait of 1918, I see the analogy between the ripples and the folds as evoking the protracted or repetitive action of applying paint to canvas, which is to say that I read Bacchus’s gesture – not his figure as a whole, but the action of his left arm and hand – as evoking what I have been calling the ‘moment’ of immersion or continuity (of prolongation, one might also say).7 All this may seem to go quite far, but there is a further consideration whose import is incalculable. I have said that the ripples on the surface of the wine in the goblet seem to be there; in fact what we are seeing – through the wine, not on its surface – are concentric or rather parallel spirals in the glass bowl of the goblet itself. In one sense this relates the goblet all the more closely to the concentric folds in Bacchus’s drapery. And of course the fact remains that the dominant impression conveyed is of ripples on the surface of the wine, as Gregori’s remarks attest. But the tension between that impression and what on closer viewing are the facts of the case introduces a level of complexity that goes beyond what I have said so far. At the very least, the tension seems to suggest a split or division within the painted image analogous to that between ‘moments’ of immersion and specularity, though once again it is impossible simply to align the ripples and spirals respectively with the one or the other. The ripples suggest instantaneousness, as Gregori says, but they can also (as I’ve indicated) be taken to suggest a kind of continuousness or prolongation that I have associated with immersion. By the same token, the spirals being ‘frozen’ can seem to line up with specularity, but the very fact that they can only be observed by close and committed looking works against the distancing that specularity entails. (And is it absolutely clear that there are no ripples in the surface of the wine? The closer one looks the more uncertain that too becomes. What is certain is the tension between the two readings, which I see as paradigmatic for the viewer’s relation to Caravaggio’s art in a wider sense). An additional feature of the Bacchus that must be mentioned is one for which no adequate illustration exists. When the painting was cleaned in the early 1920s a small head was discovered reflected in the convex surface of the carafe at the lower left. According to Gregori, “the reflected head is that of a male, who wears a contemporary cos-

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tume with a white collar; there also seems to be a painting seen from the back, as though on an easel.”8 For obvious reasons the figure of the man has been considered a self-portrait, but what is equally important is that the reflection may be taken as acknowledging not just the selfportrait character of the representation as a whole but also that what ultimately is portrayed in the Bacchus is the production of the Bacchus, with everything that that implies.9 Once again it is tempting to associate the reflection with the ‘moment’ of specularity (perhaps contrasting the carafe of wine with the goblet, which up to a point, feels right), but again it is a temptation to be resisted, in the first place because it too is discernible only at very close range and in the second because the painting on the easel Gregori saw in the reflection was turned away from the viewer, as if not ready to be viewed.10 Here I want to propose a generalization about what might be called the internal structure of Caravaggio’s art, namely that it comprises a pair of constitutive distinctions (I should say at least a pair; there are others it is no time to discuss): 1) between what I have been calling immersion and specularity with respect to the act of painting itself, and 2) between painting and mirroring or painting and reflecting, but (or and) that the respective terms of those distinctions cannot simply be aligned with one another, the immersive ‘moment’ equalling painting and the specular ‘moment’ mirroring, or vice versa. Rather, I see the two sets of terms as combining and interacting in subtle and unpredictable ways, often differently in different portions of a single picture (the Bacchus, for example), which if I am right would be a powerful reason why Caravaggio’s art, despite having been the focus of intense scrutiny for decades, has proven so resistant to sustained pictorial analysis. To underscore the obsessive nature of the structures we have been tracing, and also by way of indicating how hard it has been for students of Caravaggio to break the spell of individual works so as to grasp structural resemblances that are in a sense perfectly obvious between works of grossly disparate subject matter, I want to juxtapose to the Bacchus a picture in an altogether different affective tonality from a later, starker phase of Caravaggio’s career: the David with the Head of Goliath (Fig. 3) in the Borghese Gallery of around 1605–6. Simply considering the Bacchus and the David together makes several points. First, it is clear that we are dealing with two versions of a single figural dispositif. The principal action in both pictures is essentially the same: the protagonist extends his foreshortened left arm and hand toward the picture surface; the arm is lightly bent at the elbow, and the hand holds an object – a gob-

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Fig. 3: Michelangelo Merisi da Caravaggio, David with the Head of Goliath, oil on canvas, ca. 1605-6, Rome, Galleria Borghese

let of wine, the severed head of Goliath – in a manner that explicitly (in the Bacchus) or implicitly (in the David) proffers that object to the viewer. By now it hardly needs to be said that I interpret David’s gesture as I do Bacchus’s, as a disguised mirror-representation of the act of applying paint to canvas, though there is also an important sense in which the head of Goliath may be taken as standing for the painting itself, or rather the painting as specular artifact, severed, that is, cut off from the immersive activity that brought it into being. The same gesture recurs elsewhere in Caravaggio’s art, sometimes mirror-reversed and sometimes not, as for example in Salome Receiving the Head of John the Baptist (Fig. 4) in the National Gallery in London, a work with evident affinities to the David. Unlike the Bacchus and the Salome, however, the David contains an unmistakable self-portrait: the head of Goliath bears Caravaggio’s features. This confirms the intuition I have been pursuing to the effect that Caravaggio’s self-portraits often find ways to suggest the immersive and specular ‘moments’ in the process by which they

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Fig. 4: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Salome Receiving the Head of John the Baptist, oil on canvas, London, National Gallery

were brought into the world, or to put this the other way round, it confirms the sense in which immersion and specularity emerge in those paintings as parameters of the artist’s ‘subjectivity’ even if they cannot be translated into familiar affective terms. And this suggests in turn that Caravaggio’s obsession with images of decapitation in his art, starting with the Judith Beheading Holofernes (1598–99) (Fig. 5), may be understood as thematizing the divided nature of his practice even as it inevitably stresses the ‘specular’ moment as such, a ‘moment’ I have characterized as one of separation, distancing, and discontinuity and that in the Boy Bitten by a Lizard was associated with violence, pain, and shock. Finally, another difference between the Bacchus and the David is that in the latter neither David’s nor Goliath’s face looks out toward the viewer; instead both faces seem as if absorbed in painful thought: David actually (nothing in the painting is more remarkable than his expression of deep sorrow as he gazes at the fruit of his action), Goliath … how to describe not his expression so much as its existential modality? We recognize that he has been killed (twice over: by the stone that entered his forehead and by the severing of his head), and yet there is something in his look that evokes the prolongation of a thought, or perhaps what we are made to sense is simply the relaying, by his open, unseeing eyes, of the youthful David’s tenderly aversive gaze. Put otherwise, Goliath’s expression ‘reflects’ David’s, or perhaps it’s David’s that does the reflecting11,

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Fig. 5: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Judith Beheading Holofernes, 1598–99, oil on canvas, Rome, Galleria Nazionale di Arte Antica

as is hinted at by the mirrorlike gleam of David’s naked sword (weapons and armour in Caravaggio’s paintings often connote mirroring)12, which suggests that even as the David with the Head of Goliath allegorizes the immersive and specular ‘moments’ in their separateness or distinctness it also allegorizes their boundness to one another, their mutual intertwining, even their essential inseparableness. In my book in progress on Caravaggio I devote a chapter to his epochal discovery of a poetics of absorption as a central resource for painting. But for the moment I must let his David with the Head of Goliath stand as a tour de force of the representation of absorption even after violent death. I want to close these remarks by looking very briefly at Caravaggio’s last painting, a work of overwhelming power, The Martyrdom of St. Ursula (1610) (Fig. 6). According to legend, the saint, following the martyrdom of her companions, was killed by the king of the Huns when she refused to marry him. What makes Caravaggio’s treatment of the story so remarkable, of course, is that the execution – by bow and arrow – takes place at point-blank range. The painting appears to capture the moment immediately following the release of the arrow, which has just pierced the saint’s body. The bowstring, we feel, has not ceased vibrating, as Ursula looks down at her mortal injury in grave surprise. (It’s all but impossible to put a name to the expression of any of the figures in the painting; by now Caravaggio has passed beyond the range of recognizable modes of human feeling). Three other personages crowd

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Fig. 6: Michelangelo Merisi da Caravaggio, The Martyrdom of St. Ursula, oil on canvas, 1610, Naples, Musei e Gallerie di Capodimonte

the right-hand half of the composition: a soldier in armour at the right, a man who stands partly between the king of the Huns and Ursula and whose left hand grips and perhaps jerks upward a noose tied around her neck, and finally, immediately behind the saint and craning his head as if not to miss the moment of execution, a third man whom we recognize at once as still another self-portrait of the artist. I think of the excruciatingly short distance between the king (let me call him rather the executioner) and Ursula as painting distance, by which I mean to evoke both the making and viewing of the picture; and I see the composition as a whole as exploring, seeking to give expression to, the vertiginous, continually ramifying, indeed unstoppable and unstabilizable flow and counterflow, projection and reflection, of violent affect or feeling within the act of painting as I have interpreted the latter in this lecture. (The flow and counterflow of identification and counter-identification, mimesis and counter-mimesis). Put otherwise, in the Martyrdom of St. Ursula, the distinction between ‘moments’ of immersion and specularity is at once multiplied and dissolved. If we take the executioner as a stand-in for the painter (as we are encouraged to do not only by his being the initiator of the depicted action but also by the similarity between his left hand gripping the bow and the ‘prof-

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fering’ gestures of analogous figures in the Uffizi Bacchus and the Borghese David with Head of Goliath), and Ursula as a figure – a synecdoche – for the painting (and here it may not be irrelevant that the noose around her neck suggests a kind of hanging), the portrayal of Caravaggio ‘himself’ behind Ursula presents him as straining to witness the initiatory pictorial act, though of course he is also seeing the unreadable mirroring response of the open-mouthed executionerpainter (that is, his ‘own’ response) to the consequences of that act (the arrow penetrating Ursula’s body, which he all but embraces from the rear, her response to that penetration, and so on). And as a closer look at the executioner makes clear, the play of reflected light on his armoured breastplate indeed posits reflection, mirroring, at the very origin of the initiatory act, just as the embossed lion’s head on that breastplate symbolizes the sun, hence light itself, the condition of possibility for vision, in the absence of which there would be no painting. At the same time, the scene is framed by, all the personages are embedded in a tarlike blackness that seems the negation not just of light but also of sight (ordinary chiaroscuro has been left far behind), as though for Caravaggio at this climactic moment the ground of painting, of what painting had become in his hands, were not only prior to vision, as in a sense is true of immersion, but fundamentally inimical to it. In late May 1610 The Martyrdom of St. Ursula was shipped from Naples to Prince Marcantonio Doria in Genoa; on July 18th Caravaggio, en route back to Rome, died of fever at Porto Ercole at the age of thirty-nine. No final work has ever seemed more stupefyingly to mark the farthest limit of an œuvre and of a life.

Notes 1. The present paper is based on an essay entitled: “Thoughts on Caravaggio”, in: Critical Inquiry 24, Autumn 1997, 13–56. In this version I have deliberately held footnotes to a minimum in the interests of readability. I should note, though, that the Boy Bitten by a Lizard, in the National Gallery is one of two versions of that subject, the other being in the Roberto Longhi Foundation, Florence. Recent opinion is divided as to which is the original and which the early copy; in fact both are superb and might well be by Caravaggio. For my purposes, what matters is that, in the present state of our knowledge, both canvases may be taken as faithful to the artist’s intentions. 2. Sydney J. Freedberg, Circa 1600. A Revolution of Style in Italian Painting, Cambridge, MA and London 1983, 52–79. 3. Michael Fried, Courbet’s Realism, Chicago and London 1990.

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4. Caravaggio, The Musicians, 1595–96, Metropolitan Museum of Art, New York. 5. Creighton Gilbert, Caravaggio and His Two Cardinals, University Park, PA, 1995, 253–54. See also Christoph L. Frommel, Caravaggio und seine Modelle, in: Castrum Peregrini 96, 1971, 21–56. 6. Mina Gregori, The Age of Caravaggio, exhib. cat., New York: Metropolitan Museum of Art, 5 Feb.-14 Apr. 1985; Naples, Museo Nazionale di Capodimonte, 12 May-30 June, 1985, 244. 7. ‘Prolongation’ is a term introduced in an analogous context by Stephen Melville in his review of Courbet’s Realism; cf. “Compelling Acts, Haunting Convictions”, 1991, reprinted in Seams, Art as a Philosophical Context, ed. and introd. Jeremy GilbertRolfe, Amsterdam 1996, 190. 8. Mina Gregori [cf. note 6], 244. On an early morning visit to the Uffizi in April 1994, Elizabeth Cropper, Charles Dempsey, Ruth Leys, and I were able to look at the Bacchus under a strong light, and sure enough the head was there; the ‘canvas’ was less certain, though there did seem to be a diagonal mark that might have been the vestige of one. My thanks to Caterina Caneva, Deputy Director of the Uffizi, for making our visit possible. 9. The crucial early discussion of the ‘reflected’ figure is by Matteo Marangoni, Note sul Caravaggio alla mostra del Sei e Settecento, in: Bolletino d’arte, no. 5, Nov. 1922, 224. Maragoni’s commentary, quoted first by Jean-Claude Lebensztejn in: Au Beauty Parlour, in: Traverses, no. 7, 1977, 76, and then, from Lebensztejn, by Louis Marin in: To Destroy Painting, Chicago 1995 (French: 11977), 134–35, reads: “In the center of the mirror created by the wine in the flask, a recent cleaning has revealed, as if reflected, the miniscule head of a young man that really does bring to mind the young Caravaggio’s physiognomic traits: large sockets, a broad-based nose, slightly snubbed, full lips and a half-open mouth. Here we have yet another reason, if another is needed, for including this work among the first to be painted by Caravaggio. My friend Carlo Gamba helped me to see the similarity between this little portrait and the figure that I, in my article in Dedalo, had taken for The Fruit Vendor cited by Lanzi …, a figure that, according to Gamba, could be that of a young man, and thus a kind of free self-portrait of Caravaggio as a young man.” The likelihood of this assumption could be confirmed by Baglione’s testimony, for he claims that after Caravaggio left [the Cavaliere d’Arpino’s] “he tried to support himself by producing some small paintings of himself in the mirror, of which the first was a Bacchus with clusters of grapes of different kinds, made with great care, but in a somewhat dry manner. This Bacchus, as Longhi was the first to suggest, must be the one in the Uffizi, which would thus suddenly become not only an original but also a free self-portrait, given its close connection with the Little Fruit Vendor in the Borghese Gallery. Incidentally, Fiocco made me realize that Bacchus is the representation of a figure reflected in a mirror, for he holds the cup with his left hand. One must conclude, then, that the androgynous type, involving a combination of individual and ideal traits, that may be found in early works such as the Petrograd Bacchus [presumably the Luteplayer in the Hermitage – M. F.], The Fruit Vendor, The Lute Player, and in the young man in the Louvre’s Gypsy …, and even, I believe, in the Uffizi’s Medusa, is a product of Caravaggio having used himself as his own model.” What Marangoni doesn’t quite say (nor does Lebenstejn or Marin) is that the figure of Bacchus holding the cup with his left hand represents the painter painting the Bacchus with his right hand.

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10. A further aspect of the contrast between goblet and flask concerns the slight but palpable temporal separation between the ripples/spirals in the goblet (whether they are read as markers of instantaneousness or of prolongation) and the tilted surface of the wine in the flask as well as the tiny bubbles that ring that surface, which together suggest that the flask has just been put down, i. e., that Bacchus a moment ago poured wine from the flask into the goblet and then placed the flask on the low white tabletop separating him from the viewer before proferring the goblet to the latter (as Gregori, following Marini, remarks [cf. note 8, 241]). What makes the separation of those moments all the more suggestive – what makes it allegorical of the division between immersive and specular ‘moments’ I have been analyzing – is the tension verging on contradiction between the implied previous action of Bacchus’s right hand (pouring the wine) and its present position and action (lightly fingering the bow of his sash). 11. Cf. Frank Stella’s powerful suggestion that “the glance of David can be seen as a different, distinct, continuing extension of time at odds with the fading temporal measurement expressed in the disjoined vision of Goliath, where one eye is fixed while the other forces a last blurred look at what it had experienced as reality”; Frank Stella, Working Space, Cambridge, MA and London 1986, 104–09. 12. This in turn helps explain Caravaggio’s predilection for gleaming armor in scenes where it would seem far from inevitable – for example, the Taking of Christ, the Crucifixion of St. Andrew, the Denial of St. Peter, and the Martyrdom of St. Ursula.

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Zum künstlerischen Ausdruck von Grauen und Sanftmut Der Anblick des Schrecklichen ist abgenutzt, der Anblick des Sanften schwer erträglich geworden. Paradoxerweise ertragen wir das Grauen in Film und Fernsehen – vielleicht durch Gewöhnung – ganz gut; das Sanfte ist uns zuwider.1 Dieses Rezeptionsmodell lässt sich auf die Vergangenheit jedoch nicht übertragen (was bereits gegen eine anthropologisch gültige Wahrnehmung spricht).2 Vor allem hatte der Ausdruck des Schrecklichen und Grauenhaften z. B. in der Kunst des 17. Jahrhunderts ungleich stärker als heute eine real beängstigende Wirkung, während der Ausdruck des Sanften und Lieblichen Entzücken hervorrief.3 Zwar ist der Ausdruck von Emotionen in bildender Kunst immer ein Konstrukt; was wir sehen, sind konstruierte Emotionen, und diese sind nicht einfach mit der Aufnahme des gleichen Phänomens im Alltag gleichzusetzen – Lachen und Weinen auf dem Theater stimmen nicht notwendig mit der Bedeutung dieser Affektäußerungen im täglichen Leben überein. Aber in die Konstrukte der bildenden Kunst fließen Beeindruckungsstrategien aus dem Alltag ein, die etwas über die bildrhetorischen Konventionen einer Epoche und, wenn dazu Quellen vorliegen, auch etwas über die Intentionen des Künstlers und über die Rezeption durch den Betrachter aussagen können. Beginnen wir mit dem Ausdruck des Schrecklichen anhand einiger Kunstwerke, die Medusenhäupter darstellen.4 Wir begeben uns damit auf ein mythisches Feld, aber der Ausdruck ist dort nicht prinzipiell anders als bei der Wiedergabe ‚realer‘ Gesichter, weil in beiden Fällen der Darstellungsmodus auf Modellstudien und normativen Auffassungen beruht (aus denen Künstler auch immer wieder auszubrechen versuchen). Freilich erlaubt der Mythos mehr Lizenzen und fordert die Einbildungskraft stärker heraus. Daher ist der Ausdruck dort vehementer. Der Medusa-Mythos selbst ist sogar Schulkindern noch wohl-

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bekannt: Eine der drei weiblichen Fabelwesen, die Gorgonen genannt wurden, führte den Namen Medusa. Anders als ihre Schwestern war sie sterblich. Ihre Schönheit verführte sie dazu, eines nachts in einem Tempel der Athena Poseidon zu lieben. Daraufhin wurde sie von Athena in ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, Glutaugen, hängender Zunge und Klauen verwandelt. Wer sie anblickte, erstarrte zu Stein. Auf Bitten des Königs Polydektes unternimmt es nun Perseus, Medusa das Haupt abzuschlagen. Athena warnt ihn vor dem tödlichen Blick und schenkt ihm einen glänzenden Schild, den er als Spiegel benutzt: Medusas Bild im Spiegel bekämpfend, erschlägt er sie selbst. Doch die versteinernde Wirkung bleibt, und dem Blut entspringen giftige Schlangen. Schließlich heftet Athena das Haupt an ihren Brustpanzer, um ihre Feinde zu töten. Das Sujet kommt in der griechischen Kunst häufig vor5 und wird in der Renaissance erneut behandelt. Im Folgenden beschränke ich mich auf Beispiele des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, in denen der Ausdruck der Affekte besonders hervortritt. Ein Exempel, das selbst für dieses Thema extrem ist, hat Godfried Maes 1680 gezeichnet (Abb. 1). Dieses Haupt6 ist, anders als

Abb. 1: Godfried Maes, Medusenhaupt, Federzeichnung, um 1680, Paris, Kunsthandel

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vorher bei Caravaggio oder Rubens, in Schmerz und Wut sterbend gegeben. Während sich die Schlangenhaare der Gorgo gegenseitig zerfleischen (selbst Gesicht und Hals werden an einigen Stellen bedroht)7, schreit Medusa ihre Wut in die Welt hinaus. Gellend klagt sie die ganze Schöpfung an und zielt doch auf einen konkreten Gegner ab. Sie peinigt und ist zugleich gepeinigt – ein persécuteur persécuté. Die ungleichen, zur Seite gerichteten, halb geschlossenen Augen, die bleckenden Zähne, die Diagonalen verleihen dem Bildnis eine Spannkraft, die es über Le Bruns (damals noch nicht veröffentlichten) Katalog der Expression des passions8 hinaushebt und zugleich eine Inversion des Mythos darstellt. Denn diese Medusa nimmt ihr Schicksal nicht hin, wonach der bloße Anblick der von Perseus Enthaupteten versteinerndes Grauen auslöste. Im Kampf gegen sich selbst den Hass nach außen kehrend, führt diese Gorgo ihr Leben fort; ihr Blick hat ja seine Wirkung bewahrt. Es liegt auf der Hand, dass dazu frühere künstlerische Überlegungen zu Raserei, Zorn, Trauer, Wehmut usw. wie auch Studien nach dem Leben benutzt wurden.9 Es fällt auf, dass selbst in einem solch extremen Ausdruckskopf mit all seinen passiven und aktiven Gefühlsanteilen die Orientierung auf Ziele keineswegs verschwunden ist. Was vom Künstler konstruiert wird, ist in der Tat ein zielgerichteter Angriff, ein Gemisch aus selbstzerstörerischer Verzweiflung, Hass und rationaler Überlegung. Diese Verbindung von Leidenschaft und Vernunft10 dürfte wiederum naturwissenschaftlich kaum messbar sein. Dass hier – ebenso wie in den folgenden Bildern – ein mythisches Sujet gewählt wurde, kann insofern außer Betracht bleiben, als diese Gefühlskonstruktionen prinzipiell auf jedweden Menschen anwendbar sind. Wir können heute mit Hilfe des von Paul Ekman und Rainer Krause angewandten, auf emotional relevante Bewegungen beschränkten Kodierungssystems (Emotion Facial Action Coding System) die Mimik vielleicht genauer erfassen11, aber die Inversion des Mythos oder jedweden heftigen Gefühlsausdrucks im Alltag können wir mit naturwissenschaftlichen Hilfsmitteln kaum erklären, noch auch das Miteinander von Pathos und Rationalität, das hier zum Ausdruck kommt: Der Sinn dieses Beitrags liegt u. a. darin zu zeigen, dass die eigentlichen Probleme der Ausdrucksmitteilung im Grunde erst jenseits solcher Systeme beginnen – wobei der Mythos nur eine Steigerung der Intensität, eine Verdichtung bedeutet. Etwa gleichzeitig mit Maes schuf Pierre Puget ein Medusenhaupt (Abb. 2), das wir, ungeachtet der medialen Differenz, als Gegenstück zu Maes auffassen dürfen. Das Haupt ist seiner versteinernden Wir-

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Abb. 2: Pierre Puget, Perseus befreit Andromeda, Ausschnitt Medusenhaupt, carrarischer Marmor, 1675-82, Paris, Musée du Louvre

kung beraubt. Die tief in ihren Höhlen liegenden Augen blicken fast flehentlich, ja geradezu sehnsüchtig zu Perseus empor. Der schiefe Mund ergibt zusammen mit der heraushängenden Zunge jedoch nicht nur ein Bild der Hilflosigkeit, sondern auch des Verfalls, der Negation körperlicher Schönheit. Hier ist der bedrohliche Angriff am entschiedensten dem Ausdruck selbstreferenziellen Erleidens gewichen. In all seiner Verzerrtheit kann das Medusenhaupt, selbst als Kopf einer Anti-Heroine, noch innerhalb der Bildrhetorik des Heroismus verstanden werden, ein niedriger, sogar hässlicher Charakter wird immer, wenn er denn von einem heroisch-männlichen Gegner niedergeworfen wird, die Konzeption des Heroischen bestätigen. Polyphem ist roh, aber wenn er von einem Helden niedergeworfen wird, ist das Ganze nur eine Bekräftigung des Schönheitsideals; so will es die Tradition seit der Antike. Doch diese Form der turpitudo als ancilla pulchritudinis löst sich in der Moderne (und sie beginnt schon hier) von ihrem rhetorischen Gegenspieler. Intensität zählt; Ausdruck wird eine selbständige, bald mit dem Beau idéal nicht mehr vereinbare Größe. Immer

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noch aber konnte bildende Kunst durch Lebendigkeit eine Kompensation idealer Schönheit bieten. Vor allem Künstler der Aufklärung vermochten es, statt Schönheit Expressivität oder Lebendigkeit zu setzen. Sauerländer hat das im Falle von Houdon gezeigt und auch die Abwege dieser Setzung bei Lavater nachgewiesen.12 Puget geht den Aufklärern darin voran. Bei Baudelaire heißt es dann in Ablehnung des ewigen, für ihn abstrakten, Begriffs der Schönheit: „Das besondere Element jeder Schönheit entstammt den Leidenschaften, und wie wir unsere besonderen Leidenschaften haben, so haben wir auch unsere Schönheit“.13 Heute ist das Bild des Schönen durch Werbung derart verbreitet und entwertet, dass man sogar von einem Überdruss am Schönen gesprochen hat.14 Für den Kunsthistoriker war die Hölle immer schon attraktiver als das Paradies; aber nun scheint das Schöne auch für den guten Bürger fade geworden zu sein – und doch sehnt sich jeder nach ihm. Doch zunächst zum Bild der Gorgo zurück. Das um 1617–18 entstandene Medusenhaupt15 des Rubens (Farbtafel II) scheint auf den ersten Blick den Effekt des Grauens zu vergrößern. Die ungleichen Augäpfel (vor dem Original sieht man, dass der rechte abzurutschen beginnt), die graublau-rote Zunge, schon im Stadium beginnender Verwesung gegeben, die aus Blutstropfen sich neu bildenden Schlangenembryos, furchtbare Schlangen wie die am Boden, die an beiden Enden Köpfe mit geöffnetem Rachen aufweist – all das ist geeignet, das Entsetzen des Betrachters zu steigern. Aber trotz der furchtbaren Schlangen und der gerollten Augen mit der versteinernden Wirkung nimmt der Künstler den Ausdruck zurück, ja die Augen sind sogar vom Betrachter abgewandt, damit sie – ein bedeutsames Spiel mit äußerer Realität und Bildwirklichkeit! – ihn nicht versteinern können.16 Damit verleiht Rubens der mimetischen Illusion des Schreckens Ausdruck und wahrt zugleich das ästhetische Ideal der temperantia. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass er, humanistischer Tradition folgend, das Schreckliche bis zu einem gewissen Grade humanisiert, indem er die Komponente der emotionalen Außenwirkung reduziert, mäßigt und ins eigene Innere zurückführt. So dürfen wir, paradoxerweise gerade im Bild der Medusa, auch das Ideal des frühen Rubens auffinden, Schrecken durch introspection17 zu zähmen. Dieser visuelle Befund wurde in zeitgenössischen Quellen noch nicht voll erkannt, so sehr die Ambivalenz des Bildes bereits auffiel.18 Es ist nicht auszuschließen, dass Rubens sogar den Affekt des Mitleids auslösen wollte, da die Farbe den Übergang zum Tode andeutet. Jedenfalls enthält das Bild eine Reflexion über das Grauen des Sterbens im Zustand des Misstrosts. Die Rückwendung

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ins Bild selbst ist um so bemerkenswerter, als man bei Rubens bisher die entgegengesetzte Absicht erkannte, nämlich einen leidenden Körper „aus dem Bild geradezu herauskippen“ zu lassen.19 Abermals entzieht sich der spezifische emotionale Gehalt von Rubens’ Ausdruckskopf den messenden Kriterien heutiger Lehrbücher. Zum einen ist die Komplexität zu hoch – eher Angst und Furcht sind hier gegeben als Hass und Raserei, doch spielt all dies latent immer noch mit – zum andern ist gerade der Prozess der Humanisierung nur historisch zu erklären.20

Abb. 3: Michelangelo da Caravaggio, Medusenhaupt, Öl/Lw., auf Holz aufgezogen, 1596-97, Florenz, Galleria degli Uffizi

Gehen wir einen Schritt weiter zurück, zu Caravaggios Medusenhaupt von 1596–97 (Abb. 3), so ist in diesem Gemälde, das die antike Tradition des bemalten Rundschilds aufgreift, das Erschrecken noch stärker selbstbezogen. So sehr Rubens und Maes sich an diesem Kopf orientierten, – Rubens mit den rollenden, angstvoll geweiteten Augen, Maes mit dem aufgerissenen schiefen Mund und den sich selbstzerfleischenden Schlangen, – in Caravaggios maskenhaftem Kopf ist etwas anderes gewollt: Das eigene Erschrecken (somit ein selbstreferenzielles Gefühl) darzustellen, ist das Ziel, nicht das tödlich-aktive Erschrecken anderer.21 Medusa scheint sich im Schild des Perseus zu spiegeln und ihr Antlitz als untote Tote erstmals wahrzunehmen. Auf einen Schutz-

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schild gemalt, könnte diese Physiognomie ihre apotropäische Funktion kaum noch wahrnehmen. Der offene Mund, die entsetzt aufgerissenen Augen, ein schräger Schatten, der über das rechte Auge zur Stirn huscht – das reicht kaum hin, ein Gegenüber in Grauen zu bannen. Ist die Selbstzerfleischung der Schlangen bei Maes eine Einübung in die Aggression nach außen, so dient der gleiche Kampf, in Halbdunkel getaucht, hier nur dazu, das Entsetzen über die eigene Verdammnis zum Schrecken zu begleiten. In Cellinis berühmter Statue in der Loggia dei Lanzi in Florenz (1545–54)22 hält Perseus das Haupt der Gorgo Medusa empor, das jeden, der es anblickte, zu Stein erstarren ließ. Ikonographisch gesprochen und verallgemeinert, heißt das: Jeder, der sich dem Herrscher widersetzt, kommt zu Tode. Ein absolutistisches Programm also, und eines, das nicht den gütigen Herrscher, den Retter des Vaterlandes, betont, sondern den, dessen Gewalt keinen Widerstand duldet – den Fürsten, dessen Herrschaft unerbittlich ist. Das Erstaunliche ist nun, dass Cellini diesem Programm widerspricht. Perseus ist als nackter Heros gegeben. Nur mit Flügelhelm und Flügelschuhen bekleidet, hält er in der Rechten das Schwert, mit dem er das noch blutende Haupt der Gorgo vom Rumpf getrennt hat; er steht auf ihrem Leib, was zum Topos des Triumphators gehört; übrigens nur optisch, anders als bei der Judith des Donatello sind beide Füße daneben platziert. Aus dem Hals der Medusa strömt ebenfalls Blut, ihr rechter Arm hängt willenlos herunter. Dieser Körper ruht andererseits nicht auf dem nackten Boden, sondern auf einem Kissen, was die Grausamkeit des Vorgangs entschieden mildert. Blickt man auf die beiden Gesichter, so sieht man, dass Perseus, sehr jünglingshaft gegeben, in bescheidener Weise nach unten blickt, ernst, ja nachdenklich – hierin weit über Michelangelos oder auch Donatellos David hinausgehend. Aber auch das Haupt der Medusa ist alles andere als grausam. Fast möchte man Cellinis Skulptur aus der Reihe der Medusendarstellungen ausschließen, weil sein Medusenhaupt so milde wirkt, wie das des Perseus in sich gekehrt ist.23 Das Haupt der Medusa ist äußerst sanftmütig gegeben – eine schöne sterbende Frau, die Augen geschlossen, und selbst die ihr Haupt umzüngelnden Schlangen sind relativ manierlich gestaltet. Wenn man dieses Haupt z. B. mit dem fünfzig Jahre später entstandenen des Caravaggio vergleicht, so erscheint plötzlich dieses als wild und extrovertiert. Dass die Augen geschlossen sind, ist der wichtigste Punkt. Denn die tödliche Gewalt lag ja gerade in den Augen; der Gorgo in die furchtbar rollenden Augen zu sehen, brachte anderen den Tod. Die konventionelle Ab-

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sicht des Herrschers, mit diesem apotropäischen Kopf seine Feinde erschrecken zu wollen, wird bei Cellini also eher konterkariert. Ich würde tatsächlich so weit gehen zu sagen, dass die Statue eine latente Kritik an dem von Cellini wenig geliebten Herzog enthält, die gewandt dissimuliert, sich hier in den sanften Köpfen zeigt.24 Diese Sanftmut ist vor allem dann erstaunlich, wenn man an Cellini mit dem Cliché des Gewaltmenschen herangeht (ganz abgesehen von der methodischen Frage, ob man Ereignisse aus dem Leben einfach auf das Werk projizieren sollte). Von daher könnte man weiter fragen, in welcher Weise sich Künstler der frühen Neuzeit dem ausdrücklich selbstbezogenen Thema der Verdammnis, der verdammten Seele, nähern. Auch hier ist die Schwankungsbreite sehr groß. Um 1619 schuf Bernini ein ungleiches Paar, eine Anima beata und eine Anima dannata.25 Die Selige, ‚naturgemäß‘ eine Frau, hält sich an den Typus der Verzückung, wie er seit Raffaels Hl. Cäcilie verbindlich war: leicht geöffneter Mund, zartes Lächeln, aufblickende Augen. Heftiger ist der Verdammte, ein Männerkopf, gegeben: offener Mund, Blick nach unten, Falten an Augen und Stirn. Aber im Vergleich zu dem, was in den Jüngsten Gerichten und Höllendarstellungen der Spätgotik oder in den Medusenhäuptern des Caravaggio und des Rubens möglich war, ist der Ausdruck der Verdammnis bei Bernini trotz aller Lebhaftigkeit eher wohltemperiert, ein Ausdruck, der noch kaum über die Normen der Zornesdarstellung oder auch nur der intensiven Erregung hinausgeht, auch wenn die feurigen Locken und der Schrei zunächst gegenteilig wirken. Eine verdammte Seele, die im Höllenfeuer brät, könnte schon etwas mehr Verzweiflung zuwege bringen, stärker verzerrt sein, die Hässlichkeit könnte dem verderbten Charakter entsprechen. Dieser gut proportionierte Kopf ist kaum dem Thema gemäß. Fast könnte man denken, Bernini habe sein Sujet verfehlt – es könnte auch ein begeisterter Fussballfan sein, der da schreit. Als adäquates Beispiel für einen verzweifelten Schrei aus der Hölle mag Balthasar Permosers Ewige Verdammnis von 1725 im Museum der Bildenden Künste in Leipzig dienen (Abb. 4). Erst hier finden wir den Ausdruck einer rettungslos verlorenen, aber die ganze Welt um Hilfe anbrüllenden Seele, die kaum in das physiognomische Lehrbuch Charles Le Bruns hätte eingehen können, in dem alles nicht Regelkonforme durch ein an Descartes geschultes Raster fällt. Es bleibt offen, ob ein heutiges System der Ausdrucksqualität dieses Schreis gerecht werden kann, der doch alle Maße sprengt.26

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Abb. 4: Balthasar Permoser, Die ewige Verdammnis, bunter Marmor, 1725, Leipzig, Museum der bildenden Künste

Wenn auch nicht so extrem wie Permoser, gelangte Bernini in puncto Normüberschreitung in anderen Werken doch weit über den gemäßigten Ausdruckskopf seiner Anima dannata hinaus, allerdings vorwiegend in den Domänen der Freude und Verzückung, also der positiven Gefühle27 – Berninis eigene Medusa28 ist demgegenüber eher ein verschüchtertes kleines Mädchen; offenbar gebrach es dem Künstler an der Fähigkeit zur Einfühlung in ein Thema, mit dem er sich augenscheinlich wenig zu identifizieren vermochte.29 Mit diesen Vergleichen soll zweierlei gesagt sein: Heftige Affekte oszillieren extrem zwischen außen und innen, und sobald sie voll ausgebildet sind, passen sie in kein Raster mehr, sondern schlagen, sozusagen alles überflutend, über die Stränge der Regelbücher – auch die der Gegenwart. Es erhebt sich die Frage, wie sich Ekman, Krause oder Le-

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Doux dazu äußern würden.30 Lässt sich der emotionale Ausdruck einer realen oder fiktiven Handlung mit Hilfe einer Verfeinerung der Nomenklatur kodifizieren? Anders gefragt: Erbringt diese Kodifizierung mehr als nur eine verfeinerte Vermessung? Ist jede Gesichtsregung gleichsam maschinell registrierbar?31 Für den Kunsthistoriker, aber auch für den Literatur- und Musikwissenschaftler, stellt sich damit zugleich die Frage nach dem ästhetischen Kanon des Schrecklichen und Grauenerregenden und seiner Überwindung. Weiter gefragt: Gibt es eine ideale Hässlichkeit, so wie man im 18. Jahrhundert an das ideale Schöne glaubte? Es ist eine Binsenweisheit, dass Hässlichkeit schön sein kann, wenn sie nur intensiv und dem Scheusal, das sie verkörpert, angemessen genug ist. Permoser ging darüber hinaus; er riskierte den Bruch mit der Vorstellung von Angemessenheit, gerade um das unübersteigbare Grauen, die ewige Verdammnis, angemessen darstellen zu können. Es liegt nahe, bei der Analyse des Grauenhaften und Schrecklichen über den mythologischen Bereich hinauszufragen und wenigstens paradigmatisch ein historisches Beispiel aufzurufen. Warum sind die Bilder der guillotinierten Häupter zur Zeit der Terreur in der Französischen Revolution so sanftmütig gegeben? Man würde erwarten, dass die sogenannten Verräter des Vaterlandes zu Monstern verzerrt worden wären. Indessen wird der enthauptete Ludwig XVI. in prorevolutionären Graphiken durchaus friedlich wiedergegeben, und auch die Köpfe von ‚Verrätern‘ innerhalb der jakobinischen Partei sind aufrichtig treu wiedergegeben, während es doch das Ziel solcher Flugblätter, ob pro oder contra, sein musste, Entsetzen auszulösen. Roland Paulson hat diese Blätter wie folgt beschrieben: „What beheading and dismemberment offered was the Unheimliche, or uncanny, which was implicit in the facts coming out of France. The Todestrieb (the death drive) of the Terror, the Revolution devouring its own young (in effect itself), seen also in the Wiederholungszwang (the repetition compulsion) and of course in castration anxiety […]“.32

Gewiss eine bedenkenswerte Deutung, doch an der Ausdrucksqualität der Bilder geht sie vorbei. Sie spiegelt den Abscheu des Autors vor der Revolution. Aber in den Bildern ist entgegen aller Erwartung weder das Unheimliche noch Kastrationsangst zu spüren. Man kann sich das so erklären: Diese Darstellungen sind der sachlichen Ereignisreportage zuzurechnen, und eben darauf richtete sich die Neugier des Publikums im ‚vormedialen‘ Zeitalter, während der Ausdruck des Unheimlichen und Grauenhaften noch weitestgehend mythischen Begebenheiten überantwortet blieb. Heute hat der Mythos an Gewalt verloren. Was

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überwältigt, was versteinert, sind historische Ereignisse. Deren Ausdruck hat mythische Intensität angenommen. Sowohl die furchtbaren wie die zarten Gemütsbewegungen sind zunächst Gefühle; sie gehen den Einzelnen etwas an, aber das Bild macht sie emotional verfügbar, diskursfähig. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer ist als einsam dargestellt, aber ein partielles Miterleben ist nicht nur möglich, sondern die raison d’être des Bildes. Erhabenheit, die Gefühle der Ohnmacht oder der scheinbaren Vernichtung des Einzelnen vor der Natur (vor allem angesichts von Meer und Hochgebirge), die bekanntlich im Aufwallen des Gemüts dann in einem zweiten Schritt die Brust dem Erlebnis des Göttlichen öffnet, dieses Gefühlserlebnis wird durch das Kunstwerk mitteilbar gemacht. Die Natur wird zum Statthalter der nach Erfüllung strebenden Seele des Individuums, und damit wird, wie Birgit Recki von Kant ausgehend darlegt, das Gefühl „als ein Element der Vernunft anerkannt“.33 Das führt uns auf einen Bereich, der hier nur exkursartig angedeutet werden kann und noch kaum hinreichend erforscht ist: Weite Zonen dieses von innen nach außen drängenden Ausdrucks34, soweit er in Kunstwerken weitergegeben werden kann, spielen sich in der äußeren Natur ab – denken wir allein an die düstere Sintflut (auch Winter genannt) von Poussin oder an Runges lichterfüllten Morgen.35 Bei so entgegengesetzten Künstlern wie Caspar David Friedrich oder Paul Gauguin treten menschliche Figuren innerhalb dieser Natur oft nur als Referenzgrößen auf, oder sie werden, wie bei Anselm Kiefer, nur im Titel alludiert (so z. B. in Dein goldenes Haar, Margarethe, 1981).36 Sogar bloße Landschaftsbilder können so inszeniert sein, dass sie Erschütterungen des Künstlers und historische Erfahrungen artikulieren; sie können damit ebenso wie ein menschliches Gesicht Angst und Hoffnung, Glück und Grauen ausdrücken.37 Der metaphorische Umweg über eine aufgewühlte äußere Natur geht oft sogar über das Gesicht als Substrat des Ausdrucks hinaus. Bis jetzt liegt dieser ebenso große wie faszinierende Bereich, so scheint es, gänzlich außerhalb der Erkenntnisziele naturwissenschaftlicher Emotionsforschung. Methoden, das Gefühlserlebnis vor der Natur ähnlich ‚abzufragen‘, wie es im Bereich der Gesichtsmimik geschieht, sind nicht entwickelt. Der künstlerische Ausdruck zarter und sanfter Gemütsbewegungen ist schwerer zu erfassen, auch ihr Status im gesellschaftlichen Rahmen ist schwerer bestimmbar als der Status des Schrecklichen.38 Es scheint, dass zwei Gründe dafür maßgeblich sind: Zum einen sind die heftigen, schrecklichen oder auch grausamen Gemütsbewegungen und Aus-

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drucksformen oft eindeutiger und motivieren daher auch unsere Abwehrkräfte stärker als die sanften Gefühle, von denen wir nicht wissen, ob sie uns mit dem „unvertrauten Vertrauten“ (so Freud39) nicht etwa umgarnen und einspinnen wollen. Zum anderen sind die sanften Gemütsbewegungen oft Indikatoren für persönliche, erst aufkeimende, halb verborgene, noch kaum mitteilbare Gefühle. Solche Gefühle sind selten diskursfähig oder gar justiziabel – im Gegensatz zu Äußerungen der Gewaltsamkeit. Es ist aber anzunehmen, dass diese nicht voll entfalteten, introvertierten Gemütsbewegungen in anderen Medien als den klassischen Kunstgattungen, nämlich in unterschwellig wirksamen Filmen oder Werbespots, eher inszeniert und dort mindestens so ‚wertorientiert‘ gelenkt werden können, wie es die furchterregenden Gemütsbewegungen etwa durch Höllenfahrtsdarstellungen zur Zeit der Gegenreformation waren.40 Im Film und in der zeitgenössischen U-Musik werden sanfte und heftige Emotionen vielleicht am stärksten einander konfrontiert; kein Zufall, dass Gertrud Koch und Josef Früchtl solchen Extremen im Kino nachgehen.41 Dennoch möchte ich, und wäre es nur, um das Problem der Nichtmitteilbarkeit zu verdeutlichen, für den Ausdruck des Sanften und Zarten einige Beispiele aus der klassischen Gattung der Tafelmalerei anführen. Der Ausdruck sanfter Zuwendung, im Deutschen seit Walter von der Vogelweides Adjektiv „innecliche“ geläufig, gilt in der Kunst immer wieder als eine Zumutung, da der Betrachter dadurch in eine intime Szene eingeschleust wird, zu der er eigentlich keinen Zugang haben sollte. Was wir beim Schrecklichen und bei Leidensszenen nie empfinden – beim Sanften sind wir Voyeure.42 In Raffaels Madonna Tempi (Abb. 5), einem Inbild der Zärtlichkeit in der frühneuzeitlichen Kunst, wird die Anmut des Lächelns der Madonna „noch gesteigert durch den leicht wie zum Sprechen geöffneten Mund“.43 Die Restaurierung hat zutage gefördert, dass Raffael auch durch die Farbe die innige Zuwendung der beiden Figuren verstärkt hat: „Durch den sie umgebenden grünlichen Blauton des Himmels erscheinen die Inkarnate fast wie von sonnigem Licht bestrahlt“44; Raffael nimmt also die Natur zu Hilfe, um dem Gefühlsausdruck die nötige Wärme zu verleihen. Zum anderen hatte er wohl erst vor, zwischen den Figuren den Durchblick auf den Himmel freizugeben. Dies hätte aber die Intensität der Vereinigung gemindert. Daher beschloss er, „ein erhöhtes Farbrelief in der Schattenzone (zu) schaffen“45, den Himmel hier auszusparen und den Figuren einen gemeinsamen Umriss zu geben. Die Innigkeit, deren wir teilhaftig werden, wird nur kompensiert durch den Kunstgriff, dass

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Abb. 5: Raffael (Raffaello Santi), Maria mit dem Kinde (Madonna Tempi), Öl/Holz, 1507-08, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek

der Knabe die zärtliche Liebeszuwendung der Mutter nicht erwidert, sondern an den Betrachter weitergibt, als habe er in ihm gerade einen Spielgefährten gefunden – ein Kunstgriff, den die Verehrer Raffaels im 19. Jahrhundert nicht mehr beherrschten. Friedrich Overbeck hat in Italia und Germania46 (Abb. 6) die Vereinnahmung des Betrachters durch das sanfte Beieinander der beiden Gestalten auf anderem Wege aufgefangen, nämlich durch äußerste Zurückhaltung: Die innige Zuneigung beschränkt sich, abgesehen von den drei ineinandergefügten Händen, bei Italia auf den Gesichtsausdruck, bei Germania auf die Neigung des Oberkörpers zu ihrer Gefährtin; ein doppelt schmachtendes Mienenspiel wird dadurch vermieden. Für gewöhnlich geht der Ausweg gen Himmel. Das Zeichen für Rührung, das aber wieder den Verzicht auf Individualität einschloss, ist

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Abb. 6: Friedrich Overbeck, Italia und Germania, Öl/Lw., 1811-20, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek

tatsächlich vom 15. bis zum 18. Jh. der „himmelnde Blick“.47 Zwei Beispiele mögen genügen: Guido Renis Büßende Magdalena (um 1640–41; Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica)48 und Carlo Dolcis Reuiger Petrus (1643; Privatsammlung)49 – Figuren, in denen der leere Fernblick hellenistischer Skulpturen wieder gefüllt erscheint, aber mit dem Anspruch der Transzendenz nicht allein des Irdischen, sondern auch des Individuellen, so dass manches von dem beeindruckendsten Material der bildenden Kunst die Frage nach der individuellen Gefühlsstruktur gerade nicht beantwortet, sondern, da typologisch festgelegt, übergreift. In beiden Bildern geht es um die emotionale Mitteilung der Reue, die dem Ausdruck des Weinens nahe kommt, aber in der Hinwendung zu Christus oder, abstrakter gesagt, zum Himmel, sich mischt mit einem starken Ausdruck der Verzückung, der Süße und Innigkeit, was eben durch den ‚leeren‘ Blick nach oben ausgelöst wird. Wo die Grenze tangiert wird, die Overbeck wahrt, wie etwa in Jean Brocs Tod des Hyazinth von 1801 (Abb. 7), da gerät die Analyse in Not. Entweder zielt sie auf die Krise der Männlichkeit ab, als Ursache dafür, dass hier eine so intensiv homoerotische Beziehung zur Schau gestellt wird50, oder sie wird zugeben müssen, dass Hyazinths Ausdruck der Sehnsucht noch im Tode und der Ausdruck der mit Sehnsucht ver-

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Abb. 7: Jean Broc, Der Tod des Hyacinthus, Öl/Lw., 1801, Poitiers, Musée Sainte-Croix

mischten Trauer Apolls (der Hyazinth versehentlich niederstreckte), ununterscheidbar miteinander verschmelzen. Was hier in die Krise gerät – so kann der Emotionsforscher festhalten – ist also nicht nur die Männlichkeit, sondern der Ausdruck des Gefühls als einer Qualität des Einzelnen. Was bei Overbeck durch Differenzierung gewahrt bleibt, wird hier, so meine These, durch emotionalen Gleichklang überspielt. Das ist gegenüber der typologischen ‚Aufhebung‘ des individuellen Gefühls im Barock ein Novum. Übrigens galt das Bild, sei es wegen seiner Malweise, aufgrund seines Sujets oder, was am ehesten anzunehmen ist, wegen dieser verwirrenden Gefühlssituation, als „bizarr“.51 Brocs Tod des Hyazinth ist ein Extremfall des zarten Ausdrucks, wie der von Maes’ Medusenhaupt im Feld des Erschreckenden. Ein Sonderfall des sanften Gefühlsausdrucks ist Leonardos Mona Lisa (Abb. 8). Warum hat dieses Bild so viele Interpretationen erfahren und so viele Inversionsversuche gezeitigt, wie etwa die von Duchamp? Weil die junge

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Abb. 8: Leonardo da Vinci, Bildnis der Lisa del Giocondo (Mona Lisa), Öl/Holz, 1503-06, Paris, Musée du Louvre

Frau im Grunde eben nicht lächelt, sondern – und das ist durch Koordination von mimetischer Statistik und historischer Quellenforschung nachzuweisen – weil das nicht lächeln Können der Lisa das eigentliche Thema ist.52 Wir haben ein hochkomplexes, mit Trauer vermischtes Mienenspiel vor uns, so dass man von geheimer Liebesfreude bis zur möglichen Trauer über eine Fehlgeburt vieles von dieser geheimnisvollen Verschattung enträtselt zu haben glaubt. 53 Vor allem aber wollte Leonardo diese bürgerliche Frau aufwerten, indem er sie mit geschlossenem Munde geziemend lächeln ließ, was seit dem Hochmittelalter eine Vorschrift für adelige Damen war. Ein solches Lächeln wirkte oft erzwungen oder eben geheimnisvoll verschlüsselt.54 Wir haben damit eine Verschiebung vor uns, eine Gefühlsüberlagerung zumindest, als deren Symptom wir ja auch im Alltag z. B. von einem ‚verlegenen Lächeln‘

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sprechen, hinter dem sich Scham- oder Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Reue, vorauseilender Gehorsam, überspielte Angst und anderes verbergen können. Der Betrachter spürt zunächst nur das Hintergründige, das kaum Aussagbare, das Verdeckte, und das beunruhigt ihn. Die Entschlüsselung kann nur durch historische Emotionsforschung, das heißt, nicht allein durch Einfühlung, sondern durch Zuhilfenahme historischer Quellen, geleistet werden. Einfühlung ist oft ein falscher Freund. Umso wichtiger ist es, dass Martin Löw-Beer einen positiven Empathiebegriff vorgeschlagen hat. 55 Naturwissenschaftliche Kodierungssysteme können kaum etwas über den falschen und verdeckten Ausdruck aussagen56; hier ist die historische Emotionsforschung gefragt. Das Beispiel Leonardos, das wir nur um den Preis der Trivialisierung hier ganz ausloten könnten, führt uns darauf, dass ein Gefühlsausdruck, zumal ein künstlerisch geformter, oft nicht das ist, was er zu sein vorgibt. Das Phänomen selbst ist ja schon von Descartes, im 113. Artikel der Leidenschaften der Seele, beschrieben und im Sinne des Gegensatzes gefasst worden.57 Tatsächlich haben wir es bei Leonardo mit einem Gegensatz von Trauer und Freude zu tun, und das verhaltene, gehemmte Lächeln hat weniger mit einem befreienden als mit einem beengenden Impuls zu tun – als Resultat einer aufgesetzten, dieser Frau vielleicht sogar aufgezwungenen, Konvention. Ein künstlerischer oder literarischer Gefühlsausdruck kann nicht immer unmittelbar erfasst werden. Um ein neueres Beispiel zu wählen: Ein berühmter Brief Kafkas an den Vater zeigt, dass bei ihm das eine Gefühl das andere verdeckt hat: Das von ihm ausgesprochene Gefühl war Furcht, doch diese Furcht hat verdeckt, was Kafka nicht aussprach, aber als das zugrunde Liegende empfand, das Gefühl der Verachtung für den Vater, als Reaktion auf dessen eigene Verachtung für den Sohn.58 Der Versuch des Literatur- oder Kunsthistorikers (des Archäologen, des Psychoanalytikers) besteht also darin, verborgene Schichten auszugraben und das Verdeckte, nicht offen Zugängliche ans Licht zu befördern. Dafür steht ihm in den seltensten Fällen ein explizites Selbstzeugnis wie jener Brief von Kafka zur Verfügung – eine Quelle, die ihrerseits kritisch zu interpretieren ist. Auch sind die Gefühle und Erkenntnisse eines Künstlers selten (wie ein Brief) an einem einzigen Tag, sondern oft in jahrelanger Arbeit ins Material gegraben worden. Es ist schwierig genug, bei dieser Rekonstruktionsarbeit zwischen latentem und patentem Ausdruck, zwischen zugegebenen und geheim gehaltenen, zwischen ephemeren und dauerhaften Gemütsbewegungen zu unterscheiden. Oft können bestenfalls Typenbildungen oder das Verhältnis des Künstlers

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zur Außenwelt erkannt werden. Ohne zusätzliche historische Quellen ist da wenig Erkenntnis möglich. Wahrscheinlich wird auf diesem Feld erst die Kooperation zwischen Natur- und Kulturwissenschaften zu überzeugenden Ergebnissen führen. Was wir aber auf naturwissenschaftlicher Seite beobachten, ist bislang ein vorwiegend quantitativer Ansatz. Daher stehen wir erst am Anfang einer Zusammenarbeit. Nun war das Ringen um den emotionalen Ausdruck in den Zeiten, aus denen die bisher angeführten Beispiele stammen, eines der primären Ziele bildender Kunst. Aber schon seit einhundertundfünfzig Jahren hat sich das geändert. Es liegt daher nahe, neben der Ausdruckskultur historischer Epochen auch die Kunst diesseits der klassischen Moderne einzubeziehen. Hier wird z. B. das ‚Recycling‘ von Ausdruck in Form von Ausdrucksschablonen praktiziert und damit eine völlige Infragestellung sowohl individueller Gefühle als auch sozial relevanter Emotionen inszeniert. Als Kontrastbeispiel zur Mona Lisa könnten wir die emotionskritischen Marilyn Monroe-Serien aus der Pop ArtPhase von Andy Warhol (1967) anführen (Farbtafel III). Das Plakative, die grelle Farbgebung, das Fehlen jeder situativen Einbettung – das alles scheint gefühlsverweigernde Wirkung zu haben. Auf den ersten Blick wirkt das Lächeln stereotyp, ‚vorfabriziert‘ und wird keineswegs als spontane emotionale Mitteilung empfunden. Aber es kann eine Reflexion über die Vernutzung der Gemütsbewegungen in der Werbung, im täglichen Miteinander (das mit dem gedankenlosen, emotional oberflächlichen „have a nice day“ beginnt) provozieren. Eine solche Reflexion kann, wie es bei Warhol selbst nach dem Attentat auf ihn geschah, hochgradig primäre Gefühle erneut hervortreiben. In Warhols Kunst hat der Gefühlsausdruck, gerade auf der Basis der vorangegangenen Schablonisierung, in den letzten Jahren seines Lebens zu neuer Kraft gefunden.59 Oder: Bei Robert Rauschenbergs Combine Paintings hat man herausgearbeitet, dass der Künstler sie gelegentlich so wiederholte, dass sie identisch aussahen. Damit „demonstrierte er, dass seinen malerischen Gesten nicht einmalige, unwiederholbare Gefühlseruptionen zu Grunde liegen, sondern es sich um kontrollierte, expressive Bildarbeit handelt“.60 Solch kontrollierte Expressivität finden wir heute vor allem bei Architekten (wie Libeskind oder Spuybroek) vor.61 Ein neuer Qualitätssprung zeigt sich in Gegenwartskunst, in der ein expliziter Verzicht auf Emotionalität zutage tritt, wie z. B. in ComputerPorträts, in denen das eigentliche Substrat von Ausdruck, nämlich Gesichtszüge, durch gleichförmige Zeichen zerlegt wird, oder erst recht in Kevin Clarkes Bildnissen, wo z. B. John Cage oder Claus Bury durch ir-

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gendwelche, nicht einmal in ihrem Werk vorhandenen Objekte ‚porträtiert‘ werden62, obwohl die Bilder rational, nämlich durch den jeweiligen Gen-Code, an die dargestellte Person gebunden sind. Roland Barthes schließt schon in der traditionellen Fotografie so etwas wie ‚Ausdruck‘ aus, weil er (zu Unrecht, wie ich meine) von einer tautologischen Abformung der Wirklichkeit durch die Fotografie ausgeht63 – aber wie steht es erst mit der Erfahrbarkeit von Ausdruck bei Porträtfotografien, die sich nur innerhalb der Selbstreferenzialität spielerisch erfahrbarer Codes bewegen, so dass Clarke selbst bezüglich seiner eigenen Arbeiten fragt: „Berührt das die Seele?”64 Und man könnte weiter fragen: Schlägt hier die Abwesenheit von Emotionen nicht als Kommunikationsfeindlichkeit zurück?65 Vielleicht führt das im Extremfall sogar zum Gegenteil des Porträts, nämlich zu jenem Pathos der Anonymität, das Régis Michel66 als eine Schwäche zeitgenössischer Kunst deutet. Interessant ist nun aber, dass die Bilder Clarkes keineswegs als gefühlsarm, sondern im Gegenteil als sehr gefühlserregend erlebt werden. Gerade von der Gegenwart ausgehend, könnte es daher einer der wichtigsten Beiträge der Kulturwissenschaften sein, die Auswirkungen von Emotionen auf das Zusammenwirken von Körper und Seele im künstlerischen Ausdruck zu untersuchen. Zwar kümmert man sich in Literatur- und Kunstwissenschaften, in Kooperation mit Naturwissenschaften und Psychoanalyse, seit einigen Jahren zunehmend um die Analyse des Körpers, der Körpersprache, der Körpereinschreibungen, der Haut; doch die Analyse der Seele wurde durch gegenseitiges Misstrauen der Fächer, aber auch durch ein gelegentlich noch allzu geringes kulturgeschichtliches Interesse der Psychoanalyse (und umgekehrt), lange blockiert. Erst allmählich trägt diese Kooperation die ersten Früchte, doch setzt sie voraus, dass man über rein biographische Fragen hinaus gelangt und mehr leistet, als nur angeblich überzeitlich gültige Konstanten zu erforschen. Wohl wissend, dass wir es mit Emotionen zu tun haben, die in Kunstwerken stillgestellt, also des Prozessualen enthoben sind, haben wir vor allem den werkanalytischen Ansatz aufgegriffen und hier die Rekonstruktion lebendiger Prozesse verfolgt. Dies hat sich bei der Erforschung verdeckter Emotionen bewährt, aber auch bei der Rekonstruktion einer pathognomischen Debatte, die, im Künstler traumatisch verankert, Franz Xaver Messerschmidts Charakterköpfe in extreme Spannung versetzt hat, oder durch die Analyse introvertierter Formen, die in Cézannes Gemälden die Angst offenlegt, in der Hörigkeit einer industriebeflissenen Zeitgenossenschaft aufzugehen.67

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Anmerkungen 1. Außerhalb der Kunst hat zweifellos das Schreckliche den größeren Nachrichtenwert, aber auch wenn wir es begierig aufsaugen, erregt es uns selten tiefer, und das Sanfte hat nur im Zuge des exhibitionistischen Spiels der Regenbogenpresse Konjunktur. Am ergiebigsten ist es für die Sensationspresse, wenn beides, das Schreckliche und das Sanfte, zusammenfällt, wie beim Unfalltod von Lady Diana. Das lässt auf emotionale Defizite im Alltag schließen. Im übrigen ist durchaus ernst zu nehmen und auch wissenschaftlich zu untersuchen, dass und warum heute Emotionen in populärwissenschaftlichen Publikationen und Zeitschriften eine solche Konjunktur haben. Als Beispiele seien hier nur genannt: Daniel Goleman, Emotional Intelligence. Why It Can Matter More Than IQ, New York 1995, dt. Ausg.: Emotionale Intelligenz, München/Wien 1996; Große Gefühle, Bausteine menschlichen Verhaltens, hg. vom ZDF-Nachtstudio, Frankfurt a. M. 2000; Claudia Wassmann, Die Macht der Emotionen, Darmstadt 2002; Stefan Klein, Die Glücksformel oder: Wie die guten Gefühle entstehen, Reinbek b. Hamburg 2002, 22003; Martin Kunz u. a., Im Rausch der Gefühle. Forscher entdecken, warum uns Glück, Trauer, Wut, Liebe und Verzweiflung so in ihren Bann ziehen, in: Focus Nr. 27, 1.7.2002, 114–122 (Titelgeschichte; Außentitel: Große Gefühle. Sieg und Niederlage, Trauer und Glück: Wie Emotionen entstehen. Warum niemand sie beherrscht. Was sie bewegen können); Veronika Hackenbroch, Blind für Wut und Freude, in: Der Spiegel Nr. 49, 1.12.2003, 190–199 (Titelgeschichte; Außentitel: Seele aus Eis. Die Erforschung der Gefühlsarmut); Franz P. Wenger, Erlebniswelt Messestand. Markenkommunikation mit emotionalen Botschaften verbinden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 17, 21.1.2004, Beilage Messen und Ausstellungen, 8 (Außentitel: Emotionen. Statt einer reinen Produktschau sollten Messeauftritte lebendig, erlebnisorientiert und emotional ansprechend gestaltet werden). 2. In diesem Punkt ließe sich die eingangs in diesem Band (S. 13–14) zitierte Vermutung von Hans Hacker, der Veränderungen „in geringem Umfang“ annahm. modifizieren: Dass die Wahrnehmungs- und Ausdrucksveränderungen gewaltig sind, ergibt sich bereits aus der Interpretationsbedürftigkeit von Gesten und Gebärden und vor allem der Physiognomik und der Pathognomik des 17. und 18. Jahrhunderts. In diesem Punkt wäre auch zu befragen, was für Wolfhart Henckmann „die anthropologische Grundstruktur“ (meine Hervorhebung) bedeutet; s. S. 84. 3. Zum Schrecklichen gab es im Mittelalter, aber auch im 16. und 17. Jahrhundert eigentlich nur einen ästhetischen Ausweg, den über das Groteske. Er ist vor allem in den vor Le Brun erschienenen Physiognomiebüchern zu fassen, etwa bei Gian Giacomo della Porta, Fisionomia, Venedig 1613. 4. Auf andere Aspekte des Medusa-Mythos verweisen Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979), Frankfurt a. M. 21996; Thomas Hauschild, Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen (Diss. Hamburg 1979), Berlin 21982, bes. 186–204; Carola Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 32001 (mit Ausführungen zu Mythos und Kunst); partiell auch Ingeborg Robles, Unbewältigte Wirklichkeit. Familie, Sprache, Zeit als mythische Strukturen im Frühwerk Thomas Manns, Bielefeld 2003, bes. 28 ff. 5. U. a. in einer schwarzfigurigen Olpe des Amasis-Malers (London, British Museum B 471; vgl. Dietrich v. Bothmer, The Amasis Painter and His World. Vase Painting in the Sixth-Century B. C., Athen 1985, Nr. 31) ebenso z. B. in einer rotfigurigen Baucham-

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phora des Andokides-Malers (Berlin, Staatliche Museen Preussischer Kulturbesitz, Antikensammlung, F 2159; vgl. Paolo Enrico Arias/Max Hirmer, A History of Greek Vase Painting, London 1962, Taf. 84), wo Pallas Athene das Medusenhaupt als Apotropaion auf der Ägis trägt. Im Perseus-Bild des Amasis-Malers fällt auf, dass der Terminus „apotropaion“ (Hinweg-Wender, Ab-Wender) im Wortsinne anschaulich wird: Perseus muss sich abwenden, darf die Gorgo nicht anschauen, sonst versteinerte er bekanntlich. Für vorstehende Hinweise danke ich Frau Dr. Ursula Mandel, Archäologisches Institut der J. W. Goethe-Universität Frankfurt a. M. 6. Auf dem Salon du dessin im März 2002 von der Kunsthandlung Didier Aaron in Paris angeboten; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 70, 23.3.2002, 55. 7. Weil die Schlangen sich gegenseitig zerfleischen, galten die Darstellungen der Medusenhäupter auch als Allegorien der Invidia, so laut Irving Lavin z. B. Berninis Testa di Medusa in den Kapitolinischen Museen in Rom; vgl. Oreste Ferrari/Serenita Papaldo, La Scultura del Seicento a Roma, Rom 1999, 481 (mit Abb.). 8. Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Kirchner in diesem Band. Bezeichnend ist aber, dass wir mit Le Bruns Kriterien den Kopf von Maes gar nicht genau beschreiben könnten; er lässt sich eben nicht in sein System eingliedern. Siehe auch Anm. 9–11. 9. Maes greift alles auf, was seit Michelangelo über Wut (furia) inszeniert worden war, etwa den Kupferstich Viso di Furia von Antonio Salamanca nach Michelangelo (Michael W. Cole, Cellini and the Principles of Sculpture, Cambridge University Press, 2002, 143, Abb. 59). Aber damit verbunden sind nicht nur eine oder zwei, sondern mehrere Gefühle wie Trauer, Wehmut, Zerknirschung, Angriffslust Zorn (im Unterschied zu Raserei!) u. a. m., die in ihrer Gesamtheit quer zu jeder Systematik stehen. 10. Dies ist bereits bei Cesare Ripa, Iconologia, Padua 31611, Nachdruck mit Register, New York 1976, 452, angelegt. Das Haupt der Medusa steht dort für den Sieg der Vernunft über die Sinnlichkeit. Otto von Simon, Peter Paul Rubens (1577–1640), Humanist, Maler und Diplomat, Mainz 1996, 148, verweist darauf, dass Cavaliere Marino aus diesem Grunde den Großherzog der Toscana als damaligen Besitzer der unten besprochenen Testa di Medusa von Caravaggio als wahre Medusa feierte. 11. Vgl. Paul Ekman (Hg.), What the Face Reveals. Basic and Applied Studies of Spontaneous Expression Using the Facial Action Coding System (FACS), New York 1997; ders., Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman, hg. und übers. von Maria v. Salisch, Paderborn 1988; Rainer Krause, Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre, 2 Bde., Stuttgart 1997–98, hier Bd. 1 (Vorstellung der Gefühlsund Zeigeregeln sowie der Basiseffekte). Dem Lehrbuch liegt allerdings bereits das spezialisierte EMFACS zugrunde, auf FACS geht Krause nur in älteren Aufsätzen ein. 12. Willibald Sauerländer, Überlegungen zu dem Thema Lavater und die Kunstgeschichte, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, VIII, 1989, 15–30. – Ders., Ein Versuch über die Gesichter Houdons (Passerelles 1), München/Berlin 2002. 13. Charles Baudelaire, Salon de 1846, XVIII: De l’héroïsme de la vie moderne, in: Ders., Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, 2 Bde., Paris 1976, Bd. 2, 493: „L’élément particulier de chaque beauté vient des passions, et comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté“. Dt. in: Charles Baudelaire, Gesammelte Werke/Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp, Bd. 1, München 1977, 280. 14. Vgl. Winfried Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt a. M. 2003. 15. Wien, Kunsthistorisches Museum; vgl. etwa P. P. Rubens. Gemälde – Ölskizzen – Zeichnungen, Ausst.-Kat. Antwerpen, Kgl. Museum der Schönen Künste, 1977, Nr. 27, S. 76– 77. In der Datierung folge ich der aktuellen Beschriftung (2003) im Museum selbst.

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16. Wolfgang Brassat, Tragik, versteckte Kompositionskunst und Katharsis im Werk von Peter Paul Rubens, in: Ulrich Heinen/Andreas Thielemann (Hg.): Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock, Göttingen 2001, 41–69, gelangt in dieser Hinsicht bereits zu ähnlichen Schlüssen. Er erinnert daran, dass das (gemeinsam mit Frans Snyders ausgeführte) Gemälde eine gegenüber Caravaggio „gemilderte, wohl an einem verlorenen Werk Leonardos orientierte Variante“ darstelle (ebd., 63) und dass der Nahkontakt mit dem tötenden Blick dem Betrachter erspart bleibe. Rubens appelliere jedoch an den Betrachter, „sich den Leidenschaften auszusetzen, um ihrer Herr zu werden“ (ebd.) und verweist auf den Feuersalamander am linken Bildrand, dessen Kopf dem Betrachter zugewandt ist. Dieses Tier galt als Symbol der Heilszuversicht, wofür Brassat mehrere zeitgenössische Belege anführt. 17. Für diesen, in der angelsächsischen Forschung gebräuchlichen, Terminus fehlt ein Äquivalent im Deutschen. Margret Stuffmann hat daher (in Vorträgen über Daumier als Zeichner) „introspection“ auch hierzulande eingeführt; von ihr übernehme ich diesen Ausdruck. 18. Vgl. Carsten Zelle, „Angenehmes Grauen“: Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987. Es lohnt, hierauf näher einzugehen, zumal das Gemälde von Rubens als Frontispiz abgebildet ist: „Für Frankreich fasste bekanntlich (vgl. […] Herbert Dieckmann, Das Abscheuliche und das Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, in: Hans-Robert Jauß [Hg.], Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, 271–317, hier: 274–277 […]) Boileau den klassizistischen Gemeinplatz der schönen Darstellung auch abschreckender Dinge in dem auf einschlägigen Beispielen zu Beginn des vierten Kapitels von Aristoteles’ Dichtkunst (Poetik, 4. Kapitel, 11 [1448a 10 ff.]; Rhetorik, 1. Buch, 11. Kapitel, 23. Abschnitt [1371b]) fußenden und über dessen holländischen Interpreten Gerardus Joannes Vossius (1597–1649) […] vermittelten Bild der ‚gemahlten Schlange‘ zusammen: ‚Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux, / Qui par l’Art imité ne puisse plaire aux yeux. / D’un pinceau délicat l’artifice agréable / Du plus affreux objet fait un objet agréable‘ (Nicolas Boileau-Despréaux, L’Art poétique, in: Œuvres complètes, Paris 1966, 169). Mag auch das seit dem Manierismus […] gestaltete Motiv des abgeschlagenen […] Gorgonenhauptes weder Boileau noch Vossius bekannt gewesen sein, so [liegt es dennoch nahe], auf eine Parallelstelle der engeren Kunstliteratur hinzuweisen. Zwischen 1629 und 1631 beschreibt Constantyn Huygens (1696–1687) die hin- und hergerissene Reaktion der Betrachter angesichts einer damals in Amsterdam hängenden Kopie des […] Haupts der Medusa von P. P. Rubens: ‚Darin hat er den willkommenen Anblick des sehr schönen Frauenkopfes mit dem schrecklichen Anblick des plötzlichen Todes und den einrahmenden scheußlichen Reptilien mit so unerhörter Kraft gemischt, dass das Bild den Beschauer, der entsetzt zurückfährt […], doch durch den Reichtum, der lebendig und anmutig ist, wieder anzieht‘ (zitiert nach einer deutschen Übersetzung von Hans Gerhard Evers, Perseus und Andromeda von Rubens, in: Ders., Das Werk des Künstlers, Bd. II; Berlin 1941–42, 204. Das lateinische Original bei J. A. Worp, Constantyn Huygens […], in: Oud Holland 9, 1896, 119 f.)“. So Zelle, ebd., 115; vgl. ebd., 116 und 394. 19. So Martin Warnke, Peter Paul Rubens. Leben und Werk, Köln 1977, 135 (über die 1638 entstandene Kreuzigung Petri). Nur resümierend hingegen ein Aufsatz, der speziell der Emotionalität bei Rubens gewidmet ist: P. Willehad Paul Eckert, Die Darstellung der Affekte im Werk des Peter Paul Rubens, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.), Pathos – Affekt – Gefühl. Philosophische Beiträge, Freiburg/München 1981, 103–129. Brassat

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[Anm. 16] berührt die Frage nach dem Innen- und dem Außenleben der Gefühle ebenfalls, wenn auch nur am Rande. – Wenn Warnke zu dem Schluss gelangt: „Affektäußerung und Affekthandlung können in Spätwerken des Rubens bis an die äußersten Grenzen getrieben sein […], so dass den kommenden Jahrhunderten nur übrig blieb, sie zu modellieren und zu rationalisieren“ (Warnke, ebd., 140), so trifft das auf die Medusa aus der mittleren Zeit noch nicht zu. Möglicherweise kann man daraus folgern, dass der humanistische Impuls beim späten Rubens einem eher pessimistischen Weltgefühl gewichen sei, das ungehemmte Affekte stärker hervortrieb? 20. Zu der Auseinandersetzung des jungen Rubens mit Stoa und Humanismus ist nach wie vor grundlegend: Martin Warnke, Kommentare zu Rubens, Berlin 1965. 21. In diesem Punkt bin ich anderer Auffassung als Brassat [Anm. 16], 63, der schreibt, Caravaggio habe „offensichtlich den Effekt des terrore, den Schock des Betrachters angestrebt.“ 22. Vgl. Cole [Anm. 9], 44, Abb. 17; Medusa: ebd., 59 und 65, Abb. 23 und 28. 23. Ich bin daher nicht der Auffassung von Horst Bredekamp (Cellinis Kunst des perfekten Verbrechens. Drei Fälle, in: Alessandro Nova/Anna Schreurs [Hg.]), Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2003, 337–348), der Cellini in Leben und Werk als äußerst gewalttätig, unbeherrscht und impulsiv beschrieben hat. „Leben“ und „Werk“, reale Handlungen und künstlerischer Ausdruck, können einander entgegengesetzt sein, wie am Beispiel Rubens’ oder Pugets öfter nachgewiesen wurde. Wenn man aber schon die These einer Kongruenz verficht, dann wird man berücksichtigen müssen, dass von den Gewalttaten in Cellinis Leben nur eine einzige nachgewiesen ist. Die emotionalen Qualitäten des Perseus sind jedenfalls unabhängig davon zu analysieren. Wie oben gezeigt, vollzieht Cellini in seiner in sich gekehrten Statue keineswegs „die eigenen Bluttaten an seinen Todfeinden“ (ebd., 338). 24. Cole [Anm. 9], 58–78, diskutiert diese Frage und tendiert möglicherweise in eine ähnliche Richtung; eindeutig geht das aus seinen Worten nicht hervor. 25. Rom, Palazzo di Spada; vgl. Rudolf Wittkower, Bernini, London 21966, Tf. 6 und 7. 26. Immerhin scheint das im Falle der berühmten Ausdrucksköpfe Franz Xaver Messerschmidts teilweise gelungen zu sein; vgl. Pfarr [Anm. 67]. 27. Vgl. Putto auf Delphin (Berlin, SMPK, Skulpturengalerie), am besten wiedergegeben bei Ursula Schlegel, Die italienischen Bildwerke des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1978, Abb. 3–4; Putto links der Caritas am Grabmal Urbans VIII. (Rom, St. Peter; vgl. Wittkower [Anm. 25], Tf. 52), oder auch das Haupt der ohnmächtigen Hl. Theresa und das Antlitz des sie mit der Liebe Gottes durchdringenden Engels (Rom, Santa Maria della Vittoria; ebd., Tf. 71–75). 28. Rom, Palazzo dei Conservatori; vgl. Wittkower [Anm. 25], Tf. 65 und Ferrari/Papaldo [Anm. 7], 481. 29. Zur Einfühlung vgl. den Beitrag von Martin Löw-Beer in diesem Band. Es fehlen m. W. Quellen, die Berninis Zurückhaltung gegenüber grauenerregenden Sujets klären könnten. 30. Diese Problematik habe ich in der Einleitung zu diesem Band ausführlich diskutiert. Ich sehe nach wie vor nicht, dass z. B. Experimente mit Ratten eine Antwort auf Permoser geben könnten; vgl. auch die Mitteilung des Neurologen Hans Hacker (zitiert oben S. 13–14). 31. Vgl. Rainer Krause, Gesicht – Affekt – Wahrnehmung und Interaktion, in: Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, hg. v. Gertrud Koch, Frankfurt a. M. 1995, 57– 72. Hier werden anhand von Filmaufnahmen mimische Aussagen im Mikrosekunden-

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takt im Rahmen einer psychoanalytischen Sitzung ausgewertet, um Aussagen zur Übertragung und Gegenübertragung zu machen, mit dem Ergebnis, dass die Mimik eine verbale Aussage im vorhinein kommentiert und damit der Interpretation einer Aussage schon eine Richtung gibt, so dass der Adressat den gesprochenen Satz nicht mehr wertfrei hören kann und u. U. eher auf die vorgängige Mimik achtet denn auf den gesprochenen Satz. Mit dieser Problematik befasste sich übrigens bereits Friedrich Schiller in seiner medizinischen Dissertation; vgl. Ders., Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962, 37–75: Im Kapitel Physiognomik der Empfindungen (S. 68– 70) spricht Schiller von den „Bewegungen der Maschine“, womit er die mentale Bewegung des Menschen meint. Er ist überzeugt, dass der zur Vollendung getriebene Affekt dauernden Charakter erhalten und eine Physiognomie auf Dauer prägen könne. Vgl. auch Roland Kanz, Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1993, 111. Der Autor spricht auch von einer „Mangelgestik“ bei Lavater, der sich des „uneinholbaren Vorsprungs bewusst“ sei, „den das totalisierende Sehen einer Physiognomie gegenüber der Sprachdefizienz im Beschreiben aufrecht erhält. „ Das Auge kann Zeichen qualifizieren, das Wort zerredet sie (ebd., 115). Die Silhouette als „Steckbriefporträt“ (ebd., 117), als Teil einer „Ausspähungsdiagnostik“ (so Hartmut Böhme, zit. ebd., 118). Lichtenberg hält die Pathognomik der weichen Teile dagegen, die Transitorik (ebd., 119). 32. Ronald Paulson, The Severed Head. The Impact of French Revolutionary Caricatures on England, in: French Caricatures and the French Revolution, Ausst.-Kat. Los Angeles, Grunwald Center for the Graphic Arts/The Wight Art Gallery, University of California, 1988, 55–65, hier 64. Beispiele: Villeneuve, Matière à réflexion pour les jongleurs couronnés [Der enthauptete Köng], ebd., 64 und 194; anonym, Le Calculateur patriote, ebd., 154; Villeneuve, Ecce Custine, ebd., 194; Villeneuve, Réception de Louis Capet aux enfers par grand nombres de brigands ci-devant couronnés, ebd., 196; Louvion, L’Égalité à l’époque de la Terreur, in: Klaus Herding/Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989; Louvion, Chapelet des révolutionnaires, ebd., 134. 33. Vgl. Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001, Teil III: Das Erhabene am Guten (221–314), hier 303: „In der Lehre von der Achtung als Triebfeder legt er [Kant] dar, dass es ein genuines moralisches Gefühl geben kann und dass ihm die entscheidende Wirkung in der praktischen Orientierung zukommt. Das Gefühl ist damit als ein Element der Vernunft anerkannt […]“ (meine Hervorhebung). 34. Man könnte auch hier wieder auf René Descartes, Die Leidenschaften der Seele (Les passions de l’âme, Paris 1649), hg. u. übers. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1996, rekurrieren, der in Teil II ab Art. 113 die Veränderungen in den Gesichtsbewegungen und in der Hautfarbe, aber auch das Zittern oder die Ohnmacht untersucht, ebenso Teil III, Art. 200 über die Auswirkungen des Zorns. 35. Zu Poussin (zwischen 1660 und 1664, Paris, Louvre) vgl. Nicolas Poussin 1594–1665, hg. v. Pierre Rosenberg/Louis-Antoine Prat, Ausst.-Kat. Paris 1994, p. 519; zu Runge (ausgewählt sei der besser erhaltene Kleine Morgen, 1808, Hamburg, Hamburger Kunsthalle) vgl. Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert, München 1995, Abb. 401. 36. Amsterdam, Slg. Sanders. Vgl. Anselm Kiefer, hg. v. A. James Speyer/Mark Rosenthal, Ausst.-Kat. Chicago, The Art Institute und Philadelphia, The Philadelphia Museum of Art, 1987, 97.

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37. Wobei, innerhalb von Kiefers Argonautenzyklus etwa, auch als grässlich empfundene Gemütsbewegungen, wie die Zerstückelung der Körper im Wahnsinn der Medea, freigesetzt werden. 38. Vgl. Hildegard Westhoff-Krummacher (Hg.), Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren, Ausst.-Kat. Münster i. W., Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, 1995–96. 39. Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919), in: Studienausgabe. Psychologische Schriften, Bd. IV, Frankfurt a. M. 21976, 241–274. 40. Erfahrungsgemäß kann das Sanfte, Unterschwellige in der Werbung eine stärkere Motivationsänderung, einen stärkeren Handlungsschub bewirken als das Schreckliche, Gewaltsame, Furchtbare. Zur Schockwirkung des letzteren vgl. andererseits den Beitrag von Bernhard Stumpfhaus in diesem Band. 41. Vgl. die betreffenden Beiträge in diesem Band. 42. Die Big Brother-Shows spielen zwar damit und zerstören die Absicht, Nähe nur dem Nächsten zu zeigen; als Voyeure aber sollen wir uns trotzdem fühlen. 43. Beste Farbabbildung und Beschreibung bei Hubertus von Sonnenburg, Raffael in der Alten Pinakothek, Ausst.-Kat. München, Bayrische Staatsgemäldesammlungen, 1983, 92–97, Abb.: 95, Zitat: 93. 44. Ebd., 93. 45. Ebd., 94. 46. München, Bayrische Staatsgemäldesammlungen; vgl. Neue Pinakothek München. Erläuterungen zu den ausgestellten Werken, München 41982, 249 und Farbtf. IX. Ursprünglich, vor 1812, konzipiert als Freundschaftsbild für Pforr unter dem Titel „Sulamith [links] und Maria“ [rechts]. Der Katalogtext übt sich in einer mit subjektiven Werturteilen vermischten Empathie: „Die Hinwendung und Zuneigung der beiden Frauengestalten, der ideale Gleichklang ihrer Seelen hätte kaum schlichter und empfindsamer ausgedrückt werden können. Der Eindruck vollkommener Harmonie ist wohl hauptsächlich durch die Ähnlichkeit in der Haltung der beiden Frauen hervorgerufen; im Wechselspiel zwischen Gleichklang und Anderssein liegt der Hauptreiz des Bildes. Das stille, kaum merkliche Spiel einander zugeordneter Linien und leiser Bewegungen verdichtet sich zu einer Gebärde innigster Zartheit in den drei ineinander ruhenden Händen, in denen etwas eigentümlich Gewährendes und zugleich bergend Umschließendes ausgedrückt ist. „ 47. Vgl. Der himmelnde Blick, Ausst.-Kat. Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister, 2001. 48. Vgl. Guido Reni, Ausst.-Kat. Bologna, Pinacoteca Nazionale, 1988, 143. 49. Vgl. den eindrucksvollen Aufsatz von Joseph Imorde, Dulciores sunt lacrimae orantium, quam gaudia theatrorum. Zum Wechselverhältnis von Kunst und Religion um 1600, in: Zeitschr. f. Kunstgeschichte 63, 2000, H. 1, 1–14, dort Abb. des Gemäldes von Dolci, S. 13. 50. Abigail Solomon-Godeau, Male Trouble. A Crisis in Representation, London 1997, 164. 51. Le Moniteur universel, zitiert in: L’Invention du sentiment, hg. v. Frédéric Dassas, Dominique de Font-Réaulx und Barthélémy Jobert, Ausst.-Kat. Paris, Musée de la Musique, 2002, zit. bei Nr. 38. Einen Skandal wegen des Sujets hat Brocs Bild jedenfalls nicht ausgelöst; die Diskriminierung solch gleichgeschlechtlicher Sehnsucht setzte erst später ein – im frühen 19. Jahrhundert durfte man sich noch ‚gehen lassen‘ . 52. Zur Forschungssituation insgesamt vgl. Klaus Herding, Freuds Leonardo, München 1998. Paul Ekman hat das Lächeln missdeutet. Vgl. Ders., Telling Lies. Clues to De-

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ceit in the Marketplace, Politics, and Marriage, New York 1985, dt. Ausg.: Warum Lügen kurze Beine haben, Berlin 1989, 126 f. Hier erwähnt Ekman die Mona Lisa als Beispiel eines kohärenten Lächelns und schreibt: „Bei zwei anderen Ausdrucksformen des Lächelns ist das echte Lächeln mit einem bestimmten Blickverhalten verbunden. Beim Flirtlächeln zeigt die flirtende Person ein echtes Lächeln, wobei sie das Gesicht und den Blick von der sie interessierenden Person abwendet, ihr dann aber einen kurzen, verstohlenen Blick zuwirft, der gerade so lange anhält, dass er bemerkt wird, ehe er sich abwendet. Das Außergewöhnliche am Bild der Mona Lisa besteht u. a. darin, dass sie in Leonardos Darstellung bei einem solchen flirtenden Lächeln ertappt wird [sic!], das Gesicht dem Objekt ihres Interesses abgewandt, es aber von der Seite anblickend.” Behandelt wird (ebd., 116–118) auch die asymmetrische Innervierung als „Täuschungshinweis“, ein inzwischen vielfach nachgewiesenes Merkmal intentionaler Innervierungen. Nimmt man beide Stellen zusammen, ergibt sich, dass Ekman die Asymmetrie der Mona Lisa nicht erwähnt, da er wohl auf eine gegebene Unregelmäßigkeit im Gesicht des Modells geschlossen hat und dem Bild damit implizit den Realismus einer klinischen Fotografie unterstellt. Den Hinweis auf diese Stelle und ihre Deutung bei Ekman verdanke ich Herrn Dr. Ulrich Pfarr in Stuttgart. Der Fall zeigt in meinen Augen einmal mehr, zu welch irrigen Folgerungen die Nichtberücksichtigung historischer Umstände führt. 53. Frank Zöllner, Leonardo da Vinci. Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte, Frankfurt a. M. 1994, 39–48. 54. Näheres dazu in Herding [Anm. 52], 60–68. 55. Vgl. Martin Löw-Beers Beitrag in diesem Band. 56. Die Forschungen von Ekman, Friesen und Simons (1985) zu diesem Punkt sind zusammengefasst bei Ekman 1988 [Anm. 10], 152–154. Daraus ergibt sich aber schon die ganze Dürftigkeit nichthistorischer Versuchsanordnungen. Jemand bekommt die Anweisung: „Wir zählen jetzt rückwärts von zehn bis null, und wenn wir bei null angekommen sind, kommt zwar kein Pistolenschuss, aber Sie sollten sich so verhalten, dass jeder, der Sie sieht, meinen würde, die Pistole sei abgefeuert worden“ (ebd., 152). Das Ergebnis ist eine self-fulfilling prophecy: Natürlich ließ sich bei einer derart künstlich inszenierten Anordnung der wirkliche Ausdruck des Schreckens vom fiktiven unterscheiden. Aber schon wenn nur eine der beiden Parteien eingeweiht ist, sieht das Ergebnis anders aus: Man kann sich dann täuschen, sowohl über die Bedeutung des Ausdrucks als auch über dessen wahre Beweggründe. Überdies wird nicht in Betracht gezogen, dass ein guter Schauspieler die Differenz zwischen wirklichem und fiktivem Erschrecken minimalisieren kann (wohlweislich ist bei Ekman von Schauspielern nicht die Rede). Endlich ist zu beachten, dass plötzliches Erschrecken wohl der am leichtesten zu kodifizierende Ausdruck ist; bei Heimtücke, Arglist, bei Überredungsimpulsen und vermischten Empfindungen sieht es schon anders aus – dann braucht man zur Entzifferung die Kenntnis der psychologischen, sozialen und historischen Umstände. Mit einem ‚Lügendetektor‘ kann man die Multifokalität des menschlichen Gehirns bezüglich der Gefühlsempfindung wohl kaum entziffern, zumal wenn sie eingestandene und uneingestandene Faktoren umfasst. 57. Descartes [Anm. 34], Teil II, Art. 113, 172–174: „denn, wenn jemand seine Leidenschaften verbergen will, stellt er sich stark eine entgegengesetzte vor“. 58. Der Brief, 1919 geschrieben, wurde niemals abgeschickt, aber postum vielfach rezipiert. Vgl. Franz Kafka, Brief an den Vater, Faksimile-Edition, hg. Joachim Unseld, Hamburg 1986, Nachdruck Frankfurt a. M. 1994; neueste Ausgabe als Hörbuch, ge-

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lesen von Stefan Fleming. Presier Records, Wien 2001; besprochen von Jochen Hieber in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 46, 23.2.2002, 42. In dieser Besprechung kommt die reziproke Qualität der Verachtung allerdings nicht zum Vorschein. 59. Dies hat der Vf. in seinem Aufsatz: Andy Warhols Finale. Das „Letzte Abendmahl“ des Jahrhunderts, in: Reinhard Brandt (Hg.): Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol, Leipzig 200,1, 288–329, darzustellen versucht. 60. Hubert Locher, „Alles Fakten“. Zu Robert Rauschenbergs Bildarbeit, in: Horizonte. Beiträge zu Kunst und Kunstwissenschaft. 50 Jahre Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich 2001, 227–234, Zitat: 230. 61. Vgl. die betreffenden Beiträge in diesem Band. 62. Vgl. Kevin Clarke, Der unsichtbare Körper, hg. v Volker Rattemeyer, Ausst.-Kat. Wiesbaden, Hessisches Landesmuseum, 1999, 60 (Bildnis John Cage, 1992–96) und 89 (Bildnis Claus Bury, 1998–99). Der Gesichtspunkt, dass moderne Kunst ihren Gegenstand nicht mehr „repräsentiere“, auch dann nicht, wenn sie gegenständlich ist, erfährt hier eine starke Bestätigung; vgl. Sixten Ringbom, Icon to Narrative. The Rise of the Dramatic Close-Up in 15th Century Devotional Painting, Doornsijk 21984. 63. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, dt. Ausg. Frankfurt a. M. 1985, 78. 64. Vgl. Clarke, Ausst.-Kat. [Anm. 62], 61. 65. Aus diesem Defizit wiederum entwickelt sich bei manchen Kunstkritikern ein Bedürfnis nach neuen Eruptionen, nach emotionaler Ursprünglichkeit. So will Eduard Beaucamp, Der verstrickte Künstler. Wider die Legende von der unbefleckten Avantgarde, Köln 1998, neue Kunst nur dann als originär anerkennen, wenn sie dieses Bedürfnis befriedigt. 66. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 67. Ich beziehe mich auf das Frankfurter Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst und hier vor allem auf die dort entstandenen Untersuchungen von Ulrich Pfarr, Franz Xaver Messerschmidt – Menschenbild und Selbstwahrnehmung (Diss. Frankfurt a. M. 2002), Berlin 2004, sowie Inken Freudenberg, Der Zweifler Cézanne (Diss. Frankfurt a. M. 2000), Heidelberg 2001. Vgl. ferner Herding [Anm. 52]; Ders., Meryons Eaux-fortes sur Paris – Probleme der Verständigung im Second Empire, in: Kritische Berichte 4, 1976, H. 2/3, 39–60 (erweiterte Neufassung im Druck).

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»De l’usage des passions«. Die Emotionen bei Künstler, Kunstwerk und Betrachter Dem Verhältnis von Künstler, Kunstwerk und Betrachter ist in den letzten Jahren erhöhte Aufmerksamkeit zuteil geworden. Geleitet von Erfahrungen mit der modernen, insbesondere auch mit der zeitgenössischen Kunst, scheint es uns nicht mehr möglich, von dem Kunstwerk als einer in sich geschlossenen Einheit auszugehen, so wie wir es in den klassischen Kunstmuseen zu finden gewohnt sind. Die Entwicklung spätestens seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts weist dem Kunstwerk vielmehr die Rolle eines Kommunikators zwischen Künstler und Rezipienten zu, die Existenzberechtigung eines Kunstwerkes liegt nicht selten in eben dieser Vermittlungsfunktion. Die Grenzen zwischen Künstler, Kunstwerk und Rezipienten verwischen dabei immer mehr, bis sie zum Teil nicht mehr erkennbar sind. Der Künstler wird zum Kunstwerk, das Kunstwerk realisiert sich im Betrachter, alle drei Faktoren bilden zunehmend eine untrennbare Einheit, so dass heute die Vorstellung von einem Kunstwerk automatisch den Künstler und den Betrachter einbezieht. Diese Entwicklung hat den Blick der Kunstgeschichte auf das Verhältnis von Künstler, Kunstwerk und Rezipienten in früheren Epochen gelenkt. Die Untersuchung des Kultbildes wendet sich auch dem Betrachter eines religiösen Werkes zu1, und die Psychischen Energien bildender Kunst fragen unter anderem mit Nachdruck nach dem Künstler und seiner Präsenz im Kunstwerk. Schwierig gestaltet es sich indes, alle drei Faktoren – Künstler, Kunstwerk und Rezipient – in ein gemeinsames Bezugssystem einzufügen. Sie scheinen uns zwar in einem direkten Zusammenhang zu stehen, die Beantwortung der Frage aber, wie dieser Zusammenhang aussehen könnte, gestaltet sich nicht leicht. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Als Verbindungsglied werden dabei die Emotionen vorgeschlagen, die Emotionen, die einen Künstler

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bei seiner Arbeit leiten, die in einem Kunstwerk thematisierten Emotionen und schließlich die beim Betrachter hervorgerufenen Emotionen. Die Wahl der Emotionen als ein mögliches Verbindungsglied mag aus heutiger Sicht nicht überraschen. Selbstverständlich scheint es uns, dass ein Künstler seine Emotionen in ein Werk einbringt, dass er diese künstlerisch fruchtbar zu machen versucht. Das künstlerische Genie – so eine verbreitete Überzeugung – beweist sich in einem besonderen Maße in einem möglichst emotionalisierten Entstehungsprozess. Auch dem Betrachter gestehen wir zu, emotionsgeladen auf ein Kunstwerk zu reagieren, ja wir gehen davon aus, dass einige Künstler mit ihren Werken geradezu auf die Emotionen des Rezipienten abzielen. In seiner vermeintlichen Unkontrollierbarkeit scheint uns der von den Emotionen geleitete Weg ehrlicher, er kann im Unterschied zu einer vernunftgesteuerten Herangehensweise dem Schaffen und dem Betrachten eines Kunstwerkes eine geradezu existentielle Dimension verleihen. Und schließlich ist da noch das Kunstwerk selbst, das eine Emotion thematisiert. Taugen die Emotionen indes dazu, die drei Bereiche in Beziehung zu setzen? Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass der hohe Stellenwert der Gefühle in den künstlerischen und kunsttheoretischen Diskursen kein Phänomen der Moderne ist. Spätestens seit der Renaissance bemächtigten sich die Emotionen, und zwar in der spezifischen Form der Leidenschaften, die als zeitlich begrenzte, vom Verstand nur schwer zu steuernde Zustände einer außergewöhnlichen emotionalen Anspannung beschrieben werden können, schrittweise der Kunst. Die Überlegungen zu den Affekten im Kunstwerk und bei Künstler und Betrachter verliefen dabei nicht synchron, erst langsam erschlossen sich die menschlichen Emotionen die einzelnen Bereiche Kunstwerk, Produktion und Rezeption. Beginnen wir mit dem ersten Bereich, dem Kunstwerk. Bereits in der Antike erwiesen sich die Leidenschaften als ein Darstellungsproblem. So wird berichtet, der Maler Timanthes habe das Haupt des Agamemnon angesichts der scheinbar bevorstehenden Opferung von dessen Tochter Iphigenie verhüllt, da ihm der Schmerz nicht mehr darstellbar schien, ohne hässlich zu wirken.2 Die zur Entschlüsselung der Erzählung notwendige Lesbarkeit der Wiedergabe des Leidens konnte also in Widerspruch zu ästhetischen Vorstellungen treten. Die offensichtlich im Vordergrund stehende Forderung nach Schönheit schien nur erfüllbar, wenn die Darstellung durch einen Code ersetzt wurde. Der Renaissance stellte sich die Aufgabe der Affektwiedergabe noch komplizierter dar. Die künstlerische Darstellung von Leidenschaften

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musste nun nicht nur ästhetischen Gesichtspunkten genügen, sondern sie musste sich auch an der Wirklichkeit messen lassen. Es war ganz besonders Leonardo da Vinci, der in seinem Fragment gebliebenen Kunsttraktat diese Forderung formulierte. Seine Überlegung, der Künstler müsse wie ein Wissenschaftler vorgehen, umfasste auch die Affekte. Seine Vorgaben für diesen Bereich blieben indes vergleichsweise vage; er bemerkte lediglich, der Künstler solle hier der Natur folgen.3 Diese Unbeholfenheit scheint daraus resultiert zu haben, dass man der antiken Temperamentelehre noch kein modernes Konzept entgegenstellen konnte, dass man noch keine rechten Vorstellungen von den Affekten, ihrer Entstehung und Verbindung mit dem Körper hatte. Ein Affekt war nicht mit dem Seziermesser freizulegen und auch nicht mit Zirkel und Lineal zu erfassen. Ein Weiteres kam hinzu. Die Renaissance-Kunst verfolgte nicht lediglich eine wirklichkeitsnahe Wiedergabe von Leidenschaften, sondern wies diesen auch eine wichtige innerbildliche Funktion zu. Denn es oblag nun vor allem ihnen, eine Narration wahrscheinlich zu machen – eine Aufgabe von grundlegender Bedeutung, nachdem Leon Battista Alberti die ‚istoria‘, die Wiedergabe einer Geschichte, zum Höhepunkt jeglicher künstlerischer Tätigkeit bestimmt hatte.4 Sicherlich waren in diesem Zusammenhang auch andere künstlerische Bereiche wichtig, etwa Bildaufbau und Farbe. Aber mit zunehmender Komplexität und Differenziertheit der wiederzugebenden Erzählung gewann die Darstellung von Affekten an Bedeutung, nur mit ihrer Hilfe glaubte man den neuen Anforderungen genügen zu können. Raffael, der bald die führende Rolle bei der Entwicklung einer narrativen Historienmalerei übernehmen sollte, bediente sich besonders in seinen letzten Lebensjahren dieses Ausdrucksmittels. In seinem letzten Werk, der Transfiguration (1516–1520, Abb. 1), findet das Konzept in einer Vielfalt emotionaler Ausdrucksformen einen Höhepunkt: der besessene Junge, sein Vater und die umherstehenden Frauen und Männer, die in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen gezeigt sind.5 Die einzelnen Wiedergaben beschreiben indes nicht nur die Krankheit einer Person und die Reaktionen der übrigen Bildakteure und vermitteln auf diesem Wege eine Geschichte, sie verfolgen zudem in einem bis dahin kaum gekannten Maße eine Dramatisierung der Komposition, besitzen somit eine dezidiert künstlerische Funktion. Um der zunehmenden Bedeutung, die den Affekten in einem künstlerischen Rahmen zugewiesen wurden, gerecht zu werden und den Künstlern eine Hilfestellung an die Hand zu geben, ging man im 17.

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Abb. 1: Raffael, Transfiguration, Öl/Holz, 1516-1520, Rom, Pinacoteca Vaticana

Jahrhundert daran, die Erkenntnisse zum Erscheinungsbild der Affekte zu systematisieren. Zu Beginn des Jahrhunderts widmete etwa der flämische Maler und Kunsttheoretiker Karel van Mander ein Kapitel seines Schilder-Boeck (1604) den Erscheinungsformen der Leidenschaften auf dem Gesicht.6 Das in diesem Zusammenhang sicherlich anspruchsvollste Unternehmen entstand an der Pariser Kunstakademie. Charles Le Bruns berühmt-berüchtigtes Lehrbuch Sur l’expression générale et particulière (1668 verfasst, 1698 erstmals veröffentlicht) lieferte eine illustrierte Typensammlung unterschiedlicher Affekte7, mit der der Maler glaubte, ein für allemal das Darstellungsproblem von menschlichen Leidenschaften gelöst zu haben und dem wenig hilfreichen Vorschlag Leonardos eine wissenschaftlich fundierte, zugleich ästhetischen Gesetzen gehorchende Vorgehensweise entgegenhalten zu können. Ein weiterer Grund muss genannt werden, der das Interesse an den menschlichen Emotionen zumindest in Frankreich im 17. Jahrhundert

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wesentlich bestärkte. Das Leben am Hofe war in einem hohen Maße kodifiziert, und viele wichtige Informationen konnte der Höfling nur durch eine einfühlsame Interpretation der Verhaltensweisen des Königs beziehungsweise diesem nahe stehender Personen erfahren. Eine genaue Kenntnis der menschlichen Psyche konnte somit die Position eines Höflings unmittelbar verbessern, da er mit ihrer Hilfe die Informationen genauer zu lesen verstand. Und so sind die um die Mitte des 17. Jahrhunderts vermehrt zu beobachtenden Bemühungen, die menschliche Psyche zu erforschen, auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Zu nennen wäre etwa die mehrbändige Studie Les characteres des passions (1648–1662) des Versailler Hofarztes Marin Cureau de la Chambre. Am meisten überzeugte fraglos René Descartes’ Schrift Les passions de l’âme (1649).8 Die Kunst beteiligte sich mit dem Traktat von Charles Le Brun, dem Ersten Hofmaler Ludwigs XIV., an diesen Bemühungen. Das Werk fußte auf Descartes’ für die Geschichte der Psychologie zentralem Text. Der zweite Schritt der Entwicklung ist mit dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert anzusetzen. Er führte dazu, dass in die Überlegungen, die sich bis dahin im Wesentlichen auf die Frage der Darstellung von Affekten konzentriert hatten, nun auch der Betrachter eines Kunstwerkes einbezogen wurde. Zwar war bereits zuvor der Rezipient bei der Gestaltung eines Kunstwerkes berücksichtigt worden, etwa wenn der Künstler ein Gemälde mit Hilfe der Perspektive auf den Betrachter ausrichtete und dieser damit unmittelbar in das Kompositionsgefüge eines Bildes einbezogen wurde; nun aber hatte der Künstler die Gefühle des Betrachters anzusprechen, ja er sollte diese geradezu provozieren. Damit wurde der Rezipient erstmals als eine eigenständige Größe mit eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrgenommen. Und an diesen Fähigkeiten und Bedürfnissen sollte sich der Künstler orientieren. Auch bei diesem Punkt konnten Überlegungen der Antike eine erste Anregung liefern. So hatte es Aristoteles als Aufgabe der Tragödie beschrieben, Furcht und Mitleid zu erregen.9 Die Idee, die Affekte des Kunstbetrachters anzusprechen, wurde insbesondere von der gegenreformatorischen Kunst und Kunsttheorie aufgegriffen. So stellte der bologneser Kardinal Gabriele Paleotti in seiner als Umsetzung der Beschlüsse des Tridentiner Konzils gedachten zentralen Schrift Discorso intorno alle imagini sacre et profane (1582) die emotionale Einbeziehung des Kunstbetrachters in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Als Mittel schlug er die Darstellung selbst der größten Grausamkeiten der Martyrien vor.

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„[…] noi veggiamo giornalmente figurarsi i cruciati atrocissimi de’santi, et minutamente esprimersi et le ruote, et i rasoi, et le cataste ferrate, et le capanne di fuoco, et le graticole, e gli equulei, et le croci, et infinite altre sorti de crudelissimi tormenti: i quali hà approvato la chiesa catholica che si rappresentino a gli occhi del popolo christiano, come insegne heroiche della patienza, della magnanimità de’santi martiri, et trofei della invitta fede et gloria loro: volendo la zelante madre nostra, che da questi esempij piglino cuore i suoi figli […].“10

Abb. 2: Domenichino, Geißelung des hl. Andreas, Fresko, 1609, Rom, S. Gregorio Magno

Der Betrachter sollte auf das Kunstwerk nicht rational reagieren, sondern von diesem emotional eingenommen werden. Dermaßen in den Bann gezogen und der Möglichkeit einer rationalen Kontrolle seiner Reaktion beraubt, sollte er zu den gewünschten religiösen Empfindungen geführt werden. In Domenichinos Geißelung des hl. Andreas (1609, Abb. 2) wird diese Vorgehensweise thematisiert. Die Betrachterfiguren links im Vordergrund sind in eben dem emotionalen Zustand gezeigt, der auch beim Rezipienten des Bildes erzielt werden soll. Und in der Tat berichtet die ‚vecchiarella’-Anekdote, dass dies mit Erfolg geschah, zumindest die italienischen Kunstschriftsteller des 17. Jahrhunderts den Anspruch eingelöst sahen.11 Die lebhafte Reaktion einer alten Frau bei Betrachtung von Domenichinos Bild galt ihnen als Beleg. Die Theoreti-

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ker und die Künstler waren sich mit Paleotti einig, dass vor allem die Wiedergabe von Grausamkeiten und möglichst extremen Affekten in der Lage war, den Betrachter aufzurütteln und in den gewünschten Zustand zu versetzen. Das Modell funktionierte aber nicht nur bei lauten und effekthascherischen Themen, es erlaubte auch leise Töne. So sollten die zahlreichen Bilder einer in sich gekehrten Religiosität, einer religiösen Inspiration den Betrachter zu einer eben solchen verinnerlichten religiösen Empfindung verleiten. Die Überlegungen der Kirche, die den Anstoß zu der Forderung nach einer emotionalisierten Betrachteransprache gegeben hatten, sollten bald keine vorrangige Rolle mehr spielen, die Emotionalisierung des Betrachters wurde zunehmend zu einer Leistung, die von einem Kunstwerk unabhängig von dessen funktionaler Einbindung erwartet wurde, ja sie wurde zu einem wichtigen Kriterium, an dem die Qualität eines Kunstwerkes zu messen war. So formulierte der französische Akademiker Antoine Coypel in seiner Esthétique du peintre: „Le grand peintre ne doit pas seulement plaire, mais il doit émouvoir et ravir, comme les grands poètes et les grands orateurs. Il doit, semblable à ces musiciens si vantés par l’antiquité, tantôt inspirer la tristesse jusqu’à tirer les larmes, tantôt exciter les ris, enflammer de colère, et forcer les spectateurs de témoigner leur admiration et leur étonnement, en exprimant non seulement les passions, mais encore en les excitant.“12

Die Kunstkritik – das neu entstandene Sprachrohr eines künstlerisch nicht vorgebildeten Publikums – sollte bald ganz ähnlich argumentieren. So forderte Denis Diderot in seinem Essai sur la peinture (1765) vom Künstler: „Touche-moi, étonne-moi, déchire-moi; fais-moi tressaillir, pleurer, frémir, m’indigner d’abord; tu récréeras mes yeux après si tu peux.“13

Bei all diesen Überlegungen zur Emotionalisierung des Betrachters stand aber lange Zeit außer Frage, dass der Künstler nicht den Pfad einer rationalen Durchdringung seines Gegenstandes verlassen durfte. Das diesen Ideen zugrundeliegende Konzept ist der Rhetorik entlehnt: Der Redner zielt mit rationalen Mitteln auf eine Emotionalisierung des Zuhörers, damit er diesen in seinem Sinne dirigieren kann. Das Modell, das besonders nachhaltig von den Jesuiten vertreten wurde14, sollte bald von der politischen Theorie, etwa in den Schriften zur Prinzenerziehung, aufgegriffen und weiter ausgearbeitet werden. Diese wurden nicht müde zu verlangen, dass ein Herrscher sich nicht von seinen Affekten leiten lassen dürfe. Befolge er diese zentrale Regel nicht, so riskiere er, von seinen Leidenschaften korrumpiert zu werden

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und die für die Ausübung einer Regierung fundamentale Handlungsfreiheit zu verlieren.15 Ungeachtet der Gefahren, die von den Leidenschaften ausgingen, müsse der Regent die Affekte aber intensiv studieren. Zum einen könne er diese nur bezwingen, wenn er sie genau kenne, zum anderen sei die detaillierte Kenntnis der Emotionen die Voraussetzung dafür, diese – ähnlich der gegenreformatorischen Strategien – bei den Untertanen hervorzurufen, um auf diesem Wege die Menschen besser regieren zu können. Diesen Aspekt thematisiert JeanFrançois Senault in seiner Schrift De l’usage des passions (1641). In der Dedikation an Richelieu heißt es etwa: „Mais ce que j’admire davantage en vostre conduite, et ce qui la rend plus semblable à celle de Dieu, c’est que prenant les hommes par leurs Passions, vous les faites servir à vos desseins, sans leur en donner la connoissance.“16

Die Aussage ist eindeutig, auch war sich der Autor offensichtlich darüber im Klaren, dass die Politik sich hier eines Konzeptes der Kirche bediente. Und der spanische Jesuit Baltasar Gracián schreibt in seiner Schrift Oráculo manual y arte de prudencia (1647, hier zitiert nach der 1684 erstmals erschienenen französischen Übersetzung) unter der Überschrift Trouver le faible de chacun: „C’est l’art de manier les volontés et de faire venir les hommes à son but. […] Il faut premièrement connaître le vrai caractère de la personne, et puis lui tâter le pouls, et l’attaquer par sa plus forte passion; et l’on est assuré par là de gagner la partie.“17

Die Suche nach einer Lösung für den künstlerischen Umgang mit den menschlichen Emotionen fügte sich damit bruchlos in das durch Rhetorik und politische Theorie vorgezeichnete System, es war ein Teil davon. Der Maler hatte den Betrachter unter Einbeziehung von dessen Emotionen zu dirigieren, so wie der Redner oder der Prediger seinen Zuhörer leiten und der Herrscher die Gefühle seiner Untertanen instrumentalisieren sollten. Die Argumentationsmuster sind identisch: Redner, Prediger, Herrscher und Künstler nehmen jeweils in ihrem Bereich denselben Platz ein, ebenso wie der Zuhörer einer Rede, der Gläubige in der Kirche, der Untertan und der Bildbetrachter ein und dieselbe Position beschreiben. Und selbst bei einer wesentlichen Beschränkung konnte sich die bildende Kunst einig insbesondere mit der politischen Theorie wissen. Denn es bestand kein Zweifel, dass die Emotionen des Künstlers keinen Eingang in die künstlerische Arbeit finden durften. Der Künstler hatte rational vorzugehen; auch wenn er die Emotionen des Betrachters provozieren oder Affekte darstellen wollte, durfte er sich ihnen auf keinen Fall selbst hingeben. Ein Künstler, der während seiner Arbeit von

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Affekten geleitet wird, kann – so war man überzeugt – nicht mehr seiner Aufgabe nachkommen und die Regeln der Kunst beachten. „N’agir jamais durant la passion. Autrement on gâtera tout. Que celui qui n’est pas à soi se garde bien de rien faire par soi, car la passion bannit toujours la raison; qu’il substitue pour lors un médiateur prudent, lequel sera tel, s’il est sans passion. Ceux qui voient jouer les autres, jugent mieux que ceux qui jouent, parce qu’ils ne se passionnent pas.“18

Dieses Konzept sollte nicht unwidersprochen bleiben. In einem dritten Entwicklungsschritt zeichnete sich im 17. Jahrhundert erstmals ab, dass auch dem Künstler Emotionen zugestanden wurden. Grund für diese Umorientierung war die sich besonders im 18. Jahrhundert immer deutlicher abzeichnende Überzeugung, dass die klassischen künstlerischen Strategien für eine zufriedenstellende Darstellung der Affekte nicht taugten. Leonardos Vorschlag des Naturstudiums war zu wenig konkret, Charles Le Bruns Regelsystem der Leidenschaftsdarstellungen schien hingegen zu starr und wirklichkeitsfern. So verfiel man auf die Idee, der Künstler solle die Leidenschaften nicht nur rational erfassen, sondern selbst erleben. Auch hier konnte die Antike, insbesondere die antike Rhetorik einen ersten Anstoß geben. So formulierte Cicero in seiner Schrift De oratore: „Neque fieri potest ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi omnes illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur. […] non me hercule umquam apud iudices aut dolorem aut misericordiam aut invidiam aut odium dicendo excitare volui quin ipse in commovendis iudicibus eis ipsis sensibus, ad quos illos adducere vellem, permoverer.“19

Quintilian griff diesen Gedanken Ciceros in seiner Schrift Institutionis oratoriae auf und widmete ihm ein eigenes umfangreiches Kapitel: „Summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi. nam et luctus et irae et indignationis aliquando etiam ridicula fuerit imitatio, si verba vultumque tantum, non etiam animum accommodarimus. […] quare in his, quae esse veri similia volemus, simus ipsi similes eorum, qui vere patiuntur adfectibus, et a tali animo proficiscatur oratio, qualem facere iudici volet. an ille dolebit, qui audiet me, qui in hoc dicam, non dolentem? […] fieri non potest. […] primun est igitur, ut apud nos valeant ea, quae valere apud iudicem volumus, adficiamurque antequam adficere conemur.“20

Als erster Kunsttheoretiker scheint Franciscus Junius in seiner Schrift De pictura veterum libri tres (1637) diese Überlegung Quintilians aufgegriffen zu haben. „Praecipua in exprimendis iis virtus haec est, ut fluere omnia ex natura rerum hominumque videantur: quod tum demum assequetur artifex, si praecipuam movendorum affec-

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tuum vim in eo ponat, ut moveatur ipse. […] ex hoc certe provenit imperiosissima illa vis affectuum, cui repugnare spectantis animus nulla ratione potest.“21

Junius konnte sich durch die zeitgenössische Kunst durchaus darin bestärkt sehen, die Strategie der Rhetorik auf die bildende Kunst zu übertragen. Die frühen Selbstbildnisse seines Landsmannes Rembrandt (Abb. 3), in denen der Künstler am eigenen Gesicht emotional bewegte Figuren ausprobierte, die dann nicht selten in seine Historiengemälde Eingang fanden22, lassen eine vergleichbare Vorgehensweise vermuten

Abb. 3: Rembrandt, Selbstbildnis mit offenem Mund, Radierung, 1630

wie auch die Geschichten, die über Domenichinos Arbeitsweise kursierten. Domenichino galt als ein Künstler, der in die Rollen seiner Bildakteure schlüpfte und deren Emotionen regelrecht durchlebte. So berichtet etwa Pietro Bellori, dass Annibale Carracci seinen Schüler überrascht hat, als dieser bei der Anfertigung der Geißelung des hl. Andreas eben in dieser Form vorgegangen sei: „[…] essendo andato Annibale a trovarlo a San Gregorio in tempo che dipingeva il Martirio di Santo Andrea, e trovando aperto, lo vidde all’improviso adirato e mincciante con parole di sdegno; Annibale si ritirò indietro ed aspettò fintanto si accorse che Domenico intendeva a quel soldato che minaccia il Santo col dito.“23

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Und im Zusammenhang mit der Ausmalung der Apsiskalotte von S. Andrea della Valle mit Szenen aus dem Leben des hl. Andreas heißt es, „[Domenichino] aggiungeva che nelle azzioni della pittura bisogna non solo comtemplare e riconoscere gli affetti, ma sentirli ancora in se stesso, fare e patire le mdisime cose che si rappresentano; onde alle volte udivasi ragionare da sé solo e mandar voci di duolo e d’allegrezza, secondo l’affezzioni espresse.“24

So prominent Rembrandt und Domenichino auch waren, ihre künstlerische Vorgehensweise scheint im 17. Jahrhundert eher eine Ausnahme dargestellt zu haben. Im 18. Jahrhundert finden wir hingegen zunehmend Hinweise, dass der Künstler und sein Emotionsleben in den Entstehungsprozess eines Kunstwerkes einbezogen werden sollten. Zu Beginn des Jahrhunderts legte etwa Roger de Piles dem Künstler nahe: „Il faut prendre la place de la personne passionnée, s’echauffer l’imagination, ou la moderer selon le degré de vivacité, ou de douceur qu’exige la passion, après y être bien entré et l’avoir bien senti. […] Ces mouvemens s’exprimeront bien mieux et seront bien plus naturels, si l’on entre dans les mêmes sentimens, et que l’on s’imagine être dans le même état que l’on veut representer.“25

Äußerungen mit ähnlichem Tenor häuften sich nun. So schlug etwa Jean-Bernard Le Blanc in seiner Salonbesprechung von 1747 auf der Suche nach einer Lösung des Darstellungsproblems von Affekten vor, dass der Künstler die Leidenschaften, die er darstellen wollte, selber erfahren haben müsse26, und auch der Maler Jean Restout meinte 1755, der Künstler solle sich gezielt in die darzustellenden Leidenschaften hineinversetzen.27 Die Emotionalisierung des Künstlers wurde – ähnlich wie diejenige des Betrachters – zuerst in Verbindung mit der Wiedergabe von Leidenschaften diskutiert, ja sie schien notwendig, um dieses schwierige Darstellungsproblem zu lösen, und wurde damit zu einem wichtigen Instrument der künstlerischen Arbeit. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Überlegungen von Cicero und Quintilian in ihrer Gänze aufgegriffen, als man in der Strategie auch ein besonders geeignetes Mittel sah, den Betrachter emotional anzusprechen. Neben der Rhetorik konnte für diesen Gedanken insbesondere die Schauspieltheorie wichtige Anregungen liefern. Die Frage der emotionalen Durchdringung des Akteurs beschäftigte die gesamte theatertheoretische Literatur des 18. Jahrhunderts.28 So formulierte der Abbé Jean-Baptiste Du Bos in seiner zentralen Schrift Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) im Zusammenhang mit dem Theater:

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„De tous les talens qui donnent de l’empire sur les autres hommes, le talent le plus puissant n’est pas la supériorité d’esprit et de lumières: c’est le talent de les émouvoir à son gré, ce qui se fait principalement en paroissant soi-même ému et penétré des sentimens qu’on veut leur inspirer […]. C’est que l’émotion des autres nous émeut nous-mêmes […].“29

Es bestand für Du Bos und seine Zeitgenossen kein Zweifel, dass diese Überlegungen auch für die bildende Kunst gültig waren. So führte etwa Antoine Coypel aus: „[…] celui qui entre le mieux dans la passion sera toujours le plus persuasif; et une preuve de cela, c’est que celui qui est véritablement agité de même ceux qui l’écoutent et que celui qui est véritablement en colère ne manque jamais d’exciter les mêmes mouvements dans le cœur des spectateurs.“30

Der Künstler kann also, ja er muss sogar genauso emotional bewegt sein, wie er es von dem Rezipienten seiner Werke erwartet. Deutlich steht hinter diesen Ausführungen von Du Bos und Coypel die klassische Stelle bei Horaz, die bereits Franciscus Junius zitiert hatte: „Ut ridentibus adrident, ita flentibus adflent / humani voltus. Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi.“31 So sehr die Vorgehensweise einer Durchdringung des Künstlers von den Affekten seiner Bildakteure in der praktischen Umsetzung auch mit Problemen behaftet gewesen sein mag, erlaubte sie es doch in einer überzeugenden Weise, Künstler, Kunstwerk und Betrachter eindeutig aufeinander zu beziehen. Hatte man bis dahin vor allem eine Verbindung von Kunstwerk und Betrachter gesucht, so trat nun der Künstler hinzu. Die Verbindung der drei Faktoren bildeten die Affekte. Das neue Konzept sah vor, dass sich der Künstler in die Leidenschaften begibt, um diese besser darstellen zu können und auf diesem Wege eine entsprechende emotionale Reaktion des Betrachters zu erreichen. Die Bezugnahme auf die Rhetorik sollte bald aufgegeben werden. Das von ihr abgeleitete Konzept war zu starr, um wirklich Antworten auf die anstehenden Fragen zu liefern, besonders erlaubte es nicht, dem ständig anwachsenden Wissen über die menschliche Psyche gerecht zu werden. Jean-Baptiste Du Bos unternahm den notwendigen nächsten Schritt. Für ihn war die Emotionalisierung des Betrachters Teil eines ästhetischen Konzeptes, das auf eine erhöhte Wirksamkeit eines Kunstwerkes abzielte. Je stärker ein Kunstwerk den Betrachter bewege, desto höher sei seine Qualität einzuschätzen, selbst wenn das Werk gegen die Regeln verstößt.32 Damit wurde der Rezeptionsprozess in einem starken Maße aufgewertet, zugleich wurde er von einer Äußerlichkeit, ja Theatralität befreit, die er noch bei Coypel besessen

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hatte, und in das Gefühlsleben des Betrachters verlagert. Eine religiöse oder politische Instrumentalisierung der Emotionen des Betrachters lag Du Bos fern. Das neue Konzept bedeutete zweierlei. Zum einen konnte derselbe Gegenstand, dasselbe Kunstwerk beim Betrachter völlig unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Für die Reaktion waren damit nicht nur der Bildgegenstand, etwa die wiedergegebenen Affekte, und die Darstellungsweise von Bedeutung, sondern auch der Charakter des Betrachters. So zeigt Daniel Chodowieckis Frontispiz des vierten Bandes von Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (Abb. 4), wie vier Personen je nach ihrem Temperament völlig unterschiedlich auf dasselbe Kunstwerk, Chodowieckis Les adieux de Calas à sa famille, reagieren (1778).

Abb. 4: Johann H. Lips nach Daniel Chodowiecki, Les effets de la sensibilité sur les quatre différens tempéramens, Radierung, 1778

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Zum anderen bedeuteten die Überlegungen Du Bos’, dass die Emotionalisierung des Betrachters nicht mehr allein von einer affektgeladenen Darstellung geleistet werden konnte, wie es eine der Rhetorik verpflichtete Kunst und Kunsttheorie meinten, sondern auch von vergleichsweise unspektakulären Darstellungen wie Landschaftsbildern. Die moderne Erfahrung, dass die Gefühle des Betrachters unabhängig von einer bestimmten Gegenstandswelt ausgelöst werden können, findet hier ihren Ursprung. Und ebenfalls wurde der Künstler aus der engen Umklammerung entlassen. Seine Gefühle waren für Du Bos nicht mehr ausschließlich – wie noch wenige Jahre zuvor bei Coypel – auf die Wiedergabe von Affekten ausgerichtet, sondern sie waren als Teil seiner ‚imagination‘ Grundlage jeglichen künstlerischen Schaffens. Der Künstler konnte seine Gefühle in jeden Gegenstand einbringen, so wie der Betrachter auch von jedem Gegenstand gefühlsmäßig angesprochen werden konnte. Die damit einhergehende Entwertung des Bildgegenstandes sollte einschneidende Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Kunst haben. Sie führte dazu, dass die klassische Historienmalerei – und damit auch die Affektwiedergabe – ihre herausragende Position einbüßte und das Interesse der Künstler und der Betrachter an den niederen Gattungen, insbesondere an der Landschaftsmalerei, stieg. Jetzt schließt sich der Kreis. Es begann damit, dass im Kunstwerk Affekte thematisiert wurden, es folgte der Versuch, das Werk mit dem Betrachter und dessen Affekten während des Rezeptionsprozesses zu verknüpfen. In einem dritten Schritt wurde der Künstler mit Hilfe der Emotionen mit dem Kunstwerk verbunden. Die Emotionen des Betrachters entsprachen weitgehend denjenigen des Künstlers, wie auch die Emotionen von Künstler und Betrachter geradlinig mit den im Kunstwerk unmittelbar thematisierten Affekten verquickt waren. Die Grundlage für dieses Konzept lieferte die Rhetorik. Einmal realisiert, stieß das Modell an seine Grenzen. Das Konzept war zu statisch. Die Erkenntnis von der Subjektivität der menschlichen Empfindungen, die Du Bos’ Überlegungen zugrunde lag, veränderte die Vorstellungen von künstlerischer Arbeit und Rezeptionsprozess. Das moderne Kunstwerk war aus einem religiösen oder politischen Funktionszusammenhang entlassen. Es definierte sich nicht mehr vorrangig über den Inhalt, sondern stellte sich als eine emotionale Einheit von Künstler, Kunstwerk und Betrachter dar; Künstler und Betrachter traten mittels des Kunstwerkes in eine Verbindung, die nicht mehr einem Konzept der rationalen Vermittlung oder der rhetorischen Vereinnahmung folgte, sondern dem Kunstwerk einen Emotionshaushalt zugestand, zu dem

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auch der Künstler und der Rezipient gehörten. Und laute Töne waren in diesem Zusammenhang eher störend. Daniel Chodowiecki zeigt in der zweiten Folge der für Georg Christoph Lichtenberg angefertigten Serie Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, wie eine solche Verbindung aussehen kann. Blatt sieben und acht zur Kunstkenntnis (1780, Abb. 5) stellen zwei unter-

Abb. 5: Daniel Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, 2. Folge, Blatt 7 und 8: Kunstkenntnis, Radierungen, 1780

schiedliche Formen des Kunstgenusses einander gegenüber.33 Zur Präzisierung seiner Vorstellungen bediente sich Chodowiecki der klassischen Betrachterfiguren. Deren Funktion ist nun indes eine andere als bei Domenichinos Geißelung des hl. Andreas (Abb. 2). Chodowiecki beabsichtigte nicht, dem Bildbetrachter eine Hilfestellung zu geben, wie er sich angesichts der weiblichen Statue zu verhalten hat, sondern er wollte zwei unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf ein Kunstwerk diskutieren. Der Gegenstand, der die beiden Reaktionen hervor-

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ruft, ist derselbe, er kann also nicht die Wahl einer „affectirten“ oder einer „natürlichen“ Betrachtungsweise erklären. In dem einen Blatt diskutieren zwei Männer in einem offensichtlich erregten Zustand über das Kunstwerk, sie gestikulieren und haben einen bewegten Gesichtsausdruck, ganz so wie es bei dem rhetorischen Konzept der Betrachteransprache beobachtet werden konnte. Die Reaktion bleibt dem Kunstwerk aber äußerlich, sie kann ihm nicht gerecht werden und wird von Chodowiecki als affektiert gebrandmarkt.34 Auch bei der Alternative, der natürlichen Form des Kunstgenusses, zeigen sich die Betrachter sichtlich bewegt, ihre Gefühle sind indes verinnerlicht. Auf diesem Wege gehen die Betrachter mit dem Kunstwerk eine Einheit ein. Das Lächeln auf dem Gesicht der Statue zeigt, dass sie die richtige Form der Kunstbetrachtung gefunden haben.

Abb. 6: Caspar David Friedrich, Selbstbildnis mit aufgestütztem Arm, Bleistift und Feder, um 1802, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett

Nicht nur der Betrachter, auch der Künstler findet eine neue Form, sich in ein Kunstwerk einzubringen. Seine Emotionen während des Schaffensprozesses sind nicht mehr ausgerichtet auf die Lösung eines Darstellungsproblems. Auch er verinnerlicht seine Gefühle und erfährt auf diesem Wege eine Erweiterung seiner Ausdrucksmöglichkeiten. So hat Caspar David Friedrich in seinem Selbstbildnis mit aufgestütztem Arm (um 1802, Abb. 6) seine Arbeit unterbrochen, um in die Ferne schauend zu sinnieren. Die Arbeit an einer Zeichnung scheint für den

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Künstler Ausgangspunkt einer Verinnerlichung der Eindrücke der äußeren Welt zu sein, der Blick in die äußere Welt verbindet sich mit Empfindungen, die von eben dieser Welt hervorgerufen worden sind. Und es besteht kein Zweifel, dass der Künstler, wenn er sich wieder seiner Arbeit zuwenden wird, die Empfindungen, denen er soeben noch nachgegangen ist, in sein Werk einbringen wird. Das Thema des Werkes wird eine Landschaft sein. Die Darstellung von Affekten, von der die Entwicklung ihren Ausgang genommen hatte, tritt damit immer mehr in den Hintergrund, sie ist nicht mehr notwendig, um Künstler und Kunstbetrachter emotional an ein Kunstwerk zu binden. Beide können sich nun in ein Kunstwerk einbringen, ohne dass es dazu der Anregung durch die Wiedergabe eines Affektes bedarf. Die Verinnerlichung des Kunstgenusses wie auch des Herstellungsprozesses eines Kunstwerkes führt zu einer Verschiebung dessen, was man unter einem Kunstwerk versteht. Erst jetzt geht dieses wirklich eine untrennbare Einheit mit dem Künstler und dem Betrachter ein, erst jetzt kann man von einem modernen Kunstwerk sprechen, das dem Künstler und dem Betrachter eine nicht durch Regeln kontrollierte, dafür aber eine mit ihrem Wesen, mit ihren Gefühlen verbundene Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk erlaubt.

Anmerkungen 1. Es seien hier lediglich genannt: David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Reponses, Chicago/London 1989, und Hans Belting, Bild und Kult. Die Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1993. 2. Zu dem Motiv s. La ‚Mort de Germanicus’ de Poussin du Musée de Minneapolis, Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre, 1973. 3. Angeführt sei hier die bis ins 19. Jahrhundert gültige Ausgabe von Leonardos kunsttheoretischen Ausführungen: Leonardo da Vinci, Traitté de la peinture, übers. von Roland Fréart de Chambray, Paris 1651, Kap. 58, S. 15, Kap. 98, S. 30, Kap. 218, S. 71 f. S. hierzu auch Thomas Kirchner, Expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991, 200 f. 4. Leon Battista Alberti, Drei Bücher über die Malerei, in: ders., Kleinere kunsttheoretische Schriften, hg. v. Hubert Janitschek, Wien 1877 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 11), 105. 5. Zu dem Bild: s. Rudolf Preimesberger, Tragische Motive in Raffaels ‚Transfiguration’, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), 89–115. 6. Karel van Mander, Het Schilder-Boeck wa er in voor eerst de leerlustighe Jueght den grondt der Edel vry Schilder const in verscheyden deelen wort voorghedraghen, Haar-

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lem 1604, Kap. 6: Utbeeldinghe der affecten / passien / begeerlijckheden / en lijdens der menschen, fol. 22v. – 29r. 7. S. Jennifer Montagu, The Expression of the Passions. The Origin and Influence of Charles Le Brun’s ‘Conférence sur l’expression générale et particulière’, New Haven/ London 1994. 8. S. hierzu auch Kirchner [Anm. 3], 73–79. 9. Aristoteles, Poetik, übers. von Olof Gigon, Stuttgart 1978, 40. 10. „[…] wir sehen täglich die schrecklichsten Torturen der Heiligen abgebildet. Bis ins kleinste sind die Räder dargestellt, die Rasiermesser, die eisernen Marterroste, die Scheiterhaufen, die Bratroste, die Folterbänke, die Kreuze und unzählige andere grausamste Arten der Marter. Die katholische Kirche heißt deren Darstellung vor den Augen des christlichen Volkes gut als heroisches Zeichen der Duldsamkeit und des Großmuts der heiligen Märtyrer, als Trophäe des unbesiegbaren Glaubens und den Märtyrern zum Ruhm. Denn unsere eifrige Mutter möchte, dass ihre Kinder sich durch diese Beispiele ein Herz fassen […].“ Gabriele Paleotti, Discorso intorno alle imagini sacre et profane diviso in cinque libri. Dove si scuoprono varii abusi loro, et si dichiara il vero modo che christianamente si doveria osservare nel porle nelle chiese, nelle case, et in ogni altro luogi, Bologna 1582, fol. 216r.-v. S. hierzu auch Norbert Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988; zur Bedeutung der emotionsgeladenen Betrachteransprache in einem religiösen Kontext s. zuletzt Gabriele Wimböck, Guido Reni (1575–1642). Funktion und Wirkung des religiösen Bildes, Regensburg 2002, besonders 169 ff. 11. Hierzu und zum konkurrierenden Konzept von Guido Reni s. Felix Thürlemann, Betrachterperspektiven im Konflikt. Zur Überlieferungsgeschichte der ‚vecchiarella’Anekdote, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), 136–155. 12. „Der große Maler darf nicht nur gefallen, sondern er muss bewegen und entzücken, so wie die großen Poeten und die großen Redner. Er muss ähnlich wie die von der Antike so gepriesenen Musiker bald die Trauer bis hin zu den Tränen wachrufen, bald zum Lachen anstacheln, Wut entflammen und die Betrachter zwingen, ihre Bewunderung und ihr Erstaunen zu bekunden, nicht indem er die Leidenschaften einfach ausdrückt, sondern indem er sie erregt.“ Antoine Coypel, L’esthétique du peintre, in: Henry Jouin (Hg.), Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, recueillies, annotées et précédées d’une étude sur les artistes écrivains, Paris 1883, 365. Coypel formulierte seine Überlegungen zuerst in einem Gedicht, das er 1708 unter dem Titel Epitre en vers d’un pere à son fils, sur la peinture veröffentlichte und in den Jahren 1712–1719 in einzelnen in der Académie Royale de Peinture et de Sculpture gehaltenen Vorträgen erläuterte. 1721 erschienen Gedicht und Abhandlungen unter dem Titel Discours prononcés dans les conférences de l’Académie royale de peinture et de sculpture. 13. „Erst ergreife mich, setze mich in Erstaunen, zerreiße mir das Herz, lass mich erschauern, weinen, beben und aufbegehren, nachher wirst du, wenn du kannst, meine Augen zu neuem Leben erwecken.“ Denis Diderot, Essai sur la peinture, pour faire suite au Salon de 1765, in: ders., Œuvres complètes X, hg. v. Jules Assézat und Maurice Tourneux, Paris 1876, 499 (Übers. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, zit. nach Denis Diderot, Ästhetische Schriften I, Berlin/Weimar 1967, 673). 14. Zur jesuitischen Rhetorik s. Marc Fumaroli, L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ‚res literaria’ de la Renaissance au seuil de l’époque classique, Genf 1980, 233–423.

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15. So etwa der Berater des Kardinals Richelieu Jean-Louis Guez de Balzac in seinem zentralen Werk Le prince, Paris 1631, 36. 16. „Aber das, was ich besonders an Ihrem [gemeint ist Richelieu] Verhalten bewundere und was dieses dem Verhalten Gottes ähnlich erscheinen lässt, ist, dass Sie die Menschen Ihren Zielen gefügig machen, ohne dass diese es merken, indem Sie die Menschen bei ihren Leidenschaften packen.“ Jean-François Senault, De l’usage des passions, Paris 1987, 8. 17. „Die Schwäche von jedem finden: Es ist die Kunst, den Willen [der Menschen] zu handhaben und die Menschen seinen Absichten zu gefügig zu machen. […] Zuerst muss man den wahren Charakter der Person kennen und dann ihren Puls fühlen und sie bei ihrer heftigsten Leidenschaft packen; und man ist sicher, auf diesem Wege die Partie zu gewinnen.“ Baltasar Gracián, L’art de la prudence, übers. von Abraham-Nicolas Amelot de la Houssaie, Paris 1994, 47 f. 18. „Handele niemals, während du eine Leidenschaft empfindest. Andernfalls verdirbst du alles. Derjenige, der nicht bei sich ist, hüte sich wohl, dass er nichts aus sich heraus macht, da die Leidenschaft immer die Vernunft verbannt; er ersetze ihn durch einen umsichtigen Vermittler, der ohne Leidenschaft ist. Diejenigen, die die anderen spielen sehen, urteilen besser als diejenigen, die selbst spielen, da sie nicht leidenschaftlich erregt sind.“ Ebd., 213. 19. „Es ist auch gar nicht möglich, dass der Zuhörer Schmerz oder Hass, Neid oder Furcht empfindet, dass er sich zu Tränen und Mitleid bewegen lässt, wenn alle die Gefühle, zu denen der Redner den Richter bringen will, dem Redner selbst nicht eingebrannt und eingeprägt erscheinen. […] Ich hätte bei Gott niemals vor Gericht mit meiner Rede Schmerz und Mitleid, Neid und Hass erregen mögen, ohne selbst bei der Beeinflussung der Richter von den Empfindungen bewegt zu werden, zu denen ich sie bringen wollte.“ Cicero, De oratore. Über den Redner. Lateinisch/deutsch, hg. und übers. v. Harald Merklin, Stuttgart 42001, 324 (Übers., ebd., 325) 20. „Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach meinem Empfinden, darin, sich selbst der Erregung hinzugeben. Denn es kann doch zuweilen sogar lächerlich wirken, Trauer, Zorn, Empörung wiederzugeben, wenn wir nur unsere Worte und Miene, nicht aber auch unser Inneres darauf einstellten. […] Deshalb sollten wir bei dem, was der Wahrheit gleichen soll, auch selbst in unseren Leidenschaften denen gleichen, die wirkliche Leidenschaften durchmachen, und unsere Rede sollte aus einer Gemütsstimmung hervorgehen, wie wir sie auch bei dem Richter zu erzeugen wünschen. Oder wird etwa der Richter Schmerz empfinden, der mir, während ich zu diesem Zweck rede, keinen Schmerz anhört? […] Ganz unmöglich! […] Das erste ist es also, dass bei uns selbst die Regungen stark sind, die bei dem Richter stark sein sollen, und wir uns selbst ergreifen lassen, ehe wir Ergriffenheit zu erregen versuchen.“ Marcus Fabius Quintilian, Institutionis oratoriae, libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988, Kap. VI, 28–28, I, 708 (Übers. ebd., 709). 21. „Das größte Verdienst an solchen Geschöpfen der Kunst ist, wenn alles aus der Natur der Dinge und Beschaffenheit der Menschen zu flüßen scheint; das wird aber der Künstler erst dann erreichen, wenn er die Gabe zu erreichen vornehmlich darein setzt, daß er selber gerührt werde. […] Daher entspringt ohne Zweifel jene herrschende Gewalt der Affecten, welchen die Seele des Zuschauers im geringsten nicht wiederstehen kann.“ Franciscus Junius, De pictura veterum libri tres, Amsterdam 1637, Buch 3, Kap. 4, § 4, S. 184 f. (Übers. zit. n. Franciscus Junius, Von der Mahlerey

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der Alten in drey Büchern. Aus dem Lateinischen, Breslau 1770, 485 f.). S. dazu auch Ulrich Rehm, Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München/Berlin 2002, 73 f. 22. Insbesondere sind in diesem Zusammenhang auch die Selbstbildnisse Rembrandts in Form von ‚tronien’ zu nennen; s. Marieke de Winkel, Das Kostüm in Rembrandts Selbstporträts, in: Rembrandts Selbstbildnisse, Ausst.-Kat. London, National Gallery/Den Haag, Mauritshuis 1999/2000, dt. Ausg. Stuttgart 1999, besonders 60–62. 23. „[…] Annibale war nach S. Gregorio Magno zu Besuch gekommen, als er [Domenichino] dort gerade am Martyrium des heiligen Andreas malte, und da er alles offen fand, sah er ihn plötzlich, aufgebracht und mit Worten der Entrüstung drohend; Annibale zog sich zurück und wartete, bis er bemerkte, dass Domenico jenen Soldaten meinte, der dem Heiligen mit dem Finger droht.“ Giovan Pietro Bellori, Le vite de’pittori, scultori e architetti moderni, Turin 1976, 359 (Übers. zit. n. Thomas W. Gaehtgens und Uwe Fleckner [Hg.], Historienmalerei, Berlin 1996 [Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, I], 170). Zu Domenichinos Konzept der ‚affetti’ s. Tanja Bergemann, Domenichino. Der Freskenzyklus der hl. Cäcilie in S. Luigi dei Francesi in Rom, unveröffentlichte Magisterhausarbeit, Heidelberg 2002, besonders S. 93–99. 24. „[…] er [Domenichino] fügte hinzu, dass es für die Handlung des Bildes nicht allein vonnöten ist, die Affekte zu betrachten und zu erkennen, sondern dass man sie auch in sich selbst fühlen muss, dass man eben die Dinge, die man darstellt, tun und empfinden muss; daher hörte man ihn bisweilen für sich allein Reden führen und Worte des Schmerzes oder der Fröhlichkeit aussprechen, je nach den Gefühlen, die er ausdrückte.“ Bellori [Anm. 23], 359 (Übers. zit. n. Gaehtgens und Fleckner [Anm. 23], 170). 25. „Man muss den Platz der von einer Leidenschaft ergriffenen Person einnehmen, die eigene Einbildungskraft anfeuern oder mäßigen entsprechend dem Grad der Heftigkeit oder der Milde, die die Leidenschaft verlangt, nachdem man sich in sie ganz und gar hineinbegeben und sie stark empfunden hat. […] Diese Bewegungen werden besser zum Ausdruck kommen und natürlicher sein, wenn man sich in dieselben Gefühle hineinbegibt und wenn man sich vorstellt, in demselben Zustand zu sein wie diejenigen, die man darstellen will.“ Roger de Piles, Cours de peinture par principes, Paris 1708, 165 f., 173. 26. Jean-Bernard Le Blanc, Lettre sur l’exposition des ouvrages de peinture, sculpture, etc. de l’année 1747. Et en général sur l’utilité de ces sortes d’expositions, Paris 1747, 129. 27. Jean Restout, Essais sur les principes de la peinture, sculpture et gravure, in: Réunion des sociétés des beaux-arts des départements (1885), 358. Gérard de Lairesse schlug in diesem Zusammenhang vor, der Künstler solle sich in eine Leidenschaft versetzen und vor dem Spiegel eine Zeichnung anfertigen, um diese dann auf Tonköpfe zu übertragen. S. Gérard de Lairesse, Groot Schilderboek, waar in de schilderkonst in al haar deelen grondig wird onderweezen, ook door redeneeringen en prentverbeeldingen verklaard, Haarlem 1740, Teil 1, 63 f. 28. S. Kirchner [Anm. 3], 122–136. 29. „Unter allen Fähigkeiten, die eine Herrschaft über andere Menschen verleihen, ist die mächtigste nicht die Überlegenheit des Verstandes und der Einsicht: Es ist die Fähigkeit, die anderen Menschen nach Belieben zu bewegen; diese kommt hauptsächlich dadurch zustande, dass man selbst von den Gefühlen bewegt und durchdrungen er-

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scheint, die man bei ihnen hervorrufen will […]. Es ist das Gefühl der anderen, das uns selbst bewegt.“ Jean-Baptiste Du Bos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Nouvelle édition revue, corrigée et considérablement augmentée I, Paris 1733, Section 4, 40–42. 30. „[…] derjenige, der sich am besten in eine Leidenschaft hineinbegibt, wird immer der Überzeugendste sein. Ein Beweis dafür ist, dass derjenige, der wirklich erregt ist, gleichfalls seine Zuhörer in Erregung versetzt und dass derjenige, der wirklich wütend ist, es niemals verfehlt, dieselben Bewegungen im Herzen der Betrachter anzuspornen.“ Coypel [Anm. 12], 343. 31. „Mit dem Lachenden lacht, mit dem Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst du, dass ich weine, so traure erst einmal selbst.“ Horaz, Ars poetica. Die Dichtkunst, hg. und übers. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 1972, 10, V. 101–103 (Übers. ebd., 11). 32. Du Bos [Anm. 29], II, Section 22, 323 f. 33. S. hierzu Werner Busch, Daniel Chodowieckis ‚Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens’, in: Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, hg. v. Ernst Hinrichs und Klaus Zernack, Tübingen 1997 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung XXII), 77–99, hier besonders 96–99. 34. Lichtenberg bemerkt zu dem Blatt: „Sie [die beiden Betrachterfiguren] scheinen sich nicht um die Schönheit und die Bedeutung des Körpers der Bildsäule zu bekümmern […], sondern vielmehr zu bewundern die Wärme, womit der Künstler gebrochen hat die Falte des leinenen Marmors, zu fühlen die ölichte, Vögeltäuschende Glätte einer Taube oder zu sehen den versteinerten Duft einer Blume, welcher um zu riechen nichts fehlt als der Geruch“, in: Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1780. Mit Kupfern von Chodowiecki nebst den neuesten Frauenzimmer-Moden, in Kupfer, S. 138.

Werner Hofmann

Das gespaltene Pathos der Moderne Der Begriff Pathosformel geht uns schnell über die Lippen. Als Klaus Lankheit vor vier Jahrzehnten ein wichtiges Buch über das Triptychon als Pathosformel schrieb, resümierte er das aktuelle Begriffsverständnis und kehrte zu dem Warburgs zurück. Längst habe der von Warburg geprägte Terminus „die von seinem Schöpfer gemeinte Bedeutung gesprengt und sogar die Grenzen [des Faches Kunstgeschichte] überschritten“. Dennoch hält Lankheit an der Warburgschen Prägung fest, zumal „in dem Wort ‚Formel‘ – so in der Zusammensetzung ‚Gebetsformel‘ – die Bedeutung des Festgeprägten, Dauernden, Objektiven anklingt …“.1 Seine offenkundige Evidenz hat dem Begriff nur eine kurze Erläuterung im Historischen Wörterbuch der Philosophie eingetragen. Wir erfahren, dass er für Warburg nicht bloß die Übernahme eines Motivs bedeutete, sondern etwas Zusätzliches enthielt, nämlich ein „im Geist der heidnischen Vorzeit leidenschaftlich und verständnisvoll nachgefühltes Erlebnis …“.2 So gesehen ist die fruchttragende Dienerin, deren stürmisches Eintreten in Ghirlandaios Wochenstube Johannes des Täufers (S. Maria Novella) den Blick Warburgs faszinierte, eine Pathosformel des „elementaren Lebenswillens“, also ein Novum, das dem alten Pathos der ruhigen Geschlossenheit dieses Interieurs aufstörend und spaltend entgegentritt.3 Ein Referat, das vom gespaltenen Pathos der Moderne handelt, sollte diese signifikante Episode nicht unerwähnt lassen. Ich werde versuchen, der Moderne ein bipolares Pathos nachzuweisen, dessen Zwiespälte aus den Brechungen jenes anderen Pathos hervorgehen, das für ein in sich geschlossenes, affirmatives Weltvertrauen steht, das sich, um Lankheit zu zitieren, auf Festgeprägtes, Dauerndes, Objektives stützt und solcherart Zweifel und Widerspruch auf sich zieht. Wohin das zwiespältige Pathos der Moderne zielt, erfahren wir, wenn wir feststellen, wovon es sich abhebt. Das sei einleitend kurz dargelegt. Mein Gewährsmann ist Flaubert – nicht der Autor der berühm-

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ten Romane, sondern der Briefeschreiber, der Louise Colet, seine Geliebte, seitenlang über den Blickwinkel unterrichtet, aus dem er die Welt und die Menschen betrachtet. Eines der wichtigsten Zeugnisse ist der Brief vom 27.3.1853.4 Flaubert definiert darin, was er unter dem modernen Empfinden (sentiment moderne) versteht. Er weiß sich zugleich in einer bis zu den Alten zurückreichenden Tradition und beruft sich auf den Fäkal-Realismus des Aristophanes, der keine Tabus kannte, weshalb er das Erhabene gerne ins Lächerliche umschlagen ließ. Flaubert schließt daraus, dass die Alten das „prétendu genre noble“, das sog. edle Genre, nicht kannten – im Gegensatz zu ihren Nachfahren im französischen Klassizismus. Gegen deren verengende, auf UniversalNobilitierung zielende Kunst führt Flaubert das sentiment moderne ins Treffen. Er versteht darunter die gezielte Mischung gegensätzlicher Formhöhen. Erfahrungen mit der „harmonie des choses disparates“ konnte er auf seinen Orientreisen machen, etwa als er in Jaffa nebeneinander den Gestank von Kadavern und den Duft von Zitronenbäumen einatmete. In solchen Situationen erfüllt sich seine Hoffnung auf Umkipperlebnisse: Er will in der Begeisterung (l’enthousiasme) eine Trostlosigkeit (désolation), eine Bitterkeit (amertume) verspüren.5 Immer schon hatte er auf die Wirklichkeit einen durchschauenden Blick gerichtet. 1846 findet er dafür eine prägnante Formulierung: „das Gemeine, Nichtswürdige (l’ignoble) gefällt mir … es ist das Erhabene von unten (le sublime d’en bas).6 Das Initialerlebnis dieses gebrochenen Bewusstseins beschreibt bereits der 16jährige Flaubert (1837): „Die schönste Frau ist nicht mehr schön, wenn sie im Amphitheater der Chirurgie auf dem Seziertisch liegt … mit den Eingeweiden auf der Nase, einem geschundenen Bein und einer kalten Zigarre neben dem Fuß.“7 Einer solchen, den Schönheitskanon persiflierenden Groteskkoppelung nähert sich der junge van Gogh ein halbes Jahrhundert später in der Zeichnung einer Venusstatuette mit einem darüber gestülpten Zylinder. Flauberts unerbittlicher, am Beruf des Vaters geschulter Chirurgenblick begnügt sich nicht damit, Fakten desillusionierend zu zerlegen, er zielt auf verblüffende Konfrontationen, eben auf die „harmonie des choses disparates“8, wovon in der Madame Bovary die berühmte verschränkende Beschreibung des Liebesdialoges mit dem Ablauf des Landwirtschaftsfestes zeugt. Letztlich schwebt aber Flaubert etwas vor, was er die grande synthese nennt. Darauf werde ich im letzten Teil meines Beitrags zu sprechen kommen. Das Pathos der Moderne, das ich der Weltsicht Flauberts entnehme, ist ein Produkt des Zweifels, der sinnsuchenden Skepsis. Es gibt sich

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nicht mit dem zur Stimmigkeit geglätteten Augenschein einer Sache oder einer Empfindung zufrieden. Es tritt dem bejahenden Blick mit einem fragenden Gegenblick entgegen. Somit widerspricht es dem positiven affirmativen Pathos, das aus dem Vertrauen auf eine wohldurchdachte Weltordnung kommt. Wie eine solche vorzustellen ist, wissen wir aus dem 1. Buch Mose. Der von Befriedigung erfüllte Schöpfergott stellt fest, dass alles nach Plan verlief. Er betrachtet, was er in wenigen Tagen gemacht hat und „siehe da, es war sehr gut.“ Diese Überzeugung bildet die Folie, auf der sich der Schönheitsbegriff unserer Zivilisation entfalten wird. Alles hat seinen richtigen Ort, ist stabil gefügt, funktioniert einträchtig und konfliktfrei: die Kräfte des Kosmos, die Pflanzen und Tiere, und die Spezies Mensch wirken zusammen. Diese paradiesische Stimmigkeit wird Thomas von Aquin im 13. Jh. rationalisieren, indem er ihren Koordinaten die drei Bedingungen der Schönheit entnimmt: materielle Vollendung, Übereinstimmung der Teile und Klarheit.9 Daraus werden bei L. B. Alberti im 15. Jh. die empirischen Prämissen eines Ebenmaßes, das sich vom vollkommensten und höchsten Naturgesetz ableitet.10 Am Ende dieser Wunschbilder der Ausgewogenheit steht Goethe, der die Schönheit wieder zur Parusie erhöht, wenn er von hohen Kunstwerken sagt: „Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“11 Jener Gott, der in seinem Schöpfungsplan für alles einen Ort, einen Rang, eine Funktion vorsah. Eva indes, die Wissbegierige, lässt sich davon nicht überzeugen. Sie will es genauer wissen, weshalb für sie die göttliche Ratio einer prästabilierten Harmonie nicht das letzte Wort sein kann. Der Baum der Erkenntnis, dessen Frucht sie unerschrocken ergreift, befähigt zur Einsicht in das Gute und das Böse, er erschließt mithin Alternativen und Gegenwelten. Im Prinzip befreit er vom Konsenszwang und entlässt den Künstler aus dem Pakt, der ihn verpflichtete, über Jahrhunderte hinweg sich der Verherrlichung und Ausschmückung der gottgewollten Schöpfungsvielfalt zu widmen oder das Scheitern des Sechs-TageWerkes vom Sündenfall über die tragische Intervention eines Erlösers bis zur letzten Abrechnung im Jüngsten Gericht aufzuzeigen. Diese Ereignisse sind indes keine Gegenwelten zum paradiesischen Eingangsthema der christlichen Heilsgeschichte, sondern deren unvermeidliche Kehrseite. Mit Eva kommt das Bewusstsein der Entfremdung in die Welt, das sich im doppelbödigen Pathos des Erprobens, Verwerfens und der Befragung äußern wird, was letztendlich zur Aufhebung aller Gewisshei-

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ten führen kann. Die beste aller möglichen Welten (Leibniz) wird von Gegenwelten umstellt, für die es keinen zielgerichteten Heilsplan gibt. Meine Darstellung vereinfacht den Geschichtsverlauf. Sie unterschlägt, dass das Konsensangebot mehrmals unterlaufen wurde. So etwa im Mittelalter, das Burckhardt nicht umsonst „unendlich frei und tausendgestaltig“12 nannte, so in den Wechselbeziehungen zwischen deformis formositas und formosa deformitas, die Bernhard von Clairvaux in den romanischen Kapitellskulpturen ausmachte13; so in den kalkulierten Verwirrungen der „artes combinatoriae“.14 Aus dem regelhörigen Konformismus, den wir als Klassik der Renaissance bezeichnen, ging – geradezu als aufmüpfige Parallelaktion – das Spektrum der gestörten, persiflierenden Formen hervor – lauter Künstlerlaunen, die in der kunstgeschichtlichen Terminologie dem sog. Manierismus zugeschrieben werden. Als „gestörte Form“ bezeichnete Ernst Gombrich die Absicht, den Betrachter durch „Störung und Sprengung selbst geschaffener Formenwelten“ zu verwirren.15 Das geschieht z. B. an der Hoffront von Giulio Romanos Palazzo del Tè in Mantua, wo die Triglyphen aus dem Gebälk herunter gerutscht sind. Zugleich stellt Giulio in den Räumen des Palastes die verschiedensten Modi (Höhenlagen) nebeneinander, so dass der Besucher optischen Wechselbädern ausgesetzt ist. Diese Hinweise auf Stilmischungen und Realitätskoppelungen ließen sich fortsetzen. Man denke an das eingeblendete Rüpelspiel im Sommernachtstraum, das den Herzog fragen lässt: „How shall we find the concord of this discord?“ Oder an Breughel, der die Haupthandlung hinter der Nebenhandlung verbirgt, woraus Brecht einen Hauptbeleg für seine Kunstlehre vom Verfremdungseffekt entwickelte.16 Dennoch sind das alles bloße Launen (Capricci) am Rande des seit dem 15. Jh. etablierten homogenen Kunstgeschehens, dessen Bezweiflung und Diskreditierung erst im 18. Jh. systematisch in Angriff genommen wird. Darin kündigt sich die Entmachtung des Weltvertrauens an, das von der christlichen Heilslehre auf das kohärente Erscheinungsbild ihres Schöpfungsmythos gelenkt wurde. In den Zweifel geraten, wird nun das einsinnige, affirmative Pathos fragwürdig (des Fragens würdig), büßt seine Autorität ein und wird vom mehrsinnigen Pathos der Negation verdrängt. Einigen Etappen dieses Prozesses will ich mich jetzt zuwenden und möchte dazu von Goethes Satz ausgehen: „Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres.“17 Nietzsche drückt den Sachverhalt, der alle Ausdruckslehren ins Wanken bringt, noch schärfer aus: „Jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort eine Maske.“18 Goethes apodiktische

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Aussage über das Unwahre jeder Form stammt aus einer Reihe unsystematischer Bemerkungen, die unter dem Titel „Aus Goethes Brieftasche“ 1776 als Anhang zur deutschen Übersetzung von Sebastien Merciers Neuem Versuch über die Schauspielkunst erschienen. Mercier, von der Shakespeare-Begeisterung ergriffen, plädiert darin für Lebensnähe und kritisiert den formelhaften Klassizismus der französischen Bühne. Auch Goethe ergreift Partei für die unverstellte Lebensnähe. In der ungeschönten Wirklichkeit – „Ehr’ jede krüppliche Kartoffel“ – ist die Würde jedes Dinges und dessen Anteil am Schöpfungsplan enthalten. Indes: die menschlichen Formbemühungen haben an dieser kongenitalen Wahrheit keinen Anteil, denn jedes ihrer Verfahren ist, weil künstlich, letztlich unwahr. Jedes Kunstmittel ist (in Goethes Worten) ein Glas, „wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz des Menschen zum Feuerblick sammeln.“ Jede Kunstsprache ist ein Brennglas, das seinen Gegenstand verdichtet und solcherart zur Fiktion macht. Diese Fiktionalität gerät vollends im 18. Jh. auf den Prüfstand, denn im Urteil der Zeitgenossen ist sie dabei, ihre Eindeutigkeit, ihre Glaubwürdigkeit, kurz: ihre Überzeugungsfähigkeit einzubüßen. Das begann im England des frühen 18. Jhs., als James Thornhill den Auftrag erhielt, die Landung Georgs I. in Greenwich (1714), also ein zeitgenössisches Ereignis, in einem historischen Ereignisbild darzustellen.19 Er fragt sich, welchen Modus er dafür verwenden soll: das Pathos des hohen Stils oder die Tatsachennähe der Reportage? Nobilitierung oder die Faktentreue des Chronisten? Thornhill entschied sich für einen Zwitter, einen Kompromiss aus Fakten und Fiktion, Prosa und Poesie. In diesem Konflikt zeichnet sich bereits der Gegensatz ab, aus dem Chodowiecki später seine (von Lichtenberg inspirierte) antithetische Verhaltenslehre entwickeln wird, die „Natürlichen und affektierten Handlungen des Lebens“ (Abb. 1).20 Einmal gestellt, blieb das Problem der Sprachhöhen in der Diskussion der englischen Kunstszene. Um die Mitte des Jahrhunderts nahm Reynolds einen Bedeutungstransfer aus dem affirmativen Pathos des hohen Stils in das negative der Travestie vor: sein Spottbild über Raffaels Schule von Athen (Farbtafel IV) ist ein Musterstück der Doppelbödigkeit, vergleichbar dem Verfahren seines Landsmannes Lawrence Sterne, den Nietzsche den großen Meister der Zweideutigkeit nannte, weil er dazu fähig war, die „bestimmte Form“ fortwährend zu brechen und zu verschieben, „so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet“.21 Über diese Polyvalenz dachte der Akademiepräsident auch in seinen alljährlichen Discourses nach. Von ihm erfuhren die Studen-

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Abb.1: Daniel Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, 2. Folge, Blatt 1 und 2: Natur und Affection, Radierungen, 1780

ten, dass man eine bestimmte Haltung oder Formel ohne sie zu ändern (without changing the attitude) für verschiedene Zwecke (Inhalte) verwenden kann.22 Doch gehe man in der Bedeutungsakkumulation nicht zu weit. So kritisiert er Plinius, der in der Art mancher moderner Connoisseurs aus einer Paris-Statue des Euphranor drei verschiedene Charaktere herauslesen wollte: die Würde des „Schönheitsrichters, den Geliebten Helenas und den Sieger über Achill.“23 Auf dem Höhepunkt seines Schaffens kannte Reynolds solche Vorbehalte nicht. Er porträtierte sich im Kostüm Rembrandts und in der Haltung van Dycks vor einer Michelangelo-Büste Daniele da Volterras. Der Kraftakt eines polyfokalen Rollenspielers, der seine Kunstideale in einer Art Montage gegeneinander ausspielt. Das Verfahren der wechselseitigen Spiegelung und Brechung kommt schon in der Schule von Athen zur Anwendung. Der Adressat des Spottgemäldes ist ein gebildeter, mit Raffael vertrauter Betrachter, der

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imstande und bereit ist, den Abstand zur erhabenen Fiktionalität der berühmten Philosophenversammlung in der Stanza della Segnatura zu goutieren, d. h. Reynolds’ doppelte Bedeutungsinversion nachzuvollziehen. Zum einen relativiert Reynolds – wie später Manet in seinem Déjeuner sur l’herbe – die sakrosankte Norm Raffaels, indem er dessen exemplarische Bilderfindung verfügbar macht und auf die Höhenlage der Parodie herabsetzt, zum andern verspottet er das Rollenspiel seiner Zeitgenossen und deckt auf, dass dieser beflissene Diskurs von „Denkern in dürftiger Zeit“ bestritten wird. Aber meint er wirklich die Kenner und Sammler, die Italien heimsuchen und sich benehmen wie im Irrenhaus von Bedlam? Oder macht er sich über die Gotikbegeisterung lustig, die eben damals epidemisch um sich zu greifen begann? Hier ist ein Wort zur Karikatur angebracht. Sie verkörpert exemplarisch die Gegenwahrnehmung, die das Idealschöne entmachtet und zugleich demaskiert. Das Entmachten geschieht mittels der Entstellung des physiognomischen Regelmaßes – einer Fiktion. Wir entdecken, dass jeder Kopf mehrere Möglichkeiten in sich trägt. Der Karikaturist steht in dem Ruf, Entstellungen mit dem Ziel der Enthüllung vorzunehmen. Doch gleichzeitig ermächtigt die Bandbreite der möglichen Verzerrungen den Zeichner dazu, spielerische Metamorphosen zu erfinden, also die Demaskierung in die Höhe physiognomischer GegenFiktionen zu steigern, die den denunziatorischen Anlass hinter sich lassen. Wie sehr die Karikatur das dialektische Widerspiel zur genormten Form ist, geht daraus hervor, dass gerade die Verfechter der Norm – die Carraccis – die Antinorm der Karikatur erprobten. William Hogarth war sich dessen bewusst, weshalb er in seinem Stich Characters and Caricaturas neben Leonardo und Ghezzi auch zwei Köpfe abbildete, die er dem Annibale Carracci zuschrieb. Niemand hat die diskreditierende Pathosspaltung mit größerer Selbstverachtung thematisiert als William Hogarth. Er tat das mit einer das Publikum verwirrenden Schärfe, als er sein Gemälde Paulus vor dem Landpfleger Felix (Abb.2) – eine Huldigung an den hohen Stil Raffaels – desavouierte, und zwar in einem Stich (Abb. 3), der zur Subskription einer Reproduktion des Gemäldes einlud, wobei er sich, so die Beischrift, der lächerlichen Manier („ridiculous manner“) Rembrandts bediente. Eine solche Selbstpersiflage riskierte keiner von Hogarths Zeitgenossen. Sofern sie die klassischen Formeln abwarfen und sich der ‚ungekünstelten‘ Spontaneität überließen, entging ihnen, dass auch dieses Verfahren ein Rollenspiel darstellt. Das hat Goethe angemerkt, als er 1799 Diderots Essai sur la Peinture übersetzte.24 Diderot gehört zu den

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Abb. 2: William Hogarth, Paulus vor Felix, Kupferstich und Radierung, 1752

Schlüsselfiguren der Pathos-Destrukturierung, die uns hier beschäftigt. In seinem Essai von 1765 glaubt er, in der dynamischen Pinselschrift die Garantin der Wahrhaftigkeit gefunden zu haben. Der Malakt ist für ihn eine psycho-physische Enthemmung. In Goethes Übersetzung liest sich das so: „Wer das lebhafte Gefühl der Farbe hat, heftet seine Augen fest auf das Tuch, sein Mund ist halb geöffnet, er schnaubt (ächzt, lechzt), seine Palette ist ein Bild des Chaos. In dieses Chaos taucht er seinen Pinsel und zieht das Werk seiner Schöpfung hervor.“25 Mit diesem action painter kontrastierte Diderot den Maler, der sich von Umsicht und Bedächtigkeit leiten lässt. Er ordnet seine Farben symmetrisch auf der Palette und gleicht einem „unbehülflichen schweren Gelehrten.“26 Diderots Urteil lautet: „wenn nicht wenigstens nach einer Viertelstunde Arbeit die ganze Ordnung [auf der Palette] durcheinander gestrichen ist, so entscheidet kühn, daß der Künstler kalt ist und daß er nichts Bedeutendes hervorbringen wird.“27 Fazit: „Das ist fürwahr nicht der Gang des Genies.“28 Goethe tadelt diesen tumultuarischen Umgang mit der Farbe.

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Abb. 3: William Hogarth, Paulus vor Felix (Burlesqued), Kupferstich und Radierung, 1751

Auf die idealtypische Gegenüberstellung des spontanen und des von der Reflexion beschwerten Malers passt eine andere Stelle aus dem Essai: „Alle Attitude ist falsch und klein. Jede Handlung ist schön und wahr.“29 Für Diderot gibt es ‚Gläser‘ (=Modi) mit unterschiedlichem Wahrheits- bzw. Unwahrheitsgehalt. Er schätzt die Spontaneität höher als das Räsonnieren – aber er weiß, dass ihre Wahrheit von der Mitwirkung des Betrachters abhängt. Wer z. B. ein Stillleben von Chardin aus zu geringer Distanz betrachtet, sieht nur ein Chaos, erst der richtige Abstand zeigt ihm „la nature même“ (Salon von 1763).30 Wie jeder lebhafte Denker bewegte sich Diderot in Selbstwidersprüchen. So bezog er mit seinen Entweder-Oder-Urteilen Positionen, denen er anderswo widersprach, nämlich in dem älteren Traité du Beau. Dort statuiert er, dass jede Schönheit potentiell mehrere Wahrheiten in sich trägt, denn jede ist relativ, also eine Beziehungsschönheit, deren Aussage vom jeweiligen Kontext abhängt. Zum Beweis untersucht er die Bedeutungsebenen, die in einem berühmten Wort stecken, das Corneille dem Vater der drei Horatier in den Mund legte: „Qu’il mourût“. „Dass er sterbe!“31 Was besagt das, wenn man den Kontext nicht kennt? Ist es ein vollständiger Satz oder ein Bruchstück? Erst das

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Bezugsfeld klärt den Sachverhalt: es spricht der Vater, der bereits zwei Söhne verloren hat und um der Ehre Roms willen auch bereit ist, den dritten, letzten zu opfern. Diderot stellt sich einen Szenenwechsel vor: auf die Bühne der commedia dell’arte versetzt, nähme der Satz eine burleske Färbung und somit eine andere Wahrheit an. Ähnlich argumentiert Lichtenberg in seinem Fragment von Schwänzen (1777, veröffentlicht 1783), in dem er diese Attribute der Männlichkeit zu Objekten der physiognomischen Intuition à la Lavater macht und diese einsinnigen Deutungen ad absurdum führt.32 Indirekt plädiert er damit für die Mehrsinnigkeit von Formkomplexen, denn „unsere Sinne zeigen uns nur Oberflächen und alles andere sind Schlüsse daraus.“33 Zu analogen Schlüssen kam Goya, als er die Verfügbarkeit der alten Muster zu deren Verweltlichung nutzte. Aus dem Christus einer Grablegung, einem Frühwerk, wird ein von Kollegen getragener Bauarbeiter. Die Leidenswürde des Erlösers geht auf ihn über, doch hält Goyas Doppelblick die Situation in Schwebe. Er malt den Bauarbeiter einmal als Betrunkenen, einmal als Verletzten. Am Gesichtsausdruck des Mannes ändert er nichts, bloß die beiden Assistenzfiguren sind einmal ernst, das andere Mal schadenfroh. Goya malt gleichsam einen kritischen Kommentar zur Physiognomik Lavaters, die er in ihrer französischen Ausgabe gekannt haben dürfte. Er warnt davor, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Nicht nur hat jede, auch die gefühlteste Form etwas Unwahres: auch der physiognomische Habitus kennt den Kunstgriff des Verbergens und Verstellens. Welche der beiden Majas zeigt uns ihr wahres Gesicht? Unter der Zeichnung einer Mutter, die ihr Kind herzt, steht: „Buena muger – parece“ (GW 1251) eine gute Frau, wie es scheint. Die Pathosspaltung ist Teil der Spaltungsprozesse, die sich im 19. Jahrhundert auf verschiedenen Bewusstseinsebenen zutragen. Ich skizziere ein Bild der Epoche, das deren Konfliktpotentiale hervorhebt. Nicht selten revozieren meine Zeugen ihre Aussagen. Was Goethe über die Unwahrheit auch der gefühltesten Form schrieb, gilt nicht mehr für die Gewissheiten, die ihm ein Jahrzehnt später die Italienische Reise einbrachte. Nun ist er überzeugt, dass von hohen Kunstwerken eine pseudoreligiöse Offenbarung ausgeht: „… da ist Notwendigkeit, da ist Gott.“34 Also nichts Unwahres. Auch Diderot dekretierte eine beauté suprême, die er wegen ihrer Regelmäßigkeit im Kosmos ansiedelt. Mit diesen Formhöhen geht Hand in Hand die Erwartung, die Goethe 1797 ausspricht: „Von der bildenden Kunst verlangt man deutliche, klare, bestimmte Darstellungen.“ Damals, 1797, begann Goya in Madrid die Arbeit an seinen Ca-

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prichos (Launen). Daraus wurden 80 Explorationen des Menschen in seiner bald trivialen, bald dämonischen Mehrsinnigkeit, ausgebreitet im Zwielicht von Ängsten und Gewalttaten, formal bestritten mit verwirrenden Mischungen von Reportage, Satire und Mummenschanz. Damals, 1797, erschien Friedrich Schlegels große Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie. Die Vorrede enthält eine Analyse der zeitgenössischen Poesie, die nichts anderes als ein Katalog von Kunstgriffen ist, die aus der Sicht der Ganzheitlichkeit, wie sie Goethe und Diderot reklamieren, lauter Verwirrungen und Fehltritte darstellen. Mit rhetorischer Übertreibung konstatiert Schlegel ein Gemenge, aus willkürlichen Mischformen, Labyrinthen und Maskeraden – rastlose Anarchie. Er blickt in einen „ästhetischen Kramladen“, in dem das Interessante, Piquante und Frappante den Ton angeben. Schlegels Panoramablick auf die Zwecklosigkeit und Gesetzlosigkeit der modernen Poesie nimmt „ein Meer streitender Kräfte [wahr], wo die Teilchen der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten Kunst, in trüber Mischung sich durcheinander regen. Man könnte sie ein Chaos alles Erhabenen, Schönen und Reizenden nennen …“.35 Oder, mit meinen Worten, die komplette Leugnung von Goethes Ganzheitlichkeit, welche am Ende der Tradition steht, die Thomas von Aquin im 13. Jh. mit seiner Definition des Schönen einleitete. Seine Kriterien – materielle Vollendung, Proportionalität und Klarheit – bildeten die Basis des Dogmengebäudes, das im 18. Jh. zerfällt. Mit andern Worten: wir stehen an der Schwelle des vielleicht entscheidenden Paradigmenwechsels der Neuzeit. Das von Schlegel beschriebene Brachland hatte Hogarth bereits 1764 in seiner letzten Radierung (Abb. 4) auf eine vielschichtige Metapher gebracht, in der sein negatives Lebensfazit sich trifft mit einer ebensolchen Epochenbilanz. Wir blicken auf ein Sammelsurium aus lauter Zivilisations- und Bildungsabfällen, auf eine Endzeitlandschaft, der ein entmachteter Chronos – Sense, Stundenglas und Pfeife sind zerbrochen – ein letztes Finis spricht.36 Visuelle Zeichen und Kommentare klaffen auseinander. Halten wir uns zunächst an den Titel: The Bathos or manner of Sinking, in Sublime Paintings, inscribed to the dealers of Dark Pictures … Bathos ist der Gegenbegriff zu Pathos – die leere, hohle Plattheit. Danach erläutert Hogarth, was er mit seiner komplizierten Bildidee aufdecken möchte: die Art nämlich, „wie man die ernstesten Themen in vielen berühmten alten Bildern schändet; indem man niedrige, abwegige (absurd), unanständige (obscene) und oftmals profane Verhältnisse in sie einführt.“ Das liest sich wie eine Selbstbezichtigung.

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Abb. 4: William Hogarth, Tail Piece or the Bathos, Kupferstich und Radierung, 1764

Doch das Trümmerfeld, in dem jedes Ding eine Verletzung, eine Beschädigung vorweist, stammt nicht von den Übeltätern, die das Publikum mit dunklen Gemälden nasführen, sondern ist Hogarths Eigentum, sein persönliches Repertoire, mit dem er seit Jahrzehnten die Perversionen und Missbildungen der Gesellschaft demaskiert. Nun fasst er alle seine Zerfallsrequisiten zu einem Dies irae zusammen. Die Palette des Malers ist zerbrochen, seine hohe Kunst hat abgedankt, aber auch eines von Hogarths Spätwerken, der Stich The Times, wird von Flammen zerstört. Der Feuertod hat sein zentrales Emblem in dem Wirtshausschild mit dem brennenden Erdball: The World’s End. Das Wirtshaus, das es nicht gibt, und die es umgebende Trostlosigkeit lassen an die vier Symbole denken, die Kant in seiner Schrift Das Ende aller Dinge (1794)37 aufzählt: Wirtshaus, Zuchthaus, Tollhaus und Kloake.

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In diesem Waste Land hat auch der antike Mythos keine Autorität mehr – der christliche ist völlig abwesend. Eine seiner Lichtgestalten, Phöbus-Apoll, liegt tot auf dem Sonnenwagen, die Pferde sind krepiert. Auch das Symbol, das Hogarth stets dem profanen Weltchaos entgegenhielt, die S-förmige Schönheitslinie, ist machtlos: nur in zwei Medaillons lebt es als isoliertes Idol weiter – Fußnote des kosmischen Desasters und bestenfalls eine Erinnerung an die ferne Zeit, als Schönheit noch kultisch verehrt wurde. Mit Kunst und Mythos ist auch die Natur bankrott gegangen. So steht es links vorne auf einer Gerichtsakte, unter der die letzte Seite eines Regiebuchs aufgeschlagen ist. „Exeunt omnes“ lesen wir, alle treten ab. Noch einmal definiert Hogarth die Welt als Bühne, doch der Regisseur ist zugleich Darsteller. Er spielt eine Doppelrolle: die des Normensetzers (S-Linie) und die des Normenverletzers, der die Welt als ein Tollhaus, als eine missglückte Konstruktion ansieht. The Bathos nimmt eine Sattelstellung ein, die zwei Lesarten anbietet. Wir können dieses Tollhaus als lächerliche, hohle Farce oder als tragische Verstrickung auffassen – als Bathos oder als Pathos. Als Hogarth diesen Titel wählte, dachte er wohl an Popes Schrift Peri Bathous (1728), worauf Berthold Hinz hingewiesen hat38, wusste also, dass das Wort im Griechischen gegensinnig zu lesen ist und – je nach Kontext – sowohl Tiefe wie Höhe bedeuten kann. Hogarth liquidiert das alte affirmative Pathos, das überzeugen will, indem es die Welt und die menschlichen Beziehungen auf Wohlklang und Kohärenz verabredet. Zugleich legt er den Grund für das Pathos der Kontestation: Er entnimmt den „Bruchstücken der zerschmetterten Kunst“ (Schlegel)39 die disruptive Syntax eines neuen Pathos, das auf Brüchen und Bruchstücken beruht und von deren mehr oder minder dissonanten Assemblagen lebt. Nun regiert nicht mehr die gottgewollte, einsinnige Notwendigkeit, auf die Goethe sich berief, sondern die geistreiche Willkür, die Verwirrungen stiftet. Ich greife einige exemplarische Positionen heraus, die belegen, wie der Zweifel an den eindeutigen Normen sich in verschiedenen Praktiken niederschlug, in deren Zentrum die Kontrastkoppelung steht. Wie man sich dieses Verfahrens bedienen soll, steht merkwürdigerweise nicht bei Hogarth, sondern bei Reynolds. Er definierte 1772 den Gipfel der „excellency“ als „assemblage of contrary qualities, but mixed into proportions, that no one part is found to counteract the other.“40 (Wie er selber eine solche ‚assemblage‘ handhabte, zeigt das erwähnte Selbstbildnis). Kontrastkoppelungen verwendete auch Ho-

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race Walpole in seinem Roman The Castle of Otranto (1764). Im Vorwort zur 2. Auflage verteidigte er die Mischung der Genres, also der Höhenlagen, gegen die von Voltaire geforderte Stilreinheit unter Berufung auf Shakespeare. Das Nebeneinander der Gattungen baut die Rangstufen ab und bewirkt deren Relativierung. Einen solchen blasphemischen Eingriff in die ästhetische Rangskala nahm Winckelmann vor, als er in einem anonymen ‚Sendschreiben‘ augenzwinkernd behauptete, auch der Karikatur gebühre der Rang einer Formerfindung, ahme sie doch nicht nach, sondern gehe, wie die Künstler des Idealschönen, über die Grenzen der gemeinen Natur hinaus.41 Winckelmann riskiert einen Gegenblick, wohl weil er verspürt, dass sich im respektlosen Zerrbild das negative Pathos einer neuen Gegenkunst ankündigt, die mittels der Verhässlichung dem Idealschönen die Autorität bestreitet. Was für Winckelmann ein provozierender Scherz war, gewann im Denken von Edmund Burke das Gewicht eines Paradigmenwechsels. Seine Enquiry into the Origins of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757) nimmt für das Erhabene Partei. Das Schöne, auf Vollkommenheit, Proportion und Nützlichkeit fixiert bzw. eingeengt, ist für ihn bloß eine gesellige Qualität (a social quality), reicht also nicht an die Erlebnisse heran, die Burke erhaben nennt und sowohl dem Dunkel, der Unendlichkeit und dem Grenzenlosen in der Natur als auch Elementarereignissen wie Überschwemmungen, Stürmen und Feuersbrünsten zuschreibt. Wie im Bathos-Stich von Hogarth wird hier das Weltende beschworen, ohne dass ein strafender Gott dazwischen träte. Burke geht nicht nur den Impulsen von Angst und Schrecken nach, er koppelt sie zu einem Zwitter, den er „delightful horror“ nennt.42 Wonniges Entsetzen ergreift uns, wenn wir unserer Ohnmacht angesichts einer Natur bewusst werden, die uns nicht zur Kenntnis nimmt. Der Zwiespalt, den das wonnige Entsetzen enthält, ist eine weitere Spielart der contrary qualities, deren Vermischung Reynolds empfahl. Das Entscheidende über diese schwankende Ambivalenz hat Schiller gesagt. Schon Burke setzte der Orientierung (sprich: Vertrauensbeziehung), die das Schöne bietet, die Desorientierung (Entfremdung) entgegen, die das Erhabene verursacht. Das Schöne suggeriert die Permanenz eines Paradieses, das Erhabene vertreibt uns daraus. Demnach ist es für Schiller ein „gemischtes Gefühl“. „Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als Schauer äußert, und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen kann und ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von feinen Seelen aller Lust doch weit vorge-

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zogen wird.“ Schiller schließt angesichts dieser beiden „widersprechenden Empfindungen“, „daß folglich zwei entgegengesetzte Naturen in uns vereinigt sein müssen…“.43 Diese gegengesetzten Naturen, füge ich hinzu, sind gleichzeitig entgegengesetzten Empfindungen zugänglich. Stellen wir uns ein Koordinatensystem vor, innerhalb dessen das zwiespältige Pathos der Moderne seine dialektischen Mischungen vornimmt. Die Inhalte bzw. Orientierungswerte der beiden Achsen wechseln – sie heißen einmal Wonne und Entsetzen, woraus in Clelands Fanny Hill (1749) „a mixture of pleasure and pain“ wird, dann Chaos und Ordnung, dann wieder Abstraktion und Einfühlung usf. Was bleibt, ist die Konstellation, die jedem Punkt (sprich: Kunstwerk) innerhalb des Koordinatensystems zu einem ‚Doppelleben‘ (Goethe)44 verhilft und ihn zu einem Zwitter mit Januskopf macht, der nach beiden Achsen blickt, also gleichzeitig sowohl von der Ordinate als auch von der Abszisse mit Bedeutung versehen wird. Ging es im 18. und 19. Jh. darum, das System des affirmativen, einsinnigen Pathos aufzubrechen und an seine Stelle die offene Syntax der Erprobung, des Widerrufs und des ungewissen, auf kein Ende ausgerichteten Sowohl-Als-auch zu setzen, so verschob sich der destruktivsubversive Impetus der Normenverletzung allmählich aus der Negation in ein Neuland, d. h. von der einträchtigen Zwietracht zur zwieträchtigen Eintracht (Horaz), wo das „Zerschmettern der alten Kunst“ (Schlegel) nicht mehr gefragt war. Im Gegenteil: der paradoxe Wunsch nach einer Quadratur des Kreises (besser: aller Kreise) deutete sich an. Eine solche umfassende Landnahme kündigte schon Flauberts grande synthèse an, die alle Verlangen (appétits) der Phantasie und des Denkens auf einmal befriedigt.45 Es geht um Synthesen, die jedoch weder Eindeutigkeit (Unverrückbarkeit) noch Finalität anstreben. Ich greife einige exemplarische Systementwurfe heraus, die das belegen. Sie stammen von Kandinsky, Schwitters, Duchamp und Breton. In ihnen verdichten sich die weitreichenden Denkenergien und Gestaltungsambitionen der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Was Kandinsky 1911/12 in seinen Schriften konzipiert, ist der Versuch, alle Gegensätze und Antinomien aufzuheben: Konsonanz und Dissonanz, Entblößung und Verschleierung, Anarchie und Ordnung, Realistik und Abstraktion. Folglich sind die große Realistik und die große Abstraktion komplementäre Gegensätze – zwei Pole, zwischen denen „viele Kombinationen der verschiedenen Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen“46 liegen. Wohlgemerkt: Kombinationen,

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die einen offenen Dialog führen, also kein Ideal als Synthese anstreben. Denn Kandinsky weiß, dass die ideale Waage, auf der früher das Abstrakte sich mit dem Gegenständlichen verband, zerbrochen ist. Was er anstrebt, ist anders beschaffen: „Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie.“47 Es ist eine horazische Harmonie, die ihren Widerruf als Möglichkeit in sich trägt. Paul Klee nahm das Stichwort Gegensatz vorweg, als er 1902 in sein Tagebuch schrieb: „Die Gegensätze versöhnen zu können! Die Vielseitigkeit auszusprechen mit einem Wort!“48 Diesem Ziel verschreibt er sich. 1917 heißt es: „Neues bereitet sich vor, es wird das Teuflische zur Gleichzeitigkeit mit dem Himmlischen verschmolzen werden, der Dualismus nicht als solcher behandelt werden, sondern in seiner komplementären Einheit. […] Denn die Wahrheit erfordert alle Elemente zusammen.“49 Und schließlich mündet dieses Wunschbild in die berühmte Formulierung des Jenaer Vortrags von 1924: „Manchmal träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet.“50 Damals realisierte Kurt Schwitters seine Variante eines solchen Traums im MERZ-Bau, und Marcel Duchamp arbeitete an seinem Großen Glas (Abb. 5), diesem opus magnum, vom dem ich meine, dass es Kandinskys Gedanken in ihrer ganze Breite und Tiefe veranschaulicht. Man kann das auf eine direkte Anregung zurückführen. Im Sommer 1912 hielt sich Duchamp etwa zwei Monate lang in München auf. Seine Exemplar von Kandinskys Über das Geistige in der Kunst enthält viele Anstriche und Wortübersetzungen, die zeigen, dass er den Text mit Hilfe eines Wörterbuchs durchnahm. Le Grand Verre, das große Glas mit dem kryptischen Titel Die Braut, von ihren Junggesellen entblößt, sogar kann als revozierte Kopulation des großen Abstrakten mit der großen Realistik gelesen werden. Die ‚Braut‘ schwebt organisch-amorph am oberen Rand des Glases, ihre Junggesellen sind mechanisch-organische Zwitter, von Apparaten gesteuert, die ihre Funktionen nicht preisgeben. Für Duchamp handelte es sich „um eine Art Erfindung einer mir eigenen Braut, ein neues Menschenwesen – halb Roboter, halb vierdimensional.“ In dieser rätselhaften Formulierung treffen, wie Jean Clair51 gezeigt hat, mehrere Ebenen bzw. Lesarten zusammen. Da ist die metaphysische Ebene, derzufolge die Braut eine Art Himmelfahrt erlebt, da ist die Dimension des kosmischen Eros und schließlich eine okkulte Ebene – alles von Duchamps Ironie gebrochen. Hatte er bisher die Synthese der Geschlechter mit aphoristischem Witz betrieben – Mona Lisa mit dem Schnurrbart; sein

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Abb. 5: Marcel Duchamp, Das Große Glas, verschiedene Materialien, 1915-23, Philadelphia, The Philadelphia Museum of Art

von Man Ray photographiertes Porträt als Rrose Selavy – so griff er nun zu einer komplexen, gleichwohl offenen Summe seines Formenrepertoires und verhalf den Gestalthöhen zu einem transitorischen Doppelleben. Dieses teilt sich auch in der Doppelansichtigkeit des Objekt-Bildes mit: Vorder- und Rückseite stehen für den Betrachter zur Wahl. Zudem bietet der jeweilige Umraum Hintergründe, die an unserer Wahrnehmung mitwirken. Dem Kontext fällt ein entscheidender Beitrag zu. Die Suche nach einer offenen, dialektischen Synthese wurde damals am eifrigsten von André Breton betrieben. Er wollte damit den geistigen Führungsanspruch seines Surrealismus-Konzeptes anmelden. Im 2. Manifest des Surrealismus (1930) verkündete er urbi et orbi: „Alles lässt uns glauben, dass es einen bestimmten geistigen Standpunkt gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und

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Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden. Indessen wird man in den Bemühungen des Surrealismus vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen Standort zu bestimmen… Es leuchtet aber auch ein, dass der Surrealismus kein besonderes Interesse für das hat, was sich neben ihm tut unter dem Vorwand der Kunst oder gar der Anti-Kunst, der Philosophie oder Anti-Philosophie.“52

Abb. 6: André Bretons Atelierwand, verschiedene Materialien, 1922-66, Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou

Bretons Atelierwand (Abb. 6) ist sein Grand Verre, ist sein MERZ-Bau – ein Gebilde im Sinne von Flauberts „harmonie des choses disparates“. Begann die Moderne mit Gesten der Verweigerung und des Verlernens, so büßten diese Strategien, je mehr sie expandierten, ihre aggressiv-innovative Schärfe ein und wurden zu einer neuen Umgangssprache. „Die erschwerte Form“ (Šklovskij)53 verlor das exklusive Pathos, das jedem Initiationserlebnis eigentümlich ist. Ich spreche nicht von den Entschärfungen und Kompromissen, die diesem Prozess nicht erspart blieben – diese Intensitätsverluste stehen auf einem andern Blatt der Geschichte, das ich heute und hier nicht aufschlagen kann. Mir geht es darum, dass der Statusgewinn eine Akzentverschiebung mit sich brachte: aus der einträchtigen Zwietracht wurde eine zwieträchtige

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Eintracht, wie die Ambitionen von Duchamp, Breton, Schwitters und Kandinsky demonstrieren. Sie tragen indes nicht die Vorzeichen einer pristinen Neuheit, eines Neuen Menschen, sondern verweisen das sog. Projekt der Moderne in die Bezirke der ideologischen Wunschbilder. Konsolidiert trat die Moderne folgerichtig in das Kontinuum größerer geschichtlicher Zusammenhänge ein. Heute sehen wir, dass im gespaltenen Pathos zwar ein Bruch vorliegt, doch in diesem Bruch kündigt sich zugleich der Rückbezug auf uralte Problemfelder und Orientierungsmuster an. Es sind solche, die sich mit dialektischen Mehrsinnigkeiten befassen und dafür ambivalente Erklärungsfiguren anbieten. Das Wort von Marx, in unserer Zeit sei alles mit seinem Gegenteil schwanger, ist ebenso richtig wie erweiterungsbedürftig, denn es reklamiert für ‚unsere Zeit‘ ein Denkmodell, das eine lange Geschichte hat. Ob es sich um die ‚zwieträchtige Eintracht‘ (concordia discors) handelt, die Horaz dem Wirken der Naturkräfte bescheinigt, oder um die mann-weiblichen Zwitter, die Platon im Gastmahl beschreibt – in solchen mythischen Selbstumarmungen steckt bereits das ‚Doppelleben‘, für das Goethe der deutschen Sprache das Wort erfand und das heute noch (wir sahen es bei Duchamp) als Möglichkeit vorgestellt wird. Das schließt das Stimulans des Selbstwiderspruchs ein, der sich in der Figur des Umkippens bzw. Umschlagens äußert. Erasmus spielt darauf im Lob der Torheit an, wenn er sagt, „alles im Leben habe zwei verschiedene Seiten … wie die Silene des Alkibiades.“54 Das bezieht sich auf die zu öffnenden Spottfiguren aus Ton, die im Innern Götterfiguren verbergen. Mit ihnen wird Sokrates im Gastmahl verglichen, da hinter seiner äußerlichen Hässlichkeit die inwendige Vernunft steckt. Dieser Scherz entkräftet vorwegnehmend das naive Credo der Lavaterschen Physiognomie, demzufolge „jeder Teil ein Spiegel des Ganzen ist“55, folglich hinter hässlichen Zügen eine hässliche Seele wohnt. Ein Zeitgenosse des Erasmus von Rotterdam, der italienische Humanist Pico della Mirandola, sah die Schönheit als ein aus Gegensätzen zusammengefügtes Gebilde. Harmonia, die Tochter von Mars und Venus, „est discordia concors“.56 Ich breche hier ab. Indem die Moderne dem kategorischen Entweder-Oder das Sowohl-Als-auch vorzieht und mittels Brechungen und Entfremdungen anschaubar macht, gibt sie nicht nur den Standpunkt preis, der nur widerspruchsfreie Bejahungen oder Verneinungen kennt, partizipiert sie nicht nur an mythischen Welterklärungen, sondern auch an Denkmodellen, deren sich die zeitgenössischen Naturwissenschaften bedienen. Das besagen zwei Schlüsselbegriffe aus der Physik: die

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von Heisenberg beobachteten „Unbestimmtheitsrelationen“ und die von Niels Bohr in die Diskussion eingebrachte „Komplementarität“.57 Heisenberg versuchte, zwei Seiten der Quantenmechanik begrifflich zu fassen: die Vorstellung der Welle und der Teilchen, die beide zusammen gleichberechtigt eine vollständige Beschreibung des atomaren Geschehens ergeben. Komplementarität besagt, dass wir ein und dasselbe Geschehen mit zwei verschiedenen Betrachtungsweisen erfassen können… „Erst durch das Nebeneinander der beiden widersprechenden Betrachtungsweisen wird der anschauliche Gehalt des Phänomens voll ausgeschöpft.“58 Dieser Gehalt gründet in Unbestimmtheitsrelationen. Ihre unauflösbare Ambivalenz trägt die Pathosformeln der Moderne – bis hin zu den Grandes Synthèses.

Anmerkungen Meine Überlegungen stützen sich auf Argumente, die ich nicht zum ersten Mal verwende; vgl. Werner Hofmann, Die Malerei im Rückspiegel, München 1998. 1. Klaus Lankheit, Das Triptychon als Pathosformel, Abh. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-histor. Klasse, 4, Heidelberg 1959, 13–14. 2. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 201. 3. Vgl. Das Nymphenfragment, in: Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1981, 141 ff. 4. Gustave Flaubert, Correspondance, II, Edition de la Pléiade, Paris 1980, 283. 5. Ebd. 6. Gustave Flaubert, Correspondance, I, Paris 1973, 328. 7. Ebd., 24. 8. Flaubert [Anm. 4], S. 283. 9. Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963, 178. 10. „Die Schönheit ist eine Art Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl, einer besonderen Beziehung und Anordnung ausgeführt wurde, wie es das Ebenmaß, das heißt das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordert“; L. B. Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hg. v. Max Theuer, Leipzig-Wien 1912, unveränderter Nachdruck, Darmstadt 1975, 492. 11. Italienische Reise, Rom, 6. September 1787, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gesammelte Werke, Bd. 11, Autobiografische Schriften III, München 1982, 395. 12. Historische Fragmente aus dem Nachlass, in: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Albert Oeri und Emil Dürr, Stuttgart 1929, S. 369. Im analogen Band der neuen Werkausgabe (hg. v. Peter Ganz) sind diese Fragmente nicht enthalten. 13. Assunto [Anm. 9], 152. 14. Hans Holländer, Ars inveniendi et investigandi. Zur surrealistischen Methode, Wallraf-Richartz-Jahrbuch, XXXII, 1970, 193 ff.

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15. Ernst H. Gombrich, Zum Werke Giulio Romanos, in: Jahrbuch der Kunsthistorische Sammlungen in Wien, NF VIII, 1934, 79 ff. und IX, 1935, 121 ff. 16. Verfremdungseffekt in den erzählenden Bildern des älteren Breughel, in: Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, II, Frankfurt a. M. 1967, 86 ff. 17. Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Kunst, hg. v. Ernst Beutler, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 13, Zürich 1954, 48. 18. Jenseits von Gut und Böse, 289; in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München und Berlin/New York, 2. Aufl. 1988, Bd. 2225, 234. 19. Edgar Wind, The Revolution of History Painting, in: Journal of the Warburg Institute, II, London 1938/39, 116 ff. 20. Vgl. Wolfgang Kemp, Die Beredsamkeit des Leibes, in: Städel-Jahrbuch N. F. 5, 1975, 111–134. 21. Menschliches, Allzumenschliches, II, Vermischte Meinungen und Sprüche, 113, in: Nietzsche, Werke [s. Anm. 18], Bd. 2222, 424. 22. The Works of Sir Joshua Reynolds, I, London 1797, 342. 23. Ebd., 80. 24. Goethe [Anm. 17], 201 ff., bes. 250. 25. Ebd. 26. Ebd., 251. 27. Ebd. 28. Ebd. 29. Ebd., 222. 30. Diderot, Salon de 1763, in: Ders., Œuvres, hg. v. Laurent Versini, Bd. 4 Esthétique – Théâtre, Paris 1996, 236–290, hier 264. 31. Diderot, Traité du Beau, in: Ders., Œuvres, hg. v. Laurent Versini, Bd. 4 Esthétique – Théâtre, Paris 1996, 81–112, hier 102 f. 32. Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, III, München 1994, 533 ff. 33. Ebd., 265. 34. S. Anm. 11. 35. Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München o. J. (1956), 104 ff., hier: 115–120. 36. Eine eindringliche, gleichwohl verkürzte Deutung gibt Hans Sedlmayr in dem Aufsatz W. H., Das Testament der Zeit, in: Epochen und Werke, III, Mittenwald 1982, 213 ff. – Ich folge der m. W. sorgfältigsten Untersuchung des Blattes von Berthold Hinz im Ausst.-Kat. William Hogarth, Berlin 1980, Kat. Nr. 135. 37. Immanuel Kant, Werke, Wiesbaden 1960, IV, 180 f. 38. Hinz, in: Ausst.-Kat. Berlin [Anm. 36], S. 204. 39. Schlegel [Anm. 35], 119. 40. Ebd., 80. 41. Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe, hg. v. Wilhelm Senff, Weimar 1960, 70. 42. Edmund Burke, A philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757), ed. by J. T. Boulton, London 1958, 73. 43. Friedrich Schiller, Über das Erhabene, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V, Philosophische Schriften. Vermischte Schriften, München 1968, 215–230, hier 218 f. 44. Goethe prägte das Wort in seinem Aufsatz über Cäsars Triumph von Mantegna, 1823, in: Schriften zur Kunst [Anm. 17], 921 ff. Er schreibt darin das Doppelleben einem Zwiespalt zu, dem es nicht gelingt, „das Entgegengesetzte völlig zu vereinigen.“

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45. Flaubert [Anm. 4], 283. 46. Wassily Kandinsky, Über die Formfrage, in: Ders., Essays über Kunst und Künstler, hg. v. Max Bill, Bern 1955, 3. veränderte A. 1973, 17–47, hier 27. 47. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1912), Neuausgabe BernBümpliz 1952, 109. 48. Paul Klee, Tagebücher 1898–1918, hg. v. Paul-Klee-Stiftung/Kunstmuseum Bern, Stuttgart/Teufen 1988, 123. 49. Ebd., 439. 50. Paul Klee, Vortrag in Jena, 26. Januar 1924, in: Paul Klee in Jena. Der Vortrag, Ausst.Kat., Stadtmuseum Göhre, Jena 1999, 47–69, hier 69. 51. Jean Clair, Marcel Duchamp ou le grand fictif, Paris 1975, 145 f. 52. André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek b. Hamburg, 2. Aufl. 1977, 55. 53. Viktor Šklovskij, Die Kunst als Verfahren, in: Texte der russischen Formalisten, hg. v. Jurij Striedter, München 1969, 3 ff., bes. 15. 54. Erasmus, Lob der Torheit, Reclam 1907/08, Stuttgart 1964, 33. 55. Lichtenberg [Anm. 32], 201. 56. Dazu Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1981, 104. 57. Werner Heisenberg, Die Teile und das Ganze, München 1969, 113 f. 58. Ebd.

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Schrecken und Erhabenheit Mündigkeit, Selbstgefühl und das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts Winfried Wehle hat kürzlich die „Pathogenesis menschlichen Selbstbewusstseins“ mit der Paradiesgeschichte beginnen lassen, um sie historisch für die französische Romantik fixieren zu können. Der Sündenfall gibt mit Bewusstsein, Emanzipation und Autonomie zugleich Dezentrierung, Schmerz und Sterblichkeit: „Waren Adam und Eva vorher unbewusst glücklich – jetzt sind sie bewusst unglücklich.“1 Die Einsicht des christlichen Mythos wird, arbeitet Wehle heraus, von der historischen Erfahrung des späten 18. Jahrhunderts überboten: Der Kulturschock der Französischen Revolution trennt das Gegenwartsempfinden vom Rumpf der Tradition, wodurch der Einzelne gleichermaßen frei wie leer zurückgelassen wird. Ihm ist auferlegt, das Maß des Objektiven nunmehr selbst zu erzeugen. Die ‚Nullpunkterfahrung‘ der Revolution zwingt zur steten „autogenen Neugeburt“.2 Eine solche Selbstbegründung ist ein bodenloses Unternehmen. Wehles doppelter Bezug auf die Vertreibung aus dem Paradies und das Bewegungsgesetz revolutionärer Abstoßung verunklart jedoch, ob der ‚Verlust der Mitte‘ (Hans Sedlmayr) und die daraus folgende tragische Anthropologie ein ewiges, immer schon mythisches oder ein historisch situierbares Ereignis gewesen ist. Nachparadiesische und moderne Anthropologie, die in der ‚pathogenen Subjekterfahrung‘ übereinkommen, erscheinen eigenartig zeitlos. Die Zweideutigkeit, mit der Wehle dem modernen Selbst die „pathogene Indikation“3 stellt, teilt er freilich mit jenen, denen sein literaturgeschichtliches Interesse gilt. Auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts, darauf verweisen etwa Kleists Überlegungen zum Marionettentheater (gedruckt 1810), bedeutet Selbstbewusstsein Schwerpunktverlust, der nur durch erneutes Essen vom Baum der Erkenntnis zu heilen wäre.

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Seit der Frühen Neuzeit wird Selbstbewusstsein freilich von Selbstgefühl supplementiert. „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“4 wird stets schon durch ein empfindsames ‚Das: Ich fühle, muss all mein Fühlen begleiten können‘ ergänzt. Diese gegenüber allen inhaltlichen Bestimmungen des jeweiligen Fühlens indifferente Form des Selbstgefühls soll hier verfolgt werden. Vielleicht lässt sich so eine Wehle vergleichbare Rechnung für das Selbstgefühl aufmachen, um dem pathologischen Preis aufgeklärter Mündigkeit näher zu kommen. Dazu sollen einschlägige Materialien zu den vermischten Empfindungen aus dem Theoriezusammenhang von Erhabenheit und Empfindsamkeit repetiert werden.

1. Descartes Nicht erst im Epochenzusammenhang der sog. Vorromantik wird das cartesianische cogito um ein sentio ergänzt. Herders „Ich fühle mich! Ich bin! –“ oder Bernardin de Saint-Pierres „je sens; donc j’existe“ sind aufgrund ihres kontrafaktischen Descartes-Bezuges immer wieder dazu benutzt worden, den Sensualismus der Aufklärung gegen ihren Rationalismus auszuspielen und die Einheit der Epoche aufzuspalten. Tatsächlich versichert sich jedoch Descartes’ Ich seiner selbst nicht nur durch den Reflexionsakt des ‚ich denke‘, sondern zugleich auch durch ein ‚Vergnügen‘ bzw. eine ‚intellektuelle Freude‘ an der funktionierenden Affektnatur dieses Ich. Auf solche affektive Selbstreferenz stößt René Descartes (1596–1650) bezeichnenderweise im Kontext ästhetischer Wahrnehmung, insbesondere der Affekterregung durch Musik und im Problemkreis tragischer Lust. „La fin de la musique est de plaire, et d’exciter en nous diverses passions. Car il est certain qu’on peut composer des airs qui seront tout ensemble tristes et agréables: et il ne faut pas trouver étrange que la musique soit capable de si différents effets, puisque les élégies mêmes et les tragédies nous plaisent d’autant plus, que plus elles excitent en nous de compassion et de douleur, et qu’elles nous touchent davantage“.5 Wie kann es sein, dass solcher Schmerz rührt und vergnügt? Descartes postuliert eine Metaempfindung, die jede Empfindung, sei sie schmerzhaft oder lustvoll, mit wohlwollender Genugtuung registriert, da diese Zeugnis davon ablegt, dass alles gehörig, d. h. perfekt, funktioniert. Diese selbstreferentielle Instanz, für die Descartes immer neue, d. h. tentative Bezeichnungen („tesmoignage intérieur“, „satisfaction intérieure“, „émotion intéri-

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eure“) findet, macht, „qu’on prend naturellement plaisir à se sentir émouvoir à toutes sortes de Passions, mesme à la Tristesse […]“.6 Jean Deprun hat in diesen Überlegungen Descartes’ zum „plaisir à se sentir émouvoir“ die Grundlegung einer am Modell tragischer Lust entworfenen „esthétique de l’inquiétude“ gesehen und sie über Dubos bis zu Kant („la théorie de la finalité sans fin“) einerseits, Sade und Baudelaire („l’esthétique ténébreuse et frémissante“) andererseits ausziehen wollen.7 Man mag von solchen ideengeschichtlichen Langzeitbögen halten, was man will, bemerkenswert ist, dass das die cartesianische Seele kennzeichnende Prinzip der Beschäftigung („principe d’occupation“), mit dessen Hilfe der gegenläufige Sachverhalt einer „inquiétude agréable“ erklärt wird, jener „ungesättigten Energie“ mitsamt ihrer unsteten, richtungslosen und blinden Betriebsamkeit gleicht, mit der Wehle die „energetische Veranlagung“ des modernen, d. h. pathologischen Subjekts gekennzeichnet hat.8

2. Hobbes und der englische moral sense Thomas Hobbes (1588–1679) hatte Mitte des 17. Jahrhunderts die Vermischung von Lust und Schmerz bei einer Empfindung beobachtet, der er zunächst keinen Namen zu geben wusste. Und zwar beschrieb er im Zusammenhang mit der Neugierde jenes von Lukrez (De rerum natura, II 1–8) ins Spiel gebrachten Phänomen, dass es Menschen Vergnügen bereite, von einer Klippe die Lebensgefahr Schiffbrüchiger oder von einer sicheren Burg aus eine tobende Schlacht zu beobachten. Da der Anblick des Schiffbruchs von den Zuschauern nicht gemieden, sondern gesucht werde, müsse er mit Lust verbunden sein. Hobbes schreibt nun: „Nevertheless there is in it both joy and grief: for as there is novelty and remembrance of our own security present, which is delight; so there is also pity, which is grief; but the delight is so far predominant, that men usually are content in such a case to be spectators of the misery of their friends.“9 Diese Hobbes’sche Erklärung des joy of grief war im 18. Jahrhundert aufgrund eines anthropologischen Paradigmenwechsels unter schweren Beschuss geraten. Die Kritik der auf Egoismus basierenden Theorien Hobbes’ führte zur Moral-Sense-Philosophie, in der Sympathie an exponierter Stelle stand. Der Begriff der good nature war die epochemachende These, mit der Hobbes im 18. Jahrhundert der ‚Fehdehandschuh‘10 hingeworfen wurde.

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In seinem Essay Of our Attachment to Objects of Distress (1751)11 versucht Henry Home Lord of Kames (1696–1782) vor allem die Vorstellung zu widerlegen, dass Schmerz und Lust, d. h. Mangel und Bedürfnis, als ausschließliche Antriebe menschlichen Handelns in Betracht kommen sollen. Ein solches Menschenbild sei „imperfect“.12 Vor allem führt Home die Empfindungen Trauer („distress“), Kummer („grief“) und Mitleid („compassion“) an. Zur Polemik gegen die Psychologie der Selbstliebe scheut Home sich in diesem Zusammenhang nicht, ein geradezu masochistisches Menschenbild auszumalen. Der Mensch sei ein „self-tormentor“, denn er habe „an appetite after pain, an inclination to render one’s self miserable“; ihn treibe „a direct appetite or desire […] after pain“.13 Die Ursache solcher selbstquälerischen Genüsse sieht Home in einem „sympathetic principle“.14 Noch stärker als Blutsbande vereine nämlich „mutual sympathy“ die Menschen untereinander. Die Sympathie sei daher „the great cement of human society“.15 Indem die Sympathie-Lehre der Moral-Sense-Schule die einzelnen Individuen, die der Gesellschaftsvertrag nur als Untertanen und Bürger zusammenschloss, nun auch als Menschen verbindet, ergänzt sie die naturrechtlichen Sozialvertragstheorien um den emotiven Teil. In der Tat präfigurieren sich hier, wie es im Jargon der 70er Jahre des eben vergangenen Jahrhunderts in einem Kommentar zur Empfindsamkeit heißt, „utopische Züge einer emotionalen Kommunikationsgemeinschaft“16 – sozusagen ein Lernziel Solidarität jenseits der Konkurrenz der Warenbesitzer. Denken Sie etwa an die emphatischen Schlusssätze der Rede Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (1784), in der sich Schiller die emotionale Fraternität der im Parkett gerührten Tragödienzuschauer imaginiert: „[…] und seine [des Zuschauers; C. Z.] Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“17 Über die Profilierung der Sympathie als einer mächtigen Antriebskraft des Menschen zu Soziabilität und gegenseitiger Hilfe hinaus, schlägt Home auch eine sympathietheoretische Erklärung des Vergnügens am Traurigsein vor. Zwar seien die sozialen Empfindungen des Mitleids „painful passions“18, doch bringe Schmerz, der durch Sympathie verursacht worden sei, keinen Widerwillen hervor. Im Gegenteil, die Welt sei vielmehr so eingerichtet, dass das Mitleiden unmittelbar mit Vergnügen verschwistert sei: Und zwar installiert Home zur Erklärung dieser emotiven Transsubstantiation von ‚pain‘ in ‚pleasure‘ einen selbstbezüglichen Mechanismus, der ironischerweise zur Selbstliebe zurückfindet, von der uns die Sympathielehre doch wegführen sollte. Die Tatsache, an sich schmerzhaftes Mitgefühl am Unglück des Nebenmenschen

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empfinden zu können, bestätigt die Tugend der Mitmenschlichkeit und führt zu einem erhöhten, lustvollen Selbstgefühl. Es findet eine Verschiebung vom Altruismus zum Vergnügen am Altruismus statt. Home schreibt über das Mitleiden mit Unglücklichen: „When we consider our own character and actions in a reflex view, we cannot help approving this tenderness and sympathy in our own nature. We are pleased with ourselves for being so constituted: we are conscious of inward merit; and this is a continual source of satisfaction.“19 Als Selbstgefühl unserer Tugend erscheint das Vergnügen am Unglück anderer als Gratifikation, mit der eine ‚listige Natur‘ Anteilnahme und Mitleiden belohnt. Die Zweideutigkeit der Sympathie-Lehre, „that sympathetic feelings are virtuous, and therefore pleasant“20, wird in ihrer Antwort auf den Lukrezischen Schiffbruchstopos offenbar. Wegen seiner Konfiguration, dass es angenehm sei, von einer Klippe herab den Schiffbrüchigen zuzuschauen, nicht weil man sich am Unglück anderer vergnüge, sondern weil man spüre, von welcher Bedrängnis man frei sei, war Lukrez von den Aufklärern als menschenverachtend geschmäht worden. Auf Lukrez antwortet nun ein empfindsamer Anti-Lukrez. Mark Akenside (1721–1770) – ein philosophischer Lehrdichter im Gefolge Popes mit ästhetisch-psychologischen Themen und seit 1761 einer der Ärzte der englischen Königin – hatte in dem damals vielzitierten Lehrgedicht The Pleasures of Imagination (1744) den Schiffbruchstopos zwar aufgenommen, ihn aber zur Demonstration der wohltätigen Natur des Mitleids ‚umgedreht‘ und neuformuliert. Ich zitiere die Stelle, auf die es mir ankommt, ausführlich, und zwar gleich in einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung: Frag nur das Volk, das, schnellen Laufes, eilt Aus seinen Hütten, wann des Meer’s grausamer Sturm Zerschlägt ein hülflos Fahrzeug an der Küste, Indeß das Mitleid jedes Auge schmelzt, Und jedes Glied von kalter Schreckens Hand Getroffen starrt, das Haar empor sich streubt, Und jede Mutter fester an den Busen Den Säugling schließt, und hinblickt, wo die Welle Durch das zerbrochene Fahrzeug schäumt, wo hier Ein arm Geschöpf trostlos die Arm’ emporstreckt, Um Hülfe ängstlich schreyt, indeß die Wogen Mit Brüllen es verschlingen, dort ein andrer Am Fels zerschmettert in den Abgrund sinkt. – O! schätzest Du da nicht die süße Wonne, Die die Natur in dieses bange Schrecken Und in des Mitleids stille Thräne goß?

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Nicht das Gefühl, das dich so sanft durchströmt, Und mehr, als all’ des Kummers Macht, Dem großen Endzweck der Natur gemäß Zu Thaten die gesell’gen Triebe lenkt?21

Der behauptete ethische Wert des Mitleids wird von der Gier widerrufen, mit der der Dichter den Schiffbruch voller Wonne ausmalt. ‚Thaten‘ werden zwar behauptet, tatsächlich jedoch findet der Dichter nur Bilder für die voyeuristischen Blicke, die die Menge, die aus den Dörfern zusammengelaufen ist, von sicherer Höhe hinab auf den Schreckensort wirft. Schwerlich wird man die heutigen Autobahnschlangen, die sich auf der rechten Spur bilden, weil sich auf der linken ein Unfall ereignet hat, als Zeichen gemeinschaftlicher Solidarität missdeuten wollen.

3. Diderot Denis Diderot (1713–1784) ergänzt seine Schönheitslehre (1751) und seine Mitleidsdramaturgie des genre sérieux (1757/58) bekanntlich22 unter dem Eindruck Edmund Burkes um eine Ästhetik des grand goût, in der mit der Kategorie des Erhabenen Schrecken, Schmerz und Tod in der Kunst präsent gehalten werden. Diderots Bewunderung für erhabene Landschaften und schreckliche Schiffbrüche ist vor allem in den Ausstellungsbesprechungen des Salons von 1767 greifbar. Darin geht er mit dem Maler Joseph Vernet auf einen imaginären Spaziergang durch sieben auf Steigerung hin angelegte Landschaftstypen. Zuletzt steht Diderot auf der Klippe Lukrez’. Im 18. Jahrhundert ist das von Lukrez entworfene ‚setting‘ immer wieder diskutiert und gemalt worden (Abb. 1). Gestaltet ist eine in mehrfacher Hinsicht asymmetrische Situation: Die einen sind in Not, die anderen in Sicherheit, die Lage der einen ist schmerzhaft, die der anderen lustvoll, die einen sind drunten im Meer, die anderen stehen oben auf der Klippe – man könnte auch sagen: die oben sind über die unten erhaben. Darin besteht die ‚Süße‘ der Situation. Die Lust, die der Blick auf die Schiffbrüchigen bereitet, bezieht Lukrez nicht auf die Not der Mitmenschen, sondern auf das Selbstgefühl des Zuschauers. Zurück zu Diderot: Zitiert sei die Passage, in der Diderot das grausame Geschehen der Schiffbruch und (See-) Schlacht überblendenden Szene zielsicher auf rhetorische Wirkung hin anlegt und mittels Vergegenwärtigung – seit Pseudo-Longin Figur des Erhabenen – vor Augen

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Abb. 1: Claude-Joseph Vernet, Der Sturm, Öl/Lw., 1752, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

stellt. Diderot überblendet vermutlich zwei im Salon 1767 ausgestellte Seestücke Loutherbourgs, Combat sur mer und Tempête (Abb. 2 und 3):

Abb. 2: Philippe-Jacques de Loutherbourg, Seegefecht, Öl/Lw., 1767, Stockholm, Nationalmuseum „Ich sah oder – ganz wie Sie wollen – glaubte zu sehen, wie ein weites Schiff sich vor mir auftat. Ich war am Ufer bestürzt bei dem Anblick eines brennenden Schiffes. Ich sah, wie die Schaluppe sich dem Schiff näherte, wie sie sich mit Menschen füllte und wie sie sich entfernte. Ich sah auch, wie die Unglücklichen, die die Schaluppe nicht mehr hatte auf-

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Abb. 3: Philippe-Jacques de Loutherbourg: Sturm, Öl/Lw., 1767, Stockholm, Nationalmuseum nehmen können, auf dem Oberdeck des Schiffes hin und her liefen und Schreie ausstießen. Ich hörte ihr Geschrei, ich sah, wie sie sich in die Fluten stürzten, auf die Schaluppe zuschwammen und sich an ihr festhielten. Ich sah, wie die Schaluppe dem Untergang nahe war. Sie wäre untergegangen, wenn die Insassen – o furchtbares Gesetz der Notwendigkeit! – nicht den anderen die Hände abgehauen, den Schädel gespalten, das Schwert in die Kehle und in die Brust gebohrt hätten, wenn sie nicht unbarmherzig Wesen ihresgleichen getötet und die Reisegefährten niedergemacht hätten, die ihnen an den Seitenwänden der Schaluppe aus der Flut vergeblich flehende Hände entgegenstreckten und ihnen Bitten zuschrien, die nicht erhört wurden. Ich sehe noch deutlich einen dieser Unglücklichen; ja ich sehe ihn. Er hat einen tödlichen Stich in die Seite bekommen. Er treibt auf dem Meer, sein langes Haar ist aufgelöst, sein Blut fließt aus einer klaffenden Wunde. Der Abgrund will ihn verschlingen. Und ich sehe ihn nicht mehr. […] Unterdessen erhellte der Brand des Schiffes die Umgebung. Das furchtbare Schauspiel hatte die Bewohner der Gegend an den Strand und auf die Felsen gelockt; sie wandten ihre Blicke ab.“23

Mögen sich die herbeigelaufenen Zeugen am Ufer auch abwenden, die Leser – wir – sind Zuschauer des Schiffbruchs geworden, den Diderot in überschießender Phantasie vergegenwärtigt. Die Abkehrung der Augen der Zuschauer ist die rhetorische Geste, die den Autor vom schlechten Gewissen entlastet und die uns – den Lesern – den Blick auf die Schreckensszene freigibt. Ihre dramatische Beschreibung mündet bei Diderot in neue Einsichten über die ästhetische Attraktivität von Schrecken und Erhabenheit. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, die Leser solcher Katastrophenszenen oder die Betrachter vor Vernets Gemälden bildeten eine Gemeinschaft empfindsam kommunizierender Herzen: „L’émotion du spectateur devant la toile de Vernet repose sur l’identification avec les

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victimes. […] Notre gôut pour les spectacles cruels relève, non d’un sadisme viscéral, mais d’un activisme moral.“24 Die hier zitierte Ansicht Michel Delons, dass die Rührung des Zuschauers vor der Leinwand Vernets in eine Identifikation mit den Opfern versetze, teilt allenfalls die heroisch-humanitäre Illusion der Sympathie-Lehre der empfindsamen Aufklärung, einer Analyse der egoistischen Struktur des Mitleids hält sie nicht stand.25 Die sympathische Lesart hält sich treu an den Wortlaut des Textes, sie übersieht jedoch die Geste, die den Blick freigibt, den Text generiert und die ästhetische Phantasie erhitzt. Bereits im 18. Jahrhundert war die ‚Lust an der Macht‘ als der verborgene Nerv der scheinbaren Solidaritätsempfindung der Sympathie bloßgelegt worden. Weit davon entfernt, einen „activisme moral“ zu identifizieren, entdeckt unser Geschmack an den grausigen Schauspielen einen „sadisme viscéral“ (einen, wie Delon es contre cœur sagt, die Eingeweide betreffenden Sadismus). Die empfindsamen Evokationen des Schreckens thematisieren im Kern gerade keinen Bezug auf den Nebenmenschen, sondern eine selbstbezogene Struktur: An der kraftvollen Dynamik der grausigen Szene versichert sich der Betrachter seiner eigenen inneren Kraft, d. h. er macht seine Erhabenheit ‚sich fühlbar‘. Jene „connaissance flatteuse de l’énergie de notre âme“26, derer sich Diderot an den Opfern des Grauens versichert, markiert ein Ich- und kein Fremdgefühl. Es ist der Begriff der connaissance flatteuse, auf den es hier ankommt: Er deckt die selbstreferentielle Struktur auf, die die Lust am fremden Schmerz garantiert. Denn seiner Natur nach, d. h. als Fremdgefühl, ist Mitleid eine unangenehme Empfindung, die erst auf der zweiten, autoreferentiellen Ebene mit der Lust einhergeht, dass wir eine Aktivität in uns verspüren. Das Gerichtetsein dieser Aktivität ist auf dieser Ebene des Ichgefühls sekundär. Nicht wozu Rührung erfolgt, sondern dass Gemütsbewegung überhaupt stattfindet, ist ausschlaggebend: Pathetisches Mitleid ist Stärkegefühl und wird im 18. Jahrhundert auch als solches gesehen. Der Blick auf Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen wird dies bestätigen und zeigen, dass es vom Pathos zur Pathologie nur ein Schritt ist.

4. Mendelssohn Auch bei Moses Mendelssohn (1729–1786) ist es ein Schiffbruch, der mit „schmertzhaftangenehmen Empfindungen“ konfrontiert. Sie zwingen ihn dazu, im Zuge seiner Arbeit an dem Dialog Über die Emp-

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findungen (1755) die Wolffianische Vollkommenheitslehre um Elemente der Dubos’schen Beschäftigungsästhetik auszubauen, wobei Dubos festhielt, dass aller Schmerz angenehm ist, sofern er imstande sei, unerträgliche Langeweile (‚ennui‘) zu vertreiben. Denn dass man das Gemälde eines Schiffbruchs mit Freude betrachte, widerlege, so Mendelssohn, dass Lust nur durch die Vorstellung einer Vollkommenheit erregt werde: „Wie oft hat dich das Gemählde ergötzt, das in dem Cabinette meines Vaters, nicht weit vom Eingange, pranget? Es ist ein Schiff, dem von allen Seiten her der Untergang drohet. Die schäumenden Wellen stürzen unaufhaltsam auf das zerbrechliche Gebäude los, und eilen es in die Fluthen zu vergraben. Vergeblich arbeiten die Ruderknechte; umsonst rinnt der Schweiß von ihren Gesichtern. Das Schiff wankt. Jetzt wird es umschlagen und in den Abgrund sinken. Wie trostlos ringen alle, die den unvermeidlichen Tod vor Augen sehen, die ermüdeten Hände! Mit welcher Wehmuth küßt dort eine Mutter noch ihren Säugling zum letzten male! Und dieser Anblick gefiel dir […]? Du nanntest ihn schön? – Es ist wahr, du bewunderst die Meisterhand, welche die Natur so geschickt nachzuahmen wußte. Allein war dieses alles? Gestehe es […]! Du würdest dich weniger ergötzt haben, wenn die Gefahr nicht auf das höchste abgebildet worden wäre. Es ist nicht mehr die schöne Natur; nein! die furchtbare, die schreckliche Natur. Und du findest Wohlgefallen an ihr? Sollte dich das traurige Andenken nicht entsetzen, dass die Menschen solchen Unglücksfällen unterworfen sind?“27

Unter Umkehrung des klassizistischen Leitbegriffs der ‚schönen Natur‘ (Batteux) zur ‚schreckliche[n] Natur‘ wird von Mendelssohn jegliche rationalistische Erklärung des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen abgeschnitten. Die Darstellung lässt weder den Rückzug auf den geschickten Künstler noch auf den alludierten Rezipienten zu. Die Figur der Vergegenwärtigung betont vielmehr als Voraussetzung der Schreckenslust das Vergnügen am lebensweltlichen Schrecken selbst. Damit wäre freilich einer sadistischen Anthropologie, d. h. der Annahme einer „natürlichen Bosheit“ oder einer „natürlichen Schadenfreude“, Tür und Tor geöffnet. In der zweiten Fassung der Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1761, 21771) deutet Mendelssohn das „schauervolle Ergötzen“ als Selbstgefühl, d. h. als Gefühl der eigenen, subjektiven Vollkommenheit. Wie gelingt Mendelssohn die Umfunktionierung negativer Reize in positiv empfundene Rührung? Die beiden Komponenten der vermischten Empfindung werden zerlegt, die Unlust auf den Gegenstand der Vorstellung, die Lust auf die Vorstellung des Gegenstandes bezogen. Die Zerlegung der Empfindung ermöglicht die Unterscheidung, dass das „Nichthaben der Vorstellung“ und das „Nichtseyn des Gegenstandes“ zweierlei sind. Die Vorstellung auch ei-

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nes schrecklichen Geschehens hat „als Bestimmung der Seele etwas Angenehmes“, obwohl sie als „Bild des Gegenstandes von Mißbilligung und Widerwillen begleitet wird“.28 Die Vorstellung einer objektiven Unvollkommenheit ist demnach eine subjektive Vollkommenheit. Die Schreckenslust mit ihrer selbstreferentiellen Struktur erweist sich als ein Selbst- und Lebensgefühl, mit dem wir uns unserer kognitiven Vermögen versichern.

5. Popularästhetiker – Schlosser und Große Mendelssohns Analyse ist für die Spätaufklärung bis hin zu Kants Kritik der Urteilskraft (1790) prägend geworden. Die von ihm herausgearbeitete Auffassung, in der die Struktur der vermischten Empfindung auf ein Selbstgefühl unserer eigenen Vermögen zurückgebogen wird, erklärt die Bejahung des negativen Grundes des Erhabenheitsgefühls. Die entscheidende Verinnerlichung und Subjektivierung des Erhabenen zu einer „bloße[n] Selbstaffektation der Vernunft“29 vollzieht sich nicht erst bei Kant, sondern bereits im Rahmen der Theorie der vermischten Empfindungen, d. h. bereits bei Popularphilosophen bzw. Popularästhetikern in der Nachfolge Mendelssohns, für die hier stellvertretend der Sturm und Drang Autor Johann Georg Schlosser (1739–1799) und der Schauerromancier Carl Große (1768–1847) angeführt seien. Versuche, das literaturtheoretische Gedankengut aus dem Zeitraum zwischen 1768 und 1778 zu einer Poetik des Sturm und Drang zu kondensieren, machen vor allem zwei Paradigmen geltend – Genie und Leidenschaftserregung. Durch den Geniebegriff wird die Auffassung vom künstlerischen Produktionsprozess von der Seite der Kunstfertigkeit und Regelkenntnis (techne) auf die Seite der ‚sensitiven Erkenntniskräfte‘ des Gefühls und des Herzens (Enthusiasmus) verschoben. Shaftesburys Diktum „Such a poet is indeed a second maker; a just Prometheus under Jove“ promoviert den Künstler sowohl zum „Schöpfer“ als auch zum „Rebell“.30 Das Genie ist Kraft und Energie, d. h. mit Begriffen besetzt, die zu den zentralen Definitionskriterien des Sublimen (z. B. power bei Burke) gehören, und die spezifische Affinität von Schrecken und Erhabenheit begründen. Die wirkungsästhetische Rückseite des ‚Kraftgenie‘-Gedankens besteht in der Forcierung des künstlerischen Effekts. ‚Rühren‘, ‚bewegen‘, ‚erschüttern‘, ‚hinreißen‘, ‚überwältigen‘, ‚erhitzen‘, ‚entzünden‘, ‚in Feuer setzen‘ – das sind die Vokabeln, mit der die energetische Wirkungsseite der Sturm und Drang

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Dichtung umschrieben wird. Auch dieses Vokabular stammt aus dem Erhabenheitsdiskurs (seit der Wiederentdeckung Pseudo-Longins durch Boileau). In dieser Tradition finden die Sturm und Drang Autoren den terminologischen Steinbruch zur Artikulation ihrer poetologischen Zielsetzungen. Den wirkungsästhetischen Grundsatz der Pathoserzeugung forciert Schlosser in einem Versuch über das Erhabene, in dem Pseudo-Longins Traktat perì hýpsous, der in Neuübersetzung beigegeben ist, zum Geniediskurs umfunktioniert wird. Die Wirkung des Erhabenen besteht darin, dass eine Empfindung erregt wird, die, wie Schlosser zusammenfasst, „den Menschen seine ganze Energie fühlen macht“.31 Die Zielrichtung dieser fühlbar gemachten Kraft ist dabei gleichgültig. Dass Energie da ist, nicht wofür sie gebraucht wird, ist das Entscheidende: „Die Seele fühlt bey solchen Gegenständen auf einmal ihre ganze Energie: sie fühlt sich wärmer, mächtiger, lebendiger, Gott ähnlicher.“32 Wie bei Mendelssohn ist das Erhabene Selbstfühlbarmachung eigener Kraft. Es fließt sozusagen Energie vom Pol des Produzenten zum Pol des Rezipienten, wodurch beide, der Dichter und sein Leser, aufgewertet und zur Gottähnlichkeit erhoben werden. Dass das Erhabene ein Selbstgefühl ist, wird auch in dem Versuch Ueber das Erhabene, den der Schauerromancier Carl Große 1788 publiziert, deutlich. Wieder ist es ein Schiffbruch, der das egoistische ‚Betriebsgeheimnis‘ der empfindsamen Mitleidsethik aufdeckt. Große erkennt, dass es sich beim Mitleid nicht um eine solidarische Empfindung handelt, sondern um einen ethisch neutralen Affekt, der auf Macht beruht. Er gibt daher Lukrez Recht und spricht dem Mitleid den moralischen Wert, den man ihm gewöhnlich hat zubilligen wollen, ab. Bei dieser Empfindung, „die sich so gern in eine glänzende Wolke hüllt“, habe vielmehr „unsere Eigenliebe […] ihre Hand zum [!] Spiele.“33 Es geht hier nicht um Anteilnahme am Anderen, sondern um die „Erweiterung“ des eigenen Empfindungsvermögens – und diese Erweiterung ist mit einer „Art Freude“, d. h. mit „Frohsein“, verbunden. „Kraft“ und „Energie“ sind die wiederkehrenden Stichworte. Die Konfrontation mit Kraft – z. B. in Naturkatastrophen – lässt, wie Große in Vorwegnahme des Subreptionsbegriffs Kants formuliert, eigene „Seelenkräfte“34 spürbar werden. Erhaben ist nicht die Kraft, die mir entgegentritt, erhaben ist vielmehr die Kraft, die angesichts jener in mir selbst rege wird, wächst und anschwillt. Große hält fest, dass die Empfindung des Erhabenen „keinem Gegenstande“ anhängt, d. h. kein Objekt, sondern ein Subjekt bezeichnet: „[…] das heist: das Erhabene

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würkt nicht […] von außen […], sondern durch eine ganz eigene Operation; durch die Veranlassung einer besonderen Handlung der Seele, durch die Erweiterung.“35 Das Erhabene ist das „Gefühl der Seelenenergie“36, „Bewustseyn würkender großer Kräfte“37 bzw. „Selbstgefühl ungebundener Kräfte“38 – Große schwankt, ob die Selbstreferenz kognitiver Vermögen auf der reflexiven oder sensitiven Ebene anzusiedeln ist. In einem kurzen Aufsatz, der im gleichen Jahr wie Kants Kritik der Urteilskraft erschien, fasst Große präzise seine Überlegungen zur Verinnerlichung der Kategorie des Erhabenen zusammen: „Die Quelle der Größe bin ich selbst, ist mein Selbstgefühl.“39

6. Der destruktive Überschuss dieses Selbstgefühls – Moritz und Büchner Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen bietet das allgemein akzeptierte psychologische Grundaxiom popularphilosophischer bzw. spätaufklärerischer Ästhetik und Anthropologie. Innerhalb dieses Kontexts dient das Erhabene dazu, den Menschen „seine ganze Energie fühlen“ zu lassen. Die ästhetische „Selbstaffektation“ des „sich fühlen machen“ (Kant), d. h. einer – wie es der Germanist Karl Eibl genannt hat – „Selbstaffirmation der Vernunft“40, geht jedoch in der Balance eines kalkulierten Entgrenzungserlebnisses nicht auf. Eine solche „Selbstaffirmation“, die ein Erregungspotential pflegt, „das auf Entgrenztes verweist, ohne dass es außer Kontrolle gerät“41, könnte „philisterhaft“42 genannt werden. Die ästhetische Selbstfühlbarmachung der Mündigkeit verläuft jedoch nicht statisch-ausbalanciert, sondern dynamisch-progressiv. Sie setzt einen ‚pathologischen‘ Regress in Gang. Wie Auto- und Fremdaggression als Identitätssicherung dient, kann man bei Karl Philipp Moritz (1756–1793) lernen: Im Anton Reiser schildert der Romanautor u. a. eine gestufte, auf Steigerung hin angelegte Szene, in der der Übergang vom kindlichen Kriegsspiel zur lebensweltlichen Aggressionslust dargestellt wird. Ausgangspunkt ist zunächst eine lustvoll ausgemalte autoaggressive Vernichtungsphantasie, in der sich Reiser „mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung“ als gefallener Kriegsheld imaginiert. Dann jedoch vergegenständlicht Reiser die Aggression, insofern er die Schlachtreihen mit Kirsch- und Pflaumenkernen nachstellt, sich als „blindes Schicksal“ geriert und in diese Kirsch- und Pflaumenkern-Armeen mit einem „eisernen Hammer […] Verderben und Zerstörung“

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hineinträgt – „und wen es traf, den traf’s.“43 Überboten wird dieses Spiel jedoch noch durch ein anderes, bei dem Reiser statt Schicksal nun Gott selbst spielt und statt Obstkernen mit dem Hammer Fliegen mit der Klappe totschlägt, und zwar „mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer jeden [Fliege; C. Z.] mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die Totenglocke läutete.“44 Abgeschlossen wird die Erinnerung an dergleichen kindliche Destruktionsspiele, die sich durch einen gewissen Grad von Ästhetisierungsund Ritualisierungswillen auszeichnen, durch eine abermalige Steigerung, in der die Sprengung des bloß ludizialen Rahmens, die die Aggressionslust bisher eingehegt hatte, zumindest angedeutet wird: „Das allergrößte Vergnügen machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen, und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte. / Ja als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er bei allem Schreck eine Art von geheimem Wunsche, dass das Feuer nicht so bald gelöscht werden möchte.“45 Während das Kirschkernspiel den Positiv, das Fliegenspiel den Komparativ und das Papierhäuserspiel den Superlativ innerhalb eines spielerisch gerahmten und dadurch kontrollierten Aggressionspotentials signifizieren, markiert das ‚Ja‘ den Schnitt, der Spiel von Ernst trennt und das Potential in Realisierung umschlagen lässt. Die neuere Moritzforschung hat im Blick auf die hier zitierten „Zerstörungsspiele[n]“ von einem „bedenklichen Aspekt“, ja von einem „bedenklichen, pathologischen Zug“ in Moritz’ Charakter gesprochen.46 Komplementiert wird die Freude an der Fremdaggression durch autoagressive Schmerzlust: Die entscheidenden Bildungserlebnisse, die der Autor des Anton Reiser erinnert, beziehen sich auf identitätsstiftende Algolagnie, d. h. Schmerzlust, an eigener und fremder Vernichtung. Die Lektüre eröffnet Reiser nicht nur eine neue Welt. Der mit der Lektüre einhergehende Genuss entschädigt Reiser nicht nur für das Unangenehme der wirklichen Welt. Der Lektüregenuss wird überdies mit autoagressiven Handlungen begleitet, etwa wenn das Lesen von Gottfried Arnolds Kirchenvätergeschichte zur Mimesis der Altvätermartern selbst Anlass bietet, so dass Reiser „[…] wirklich zuweilen an[fing], sich mit Nadeln zu pricken, und sonst zu peinigen […].“47 Generalisiert wird die „wehmütige[n] Freude“ an „süße[r] Vernichtung“ – vielmals wird die Terminologie vermischter Empfindung, insbesondere des ‚joy of grief‘, durchdekliniert – hinsichtlich des auf der Schwelle zwischen Tag- und Nachttraum lustvoll ausphantasierten, ei-

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genen Todes: „Selbst der Gedanke an seine eigene Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte.“48 Die hier noch religiös, genauer: pietistisch textierte Schmerzlust konditioniert eine masochistische Anlage, bei der Schmerzempfinden zum Signifikanten von Freiheit wird. Beschrieben wird eine winterliche Szene aus Reisers Lehrburschenzeit, wo dessen Hände aufgrund abwechselnden Hantierens mit siedendem und eiskaltem Wasser „aufsprangen, und das Blut ihm heraussprüßte. / Allein statt dass dieses ihn hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr seinen Mut. Er blickte mit einer Art von Stolz auf seine Hände, und betrachtete die blutigen Merkmale daran, als so viel Ehrenzeichen von seiner Arbeit; und solange diese harten Arbeiten noch für ihn den Reiz der Neuheit hatten, machten sie ihm ein gewisses Vergnügen, das vorzüglich im Gefühl seiner körperlichen Kräfte bestand; zugleich gewährten sie ihm eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das er bisher noch nicht gekannt hatte.“49

Jener selbstreferentielle Mechanismus einer ‚connaissance flatteuse de l’énergie de notre âme‘, die von Diderot am Beispiel des literarischkünstlerisch erweckten Pathos herausgestellt worden war, ist hier ganz lebensweltlich gefasst. Die ‚blutigen‘ Handmale verweisen nicht mehr auf ein transzendentes, christologisches Geschehen, im Zentrum steht bei Moritz vielmehr der Kontext diesseitiger Arbeit, deren schmerzliche Spuren mit einem Selbstgefühl körperlicher Kraft und innerer Freiheit einhergehen. Dass die Selbstzufügung von Schmerz bei der Katatonie als ultima ratio der Ich-Identitätsbewahrung fungiert, hat Georg Büchner (1813– 1837) am Fall von Jakob Michael Reinhold Lenz herauszuarbeiten versucht, wobei die Frage nach der historischen Quellengerechtheit der Büchnerschen Lenz-Erzählung gegenüber ihrem symptomatischen Scharfsinn von niederem Rang ist. Gleich eingangs wird in Büchners Erzählung festgehalten, wie Lenz sich in einem Angstzustand die Haut mit den Nägeln aufritzt: „der Schmerz fing an, ihm das Bewusstsein wiederzugeben“.50 Auf diesen gemeinsamen Nenner ultimativer Selbstfühlbarmachung bringt Büchner die klinische Varietät einer Anzahl autoaggressiver Akte, von denen Oberlin – Büchners Quelle – in dem Tagebuch über Lenzens Aufenthalt im Steintal im Januar 1778 berichtet. Während Oberlin jedoch die unterschiedlichen Arten, mit denen Lenz Gewalt gegen sich wendet, bloß aufzählt51 und sie allenfalls als Indizien von dessen sündhafter „Entleibungssucht“52 nimmt, entdeckt Büchners Erzählung den identitätssichernden Sinn, der die unterschiedlichen

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Formen der Autoaggression verbindet. Die geschilderten Formen der Schmerzzufügung, die im Suizidversuch ihren Paroxysmus finden, dienen dem Zweck einer letzten Selbstfühlbarmachung eines vom Zerfall53 bedrohten Ichs. Sie sind, diagnostiziert Büchner im Fall Lenz, „Versuch[e], sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz.“54 Der „pathologische[r] Egoist“55, hatte Lichtenberg schon früh festgehalten, macht mit der Kehrseite des mündigen Subjekts bekannt. Man kann also in der Moderne nur beides haben: Mündigkeit – und: Neurose. Daher steigt mit der Freiheit in der Moderne auch der Therapiebedarf an.

Anmerkungen Vorstehender Vortrag wurde am 5. Juli 2002 vor dem Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) auf Einladung von Martin Büchsel und Klaus Herding gehalten. Die Ausführungen gehen auf eine Vorlage auf der Tagung anlässlich des 60. Geburtstags von Karl Eibl (München) in Kloster Irsee zum Thema Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert (26. bis 29. Sept. 2000) zurück. 1. Winfried Wehle, Kunst und Subjekt. Von der Geburt ästhetischer Anthropologie aus dem Leiden an Modernität – Nodier, Chateaubriand, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. v. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz, Berlin, New York 1998, 901–941, hier: 903. Wehle betont, dass die Übertretung des Gebots, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, auch von Theologen als emanzipierendes Bestreben des Menschen interpretiert wird, sein Leben autonom und selbstorientiert in der Gewalt zu haben (ebd., 902, Anm. 3). Eine solche Deutung geht auf Nietzsches Geburt der Tragödie, Kap. 9, zurück. 2. Ebd., 915. 3. Ebd., 904. 4. KrV, § 16, B 131. 5. René Descartes, Compendium musicae [frz. Übers. P. Poisson; postum 1668], in: Œuvres philosophiques. 3 vol., publ. par Ferdinand Alquié, Paris 1963–1973, vol. I, 30; zit. Jean Deprun, La philosophie de l’inquiétude en France au XVIIIe siècle, Paris 1979, 68. 6. René Descartes, Die Leidenschaften der Seele [frz. 1649], hg. v. Klaus Hammacher, Französisch-deutsch. Hamburg 1984, Art. 94, 146. 7. Deprun [Anm. 5], 76. 8. Wehle [Anm. 1], 918 f. Gewährsmann für Wehles energetische Auffassung des modernen Subjekts ist Michel Delon, L’idée d’énergie au tournant des lumières, Paris 1988. 9. Thomas Hobbes, Tripos; in Three Discourses: I. Human Nature, or the Fundamental Elements of Policy, in: The English Works of Thomas Hobbes, ed. by Sir William Molesworth, Vol. IV, London 1840, Chap. IX 19, 51 f. 10. Rudolf Sühnel, Tränen im empfindsamen Roman Englands: ›Handkerchiefly feeling‹ bei Richardson, Sterne, Mackenzie, in: Das weinende Säkulum, Heidelberg 1983, 61– 71, hier: 62.

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11. Henry Home, Of our Attachement to Objects of Distress, in: Ders., Essays on the Principles of Morality and Natural Religion [1751], The Second Edition, London 1758. Reprint Hildesheim, New York 1976, 1–21. 12. Ebd., 10. 13. Ebd., 9 f. 14. Ebd., 10. 15. Ebd., 11. 16. Empfindsamkeit. Theoretische und kritische Texte, hg. v. Wolfgang Doktor, Gerhard Sauder, Stuttgart 1976, Nachwort, 197–216, hier: 203. 17. Friedrich Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962, 87–100, hier: 100). 18. Home [Anm. 11], 16. 19. Ebd., 11 f. 20. Thomas Barnes, On the Pleasure which the Mind in many Cases receives from Contemplating Scenes of Distress, Read April 3, 1782, in: Memoirs of the Literary and Philosophical Society of Manchester 1 (1785), 144–158, hier: 153. Eine deutsche Übersetzung erschien 1787 von Christian Victor Kindervater (1758–1806), Über das Vergnügen, welches die Seele in manchen Fällen bei der Betrachtung trauriger Scenen empfindet. Aus dem Engl. des Hrn. T. Barnes, in: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt 5 (Leipzig 1787), 117–135. Wiederabgedruckt in: Beiträge zur Beruhigung und Aufklärung über diejenigen Dinge, die dem Menschen unangenehm sein können, und zur näheren Kenntniß der leidenden Menschheit (Leipzig 1789), 2. St., 223–251. 21. Barnes 1787 [Anm. 20], 128. 22. Vgl. Gita May, Diderot and Burke, A Study in Aesthetic Affinity, in: PMLA 75 (1960), 527–539. 23. Denis Diderot, Salon de 1767, in: Ders., Œuvres complètes, ed. by Herbert Dieckmann, Jean Varloot, Paris 1975 ff., vol. XVI (1990), 53–508, hier: 230 f. Deutsche Übersetzung nach: Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Übers. Friedrich Bassenge, Theodor Lücke, Berlin, Weimar 1967, Bd. II, 7–217, hier: 118. 24. Michel Delon, Joseph Vernet et Diderot dans la tempête, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 15 (1993), 31–39, hier: 34 und 35. 25. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], Frankfurt a. M. 1971, bes. 92 f. Die ‚Distanzstruktur‘ des Mitleids arbeitet das späte Buch Käte Hamburgers (Das Mitleid, Stuttgart 1985, bes. 106 ff.) heraus. 26. Diderot 1767 [Anm. 23], 197. Die Formulierung geht auf Marivaux zurück, der zwischen einem Vergnügen, das zum Laster beiträgt („que fournit le vice“) und einem Vergnügen, das die Tugend bezeugt, unterscheidet: „Oui, voluptés, c’est le nom que je donne aux témoignages flatteurs qu’on se rend à soi même après une action vertueuse.“ Marivaux, Le Spectateur français (1722/23). Quatrième feuille; abgedr. in: Ders., Œuvres complètes. T. 9, Paris 1781 (Ndr. Genf 1972), 33–43, hier: 42. 27. Moses Mendelssohn, Über die Empfindungen, in: Ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. v. Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, Alexander Altmann, Eva J. Engel-Holland. Berlin, Breslau, Stuttgart-Bad Cannstadt 1929 ff., Bd. I, 41–123 [1. Fassg. 1755], hier: 74. 28. Moses Mendelssohn, Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, in: Jubiläumsausgabe [Anm. 27], Bd. I, 381–424 [2. Fssg. 1771], 383 f.

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29. Gernot Böhme, Hartmut Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983, 224. 30. Dass die Aufwertung des Dichters zum ‚Schöpfer‘ der Vor-Sturm-und-Drang-Generation noch theologische ‚Bauchschmerzen‘ bereitet, belegt Immanuel Jacob Pyra, der sich der Anmaßung einer solchen Begriffsverwendung (der Begriff ‚Autor‘, d. h. Schöpfer, ist am Beginn des 18. Jahrhunderts noch für Gott reserviert) durchaus bewusst ist und sich daher bemüßigt fühlt, sich für diese Redewendung bei seinen (pietistischen) Glaubensgenossen zu entschuldigen: „Die Begebenheiten eines Gedichtes […] machen gleichsam eine kleine Welt vor sich aus. Der Dichter (verzeiht, dass ich ihm die Ehre dieser Vergleichung widerfahren lasse) ist ihr Schöpfer.“ Zit. Gustav Waniek, Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Litteratur des 18. Jahrhunderts. Mit Benutzung ungedruckter Quellen, Leipzig 1882, 75. 31. Johann Georg Schlosser, Versuch über das Erhabene, in: Longin, Vom Erhabenen mit Anmerkungen und einem Anhang. Übers. von Johann Georg Schlosser, Leipzig 1781, 266–334, hier: 275. 32. Ebd., 284. 33. Carl Große, Ueber das Erhabene [1788], hg. v. Carsten Zelle, St. Ingbert 1990, 25. Der Titel wird signifikanter Weise von einer Vignette geziert, die einen Vulkanausbruch darstellt. 34. Ebd., 20. 35. Ebd., 14. 36. Ebd., 21. 37. Ebd. 38. Ebd., 40. 39. Carl Große, Ueber Größe und Erhabenheit, in: Deutsche Monatsschrift 2 (Juli 1790), 275–302, hier: 288. 40. Vgl.: Die Kehrseite des Schönen, hg. v. Karl Eibl, Hamburg 1994 (Aufklärung 8/1, 1993), Einleitung, 3–14, hier: 13; ders., Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. 1995, bes. Kap. VI 5: Abgrund mit Geländer. Unspezifische Erregung durch Entgrenzung, 184–194, hier: 194 (vgl. dazu meine Rez. in: IASL 23 [1998] 205–210). 41. Ebd. 42. Karl Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Bd. II. Aus dem Nachlaß, hg. v. Richard Newald, Leipzig 1924, 129. 43. Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [4 Tle., 1785–1790], hg. v. Wolfgang Martens, Stuttgart 1972, 29. 44. Ebd. 45. Ebd. 46. Hans-Edwin Friedrich, ‚Die innerste Tiefe der Zerstörung‘. Die Dialektik von Zerstörung und Bildung im Werk von Karl Philipp Moritz, in: Eibl, Kehrseite [Anm. 40], 69–90, hier: 77 f. Dass die Thematisierung vermischter Empfindung in Moritz’ Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) ein lustvolles Selbstgefühl an der Herrschaft über Natur und Menschen erkennen lässt, verfolgt Verf., Angenehmes Grauen, Hamburg 1985, 413–416, und ders., Ästhetischer Neronismus, in: DVjS 63 (1989), 397–419. 47. Moritz [Anm. 43], 19. 48. Ebd., 29. 49. Ebd., 72 f. 50. Georg Büchner, Lenz, hg. v. Burghard Dedner, Frankfurt a. M. 1998, 10. Anders als im Kommentar der Ausgabe, wo die geschilderten Formen der Schmerzzufügung in

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den Kontext der damaligen Psychiatrie gestellt werden, insofern u. a. kalte Bäder als ein probates psychiatrisches Heilmittel, v. a. gegen ‚Starrsucht des Seelenorgans‘, galten (129 zu 10.12–13; vgl. 154 zu 32.25–31), soll hier die aufklärerische Linie der Selbstfühlbarmachung durch Schmerzlust betont werden. 51. Johann Friedrich Oberlin, Der Dichter Lenz, im Steinthale. Abgedr. im Anhang von Büchner [Anm. 50], 63–76: „stieg auf den Trog, stürzte sich hinein und plattscherte drinn wie eine Ente“ (64); „er hätte sich zum Fenster herunter gestürzt“ (69); „Herr L. hätte sich zum Fenster hinaus gestürzt“ (71); „wieder mußte versucht haben sich zu ertränken“ (71); „‚Herr Jesus, er will sich erstechen!‘ […] Er legte die Scheere hin.“ (72); „so fieng er an sich den Kopf an die Wand zu stoßen“ (74); „schmiß er seinen Kopf mit großer Gewalt an die Wand“ (75); „und so sehr er bald List, bald Gewalt angewendet hatte los zu kommen, den Kopf zu zerschmettern, ein Messer zu bekommen“ (75). 52. Ebd., 72. 53. Psychologen haben die von Büchner im Lenz-Fragment gestaltete Erkrankung wiederholt als Prozess „schizophrener Dissoziation“ gewürdigt (vgl. Wilhelm Mayer, Zum Problem des Dichters Lenz, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 82 [1921], 889–890; Gerhard Irle, Büchners Lenz. Eine frühe Schizophreniestudie, in: Ders., Der psychiatrische Roman, Stuttgart 1965, 75–83. Abgedr. im Anhang von Büchner [Anm. 50], 108–110 und 110–120, hier: 110 und 113). 54. Büchner [Anm. 50], 32. 55. Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe. Bd. I: Sudelbücher I, hg. v. Wolfgang Promies, München 1968, JI 337, 703 f.: „[…] Ich sehe die ganze Welt als eine Maschine an die da ist um mich meine Krankheit und meine Leiden auf alle mögliche Weisen fühlen zu machen. Ein pathologischer Egoist. […].“

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The French Romantic Generation, Passion and Sentiment: The Case of Delacroix Of all the artists of his time – and even of all Western artists since the Renaissance – Delacroix is admittedly one of those who expressed the most (I would tend to say the best) his conceptions on art in general and painting in particular, especially when after his hard-earned election to the Académie des Beaux-Arts in 1857, which signalled his recognition of a sort by the official world of arts, he launched into the preparation of a Dictionnaire des Beaux-Arts for which he amassed a wealth of notes, many from his Journal in which he had started making regular entries in 1847.1 The project was not completed but the preparatory notes which have remained are a testimony of one of Delacroix’s most advanced conceptual efforts.2 I have gone back to them in preparing this contribution, in order to discover what Delacroix had written on the question of passions and sentiment in art. Surprisingly enough (and for that matter this is somewhat of a disappointment for us), Delacroix regarded the question as secondary. “Passion” does not appear in the list of entries he drew up for his projected Dictionary, neither as a main entry nor even as a cross-reference. Of direct relevance to our subject, one can only find “sentiment”, “effect” and “expression”. Moreover, the entry “sentiment” is only remotely connected to our topic since it is actually concerned with the relation between the reproductive print and the original of which it is supposed to convey the “sentiment”, that is to say – as Delacroix puts it in his conclusion: “the intelligent touch that sums up, that gives an equivalent”.3 In fact, it is under “effect” and still more under “expression” that Delacroix, while giving a definition of what is in his own view one of the aims – if not the only aim – of painting, talks explicitly about the role of passion and sentiment in his art. I will begin with his entry on “effect”, which can be completed by some other previous but relevant texts:

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“It is the same with poetry as with pictures. They must not be too finished [I shall come back to this point in closing]; the great art is the effect, no matter how it is produced. In painting, and especially in portraiture, writes Mme Cavé in her delightful book [this refers to the Dessin sans maître published by Delacroix’s friend Elisabeth Cavé, which he had liked very much and highly praised in a written review], mind speaks to mind and not knowledge to knowledge” [emphasised by Delacroix]. This observation, which may be more profound than Mme Cavé knows herself, is an indictment of pedantry in execution. I have said to myself a hundred times that materially speaking, painting is nothing but a bridge set up between the mind of the artist and that of the beholder. Cold accuracy is not art; skilful artifice, when it is pleasing [the word is emphasised by Delacroix] and expressive [also emphasised], is art itself. The so-called conscientiousness of the great majority of painters is nothing but perfection laboriously applied to the art of being boring [again, this is emphasised by Delacroix].”4

This idea of art in general and painting in particular as a bridge between the mind of the artist and that of the public is indeed an element that keeps recurring in Delacroix’s writings. It appears as early as 1822 in one of the very few reflexive passages in the Diary he kept during his younger years: “When I have painted a fine picture I have not given expression to a thought! That is what they say. What fools people are! They would strip painting of all its advantages. A writer has to say almost everything in order to make himself understood [I would point out here that drawing a parallel between painting, music and literature is another constant in Delacroix’s aesthetic writings], but in painting it is as if some mysterious bride were set up between the spirits of the persons in the picture [remarkably, Delacroix does not say ‘of the painter’] and the beholder. The beholder sees figures, the external appearance of nature, but inwardly he meditates; the true thinking that is common to all men. Some give substance to it in writing, but in doing so they lose the subtle essence. Hence, grosser minds are more easily moved by writers than by painters or musicians. The art of the painter is all the nearer to man’s heart because it seems to be more material. In painting, as in external nature, proper justice is done to what is finite and to what is infinite, in other words, to what the soul finds inwardly moving in objects that are known through the senses alone”.

This idea was a solid basis of Delacroix’s conception of painting, as it is showed in another text, which dates from October 1853. Here again I shall quote at length but the reason for this should quickly become apparent. “How I adore painting! The mere memory of certain pictures gives me a thrill that stirs me to the depths of my soul – even when I do not see them; like those rare and interesting memories which we recapture at long intervals in our lives especially from early childhood. (…) [Delacroix then refers to a conversation at Mme Villot’s where she discusses paintings by Rubens which she had seen in London, in particular an unidentified equestrian portrait] I felt as though I were actually seeing it. I know much of what Rubens has done and I think I know all that he is capable of doing, but the mere recollection of this

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picture by a very ordinary little woman (who when she actually saw it, did not experienced the thrill which I feel just imagining it) has revived for me the great images of those pictures that impressed me so deeply when I saw them as a young man in Paris at the Musée Napoléon, and on my journeys to Belgium [on these occasions, Delacroix had visited Brussels and Antwerp]. Glory to that Homer of painting, the father of warmth and enthusiasm in the art where he puts all others in the shade, not, perhaps, because of his perfection in any one direction, but because of that hidden force – that life and spirit – which he put into everything he did (…). [Delacroix points out how much he had been struck by the Elevation de la croix in the cathedral of Antwerp and proceeds to draw a parallel with contemporary masters]. Here I think it only right to say that I have exactly the same feeling before Gros’s battle pictures [which Delacroix had seen in Gros’s studio in 1822] and before the Raft of the ‘Medusa’, especially when I saw the latter half-finished. There is something sublime in all these works which is partly due to the great size of the figures. The same pictures on a smaller scale would, I am sure, have had an entirely different effect. In both Rubens’s picture and in Géricault’s, there is an indescribable flavour of the style of Michelangelo which adds still further to the impression produced by the size of the figures, and give them an awe-inspiring quality. Proportion [meaning size] counts for a great deal in the absolute power of pictures (…). I must admit, however, that proportion is not everything, for many of Rubens’s pictures in which the figures are very large do not give this kind of feeling – to me, the most elevated of all – nor is it solely due to a more Italian quality of style [according to Delacroix, one of the reasons why he had been so deeply impressed by the Elevation of the Cross], for pictures by Gros which show no trace of it, and are entirely his own, have this power of projecting me into that spiritual state which I consider to be the strongest emotion that the art of painting can inspire. The impressions that the arts produce on sensitive natures are a curious mystery; when you try to describe them they seem confused, but each time you experience them, if only in recollection, they are strong and clear. I firmly believe that we always mingle something of ourselves in the emotions that seem to arise out of objects that impress us. And I think it probable that these things delight me so much only because they echo feelings that are also of my own. If, although so different, they give me the same degree of pleasure, it must be because I recognize in myself the source of the kind of effect they produce. The type of emotion peculiar to painting is, so to speak, tangible [Delacroix emphasises the word]; poetry [meaning here literature as a whole] and music cannot give rise to it. In painting you enjoy the actual representation of objects as though you were really seeing them and at the same time you are warmed and carried away by the meanings which these images contain for the mind. The figures and objects in the picture, which to one part of your intelligence seem to be the actual things themselves, are like a solid bridge to support your imagination as it probes the deep, mysterious emotions, of which these forms are, so to speak, the hieroglyph, but a hieroglyph far more eloquent than any cold representation, the mere equivalent of a printed symbol (…). [After elaborating on the theme of painting as an imitation and also both as a simplification and an amplification of nature, then making a comparison between painting and literature, Delacroix continues as follows:] The arts are not algebra, where abbreviation of the figures contributes to the success of the problem [that is to say making the ‘beholder’ understand]. To be successful in the arts is not a matter of summarizing and amplifying where it is possible, and of prolonging the sensation by every means. What is the theatre but clear evidence of man’s need to experience the greatest possible number of emotions at once? It brings together all the arts in order that the effect of each may be enhanced. Miming, costume, and

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the beauty of the actor enhance the effect of words that are spoken or sung, and the representation of the scene where the action takes place adds still further to all these different impressions. What I have been saying about the power of painting now becomes clear. If it has to record but a single moment it is capable of concentrating the effect of that moment. The painter is far more master of what he wants to express that the poet or musician who are in the hands of interpreters; even though his memory may have a smaller range to work on, he produces an effect that is a perfect unity and one which is capable of giving complete satisfaction. Moreover, the painter’s work does not suffer so much from variations in the manner in which it is understood in different periods. Fashions change, and the bias of the moment may cause a different value to be set upon his work, but ultimately it is always the same, it remains what the artist intended it to be, whereas this cannot be said of the art of the theatre, which has to pass through the hands of interpreters. When the artist’s mind is not there to guide the actors or singers, the performance no longer corresponds to his original intention; the accent disappears, and with it the most subtle part of the work is lost”.

This is not a digression for digression’s sake: with Delacroix, everything is linked, everything is logical. Art is first and foremost the communication of a sentiment by way of a medium, namely the work of art, which establishes a bridge between the soul, the sentiment felt by the creator, and the soul, the similar feeling or its equivalent – this is the key point – which it raises in the viewer, the reader or the listener. Thus painting, in that the medium – that is to say the work of art – will remain as its creator wanted it to be, is ultimately the most perfect art form – or at least the least imperfect. At any rate, there emanates from these long quotations a highly elaborate and coherent view of the function or finality of the work of art: to express through material means the artist’s sentiment – here I use the relatively vague term chosen by Delacroix, which might be more accurately rendered by ‘état d’âme’ (that is to say ‘mood’ or ‘state of mind’) – and then to convey this sentiment, this ‘state of mind’ to the public, in this instance for Delacroix the viewers. The novelty lies here not so much in this conception which is perfectly in keeping with the classic theoretical framework of the Western aesthetic tradition since the Renaissance, in particular that of ut pictura poesis, than in the changes which Delacroix forces upon it by giving priority to individuality or the individual: the artist on the one hand, the viewer on the other, not an anonymous viewer but the viewer as one particular person, a singular individual who recognizes his life, his being in the painting. In this Delacroix is indeed typical of the contribution of Romanticism, as we shall now see, having looked at the texts, by turning to the picture, after the theoretical writings of the 1850s where Delacroix gathers up the experience of his earlier career, the works whereby he imposed himself as the leader of a school which

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seemed to break with the principles of classical doctrine which had so far been deemed eternal and intangible. Delacroix, who had already come to prominence at the Salon of 1822 – the first one in which he took part – with his Barque of Dante (Paris, Louvre), attempted another glorious feat at the Salon of 1824 with his Massacres of Chios (Paris, Louvre).5 Both the choice of the subject and the way in which Delacroix dealt with it reinforced his position and made him – quite unwillingly – one of the leaders of the emerging Romantic Movement. We are struck today by what constitutes its novelty: a contemporary heroic scene where the action seems to have been suspended, a scene not only without heroism, but also quite without a hero since the action is as undetermined as the characters are anonymous. The composition is no less surprising, with some of the characters left partly out of the picture and a treatment that utterly contravened the academic practice taught in traditional art schools at the time: the detailing of certain elements (such as the clothes of the Greeks in the foreground or the Turkish horseman) was counterbalanced by other elements more summarily sketched, in particular the wide landscape in the background much in the manner of contemporary English landscapists, especially Constable. Critics were also struck by the colours, such as the brightness and intensity of the costumes in stark contrast with the cadaverous complexions of the characters. Yet this is no reason to overlook the more classical aspects of the picture. What Delacroix sought to inspire is both compassion for the Greeks and horror at the ferocity of the Turkish repression as well as a broader vision of the destiny of Man through contemporary history seen from the angle of what we may call the ordinary or daily tragedy of warfare. This latter aspect is that of the picture itself and, in a nutshell, it is to this that the viewer is drawn by the various elements which I have just described, that is to say the general subject, the composition and the pictural treatment. On the contrary, compassion and horror are evoked through much more traditional means, the viewer’s identifying in this or that character a specific feeling represented in a codified manner, according to the traditional representation of passions inherited from the seventeenth century. Here we must take into account the other pictures submitted by Delacroix at this Salon, several Studies under the same number, usually identified as the Girl Seated in a Cemetery (Paris, Louvre, Colour Plate V) and the Old Woman which was acquired several years ago by the Orléans Musée des Beaux-Arts (Fig. 1).

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Fig. 1: Eugène Delacroix, Head of an Old Woman, oil on canvas, 1824, Orléans, Musée des Beaux-Arts

The former of these pictures, because of its setting and of the traditional title which it has been given since the end of the nineteenth century, belongs to genre painting. In fact, this was originally a beggar, a woman who posed for Delacroix in his studio when he was preparing the Massacres of Chios; it is therefore a work where most of the painter’s labour was dedicated to rendering the expression of the head. This is even more so with the second picture, where everything is centered upon the head. While these two pictures, because of the vigourous treatment with the clearly visible brush strokes, may be regarded as Romantic, in fact they belong to a more classical, traditional style, namely that of the expressive head (tête d’expression). A classical type, firstly in view of its place in academic teaching – and here I would just mention the treaties by Le Brun in the seventeenth century as well as the competitions on the theme of the expressive head which student painters and sculptors had to enter during their time at the Académie royale in the eighteenth century and even at the École des Beaux-Arts in the nineteenth. Delacroix consciously attaches himself to this tradition, which was still very

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much alive at the time: he presents these two pictures at the Salon, as if his purpose in doing so were to display his commitment to the codes of representation inherited from seventeenth-century academic teaching. Yet, we must look deeper. The reason why the expressive head was given so much importance by the ‘Classics’ (to put it briefly) is that it too belonged to a tightly-coded, rigorous system of representation which presupposed an ideal type of expression which the artist had to attain in his attempt to illustrate this or that ‘passion’ – to use a seventeenth-century word. Where ‘Classics’ referred to a general, absolute model, ‘Romantics’ would on the contrary seek the individual and the particular. Delacroix, until the Massacres of Chios, remained highly influenced by classical doctrine, which he had acquired while working in Guérin’s studio, and by studying ancient and modern works in the Louvre. This is precisely what is shown by the importance given to the representation of the head, for example in the figures in the lower part of the Vierge du Sacré-Coeur – now kept in the cathedral of Ajaccio – or in the characters of the damned, or still the heads of Dante and Virgil in the 1822 Barque of Dante.

Fig. 2: Eugène Delacroix, Heads of Dante and Virgil, wiped charcoal, crayon, white hightenings with touchs of bister, 1822, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques

These two heads appear in another of Delacroix’s drawings – now in the Louvre – which, judging from its degree of completion, is not a preparatory study but a ricordo, a souvenir or memory, a fragment taken out of the painting of which it is the most expressive part but also, in spirit, the most traditional (Fig. 2). Let me make this clear: my claim

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here is not that these are classical pictures. Besides, critics at the time made no mistake about it, since they pointed out that in both these paintings Delacroix had freed himself from certain conventions and was therefore to be counted among the emerging Romantic Movement. However, there are undeniably in the Dante and the Massacres of Chios some aspects close to classicism. That can be shown by comparing the two 1824 studies to slightly earlier pictures by Géricault, the famous Portraits de fous [Portraits of Mad People]. Although they were not exhibited in the same conditions as his own works, there is a strong possibility that Delacroix saw them. This is how Louis Viardot described them when they were rediscovered in 1863: “These five studies, comprising three portraits of men and two of women, represent five very characteristic types of mania. In the case of one of those men, it was to kidnap children. When meeting a child alone in the street or in the country, he would talk to him carress him and stealthily take him to his house, believing he was the father. His is indeed a fatherly appearence, with a round forehead, a gentle look in his eyes, a comely mouth (…). The third man had the mania of theft. Of rather handsome features, showing intelligence, determination, and no small dose of cunning, he has that equivocal look and hesitant mouth of the scoundrel who is plotting some mischief and worries about being caught up in the act. The painter has splendidly rendered this depraved nature with its mixture of daring and fear.”6

Those final words of Viardot’s remind us of the very classical faces by Le Brun; Géricault is, however, very far from this. What he represented here is a madman in himself that is to say as an individual as one specific type of madness. This is, in my opinion, why Géricault’s realism here is quite outstanding: it could be described as scientific, observational realism while at the same time typical of the romantic conception of the individual – and as such of the romantic conception of representation. Whereas in his Massacres of Chios Delacroix seemed to convey emotion and sentiment through the means of classicism, there is a major departure in the main picture he submitted to the following Salon of 1827–1828, The Death of Sardanapalus (Paris, Louvre). This picture is primarily based on composition and coulour effects, rather than on the expressions of the faces, most of which are left in semi-darkness or seen in profile or from three-quarters. The supreme calmness of Sardanapalus has been much commented upon: his features remain ultimately devoid of expression, showing no expression as he orders total destruction. Delacroix seems in this instance at least to have put more emphasis on the postures than on the faces, as would suggest the surviving preparatory studies for the picture. However, this is not typical only of

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the Death of Sardanapalus but also of two other important pictures which he sent to the Salon, The Execution of the Doge Marino Faliero (London, Wallace Collection) and The Agony in the Garden [Le Christ au Jardin des oliviers] (Paris, Eglise Saint-Paul-Saint Louis). In the former, expression is essentially based on the sumptuous colours and the virtuosity of the brush, a homage to Venice – where the scene takes place – and to those two Venetian painters whom Delacroix admired so much and his own admirers knew quite well: Veronese and Titian. It is mostly made manifest by the emptiness of the staircase, in the very centre of the picture, which symbolises the death of the Doge Marino Faliero, whose body, after the execution, is lying on the very dark carpet. Is this not a very new way of conveying a dramatic vision of the story or the emotion felt in reading Byron’s poem, the source which inspired the picture? Similarly, in the Agony in the Garden, identification relies more on the gestures than on the faces (remarkably, one of the angels buries his face in his hands and another remains in the shadow) and especially on effects of nocturnal light and shadow which increase the dramatic aspect of the scene. There are many other similar examples. I shall just mention a few later pictures, all inspired from literary works, or rather from well-known tragedies which Delacroix, like the educated audience of the time, had seen as plays, operas or ballets. This is the case of the sublime Medea, submitted at the Salon of 1838 and exhibited today in the Lille Museum of Fine Arts (Fig. 3). Here the strength of the picture lies in the elliptical language used by Delacroix: the pursuers are not represented, the whole space in the picture is taken up by the central group, the mother and her two children – yet we cannot tell whether she is protecting them or on the point of slitting their throats. This is what a critic wrote at the time, which for us is a key to understanding how such a picture was perceived: “The aspect of this picture is striking. One feels deeply moved by this demented mother with her wild eyes, her pale face, her dry, pallid mouth, her quivering flesh and her distraught breast. There is an admirable animation on those three faces and a vigour in the colour and the drawing which surprises, moves and cancels the reproach which could be made to M. Delacroix, namely the shadow cast on Medea’s face”.7

Thus the critic is moved by purely plastic means (‘animation, ‘vigour in the colour and the drawing’) rather than by descriptive elements (‘wild eyes, pale face, dry, pallid mouth’) which in fact are not in the picture – since they are masked by the shadow which resulted in some criticism of Delacroix. They are therefore a pure invention, or a projection, on the part of the critic. The same can be said of the scenes from Shakespeare

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Fig. 3: Eugène Delacroix, Medea, oil on canvas, 1838, Lille, Musée des Beaux-Arts

painted by Delacroix in the years 1845–1850, such as Romeo Bids Juliet Farewell (1845, private collection, United States), Othello and Desdemona (1847–1849, Ottawa, National Gallery of Canada) and Desdemona Cursed by Her Father (1852, Reims, Museum of Fine Arts). In each of those pictures, most of the expressiveness relies on colour, in particular the reds and the browns in the two scenes taken from Othello, and on the attitudes of the characters rather than on the expression on their faces which is often left undeterminate (for example, Juliet’s profile). This is also the case with another picture of the same period, Mary Magdalene in the Wilderness exhibited at the Salon of 1845, now at the Delacroix Museum in Paris (Fig. 4), which is after all an expressive head, yet one where expressiveness owes less to the features of the face than to

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Fig. 4: Eugène Delacroix, Mary Magdalene in the Wilderness, oil on canvas, 1845, Paris, Musée Delacroix

the choice of composition and the contrast between the whiteness of the face and the dark background of the painting. This leads me to my concluding remark. I have suggested that through the 1820s Delacroix had gradually – but in fact very rapidly – evolved towards an increasingly indeterminate style of representation, especially as concerned the features on the faces of his characters, in order to make his paintings more expressive. This may seem paradoxical. In reality, we touch here upon one of Delacroix’s central ideas, namely that it is the indetermination that only painting allows (as opposed to literature or, to a lesser degree, music) which makes it the most expressive of all arts – and as such one superior to all others. For it is that indetermination, which makes it possible for the painter to suggest only and the public to project themselves into the picture, which then becomes the ‘mysterious bridge’, which I mentioned earlier. Here is another quotation from the Dictionary of Fine Arts again, from the entry on ‘sketch’ (‘ébauche’): “Even when a piece of music or literature is complete as regards the general composition, which is supposed to convey the impression, a lack of finish in the details is a greater drawback than it would be in a sculpture or a painting. In short, in music or literature, the

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near enough is unbearable, or rather, you cannot have what we call the indication, or the sketch; whereas in painting, a fine indication, or a sketch infused [emphasised by Delacroix] with great feeling can be equal in expression to the most finished production”. [And further on:] “No! One does not spoil a painting by finishing! Perhaps there may be less scope for imagination once the work has been sketched out. You receive a different impression from a building under construction where the details are not yet shown, than from the same building when it has received its full complement of ornamentation and finish. It is the same with ruins, which appear all the more impressive because of the missing portions; their details are worn away or defaced end, as with buildings under construction, you see only rudiments and vague suggestions of mouldings and ornamentation. A finished building encloses the imagination within a circle and prevents it from straying beyond its limits. Perhaps the only reason why a sketch for a work gives so much pleasure is that each beholder can finish as he chooses. Artists gifted with very strong feeling, when they consider and admire even a great work, are apt to criticize it not only for the faults it actually possesses, but also for the way in which it differs from their own feeling. Thus an artist does not spoil a picture by finishing it, but when he abandons the vagueness of the sketch he reveals his personality more fully, thereby displaying the full scope of his talent, but also its limitations”.8

For Delacroix, imprecision is therefore definitely a means for being more expressive. Bearing in mind that many of his pictures were ill-received by conservative critics precisely on the ground that they looked like sketches instead of finished paintings, bearing in mind also how central the question of completeness was in judging the skills – and thereby the talent – of an artist, we have a better idea of the misunderstanding, if not the lack of understanding, that occurred between Delacroix and his public. It could not have been otherwise: where he saw a renewal of artistic expression, others saw sloppiness and technical weaknesses. Delacroix never stopped feeling and wanting others to feel, he unceasingly endeavoured with his works to build that ‘bridge’ between his soul and that of the viewer. This he did through constantly seeking for new artistic, pictorial and formal means away from the classic doctrine of representation based on the imitation of nature. It is from that perspective that we have to understand the famous definition of Romanticism given by Baudelaire in his Salon of 1846: “The point is that romanticism is not about the choice of subject-matter, nor true accuracy but about one’s way of feeling. They have sought it without, when it was only to be found within.”9

But it is in the text which Baudelaire dedicated to him on his death that the ideas which Delacroix had relentlessly tried to put into practice find their best expression: “What ever is this mysterious je-ne-sais-quoi which Delacroix, for the greater glory of our century, has expressed more ably than anyone else? It is the invisible, the intangible;

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it is the dream, the nerves, the soul. And this he did with no other tools than line and colour (…). Delacroix is the most suggestive of all painters, he whose works, even the secondary and lesser ones, compel one to think and recall to memory the most abundant feelings and poetic thoughts which, although already familiar, were deemed to have been buried in the night of the past. Delacroix’s work sometimes appears to me as some sort of remembrance of the universal grandeur and native passion of Man. This very new and specific merit of M. Delacroix, which enabled him, with a simple line, to express a man’s gesture, however violent, and with colour what one might call the atmosphere of a human drama, or the state of the creator’s soul, this original merit has always brought the poets rallying around him. [And it is worth noting that] in the crowd that had gathered to pay him a final tribute, men of letters outnumbered painters. The straight truth is that the latter never fully understood him.”10

I would say that this is also true of art historians, even though I have here tried to cast some light on the matter.11

Notes 1. The view on this subject has been completely renewed by Michele Hannoosh, Painting and the journal of Eugène Delacroix, Princeton, 1995. See also my introduction in: Eugène Delacroix, Souvenirs d’un voyage dans le Maroc, éd. par Laure BeaumontMaillet, Barthélémy Jobert and Sophie Join-Lambert, Paris, 1999. 2. See Eugène Delacroix, Dictionnaire des Beaux-Arts, reconstitution et édition par Anne Larue, Paris, 1996 (here abridged as DBA). 3. ‘Sentiment’, in: DBA, 180–181 (as for all quotations of DBA, my translation). 4. Ibid., 79–80. The two following quotations are from the Journal, respectively from 8 October 1822 (I am using the translation of Lucy Norton, in: The Journal of Eugène Delacroix. A Selection edited with an Introduction by Hubert Wekkington, translated from the French by Lucy Norton, London, Phaidon, 1951, p. 7–8), and 20 October 1853 (ibid., p. 200–201). 5. For a summary of the history of both paintings, including their critical reception, as well as complete bibliography at the date, see my Delacroix, Paris, 1997, 68–71 (Dante) and 71–78 (Chios). Also all the paintings and most of the drawings I am here commentating are reproduced in full colours in this book. 6. Louis Viardot, Cinq études d’aliénés par Géricault, in: La chronique des Arts et de la Curiosité, n° 46, 3, janvier 1864, 3–5, reproduced in: Géricault, exh. cat., Paris, Grand Palais, 1991, 322–323 (my translation). Some new thoughts on the Tête d’expression in the romantic milieu can be found in: Autour de la ‘Vieille italienne’ de Géricault. Quatre peintres pour un modèle, Cogniet, Géricault, Navez, Schnetz, exh. cat., Paris, Louvre, Musée du Château de Flers and Le Havre, Musée Malraux, 2002. 7. Anonymous critic in ‘Salon de 1838’, in: La Quotidienne, n° 70, 11 March 1838 (my translation). Concerning the Agony in the Garden, I am developing an analysis close to Klaus Herding’s, see his article: Friedrich Schlegel und Eugène Delacroix. Krise und Erneuerung religiöser Malerei am Beginn der Moderne, in: Olivier Christin and Dario Gamboni éd., Crises de l’image religieuse, de Nicée II à Vatican II, Paris, 2000, p. 191– 212, and in particular p. 208, fig. 3, and 209 sq. See also, for a comparison, Bruno Foucart,

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Barthélémy Jobert

Chassériau et le thème du Christ au Jardin des Oliviers, entre romantisme et orthodoxie, in: Chassériau (1819–856). Un autre romantisme, Actes du colloque organisé par le musée du Louvre le 16 mars 2002, éd. par Stéphane Guégan and Louis-Antoine Prat, Paris, 2002, p. 39–79. 8. ‘Ebauche’, in: DBA, 62–69, quotation 67–68. This question of indetermination was to be central in the appreciation of painting during the second half of the nineteenth century, and not only in France. One has only to remind, for the case of Germany, the analysis of Friedrich Gross, introducing the notion of ‘Deprägnanz’ (see his book: Jesus, Luther und der Papst im Bilderkampf 1871–1918. Zur Malereigeschichte der Kaiserzeit, Marburg, 1989). 9. Charles Baudelaire, Salon de 1846, in: Œuvres complètes, II, éd. par Claude Pichois, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, 1976, 420 (my translation). 10. Baudelaire, L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix, ibid., 744–745 (my translation). The article was initially published in: L’Opinion nationale just after the artist’s death, in september-november 1863. 11. I have here tried not to insist on Delacroix’s own sentiments and the painter’s implication in his paintings, this being a subject in itself. It has been developed by Klaus Herding, and particularly what we could call his fruitful melancholy: Kunst aus hochgemuter Düsternis. Über Delacroix’ Paradoxien, in: Städel-Jahrbuch, 12, 1990, p. 259–278. – I would like to thank here the organisers of the symposium for their kind invitation, and especially Professor Klaus Herding, for it was he who, when he heard that work had started in Paris on a fairly similar project – yet one ultimately different in that it was focussed exclusively on the history of art and of music and the period from the end of the seventeenth to the beginning of the nineteenth century – asked me to join. This has been an opportunity for me to further reflect on the two exhibitions held at the Cité de la musique in Paris and dedicated to the expression of ‘affects’ in painting, in music and to a lesser extent in literature. The first one, entitled Passions baroques, concentrated on the baroque age and the second, L’invention du sentiment, on pre-Romanticism. A specific symposium based on both exhibitions was held two weeks before the Frankfurt’s one, and has been published by the Cité de la Musique to complete both catalogues on more specific matters regarding philosophy, musicology, literature and art history. This text has been translated in English with and by Caroline and Christophe Valia-Kollery.

Rainer Wuthenow

Leidenschaften, literarisch, ambivalent. Französische Moralistik und deutsche Poesie I. Wenn es auch schwierig ist, Leidenschaften genau zu definieren, sie von den uns bezwingenden Affekten und von unserer Triebstruktur zu sondern, zumal sie, wie im 17. und 18. Jahrhundert geschehen, mit Natur gleichgesetzt werden, so ist doch eines gewiss, dass sie, wie die Natur auch, ambivalent sind. So werden sie beschwichtigt, gezähmt und gefesselt. Obschon es auch edle Leidenschaften gibt, die manchmal z. B. mit soldatischen Tugenden einhergehen, spricht man von ihnen doch oft als Krankheiten, die es zu kurieren gilt. Man denkt dabei vermutlich vor allem an die Liebe, als Leidenschaft par excellence, in der neueren, der nachantiken zivilisierten Welt. Das Gleichgewicht, das im Bild des von Phädros mutig geführten Gespannes der Rosse noch garantiert sein mochte, scheint nunmehr gefährdet: Es gilt der Bedrohung durch die Leidenschaften zu begegnen, am besten, indem man sie unterwirft. So denkt sogar noch Immanuel Kant mit wahrem Abscheu von der unvernünftigen Gewaltsamkeit der Leidenschaften, die man, so muss er mit Entsetzen feststellen, in seiner Epoche sogar zu preisen begonnen hat. Die Gefährdung der Vernunft wird offenkundig. Aber das Vernunftzeitalter ist keine Epoche ohne Leidenschaften. Es hat lediglich gelernt, Leidenschaften und Affekte zu bändigen, man denke an die Princesse de Clèves der Mme de Lafayette, an die Dramen von Jean Racine (Phèdre). Unerträglich ist ein Mensch, der nur von seinen Leidenschaften beherrscht wird. Doch was ist das für ein Mensch, dem alle Leidenschaften (und damit alles Menschliche!) vollkommen fremd geworden sind? Sie sind bereits im 18. Jahrhundert nicht mehr nur Laster oder niedere Natur, sondern lassen sich im Namen einer nicht erst seit Rousseau rehabilitierten Natur auf

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überraschende Weise auch rechtfertigen. Nicht eigentlich entdeckt werden die Leidenschaften im XVIIIe, aber neu gesehen: Sie sind auch in ihrer Zwiespältigkeit wichtiger geworden. Der Mensch erscheint als ein Gewirr von Affekten. Was lange sündhaft schien, das fesselt jetzt den Psychologen. Die Leidenschaften und was man so nennt, waren auch zuvor nicht einfach gefürchtet oder missachtet worden, aber ihre soziale Gefährlichkeit forderte, sie zu fesseln. Sie sind zwiespältig, bedrohlich, eben auch verführerisch. Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden die Leidenschaften nun stärker in ihrer positiven Gewalt erkannt: Sie sind Natur des Menschen, und je künstlicher die Gesellschaft geworden ist, umso stärker wirken die Leidenschaften als Sprengstoff. Ihr rebellischer Charakter trägt in sich den Keim zu Veränderungen. Die alte Affektenlehre (Descartes’ etwa oder Spinozas) reicht nicht mehr aus, sie auf den Begriff oder ins Gespann zu bringen, sie zu neutralisieren. Da die Leidenschaften nicht eindeutig sind – sie sind Emotion, Empfindung, Zärtlichkeit und Gewalt, ja sogar einfach nur Natur (des Menschen) –, fesseln sie den nachdenklichen Menschen; verwirrender noch als ihre Wirkung ist ihre Paralysierung, also ihre Abwesenheit. Der Mensch ist mehr als nur Vernunft. Zwiespältig ist schon die Maxime des Duc de La Rochefoucauld: „La passion fait souvent un fou du plus habile homme et rend souvent les plus sots habiles.“1 Die Leidenschaften sind gleichsam ein Kunstgriff der Natur. Doch vermag die Gewalt der Leidenschaften nur zu rasch die Grundsätze vernünftiger Lebensführung zunichte zu machen. Man ist ihnen ausgeliefert wie Krankheiten. Aber das muss man wissen, um sich heilen zu lassen: die Vernunft, so scheint es, sollte dazu fähig sein, und nicht zufällig verwendet La Rochefoucauld wiederholt in diesem Zusammenhang das Wort guérir. Was Leidenschaften anrichten, ist nicht immer nur verheerend, aber bedenklich ist es wohl doch: „L’esprit est toujours la dupe du cœur“.2 Mit Zustimmung vermerkt Montesquieu in seinen nachgelassenen Pensées, jemand habe gesagt: „Les goûts sont avares, et les passions prodigues.“3 B. Gracián hatte noch empfohlen, leidenschaftslos zu sein; das ist ihm die „Eigenschaft der höchsten Geistesgröße, deren Überlegenheit selbst sie loskauft vom Joche gemeiner äußerer Eindrücke. Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und über seine Affekte, sie wird zum Triumph des freien Willens.“4 Auch La Bruyère kennt natürlich den Zwiespalt der Leidenschaft; sie ist dem Menschen inhärent wie die Unruh der Uhr. Wohl sind sie pa-

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thologisch, aber auch unvermeidlich, wie Kinderkrankheiten sind sie: „L’amour qui naît subitement est le plus long à guérir.“5 Oder aber es heißt, minder einseitig und entschieden: „Cesser d’aimer, preuve sensible que l’homme est borné et que le cœur a ses limites.“6 Wenn es Schwäche ist zu lieben, so gilt doch auch: „C’est souvent une autre foiblesse que de guérir.“ Man weiß wohl, was er meint, aber die Leidenschaft als solche, im Sinne der bedrohlichen Passion, spielt bei La Bruyère keine bedeutende Rolle. Noch aber weiß man, dass man sie zu bändigen hat. Dann aber eröffnet Diderot die Reihe seiner Pensées philosophiques mit der Feststellung: „On déclame sans fin contre les passions; on leur impute toutes les peines de l’homme, et l’on oublie qu’elles sont aussi la source de tous ses plaisirs. C’est dans sa constitution un élément dont on ne peut dire ni trop de bien ni trop de mal.“7 Gegen Ende des Jahrhunderts notiert Chamfort: „Le philosophique qui veut éteindre ses passions ressemble au chimiste qui veut éteindre son feu.“8 Die Vernunft macht nicht glücklich; dies anzunehmen wäre naiv – auch sie ist kaum mehr als ein notwendiges Übel. Die Vernunft hilft uns nur, uns zu behaupten, die Leidenschaften aber lassen uns leben – ob sie uns auch beglücken, ist eine andere Frage. „Le grand malheur des passions n’est pas dans les tourments qu’elles causent, mais dans les fautes, dans les turpitudes qu’elles font commettre, et qui dégradent l’homme. Sans ces inconvénients, elles auraient trop d’avantage sur la froide raison, qui ne rend point heureux.“9 Das ist nicht eben schmeichelhaft für die Leidenschaften – so wenig wie für die Vernunft. Dann aber heißt es mit Nachdruck: „Les passions font vivre l’homme, la sagesse le fait seulement durer.“10 Mit den Leidenschaften geht es nicht sehr gut, aber ohne – geht es gar nicht. Diderot hatte bereits in seinen Encyclopédie-Artikeln deutlich gemacht: Leidenschaften bringen uns verschwommene Vorstellungen, keine wahrnehmbaren Gegenstände; Unempfindlichkeit aber sperrt das Gemüt gegen alle edlen Empfindungen ab. Sind die Leidenschaften suspendiert, dann herrscht die Vernunft ohne Rivalen und auch ohne Schranken. So bringt die Gleichgültigkeit, als Freiheit von Affekten, Weise hervor, die Unempfindlichkeit aber produziert Ungeheuer, heißt es unter dem Stichwort ‚Empfindungen‘.11

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II. Auf Ruinen schließlich lässt sich schlecht bauen und wohnen; und dass fortdauernd zu existieren noch nicht leben heißt, sagt Chamfort deutlich genug. Doch ist nicht alles, was sich als Leidenschaft ausgibt, auch wirklich, was sie zu sein prätendiert. Das Vorurteil der geordneten bürgerlichen Lebensführung, die der Vernunft nicht minder misstraut als den Leidenschaften, betrachtet die Leidenschaften gerne von außen – wie Tiere im Zoo. Aber, siehe da! Die Künstler sind gar nicht immer Leute der Unordnung und der Leidenschaft. So notieren die Brüder Edmond und Jules de Goncourt bei Gelegenheit und mit dem Blick auf Flaubert: „Oh, was für ein belustigender Irrtum: diese Leute, die der Bürger immer beim Festefeiern, bei Orgien sieht und von denen er meint, daß sie doppelt so viel erleben wie andere Leute, haben nicht einmal einen Abend frei, um ihn der Freundschaft und der Geselligkeit zu opfern! Zurückgezogen lebende einsame Arbeiter, die fern vom Leben mit einem Gedanken und einem Werk dahinleben“ (20. 2.1868).12 Der aus den höfischen, feudalen, mäzenatischen Bindungen freigesetzte Künstler ist zum Spezialisten geworden, zum Fachmann für Literatur, Musik und Kunst, sie sind ihm nicht selten wichtiger als Geselligkeit, Genuss und das zweifelhafte Glück des Lebens, dem er meditierend zusieht, wartend, was es ihm zuwerfen will, wie das Meer die Muscheln dem Strand. Benvenuto Cellinis Autobiographie aus dem 16. Jahrhundert ist u. a. auch ein Dokument der Leidenschaft: Liebe, Ehrgeiz, Rachsucht treiben ihn an. Autobiographische Zeugnisse aus dem 19. Jahrhundert wie die Briefe Flauberts handeln dagegen von der Existenz eines einsamen Künstlers; seine Leidenschaft gilt nicht der Geliebten, sein Ehrgeiz nicht dem Ruhm. Leidenschaft und Ehrgeiz richten sich allein auf die Prosa, die er zu schreiben sich vorgenommen hat: „Je passerai ma vie à regarder l’océan de l’art où les autres naviguent ou combattent et je m’amuserai parfois aller chercher au fond de l’océan des coquilles vertes ou jaunes dont personne ne voudra. Aussi je les garderai pour moi seul et j’en tapisserai ma cabane.“13 Verständigen müssen wir uns darüber, dass die Liebe die heftigste und am weitesten verbreitete der Leidenschaften ist, die sichtbarste jedenfalls und die am ehesten verstandene; sie ist sozusagen repräsentativ, gleich, welche Rolle wir den Leidenschaften überhaupt in der Entwicklung der menschlichen Gattung zuzusprechen bereit sind, ob sie die Entfaltung der Vernunft provozierend gefördert, ob sie diese durch den mechanisch verstandenen Gegensatz behindert hat. Davon abgesehen,

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wird die Liebe nicht allein als Leidenschaft entschuldigt, sie ist es vielmehr, die ihrerseits die Leidenschaften zu rechtfertigen vermag. So gesehen, darf man das halbanonym erschienene Buch De l’amour (1822), „Par l’Auteur de l’Histoire de la Peinture en Italie et des Vies de Haydn, Mozart et Métastase“14, durchaus als ein Buch über die Leidenschaften lesen, damit als Buch über den Menschen. Nach seinen eigenen Worten bereist hier der Autor die wenig bekannten Gegenden des menschlichen Herzens. Das aber interessiert ihn vor allem, wie hundert und hundertundfünfzig Jahre zuvor die Moralisten, die Stendhal zuweilen zitiert. Was ihn dabei deutlich von anderen unterscheidet, ist jene eigenartige Beimischung von Elementen der Empfindsamkeit des späten XVIIIe im Duktus der sonst nüchternen Betrachtung und Beurteilung. Bezeichnend hierfür ist das Bild aus dem 1. Versuch eines Vorworts, wo es heißt: „L’amour est comme ce qu’on appelle au ciel la voie lactée, un amas brillant formé par des milliers de petites étoiles, dont chacune est souvent une nébuleuse.“15 Die Liebe setzt sich, wie man den Büchern entnehmen kann, aus vier-, fünfhundert kleinen auf einander folgenden Empfindungen zusammen, die einzeln nur schwer zu erkennen sind. Gröbere Empfindungen treten hinzu, und die Menschen täuschen sich dabei gar leicht, indem sie Nebensächliches für das Wichtigste nehmen. Das – erfolglose – Buch hat nun höchstens dazu geführt, dass einige Leute die Geduld aufbrachten, an Personen ihres Umkreises die verschiedenen Phasen „de cette maladie“ zu beobachten.16 Ganz wie La Rochefoucauld konstatiert Stendhal: „L’amour est comme la fièvre, il naît et s’éteint sans que la volonté y ait la moindre part.“17 Darin unterscheiden sich dann auch amour-goût et amour-passion. Doch genauer noch als andere weiß der Verfasser von De l’amour, dass man sich nicht vom Warum seiner Empfindungen Rechenschaft geben kann: „C’est par ce qu’on ne peut se rendre compte du pourquoi de ses sentiments, que l’homme le plus sage est fanatique en musique.“18 Die Analogie wird gar nicht erst ausgesprochen. Doch eben dieses sonderbare Phänomen ist eines der Zivilisation: Die nur physische und die gröbsten Formen der Liebe gehören den wilden Völkern und den allzu barbarischen zu. „L’amour est le miracle de la civilisation“, heißt es.19 Die schönste Metapher das Buches aber ist die der Salzkristalle am entlaubten Zweig: „Aux mines de sel de Salzbourg, on jette, dans les profondeurs abandonnées de la mine, un rameau d’arbre effeuillé par l’hiver; deux ou trois mois après on le retire couvert de cristallisations brillantes: les plus petites branches, celles qui ne sont pas plus grosses

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que la patte d’une mésange, sont garnies d’une infinité de diamants, mobiles et éblouissants; on ne peut plus reconnaître le rameau primitif“.20 Was hier als Kristallisation beschrieben wird, das ist die fast unbewusste Tätigkeit in Geist und Sinn, die an allem, was sich darbietet, die Entdeckung macht, dass dem Gegenstand der Liebe stets neue Vollkommenheiten eignen. So findet der Prozess der Verfeinerung und Verschönerung kein Ende. Die beigefügten nummerierten Fragmente lassen sich größtenteils wie eine Folge von Aphorismen lesen (die Stendhal nicht selten unter fremdem Namen bringt): „Il faut la solitude pour jouir de son cœur et pour aimer, mais il faut être répandu dans le monde pour réussir.“21 Dazu gehört dann auch, knapp und im Gestus ganz der grossen französischen moralistischen Tradition zugehörig, die Bemerkung: „L’amour est la seule passion qui se paye d’une monnaie qu’elle fabrique elle-même.“22

III. In seinem umfangreichen Essay beruft sich Stendhal auch auf einige Bücher; es sind die Grundbücher der erotischen Leidenschaft. Wenn er La Rochefoucauld, Diderot, Chamfort, Crébillon, die Briefe der Lespinasse, hin und wieder auch Dante, Shakespeare und Racine zitiert, so bezieht er sich doch in besonderer Weise auf Bücher der neueren Zeit: La Princesse de Clèves (1678) der Madame de Lafayette, auf die Geschichte des Abbé Prévost Manon Lescaut (1731), auf Julie ou La nouvelle Héloïse (1761) Jean-Jacques Rousseaus sowie auf Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774). Die Liebenden, die Stendhal nennt, sind real oder fiktiv: Mme du Deffand, Don Juan, St Preux, Werther, bei dessen Liebe man nicht weiß, wohin sie geht, was, wie er sagt, zum Glück für die Tugend auch die beste Taktik ist: „Sans s’en douter, un homme vraiment touché dit des choses charmantes, il parle une langue qu’ il ne sait pas.“23 Aber das ist eben die Sprache der Leidenschaft, die ihm bis dahin unbekannt geblieben war und die man nicht auf der Straße lernt, nicht in den Hörsälen. Zuweilen aber findet man sie in den Büchern der Dichter oder man vernimmt sie auf der Bühne. Wer aber lernt die Leidenschaft aus Büchern kennen? Eher schon spürt ein Mensch, dass er weit zurückbleibt hinter den Empfindungen und den ihnen Ausdruck verleihenden Worten der Dichter.

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„Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben, / Jedes Mädchen, so geliebt zu seyn“24

schreibt Goethe als Motto zum 1. Teil der 2. Ausgabe des Werther von 1775. Dann aber warnt er vor leichtfertig-jünglingshafter Nachfolge. In der Trilogie der Leidenschaft ruft Goethe gleich in den ersten Versen den Schatten Werthers zurück, er tut dies im Sinn einer Beschwörung und signalisiert damit schon im ersten Stück des Triptychons mit mühsam gewahrtem Abstand, dass er von einer ähnlichen Verstörung zu sagen, ja mehr: dass er sich von ihr zu heilen hat. Zelter hat in einem längeren Brief beschrieben, wie er den Freund damals in Weimar vorfand: nach längerer Reise, nun von Erfurt kommend, bleibt er vor dem Haus am Frauenplan zunächst im Wagen sitzen; da niemand sich zeigen will, steigt er aus, tritt in das Haus, der Diener kommt, schweigt, zuckt mit den Schultern, Zelter denkt daran, umzukehren; wohnt hier der Tod? Wo ist Goethe? Der Sohn erscheint. Vater ist sehr krank, heißt es, nein, nicht tot, aber sehr krank. Der resolute Zelter steigt die breiten Treppen hinauf, ungewiss, was ihn erwartet. „Was finde ich? Einen, der aussieht, als hätte er Liebe, die ganze Liebe mit aller Qual der Jugend im Leibe. Nun, wenn es dies ist: er soll davonkommen. Nein: er soll sie behalten, er soll glühen wie Austernkalk; aber Schmerzen soll er haben wie mein Herkules auf dem Ota! Kein Mittel soll helfen; die Pein allein soll Stärkung und Mittel sein. Und so geschah’s, es war geschehn. Von einem Götterkinde, frisch und schön, war das liebende Herz entbunden. Es war schwer hergegangen, doch die göttliche Frucht war da und lebt und wird leben.“25 Nicht ohne Ironie erinnert Zelter den Freund an den beklagenswerten, ja kläglichen Zustand, in dem er ihn vorgefunden und an das Gedicht, die eigentliche ‚Elegie‘, das daraus hervorgegangen. Er hat, so dürfen wir den Fortgang des Briefes verstehen, dem schwer angeschlagenen Freund die Verse mehr als einmal vorgelesen. Es hat dies dem Verfasser offenkundig wohlgetan, hat gewirkt wie ein Heilkraut. „Ich hätte Dir die Strophen jedesmal gern zehnmal wiederholt und glühe immerfort davon, ja ich habe es, ohne ein Wort davon behalten zu haben, so ganz rund und globisch in mir aufgenommen, daß ich zeitlebens davon zu zehren haben werde.“26 Die eigentliche Elegie in dreiundzwanzig, sozusagen um zwei Zeilen verkürzten Stanzen, wird als Kernstück gerahmt von den – später – an Werther gerichteten Versen und denen unter der Überschrift Aussöhnung. Schon die Zitierung der Werther-Gestalt genügt, um einen höchst leidenschaftlichen, verstörenden Zustand vermuten zu lassen,

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sagen wir einfach: eine pathologische Situation. Tatsächlich war Goethe derart erschüttert, dass er erkrankte; der Freund muss ihm die Verse vorlesen, nicht zur Erbauung, sondern gewissermaßen als Medikament. Es ist wohl so, dass die Verse hier eine therapeutische Funktion haben und der Dichter sozusagen an sich selbst gesundet, genauer gesagt, an dem, was er aus seiner Erschütterung gemacht hat. Die Heilung sollte aus der Wunde kommen. Er hat die Erschütterung in Verse gebannt, wie der Schild des Perseus das Antlitz der Meduse. Der Abglanz erst, der farbige, wird nun zum neuen Leben. Von der Beseligung des Eros kann hier die Rede nicht sein, sondern nur von der Verstörung, ja vom Verhängnis, das ihm geschuldet ist. Das wird in den – nachgetragenen – Werther-Strophen ganz deutlich gesagt: Wie ein unvergessener Freund aus frühen Tagen wird der Schatten Werthers angesprochen; die erste Strophe endet mit einem fast überherben Couplet: „Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.“27

Die herrlichen Versprechungen der Lebensfrühe wurden rasch durch verworrenes Wissen und folgenschwere Täuschung verdunkelt. Dann glaubte der junge Mensch das Glück zu erkennen: „Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor, Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor, Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan? Er schaut umher, die Welt gehört ihm an.“

Doch wird sein Flug schon bald gehemmt und gestört; was Jahre boten, rafft ein Augenblick hinweg, am Ende steht ein tückischer Abschiedsgruss. So also läuft es ab. Der arme Werther aber hat es hinter sich: „Du, lächelst, Freund, gefühlvoll, wie sich ziemt: Ein gräßlich Scheiden machte dich berühmt; Wir feierten dein kläglich Mißgeschick, Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück; Dann zog uns wieder ungewisse Bahn Der Leidenschaften labyrinthisch an; Und wir, verschlungen wiederholter Not, Dem Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod!“

Der Dichter singt und rät in seinem Lied, den Tod zu meiden, der die herbe Frucht des Scheidens ist. Das ist lediglich „rührend“; doch er überlebt:

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„Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet, Geb’ ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.“

Der nur leicht abgewandelte Tasso-Vers steht hier im Optativ, so dass es wie eine Bitte klingt. Dass Leidenschaft Leiden bringt, damit beginnen die drei abschließenden Strophen der Aussöhnung. Es scheint dem Herzen in seiner Beklommenheit die Welt abhanden gekommen. Musik wird, wie mit Engelsschwingen heranwehend, zur Rettung. Sie durchdringt das Innere des Menschen vollkommen, und ihr Schönes wirkt als Heilung, wo die sichtbare sinnliche Welt verschwunden ist: „Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen Den Götterwert der Töne wie der Tränen.“28

Nun findet das Herz wie leicht geworden in das Leben zurück, es wird dankbar und willig und opferbereit wie zur Erwiderung der kostbaren Gabe: „Da fühlte ich – o daß es ewig bliebe Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.“

Im Sich-Ergeben wird die Übermächtigung, nun freilich anderer Art, ausgesprochen, im Wissen auch, dass, was so sehr beseligt, doch nicht dauern kann. Aber die Heilung ist gewiss, die dem unglückseligen Werther nicht war beschert worden. Und umso stärker wirkt nun die Musik, als dem Verstörten die wirkliche Welt, Natur und was sie sonst wohl bieten mochte, unwahrnehmbar geworden war.

IV. „Die Leidenschaft bringt Leiden“, so setzt der dritte Teil, die ‚Aussöhnung‘, ein. Von solchem Leiden aber spricht die eigentliche Elegie, das Hauptstück also. Dass die Werther-Epiphanie sich auf neuer Stufe einfach nur wiederholen sollte, davon ist gar nicht die Rede. Nicht der Vorgang und die seltsamen Folgen, das Wesen der Leidenschaft soll sichtbar werden, wie aber anders als in seiner Wirkung? Nichts Vereinzeltes, kaum ein besonderer, biographisch leicht deutbarer Umstand wird vermerkt, kein wirkliches Gespräch und keine Geste wird angeführt, um das Geschehene festzumachen, aber hier ist nun doch von einem Ich die Rede (wie einem Wir); anders als in der Wechselrede mit dem Schatten Werthers, ist dieses ‚Ich‘ allgemein, ist repräsentativ.

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Die Elegie beginnt mit einer Frage, die eine der Erwartung ist; noch hat der Tag sich nicht erschlossen, ein Wiedersehen wird bald über Seligkeit oder Verdammung entscheiden, unruhig weiß der Sinn nicht, wo er Halt finden soll. Doch in einer unerwarteten Wendung scheint dann alles plötzlich entschieden oder doch gelöst zu sein: „Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor Zu ihren Armen hebt sie dich empor.“29

Das aber scheint nur die Antizipation überspannter Erwartung zu sein, und während das ‚Du‘ sich durch die monologische Rede erklären lässt, fragt sich doch, wer hier als Beatrice an das Himmelstor tritt – mit einer solch verheißungsvollen Geste? Vermutlich ist es die verklärte Liebende, die hier vermittelt, ja versöhnt. Der eben noch von Zweifeln Heimgesuchte wird, wie es heißt: „im Paradies empfangen“, erlöst von aller Pein des Sehnens und Begehrens. Der Anblick des Schönen hat alles Verlangen gestillt. War der Übergang zur 2. Strophe nur mit Überraschung zu verfolgen, so lässt sich das leicht erklären: hier wird als Ergebnis festgestellt, was sich so rasch gar nicht vollziehen konnte, ist also imaginärer Wunsch. Die folgende Strophe dann setzt gar als Erinnerung ein: es kam der erwartete Tag, der Abendkuss war Abschied und Verheißung zugleich. Im Rückblick ist die Paradiesespforte nunmehr fest verschlossen, und auch das Herz will sich verschließen: „Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere Belasten’s nun in schwüler Atmosphäre.“

Nur in seiner Wirkung wird der nicht näher bezeichnete Verlust jetzt deutlich. Zwar ist die sinnliche Welt noch vorhanden mit Licht und Schatten, mit Grün und Gewässer und dem Äther, der sich darüber wölbt, in welchem nun das Duft- und Luftgebilde zu wesen scheint. Doch ein Phantom ist’s bloß, mehr nicht: „Doch nur Momente darfst dich unterwinden, Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten; Ins Herz zurück, dort wirst du’s besser finden, Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten;“

Schöner als in Wolkengebilden ist die Geliebte doch im Herzen gegenwärtig. Das Bild als Andenken, ist aufgehobene Gegenwart: „Wie zum Empfang sie an den Pforten weilte Und mich von dannauf stufenweis beglückte;

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Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte, Den letztesten mir auf die Lippen drückte: So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben, Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben.“

Wieder aus der allgemein gehaltenen Evokation in die erste Person übergehend, dankt der Dichter der Liebe ein erhabenes Empfinden. Tatsächlich ist diese neue Liebe Religion, ist dem Frieden Gottes, der doch höher ist als alle Vernunft, sehr ähnlich: „In unsers Busen Reine wogt ein Streben Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich dem ewig Ungenannten; Wir heißen’s: fromm sein ! – Solcher seligen Höhe Fühl’ ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.“

Eine solche Liebe macht dankbar und macht fromm. In der Hingabe an ein Höheres und Unverdunkeltes scheint sich das egoistische Begehren, Genuss wie auch Besitzfreude zu verlieren. Die Starre der Selbstsucht löst sich in einer solchen pietas auf, für Eigennutz ist nun, wo er auch schon alles verloren hat, kein Raum. Aber vielleicht ist diese Art von Veredelung im Verzicht doch nur die Antwort auf die Erfahrung des Verlustes. Der beglückt Liebende spricht zweifellos anders – wenn er spricht. Was soll ihm das Gedicht? Was hier gesagt, was als scheinbar Ausgesprochenes im Gedicht zitiert wird, kommt wie aus dem Munde der Erhöhten und Geliebten; Weisheit und Reinheit werden Gegenwart: „Es ist, als wenn sie sagte: ‚Stund‘ um Stunde Wird uns das Leben freundlich dargeboten, Das Gestrige ließ uns geringe Kunde, Das Morgende, zu wissen ist’s verboten; Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute, Die Sonne sank und sah noch, was mich freute.“

Was in der Erinnerung als schon Erinnertes aufgerufen wird, scheint schön gewesen – „wie es auch sei das Leben“. Dazu ruft die Geliebte ihn auf: „Drum tu wie ich und schaue, froh-verständig, Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben! Begegn’ ihm schnell, wohlwollend wie lebendig, Im Handeln sei’s, zur Freude, sei’s dem Lieben; Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich.“

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Doch diesem Weisheitsaus- und Weisheitsanspruch, der Forderung nach voller Gegenwart, wie Kindern eigen ist, nach kindlich-reinem, nur dem Gegenwärtigen hingegebenem Dasein, begegnet eine überraschend alltägliche und frostige Wendung: „Du hast gut reden, dacht’ ich, zum Geleite Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes, Und jeder fühlt an deiner holden Seite Sich augenblicks den Günstling des Geschickes;“

Die Weisheit nützt dem Verstörten nicht viel, er will nicht zu scheiden gezwungen sein; es bleibt die Unruhe, die Glut wie auch der Schmerz: „Wohl Kräuter gäb’s, des Körpers Qual zu stillen; Allein dem Geist fehlt’s am Entschluß und Willen,“

Es fehlt auch am Begriff, der ihn das Notwendige verstehen und ihn darin sich halten lässt. Nur spürt er, dass ihm Entschlossenheit und auch der Wille zu genesen, versagt sind. Es schwankt das Bild der Geliebten, es zögert heran und schwindet wieder: „Wie könnte dies geringstem Troste frommen, Die Ebb’ und Flut, das Gehen wie das Kommen?“

Es bleibt, nach einer Pause, nichts als Verzweiflung. Die Beschwörung scheint vergeblich gewesen, aber eben dies auszusprechen, hilft die Vergeblichkeit zu überwinden – vielleicht: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen mich – und richten mich zu Grunde.“

So endet die Elegie in unwiderruflicher Trostlosigkeit. Es sind die Verse eines, der es unternimmt, sich selbst zu heilen. Nicht die Liebe ist ‚Gegenstand‘, das eigentliche Thema des Gedichtes, sondern die Selbstheilung.

V. Es ist kaum noch wichtig, auf die biographischen Bezüge hinzuweisen, die Begegnung mit der jungen Ulrike von Levetzow in Marienbad, Goethes aufflammende Neigung, die Zurückweisung, die Heimfahrt nach Weimar, von Poststation zu Poststation mit einer neuen Strophe

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der entstehenden Elegie, die vorausgegangene Bewunderung für das Klavierspiel der polnischen Künstlerin Maria Szymanowska aus St. Petersburg, schließlich die Bitte des Verlegers Weygand, für eine Neuauflage des Werther nach fünfzig Jahren ein Vorwort zu verfassen, sodann die Erkrankung, von der uns Zelter berichtet. Weit wichtiger als solche Fakten ist der Grad der Stilisierung: Nicht allein die Werther-Leidenschaft des über Siebzigjährigen, nicht nur die nachgestellte Beruhigung durch die einzige der zu keiner Nachahmung angehaltenen Künste, der gewissermaßen ganz unsinnlichen, sondern vor allem die grandiose Überhöhung im Monolog der Stanzenfolge und ihrem wahrhaft erschütternden Ausklang. Stilisierung jedoch bedeutet hier nicht die der eigenen Person (die ja biographisch gar nicht fassbar wird), als vielmehr des ganzen, im Inneren eines Individuums sich vollziehenden Geschehens und seine konsequente Entpersönlichung, die erst in den letzten Versen des Gedichtes aufgebrochen wird, wenn es heißt: „Mir ist das All ich bin mir selbst verloren (…)“, verknüpft mit der Klage, dass ihn die Götter, als deren Liebling er sich hatte fühlen dürfen, jetzt zu Grunde richten. Es ist ein Abschied wie vom Leben selbst. Der Schatten Werthers fällt auf die Strophe. „Tanto è amara, che poco è piu morte“, könnte man mit Dante sagen30, der selbst mit seiner Vita Nuova jenen Bereich des Lebens betreten hat, in dem der nicht weiterschreiten soll, welcher noch die Absicht hegt, (in das Leben) zurückzukehren.31 Die Vita Nuova Dantes, teilweise Poetik, teilweise autobiographische Rechtfertigung, wurde, so scheint es, nach schwerwiegenden Erschütterungen geschrieben – wie um sich zu retten im Gedicht. Es geht freilich um keinerlei willkürlichen Vergleich, nur um ein frühes, hochbedeutendes Analogon. Gewalt der Liebe ist im frühen 14. und im frühen 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Individuen, in verschiedenartig geprägten Gesellschaften, unter anderen geschichtlichen Voraussetzungen, notwendig anders. Manches, was Goethe im Werther wie in der Elegie ausspricht und was beinahe blasphemisch verstanden werden könnte, hätte Dante kaum niederzuschreiben sich getraut, es wäre ihm wohl gar nicht in den Sinn gekommen. Aber die verstörende, ja zerstörerische Gewalt der Liebe ist nicht zu leugnen; sie hat mit Eitelkeit, Eifersucht, mit Selbstgenuss und Wehleidigkeit nichts zu tun. Ungriechisch ist sie überdies. Dem eigentlich Tragischen ist Goethe, seinem eigenen Geständnis zufolge32, möglichst ausgewichen, er war nun nicht allein zu konziliant hierfür, ironisch also, er war nur zu sensibel (oder anfällig). Aber er konnte natürlich auch das Tragische aus seinem Leben nicht entfernen,

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die Schuld so wenig wie das Leiden. Er wusste natürlich auch, dass die verkürzte Form der Stanze, wie er sie in seiner Elegie verwendet, keine antikisierende, sondern eine ‚romantische‘ Form war, eine nicht lyrische, sondern eher epische Form, erzählend ausgerichtet und betrachtend. Auch das Aussöhnung überschriebene Gedicht ist nicht als eine der ‚Elegie‘ im genauen Sinne zugeordnete Gedichtform zu verstehen: nur um die allzu heftige Wirkung der Elegie zu mildern, hat Goethe diese Strophen, beinahe willkürlich, dieser hinzugefügt, wie er die Werther-Strophen erst Monate später, dann aber wohl schon mit dem Blick auf die Elegie geschrieben hat. Wie wir aus Briefen, Gesprächen und Gedichten wissen, hat Goethe die Liebe nicht nur in ihrer bedrohlichen, sondern auch in ihrer beglückenden, das Gefühl des Lebens steigernden Gewalt erfahren, man erinnere sich nur der Gegenwart des Eros in den Römischen Elegien wie im West-Östlichen Diwan. Er kennt die Macht des Eros in ihrer ganzen Ambivalenz: beunruhigend, beseligend, bedrohlich. Er hat ihn als den eigentlichen Geist des Lebens nicht gefürchtet, sondern bejaht und gefeiert. Unter seinen epigrammatischen Sprüchen findet sich unter der Überschrift Das Beste der Vers, der an keinerlei Bedrohung mehr erinnert: „Wenn dir’s in Kopf und Herzen schwirrt, Was willst du beßres haben! Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, Der lasse sich begraben.“33

Anmerkungen Die grundsätzlichen Erwägungen zu Beginn dieser Studie schließen sich an die Veröffentlichung des Verfassers an: Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft, Heidelberg 2000. 1. Œuvres complètes de La Rochefoucauld, Texte établi et annoté par Martin Chauffier, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1950, Maxime No. 6. 2. Ebd., No. 102. 3. Montesquieu, Œuvres complètes, Texte présenté et annoté par Roger Caillois, Bibliothèque de la Pléiade, 81,96, Paris 1949–1951, Tome I, Paris 1949, 1273. 4. Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. von Arthur Schopenhauer, mit einer Einleitung von Karl Voßler, Stuttgart 1961 (1862), 3. 5. La Bruyère, Les Caractères ou les mœurs de ce siècle. Préface et notes de Georges Mongrédien, Paris 1954, 125.

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6. Ebd., 127. 7. Denis Diderot, Œuvres philosophiques, Textes établis par Paul Vernière, Paris 1961, 9. 8. Nicolas de Chamfort, Maximes et Pensées, Caractères et Anecdotes, Préface d’A. Wild, Porrentruy 1946, 38. 9. Ebd., 45. 10. Ebd., 45 11. Denis Diderot, Enzyklopädie. Philosophische und politische Texte aus der Encyclopédie, mit einem Vorwort von Rainer Wuthenow, München 1963, 237 f. 12. Edmund et Jules de Goncourt, Tagebuch, hg. und übers. v. Justus Franz Wittkop, Frankfurt a. M. 1983, 141. 13. Brief vom 7.10.1846, in: Gustave Flaubert, Correspondance, édition établie, présentée et annotée par Jean Bruneau, Bibliothèque de la Pléiade, Tome I, Paris 1973, 378. 14. Stendhal (Henri Beyle), De l’Amour, par l’auteur de l’Histoire de la Peinture en Italie et Vies de Haydn, Mozart et Métastase. Paris, Mongie 1822, 2 vol. 15. Stendhal (Henri Beyle), De l’Amour. Texte établi et présenté par Henri Martineau, Paris 1959, 25. 16. Ebd., 34. 17. Ebd., 50. 18. Ebd., 52. 19. Ebd., 93. 20. Ebd., 43. 21. Ebd., 271 (Nr. 20). 22. Ebd., 323 (Nr. 145). 23. Ebd., 124. 24. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz, Hamburg 1948–60, Bd. 14, 92. 25. Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. v. Max Hecker, Band 2, Leipzig 1915, 258 ff. 26. Ebd. 27. Goethes Werke [Anm. 24], Bd. 1, 380 f.; hier auch die folgenden Zitate. 28. Ebd., 386; hier auch das folgende Zitat. 29. Ebd., 381 ff.; hier auch die folgenden Zitate. 30. Dantis Alagherii Opera Omnia. Introduzione di Benedetto Croce, Leipzig 1921, Tomo I, 3. „Es ist so herb, dass es der Tod kaum mehr ist.“ 31. Ebd., 20; im Original: „Io tenni li piedi in quella parte della vita, di là dalla quale non si può ire più per intendimento di ritornare.“ 32. Briefwechsel [Anm. 25], Band 3, Leipzig 1918, 502 f. 33. Goethes Werke [Anm. 24], Bd. 1, 315.

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Stimmung in der Malerei. Zu einigen Bildern Georges Seurats In der Emotionsforschung wird die Stimmung von den Affekten unterschieden. Während sich Affekte auf ein bestimmtes Objekt oder auch einen konkreten Vorgang richten, ist der Charakter der Stimmung ungerichtet, aber ‚total‘. D. h. die Stimmung bildet einen Hintergrund allen Geschehens, tönt dieses, ohne die Ausschließlichkeit der Affekte zu besitzen.1 Stimmung kann somit auch unbemerkt sein und erst nachträglich festgestellt werden. Der Stimmungsbegriff ist hierbei gekennzeichnet durch gegenläufige Momente. So ist Stimmung sowohl die Bezeichnung für dauerhafte Zuständlichkeit als auch für atmosphärische Flüchtigkeit, sie bezeichnet ebenso eine individuelle Verfasstheit, die isolierend wirkt, z. B. die Melancholie, wie sie das Gefühl einer Gruppe fasst.2 Stimmung in der Malerei wird konstatiert, wenn ein Gemälde eine emotionale Grundfärbung aufweist, die dem Bild Geschlossenheit, Stimmigkeit und Gleichklang verleiht. In dieser ‚psychologischen‘ Bedeutung wird der der Musik entlehnte Stimmungsbegriff seit Ende des 18. Jahrhunderts auf die Malerei übertragen.3 Systematische Untersuchungen über die Stimmung in der Malerei sind vor allem der sogenannten ‚Stimmungslandschaft‘ gewidmet. Hierunter werden Landschaftsgemälde verstanden, bei denen der gewählte Naturausschnitt bestimmt wird durch eine einheitliche atmosphärische Tönung, die einen emotionalen Gesamteindruck beim Betrachter hinterlassen soll. So gibt Friedrich Theodor Vischer in seiner Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen im Abschnitt über die Malerei das „Stylbild und Stimmungsbild“ als Kategorie der Landschaftsmalerei an.4 Alois Riegl orientiert sich wohl an Vischers Stimmungsbegriff, wenn er die Stimmung als wesenhafte Bestimmung der Landschaftsmalerei und diese als vornehmste Aufgabe moderner Kunst versteht.5 Die Verbindung des Stimmungsbildes mit der autonomen Landschaftsmalerei und

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deren Aufwertung als Signum der Moderne durch Vischer und Riegl hat eine Grundlage geschaffen, der auch neuere Untersuchungen zum Stimmungsbild folgen, indem sie vor allem die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts zum Untersuchungsgegenstand erheben.6 Prominentestes Beispiel einer solchen Stimmungslandschaft sind die romantischen Landschaften Caspar David Friedrichs. Hier sind reziprok sympathetische Einfühlung in die Landschaft und Widerspiegelung der Verfasstheit des Malersubjektes ins Bild gesetzt.7 Indem Stimmung in der Malerei durch die Forschung üblicherweise mit der Stimmungslandschaft in eins gesetzt wird, wird auch ihre Funktionsweise als Einfühlung und Widerschein des Individuums absolut gesetzt. Demgegenüber glaube ich, dass der Stimmungsbegriff das Potential birgt, emotionale Bildstrategien auch jenseits der Landschaftsmalerei verständlich zu machen, und werde daher im folgenden die Personengemälde des postimpressionistischen Malers Georges Seurat mit der Perspektive des Stimmungsbegriffs untersuchen. Seurats auf der 8. Impressionisten-Ausstellung am 15. Mai 1886 ausgestelltes Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel ‚La Grande Jatte‘ (1884–1886) (Farbtafel VI) zeigt ein Pariser Naherholungsgebiet am Rande der Seine. Auf einer sommerlich hell beleuchteten, baumbestandenen Wiese widmen sich Städter gepflegter Erholung in der Natur. Modisch und sittsam gekleidet liegen sie ausgestreckt in Schattenbänken oder promenieren, geschützt durch kleine Sonnenschirme, auf der Wiese. Handlung erscheint lediglich als Freizeitbeschäftigung Einzelner. Eine Frau angelt konzentriert im Fluss, im Vordergrund scheint eine andere mit einer Handarbeit beschäftigt, ein Mann im Mittelgrund spielt Posaune. Auf dem Fluss sind einige Segelboote und ein Sportruderboot zu erkennen. Im Großen und Ganzen dominiert jedoch eine Stimmung von Muße und Nichtstun. Seurat vermittelt diese Stimmung gänzlich ohne Rekurs auf physiognomischen oder narrativen Ausdruck. Im Gegenteil: Die Figuren sind allesamt bewegungsarm und ausdruckslos, ihre Gesichtszüge schematisch als helle Flächen gegeben. Solcherart auf Gestik wie Mimik verzichtend, isoliert Seurat die Figuren voneinander und suspendiert sie vom Handlungskontext. Der Eindruck von Ereignislosigkeit, Regungslosigkeit und Vereinzelung entsteht jedoch nicht allein durch die motivische Schilderung, sondern auch durch die Farbgebung. So trennt Seurat mittels Farb- und Helligkeitskontrasten jeweils fest umgrenzte Körper voneinander und vom Umraum, statt die kurz zuvor neu entwickelte Punkttechnik dazu zu nutzen, die Figuren miteinander zu verschmelzen oder sie in der Um-

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gebung aufgehen zu lassen. Dies wird deutlich im Vergleich mit dem verwandten Sujet der Grenouillères-Gemälde von Monet, die einen anderen Abschnitt der Insel ‚La Grande Jatte‘ zeigen.8 Lösen sich bei Monet die Objektgrenzen auf in einer lichtdurchfluteten Atmosphäre, so reduziert Seurat weitestgehend dissoziierende Licht- und Schattenspiele auf den Körpern zugunsten einer einheitlichen, dinghaften Dominanz der Lokalfarben. Wo Monet Momenthaftigkeit inszeniert anhand verstreuter Lichtund Schattenflecken, die den Wechsel des Sonnenlichts durch die Bewegung des Blattwerks simulieren, vermitteln die festgefügten Felder der Grande Jatte zeitliche Dauer. Seurat steigert den Eindruck von Dauer zur Bedeutungsanmutung, indem er die Bildfiguren trotz ihrer Banalität monumentalisiert. Die Auswahl der Figuren aus den Studien für das Gemälde zeigt, dass Seurat mit Bedacht im Gemälde die Schilderung von Handlung vermieden hat.9 Wenn er handelnde Personen ausgewählt hat, dann nur solche, deren Handlungen absorptiv sind und andere Personen ausschließen. In der Endfassung des Gemäldes steigert Seurat gegenüber den Skizzen zusätzlich die Plastizität der Figuren durch die beschriebenen Farbmodulationen und Helligkeitskontraste, aber auch durch die Verstärkung der Außenkontur. Zusätzlich betont Seurat diese Objektgrenzen, indem er den direkt angrenzenden Raum aufhellt und so den Personen eine Art Aura verleiht. Er erreicht mit diesem Mittel den Effekt einer Irradiation, ein Wahrnehmungsphänomen, das Seurat in der Studie Die Phänomene des Sehvermögens des Kunsttheoretikers David Sutter beschrieben fand, die er nach eigenen Angaben gelesen hat.10 In der Irradiation wirken dunkle Objekte vor hellem Hintergrund zu ihren Objektgrenzen hin dunkler, während der sie unmittelbar umgebende Raum heller strahlt. Zur Bedeutungssteigerung der Figuren empfiehlt auch Charles Blanc in seinem breit rezipierten Handbuch für Künstler von 1867 dieses Mittel.11 Trotz der durch Irradiation erzielten Monumentalisierung der Figuren weist Seurat kein Bedeutungszentrum im Bild aus. In der räumlichen Anordnung der Figuren achtet er auf gleichmäßige Verteilung. Alle Figuren behaupten so den gleichen Status. Die Monumentalität der Figuren zielt auf Gehalt, sie können allerdings wegen ihres unbestimmten Charakters keine allegorische Bedeutung annehmen. Zu sehen sind Pariser Bürger, einer Sonntagnachmittags-Beschäftigung nachgehend, die trotz ihrer Statuenhaftigkeit keinen Hinweis auf weitere Bedeutungsschichten tragen. Diese Figuren wurden in der zeitgenössischen Literatur als „hieratisch“ bezeichnet.12 Mit

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jenem Begriff wurde dem Hiatus zwischen Bedeutungslosigkeit und Monumentalisierung Rechnung getragen. Man könnte auch sagen: Seurat modifiziert den Betrachtungsmodus des empirisch Wahrnehmbaren, ohne eine fiktive Gegenwelt zu schaffen. Einem ebensolchen Perspektivwechsel unterzieht Seurat den Bildraum. Der naturalistisch gehaltene Raum ist, wie die Skizzen zeigen, Studien einer bestimmten Uferstelle der Seine-Insel ‚La Grande Jatte‘ bei Neuilly entnommen. Aus den einzelnen Studien kompiliert Seurat sehr früh einen zunächst kohärent scheinenden Raum, der als ‚Bühne‘ für die zahlreichen Kompositionsskizzen dient.13 Im fertigen Gemälde stören allerdings Perspektivverschiebungen die Wahrnehmung eines Raumkontinuums, das Vertraute wird distanziert.14 Durch Distanzierung von Raum und Figuren wird die geschilderte Situation mit neuem Vorzeichen versehen. Sie ist in einem bestimmten Modus wahrzunehmen. Wiewohl die Distanz zur empirisch erfahrbaren Wirklichkeit hier nicht in allegorische Bedeutung mündet, ist doch eine inhaltliche Dimension in hieratischen Figuren und verschobenem Bildraum aufgehoben. So scheint die Stimmung selbst Bedeutung zu transportieren. Schon Ernst Bloch beschrieb La Grande Jatte als Beispiel einer Wunschlandschaft jenes „gebliebenen Sonntags“, als ein „einziges Mosaik von Langeweile, ein Meisterstück des Sehnsüchtig-Ungelungenen und Abstandhaften im dolce far niente“.15 Der Eindruck von Dauer (Blochs „gebliebener Sonntag“) entspricht dem Charakter der Stimmung als Zuständlichkeit, als alles tönende Färbung im Gegensatz zu den zeitlich begrenzten Affekten, wie zuvor ausgeführt. Diese Lesart kann durch die späteren Gemälde bekräftigt werden, erweitert Seurat doch in diesen das Repertoire an Ausdrucksmitteln für den Stimmungsgehalt. So wendet er dort ein von dem Universalgelehrten Charles Henry entwickeltes Schema zur emotionalen Ausdruckssteigerung an. Im wesentlichen basiert dieses Schema auf der Zuordnung von Farben, Winkeln, Diagonalen und Tönen, die dynamogen, d. h. belebend, positiv, aktiv bzw. inhibitorisch, d. h. stockend, negativ, passiv, traurig wirken sollen.16 Ein großer Teil der Forschung sieht in diesen Bildmitteln selbstbezügliche Elemente einer experimentellen Ästhetik zur Erprobung von Reizen und Reaktionen, die einem mechanistischen Wahrnehmungsmodell geschuldet sind.17 Anstelle einer solch formalistischen Lesart sollte man die Anwendung dieser Modelle vielmehr als Mittel zur Bedeutungsstiftung verstehen. So verstärkt Seurat in Gemälden wie der Parade vor dem Zirkus, dem Chahut und dem Zirkus gegenüber der Grande Jatte die Grundfärbung

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des Geschehens, den Ausdruck der Stimmung in der Anwendung Henry’scher Mittel.

Abb. 1: Georges Seurat, Die Parade vor dem Zirkus, Öl/Lw., 1887/88, New York, The Metropolitan Museum of Art

Die Parade vor dem Zirkus (1887/88, Abb. 1) ist in nächtlich blauviolette Farben getaucht. Das Gemälde ist nach strengem Horizontal- / Vertikalraster ohne jede Tiefenerstreckung aufgebaut. Friesartig nebeneinander gereiht stehen Musiker, Clown und Zirkusdirektor auf der Galerie vor einem Zirkuszelt. Am unteren Bildrand sind in dunklen Umrissen Köpfe wartender Zuschauer zu sehen, am rechten Bildrand steigen die Vordersten der Reihe eine Treppe hinauf zur Kasse auf der Galerie. Ein als schwarze Silhouette vor erleuchtetem Hintergrund gegebener Posaunist, der auf einem einzelnen Podest vor der Galerie steht, ist die prominenteste Figur in der Bildmitte. Er trägt das Kostüm eines Clowns. Wie bereits in La Grande Jatte ist auch hier eine Szene aus dem Alltagsleben der Pariser Bourgeoisie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch hieratische Figuren und einen irrealen Bildraum verfremdet. Eine zentralperspektivische Erschließung des Bildraumes wird unmöglich. Nirgends ist eine perspektivische Flucht gegeben, Geländer, Pfeiler, Tür- und Fensteröffnung der Kasse sind in streng rechtwinklig horizontaler und vertikaler Ausrichtung gehalten. Der ideale Augenpunkt ist an

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jeder Stelle gleichermaßen frontal gesetzt. Einzig die von dem Podest verdeckten Füße des Posaunisten deuten eine Untersicht an, die sich allerdings durch keine perspektivische Verkürzung des Raumes oder der Personen bestätigt. Solcherart eignet der Szene etwas Irreales. Nach dem Henry’schen Schema wird der blauvioletten Farbtönung eine ‚inhibitorische‘ Wirkung zugeschrieben.18 Sie soll passiv wirken, eine negative, traurige Stimmung erzielen. Dem von Henry unterstellten Zusammenhang von musikalischer Klang- und visueller Farbwirkung entspricht Seurat durch die Wahl der eher dumpftönigen Musikinstrumente Posaune und Klarinette. Die mittels der unperspektivischen Frontalität des Raums und hieratischer Figuren erzielte Wirkung von Dauerhaftigkeit und Bedeutsamkeit verleiht der gesamten Szenerie eben jenes Gepräge stimmungshafter Erschlossenheit, wie sie in der Grande Jatte schon zu beobachten war. Während dort allerdings eine Stimmung der Muße oder auch Langeweile vorherrschte, drückt die Parade vor dem Zirkus eine melancholische Grundstimmung aus. Für den Chahut (1889/90, Abb. 2) und den Zirkus (1890/91, Abb. 3) wendet Seurat spitze Winkel und energiegeladene Linien als zusätzli-

Abb. 2: Georges Seurat, Der Chahut, Öl/Lw., 1889/90, Otterlo, Rijksmuseum Kröller-Müller

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Abb. 3: Georges Seurat, Der Zirkus, Öl/Lw., 1890/91, Paris, Musée d’Orsay

che Mittel zur emotionalen Ausdruckssteigerung an. Im Chahut dominiert eine schematisch gegebene Cancan-Formation die Bildstimmung. Vier Tänzer stehen hintereinander verschachtelt auf einer schrägen Bühne und werfen jeweils ihr rechtes Bein hoch in die Luft. Vier Körper und acht Beine sind hierbei in perfekter Symmetrie. Unzählige Schleifen und Bänder an Schuhen und Gewändern der Tänzerinnen und die Frackschöße der Tänzer schießen flammenförmig nach oben. Die schräge Standfläche, auf der nur die Zehenspitzen der Tänzer aufruhen, ist durch spitze Dreiecke zusätzlich dynamisiert. Die Geigenbögen des Orchesters am linken unteren Rand der Bühne und der Dirigentenstab stechen schräg in die Luft und auch die Notenblätter flattern schräg nach oben. Die Szene ist dominiert von Rottönen. Auch ohne zu wissen, dass nach Henry die Farbe Rot ‚dynamogen‘ wirkt, würde man dem Rot einen erotisch-aggressiven Farbwert zuschreiben. Das gesamte Bild reflektiert den Chahut als ekstatischen Höhepunkt des Cancan.19 Das unvollendete Gemälde Der Zirkus (Abb. 3) drückt ebenfalls eine schlängelnde, züngelnde, peitschende Stimmung aus. Doch hier

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korrespondieren Gelbtöne mit hellen Geigenklängen und setzen an Stelle der erotischen Ekstase heitere Ausgelassenheit. Anhand der gezeigten Beispiele wird deutlich, dass bei Seurat die Stimmung eine andere Funktion einnimmt, als dies in der romantischen Landschaft der Fall war. Anstelle eines sich öffnenden Resonanzraumes sind Szenen alltäglichen Lebens geschildert, die den Betrachter nicht unmittelbar auf sich selbst zurückwerfen. In Seurats Verbindung von Gesellschaftsschilderung mit dem gesteigerten Ausdruck der Stimmung ist die Rückspiegelung auf die eigene Seele nicht ohne weiteres möglich. Aber auch die Deutung der Stimmung als gesellschaftskritischer Kommentar zum Bildgeschehen, wie dies u. a. John House, Timothy J. Clark und Linda Nochlin vorschlagen, kann nicht überzeugen.20 Konnte die Langeweile der Grande Jatte noch als sarkastisches Sittengemälde der Bourgeoisie gelten und kann die Melancholie der Parade vor dem Zirkus noch als eine gesellschaftskritische Reflexion auf die Rolle des Künstlers als Clown für die Massen gelesen werden21, so stellen doch die erotisch aufgeladene Stimmung des Chahut und die Lustigkeit des Zirkus eine Deutung der angelegten Stimmung als gesellschaftskritische Allegorie erheblich in Frage. Von größerer Bedeutung für die Analyse scheint mir vielmehr die Beobachtung, dass sich Stimmung im Wahrnehmungsvorgang selbst ereignet. Mittels divisionistischer Punkttechnik simuliert der Künstler den Wahrnehmungsvorgang, wobei hier der empfundene Effekt, das bewusste Wahrnehmen, gegenüber dem physiologischen Vorgang im Vordergrund steht. Sollen durch die Farbtrennung die einzelnen Bildpunkte als optische Mischung im Auge synthetisiert werden, wie auch in der Alltagswahrnehmung aus verschiedenen Farbinformationen eine homogene Farbwirkung entsteht22, so spricht hierbei einiges dafür, dass Seurat seine Gemälde auf Nahsicht konzipiert hat, in der der beständige Umschlag von Farbsehen und Gegenstandserkenntnis diese ‚Spielregeln‘ durchsichtig macht.23 Es ging Seurat demnach nicht einfach darum, in der Anwendung neuester physiologischer Erkenntnisse die Farb- und Lichtwirkung seiner Gemälde zu optimieren, sondern darum, den Wahrnehmungsvorgang selbst zu simulieren und zu thematisieren. Darauf weist auch die Simulation des von Chevreul untersuchten Wahrnehmungsphänomens der Irradiation bereits hin. Vor den Wahrnehmungsgegenstand schiebt sich die Darstellung der Wahrnehmung selbst. Das Objekt wird nicht nur abgebildet, sondern als Gesehenes markiert. Weil das Bild ‚als Gesehenes‘ gezeigt wird, wird die im Gemälde angelegte Grundstimmung als Bestandteil des Wahrneh-

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mungsvorganges selbst gezeigt und nicht als spätere Zutat im Sinne eines Urteils oder einer Übertragung, wie es die gestimmte romantische Landschaft noch sein konnte. Bereits die Impressionisten hatten die Alltäglichkeit der Stimmung an Stelle der stimmungsgeladenen Ausnahmesituation gesetzt, in der der romantische Betrachter der Natur und darin sich selbst begegnet. Gerade weil sie nicht Ausnahmesituationen darstellen, zeigen die stimmungsvollen impressionistischen Bilder, dass das Konzept einer neutralen Wahrnehmung von Objekten idealistische Konstruktion ist. Impressionistische Gemälde machen deutlich, dass sich die Wahrnehmungsgegenstände situativ verändern und niemals in irgendeiner steten Form festzuhalten sind. In seinen Gemäldezyklen, wie den Getreideschobern, studierte Monet verschiedene atmosphärische Stimmungen gegenüber einem konstanten Objekt.24 In der stetig wechselnden Erscheinung des Anschauungsobjektes ist Stimmung als etwas Vergängliches, als Atmosphäre gekennzeichnet. Im Gegensatz hierzu ist Seurat nicht am Wechsel der Stimmungen interessiert und charakterisiert sie auch nicht als atmosphärisch. Die Stimmung in Seurats Gemälden erlangt vielmehr etwas Grundlegendes, das mit dem Wahrnehmungsgegenstand fest verknüpft ist. Die ‚Grundstimmung‘ der Gemälde ist eng mit der Auswahl des Sujets verzahnt, sie ist eine Art ‚emotionaler Gehalt‘ desselben. Dieser emotionale Gehalt entspricht der spezifischen Tönung der Sujets in der zeitgenössischen Literatur und Kunstproduktion. So folgt die melancholische Stimmung der Zirkusparade ebensolchen üblichen Assoziationen, wie die dynamische Heiterkeit mit Zirkus fast synonym gesetzt werden kann. In eben dieser Logik entspricht dem Sujet ‚Café-Concert‘ eine frivole, sexuell aufgeladene Dynamik und dem Sonntagsausflug Muße und Langeweile. Ob diese Grundstimmung der – wie ich es zuvor genannt habe – ‚emotionale Gehalt‘ des Motivs ist, oder das Motiv ausgewählt wurde, um die Grundstimmung zum Ausdruck zu bringen, ist hier für die Deutung zweitrangig. Ein an der empirischen Wirklichkeit orientiertes Motiv und eine an der Empfindung orientierte Stimmung werden als untrennbar im Wahrnehmungszusammenhang vereint dargestellt. Dies führte bei Zeitgenossen zum Zweifel am Wirklichkeitscharakter des Dargestellten: Le Fustec beschreibt die Stimmung als einen Gazeschleier, der die Wahrnehmungsobjekte verhülle und stellt die Frage: „Was malt er also? Ist es eine Idee?“ Er antwortet: „Einen Traum, oder vielmehr einen Raum, von dem sich der Traum emporschwingen kann, aber es ist ein Raum ohne Echo, ohne irgendein Lied, ein fortwährend unbeseelter Raum.“25

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Die Verwirrung angesichts der Stimmung in Seurats Malerei erweist sich, wie die zeitgenössische und auch die moderne Kritik zeigt, vor allem im Bezug auf zu verwendende Beschreibungskategorien. Werden die Möglichkeiten künstlerischer Darstellung begrenzt, entweder auf die Repräsentation des empirisch Erfahrbaren oder auf eine Metarealität, muss notwendigerweise Stimmung als Schleier des Subjektiven verstanden werden, der die Objekte der Anschauung verunklärt, oder wie es Michael Zimmermann in seiner umfangreichen Monographie über Seurat fasst, als Reflexion, die sich vor die Gegenstände schiebt.26 Der Stimmungsbegriff als Beschreibungskategorie birgt demgegenüber das Potential, emotionale Zustände und Wahrnehmung des Umraums als einen simultanen Vorgang kennzeichnen zu können. In der neueren Kognitionsforschung wird Stimmung als „Rahmen des Geistes“ bezeichnet, als „kolorierender Hintergrundcharakter“, der Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und Gedanken färbt, also als Modi der Selbst- und Außenwahrnehmung.27 In zahlreichen Versuchen seit den 1980er Jahren wurden Probanden durch verschiedene Mittel in positive oder negative Stimmung versetzt und die Auswirkung der erzeugten Stimmung auf Wahrnehmung, Gedächtnisleistung und Urteil überprüft. Es besteht mittlerweile Konsens darüber, dass die Stimmung Effekte auf alle diese Bereiche hat.28 Diese gestimmte Wahrnehmung zeigt uns Seurat. Da er die Stimmung mit einem spezifischen Motiv verknüpft, stellt sich jedoch die Frage nach der Sinndimension. Dass die Bedeutung der Gemälde in ihrem Ausdruck selbst verdichtet ist und nicht durch diesen denotiert wird, hat auch schon ein Zeitgenosse Seurats, der Brüsseler Poet Émile Verhaeren, Mitglied des AvantgardeKreises der XX erkannt. Verhaeren schreibt: „Er bedient sich technischer Experimente ausschließlich dazu, seinen Blick zu kontrollieren. […] Vor ihr [der Grande Jatte] träumt man vom Mittelalter [aux gothiques]. So wie die alten Meister ihre Personen hieratisierten […], synthetisiert M. Seurat das Verhalten, die Posen, die Gangart. Was sie machten, um ihre Zeit auszudrücken, versucht er für die seine […]. Seine Gesten der Spaziergänger, ihre Gruppierung, ihr Kommen und Gehen sind essentiell.“29 Folgt man dieser Deutung von Verhaeren, so verweist die emotionale Grundtönung des Gemäldes, die als geschlossener, einheitlicher Ausdruckswert vermittelt wird, auf die Erfahrung des Alltäglichen. Der Sinn, der bereits in dieser Erfahrung selbst liegt, wird durch die Mittel der Verfremdung allererst gekennzeichnet. Die Stimmung zeigt das Wahrgenommene als Gegenstand, der dem Bewusstsein in spezifischer

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Weise gegeben ist. In seiner Thematisierung des Alltäglichen, Banalen (Strandbad, Zirkus, Café-Concert) zielt Seurat auf das Grundsätzliche, stets Gegebene. Möchte man diese durch die Stimmung übermittelte Bedeutungshaftigkeit nicht als nachgängiges Urteil, sondern sozusagen als Begleitumstand der Stimmung verstehen, so muss man den Stimmungsbegriff noch weiter fassen, als dies die Kognitionswissenschaftler aufgrund ihres Angewiesenseins auf reproduzierbare Versuchsanordnungen leisten können. In der Philosophie Martin Heideggers kommt der Stimmung eine wesentliche Bedeutung zu. Durch ihren Charakter des ungerichteten, wenngleich totalen Welt- und Selbstbezugs kann sie als paradigmatisch für Heideggers Konzept des vor jeder theoretischen Erkenntnis gegebenen Weltbezugs gelten. Bedeutung liegt bereits durch die stimmungshafte Gegebenheit der Welt selbst vor.30 Das Potential, das Heidegger der Stimmung zudenkt, Welt zu erschließen, statt Gegebenes zu verhüllen, zeigt eine viel weitere Dimension des Begriffes, als das Konzept der Beeinflussung. In unserem Zusammenhang ist hierbei von besonderer Bedeutung, dass Heidegger, obwohl er die Stimmung anhand des existenziellen Zustands der Angst darstellt, am Erschließungscharakter jedweder Stimmung festhält und – da jeder stets irgendwie gestimmt sei – in ihr somit einen Grundcharakter erschließender Wahrnehmung überhaupt sieht. Dass bereits alltägliche Wahrnehmung Bedeutung erschließen kann, zeigt sich in Seurats Wahl spezifischer Orte. Er bildet nur Orte ab, die einem realen Erfahrungshintergrund der städtischen Bürger entspringen. So kann man zeitgenössischen Reiseführern entnehmen, dass die ‚Grande Jatte‘ die beliebteste Vergnügungsstätte der wohlhabenderen, erlebnishungrigen Städter war.31 Ebenso ist nachgewiesen, dass Seurat in der Parade vor dem Zirkus detailgenau die Fassade des in der Hauptstadt überaus beliebten Zirkus Corvi wiedergegeben hat, wie auch zeitgenössische Fotografien bestätigen, während die Situation von Zuschauern, kleiner Bühne und Orchester im Chahut Motiven impressionistischer Gemälde der Zeit vergleichbar ist.32 In der Wahl zeitgenössischer Erlebnisräume wendet Seurat eine der Punktstruktur vergleichbare Strategie an. Er kennzeichnet die Orte als gesehene und kann sich dabei auf den Erfahrungshintergrund des zeitgenössischen, bürgerlichen Betrachters berufen. Dass jene Orte dem Bereich der Freizeiterfahrung zugehörig sind, ist sicher kein Zufall. Sie bezeichnen Massenerlebnisse und nicht Individualerfahrungen. Die Grundstimmung der Gemälde korrespondiert mit der Kollektivstimmung dieser

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Ereignisse (Muße/Langeweile, Tristesse, Erotik, Heiterkeit). So verzichten die Darbietungen der Parade, des Chahut und des Zirkus auch nie auf die Angabe von Zuschauern. Seurat zielt nicht auf individuelle Wahrnehmungsvorgänge, sondern nimmt auf das Vergleichbare, Gemeinsame und damit Grundsätzliche der Wahrnehmung Bezug. Seurat zitiert jedoch nicht nur gesellschaftliche Erfahrungsräume, die durch einen Zuschreibungsvorgang wiedererkannt werden. Er setzt darüber hinaus Bildmittel ein, die dieselben als wiedererinnerte zeigen – in der Art, wie schon die Bildpunkte das Dargestellte als Wahrgenommenes zeigen und die Stimmung die Erfahrungsräume als erlebte. So kommt Seurat keineswegs der Anforderung eines Malers nach Originalität durch Variation bekannter Sujets nach, ja er vermeidet geradezu ausgefallene Neuschöpfungen der Motive. Vielmehr wiederholt Seurat Topoi aus Literatur und Kunst, die im Bildgedächtnis der zeitgenössischen Betrachter verhaftet sind, vernachlässigt die konkrete Ausformung hingegen. Die hieratischen Figuren können so mit allen Assoziationen dieser Topoi besetzt werden. Zahlreiche allegorische Deutungsversuche der modernen Forschung zeugen davon.33 Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Bildgedächtnis und Wiedererkennbarkeit sind besonders durch solche Topoi gewährleistet, die Eingang in die Massenmedien, wie die populäre Druckgrafik, gefunden haben, aber auch durch die Lieblingsmotive der breit rezipierten, naturalistischen Malerei. So finden sich Typen der Grande Jatte wieder in zeitgenössischen Gemälden, wie etwa die bürgerliche Frau beim Angeln und die Amme, in Karikaturen und Illustrationen in anekdotischem Stil, wie der Flaneur oder Boulevardier mit Zylinder und Zigarre.34 Für die Komposition der Parade vor dem Zirkus scheint sich Seurat sogar am Plakat des Zirkus Corvi orientiert zu haben.35 Mittel der Werbeillustration setzt Seurat auch in den späteren Gemälden zur Gestaltung der Figuren ein. In einigen Gemälden hat er Figuren des erfolgreichen Werbeillustrators Jules Chéret direkt übernommen.36 Nach Auskunft Émile Verhaerens haben Seurat an Chéret die Ausdrucksmittel, wohl vor allem die lineare Expressivität des Umrisses, fasziniert.37 Der durch die Wiederholung zeitgenössischer Bildtopoi vorgenommene Rekurs auf allgemeine, gesellschaftliche Vorstellungen wird bei Seurat durch Punktstruktur und Stimmung gleichwohl als persönliche Erfahrung gekennzeichnet. In Nachfolge Émile Durkheims hat sich der Soziologe Maurice Halbwachs mit den Phänomenen des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Psychologie beschäftigt. Halbwachs’ Überlegungen gehen weit hinaus über die Feststellung, dass nur

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bestimmte Vorstellungstopoi einem Bereich sozialer Erfahrung entspringen und neben ganz persönlichen Erfahrungen stehen, oder dass sich abgeschlossene Erinnerungen durch die soziale Gruppe verändern. Vielmehr beschreibt Halbwachs, dass „jedes individuelle Gedächtnis […] ein ‚Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis“ sei.38 Dieses ist jedoch keine personalisierte Größe, sondern laut Halbwachs existierten verschiedene kollektive Gedächtnisse unterschiedlicher Milieus. Diese könnten sich im Individuum überlagern, doch sei jede Erinnerung, Sichtweise oder Handlung Teil dieser Rahmen. In den sozialen Praktiken der Gruppen setze sich das kollektive Gedächtnis fort, könne sich aber auch verändern. Halbwachs‘ Thesen sind im Rahmen der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung der letzten Jahrzehnte wieder aufgegriffen worden. Ein differenzierteres Begriffsformular bietet Jan Assmann durch seine Unterscheidung zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis39, Harald Welzer unterscheidet von diesen noch das soziale Gedächtnis. Welzers Definition des sozialen Gedächtnisses, die ich im weiteren verwenden werde, umfasst die Interaktionen, Bilder und Räume, die nicht-intentionalen Praktiken entspringen und dennoch im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden, also den Bereich der „Alltagserfahrung“, auch den unbewussten, jenseits reflexiver Erfahrung.40 Man kann also sagen: Seurat schafft durch die Verbindung von emotionalem Gehalt (Stimmung) und sozialem Gedächtnis (Bildtopoi) die Anmutung eines persönlichen Erlebnisses, das gleichwohl soziale Bedeutungsdimension hat. So wie das soziale Gedächtnis sowohl individuell als auch gesellschaftlich ist, ist auch die Stimmung ein emotionaler Zustand, dessen intersubjektive Qualität zumindest in den Abhandlungen betont wird, deren Erkenntnisinteresse nicht auf das Problem der Selbsterkenntnis fokussiert sind. Schon in der alltagssprachlichen Verwendung wird die Stimmung als Gruppengefühl ausgezeichnet gegenüber rein persönlichen Affekten. Auch Halbwachs widmet sich dem Bereich kollektiver Gefühle.41 Vor allen Affekten ist es die Stimmung, die Halbwachs als Gefühlsgemeinschaft beschreibt. Sie kann kollektive Gemeinschaft ausdrücken und stiften.42 Kollektive Gefühle halten die Gruppe am Leben und sind Teil ihres Wesens, wie die Sprache. Für kollektive Gefühle, Alltagserfahrung und soziale Sinngebung sind spezifische Orte von großer Bedeutung.43 Diesen sozialen Rahmen alltäglicher Weltbegegnung können Seurats Gemälde in ihrem stimmungshaften Bezug auf Wahrnehmung und Wahrgenommenes, auf zeitgenössische Erlebnisräume und Formen des gesellschaftlichen Bildgedächtnisses,

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aufzeigen. Durch Vertrautes sind sie als Orte persönlicher Erfahrung wahrnehmbar, durch Distanzierung ist diese Wahrnehmung er- und vermittelbar. Darüber hinaus bergen die Bilder mittels ihrer offenen Form das Potential, eben diesen Rahmen aufs Neue zu bestätigen, das Erkennen wird zum Dazugehören. Seurat rekurriert auf vorgängige kollektive Erfahrungen und stiftet Gemeinschaft über das Erkennen dieser Zusammenhänge, die Verdeutlichung der sozialen Provenienz dieser Erfahrungen. Nachfühlen und Gemeinschaftsbildung werden im Wesentlichen durch die Stimmung geleistet. Gerade seit Beginn des 20. Jahrhunderts, da in den Wissenschaften alte Bewusstseinsmodelle kritisiert werden, wird der Begriff der Stimmung vereinzelt genutzt, die Verschränkung von Individuum und sozialem Milieu, von inneren und äußeren Gegebenheiten, kenntlich zu machen, ohne dass dies jedoch erkenntnistheoretisch ausgebaut wurde.44 Die kunsthistorische Forschung setzt demgegenüber auch dort, wo Stimmung in Anschlag gebracht wird, das althergebrachte epistemologische Muster von der subjektiven Eintrübung des Äußeren als Erklärungsmuster ein. Implizit liegt diesem Muster die Vorstellung eines Äußeren zu Grunde, das außerhalb vom Wahrnehmungsvorgang existiere und ‚neutral‘, d. h. jenseits subjektiver Beteiligung erfasst werden könne. Demzufolge wäre Stimmung eine bloße Zusatzqualität. Die künstlerischen Strategien von Georges Seurat und anderen Künstlern des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehen jedoch weit über die durch diese begriffliche Enge vorgegebenen Verfahrensweisen hinaus. Die scheinbaren Widersprüche im Werk Seurats lassen sich unter der hier eingenommenen Perspektive als Probleme des kategorialen Apparates kunstgeschichtlicher Forschung verstehen. Diese zu überwinden und den innovativen erkenntnistheoretischen Beitrag von Seurats künstlerischen Strategien aufzuspüren, ist das Potential des Stimmungsbegriffs.

Anmerkungen 1. Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Limburg 1941; Robert C. Solomon, The Passions. Emotions and the Meaning of Life, Garden City/N. Y. 1976, deutsche Ausgabe: Frankfurt a. M. 2001, 103–105; Roger Lamb, Objectless Emotions, in: Philosophy and Phenomenological Research 48 (1987), 107–117. Bodo Lecke hat in einer profunden Untersuchung das Aufkommen des Begriffs in der deutschen Frühromantik untersucht und seine Bedeutung für die Literatur dieser Zeit dargelegt. Bodo Lecke, Das Stimmungsbild. Musikmetaphorik und Naturgefühl in der dichterischen Prosaskizze 1721–1780, Göttingen 1967.

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2. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10/II, 2. Teil, Leipzig 1941, fotomechan. Nachdruck München 1984, Bd. 18, Sp. 3127–3134. 3. Ebd., bes. Sp. 3134. 4. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, III. Teil, 2. Abschn., Heft 3 (Die Malerei), Stuttgart 1854, § 699: „Stylbild und Stimmungsbild“. 5. Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (1899), in: ders., Gesammelte Aufsätze, hg. v. Karl M. Swoboda, Augsburg 1928, 28–39. Zu Riegls Stimmungsbegriff vgl. auch Birgit Recki, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988, 57. 6. So etwa Beate Wielopolski, Zur Stimmungslandschaft um 1900, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Vergleichende Kunstforschung in Wien 46/2 u. 3 (1994), 8–12. Dem Aufsatz scheint eine unpublizierte Magisterarbeit zugrunde zu liegen. Außerdem: Gabriele Hammel-Haider, Über den Begriff ‚Stimmung‘ anhand einiger Landschaftsbilder, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 41 (1988), 139–148. Als neueste Arbeit, die den Stimmungsbegriff nicht als bloße Kategorie der Landschaftsmalerei begreift, ist inzwischen erschienen: Klaus Herding, Zur Trennung zwischen dem Wahren, Schönen und Guten in der Kunst der Moderne. Überlegungen am Beispiel der Zeichnungen von Jean-François Millet, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 48/1 (2003), 111–128, bes. 118 ff. In Untersuchungen zur Stimmung in der Malerei vor dem 18. Jahrhundert wird Stimmung nicht als das vorherrschende Mittel zur Bedeutungsstiftung dargestellt, sondern als eine unter vielen Ausdrucksqualitäten, die in einem vornehmlich an rhetorischen Formen orientierten semantischen Feld wirksam sind. Als Beispiel sei hier angeführt: Humphrey Wine, Metaphors for Mood and Meaning in Claude’s Landscapes, in: Claude Lorrain and the Ideal Landscape. Ausst.-Kat. Tokio, The National Museum of Western Art, 1998, 204–207. 7. Vgl. Werner Hofmann, Zur Geschichte und Theorie der Landschaftsmalerei, in: Caspar David Friedrich, Ausst.-Kat. Hamburg, Hamburger Kunsthalle 1974, München 1974, 9–29, hier: 9; Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, München 1998, bes. 21–28, 29; Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, bes. 13 f. Auch diese Beschreibung findet bereits ihren Ursprung bei Friedrich Theodor Vischer, der in jener Wirkungsart der Stimmung ein Signum „jetziger Malerei“ erkennt: „Die elementarische Natur mit dem Pflanzenreiche erscheint dem menschlichen Bewußtsein durch eine dunkle Symbolik des Gefühls als ein objektiver Widerschein seiner eignen Stimmungen. […] Der Zauber des Landschaftsgemäldes hat in dieser Übertragung seinen Grund; die Natur spricht, sie tönt uns als verhallendes Echo unsrer Seele.“ Friedrich Theodor Vischer, Zustand der jetzigen Malerei (1842), in: Kritische Gänge, 2 Bde. Tübingen 1844, 2. verm. Auflage, hg. v. Robert Vischer, München 1922, Bd. 5, 35–55, hier: 45. Dass er in der Erzeugung von Stimmung eine Hauptaufgabe des Kunstwerkes versteht, schreibt Friedrich selbst in einem Brief an den Akademiedirektor Schulz: „Wenn ein Bild auf den Beschauer seelenvoll wirkt, wenn es sein Gemüth in eine schöne Stimmung versetzt; so hat es die erste Forderung eines Kunstwerkes erfüllt.“ Brief vom 08.02.1809. Abgedruckt in: Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, 182–183. 8. Etwa: Claude Monet, La Grenouillère (1869), Öl/Lw., 60 x 80 cm, New York, Metropolitan Museum of Art. Abgebildet in: Daniel Wildenstein, Monet. Catalogue raisonné. Werkverzeichnis, Köln 1996, Bd. II, 65, Nr. 134. Zu Renoirs und Monets Grenouillère-Gemälden s. Ronald Pickvance, La Grenouillère, in: Aspects of Monet. A sym-

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posium on the artist’s life and times, Paris, September 1981, ed. by John Rewald and Frances Weitzenhoffer, New York 1984, 36–51. 9. Michael F. Zimmermann spricht von 34 gemalten und 28 gezeichneten Studien. Vgl.: Michael F. Zimmermann, Seurat. Das Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991, 171. 10. David Sutter, Les Phénomènes de la vision, abgedruckt in sechs Folgen von Januar bis März 1880 in der Zeitschrift L’Art. Seurat berichtet in einem Brief an Fénéon, er habe die Artikel gelesen. Brief an Fénéon, 20. Juni 1890, abgedruckt in: Georges Seurat, Ausst.-Kat. Paris, Galeries du Grand Palais 1991, publ. par Françoise Cachin und Robert L. Herbert, Annex F, Version C, 431 f. Zu Seurat und Sutter vgl. William Innes Homer, Seurat and the Science of Painting, Cambridge 1964, Nachdruck New York 1985, 18, 43–48 und 270, Anm. 27. Homer berichtet, man habe in Seurats Nachlass zwei der Artikel Sutters gefunden. 11. Seurat hat Charles Blancs Grammaire des arts du dessin, Paris 1867, an der École des Beaux-Arts gelesen, wie Seurat selbst und sein Freund Aman-Jean bezeugen. In der Seurat-Literatur wird die Bedeutung der Grammaire für Seurat betont, denn Blanc verbindet in seinem Werk Anleitungen für den Künstler mit neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu Wahrnehmungsphänomenen. Brief Seurat an Fénéon, 20. Juni 1890 [Anm. 10]. Brief Aman-Jean an Gustave Coquiot, empfangen von diesem am 17.07.1923, für sein Buch Georges Seurat, Paris 1924, abgedruckt als Annex B im Ausst.-Kat. Paris 1991 [Anm. 10], 425 f. Zu Blanc vgl. auch Homer [Anm. 10], 29–36. 12. Vgl. Félix Fénéon, der schreibt: „[…] ces quelques quarantes personnages sont investis d’un dessin hiératique et sommaire […]“, in: Félix Fénéon, Les Impressionnistes en 1886, Sonderbroschüre von La Vogue (Ende 1886, genaues Datum ungeklärt). Abgedruckt in: ders., Œuvres plus que complètes, publ. par Joan U. Halperin, 2 Bde. Genf 1970, Bd. 1, 29–38. S. auch Paul Adam: „personne ne comprit la beauté de ce dessin hiératique […].“ In: Paul Adam, Peintres Impressionnistes, in: La Revue contemporaine 4 (April 1886), 541–551, hier 550. 13. Vgl. Zimmermann [Anm. 9], 171–173. 14. So gibt es Maßstabssprünge zwischen Figuren des linken und rechten Vordergrundes, die nicht durch die Perspektive zu erklären sind, ebenso wie zwischen der Anglerin links und der Frau mit Sonnenschirm in der Mitte des Bildes. 15. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. (1959) 1985, 953. 16. Zu Seurats Anwendung von Henrys Schema: Henri Dorra, The Evolution of Seurat’s Style, in: Henri Dorra und John Rewald, Seurat. L’œuvre peint, Paris 1959, LXXIX– CVII, hier XCIV ff. Ausführliches zu Charles Henry vgl. Zimmermann [Anm. 9], 227–275. 17. John Rewald, Seurat, Paris 1948; Homer [Anm. 10]; John Rewald, Von Van Gogh bis Gauguin. Die Geschichte des Nachimpressionismus (1967), deutsche Ausgabe Köln 1987. 18. Zimmermann [Anm. 9] 270–275. Henry bezieht sich mit dem Terminus „inhibitorisch“ auf Untersuchungen des Arztes Charles-Edouard Brown-Séquard, ebd., 249. 19. Zu dem Gemälde: Jean-Claude Lebensztejn, Chahut, Paris 1989. Zur Bedeutung von Chahut: ebd., 48–65. 20. Vgl. John House, Meaning in Seurat’s Figure Painting, in: Art History 3/3 (1980), 345–356; Timothy J. Clark, The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers, Princeton/N. J. 31989, 261–267; Linda Nochlin, Seurat’s Grande Jatte. An Anti-Utopian Allegory, in: Museum Studies of the Art Institute of Chicago

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14/2 (1989), 133–153; Robert L. Herbert: mehrere Katalogeinträge in: Ausst.-Kat. Paris 1991 [Anm. 10], 215, 386–393. 21. John Russell begründet dies mit dem gesellschaftskritischen Gedicht Parade von Arthur Rimbaud (Les Illuminations), erschienen am 13. Mai 1886 in La Vogue, in dem eine ähnliche Stimmung herrscht (ders., Seurat, London 1965. Deutsche Ausgabe München/Zürich 1968, 218, 219, 222). Robert L. Herbert vergleicht das Gemälde mit Jules Laforgues Gedicht, Soir de Carnaval. Ders., ‚Parade de cirque‘ de Seurat et l’esthétique scientifique de Charles Henry, in: Revue de l’art 50 (1980), 9–23, hier 19. Zum Topos des Künstlers als Clown vgl. Jean Starobinski, Porträt des Künstlers als Gaukler (1970), deutsche Ausgabe Frankfurt a. M. 1985. 22. Der Kritiker Félix Fénéon erklärt das divisionistische Verfahren in seinem Aufsatz: Le Néo-Impressionnisme, in: L’Art moderne (Brüssel) (1. Mai 1887), 138–139. Wieder abgedruckt in: ders., Œuvres [Anm. 12], Bd. 1, 71–76. Seurat war mit diesen Erklärungen einverstanden, wie aus Briefen hervorgeht. Vgl. Homer [Anm. 10], 290, Anm. 31. 23. J. Carson Webster hat darauf aufmerksam gemacht, dass, von weitem betrachtet, die Fusion der Punkte keinen Effekt habe, während sie in Nahsicht nur teilweise ineinanderfließen. Er schließt, der Maler habe auf mentale Prozesse abgehoben, anstelle auf physiologische. Ders., The Technique of Impressionism. A Reappraisal, in: The College Art Journal 4 (November 1944), Nr. 1, 3–22, bes. 16 ff. 24. John Elderfield begreift bereits frühe plein air-Gemälde Monets als diesem Prinzip verhaftet. Die Entwicklung hin zu den Serien sei nur eine Erweiterung der Strategie, mittels leichter Verschiebungen in Gemälden des gleichen Motivs sich selbst als Augenzeugen für Kontingenz und Flüchtigkeit der Welt zu zeigen. Ders., Monet’s Series, in: Art International 18/9 (15. November 1974), 45–46. Vgl.: Joel Isaacson, Observation and experiment in the early work of Monet, in: Aspects of Monet [Anm. 8], 14–35. 25. „Ce qu’il peint, c’est une atmosphère, un voile de gaze au-delà duquel il y a peut-être quelque chose: il s’en inquiète fort peu. […] Que peint-il donc? Est-ce une idée? Un rêve plutôt, ou mieux un espace où le rêve puisse s’élancer; mais un espace sans écho, sans chanson d’aucune sorte, un espace perpétuellement inanimé.“ J. Le Fustec, Exposition des Artistes Indépendants, in: Le Journal des Artistes (10. April 1887), in Bezug auf Seurats dort gezeigte Seestücke von Honfleur. 26. Zimmermann [Anm. 9], 281–288. 27. William N. Morris, Mood. The Frame of mind, New York u. a. 1989; A. M. Isen, Towards understanding the role of affect in cognition, in: Handbook of social cognition III, ed. by R. S. Wyer, Jr. and T. K. Srull, Hillsdale/N. J. 1984, 179–236; J. D. Mayer, How mood influences cognition, in: Advances in cognitive science I, ed. by N. E. Sharkey, Chichester 1986, 290–314; G. H. Bower, Mood and memory, in: American Psychologist 36 (1981), 129–148. 28. Vgl. auch die neurobiologischen Untersuchungen von Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a. M. 21998 und Antonio Damasio, Ich fühle, also bin ich (1999), deutsche Ausgabe München 2001. 29. „Il ne se sert pourtant des expériences scientifiques que pour contrôler sa vision. […] En face d’elle [la Grande Jatte], c’est aux gothiques que l’on songe. Comme les vieux maîtres hiératisaient leurs personnages […], M. Seurat synthétise les allures, les poses, les démarches. Ce qu’ils faisaient pour exprimer leur temps, il l’essaie pour le sien

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[…]. Les gestes de promeneurs, leurs groupements, leurs allées et venues, sont essentiels.“ Émile Verhaeren, Le Salon des XX à Bruxelles, in: La Vie Moderne (26. Februar 1887), 135–139, hier 138. Abgedruckt in: ders., Écrits sur l’art, pub. par Paul Aron, 2 Bde. Brüssel 1997, Bd. 1, 268–274, hier 269. 30. Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 171993, Kap. 5, § 29, § 30, Kap. 6, § 40, 134–142, 184–191. Vgl. auch: ders., Was ist Metaphysik? (1929), Frankfurt a. M. 141992, 30 ff. Vgl. Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World (1991), Cambridge/MA, London 51994, 168–183. Das Problematische an Heideggers Konzeption eines vorrationalen Weltbezugs ist immer wieder herausgestrichen worden und kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. 31. Vgl. Clark [Anm. 20], 261. 32. Eine Zeichnung der Kasse aus Seurats Skizzenheft mit dem Schriftzug Corvi identifiziert Robert L. Herbert 1980 [Anm. 21], 9 f. Gustave Kahn spricht 1888 in Bezug auf das Gemälde vom Zirkus Corvi: Ders., Peinture, expositions des Indépendants, in: La Revue indépendante 7 (1888), 161; vgl. Herbert 1980 [Anm. 21], 9 sowie Ausst.-Kat. Paris 1991 [Anm. 10], 347–354. Die Fotografien sind u. a. abgebildet bei Herbert 1980 [Anm. 21] und Zimmermann [Anm. 9], 346. 33. Z. B. Richard Thomson, Seurat, London 1985, 117–126; Nochlin [Anm. 20]. 34. Zahlreiche Beispiele für Gemälde, karikierende Stiche und Zeichnungen bei John House: Reading the ‚Grande Jatte‘, in: Museum Studies of the Art Institute of Chicago 14/2 (1989), 115–131 sowie Zimmermann [Anm. 9], 141–143. Seurats Vorliebe für populäre Druckgraphik stellt Ségolène Le Men dar, in dies., Seurat & Cheret. Le peintre, le cirque et l’affiche, Paris 1994, besonders 27–34. 35. Plakat des Zirkus Corvi 1886, Paris, Musée Carnavalet. Abgebildet in: Zimmermann [Anm. 9], 347, Abb. 479. Vgl. Le Men [Anm. 34], 28 über Seurats Anlehnung an die visuelle Kultur des Zirkus. 36. Vergleiche Seurats Zirkus mit Jules Chérets Die Brüder Léopold (1877), Farblithographie, Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Estampes. Abgebildet in: Zimmermann [Anm. 9], 386, Abb. 531; zu Seurat und Chéret: Robert L. Herbert, Seurat and Jules Chéret, in: The Art Bulletin 40/2 (Juni 1958), 156–158 sowie Le Men [Anm. 34]. 37. „L’affichiste Chéret, dont il adorait le génie, l’avait charmé par la joie et la gaîté de ses dessins. Il les avait étudiés, il avait voulu en démonter les moyens d’expression et surprendre les secrets esthétiques.“ Émile Verhaeren, Georges Seurat, in: La Société Nouvelle (30. April 1891), 420–438. Wieder abgedruckt in: ders., Sensations, Paris 21927, 195–203, hier 200 sowie in: ders., Écrits sur l’art [Anm. 29], Bd. 1, 420–427, hier 424. 38. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis (posthum 1950, abgefasst weitgehend in den 1930er Jahren), deutsche Ausgabe Frankfurt a. M. 1985; ders., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925), deutsche Ausgabe Frankfurt a. M. 1985. 39. Unter kulturellem Gedächtnis versteht Assmann einen „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“. Im „kommunikativem Gedächtnis“ sieht Assmann interaktive Praxis durch Individuen und Gruppen aufgehoben, es bleibt an Aktualität gebunden. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hg. v. Jan Assmann und Tonio Hölscher, Frankfurt a. M. 1988, 9. 40. Harald Welzer, Das soziale Gedächtnis, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hg. v. Harald Welzer, Hamburg 2001, 9–21.

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41. Maurice Halbwachs, Gefühle und Gesellschaft (1947), in: Maurice Halbwachs, Kollektive Psychologie. Ausgewählte Schriften, hg. v. Stephan Egger, Konstanz 2001, 67–77. 42. Ebd., 70. 43. Dies betont nicht nur Halbwachs, sondern es ist auch Topos aller einschlägigen Literatur zu Erinnerung und Gedächtnis. Prägend ist hier Pierre Noras Projekt Les lieux de mémoire, ein 7-bändiges Werk zur Topologie der Symbolik Frankreichs (Paris, 1984–1992). 44. Wie bereits erwähnt, führt Martin Heidegger den Stimmungsbegriff in dieser erweiterten Form in die Philosophie ein [vgl. Nachweise in Anm. 30]. Der analytische Philosoph Gilbert Ryle rückt die Stimmung in die Nähe der Dispositionen und rechnet sie nicht zu den Erregungen oder Affekten. Innerhalb seines Projekts, das gegen das Descartes’sche Bewusstseinsmodell argumentiert, erlangen die Stimmungen deshalb erhöhte Bedeutung, weil sie einen Verhaltensmodus kennzeichnen und sie sozial ebenso gut zuzuschreiben sind, wie durch die gestimmte Person selbst. Damit sprengen sie den Dualismus von ‚innen‘ gegenüber ‚aussen‘. Vgl. Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes (1949), deutsche Ausgabe Stuttgart 1969, Kapitel 4.4, 128–136. Gernot Böhme nutzt die verwandten Begriffe der ‚Atmosphäre‘ und der ‚Anmutung‘, um den Aspekt der Verschränkung von äußerer Gegebenheit und Affiziertsein zu beschreiben als „etwas zwischen Subjekt und Objekt […], nämlich ihre gemeinsame Wirklichkeit“. Vgl. Gernot Böhme, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998. Indem Böhme betont, dass mehrere Subjekte von der gleichen Atmosphäre betroffen sein können und sich über ihren Charakter verständigen können, betont er die soziale Dimension der ‚Anmutung‘ (ebd., 9).

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Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham 1. Zum siebzigsten Geburtstag von Knut Hamsun im Jahre 1929 gratulierte Thomas Mann besonders herzlich.1 Nicht nur erwähnte er lobend, dass Hamsun das Schicksal der Deutschen im Ersten Weltkrieg verständnisvoll begleitet habe, er bedankte sich auch für Hamsuns Begleitung ins eigene literarische Leben. Gemeint war die geistige Patenschaft für die Buddenbrooks, jenen „Roman vom Verfall einer Familie“, der Thomas Mann im selben Jahr 1929 den Nobelpreis einbrachte; gemeint war, noch genauer, eine Patenschaft von Hamsuns Erzählung Hunger (Stult) aus dem Jahre 1890. In seinem Glückwunsch sprach Mann von seiner „lebenslangen Verbundenheit“ mit Hamsuns Werk und gestand, er habe sich „an dem lebenswild-außermoralischen Hamsun’schen Humor, seiner seit den Tagen von ‚Hunger‘ bewährten komischen Meisterschaft“ selber versucht. Hamsun sei einer jener Autoren, „deren Lektüre das tief heraufquellende, das einsame Lachen zeitige – ein unheimliches Phänomen, wenn man es recht betrachte.“2 Dieses Lachen tönt nach in der Stimme des Erzählers der Buddenbrooks. Es gilt vornehmlich einem peinlichen Phänomen: dem Phänomen des Gesichtsverlustes, der in beiden Romanen behandelt wird; es gilt dem Gefühl der Scham, deren Subjekte ebenso einsam sind wie der Lacher, der sie beobachtet und damit nur immer weiter beschämt. Dass nun Scham um die Jahrhundertwende ein Zentralthema nicht nur der Literatur, sondern zunehmend auch der Sozialphilosophie wurde, ist bekannt, aber noch wenig erörtert worden. Für diese Zurückhaltung gibt es auch methodische Gründe. Denn wer heute von Scham im Kontext von Emotionsgeschichte sprechen will, sieht sich zunächst einmal auf einem methodischen

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Kreuzweg. Auf der einen Seite steht Darwins biologische Studie von 1872 Über den Ausdruck der Gemütsbewegungen beim Menschen und den Tieren, einem Buch mit enormer Vor- und Wirkungsgeschichte für die Erforschung der Mimik.3 Auf der andern Seite steht Freud mit seiner Schule, die zunächst alle Gefühle für modifizierte Sexualität hält. Das ES hat keine Mimik, hat Ernst Kris, einer seiner Schüler, einmal bemerkt.4 Der dritte Weg führt philosophisch zu Descartes und Adam Smith und von dort zurück zu den antiken Schriftstellern, besonders zur rhetorischen Affektenlehre.5 Der vierte Weg geht zu literarischen Deutungen besonders der Bibel, wie etwa zu den Gefühlen von geschlechtlicher Scham bei Adam und Eva. Ob Scham, das hier zu erörternde Phänomen, überhaupt eine Emotion ist, sei noch dahingestellt. Nach Meinung vieler zeitgenössischer Biologen gibt es nur etwa sieben interkulturell geteilte Emotionen: Freude, Trauer, Überraschung, Furcht, Wut, Ekel und Verachtung. Kompliziertere Gefühle wie Scham und Schmerz, übrigens auch Stolz und Leidenschaft, zählen meist nicht dazu.6 Die längste Ideengeschichte haben jedenfalls die griechische und die biblische Vorstellung von Scham; die eine der sozialen Ehre gewidmet, die andere den Phänomenen von Sexualität und Nacktheit. Aristoteles, in seiner ausführlichen Erörterung im 2. Buch der Rhetorik, definiert Scham als physisch erlebte Reue über den Verstoß gegen gesellschaftliche Übereinkünfte, als Reue zumal vor der Instanz verehrter Ebenbürtiger. Zu schämen haben sich Kleinmütige, Weibische, Geizige, Ausbeuter, Perverse, Unanständige, Klatschbasen, und so fort. Scham bei Aristoteles wird weder geschlechtlich definiert noch nur von Frauen empfunden, gilt vielmehr für alle möglichen gesellschaftlichen Verhaltensweisen, die einen Mann von Ehre ausmachen, zeigt also einen statusempfindlichen Charakter an, der in eine nahgesellschaftliche Gruppe gehört. Scham und Ehre spielen eine große Rolle im Mittelalter. Thomas Hobbes definiert dann für die Frühe Neuzeit Scham im griechischen Sinne, wenn auch nur kurz, als Gefühl der verlorenen Ehre, die ihrerseits besonders ausführlich behandelt wird und ins Zentrum von Hobbes‘ Philosophie führt.7 Dennoch erhält das Gefühl im gleichzeitigen Traktat über die Leidenschaften von René Descartes 1649 nur eine kurze Notiz, und wiederum rund hundert Jahre später bemerkt Adam Smith in seiner Theorie der moralischen Gefühle überhaupt nichts mehr dazu. Auch Diderots Encyclopédie gibt 1765 nur einen schmalen, wenn auch eleganten Abriss; fünf lange Spalten hingegen finden sich im größten deutschen Wörterbuch der Aufklärung, in Zedlers Universal-

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Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Band acht, von 1742. Hier werden Aristoteles und Descartes als Vorläufer zitiert, dann aber Schulphilosophen der Zeit wie Wolff und Budde. Quintessenz ist, was wir heute als konstruktivistische Theorie bezeichnen würden. Scham sei zwar eine physische Empfindung, variiere aber von Person zu Person. Was die einen beschämend finden, lasse andere kalt und umgekehrt. Ja, Schamempfinden ändert sich nach dieser Auskunft sogar im Leben des Einzelnen. Keineswegs kommentieren Schamgefühle nur Nacktheit und Geschlechtlichkeit. Auch Kant hält Scham gleichsam griechisch inspiriert für einen Gesellschafts-Affekt, nicht ohne Verachtung für diese Gesellschaft, da ja, wie er sagt, die Meinung anderer Leute nicht wirklich den Wert meiner Handlung bestimmen kann.8 Kants Bemerkung stammt von 1764. Rund zehn Jahre später räsoniert Johann Caspar Lavater, der Begründer jener Erkenntnislehre des nackten Leibes, die seit Aristoteles und Hippokrates Physiognomik genannt wird, folgendermaßen: wenn ein Mensch missgebildet zur Welt kommt, muss er sich dann schämen oder nicht? Lavater bejaht. Auch wer unschuldig an seiner Missgestalt ist, muss sich vor deren Zeugen schämen. Denn Scham, so definiert Lavater im Gegensatz zu den Aufklärern, stamme nur aus der Furcht vor Entblößung; Entblößung aber kann Lavater nur wörtlich verstehen, im sensus literalis, als körperliche Nacktheit.9 Ausgerechnet jener Autor also, der die Objekte seiner wissenschaftlichen Begierde aus Prinzip und bis auf die Knochen entblößt hat, konnte der Scham nur einen einzigen Absatz widmen, vermochte also sich selber, als professionellen Entblößer und Beschämer, nicht in den Blick zu nehmen. Auch Hegel, obzwar ein Gegner der Physiognomik, setzt in seiner Ästhetik Scham in den Kontext von Nacktheit10 und nicht wie Kant, Ehre; doch beides kreuzt sich dann natürlich in der immer komplexeren Literatur. Lessings Major Tellheim hält sich der Minna von Barnhelm für unwürdig, Kleists Marquise von O. und ihr Vergewaltiger schämen sich beide für beides, für nackte Begegnung und Ehrverlust, und Friedrich Schlegels Lucinde (1799) hält die Diskussion um falsche Scham als Kritik an falschen Ehrbarkeitsbegriffen ins Licht. Noch in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts versieht Karl Gutzkow Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde (1835) mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Gefühlsreform. Wir lieben schlecht! konstatiert der Zeitgenosse Heinrich Heines, der freilich seinerseits kurz zuvor mit einer lyrischen Liebesfibel, dem Buch der Lieder (1827), berühmt geworden war.

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Charles Darwin hat sich mit Physiognomik schon in seinen frühen Notizheften befasst. Er las Lavater in der Übersetzung von Holcroft und notierte im September 1838: „Wir sollten nie vergessen, dass jeder Mensch so gewiss mit einem Teil physiognomischen Empfindens geboren ist, wie dass jeder Mensch, der nicht verkrüppelt ist, mit zwei Augen geboren wurde.“11 Schon in diesen Heften notiert er aber im Gegensatz zu Lavater, dass auch Tiere Scham empfänden, etwa Hunde. Damit entfällt also die Assoziation zwischen Nacktheit und Scham als anthropologischer Größe, denn Tiere sind nie nackt. Doch auch der Hund, der etwas Befohlenes nicht oder etwas Unerlaubtes doch tut, zeigt Gesten der Beschämung, „die sich von Furcht durchaus unterscheidet.“12 Ganz entschieden auf Ehre und nicht auf Nacktheit bezogen scheint dann Darwins große, fast vierzigseitige Darstellung im Expressionsbuch von 1872. Scham erscheint mit der Assoziation zur Verlegenheit und Schüchternheit, Bescheidenheit und Scheu, Sexualität wird als Modell auch der ehrenbezogenen Scham verstanden. Neu und überraschend bei Darwin sind die vielen Hinweise auf eine schamspezifische Gestik und Mimik. Gestisch ist das Beiseite-Blicken, Kopfsenken, Kleinmachen; mimisch ist das Erröten. Erröten können nach Darwin allerdings nur Menschen – und sie erröten, wenn sie erraten, was andere über sie negativ oder positiv denken. Scham ist nach Darwin unbedingt an Selbstbewusstsein gebunden, genauer: an die Sorge um die Akzeptanz der persönlichen Erscheinung. Dass wiederum vornehmlich Frauen oder junge Mädchen erröten, bindet die Scham zwar an Geschlechts-Konstruktionen zurück, aber dies doch nicht im Grundsatz: denn erraten, was das Gegenüber denkt, ist nicht genuin weiblich, nur die Bedeutung, die der fremden Meinung beigelegt wird, korreliert mit geschlechtsspezifisch anerzogenen Einstellungen. Auch wenn Darwin dem Erröten eine genuin humane Sonderstellung einräumt und dem Phänomen ungewöhnlich viel Raum gibt – den ideengeschichtlichen Aufstieg der Scham zwischen 1900 und 1950 hätte man nicht daraus ablesen können. Schließlich ist es auch keine Geschichte des Errötens, die sich mit Namen wie Georg Simmel, Max Scheler13, Jean-Paul Sartre14 und Norbert Elias15 verbindet, sondern ein Bündel soziologischer, lebensphilosophischer bis existenzialistischer Ansätze. Der Name Freud fehlt hier zu Recht, denn Freud hat nicht Scham, sondern Schuld ins Zentrum der Psychoanalyse gestellt. Darwins Deutung der menschlichen Mimik dagegen wird bald nach Erscheinen des Buches fortgeschrieben. Auch Freud befasst sich schon

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früh mit der darwinistisch verstandenen Mimik bei den Hysterikern; Meyers Enzyklopädie von 1906 definiert dann sehr bündig in Darwins Sinne: „Scham: das Unlustgefühl, das sich mit einem Vorgang oder einer Handlung verbindet, insofern durch diese die Achtung anderer vor uns wirklich oder vermeintlich (falsche Scham) verringert wird. Die körperliche Wirkung ist Schamröte. Schamröte: bei allen Menschenrassen, aus innerer Erregung, Schüchternheit, Liebe, Teilnahme, Unschuldsoder Schuldbewusstsein, Bescheidenheit, Stolz. Möglich auch bei Tieren.“16

Den eigentlich philosophischen Boom hat aber ohne Zweifel Georg Simmel ausgelöst, mit seinen beiden Exkursen zur Scham, der erste schon 1901 verfasst, unter dem Titel einer „Soziologie der Scham“, der zweite 1908 dem soziologischen Hauptwerk beigegeben, im Rahmen des berühmten „Exkurses über die Soziologie der Sinne“.17 Mit dem ihm eigenen Sinn für soziale Formalisierung tritt Simmel 1901 von den Substanzbegriffen der Scham zurück; weder Nacktheit noch Ehre, vielmehr Distanz und Reserve, also gleichsam räumlich-motorische Kategorien, sieht er synonym mit der Affektpalette von Scham, Anstand, und Keuschheit. Auch und noch deutlicher die Ausführungen von 1908 stellen das räumliche über das darwinistisch mimische Modell, ohne das letztere ganz aufzugeben. Scham wird hier im Kontext des luftlinienartigen Blickwechsels, also ausgesprochen nahgesellschaftlich definiert: „Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Andern die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge zu Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt. Hieraus wird erst ganz verständlich, weshalb die Beschämung uns zu Boden blicken, den Blick des Andern vermeiden lässt. Sicher nicht nur, weil uns so mindestens sinnlich festzustellen erspart bleibt, dass und wie uns der Andere in solch peinlicher und verwirrender Lage anblickt; sondern der tiefere Grund ist der, dass das Senken meines Blicks dem Andern etwas von seiner Möglichkeit raubt, mich festzustellen. Der Blick in das Auge des Andern dient nicht nur mir, um jenen zu erkennen; auf der Linie, die beide Augen verbindet, trägt er die eigene Persönlichkeit, die eigene Stimmung, den eigenen Impuls zum Andern hin. Die ‚Vogel Strauß Politik‘ hat in dieser unmittelbar sinnlich-soziologischen Beziehung eine tatsächliche Zweckmäßigkeit.“18

Simmel verschiebt den Akzent weg vom mimischen Erröten hin auf die Gestik der Scham, hin zum gesenkten Blick, zur Blickvermeidung. So gelingt ihm eine Bedeutungserweiterung. Denn gerade jener Blick auf die Erde, in der das Subjekt Vogel-Strauss-artig versinken möchte, symbolisiert die überall ausgedrückte räumliche Dimension der Ehre. Ehre scheint konvertibel mit Boden, Ehre scheint der symbolische

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Grund, auf welchem das gesellschaftlich anerkannte Subjekt aufrecht stehen und blicken oder eben nicht stehen und blicken darf, sei es aus eigener, sei es aus fremder Absicht. Bezogen auf Tiere, wäre das sich Ducken und Wegdrücken aus Scham nicht eine Geste der Furcht – wie Darwin bemerkt – sondern eine Geste der Ergebung, ein Heischen um Schonung, darin also durchaus dem Erröten verwandt. Das Räsonieren über Scham in Deutschland zwischen 1900 und 1950 verläuft tatsächlich dreigleisig. Die lebensphilosophisch-existentialistischen Autoren schreiben neben den Biopsychologen und Physiognomikern her, und beide Gruppen zusammen bleiben wiederum von der soziologischen Linie getrennt, die in den dreißiger Jahren mit großer Wucht Norbert Elias in seinem Hauptwerk Der Prozeß der Zivilisation (1939) aufnimmt. Natürlich konnte es dabei vielfältige Möglichkeiten der Überschneidung geben. So etwa bildet die Ausdruckslehre des Psychiaters Karl Leonhard ein merkwürdiges Dokument zwischen den Zeiten und Fronten. Leonhard reüssierte nach 1945 in der DDR. Seine vor Kriegsende erarbeitete, aber erst 1949 erschienene Lehre von der Ausdruckssprache der Seele handelt erst ganz am Ende von Scham und Erröten. Schämen soll sich nach Leonhard jeder Mensch, der aus der Gemeinschaft heraustritt, sei es positiv oder negativ. Den Ausdruck der Verlegenheit vor dem Hintergrund der Scham siedelt Leonhard zwischen der Miene des Schmerzes und der des Verdachtschöpfens an. Gestische Regungen nennt er nicht. Das Erröten wird als etwas Abnormes dargestellt. Leonhard erklärt das Erröten als Rache einer unterdrückten mimischen Handlung, nämlich der verlegenen Miene, die der moderne Mensch nicht zulassen könne, weil er über zu großes Selbstbewusstsein verfüge.19 Der selbstbewusste Mensch von heute darf nie zugeben, dass er etwas falsch gemacht hat. Warum darf er es nicht? Leonhard lässt die Frage unbeantwortet. Aber sie wird etwa zur selben Zeit von anderen Autoren beantwortet. In den frühen 50er Jahren entwickeln die amerikanischen Soziologen David Riesman und Erving Goffman ihre großen Theorien.20 Der eine aus der Erkenntnis der massenmedialen Verfasstheit moderner Gesellschaft und der daraus resultierenden „Außenlenkung“; der andere aus der Erkenntnis, dass Individuen miteinander nur leben können, wenn sie einander anerkennen im Sinne einer Imagebildung. Aber kein Image ohne gesteigertes Schamempfinden; Goffman schließt, ohne ihn zu nennen, hier deutlich an Aristoteles und Hobbes an, kombiniert aber deren Idee von Scham mit Darwins Lehre vom (errötenden) Gesicht. Das in den frühen Schriften Goffmans propagierte

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„face work“ betrifft unser alltägliches Verhalten im Umgang mit Menschen, die eben so wie wir selber danach streben, in der Gesellschaft gut dazustehen, also gerade nicht erröten zu müssen. Ganz im Sinne des Psychiaters Karl Leonhard gilt die Regel: keiner will sich schämen müssen, niemand will das Gesicht verlieren, wie es bei Goffman in Anspielung auf asiatische Gebräuche heißt, ja die Gesprächspartner müssen einander gleichsam helfen, das Gesicht zu wahren, soll die soziale Interaktion funktionieren. Obwohl Goffman nicht ausdrücklich von Scham, sondern von Verlegenheit spricht, zeichnet er in seinen Büchern immer wieder Situationen gegenseitiger Beschämung und deren Vermeidung oder Wiedergutmachung. Mit seiner hochkomplexen Theorie wird erstmals wirklich deutlich, dass soziale Interaktion nicht nur in Grenzfällen Schamsituationen erzeugt, sondern von ihnen völlig durchzogen ist. Je nachhaltiger eine Gesellschaft sich über Image-Angebote organisiert, desto wichtiger wird das Image jedes Einzelnen, der in ihr bestehen muss, desto gravierender werden aber auch die Versuche der um Status konkurrierenden Partner, das Image des Konkurrenten zu beschädigen. Es ist dieser, zusammen mit dem allgemeinen Individualismus immer weiter anschwellende Image-Criticism, der zu dem bemerkenswerten Boom des Schamthemas in der Nachkriegszeit geführt hat. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts schreibt Agnes Heller die erste Monographie zum Thema, legt der Psychiater Leon Wurmser erste Entwürfe vor, und zu Beginn der neunziger Jahre fasst Sighard Neckel die bestehenden Tendenzen zusammen.21 Seither erscheinen in regelmäßiger Folge Bücher und Aufsätze zum Thema, und zwar ebenso aus biologischer wie aus soziologischer und psychoanalytischer Sicht.22 Während die Biologen inzwischen den genetischen Sinn der Scham erkannt haben wollen, arbeiten sich Psychoanalytiker an den schweren Psychosen ab, die mit Schamgefühlen einhergehen. Makaber mutet es heute an, wenn dieselbe Scham, die die Biologen für eine zweckmäßige Selbstkontrolle im sozialen Verbund halten, von Analytikern als sleeper unter den psychopathologischen Erscheinungen beschrieben wird.23

2. Ein literarisches Schlüsselwerk zu diesen verwirrenden Überschneidungen von Kultur und Natur in der Geschichte der Scham lieferte Knut Hamsun Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Roman Hunger.

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Er erschien 1890, also genau zwischen Darwins Werk über den Ausdruck der Gemütsbewegungen und Georg Simmels erstem, womöglich von Hamsun inspirierten Aufsatz über die Scham und enthält den beschriebenen Kontext in nuce. Geschildert wird der soziale Tod und also Gesichtsverlust eines Protagonisten unter jedem erdenklichen Schamaspekt.24 Hunger war das erste Buch eines werdenden Schriftstellers, der aus den beengenden Verhältnissen seiner Kindheit und Jugend nach den USA gegangen war, sich dort nach Art amerikanischer Karrieren auf untersten sozialen Ebenen bewegt hatte, um dann, nach seiner Rückkehr, eine norwegische Kleinstadt literarisch zu demontieren. Das meiste von dem, was im Roman steht, hat Hamsun auch selber erlebt, so berichtet er auch in seinen Briefen.25 Der Icherzähler positioniert sich als ehrgeiziger Schriftsteller, der mittellos auf die Gnade von einflussreichen Leuten angewiesen ist. Teils braucht er Geld, um essen zu können, teils muss er einen Verlag finden, der ihn druckt. Die Spitzweg-Situation des verhungernden armen Autors muss in den neunziger Jahren unerhörte Resonanz gefunden haben; jedenfalls wurde Hamsun damit berühmt. Literarhistorisch wird der Text zwischen Naturalismus und Neuromantik eingeordnet, wird Hamsun gezeichnet als Konkurrent von Strindberg, den er verehrte, und Ibsen, den er ablehnte. In einem Brief an einen wichtigen Gönner schrieb Hamsun 1889: „Was mich interessiert, sind Poesie der Nerven, Brüchigkeit des Denkens, vage, mimosenhafte Gefühle – in einem Wort: Gemütsbewegungen.“ Und ein Jahr später: „Es ist ein Versuch, das merkwürdige, eigentümliche Gemütsleben, die Mysterien der Nerven, in einem ausgehungerten Körper zu schildern. Es wird nun auf einer einzigen Saite gespielt, aber mit dem Versuch, Hunderte von Tönen darauf zu erhalten.“26 Bei aller neuromantischen Feinsinnigkeit – Hamsun ordnet sich naturalistisch in die Linie sozial-experimentellen Schreibens ein. Er unterwirft seine Figur einem Experiment wie eine Ratte im Laufrad. Wie benimmt sich ein verhungernder Autor, wie schlägt er sich durch, welche Zufälle liefert das Leben. In der Pose des Experimentators hat sich bekanntlich auch Flaubert gefallen; aber im Unterschied zu diesem bedient sich Hamsun einer literarischen Technik, die dem Experiment an sich strikt zuwiderläuft. Denn der Roman ist als Icherzählung angelegt; bietet also die Innenansicht eines „sozialen Todes“. Mit dem Ausdruck „sozialer Tod“ hat Sigmund Freud einmal die eigene Erfahrung einer Aberkennung der bürgerlichen Anerkennung bezeichnet, also die Erfahrung eines existentiellen Gesichtsverlustes. Es war der Preis für die Durchsetzung der Psychoanalyse in der akademi-

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schen Gesellschaft, die in letzter Instanz natürlich auch seine physische Existenz betraf. Auch der Protagonist von Hamsuns Roman ist im Experiment des Autors doppelt gefährdet. Er könnte Hungers sterben und, zunehmend verrückt wie er ist, kann er auch nicht mehr schreiben, sich also kein Image mehr verschaffen. Die raffinierte Engführung dieser beiden Todeslinien in einem Roman muss hier interessieren. Denn sie geschieht weitgehend im Medium der Physiognomik. Von Anfang an sind es nicht nur körperliche, sondern explizit gesichtliche Erlebnisse, die den Abstieg ins Ende begleiten und intonieren. Das beginnt mit einer Frau gleich anfangs, an der ihn das Gesicht mit dem vorstehenden Zahn anwidert; das geht weiter mit einem alten Krüppel, der ihn erst anbettelt und dann anstarrt in einer ersten Geste der sozialen Tötung. „Der Mann nahm das Geld und begann mich mit den Augen zu mustern. Was stand er da und starrte? Ich hatte den Eindruck, daß er besonders meine Hosenkniee untersuchte, und wurde dieser Unverschämtheit müde. Glaubte der Schlingel, ich sei wirklich so arm, wie ich aussah?“27 Das nächste Gesicht gehört einer schönen Frau, der er sofort einen poetischen Namen gibt, aber auch vor ihr muss er sein Image wahren, darf nicht die Schande der Armut erkennbar machen. Zum Schluss wird sie ihn mit einer Geste des Mitleids recht eigentlich ruinieren. „Nein, nein, nein“, sagt der arme Autor, Simmels Raum-Vorstellung der Ehre vorwegnehmend, „meine Erniedrigung nahm kein Ende! Nicht einmal ihr gegenüber hatte ich eine anständige Stellung behaupten können; ich sank, sank nach allen Seiten, wohin ich mich wandte, sank in die Knie, sank unter, tauchte unter in Unehre, und kam niemals wieder empor, niemals!“28 Nicht nur nachgegeben hatte der Boden der Ehre, er hat sich in Wasser oder niederziehenden Sumpf verwandelt. Die eigentliche Charakterprobe in dem Roman kommt aber mit den Versuchungen, Geld oder Brot zu stehlen, um endlich wieder essen und ein Zimmer bezahlen zu können. Hier wird das eigentliche Drama der Beschämung aufgeführt: „sich ins eigene Gesicht Spitzbube nennen und die Augen vor sich selbst niederschlagen zu müssen – Niemals! Niemals!“ ruft der arme Autor voller Stolz, nachdem er einer Versuchung widerstanden hat.29 Etwa bis zur Mitte des Textes hält der Icherzähler die Vorstellung des manierlichen Autors durch, dann folgt die Zäsur in Gestalt eines Mädchens, das ihn auf offener Straße anspricht: „Wie steht’s mit dir, Alter? Wie? Bist du krank? Nein, Gott steh mir bei, welch ein Gesicht! […] Plötzlich blieb ich stehen. Was war mit meinem Gesicht los? Hatte

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ich wirklich zu sterben begonnen? Ich fühlte mit der Hand über die Wangen: mager, natürlich war ich mager; die Wangen waren wie zwei Schalen mit dem Boden nach innen. Herrgott!“30 Nach zwei weiteren derartigen Szenen der Scham ist der Widerstand erlahmt, er wird zum Dieb. Nach dem Gesicht werden nun auch die Hände hässlich; ihn ekelt der „schlappe schamlose Ausdruck auf meinem Handrücken“ und er fühlt sich „durch den Anblick meiner mageren Finger roh in Mitleidenschaft gezogen“.31 Hamsun, als Leiter des literarischen Experiments, erspart seiner Versuchsperson keine Demütigung. Plötzlich begegnet dem verhungernden Autor der Redakteur der Zeitung, dem er doch einen Text schuldet, den er aber vor Hunger nicht schreiben kann. Unvermittelt steht er „Antlitz in Antlitz“ mit seinem „Kommandeur“, wie er ihn nennt und bricht in panische Scham aus: „ich hätte mich auf der Straße wälzen und den Kommandeur bitten mögen, über mich hinwegzugehen, mir ins Gesicht zu treten.“32 Wie diese Beispiele zeigen, fungiert Gesicht in diesem Roman durchgängig in doppelter Bedeutung als Körperteil, der absterben kann, und als Kommunikationsfläche für existentielle Imagefragen. Die Theorie des zu wahrenden und zu verlierenden Gesichts wird hier tatsächlich durchgespielt in eben jenem biopsychischen Sinn, der mit der Idee der Scham spätestens seit Darwin verknüpft ist. Denn es war Darwin, der in seinen erwähnten frühen Notizbüchern um 1830 den definitorischen Brückenschlag etabliert hatte: „Durch Assoziation wird die Frage ‚Was mag jemand, zumal eine Frau, von meinem Gesicht denken?‘, auf das moralische Verhalten übertragen.“33 Diese Übertragung von der sexuellen Konnotation in die soziale, ideengeschichtlich also vom biblischen in den griechischen Scham-Kontext, bringt das Gesicht in ein schwebendes Gleichgewicht mit seinem körperlichen Ursprung. Gesehenwerden und Anerkennen, oder, um mit Helmuth Plessner zu sprechen, Gesehenwerden und Ansehen werden hier fusioniert.34 Gesicht und Image derart als Kippfigur aufzuführen, kann man als Leistung oder Eigenart von Hamsuns Darstellung beschreiben. Es ist eine verbale Inszenierung dessen, was Freud an der Mimik von Hysterikern beschrieben hat. Hysteriker, heißt es in der Abhandlung über Das Interesse an der Psychoanalyse von 1913, rekurrieren mit der Sprache ihrer Symptome auf die wörtliche Bedeutung der Diagnose. Wenn sie etwas im übertragenen Sinne „nicht schlucken“ können, reagieren sie mit Schluckbeschwerden; wenn jemand sie mit Worten und Handlungen „ins Herz trifft“, mit Herzschmerzen, und so fort.

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„All diese Sensationen und Innervationen“, schreibt Freud, „gehören dem ‚Ausdruck der Gemütsbewegungen‘ an, der, wie Darwin uns gelehrt hat, aus ursprünglich sinnvollen und zweckmäßigen Leistungen besteht; sie mögen gegenwärtig zumeist so abgeschwächt sein, dass ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Übertragung erscheint, allein sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den ursprünglichen Wortsinn wiederherstellt. Ja, vielleicht ist es unrecht zu sagen, sie schaffe sich solche Sensationen durch Symbolisierung; sie hat vielleicht den Sprachgebrauch gar nicht zum Vorbilde genommen, sondern schöpft mit ihm aus gemeinsamer Quelle.“35

Knut Hamsun ist uns heute als Blut und Boden-Autor, als Lieblingsautor von Goebbels, als Nazi-Kollaborateur und Hitlergast verdächtig. Man machte ihm nach 1945 einen Prozess, aber er blieb uneinsichtig. Bis 1933 aber war Hamsun einer der berühmtesten europäischen Autoren; Franz Kafka schätzte ihn über alles. Ihn nicht nur neben den Naturalisten, sondern auch in einer Reihe mit den berühmten Hysterikern vor der Jahrhundertwende, den nervösen und frühromantischen Autoren wie Hofmannsthal, Rilke, Schnitzler und anderen zu sehen, mag überraschen. Tatsächlich war Hamsun aber ein geradezu berüchtigt ‚nervöser‘ Autor neben Strindberg und Ibsen. Auch seine Bücher nach Hunger, also Mysterien, Redakteur Lynge und Pan, stellen überaus komplizierte Charaktere in den Mittelpunkt. Doch mit dem Roman Segen der Erde (1917) hatte er eine Wandlung vollzogen, nicht ohne das physiognomische Thema an entscheidender Stelle wiederaufzunehmen. Das Buch erzählt die Geschichte einer Landnahme: ein Mann und eine Frau siedeln sich an einem menschenleeren Ort an, machen das Land urbar, züchten Tiere, vermehren sich selber, werden glücklich und reich.36 Anders als in Hunger, stehen in dieser Erzählung Gesichtsverluste am Anfang. Der Mann Isaak ist ein wenig schön anzusehender Eigenbrötler und die Frau Inger hat eine Hasenscharte. Einen anderen Mann hätte sie nie bekommen. Als ihr drittes Kind ebenfalls mit einer Hasenscharte geboren wird, tötet sie dieses Kind, kommt dafür ins Gefängnis, lässt sich aber selber operieren. Der Roman geht über den Mord hinweg, seinem happy end zu. Mit anderen Worten: die hysterische Konversion ist vollzogen, das schöne Gesicht zum Image geworden, die Scham erscheint naturalisiert. Eine derartige Ersetzung von Image durch Gesicht macht Scham sogar geradezu überflüssig, lässt nur noch Schuld zu. Das Verhältnis von Scham und Schuld ist vielfach diskutiert worden; hier mag die verbreitete Unterscheidung genügen, wonach Schuld von Handlung ausgeht, Scham aber von der öffentlichen Einstellung zur Handlung, eine Einstellung, die dennoch nicht unbedingt körperlich

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sichtbar sein muss. Der arme Autor in Hamsuns Hunger empfindet immer wieder glühende Scham, wenn er in Versuchung gerät, schuldig zu werden, wenn er eine justiziable Handlung begehen könnte, aber man liest nie, dass er errötet sei. Schließlich begeht er die Handlung, stiehlt Geld und Brot und ist auf zynische Weise erleichtert. Im Kontext der physiognomischen Scham, die Lavater bei körperlichen Missbildungen für angebracht hielt, würde das bedeuten: der Missgebildete muss schuldig werden, um der Scham zu entkommen, er muss eben die Handlung begehen, derer man ihn ohnehin verdächtigt. Die Frau mit der Hasenscharte tötet lieber das missgebildete Kind als eine Schamkarriere mit ihm anzutreten.

3. Für Segen der Erde aus dem Jahre 1917 erhielt Hamsun, wie gesagt, den Literaturnobelpreis. Tatsächlich entsprach das Thema der ruhigen Sesshaftigkeit und glücklichen Existenz einer verbreiteten Sehnsucht der Kriegsnationen; vermutlich der deutschen mehr als aller anderen. Denn Deutschland hatte sich nicht nur aufgerieben, es hatte den Krieg auch verloren, und zwar, wie man meinte, auf schändliche Weise verloren. Die Traumaforschung der letzten Jahre hat diese nationale Beschämung auf sämtlichen Ebenen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens in Deutschland erörtert, nicht zuletzt Hitlers Motivation ist ohne Rekurs auf seine Wut über die Schande der Versailler Verträge nicht verständlich. Womöglich hat er, meint der italienische Schriftsteller Adriano Sofri nicht unplausibel, irgendwann auch Hamsuns Hunger gelesen und als Vorlage für Mein Kampf benutzt.37 Wenn irgendetwas, so hat Hitler die Erfahrung eines ehrgeizigen, erfolglosen, immer wieder abgelehnten und gedemütigten jungen Mannes um die Jahrhundertwende tatsächlich mit Hamsun geteilt. Scham und Wut haben auch sein Leben emotional beherrscht.38 Psychopathologisch ist hier von den so genannten Scham-Stolz- und Scham-Wut-Spiralen die Rede. In Hamsuns Roman wird das Umkippen von Scham in Wut dreimal annonciert, und zwar jeweils als literarische Idee des armen Autors. Er hält sich in Schach, indem er Ersatzhandlungen begeht. Zuerst will er einen Essay über das „Verbrechen der Zukunft“ schreiben, dann eine „Allegorie über einen Brand in einem Buchladen“, aber auch das genügt ihm nicht: „Ich wollte gerade den Gedanken, dass es nicht Bücher seien, die verbrannten, sondern

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Gehirne, menschliche Gehirne, recht tiefsinnig formulieren, und ich wollte aus diesen brennenden Gehirnen eine ganze Bartholomäusnacht gestalten. Da wurde plötzlich meine Türe mit großer Hast geöffnet, und meine Wirtin kam hereingesegelt.“39 Schließlich gewinnt der beschämte Autor eine gewisse symbolische Kompetenz wieder zurück. Als stärksten Ausdruck seiner Wut stellt er sich eine schamlose Handlung katexochen vor: eine hässliche Prostituierte kopulierend in der Kirche im Angesicht Gottes. „Ihr Körper sollte fehlerhaft und abstoßend sein, hoch, sehr mager und etwas dunkel […]. Sie sollte große, abstehende Ohren haben. Kurz, sie sollte nicht schön, sondern nur noch erträglich anzusehen sein. Was mich an ihr interessierte, war ihre wundervolle Schamlosigkeit, war die maßlose und überlegte Sünde, die sie begangen hatte. […] Mein Gehirn war gleichsam ausgebeult von dieser seltsamen Missgestalt.“40 Auch hier also bildet die physiognomische Missgestalt eine naturalisierte Schamlosigkeit ab und leitet über zur schuldhaften, wenn auch wollüstig genossenen Handlung. Die hysterische Konversion ist gelungen, der Patient erleichtert. Bekanntlich endet der Roman nicht negativ, sondern offen. Der Autor kann sich auf ein Schiff nach England verdingen. Mit seinem eigentümlich naturalisierten Image-Begriff stand Hamsun damals keineswegs allein. Auch und noch mehr der gleichzeitig 1890 erschienene Roman Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde schlägt in dieselbe Kerbe. Der Protagonist kann sein schönes Gesicht für die Gesellschaft wahren, also ein wandelndes Image werden, während das eigentliche Portrait auf dem Dachboden den Gesichtsverlust des sündigen Dorian in jeder Etappe registriert. Von Hamsun deutlich beeinflusst wiederum war Rainer Maria Rilke, dessen bekannter Stadt-Roman Malte Laurids Brigge von 1910 die denkwürdige Szene jener alten Bettlerin enthält, die plötzlich ihr „Gesicht in Händen“ hält: eben nicht ihr Gesicht, sondern ihr Image. Auf derselben Linie liegt Thomas Manns Bestseller von 1901, der „Roman vom Verfall einer Familie“, Die Buddenbrooks: auch hier kippen Gesicht und Image unaufhörlich ineinander, so ganz explizit bei der Hauptfigur Thomas Buddenbrook, der immer wieder sein Gesicht als Maske straffen muss, um den Status der Firma zu repräsentieren. Was aber hat diese Physiognomisierung und Naturalisierung von Image zu bedeuten? Geht es um eine Schwäche der literarischen Vorlagen oder um eine darwinistische Visualisierung sozialer Prozesse? Ein Blick auf die Kunstszene könnte hier etwas aufklären. Natürlich deutet die Physiognomik überwiegend visuelle Phänomene, und physiogno-

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mische Sachverhalte stehen der bildenden Kunst und der Malerei womöglich näher als der Literatur. Und doch lässt sich die These vertreten, dass von allen Emotionen, die zur mimischen Palette der Kunst gehören, die Scham die schlechtesten Chancen hat. Natürlich gibt es sehr berühmte biblische Motive wie Adam und Eva im Paradies, Susanna im Bade, Judas nach dem Verrat, die auf die Emotion im Sinne einer Pathosformel anspielen. Aber weder das errötende Gesicht noch die Gestik der Verlegenheit spielen jedenfalls bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eine wirklich nennenswerte Rolle in der Kunst. Posen wie die der Venus impudica spielen, wie alle Darstellungen schöner verlegener Frauen, nicht auf die Verlegenheit, sondern auf die Lust des Betrachters daran an. Die aristotelische, ehrgebundene Idee von Scham und die dazu gehörige ausgeprägte, von Darwin beschriebene Verlegenheitsgestik gehört allenfalls in die Karikatur oder in die sozialkritische Malerei, und viel eher stimmt das Gegenteil: es ist ja gerade die unbefangen zur Schau gestellte nackte Körperlichkeit der griechischen Kunst, die etwa in späteren Darstellungen von Adam und Eva selbst das Schampotential der Paradiesszene abdrängen und den Gesetzen der Aktmalerei überlassen. Jedes Porträt glorifiziert den unverlegenen, unbeschämten, wenn nicht unverschämten Auftraggeber, denkt ihn sich als Objekt der Würde und Anerkennung, eben als Image im Sinne Goffmans. Dazu passt übrigens die Position der Scham in der Geschichte der physiognomischen Räsonnements, sofern sie der Kunst dienen wollen. Während Descartes unter seinen 64 Emotionen noch die honte kennt, entfällt Scham als eine darstellbare Größe schon in Charles Le Bruns großem Werk über die Leidenschaften von 1668.41 Auch Lavater, der ja hauptsächlich auf künstlerische Darstellungen rekurriert, hat keine Illustration zum Thema, und auch Piderit nicht, der maßgebliche Physiognomik-Theoretiker dreihundert Jahre nach Le Brun, der freilich ebenfalls seine Physiognomik für Künstler schreibt, und auch die Physiognomiker nach Piderit halten diese Emotion nicht für abbildenswert oder überhaupt -fähig, während, wie gesagt, die Sozialphilosophen der Zeit Scham immer mehr aufwerten. Gegen eine Aufnahme der (aristotelischen) Scham in den mimischen oder physiognomischen Kanon spricht dabei nicht nur die Unsichtbarkeit einer verlorenen Ehre. Es gibt dabei regelrechte Sachzwänge. Denn wo Physiognomik im altmodischen Sinne etwa Tierähnlichkeit des Menschen konstatiert, wie seit und mit Aristoteles, ist niemals von Mimik die Rede. Wo wiederum Emotionen gestaltpsychologisch gedeutet und abgebildet werden, entfällt das Erröten. Es lässt sich weder experi-

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mentell herstellen noch abbilden, allenfalls gibt es die Darstellung des gesenkten Blicks, der aber gestaltpsychologisch uninteressant ist. Wo schließlich psychoanalytisch argumentiert wird, geht es nicht um Abbildungen. Das ES hat, wie Ernst Kris meinte, keine Mimik. Auch die etwa 54 Grimassen des barocken Bildhauers Messerschmidt, die Kris einer eingehenden Analyse unterzog, kennen nur rudimentäre Andeutungen der Scham, wie Ulrich Pfarr jüngst nachgewiesen hat. Im Gegenteil: Kris nennt diese Grimassen selber „Vorformen der Maske“42 – also eben jener mimischen Artefakte, die das Gesicht verbergen sollen. Um so merkwürdiger wirkt vor diesem Hintergrund die kleine Abhandlung von Theodor Meynert aus dem Jahre 1887, der daran erinnert, dass der Mensch Gefühle und Mienen und auch das Erröten unterdrücken kann und auch immer wieder unterdrückt, und dass dies womöglich für den sozialen Sensus überhaupt nicht gut sei.43 Und doch sind die Zeichen der aristotelischen Scham am vormedialen, lebendigen Subjekt unübersehbar. Darwins Definition hat sie unübertrefflich festgelegt, wenn auch die große philosophische Karriere des Begriffs bis 1945 und dann die psychoanalytische seit den achtziger Jahren, vor allem durch Leon Wurmser, weitere Differenzierungen erbracht hat. Im Brockhaus von 1996 heißt es: „Scham: selbstbewertende, unangenehme Emotion, die sich durch spez. physiologische und Verhaltensmerkmale auszeichnet (Erröten, Erblassen, Pulsfrequenz, Blickvermeidung, Blickrichtung ändern, Abwendung des Gesichts, Verkleinerung des Körperumfangs) […] Ein Ausgleich des mit der Beschämung verbundenen Gesichtsverlustes erfolgt durch individuelle Entwicklungsprozesse, bedarf aber oft auch großer kollektiver und individueller Anstrengungen, die in Form von Ritualen (z. B. Duell) oder Psychotherapien stattfinden können. Fehlen und Übermaß an Schamgefühlen werden im psychoanalytischen Kontext als narzisstische Störungen betrachtet: sie können sich z. B. als Abwehr von Scham durch chronischen Hohn, Anmaßung und Verachtung bzw. Überheblichkeit äußern.“44 Was im stillen Bild nicht gelingt, bringt dann sehr wohl der Film zustande. Die vielen Szenen von entwürdigten und beschämten Menschen aus den Stummfilmen der Weimarer Republik, die Mienenspiele von Asta Nielsen und die Biberkopf-Schicksale der Zeit lieferten die Vorlage für jene Physiognomik des Films, die Béla Balász seit Beginn der zwanziger Jahre vorgelegt hat. „Das Gesicht anderer Menschen gleicht einer gläsernen Maske, durch die ein verborgenes Gesicht, das wahrer ist, mehr oder weniger durchschimmert. Dieses Gesicht ist manchmal als drittes sogar hinter zwei Masken versteckt.“45 Nach dieser Devise hat

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noch der Regisseur Henning Carlsen 1966 in seiner Verfilmung von Hamsuns Roman Hunger das Schamproblem performiert. Zwar meidet er klassische Großaufnahmen nach Art des Stummfilms. Aber er zeigt den armen Poeten zwischen einem verzweifelt simulierten Pokerface, den Grimassen der Todesangst und dem ersehnten Image, hier inszeniert als Vision: immer wenn das peinlich beschämte Subjekt von Anerkennung und Wohlstand träumt, leuchtet die Szene in gleißendem Licht. ES, Über-Ich und Ich-Ideal kämpfen auf einem fazialen Schlachtfeld. Eine Ausnahme macht offenbar die – noch heile? – Welt des Cartoons und Zeichentrickfilms. Bernhard Stumpfhaus macht darauf aufmerksam, dass das Erröten im Cartoon seit Langem als konventionelles Darstellungsmittel für das Entdecken oder Äußern einer Zuneigung gilt, meist einer Backfischliebe, wie in den frühen Disneyfilmen, in denen Mickey und seine Freundin Mini sich begegnen. Mit den Mitteln der schwarz-weiß-Darstellung wird das Erröten als eine Art Glühen, mit einem Strahlenkranz ums Gesicht, ausgedrückt. Auch Donald und Daisy erröten keusch, wenn sie sich verlieben, und selbst Obelix überkommt es bei den Legionären angesichts der jungen, sehr üppigen Gattin des verschrumpelten Greises Methusalix. Das Stilmittel ist heute besonders in den momentan sehr beliebten japanischen Anime-Cartoons, Mangas und Hentais weit verbreitet, mit Übergängen in die Pornografie. Aber es gibt auch die Schamröte der Ehre: Beim Dank für eine Wohltat, die entweder verborgen bleiben sollte oder unbeabsichtigt war, oder bei einer kleinen, meist lässlichen Missetat. Die Bösewichter schämen sich nie. Schamesröte ist also das Zeichen für die jugendlichen guten und keuschen empfindsamen Helden oder Heldinnen. Erwachsene über 30 erröten fast gar nicht mehr. Aber auch Macho-Helden wie Superman erröten äußerst selten.46 Dass andererseits Scham nicht wirklich ins mimisch-gestische Repertoire der hohen visuellen Künste gekommen zu sein scheint, mag schließlich auch daran hängen, dass das beschämte Subjekt grundsätzlich gerade nicht sichtbar sein will. Scham und Unsichtbarkeit sind phänomenologisch synonym, daher das starke Anwachsen des Schamdiskurses in einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr visuell konstruiert. Denn dass die Scham zu den intensivsten kulturellen Konstruktionen gehört, über die wir verfügen, steht seit Aristoteles außer Frage und wird von Darwin keineswegs bestritten. Scham sei „ein Hauptfaktor der sozialen Konformismen, die Schaltstelle, an der sich Außenlenkungen in Innenlenkungen übersetzen ließen“, hat Peter Sloterdijk einmal bündig formuliert.47 Das Gesicht, das uns verloren gehen kann, wäre ein

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Organ der Innenlenkung, wird aber längst als ein solches der Außenlenkung gehandelt. Denn umgekehrt verlangt derselbe Boom an visueller Sozialität natürlich wachsende Schamlosigkeit der Mitspieler, eine völlige Preisgabe von Image an Gesicht im Sinne der hysterischen Konversion, die Hamsun, Wilde und Mann schon um die Jahrhundertwende beschreiben. Die peinlichen Selbstentblößungsrituale der Talkshows, die zudringliche Kameraführung, Phänomene wie die Realityshow Big Brother zeigen die deutlichen Zeichen jener Auflösungsprozesse.

Anmerkungen 1. Thomas Mann, Knut Hamsun zum siebzigsten Geburtstag, 4. August 1929, zit. nach T. M., Das essayistische Werk in acht Bänden, hg. v. Hans Bürgin, Frankfurt a. M. 1968, hier: letzter Band, Miszellen, 161–164. 2. Ebd., 161. 3. Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals. London 1872; dt. Stuttgart 1872. 4. Ernst Kris, Das Lachen als mimischer Vorgang. Beiträge zur Psychoanalyse der Mimik, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago 24 (1939), 154. 5. Vgl. den Artikel Scham im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. VIII, Basel 1992, Spalte 1208–1216; sowie Aristoteles, Rhetorik, hg. und übers. v. Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, 2. Buch, 6. Kapitel. 6. Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Paul Ekman, vor allem: Emotion in the Human Face, Paris, Cambridge/MA 1982. 7. Thomas Hobbes: „Kummer über die Entdeckung mangelhafter Fähigkeiten ist Scham oder die Gemütsbewegung, die sich beim Erröten enthüllt, und besteht in der Wahrnehmung von etwas Unehrenhaften; sie ist bei jungen Männern ein Zeichen für die Liebe zu einem guten Ruf und lobenswert. Bei alten Männern ist sie ein Zeichen für dasselbe, aber da sie zu spät kommt, nicht lobenswert. Die Geringschätzung eines guten Rufs nennt man Schamlosigkeit.“ Thomas Hobbes, Leviathan, hg. v. Hermann Klenner, Darmstadt 1996, 48. 8. Immanuel Kant, Werke in 22 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1964, II: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764], 838. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1789 heißt es: „Scham ist Angst aus der besorgten Verachtung einer gegenwärtigen Person und als solche, ein Affekt. Sonst kann einer sich auch empfindlich schämen ohne Gegenwart dessen vor dem er sich schämt; aber dann ist es kein Affekt, sondern, wie der Gram, eine Leidenschaft, sich selbst mit Verachtung anhaltend, aber vergeblich zu quälen; die Scham dagegen, als Affekt, muß plötzlich eintreten.“ XXII, 585. 9. Johann Kaspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., Winterthur und Leipzig 1775–1778; hier Bd. III, 24, 2. Fragment mit der Bemerkung, da „Scham überhaupt nichts anders ist als Furcht vor Entblößung, vor Offenbarung seiner Schwachheit und Unvollkommenheit, so werden wir uns schwerlich erwehren können, auch dem ohne seine Schuld Mißgebildeten […] Scham zuzuschreiben.“

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10. Georg W. F. Hegel, Ästhetik. 2 Bde., hg. v. Friedrich Bassenge. Frankfurt a. M. o. J., II, 125 ff. 11. Charles Darwin, Sind Affen Rechtshänder? Notizhefte M und N und die ‚Biographische Skizze eines Kindes‘, hg. v. Henning Ritter, Berlin 1998, 75. Zur Schamdiskussion insgesamt, vor allem auch mit Hinblick auf die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, vgl. auch Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1988. Duerr behandelt freilich keine physiognomischen Erkenntnisziele, sondern ausschließlich Fragen zur Nudität. 12. Ebd., 75. 13. Max Scheler, Über Scham- und Schamgefühl, in: ders., Gesammelte Werke 10, Bern 1957, 67–154. 14. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nicht. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943], Hamburg 1976, vor allem 299 f. 15. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. [1938]; zweite, um eine Einleitung vermehrte Auflage, Bern und München 1969, II: Scham und Peinlichkeit, 397 ff. 16. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1906. Zur Vorgeschichte des Errötens in Kunstliteratur und Malerei zu Zwecken rassistischer Propaganda vgl. auch Angela Rosenthal, Die Kunst des Errötens. Zur Kosmetik rassischer Differenz, in: Herbert Uerlings, Das Subjekt und die Anderen: Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001, 95–117. Auf die bekannten Schamszenen der Kunstgeschichte – Susanna im Bade etc. – geht die Arbeit nicht ein. Ihre Annahme, dass die mehr oder minder geröteten Frauengesichter im Porträt des 18. Jahrhunderts Schamröte zeigen sollen, und nicht vielmehr eine gesunde Durchblutung, bedürfte noch der Diskussion. Denn Scham kann sich nur szenisch artikulieren. 17. Georg Simmel, Soziologie der Scham [1901], in: ders., Schriften zur Soziologie, hg. v. H.-J. Dahme und O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1983. Ders., Soziologie [1908], Berlin 1968, 484 f. 18. Simmel 1968 [Anm. 17], 723. 19. Karl Leonhard, Ausdruckssprache der Seele. Darstellung der Mimik, Gestik und Phonik des Menschen, Berlin 1949, 505 f.: „Die Unterdrückung einer Miene, die sich mit großer Kraft durchsetzen möchte, also einer Gefühls- und Willensmiene, rächt sich gewissermaßen mit Erröten.[…] Nach all dem besteht der Unterschied zwischen der Schamröte und einem Erröten aus anderer Ursache, etwa aus Freude, Zorn, Schmerz, nur darin, daß man die Scham bzw. die Verlegenheit viel häufiger verbergen möchte als einen anderen Gefühlszustand. Dafür aber den tieferen Grund sehe ich in dem beim heutigen Menschen so stark entwickelten Selbstgefühl.“ 20. David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Hamburg 1966; Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 1986, hier besonders das Kapitel „Verlegenheit und soziale Organisation“. 21. Leon Wurmser, Die Maske der Scham [1981], Berlin 1991; Agnes Heller, The Power of Shame. A Rational Perspective, London 1985; Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt a. M. 1991. 22. Vgl. die Literaturhinweise bei Günter Seidler, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, 2. erw. und verb. Aufl., Stuttgart 2001. 23. H. B. Lewis, Shame – the ‚sleeper‘ in psychopathology, in: The role of shame in symptom formation, ed. by, H. B. Lewis, Hillsdale 1987.

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Unter einem sleeper versteht man in der Psychiatrie Menschen, die beschämende Kränkungen sehr lange mit sich herumtragen und plötzlich unvermutet heftig rächen. Eine solche Scham-Wut-Spirale ist insbesondere an Hitlers Verhalten studiert worden, der sich mit der Niederlage von Versailles identifizierte und seine eigenen Kränkungen als abgelehnter Maler einbrachte; vgl. Helm Stierlin, Adolf Hitler. Familienperspektiven, Frankfurt a. M. 1975; sowie, darauf fußend: Claudia Schmölders, Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000. 24. Knut Hamsun, Hunger, dt. von J. Sandmeier, München 1921. 25. Knut Hamsun, Briefe, hg. v. Torsten Hamsun, München 1957. 26. Ebd., 45, 85. 27. Hamsun 1921 [Anm. 24], 11. 28. Ebd., 179. 29. Ebd., 45. 30. Ebd., 86 f. 31. Ebd., 125. 32. Ebd., 135. 33. Darwin 1998 [Anm. 11], 110 f. 34. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], Frankfurt a. M. 2002. 35. Sigmund Freud, Das Interesse an der Psychoanalyse [1913], in: ders., Gesammelte Werke VIII (1909–13), Frankfurt a. M. 1969, 389–420, hier: 400f. 36. Knut Hamsun, Segen der Erde, München 1917. 37. Adriano Sofri, Der Schriftsteller, der Hitler inspirierte. Über Knut Hamsun, in: ders., Nahaufnahmen. Berlin 1999, 57. 38. Vgl. dazu Stierlin [Anm. 23]. 39. Hamsun 1921 [Anm. 24], 157. 40. Ebd., 160. 41. Charles Le Brun, Conférence sur l’expression générale et particulière, 2. Ausg. Amsterdam 1702. Nachdruck Hildesheim 1982. Klaus Herding verdanke ich den Hinweis, dass aber mindestens zwei Versionen der Susanna im Bade aus dieser Zeit durchaus Schamröte zeigen; vgl. Anthonis Van Dyck, Susanna im Bade, um 1623; vgl. Alte Pinakothek München, Erläuterungen zu den ausgestellten Gemälden, hg. von den Bayrischen Staatsgemäldesammlungen, München 1983, hier 182, Nr. 595, mit Farbtafel nach S. 192; sowie Peter Paul Rubens, Susanna im Bade, um 1636–39; ebd., vgl. ebd., 441–442, Nr. 317 m. Abb. 42. Ernst Kris, Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt. Versuch einer historischen und psychologischen Deutung, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien NF VI, Wien 1932, 216; dazu auch: Ulrich Pfarr, Franz Xaver Messerschmidt – Menschenbild und Selbstwahrnehmung (Diss. Frankfurt a. M. 2002), Berlin 2004. 43. Theodor Meynert, Mechanik der Physiognomik, in: T. M., Sammlung von populärwissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistungen des Gehirns, Wien und Leipzig 1992. 44. Brockhaus, Die Enzuklopädie, Stuttgart 1996, Artikel Scham. 45. Béla Balász, Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922–1926, hg. v. Helmut H. Diederichs u. a., München 1982, 206. 46. Bernhard Stumpfhaus, mündl. Mitteilung. 47. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1983, I, 318.

IV. Zur Auseinandersetzung mit ästhetischen Normen in den Medien der Gegenwart

Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus

Libeskinds Gedanken im Rahmen von „Pathos, Affekt, Gefühl“ Daniel Libeskinds Äußerungen sind ganz und gar künstlerischer Natur. Sie jedoch als Selbstaffirmation zu deuten, wäre ein Missverständnis. Vielmehr gehören sie deshalb zum Kern unseres Vorhabens, die Bedingungen und Wirkungen des emotionalen Ausdrucks in Kunstwerken zu analysieren, weil sie ein großes und fruchtbares Problem zur Sprache bringen: Wie kann ein heutiger Architekt bei den Besuchern seiner Bauten Emotionen auslösen, die an Subtilität dem hoch differenzierten Denken der postindustriellen Gesellschaften Europas und Nordamerikas entsprechen, ja an ihm teilhaben? Indes bedarf diese Fragestellung einer gewissen Entfaltung im Rahmen der kunsttheoretischen Ausrichtung des Kongresses. Denn bei Libeskind ist die Rede von hochkomplexen Emotionen, die den Besucher sowohl erschüttern als auch befriedigen, ihm zugleich Welterkenntnis und Innenschau verschaffen, ihn verunsichern, aber auch seiner selbst versichern wollen. Es geht also um vermischte Emotionen und zugleich um ein Aufklärungsprogramm, das eigene, originäre künstlerische Ausdrucksformen erzeugen muss, um diesem hohen Ziel sinnliche Kraft zu verleihen. Was aber sind die Prämissen dieser Komplexität und wie ist sie zu erreichen? Man wird Libeskind nur verstehen, wenn man ihn als Planer und als Querdenker, als Urbanisten und als Einzelgänger begreift. Die großen (nicht realisierten) Entwürfe für den Potsdamer Platz und den Alexanderplatz in Berlin sowie für den Freedom Tower auf Ground Zero in Manhattan (preisgekrönt, doch nachträglich durch den Architekten Daniel Childs verändert1) gehören sämtlich zur Gattung der ‚sprechenden‘ oder ‚symbolischen‘ Architektur. Aber die Symbolik ist nicht leicht zu benennen, weil sie in sich gegensätzlich ist. Der Entwurf für den Potsdamer Platz ist ein Puzzle aus Fragmenten, „zehn Blitzschläge aus absolu-

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ter Abwesenheit“ (des vormaligen Stadtkerns)2, d. h. hier wird eine noch näher zu bestimmende historische Dramaturgie erprobt, während der Entwurf zum Alexanderplatz die vierzig Jahre Ost-Berliner Bauweise hinnimmt, gleichzeitig aber in Spannung zur Architektur der Gegenwart setzen möchte. Diese Interaktion ist also bipolar ausgerichtet. Im ersten Fall ist das ‚Symbol‘ die unselige Geschichte des Platzes, im zweiten Fall ist es die auf Bewahrung und Veränderung ausgerichtete quirlige Gegenwart selbst. Mit anderen Worten: Die Symbole Libeskinds sind umfassende gedankliche Konstruktionen und mit herkömmlichen Symbolbegriffen nicht mehr zu fassen. Dies gilt erst recht für den Freedom Tower. Hier geht es um Memorialarchitektur und um Demonstration des Selbstvertrauens, um offene, freie und um bebaute, optimal nutzbare Räume zugleich, um eine Dialektik aus Fragilität und Stabilität.3 Dem tragen die auseinander strebenden, nur teilweise zur Nutzung freigegebenen Türme Rechnung, um die sich begrünte Freiflächen mit Blick auf die Reste des World Trade Center öffnen. In all diesen Fällen ist das Publikum zu mehrfacher Nutzung, zur Wahl und zur Eigenaktivierung der Emotionen aufgefordert. Dies gilt sogar für eine klar definierte Zielgruppe. Über das Imperial War Museum in Manchester hat Libeskind geschrieben: „Clearly, this is not a museum of peace, but a museum of the permanent struggle to attain it“, und weiter: „In order to touch the passions of the visitor, and structure a building that is boldly put together, I designed a building that is emblematic of the earth shattered by conflict.“4 Er beschreibt also nicht einen Zustand (Krieg oder Frieden), sondern einen Prozess, in dem sich der Besucher zurechtfinden, ja in dem er eine Wahl treffen muss, eine Wahl, die gleichermaßen seine Willenskraft, seinen Intellekt und seine emotionalen Fähigkeiten herausfordert. Was Daniel Libeskind will, berührt sich mit dem, was Peter Eisenman nahezu zeitgleich versucht, nämlich durch Architektur Emotionen der Erinnerung zu wecken und damit einen Lernprozess zu initiieren, der auch die Zukunft umfasst. Wir sind froh, dass beide Künstler in diesem Band zu Wort kommen. Aber ihre Mittel und Ziele unterscheiden sich voneinander. Libeskind will produktive Unruhe stiften; seine Prämisse ist, dass die psychischen Energien erst geweckt werden müssen. Er scheut sich daher nicht, den Besucher in Verwirrung, ja Desorientierung zu stürzen, bevor er ihn ‚zur Besinnung‘ bringt. So geschieht es in den aus dem Lot verrückten Stelen des Gartens am Jüdischen Museum in Berlin, während in der Holocaust-Gedenkstätte Eisenmans die schier endlose Reihung der gerade aufgerichteten Stelen das Gedenken eher in rationale Bahnen lenkt. Libeskinds Zickzacklinien und

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Krümmungen, seine schiefen Ebenen und leeren Schächte werfen den Besucher erst einmal ganz wörtlich ‚aus der Bahn‘, sie sind Mittel, die dem durch übermächtige Natur ausgelösten Gefühl der Nichtsseins als Vorgefühl der Erhabenheit nahe kommen, obwohl Libeskind nicht Erhebung noch Erlösung verheißen kann, sondern allenfalls ein sich selbst Finden bietet. Das Ziel der Erschütterung bleibt also offen; es ist auch ungewiss, ob es eine Art Katharsis auszulösen vermag. Doch ist zugleich mehr als die Erlösung des Einzelnen im Spiel, denn die gemischten Gefühle, die Libeskind erzeugt, gewinnen über die Selbstfindung des Subjekts hinaus soziale Bedeutung. Der emotionale Prozess, den der Besucher durchlebt, ist vom Architekten sehr bewusst intendiert: Ein Konzept, eine prohairesis, ist am Werk, was zeigt, dass Gefühle ihren Platz innerhalb der Vernunft und doch, mit Pascal zu sprechen, ihre eigene Logik haben. Daher bleibt ein unberechenbarer Rest; es bleibt offen, ob der Besucher so reagiert, wie Libeskind es sich vorgestellt hat. Wir werden die Ergebnisse dieses Experiments mit offenem Ausgang in den kommenden zehn oder zwanzig Jahren erleben, und diese Ergebnisse werden gewiss dazu beitragen, dass Neurophysiologen ihrerseits die Historizität menschlicher Erfahrungen auch in einem biosozialen Sinne bedenken.

Anmerkungen 1. Vgl. Jordan Mejlas, Stark und unverwüstlich. Ein Kompromiss als Turm: Daniel Libeskinds Freedom Tower, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 296, 20.12.2003, 37. 2. Kontrapunkt. Die Architektur von Daniel Libeskind, Ausst.-Kat. Jüdisches Museum Berlin, 2003, o. S. 3. Max Protetch, A New World Trade Center. Design Proposals From Leading Architects Worldwide, New York 2002, 85. 4. Daniel Libeskind, Catching on fire, in: The New Statesman, 2002, hier zitiert nach: http://www.daniel-libeskind.com.

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Distanzräume der Erinnerung. Drei Museen Museum ohne Ausgang. Konzeptschrift für das Felix Nußbaum-Haus Nur einem glücklichen Zufall und dem entschiedenen Willen der Stadt Osnabrück ist es zu verdanken, dass der Name und das Werk Felix Nußbaums unter den Millionen ausradierter Namen und Werke der Vergessenheit entrissen wurden. Die Aufgabe, ein Museum zu errichten, das die künstlerischen Überreste Nußbaums bergen soll, wirft nicht nur Fragen architektonischer Art auf, sondern auch solche moralischen Charakters. Ich glaube, dass die Vernichtung jüdischer Kultur durch das Dritte Reich nicht allein mit moralischen Begriffen angegangen werden kann. Die verbliebenen Zeugen der Auslöschung der europäischen Juden sterben aus. Die Gemälde Nußbaums sind deshalb mehr als nur Gemälde. Sie sind die immerwährenden Beweisstücke, die nun in einem neuen Kontext von Beteiligtsein und neuerlicher Bezeugung die Geschichtsdarstellung in der Kunst zum Emblem des tatsächlichen Überlebens des jüdischen Volkes und der europäischen Zivilisation erheben. Jedes Element der Raumeinteilung, der Geometrie und des programmatischen Gehalts bezieht sich auf das paradigmatische Schicksal Nußbaums: das ihm von den Nazis wieder entzogene RomStipendium, seine Zeit in Berlin, die Folgen seines dauernden Exils in Osnabrück, die Vergeblichkeit seiner Fluchtwege durch Frankreich und Belgien und letztlich seine Deportation und Ermordung in Auschwitz. Und dennoch: Das ganze tragische Schicksal ist eingebettet in Nußbaums beharrliche Hoffnung auf eine letzte Gerechtigkeit. Nur die Lebensbahn Nußbaums kann das vorgeschlagene architektonische Schema erklären. Teil des Auftragsentwurfs war es, die Nußbaum-Sammlung in einem neuen Museum unterzubringen sowie das gesamte historische Gebäudeensemble in einen neuen Zusammenhang zu setzen. Ein Museum per-

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manenter Abwesenheit, des Nichtbezeugten und Nichterfüllten, kann das Museum sein, wenn es sowohl das Todesverhängnis als auch die Bedeutung des unvorstellbaren Abgrundes des Holocausts zum Vorschein bringt. Die besondere Aufgabe des Museums ist es, eine sentimentale Behandlung dieses Themas zu umgehen, um den historischen Kontext Osnabrücks durch den Blick auf neue kulturelle Werte zu thematisieren. Die verschiedenen Bestandteile des neuen Komplexes sollen sich einmal zu einer einheitlichen Struktur verbinden und zusammenfügen, während sie zugleich einen fortwährenden Horizont des Unverbundenen, Unterbrochenen freilegen, der paradoxerweise wichtige geschichtliche Orte mit der Stadt und wesentliche historische Ereignisse in räumlicher Erinnerung verkettet. Das neue Gebäude will aus diesem Grunde nicht durch eine neue äußere Form dominieren, sondern eher einen neuen, der Hoffnung gewidmeten Zusammenhang für das bestehende historische Museum und die Villa der volkskundlichen Sammlung schaffen (Farbtafel VII). Diese Gebäude behalten ihre selbständige architektonische Gestalt, während das gesamte Ensemble um den Nexus einer neuen Topographie reorganisiert wird, die die Stadt auf sich selbst zurückwirft. Das Nußbaum-Museum wird zu einer Verbindung mit der verlorenen Geschichte. Es agiert als Transformator, der die rätselhafte Unwiderruflichkeit von Zeit und Schicksal vermittelt. Der Besucher betritt seitlich den innerhalb der Galerie der Nicht gemalten Bilder liegenden Nußbaum-Gang (Abb. 1). Auf diese Weise manifestiert sich die Bedeutung des Eintritts in das Museum ohne Ausgang. Die Außenseite des Nußbaum-Gangs ist schiere Abwesenheit – das martervolle Leben Nußbaums: eine leere Leinwand – sie verweist auf die Absolutheit des Verbrechens und die Bedeutung dieses öffentlichen Ortes. Offenheit und Unvollständigkeit, beide für die Interpretation des Nußbaumschen Œuvres wichtig, tun sich kund. Entlang des Nußbaum-Gangs finden sich Spuren des ehemals vielfältigen jüdischen Lebens in Osnabrück. Ist der Besucher, die Besucherin einmal im Innern dieses verdichteten, mit dreieckigen Oberlichtern ausgeleuchteten Raums angelangt, sieht er, sie sich mit einem verlagerten Volumen konfrontiert, das den vertikalen Eingang mitsamt den begleitenden Funktionen birgt. Der Nußbaum-Gang macht den Museumskomplex sichtbar und trägt das Nachbild der unsichtbaren abgebrannten Synagoge. Der Besucher steht inmitten des prekären Gleichgewichts von Sammelbarem und Unsammelbarem, von Festhaltbarem und Flüchtigem. Der Nußbaum-Gang führt den Besucher durch die verdichtete Geometrie eines

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Abb. 1: Daniel Libeskind, Felix Nußbaum-Haus, Osnabrück, 1995-1999, Nußbaum-Gang (© bitterbredt.de)

doppelten Blick-Kegels, der, zeitlich vor- und zurückreichend, die sichtbare und kinetische Verkörperung eines Davidsterns offenlegt, den Nußbaum als letztes, für Geburt und Tod stehendes IdentifikationsMal auswählte. Beim Weg durch das Museum erschließt sich dem Besucher das Zusammenspiel der verlorenen Schatten der Synagoge und des Lichtes einer antizipierten Zukunft. Bewegt sich der Besucher auf den offenen Raum der Wechselausstellungen zu, so wird sein Gesichtskreis in die Vertikale und auf den Zugang zum zweiten Stockwerk gelenkt. Der Raum für die städtischen Wechselausstellungen und der Lesesaal bilden eine wichtige Einführung in die zweite Ebene, der Nußbaums dramatischem Werk vorbehalten ist. Der Entwurf regt eine Zusammenführung der geschichtlichen Sammlungen Osnabrücks an, zumindest emblematisch auf das Werk Nußbaums bezogen, um die NußbaumSammlung wieder in den Zusammenhang der geschichtlichen Sammlungen des Museums zu stellen.

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Am Ende der Ausstellungsräume im ersten Stock erfährt der Besucher das ganze Ausmaß von Nußbaums Zusammenbruch, dessen Pathos in der doppelten Erkenntnis von politischer Sinnlosigkeit und geistigem Widerstand der Kunst angesichts unmenschlicher Unterdrückung begründet ist. Die im ersten Stock befindliche unvollendete Galerie ist ein Einschnitt, symbolisiert durch ein schräges, gewundenes Segment: Es bildet eine schwebende Verbindung zum bestehenden Museum. Diese Aufhebung verweist auf die Entschiedenheit der 1944 entstandenen Gemälde, auf den unbezwingbaren Geist Nußbaums und seinen Glauben an eine Universalität der Kunst. Das Volumen dieses entscheidenden Segments verhält sich reziprok zur Geometrie des abgetrennten Museums. Der schwebende Übergang zum bestehenden Museum führt zu einer Ausstellungsfläche, die durch die Umgestaltung von Teilen des ersten Stockwerks im Kulturgeschichtlichen Museum der Stadt entstehen könnte. Der Plan weist auf die Notwendigkeit einer Integration von Alt und Neu hin, jenseits der jeweiligen äußeren Erscheinung. Die heutige Verbindung zwischen Geschichtlichem und Ästhetischem, zwischen bestehendem und neuem Museum stellt eine Schlüsselaufgabe dar, die bewältigt werden muss, damit das Erinnern der Vergangenheit in der Gegenwart aktiv werden kann. Daher geht von unserem Entwurf die Anregung aus, das NußbaumMuseum, obschon abgetrennt von den bestehenden Museumsgebäuden, kraft seiner Form und Funktion doch mit ihnen zu verknüpfen. Die Volkskundliche Sammlung, die 1933 zum Parteisitz der NSDAP geworden war, sowie das Kulturgeschichtliche Museum sind in einer mannigfaltigen Komposition wieder miteinander verbunden. Der Gesamtentwurf schafft einen architektonischen Drehpunkt, der das Grundstück vor einer Banalisierung, einer Homogenisierung und lsolierung der historischen Fakten bewahren soll. Der Besucher erfährt, dass das Werk Nußbaums und besonders auch seine Beziehung zur kulturellen und historischen Identität Osnabrücks eine außerordentliche geistige Differenzierung verlangt. Daher erhellen sich die Bedeutung des öffentlichen Raumes (sowohl innen wie außen) und die Beziehung zwischen dem Ökosystem und der Architektur wechselseitig. Das Felix Nußbaum-Haus ist nicht allein das Testament eines unbeschreiblichen Schicksals, in ihm entsteht ein bedeutsamer Ort für die Begegnung von Zukunft und Vergangenheit. Die ungemalten Bilder Felix Nußbaums erfordern nicht weniger, als vor nachdenklichen Augen sichtbar gemacht zu werden.

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Between the Lines. Das Jüdische Museum in Berlin Die Diskussion um ein Jüdisches Museum in Berlin (Farbtafel VIII) hatte bereits ein Vierteljahrhundert gedauert. Viele bedeutende Experten und Überlebende des Holocausts hatten die Bedeutung und die Implikationen der Errichtung eines Jüdischen Museums in Berlin erörtert. Die erreichten Schlussfolgerungen gingen in die Ausschreibung für den Wettbewerb 1988/89 ein. Als ich 1988 vom Berliner Senat eingeladen wurde, am Wettbewerb teilzunehmen, spürte ich, dass es nicht darauf ankam, ein Programm zu erfinden oder ein Gebäude zu erkunden. Vielmehr war ich von Anbeginn tiefer involviert, weil ich einen großen Teil meiner Familie durch den Holocaust verloren hatte. Ich selbst bin nur einige hundert Kilometer östlich von Berlin geboren, im polnischen Lodz. Die spezifische Gestaltung des Jüdischen Museums beruht auf drei Hauptideen: Da ist erstens die Unmöglichkeit, die Geschichte Berlins zu verstehen, ohne den enormen intellektuellen, ökonomischen und kulturellen Beitrag der jüdischen Bürger zu bedenken. Zum anderen gibt es die Notwendigkeit, der Stadt Berlin die Bedeutung des Holocausts körperlich und seelisch ins Bewusstsein und Gedächtnis einzuschreiben. Drittens kann es für Berlin und Europa nur eine Geschichte mit menschlichem Antlitz geben, wenn die Beseitigung und das Fehlen jüdischen Lebens zugegeben und dieser Stadt einverleibt werden. Der offizielle Name dieses Projekts ist ‚Jüdisches Museum‘, ich aber habe es Between the Lines genannt. Ich habe diesen Titel gewählt, weil es von zwei Denklinien handelt: Organisation und Beziehung. Die eine ist eine Gerade, jedoch eine in viele Stücke zerbrochene; die andere hat einen quälenden, einen für die Unendlichkeit fortdauernden Verlauf. Das Museum liegt im neuen, alten Zentrum Berlins, in der Lindenstraße, unmittelbar am vornehmen Kollegienhaus, dem barocken, ehemals preußischen Gerichtsgebäude. Ich empfand, dass es dort nicht nur einen wirklichen, sichtbaren Ort gab, sondern auch ein unsichtbares Geflecht von Beziehungen zwischen Deutschen und Juden. Auch wenn der Wettbewerb ausgeschrieben wurde, bevor die Mauer fiel, so fühlte ich doch, dass eine den Westen und den Osten verbindende Komponente die Beziehung zwischen Deutschen und Juden ist. Arbeiter, Schriftsteller, Komponisten, Künstler, Wissenschaftler und Poeten haben jüdische Tradition und deutsche Kultur verknüpft. Ich fand diese Verbindung und erstellte ein irrationales Gewebe, welches die Verbindung zu dem Emblem eines zerdrückten und verzerrten Sterns

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herstellen sollte, dem gelben Stern, der so häufig an diesem Ort getragen wurde. Das war der erste Aspekt dieses Projekts. Ich war schon immer interessiert an der Musik Arnold Schönbergs, besonders an derjenigen seiner Berliner Periode. Sein größtes Werk ist die Oper Moses und Aaron1, welche unvollendet blieb. Aus strukturellen Gründen konnte die Logik des Librettos mit musikalischen Mitteln allein nicht erfüllt werden. Am Ende der Oper singt Moses nicht mehr, er spricht nur noch, Wortlosigkeit und Schweigen ausdrückend: „O Wort, du Wort, das mir fehlt!“2 Man kann diese Szene als ‚Text‘ begreifen, denn, wenn es keinen Gesang gibt, kann der Mangel an Worten, den Moses zum Ausdruck bringt, der Ruf nach dem Wort, der Ruf nach der Tat, deutlich verstanden werden. Ich gedachte, diese Oper architektonisch zu vollenden. Das ist der zweite Aspekt des Projekts. Der dritte ergab sich aus meinem Interesse an den Namen all der Personen, die in den schrecklichen Jahren des Holocausts aus Berlin deportiert wurden. Ich erbat und erhielt aus Bonn zwei dicke Bände, ‚Gedenkbuch‘ genannt. Sie waren unglaublich beeindruckend, denn sie enthielten nur Namen, Listen und Listen von Namen, Geburtsdaten, Daten der Deportationen und Orte, von denen man annahm, dass dort die Menschen ermordet wurden. Ich suchte nach den Namen der Berliner und danach, wo sie gestorben waren – in Riga, im Ghetto von Lodz, in den Konzentrationslagern. Der vierte Aspekt bezieht sich auf Walter Benjamins Einbahnstraße.3 Benjamin gibt in sechzig Abschnitten eine Charakterisierung Berlins vor dem Krieg (ich assoziiere damit den sechszackigen Davidstern, der sein Licht in jeweils zehn Richtungen spendet). Der Text ist für die Gliederung des Museums von Bedeutung. Denn ich benutze die das Berliner Leben durchkreuzenden Aphorismen dieser Schrift als Anregung für die Verteilung der Räume innerhalb des Gebäudes. So hat das Museum beispielsweise sechzig Öffnungen über der Leere. Der Grund für diese Einschreibung der Einbahnstraße in meine Architektur ist also das Ziel, die Schrift Benjamins auch zur anderen Seite hin zu öffnen: auf die Gegenwart und die Zukunft Berlins. Diese vierfache Struktur lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der erste Punkt ist der unsichtbare und irrational verknüpfte Stern, der sich mit abwesendem Licht an jeden Einzelnen wendet. Der zweite ist das Abschneiden des 2. Aktes der Oper Moses und Aaron, welches in der nicht-musikalischen Erfüllung des Wortes kulminiert. Der dritte ist die allgegenwärtige Dimension der deportierten und untergegange-

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nen Berliner. Der vierte ist Benjamins urbane Apokalypse entlang der Einbahnstraße. Genauer beschrieben, misst das Bauwerk mehr als 15.000 m2. Der Eingang führt durch das barocke Kollegienhaus in eine dramatische Leere. Hier folgt eine Treppe, die unter die historischen Fundamente führt, dann kreuz und quer durch den Untergrund geht, um sich zum Schluss in ein unabhängiges Gebäude außerhalb zu verwandeln. Der historische Bau wird unterirdisch verlängert.

Abb. 2: Daniel Libeskind, Jüdisches Museum Berlin, 1989-1999, Grundriss Untergeschoss

Das bewahrt die widersprüchliche Autonomie der alten wie des neuen Gebäudes auf der Oberfläche, während es beide in der Tiefe von Zeit und Raum zusammenbindet. Programmatisch gibt es drei unterirdische ‚Straßen‘, die drei verschiedene Geschichten haben (Abb. 2). Die erste und längste führt zur Haupttreppe, zur Fortdauer der Geschichte Berlins, zum Ausstellungsbereich des Jüdischen Museums. Die zweite geht nach draußen, zum E. T. A. Hoffmann-Garten; sie repräsentiert das Exil und die Emigration der Juden aus Deutschland. Die dritte Achse mündet in eine Sackgasse – in die Leere (Void) des Holocausts. Der Querschnitt durch das Jüdische Museum markiert eine Leere, eine gerade Linie, deren unbegehbare Formen den zentralen Focus bilden, um den herum die Ausstellungen eingerichtet sind. Um innerhalb des Museums zu den einzelnen Bereichen zu gelangen, muss der Besucher insgesamt sechzig Brücken überqueren, welche in leeren Raum münden, die Verkörperung von Abwesenheit (Abb. 3).

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Abb. 3: Daniel Libeskind, Jüdisches Museum Berlin, 1989-1999, Leere (© bitterbredt.de)

Das Museum ist gedacht für alle Berliner, für alle Bürger, nicht nur für die gegenwärtigen, sondern auch für die zukünftigen: Sie mögen ihr Erbe und ihre Hoffnung an diesem speziellen Ort finden. Mit der besonderen Betonung der jüdischen Dimension der Berliner Geschichte gibt das Gebäude einem gemeinsamen Schicksal Ausdruck, den Widersprüchen zwischen Ordnung und Unordnung, dem Erwählten und Verworfenen, der Stimme und der Stille. Ich glaube, dass dieses architektonische Projekt Fragen aufwirft, welche die ganze Menschheit angehen. Hierzu habe ich versucht, eine neue Architektur für eine Zeit zu schaffen, die das Verständnis von Geschichte reflektiert, ein neues Verständnis von Museum ermöglicht und das Verhältnis von Programm und architektonischem Raum auf neue Weise realisiert. Deshalb ist das Museum nicht allein eine Antwort auf ein besonderes Vorhaben, sondern vor allem ein Sinnbild der Hoffnung.

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Daniel Libeskind

Imperial War Museum of the North – Konflikte des 20. Jahrhunderts und die Zukunft Das Imperial War Museum of the North in Manchester (IWM-N, eröffnet 2002, Abb. 4), dessen Aufgabe es ist, sich mit den großen Konflikten zu beschäftigen, die das 20. Jahrhundert prägten und auch die Zukunft prägen werden, wird getragen von einer großen Vision. Das Gebäude hat Kultur und Erneuerung, Handwerk und Design in sich zu vereinen. Es hat die Aufgabe, der Öffentlichkeit ein eindringliches Sinnbild zu geben, welches gleichzeitig beides erleuchtet, die Tradition und die Innovation.

Abb. 4: Daniel Libeskind, Imperial War Museum North, Manchester, 1997-2002 (© bitterbredt.de)

Wie Paul Valéry betont, ist die Welt ständig bedroht von zwei Gefahren: von Ordnung und Unordnung. Mein Projekt entwickelt den Bereich dazwischen, das inter-est; das ist das Reich demokratischer Offenheit, Pluralität und Kompetenz. Indem es Kurs hält zwischen den Extremen von rigidem Totalitarismus auf der einen Seite und dem Chaos der Ereignisse auf der anderen, spiegelt das Gebäude eine sich entfaltende Identität, die einer profunden öffentlichen Anteilnahme zugänglich ist, Erfahrung und Bildung ermöglicht. Das Museum ist

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deshalb als ein Katalysator der gebündelten Energien von Unternehmensgeist und Spiritualität anzusehen, die es in einem einzigen schöpferischen Ausdrucksprozess verdichtet. Wenn Henry Adams heute noch einmal schriebe, würde er den antagonistischen Wirkkräften von jungfräulicher Madonna und Dynamo4 noch das Museum hinzufügen, weil es ein kultureller Dynamo ist, welcher die Energien der Vergangenheit in diejenigen des neuen Jahrtausends transformiert. Die Bedeutung dieser konstruktiven Qualität wird unterstrichen durch den produktiven Einfluss auf das gesamte Viertel von Trafford – seine urbane Erneuerung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Ankurbelung des Tourismus. Doch jenseits dieser Anforderungen an Qualität und Integrationskraft bietet das IWM-N die Substanz für die Imaginationskraft und den Wagemut für das Unerwartete. Das Museum gewährt neue Antworten für alle Programme, schafft neue Verbindungen zwischen dem Gebäude und seiner Umgebung und ist ein spontan wiederzuerkennender, erinnerungswürdiger Platz der Begegnung. Das IWM-N gründet sich auf diese Welt – die gegenwärtige Welt, fragmentiert und neu zusammengesetzt zu einem grundlegenden Sinnbild des Widerstreits. Eine völlig neue Landschaft bietet ein Klima, in welchem die teilnehmende Erfahrung des Besuchers schon lange vor dem Durchschreiten der eigentlichen Eingangstür beginnt. Das Gebäude hat seine Existenz vor dem Horizont der Imagination und ist sichtbar von allen strategischen Punkten der Stadt und ihrer Umgebung. Das Gebäude setzt sich aus drei ineinandergreifenden Hauptelementen, sog. Shards, zusammen. Das Erd-Shard formt die großzügige und flexible Museumssphäre (Abb. 5). Es bezeichnet die offene, irdische Zone von Widerstreit und Krieg. Das Luft-Shard mit seinen projizierten Bildern, seinem Observatorium und Lehrräumen, dient als dramatischer Eingang in das Museum. Das Wasser-Shard bildet die Plattform für den Ausblick auf den Kanal und ist bestückt mit einem Restaurant, einem Café und Aufführungsräumen. Alle drei Shards zusammen, Erde, Luft und Wasser, konkretisieren die Konflikte des 20. Jahrhunderts, die niemals nur auf einem abstrakten Stück Papier stattfanden, sondern die ausgefochten wurden auf dramatischem Terrain von der Infanterie, im Himmel von der Luftwaffe und zur See von der Marine. Diese Komposition und Konstellation der Formen, Funktionen und Beziehungen zentrieren und ergänzen das gesamte Areal, in welchem das Projekt angesiedelt ist – ein Projekt, welches ein Zentrum für die disparaten Plätze umher formt. Das Lowry Centre, die Manchester United Football Fields, der Manchester Ship Canal werden unter einer neuen

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Abb. 5: Daniel Libeskind, Imperial War Museum North, Manchester, 1997-2002, Große Ausstellungshalle (© bitterbredt.de)

Perspektive für die Fußgänger und sich nähernden Autofahrer zusammengebracht. Das IWM-N kann von verschiedenen Aussichtspunkten aus gesehen werden. Es bietet gleichzeitig immer neue Ansichten von sich selbst im umgebenden Panorama, einem Panorama, welches sowohl zum Ingrediens der Museumserfahrung als auch zum Bestandteil der hier erzählten Geschichte von der Bevölkerung dieser Region wird. Das Museum antwortet auf neue Ausstellungskonzepte, in dem es in fasslicher und sichtbarerer Form zeigt, wie die persönlichen Schicksale der Menschen hier eingebunden sind in das Gewebe der Konflikte des 20. Jahrhunderts. Was das IWM-N so einzigartig macht, ist die Integration von Architektur, Ausstellungsdesign und einer Vision von Geschichte und Zukunft. Das Gebäude ist von einfacher Konstruktion, geringen Unterhaltungskosten, effizientem Gebrauchswert, ökologischer Verantwortlichkeit und empfindlichen Sicherheitsvorkehrungen. Das Projekt verwirklicht eine Vision von einem Museum, dessen Qualitäten neues Leben und Potential in die aufstrebende Region bringen.

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Anmerkungen der Herausgeber 1. Arnold Schönberg, Moses und Aron, 1930–1950. Die szenische Uraufführung von Moses und Aron fand unter der Leitung von Hans Rosbaud im Stadttheater Zürich am 6. Juni 1957 statt. 2. Ebd., II. Akt, 5. Szene. 3. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt a. M. 1971, S. 83–148. 4. Anspielung Libeskinds auf Henry Adams, The Education of Henry Adams, Boston 1918, Chapter XXV, ‚The Dynamo and the Virgin (1900)‘, in dem der Autor auf seine sowohl naturwissenschaftliche als auch religiöse Prägung und Faszination zu sprechen kommt: „Between the dynamo in the gallery of machines and the engine-house outside, the break of continuity amounted to abysmal fracture for a historian’s objects. No more relation could he discover between the steam and the electric current than between the Cross and the cathedral“ (The Dynamo and the Virgin, 381).

Peter Eisenman

Notations of Affect. An Architecture of Memory Early in the 20th century the Austrian architect Adolf Loos said that architecture was about monuments and graves. What he meant was that the most symbolic act of architecture was to memorialize an individual life, whether it was as a stone marker, a cross, or a star. This marking of the passage of individual life was always considered a fundamental act of architecture. After the Holocaust and Hiroshima, when the individual could no longer be certain that individual life could be marked by a solitary sign, the idea of what memory and monument could mean changed. If the idea of the monument has to be rethought after the Holocaust and Auschwitz, Hiroshima and Nagasaki, then architecture must also rethink the question of representation and image, both of which raise issues of imagination and memory. Proust said that memory concerned not what was literally in the past but what we imagine the past to have been. He also wrote about the common misunderstanding of nostalgia and memory. For Proust, the early 20th-century steel and iron buildings of Paris were more potent memories of what France was and could be than the nostalgic evocation of pastiche town houses and other structures that were built in a 19th-century style. Memory is not nostalgia. Memory is also an attempt to bring the past into the present as if it were the future. The excesses of the Holocaust require architecture to rethink, as language must, its expressive capacities, and therefore how memory can be represented. Memory and imagination are not necessarily a form of modernist abstraction. Where abstraction no longer has the power to fire the imagination neither does a more explicit representation. Thus, the images of actual destruction are an active memory too potent to be represented in a culture of fragments. One of the most powerful ideas that Jacques Derrida discusses in Of Grammatology is the possibility of another form of memory, a

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memory that no longer deals with fragments or figuration or abstraction but with something he calls the “trace”. The trace is, in a simple sense, the presence of an absence, an index, as it were, of a presence no longer in its metaphysical fullness, and an absence no longer in dialectical opposition to presence, but rather something that exceeds the dialectic. It is more like what Maurice Blanchot would call a non-absent absence. But a memory trace in whatever form is not a new idea to architecture. One of the best examples of the memory trace exists in architecture in G. B. Piranesi’s didactic maps of the Campo Marzio, drawn in 1762 (Fig. 1). To understand the idea of trace, the Campo Marzio must be

Fig. 1: Giovanni Battista Piranesi, Rom, Campo Marzio (Det.), Engraving, 1762

compared to the Nolli plan of Rome. The Nolli plan, drawn in 1748, has today become the icon of an architectural fundamentalism called New Urbanism, which uses Nolli’s moment in the 18th century as a badge of authenticity, of original truth, to authorize their work in the present. The Nolli map was a literal projection of Rome as Nolli recorded it in the 18th century. On the other hand, the Campo Marzio has little to do with representing a literal place or an actual time. It is a fabric of traces, a weaving of fact and fiction.

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The traces of the Campo Marzio are a useful model for our project in Berlin because they have nothing to do with the literal representation of space and time as an aesthetic image; rather, the traces project time and space as an index. Piranesi uses the Rome that was extant in the 18th century as a starting point, but it possesses no original value; it is merely a being in the present. From this existential moment of being, he takes buildings that existed in the 1st and 2nd centuries, in Imperial Rome, and places them in the same framework of time and space as the 18th century. Next, Piranesi moves monuments of the 1st century from their actual location to other locations, as if these were their actual sites in the 18th century. Piranesi also proposes buildings that never existed. They seem at first glance to be memories of buildings that could have existed; they look like buildings until one examines them for their function. This idea of a building as a trace of function is similar to Piranesi’s project for the Collegio Romano. This project has a seemingly centralized plan, but when it is analyzed, it does not actually function; it only symbolizes its function. Equally, the Campo Marzio would not function as an urban entity. First, there are no streets as such; rather, the ground is filled with what can be called interstitial figures. In this fabric of fact and fiction, there are no clear figure/ground relationships, one of the underpinnings of the dialectics of contemporary architecture. There is no primacy given to the ground or to the figure. The result is not a figure/ground projection, as in the Nolli map, but what could be called a figure/figure urbanism. Such an urbanism does not give primacy to the ground as an original instance or datum. Rather, the ground becomes an interstitial trace between objects, traces that exist both in time and space. This presents a theoretical basis for urbanism as a tissue of memory rather than as a nostalgia for static icons. Such a condition is closer to what Charles Sanders Peirce calls an “index”. In this context, an index can be considered as a record of events; it is a notational matrix that undercuts all metaphysical ideas of truth and ideality. It is a multiple palimpsest, a series of overlays that mix fact with fiction. In one sense, the idea of the index as a notational matrix is the context for our Memorial to the Murdered Jews of Europe. As a present-day example, our Holocaust Memorial (Colour Plate IX) also works as an interstitial trace in time and space. It does not privilege a single ground but a series of superposed grounds, something between abstraction and figuration. The project attempts to deny hierarchy, center, edge, and figuration. It presents a field of stelae – markers of a text – as a series of layers.

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Fig. 2: Eisenman architects, Graphical Model of the Site for the Memorial to the Murdered Jews of Europe, seen from above

The site contains 2,700 concrete stelae that are 95 cm by 238 cm and vary in height from 1 to 5 meters. The stelae are spaced 95 cm apart (Fig. 2). Their dimensions are the result of a double trace (Fig. 3,4); a ground surface and

Fig. 3: Eisenman architects, Plan of Lower Topography, Memorial to the Murdered Jews of Europe

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Fig. 4: Eisenman architects, Plan of Upper Topography, Memorial to the Murdered Jews of Europe

a top surface that are two different traces of space and time. The result is not an extrusion from the ground, prioritizing the ground. Rather, the stelae connect points on the top surface with those on the bottom surface. The upper and lower topographies undulate in very different ways from each other. In connecting the points along these surfaces, the pillars themselves are rarely vertical (Fig. 5). From afar, the site appears to be a rippling field of wheat or corn or an undulating wave (Colour Plate X). The resultant field is neither an abstraction nor a reasoned grid of stones. Rather, the field suggests a warning that when reason is taken to extremes, to excess, as happened in the deportation of the Jews, it becomes problematic. Such a warning is another form of index, but now it is an index of a different sort, a vertical palimpsest. A palimpsest is a two-dimensional index. Our Holocaust Memorial operates in topological as opposed to Euclidean space and therefore in a

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Fig. 5: Eisenman architects, Site Section, Memorial to the Murdered Jews of Europe

third dimension of uncertain origin. In that there is no single ground plane as a datum reference, the pillars become a notational reference, a connection between the two surfaces. But there is also something more than notation, and that is the prima facie experience of walking in the space. The idea of notation is usually considered an architectural effect that reduces affect by providing clues that enable one to access meaning, orientation, and image. But what if notation were used to reduce intelligibility, orientation, and image? What if notation produced strangeness in the object and an experience of otherness in the subject? Our Holocaust Memorial is an attempt, through notation, to produce such affects. Freud said there is a difference between feeling and affect. Feeling is an initial unfiltered emotional response to an experience. Affect is different, in that there is a critical distance between the initial feeling and a second, perhaps more profound, affect. This can be seen in the difference between the experience of a former concentration camp as a memorial site and a memorial itself. The camp as a memorial contains symbols which are readily assimilated. They become known over time and as such become distanced from the present.

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A memorial for the Holocaust is not the same as an actual site. At Auschwitz, one can imagine the horror of what it was like to have been there. But one can also come away from it and psychologically integrate the experience into one’s psyche. Our Holocaust Memorial attempts to place the subject in a present-time experience that is psychologically problematic to be in. That is, walking alone among these pillars, it will be very difficult to assimilate the actual spatial experience into some kind of psychic understanding. The field becomes a space that is problematic to walk in; it has no center, no edge, no goal. It is just a field of 2,700 pillars. Memorials as such, and ours in particular, also contain a distance, but it is a critical distance. This is because there are no easily known symbols in our field of pillars. No one knows quite how to understand this field. Even when experiencing the field it is not readily assimilable. Thus there is both a location and a dislocation that dramatize both the moment of the present and the void in history that was the past. Our memorial is insistent on this in the present – on being without explicit meaning, on confronting the subject with a new experience, a physical place of no meaning; just an index, but a different type of index. It remains open without answers. People ask what this monument will mean fifty years from now since there are no representational icons. No one knows or can answer what any monument will be like in fifty years. Rather, it is a question of how the German people continue to be engaged with this aporia in their history and how they are able to assimilate in time such a cut in the fabric of their history. Traditional monuments like the Brandenburg Gate and the Arc de Triomphe tend to shed their memories and their authors, and instead become icons of their particular location in space. What can be known is that this nonrepresentational field – a cut in the fabric of a city full of representational building icons – will remain like the unrepresentable cut in history that was the Holocaust. I want to close with a final note. The New York Times Book Review recently published a review of Freud’s study of World War I – German soldiers who were traumatized from having witnessed the destruction and erosion of human life that occurred on the front lines in 1918. Freud concluded that it was very difficult for the soldiers who had witnessed such horrors prima facie to dream of anything but this traumatic experience. For me, the Holocaust Memorial symbolizes the fact that we must continue to allow for all of us to dream and to imagine. I believe that is

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what architecture has always done, for dreaming is part of what architecture is about; it allows us to imagine the world again. But today, after the excesses that were the Holocaust, it is necessary to dream in other languages, or perhaps the languages of the other. Perhaps these are the notations of affect.

Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus

Lars Spuybroeks architektonische Installationen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl Die Architektur kann heute zu den führenden Kunstgattungen gezählt werden. Das liegt vor allem daran, dass sie als Auftragskunst im Schnittpunkt gesellschaftlicher Veränderungen steht. Zum einen bestimmen Rationalität, Funktionalität und Effizienz das Bauen. Hier ist Architektur als eine Dienstleistung wesentlich geprägt von Normen. Die Vorgaben der Bauherrn und der jeweiligen Stadt, die zu berücksichtigenden Industriestandards, der Kosten- und Termindruck der am Bau Beteiligten schlagen sich in Bautechnik und Material nieder und objektivieren sich in der fertigen Gestalt. Die Innenräume und ihre funktionalen Zuordnungen sind nach standardisierten Nutzungsparametern ausgerichtet. Das bestimmt nicht nur die Arbeitsabläufe, sondern auch die Bewegungen und damit den Habitus der Menschen in ihnen. Der amerikanische Architekt Ieoh Ming Pei fasst diese Prägung ironisch: „In einem MiesBau muss man einen Smoking tragen, bei Gropius einen Schlips“.1 Zum anderen besteht jedoch gleichzeitig der Wunsch nach Veränderung und Flexibilität im Bauwesen. Er wird nicht nur geweckt durch die Erfindung neuer, leistungsfähiger Baumaterialien und die umwälzende Revolution des architektonischen Planens durch den Computer. Auch die Vorstellungen von Funktionalität und Effizienz der Auftraggeber selbst haben sich gewandelt. Soziale und städtebauliche Überlegungen, ökologische Verträglichkeiten, vor allem aber der Wunsch nach Leistungssteigerung am Arbeitsplatz durch ergonomische und motivationsfördernde Gestaltungen, sind dabei, das Bauen zu verändern. Nicht abzusehen ist gegenwärtig, ob nicht auch die weltweite Umstrukturierung der Firmenverwaltungen zu sog. flachen Hierarchien mit kurzen Wegen und die einhergehenden Veränderung des Mittelstandes tief greifender die urbanen Strukturen, etwa die Hochhäuser, verwandeln werden, als der Schock nach dem Anschlag auf das World Trade Center.

Lars Spuybroeks architektonische Installationen

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Das Spannungsfeld von rationalisiertem, hierarchischem Bauen einerseits und flexiblem, dezentralem Bauen andererseits bezeichnet nicht nur die Veränderungen in der Architektur selbst. Vielmehr ist es Ausdruck emotionaler Wandlungen im Rahmen der Globalisierung und Umwälzungen der Arbeitsmärkte weltweit. Diesen Bewegungen zahlen die Gebäude und architektonischen Installationen Lars Spuybroeks Tribut. In vielschichtiger Weise berücksichtigen und negieren die biomorphen Strukturen des Rotterdamers Architekten das emotionale Eingebundensein des Menschen in seine bauliche Umgebung. Zunächst negiert er sie, indem er die Konzeption der architektonischen Formen anonymisiert. Der Architekt folgt sich selbst organisierenden Strukturen, wie etwa Vögel- oder Fischschwärmen, die er in Computerprogramme übersetzt (Abb. 1), oder aber stellt fließende

Abb. 1: Lars Spuybroek, PC Animation zum Entwurf des D-Tower in Doentichem, 1996-2000

Formen in Anlehnung an die Bindfadenmodelle Antonio Gaudis oder Frei Ottos experimentell her. Persönliche Skizze und Entscheidung für oder gegen überlieferte architektonische Ausdrucksformen entfallen. Die emotionale Beteiligung des Architekten wird damit auf ein Minimum reduziert. Andererseits lässt Spuybroek die Emotionen der Menschen, die in den Gebäuden leben, in besonderer Weise zu Wort kommen, da er sie an der permanent sich wandelnden Gestaltungen seiner Architekturen und Installationen teilhaben lässt. Sie können als Ausdrucksträger der Benutzer gelten oder als Anzeiger psychogeografischer Qualitäten der Umgebung. Dieses Mitgestalten der Benutzer und Passanten ist gemäß Spuybroek auch als politische Aussage zu werten, insofern ein Denken von oben nach unten, vom Planer zum Nutzer, entfällt.

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Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus

Im Projekt D-Tower wird besonders deutlich, wie Spuybroek die Gefühlslagen der Menschen an der Gestaltung teilhaben lässt. Hier begegnen wir einem, einer Meduse ähnlichen, biomorphen Gebilde, das auf dünnen Beinchen permanent sein farbliches Aussehen ändert. Seine formale Gestaltung verdankt es den Experimenten des Künstlers mit feuchten Wollfäden und verklebten Luftballons (Abb. 2).

Abb. 2: Lars Spuybroek, Ballonmodell zum D-Tower in Doentichem, 1996-2000

Die farbliche Varianz des Baus wird verursacht durch Eingaben von Bewohnern und Passanten, die anhand von elektronischen Fragebögen ihre jeweilige Gefühlslage mitteilen. Ein Computer wertet sie statistisch aus und setzt sie in Farbe um. Dazu kommt, dass die EmotionsStatistiken in Grafiken dargestellt werden (Abb. 3), die dem Aussehen des architektonischen D-Towers sehr ähnlich sind und zumindest optisch eine Verknüpfung herstellen zwischen den Emotionen der Passanten und der Medusenform des Gebäudes. Es werden in diesem System vier jeweils antagonistische Emotionen, Liebe und Hass, Glück und Furcht den vier ebenfalls opponent geordneten Grundfarben des menschlichen Sehens: Grün/Rot, Blau/Gelb zugewiesen. Man muss insofern von einer Zuweisung sprechen, als Farbe und Emotion nur bedingt korrelieren. Zwar ist Rot klassischer Weise der Liebe zuzuordnen. Doch die Korrelation von Grün zu Hass kann weder in magischen Traditionen, noch in kulturellen und wissenschatlichen Bereichen nachgewiesen werden. Die Befindlichkeit der Menschen wird über einen baumartig sich verästelnden Fragebogen ermittelt. Der Stamm bildet die jeweilige Emotion, der sich in drei Bereiche verzweigt, die dann in jedem Schritt um drei weitere sich wiederum auffächernde Antworten spezifiziert werden. Jede dieser Unterabteilun-

Lars Spuybroeks architektonische Installationen

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Abb. 3: Lars Spuybroek, Entwurf der Website zum D-Tower in Doentichem, Emotionsgrafik mit eingeblendetem Turm, 1996-2000

gen stellt die Begründung der übergeordneten dar. Der Baum ist jedoch beidseitig zu lesen: Man kann mit der äußersten Spezifikation anfangen, um später bei der Feststellung der zugeordneten Emotion zu enden und umgekehrt. Bemerkenswert ist, dass der Eingebende nur aus einer begrenzten Anzahl Möglichkeiten auswählen kann, die zudem bestimmten Klischees entsprechen, die im Falle des Hasses auf Untugenden wie Ausländerhass, Neid, Ehrsucht, Geiz oder körperliche Gebrechen, aber auch auf Religiosität oder politische Haltungen anspielen. Zwar erscheint das Ganze bürokratisch verordnet, da der Einzelne an bestimmte Vorgaben gebunden ist. Doch sind die Zusammensetzungen der Spezifizierungen wenig kohärent, sondern muten eher willkürlich, ja sogar komisch an. Offensichtlich hat der Künstler weniger das Ziel aufzuwühlen, zu bewegen, als vielmehr Emotionen, negative wie positive, spielerisch aufzulösen. Spuybroek verweigert auf diese Weise jegliche Art von systematischer Fixierung. So, wie er klassische Vorstellungen der Architektur in Bezug auf Festigkeit und Dauer durch die Orientierung an wandelbaren und flüssigen Medien unterläuft, so enthält er sich in Hinsicht auf Emotionsanalyse und Zuordnung von Emotionen, Farben und Formen jeglicher definitorischen Bestimmtheit. Er spielt mit den Emotionen und ihren Vernetzungen und verballhornt klassische Systemvorstellungen. Statt Emotionen und Gefühle zu motivieren, setzt Spuy-

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broek auf Diversifikation und Entspannung durch das Spiel, durch Dekonstruktion. Für die Zukunft wäre zu fragen, wie lange dies Spiel attraktiv bleibt und was danach an seine Stelle tritt.

Anmerkung 1. „Ich lebe meine Formen“. Der amerikanische Architekt Ieoh Ming Pei über seinen Neubau für Berlin, die Liebe zum deutschen Barock und den Wunsch, für die Ewigkeit zu bauen, Interview mit Hanno Rauterberg, in: DIE ZEIT, 15.05.2003, Nr. 21, S. 44.

Lars Spuybroek

Mit Emotionen spielen. Architektonische Entwürfe und Installationen D-Tower1 D-Tower (Farbtafel XI) ist ein Hybrid verschiedener Medien und Substanzen, in welchem die Architektur nur einen Teil innerhalb eines umfassenden, interaktiven Beziehungsgeflechts ist. Es ist ein Unternehmen, in welchem das ‚Intensive‘ (Gefühle, Qualitäten) mit dem ‚Extensiven‘ (Räumlichkeiten, Quantitäten) die Rollen zu tauschen beginnt, ein Projekt in welchem menschliche Handlung, Farbe, Geld, Wertigkeiten und Gefühle zu vernetzten Einheiten mutieren. Das Vorhaben – für die Stadt Doetinchem in Planung – besteht aus einem realen Gebäude (dem Turm), einem Fragenkatalog und einer Webseite. Alle drei Teile interagieren miteinander. Die Oberfläche des 12 Meter hohen Gebäudes ist durch standardisierte und nicht standardisierte Geometrien geprägt. Sie besteht aus Polyester, dessen computergenerierter Aufbau durch eine formgebende Technik (Computer numerical control, sog. CNC milled styrofoam) hergestellt wurde. Dieses Äußere gleicht einem gotischen Kreuzgewölbe, in welchem Pfeiler und Oberfläche einem Kontinuum angehören. Dieses Gebäude ist auf zweierlei Art direkt mit der Webseite verbunden (Abb. 1). Zum einen präsentiert die Webseite eine Visualisierung der Antworten der Turmbewohner auf den Fragenkatalog. Dieser, entwickelt von dem in Rotterdam ansässigen Künstler QS Serafijn, handelt von den alltäglichen Emotionen Hass, Liebe, Glück und Furcht. Von Monat zu Monat werden die Fragen präziser und alle Antworten werden in ‚Landschaften‘ grafisch umgesetzt, die auf der Webseite erscheinen. Den vier Leidenschaften sind die Farben Grün, Rot, Blau und Gelb zugeordnet, die auch die Beleuchtung des Gebäudes bestimmen. Wenn man durch Doetinchem fährt, kann man also sehen, welche

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Lars Spuybroek

Abb. 1: Lars Spuybroek, Webseite zu D-Tower in Doentichem, gegliedert in die vier Affekte, 1996-2000

Emotion im Turm gerade die vorherrschende ist. In einer Kapsel zu Füßen des Gebäudes können dann auch die Einwohner der Stadt ihre eigenen Nachrichten in die ‚Landschaftsbilder’ einfügen. Um all das besser miteinander zu verknüpfen, versendet der Turm bereits geschriebene Liebesbriefe und Blumen von sog. Liebes- zu Hassadressen. Am Ende eines jeden Jahres überreicht der Turm einen mit 10.000 Euro dotierten Preis an die Adresse mit den intensivsten Emotionen.

obliqueWTC2 (Farbtafel XII)

Wir sollten neue urbane Strategien entwickeln, die mit dem Überdimensionalen rechnen, mit globalen Kräften, die regional wirken. Wir sollten Möglichkeiten erkunden, gegen das Homogene anzugehen und das Leben gegen Wechsel und Unberrechenbarkeiten hin zu öffnen. Zweifellos ist der Wolkenkratzer der erfolgreichste Gebäudetyp des 20. Jh. s. Dennoch empfinden wir den ihm eigenen Reduktionismus, seinen passivierenden, zusammenpressenden Einfluss auf das menschliche Verhalten, seinen monoprogrammatischen Willen zur manischen Wiederholung des Immergleichen als erdrückend. Dieser Gebäudetypus sollte überflüssig und neu bedacht werden, um einen weiteren Schritt in der Evolution der Megaarchitektur möglich zu machen.

Mit Emotionen spielen

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In der Revision des Mega, des Überdimensionalen, ist eher seine Struktur zu berücksichtigen als die Größe selbst. Dafür sollten wir uns von top-down Techniken abkehren zugunsten von bottom-up Verfahren.3 In diesem Sinne wird bei obliqueWTC die von Wollfäden ausgehende Technik angewandt, die der Architekt Frei Otto mit seinem Institut für Leichte Flächentragwerke in den 1970er Jahren entwickelt hat. In unserem Fall benutzten wir einen Wollstrang für jeden Teil der zerstörten oder beschädigten Gebäude des ehemaligen WTC-Geländes.

Abb. 2: Lars Spuybroek, Entwurfsstadium obwtc, hängende Wollfäden, 2002

Umgekehrt wie bei Frei Otto hängen die Einzelfäden jedoch allein infolge der Schwerkraft herunter (Abb. 2). Nachdem die Fäden ins Wasser getaucht und dann wieder herausgezogen worden sind, reorganisieren sie sich in einem komplexen, knöchernen Strukturen ähnlichen Netzwerk – die seitlich wirkenden Kohäsionskräfte des Wassers ergänzen die Schwerkraft. Die Struktur wird nicht mehr geformt durch die Gradlinigkeit eines Plans, sondern organisiert sich selbst in einer vernetzten Megastruktur, in der das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Wir verdicken jeden Wollfaden zu einem geneigten Turm, der sich nach oben hin aufteilt. Diese Struktur deckt sich mit den Hochbaugesetzen der Stadt New York, die einem hohen Gebäude verbieten, mehr als 25% der Oberfläche des gesamten Areals zu nutzen. Da sich in unserem Fall jedoch die 25% immer woanders befinden, verwirklichen wir einerseits eine Megaarchitektur, durchbrochen von vielen (baube-

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Lars Spuybroek

dingten) Höhlungen, andererseits viele schmale Türme, die zu einer umfassenden Struktur zusammenwirken. Manchmal bilden die Türme Brücken, manchmal gegenläufige Strukturen, manchmal befreien sie sich zu kleinen Nebentürmen. Die meisten Lasten werden durch eine bienenwabenförmige Stahlstruktur an der Oberfläche geleitet, die durch ein inneres Säulennetz unterstützt wird, das den Diagonalen der Türme folgt (Abb. 3). Ebenso bilden die Aufzüge ein hochkomplexes Gewebe von Diagonalen, die an einigen Plattformen mehr als fünf oder sechs verschiedene Gebäudeteile zu einem öffentlichen Bereich vereinen.

Abb. 3: Lars Spuybroek, Röhrensystem des obwtc, Computergrafik. Fahrstuhlsystem des obwtc, Computergrafik, 2002

Dieses Netzwerk von Aufzügen macht das Gebäude nicht nur zu einer neuen Art von Turm, sondern bedeutet auch eine neue Art der Stadtgestaltung. Die Aufzüge können aufgefasst werden als eine städtische Erweiterung des U-Bahnsystems – eine Durchdringung der Straße mit Hilfe eines technischen Systems, das deren öffentlichen Nutzen verstärkt. Normalerweise ereignen sich alle sozialen Kontakte innerhalb eines Häuserblocks in Manhattan auf Straßenniveau, während sich alle Gebäude blindlings von der Straße weg auftürmen, um in ein bloßes, unkommunikatives Nebeneinander zu münden. Wir dagegen vernetzen die Straße wieder mit den Hochhäusern. Wir verstehen das Wollfaden-Diagramm sowohl strukturell als auch programmatisch, wobei die ‚Diagonalen’ zu begreifen sind als eine Wiederkehr von Paul Virilios

Mit Emotionen spielen

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Konzept der Schräge4 (l’oblique): Die seitlichen und horizontalen Kräfte der Straße, multipliziert mit dem vertikalen Stapelmodell Wolkenkratzer, ergeben einen Turm der Schräge, oblique tower. Unserer Modell umfasst auch eine Gedächtnishalle im Inneren. Ganz oben im Gebäude sind einige Etagen ausgespart, so dass eine Plattform entsteht, die dem Betrachter den Blick über die Stadt eröffnet; umgekehrt wird diese Plattform auch von vielen Punkten rund um New York zu sehen sein. Die Halle sollte keine monumentale Versteinerung der Trauer darstellen, sondern einen Projektionsraum, in welchem die Besucher durch interaktive Nachfrage Heimvideos, Fotografien und Webseiten aller Opfer bestellen können, um ihnen zu begegnen.

Anmerkungen 1. Ein interaktiver Turm, ein Fragebogen und eine Webseite für die Stadt Doetinchem; NOX in Zusammenarbeit mit Pitupong Chaowakul, Chris Seung-woo Yoo und Norbert Palz, sowie dem Künstler QS Serafijn, und dem V2_Lab, Simon de Bakker, Artem Baguinski, 1998–2003. Im Web nachzusehen unter: http://lab.v2.nl/projects/ dtower.html. 2. NOX/Lars Spuybroek, zusammen mit Chris Seung-woo Yoo und Kris Mun für die Max Protetch Gallery; engl. Erstfassung erschienen in: Max Protetch, A New World Trade Centre. Design Proposals from leading Architects worldwide, New York 2002. Die ursprünglich englische Version wurde ins Deutsche übertragen von den Herausgebern. 3. Anmerkung der Herausgeber: Wir lassen diese beiden Ausdrücke im Englischen, da sie mehrfach terminiert sind: zum einen ideologisch: Basisdemokratie statt Hierarchie; zum anderen systemologisch: Induktion (von der Beobachtung der Realität her generalisierend) statt Deduktion (von Prämissen auf Wirklichkeit schließend), endlich philosophisch: Epigenesis statt Präformation (wie Spuybroek sagt). 4. The Function of the Oblique. The Architecture of Claude Parent and Paul Virilio, 1963–1969, ed. by Pamela Johnston, London 1996.

Hinweis der Herausgeber: Den nachfolgenden Textteil haben wir deshalb nicht übersetzt, weil er theoretische Übertragungen enthält, die in der englischen Originalfassung sehr viel klarer zum Ausdruck kommen als im Deutschen.

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Lars Spuybroek

The Structure of Vagueness1 Around the beginning of the 1990s, Frei Otto and his team at the Institute for Lightweight Structures studied what they called “optimized path systems”. Previously, analogously to the chain modeling technique Gaudí used for the Sagrada Familia, they had experimented with material systems for calculating form. Each of these material machines was devised so that, through numerous interactions among its elements over a given time span, the machine restructures, or as Frei Otto says, “finds (a) form.” Most of them consist of materials that can process forces by transformation. Since they are “agents”, it is essential that they have a certain flexibility, a certain amount of freedom to act. It is also essential, however, that this freedom is limited to a degree set by the structure of the machine itself. Sand, balloons, paper, soap film (including the famous minimal surfaces for the Munich Olympic Stadium), soap bubbles, glue, varnish, and the ones I will be referring to here: the wool-thread machines. This last technique was used to calculate the shape of city patterns, of cancellous bone structure but also of branching column systems. These are all similar vectorized systems that economize on the number of paths, meaning they share a geometry of sharing and splitting, of merging and bifurcating. For our purposes, we shall take a closer look at the wool-water technique, which follows a three-step procedure: Map all the targets of the

Fig. 1: Frei Otto, Optimized path system, stage 1, before dipping in water

The Structure of Vagueness

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system (in this case, houses) on a board. For the sake of simplicity these are arranged here in the shape of a circle, which could be on a supporting surface, or on an open ring. Connect each point (or house) to every other using a wool thread (Fig. 1). This indicates a basic connectivity of the system: each house is connected to other houses by roads. This system consists only of crossings; it is a typical surface model, a wire frame of lines that neatly make up a surface.

Fig. 2: Frei Otto, Optimized path system, stage 1 [8%] slack

Give each of the wool threads an overlength of 8% (Fig. 2). This is needed since we are always forced to take detours in cities, and since there are hardly any roads that lead straight to a single house, much less roads that connect one house specifically to another house. Of course, this amount of detouring need not be averaged down to a single 8% for the whole. It can be differentiated all through the system. Dip the whole system in water, shake it carefully and take it out again (Fig. 3). The wet threads will have a tendency to stick together, and as threads start to merge they lose this capacity at other positions, since merging means elimination of available overlength. All overlength is processed out of the system by a surplus of stickiness. Since the paths are coming from all directions, the mergings also come from all direc-

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Lars Spuybroek

Fig. 3: Frei Otto, Optimized path system, stage 1, after dipping in water

tions, which results in a system organized by gaps, by rounded holes, surrounded by thick mergings of threads, sometimes more than eight, and smaller fields of crossings. While we could call the first step of the system a surface, a system where all directions are equally present, the final stage of the model is much more complex, because it consists of patches of crossings (two dimensions: many directions), mergings (one dimension: single directions) and holes (zero dimension: no directions). The end result is not weak, but rigid and completely tight (when attached on an open ring it comes out of the water horizontally!), which means that it is a strategy of flexible, individually weak elements cooperating to form stronger collective configurations. What emerges is a complex or soft rigidity, which is very different from the top-down, simple and frozen rigidity of the first stage. So we should resist the idea that the first stage is a rigid order and the end result is just a romantic labyrinth or park. Actually the order of the end result is as rigid as the first stage of the grid, but much more intelligent because it optimizes between individual necessities and collective economy. Yet it is not an easily readable and clear form of order, but a vague order; it is hardly possible to distinguish between surface areas that function as linearities and lines that cooperate as surfaces. Everything between the dimensions is materialized. And though the dimensions are clearly singularities arranging the system (the mergings into thick lines

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are like the ridges of dunes, which orient the sand surface to the wind forces), it is continuity that makes the order emerge. But though the order is vague, it should nonetheless be considered very precise, because nothing is left out. There is no randomness; there is only variation. The truly amazing feature of this system is that it is in fact structured by holes; the nesting of holes is the driving force behind its formation, while architects are always trained to think that holes are, in the end, subtracted from a system. This machine does not operate on subtraction or addition, but on multiplication, in the classic sense of early systems theory, which says a whole is always larger than the sum of its parts. The first stage (when all points on the periphery are connected with each other) is basically drawn, contrary to the end stage, which is processed by a machine, calculated. A drawing is always created in the visual field, while the machine follows a partly blind and informational logic where the image is the end product of the process. And though this technique should be considered as a combination or hybrid of the top-down and the bottom-up, the drawn and the generated, the intelligence of it lies in the fact that nothing is “translated”; the drawn is not “translated” into the real. Actually it is the materialization of the ink as wool beforehand that makes it work. The organizational and informational stage is material, not immaterial, as is so often put forth. It is the material potential, the material intelligence, which sets the machine in motion; it is the stickiness, the hairiness, and the curvability which inform the result. It is impossible to do this in ink. It is an intensive technique within an extensive system, and though the quantities (surface area, number of houses, etc.) are given beforehand, often as the result of analysis, the quality emerges through the interaction and multiplication of different parameters. Generally, the intensive is a deformational property (like heating), but here it also becomes a transformational property (like cooking): the threads restructure and reorganize to “find form”. The degrees of freedom of deformation, which are more like extensive movements within an internal structure, become intensive, qualitative changes of “that” structure.

Wet Grid versus Dry Grid The dry grid is a system that separates movement from structure; the structure is of a solid, while the movement is of a liquid. The wet grid, Frei Otto’s grid, is one in which movement is structurally absorbed by

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the system; it is a combination of intensive and extensive movement, of flexibility and motion. The organisation is wet, while the structure is dry. It implies that extensive, Cartesian, bodily locomotion is only possible when it is intensive first, both in the body and in the system. There is a direct relationship between the system of motion and the internal mapping of movements in the body. In the dry grid the body is acting as in an archive, it is constantly picking movements of the shelf, every act is a reenaction – the body itself is a dry grid. The wet grid views the body as a complex landscape of tendencies and chreodes that form grooves (lines) in less defined areas that are surfaces. The dry grid is not very different in its ambitions than, say, the box or the hall in architecture: finding a structure, a tectonics that can absorb life, chance and change, while the structure itself must last and persist over time, to span the unforeseen with the foreseeable. The strategy of the grid and the box have always been to average out all possible events, to be general enough for anything. Our whole question here becomes a study of the relationship between flexibility and movement. In opposition to the cubist position, which states that movement is a deconstruction of form, we state here that nothing is as constructivist, as structuralist, as movement. But then movement must be viewed as information, as pure difference which can be absorbed by a system, which subsequently must be a (analogue) computing system. In architecture, flexibility has always been associated with a variable usage of space, a multifunctionality that has resulted in an averaging of program and an equalization, even neutralization, of space. A general openness, however, always has the effect of generalizing events and being unproductive, because this type of space is not engaged in the events themselves. General openness is only suitable when all desired events are fully programmed in advance, by strictly organized bodies, as in the case of a convention center or a barracks. It is flexible, of course; it is open, yes; but it is totally passive. It does not engage itself in how events and situations emerge; it is indifferent to that, so to speak. It states that life is made up of decisions that have already been taken, of acts that are repetitions of previous acts, in which intentions are completely transparent. Now, a lot of what we do is planned, and a lot of what we intend is transparent; we script and schedule ourselves; but to engage in the unforeseen does not mean these are just accidents happening to our agendas. The brilliance of the Frei Otto model is that the flexibility is taken literally and materially, that real movement of water becomes abstract

Wet Grid versus Dry Grid

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movement of structure, which means a coherent language of “bending”, “splitting”, “curving”, “nesting”, “aligning”, “merging” and the like. The straight line going from A to B is charged by a whole field of other influences and directions, from C or F or K; the line is taken up in a field of potentials which make it an intensive line, which is simply a curve. A curve is an intelligent, better-informed straight line. A curve is a straight line with more openness, on which one can partly return to one’s footsteps, change one’s mind, where one can hesitate or forget. It is not labyrinthine, causing you to lose your way completely; no, it complicates your path, makes it multiple and negotiable. A curve is a complicated straight line. It negotiates difference; it is differential precisely through connecting, through continuity. The dry grid is always segmented and Euclidean, while the wet grid is always a network, topological and curved. The problem is not so much “to open up space to more possibilities”, but the concept of the possible itself. An event is only ever categorized as possible afterwards. The possible as a category lacks any internal structure that can relate the variations; it does not produce variation by itself – it is without potential. The old choice was between determined functionalism and undetermined multifunctionalism. Between the filled-in grid and the not-fully-filled-in grid. But potential is something else: “Potential means indeterminate yet capable of determination… The vague always tends to become determinate, simply because its vagueness does not determine it to be vague … It is not determinately nothing” (C. S. Peirce). Vagueness comes before the situation; neutrality comes afterward. If it comes before, it will neutralize the forces making up the situation. We must replace the passive flexibility of neutrality with an active flexibility of vagueness. In opposition to neutrality, vagueness works with a differentiated field of vectors, of tendencies, that both allow for clearly defined goals and habits for as yet undetermined actions. It allows for both formal and informal conduct. But it also relates them. It is a structural Situationism. It allows for dérives and détournements as structural properties: the transparent intentionality of planning and habit is charged by the sideways steps of opaque intentionality. It does not mean the unforeseen is now successfully planned and reckoned with: it is precisely unplanned, but the structuring of the foreseen is now such that it can produce the unforeseen and the new. Why? Because the structure engages itself in the ways decisions are made, it is sensitive and intensive, a vague and obscure continuum between clear and distinct pre-set habits. In a sense the wet grid of Frei Otto is still a dry grid (of course, because that was the ini-

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tial form of the machine before it was dipped in water) – it still gives alternative choices for anyone on any path; you can still turn, but in the dry grid that turn, that détournement, is a corner, segmented, while in the wet grid it is a curve, continuous. Flexibility is a charged and directed openness, and to be able to switch between transparent and opaque (in time) we need to materialize their in-between in space, clearly opposing Mies’ empty openness and replacing it with solid vagueness.

ParisBRAIN For the 2001 exhibition “Expériences d’urbanisme: Visions des PaysBas” at the Institut Néerlandais in Paris, we set up an installation that used intensive techniques in an experimental way.2 The exhibition included works like Constant’s New Babylon, Aldo van Eyck’s Orphanage, Piet Blom’s Kasbah, Theo van Doesburg’s Aubette and OMA/Rem Koolhaas’ Yokohama project. We intentionally investigated these historical options and their relation to both early Situationism and contemporary experience design in the project ParisBRAIN (Fig. 4).

Fig. 4: NOX/Lars Spuybroek, Computer Animation: ParisBRAIN, 2001

Situationisms

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Situationisms For the project we considered the relationship between action painting and psychogeographical mapping as efforts to find intensive techniques of design – or of existence, for that matter. What directly connects the two is that they are tracing methods. Movements leave traces, though the gestural move of a situationist’s “step out of the system,” creating “moving accidents,” is somewhat different in nature from Pollock’s gestural dripping technique. Comparing action painting first with the woolthread technique, one could say Pollock uses loose ends, a line with potentially “infinite” overlength, though it is not likely to curl up completely and disappear into a point. Pollock’s curvy thread (in which liquid water and black wool are combined into black wet paint, dripped from a certain height) has many structural properties, and in studying his works it becomes clear that the movement of the body around a canvas lying on the floor, in combination with the movement of the arm, elbow and shoulder – and again in combination with the tiniest movement, splashing the paint onto the canvas, creating a tiny intensive curvature around the imaginary larger curve of the arm-arabesque – make up the structure of the work. Movement is contained in movement; the curves that are splashed are contained in the curves that are twisted, which are again contained in the nested, the repeated, the entangled, the meshed, etc. – they are woven together into a larger scale by smaller-scale rhythms of variation. Pollock was making traces into a system of paths, while Debord was trying to get off the path and create a trace. It is quite clear that there can only be a successful relationship between tracing and pathing when the surfacing tendency of paths teaming up is in open connection to the line-forming act of the trace. Moment and memory. Moment-line and memory-sheet. Lines meshing into sheets, sheets folding into lines. For both Pollock and Debord the idea of landscape is crucial. We should not forget that Pollock’s canvas starts out as a surface, not an empty sheet on which the traces would just be traces of moments, unable to mesh with others. The pure open horizontalism of the canvas-landscape is a material property, as is the quality of the paint. And for Debord’s city of Paris: if it were considered as the impenetrable solid-void model of building blocks and traffic, it would be impossible to create new traces. The Paris landscape is a mental sheet, a psychogeography (could a term be clearer?) which turns all walls into potentially porous structures. This vagueness, this interdimensionality of line and surface, is essential for creating an intensive continuum of movement.

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In our operation, we again used Frei Otto’s technique, but in a slightly different manner than that described above. Speakscape. Instead of making a horizontal wool-thread model with an open ring, we chose here to let the moving and merging lines interact with a smooth supporting surface, a sheet of transparent Perspex. The shape of the surface greatly influences the merging and bifurcating tendencies of the wool threads. We vertically deformed the shape of the surface into a landscape that would influence how fast the water ran off as the system was taken out of the tank after dipping. Its geography was a mapping of collective movements of the people in the area west of La Défense in Paris. To get that information we conducted numerous interviews in Nanterre about people’s language and movements. We categorized people according to their “speak” – language, dialect, accent, jargon or the like – bankers’ language, Arab language, skaters’ language, girls’ language, rap language, shopping language, etc. This resulted in a system of vectors structured between Nanterre University, La Défense, the Park and the center of Paris. Entangled space (mega-architecture). We placed a set of parallel wool threads in the direction of the Grand Axe and attached them at the two sides of the Perspex with an overlength of 12%. The intent was to create a big shopping and experience center of airport proportions in the middle of a historic city. The five-by-two-kilometer area would connect to the La Défense area on the east side, and to several highways and a bridge on the west side. We shook the system under water and took it out slowly. Whenever we found merging groups among the wool threads, we tied them up with loose ends of decreasing length. We did this in four steps, organizing the structure mainly through entanglements, spatial knots inserted to structure the “dérivian” experience of strolling and shopping. All threads coming out of this operation were materialized as tubular buildings, like a completely curved Heathrow, shops leading not to airplanes but to other shops, and more shops, an arabesque of multiply interlacing brands. The spatialization of brands: complicating their segmentation with structured, threaded, blurring effects of continuity is a necessary step in the atmospherization of space. Dotted space (micro-urbanism). The system of tubular commercial buildings connected to global money flows would have an enormous effect on local land prices. The area between this shopping structure and the edge of surrounding nineteenth-century Paris, we decided, should be a conglomerate of tax-free zones, where local initiatives

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could develop freely, a terrain vague that would not be filled up immediately by buildings, but by an urbanism that would develop over a certain time span. It follows the idea of the sheet quite directly, because it starts out as an open landscape, to be saturated by economic pressures and desires. To structure this occupational strategy into something more like growth, one needs certain connective or even genetic algorithms. In our case, we chose for minor rules to guide the growth: every building would be round (because of an all-around orientation) and accompanied by an extension of the sewage, electricity, communication and road network, with each of these connections splitting off from previous branches according to certain angles.

Notes 1. Thanks to Brian Massumi for discussing vagueness, C. S. Pierce and constructivism. Thanks to Brett Steele for his concepts of brandspace and nano-urbanism. 2. ParisBRAIN, 2001, NOX/Lars Spuybroek with Kris Mun, Florent Rougemont, Chris Seung-woo Yoo and Ludovica Tramontin. The installation was presented as a video projected from the ceiling down onto a white canvas suspended horizontally above the floor. The video showed the complete step-wise procedure of interviews, mapping, dipping machine, toward design. The video installation should not, however, be viewed as a presentation of a project, but more as a breeding experiment between existing concepts and techniques.

Rudolf Herz

Die Widersprüche liegen auf dem Tisch. Ein Entwurf zum Holocaust-Mahnmal Im Folgenden werde ich mich zum Entwurf eines utopischen Holocaust-Denkmals äußern, den ich 1997 zusammen mit Reinhard Matz entwickelt habe.1 Bei diesem Thema geht es durchaus um Gefühle. Vielleicht berührt das Sujet ‚Denkmal‘, indem es kollektive Gefühlsregungen, nationale Gefühle hervortreibt, ja sogar deutsches Nationalgefühl und dessen Folgeerscheinungen tangiert, die gewaltigsten und gewalttätigsten Gefühle überhaupt. Wir reichten in der zweiten Runde des Berliner Wettbewerbs den Vorschlag Überschrieben. Mahnmal für die ermordeten Juden Europas ein – bestehend aus einer fotorealistischen Montage (Farbtafel XIII), einer Autobahn-Karte und einer längeren schriftlichen Darlegung. Dem Text war eine Vorbemerkung vorangestellt, die unsere Annahmen zur Einschätzung der Denkmalskunst formuliert: „Unser Entwurf Überschrieben zieht die Konsequenz aus dem Scheitern herkömmlicher Denkmalskunst. Werke der Denkmalskunst, die durch eindrückliche Formgebung versuchen, an eine Person oder ein Ereignis zu erinnern, sind in dreifachem Sinn tot: leblos, obsolet, und sie werden nach ihrer Kenntnisnahme liegengelassen. Vor allem müssen sie an einem Gegenstand scheitern, der sich nachträglicher Darstellung entzieht, schon weil er jedes nachgeborene Vorstellungsvermögen übersteigt. Die historisch neue Denkmalsaufgabe, Verbrechen der nationalen Geschichte in repräsentativer Weise zu reflektieren, erfordert neuartige, radikale und entsprechend unbequeme Lösungen.“ Aus dieser Einschätzung folgerte unsere Vorbemerkung: „Wir schlagen für diesen Gegenstand vor, die ästhetische Dimension der Kunst in ihrer sozialen Funktion aufzuheben. Unsere künstlerische Konzeption zielt auf eine lebendige Form, der es gelingen kann, die Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wach zu halten.“

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Abb. 1: Rudolf Herz, Überschrieben. Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, Fotomontage, 1997

Im Sinne dieser Lebendigkeit entschieden wir uns für die Errichtung eines Mahnmals und zugleich für die Gründung einer Stiftung: „Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas wird an einem frei gewählten Ort mitten in Deutschland errichtet – auf der Bundesautobahn A7 südlich von Kassel. Das Mahnmal ist der Autobahnkilometer 334, der in beiden Richtungen auf einer Länge von einem Kilometer gepflastert wird (Abb. 1). Zu Beginn der Strecke im Norden und Süden überschreibt eine Schilderbrücke die Fahrbahn mit der Schriftzeile: Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Die Geschwindigkeit ist auf 30 km/h begrenzt. An den Autobahnraststätten wenige Kilometer südlich und nördlich des Mahnmals werden auf Texttafeln historische Informationen bereitgestellt bzw. weiterführende Literatur über den Holocaust und das Mahnmalsprojekt angeboten.“ Die Stiftung war hingegen auf Berlin bezogen: „Das ursprünglich dem Denkmal zugedachte Grundstück südlich des Brandenburger Tors in Berlin wird verkauft – verknüpft mit der Auflage, an wichtiger Stelle eine Bronzetafel mit folgendem Text in mehreren Sprachen anzubringen: Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Senat von Berlin und ein privater Förderkreis planten an diesem Ort ein zentrales Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Nach eingehender Diskussion folgten die Auslober dem Vorschlag, das Gelände zu veräußern. Im Gedenken an die von Deutschen und im deutschen Namen ermor-

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deten Juden ist mit dem Erlös die Stiftung zur Unterstützung verfolgter Minderheiten gegründet worden. Als nationales Mahnmal wurde stattdessen der Kilometer 334 der Bundesautobahn A7 südlich von Kassel gepflastert. Über die Trägerschaft der Stiftung, ihre genaue Zielsetzung und ihre jährliche Mittelvergabe ist ein öffentlicher Diskurs zu führen.“ Wir suchten eine ganz entschiedene Absage an repräsentative Gesten und wollten der monumentalen Erstarrung der Denkmäler entgegenwirken, um Erinnerung in Gegenwart und Zukunft zu holen, um den Alltag zu verändern: „Wir gehen davon aus, dass heute nur die permanente Infragestellung eines weithin anerkannten Symbols die erwünschte Lebendigkeit eines Denkmals auf längere Zeit hin ermöglichen kann. Zu den wenigen, gemeinschaftsstiftenden nationalen Symbolen in der Bundesrepublik zählt die Autobahn (Abb. 2). Sie eig-

Abb. 2: Autobahnkarte Deutschlands

net sich dadurch in besonderer Weise für Projekte kollektiver Erinnerung. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn rührt an einen Mythos, der sowohl mit der neueren deutschen Geschichte als auch dem Gefühlshaushalt der Bundesbürger und dem modernen Alltagsleben verknüpft ist. Die Autobahn, die geradezu zum Inbegriff des

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deutschen Wirtschaftsaufschwungs in den 30er und 50er Jahren wurde, signalisiert gesellschaftliche Kontinuität. Die Autobahn durchgesetzt zu haben, wird auch heute noch weithin als Hitlers Leistung anerkannt und zu den positiven Seiten des Dritten Reiches gezählt. The German Autobahn steht heute für vieles: für moderne Verkehrstechnologie, für individuelle Bewegungsfreiheit, für Tugenden wie Perfektion und Zuverlässigkeit, die gerne als Merkmale nationaler Identität reklamiert werden, zugleich aber auch für reibungsloses Funktionieren, rücksichtslosen Durchsetzungswillen und unübersehbare Aggressivität, – eine mentale Mischung, ohne die der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre. Unser Mahnmalsentwurf zielt auf ein Innehalten im rast- und erinnerungslosen Dahinfließen unserer Wirtschafts- und Freizeitgestaltung und damit auf eine Absage an ‚eine scheinbar heile nationale Identität‘ (Salomon Korn). Das Mahnmal stellt nichts dar, schon gar nicht die Vernichtung der europäischen Juden, denn der Holocaust ist nicht darstellbar. Dem Mahnmal wird sich niemand entziehen können wie einem statischen Denkmal an repräsentativem Standort, denn das vorgesehene Autobahnstück ist sinnvoll nicht zu umfahren. Im Gegenteil. Dieses Mahnmal wird von etwa 40 Millionen Menschen im Jahr nicht nur wahrgenommen, sondern auch benutzt. Wenngleich es bei normalem Verkehr eine Fahrtverlängerung von nur zwei bis drei Minuten bedeutet, greift es effektiv in die funktionalen Abläufe unserer Gesellschaft ein, die es dabei reflektierbar macht und historisch vermisst. Die Überschreibung eines Autobahnkilometers zugunsten eines Mahnmals zielt nicht auf memoratives Pathos, sondern verlangt ein Sich-Zurücknehmen und wird damit beständig individuelle Reaktionen und politische Auseinandersetzungen provozieren. Die gemessen am Anlaß gelinde, aber nachhaltige Störung durch Verlangsamung (es handelt sich um einen Kilometer eines Autobahnnetzes von 11 000 km) ist der Preis für die lebendige Erinnerung an den Holocaust. Von daher bedeutet das Mahnmal einen Test in doppeltem Sinn. So wie es von der Gesellschaft durch Gebrauch auf sein Funktionieren getestet wird, so testet das Mahnmal selbst die Gesellschaft auf ihre Bereitschaft, jenseits alibihafter Monumente die Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden wach zu halten. Das Mahnmal lässt sich nicht politisch vereinnahmen. Es bleibt ein Stein des Anstoßes, aber jeder Anstoß wird gleichsam auf sich zurückverwiesen und vor die Frage gestellt: Was ist das eigentliche Ärgernis? Der Holocaust oder diese Form seiner Erinnerung? Ebenso wie der ge-

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pflasterte Autobahnkilometer erschöpft sich unser Vorschlag, ein prominentes Berliner Grundstück einer Stiftung zur Unterstützung heute verfolgter Minderheiten zu überschreiben, nicht in der repräsentativen Geste. Die Stiftung verbindet die Erinnerung an die nationalsozialistische Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden mit der Absicht, die gegenwärtige Diskriminierung von Minderheiten bewusst zu machen und weltweit humanitäre Hilfe zu leisten. Ihr Gründungskapital wird mehr als 200 Millionen DM betragen. Die jährlich zu führende Diskussion über die Frage, wie die Mittel zu verwenden sind, wird nachhaltig zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über ideologisch, politisch, sozial, religiös und ethnisch motivierte Verfolgung führen. Die Kooperation mit non-governmental organisations wie Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen u. a. wird Grundlage der Stiftungstätigkeit sein.“ Unser Vorschlag war eine Provokation und ignorierte die engen formalen Vorgaben des Wettbewerbs vollkommen. Wir machten uns keine Hoffnungen auf eine tatsächliche Realisierung unseres Entwurfs. Deshalb fühlten wir uns vollkommen frei und unbelastet von falschen Rücksichtnahmen und suchten nach einer Lösung, die grundsätzlich sein und die Denkmalsdiskussion, die sich in Nebensächlichkeiten verstrickt hatte, vorantreiben sollte. Die Entscheidung des Preisgerichts nahm die vermutete und allgemein bekannte Richtung, unser Entwurf fand Anerkennung in den Medien und privaten Gesprächen und motivierte Matthias Reichelt, einen Band herauszugeben, der neben unseren Entwürfen (auch aus der ersten Runde des Wettbewerbs) das vielstimmige Echo dokumentierte und Aufsätze namhafter Zeitgenossen versammelte. Während das Buch entstand, begann bei mir eine neue Phase der Selbstbefragung. Angesichts der vereinnahmten Holocaust-Erinnerung wuchsen meine Zweifel, ob wir nicht die politischen Voraussetzungen des Wettbewerbs und die Funktion des Denkmals, auch unseres Entwurfs, genauer hätten durchleuchten sollen. Ich stellte mir die Frage nach der künstlerischen Autonomie im Zusammenhang mit Wettbewerben, die der staatlichen Erinnerungspolitik folgen. Sind Künstler nur gestaltende Dienstleister des Zeitgeistes und der herrschenden Ideologien? Wie steht es um ihre kritischen und systemkritischen Impulse? Oder ist die Kunst trotz allem am Ende listenreicher? Meine Überlegungen finden sich in einem Brief vom März 2001 an Reinhard Matz: „Lieber Reinhard, aus dem Abstand einiger Jahre möchte ich noch einmal ein paar Gedanken zu unseren Projekten zum Holocaust-Denkmal skizzieren. Sie entspringen einem wachsenden

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Unbehagen, da ich glaube, dass wir bei unseren Entwürfen wichtige Fragen nicht zu Ende gedacht haben. Sehr entschieden waren wir, was die künstlerische Geste betraf. Wir haben im Wettbewerb harte Nüsse geliefert und ein Szenario entworfen, das sich auf einen erhofften Diskurs stützte. Wir haben dabei jedoch Bedingungen akzeptiert, wo Widerspruch fällig gewesen wäre, und ich frage mich, ob wir nicht einer Fehleinschätzung der Wettbewerbsaufgabe unterlagen, in deren Dienst wir uns begaben. Meine Einwände betreffen weniger die richtige Form, die Darstellbarkeit des Holocausts oder die Symbolisierung von Erinnerung, sondern die stillschweigend vorausgesetzten Prämissen. Wir nahmen an einem Wettbewerb teil, bei dem es dezidiert um einen Akt höchster Repräsentationskunst ging, denn das Berliner Holocaust-Denkmal ist das deutsche Denkmal auf nationaler Ebene zu diesem Thema und folgt der staatspolitischen Räson. Unser Entwurf Überschrieben ist provokant; es hat uns gefallen, ein Nationalsymbol wie die Autobahn ‚missbräuchlich‘ zu nutzen und in unsere GedenkKonzeption einzubauen […]“. Obwohl wir rotzfrech die formalen Vorgaben ignorierten, unsere Eingabe eine „demonstrative, ja karikierende und persiflierende Übererfüllung der Wettbewerbsaufgabe“ darstellte, „war unser Entwurf Nationalismus hoch fünf. […] Wir haben ein Scham- und Verantwortungsritual auf die Spitze getrieben und mit der Tempoverlangsamung bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Und wir haben dieser Erinnerungsgeste auch noch verpflichtenden Charakter gegeben. Das war ein autoritärer Gestus reinsten Wassers, der die Adressaten anhält, über die Art ihrer Bewegung ihre Gesinnung unter Beweis zu stellen. Und ihnen einen Strafzettel verpasst, wenn sie sich dem entziehen. […] Was daraus im staatlichen Gedenken jedoch wird, ist ein Punkt, den es sich genau anzuschauen gilt. Ich denke nämlich, die Ermordung der Juden wird auf eine Weise funktionalisiert, die grundfalsch ist. […] Das Gedenken an den Holocaust folgt den Leitgedanken der Vergangenheitsbewältigung und gilt als demonstrativer Nachweis für Deutschlands demokratische Läuterung. Der Holocaust, die institutionelle Erinnerung, mutierte zur Reklame für den status quo nach 1945, zu einem Aushängeschild für den Rechtsnachfolger von Hitlers Staat. Das nenne ich zynisch. Im Mittelpunkt des Erinnerns steht das Bekenntnis zur deutschen Schuld und Verantwortung. […] Doch was sind solche antifaschistischen Bekenntnisse tatsächlich wert? […] Versetzen sie jemanden in die Lage, faschistisches und rassistisches Handeln in der Gegenwart zu durchschauen? Ich glaube nicht. Abscheu vor den Nazi-Gräueln hilft

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da gar nicht weiter. Ich denke also, dass die Gedenkrituale, dass Schuld und Scham eigentlich einer nüchternen Annäherung und einem besseren Verständnis des Faschismus und seiner Wurzeln im Weg stehen. Ist es übertrieben, in ihnen nur ein Surrogat für Kritik zu sehen? Mit dem Schuldbekenntnis verbindet sich häufig eine ohnmächtige Betroffenheit. Das ist nicht ganz zufällig, denn der Holocaust wird als etwas Ungeheuerliches begriffen, vor dem der Verstand eigentlich nur noch kapitulieren kann. Das bedeutet nichts anderes, als dass eine erklärtermaßen unsachliche Herangehensweise zum Prinzip erhoben wird. Damit ist die Stunde der Rituale, der symbolischen Gesten und der Kunst gekommen, in der Erschütterung und Fassungslosigkeit die Dramaturgie zu bestimmen. Betroffenheit bedeutet hier nicht den Anfang einer Klarstellung, sondern deren vorschnelles Ende. Mit dem Bekenntnis zur deutschen Schuld und Verantwortung hat es aber noch etwas anderes auf sich. Warum soll sich ein Jugendlicher für die nationalsozialistischen Verbrechen, die nicht er, sondern Nationalsozialisten und ihre Helfer aus der Generation seiner Väter und Großväter begangen haben, verantwortlich fühlen? Das geht nur mit Hilfe eines Identifikationsmusters, das im Kern selbst nationalistisch ist: allein aufgrund der Tatsache, dass er Deutscher ist, hat er sich für die Taten verantwortlich zu fühlen. Das ist bizarr. Und fatal. Damit wird ihm eine ideelle Verantwortung für Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer abverlangt, also eine nationale Zwangshaftung installiert. Dieses Verfahren basiert auf einer nationalistischen Denkweise und forciert dann auch noch ein durch und durch nationalistisches Denken und Fühlen bei ihren Adressaten. […] Ein letzter Punkt. Historisch gesehen hat es einige Zeit gebraucht und war nicht leicht, bis sich in Deutschland eine vertrackte Nationalmoral, voll gepackt mit Scham, Schuld und Stolz durchgesetzt hat. Da halfen anfangs die Alliierten ziemlich nach. Die bewältigte deutsche Vergangenheit ist dann freilich zum selbstgefälligen Ehrentitel und Eigenlob der Nation geworden […]. Sie fühlt sich legitimiert, überall dort auch militärisch zu intervenieren, wo sie ihre Werte und Vorstellungen bedroht sieht. Der Holocaust mutierte also zur pauschalen Ermächtigung und Rechtfertigung. Ich denke, dass unter diesen Umständen das Projekt des deutschen Holocaust-Denkmals in einem ganz anderen Licht erscheint. Seine vermeintliche Unschuld hat es längst verloren, so unbestritten die Denkmalsetzung für die Opfer auch ein Bruch mit der Tradition staatlichen Gedenkens sein mag. Mit der Erinnerung an nationale Verbrechen wird

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nämlich zuallererst ihrer erfolgreichen Bewältigung ein Denkmal gesetzt. Zugleich wird eine kollektive deutsche Identitätsstiftung bedient und eine Nation gefeiert, die der Welt zeigt, wie souverän sie sogar mit ihrer größten nationalen Schandtat umgeht und sich beim Erinnern und auch sonst keine Vorschriften mehr machen lässt. Und deshalb könnte es sogar sein, dass das Holocaust-Denkmal bereits den Zenit der Schuldgesten markiert, die zukünftig gar nicht mehr zum Selbstbewusstsein einer deutschen Großmacht passen. Mit diesen Überlegungen widerspreche ich der Konzeption des deutschen Holocaust-Denkmals, weil ich sage, dass es auf Voraussetzungen beruht, die dem Gedenken an den Holocaust zuwiderlaufen und ihn zum Hilfsmittel staatspolitischer Interessen degradieren. Deshalb frage ich entschieden: Wie kann ein symbolisches Erinnern an den Holocaust jenseits nationalistischer Verpflichtung und staatlicher Vereinnahmung beschaffen sein? Wie lässt sich solches Erinnern überhaupt begründen, wenn der Holocaust nicht zu einer leeren Metapher werden soll? Was für Ansätze einer radikalen und freien Kunst könnten dann möglich werden? Die künstlerische Geste von Überschrieben mit Autobahnkilometer und Stiftung hat mehrere Botschaften, ist schwer einzuordnen und als Staatskunst trotz ihrer affirmativen Dimension unbrauchbar. Besonders interessant finde ich jedoch, dass damals kaum jemand unseren Entwurf als nationalistisches Superkonzentrat gesehen und kritisiert hat. Das war und ist bezeichnend für die allgemeine Situation in den Köpfen. Es ist eben ein ganz unverdächtig erscheinender Nationalismus, weil er im antifaschistischen Rahmen auftrat. Gerade für diese so alltäglich gewordene Nationalmoral besitzt die deutsche Linke eine Vorreiterfunktion, weil sie sich nur gern als das leibhaftige Gewissen der Nation versteht und präsentiert. Ich denke also, mit der maßlosen Übertreibung der Betroffenheitsgeste gelang uns ganz unerwartet ein Test auf diese nationalistische Mentalität. Ein produktives Missverständnis, ein künstlerisches Szenario, ein Bild, das dies auf den Punkt bringt. Ungeachtet der Intentionen und Vorgaben. Vielleicht liegt genau darin seine besondere Qualität. Meine Überlegungen liegen quer zu den Denkgewohnheiten und den Überzeugungen des deutschen Gefühlshaushalts und werden Dich sicherlich überraschen. Überraschen wird Dich auch, dass meine grundsätzliche Kritik nicht in eine pauschale Rücknahme unseres gemeinsamen Denkmals-Entwurfs mündet. Denn ich glaube, dass es ein Denkbild ist, das produktiv gemacht werden kann, weil es nicht ge-

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baute Wirklichkeit ist. Jetzt wirst Du reklamieren, dass ich mir unseren Entwurf von einem sehr distanzierten Standpunkt aus angeschaut habe. Das hat freilich Vorteile, weil sich einem keine falschen Verpflichtungsgefühle in den Weg stellen, und tut dem kritischen Denken und künstlerischen Handeln ganz gut.“ Warum schrieb ich den Brief? Ich wollte mir Klarheit verschaffen und meine Überlegungen ordnen. Ich verstehe dieses Nachdenken als Einwand gegen die vorherrschende Konsenskultur und als Fortschreibung jener Kritik am Wettbewerb, wie wir sie mit Überschrieben auf künstlerischer Ebene begonnen hatten, nun politischer begründet und konkret auf unseren eigenen Entwurf bezogen. Mit der Publizierung stelle ich meine Zweifel an dem von mir mitverantworteten Werk öffentlich zur Diskussion. Ein derartiger Schritt ist nicht üblich, weil er die innere Zerrissenheit des Künstlers vor Augen führt. So offenkundig diese Zerrissenheit auch ist, so wenig lässt sich ihre inhaltliche Seite unter diesem Stichwort abhandeln. Eine Einordnung des Denkmalsentwurfs als ‚surreal‘ läuft Gefahr, diesen zu entrealisieren und mit der einseitigen Verlagerung in individuelle Innenwelten die gesellschaftspolitischen Dimensionen aus dem Auge zu verlieren. Es ist nicht zu leugnen: Der Entwurf und seine Kritik stehen sich schroff gegenüber. Meine künstlerische Strategie arbeitet an Widersprüchen, auch den eigenen, und macht dies öffentlich. Ich liebe Gegensätze und Widersprüche, forciere sie, um Fragen zu stellen und Anstöße zu geben. Ich setze die produktive Kraft des Zweifels gegen die Betroffenheit, wie sie das memorative Kunstgewerbe hervorbringt. Moshe Zuckermann sagt: Der Antisemitismus entstand aus dem Geist der fehlgeschlagenen Aufklärung in Europa. Sein Resultat ist der Holocaust. Doch wie aufklärerisch und emanzipatorisch ist die etablierte Holocaust-Erinnerungskultur? Offenkundig ist diese Art der Erinnerung selbst ein Problem. Im Land der Täter erzeugt die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmords moralische Entlastung und zugleich kriegerische Ermächtigung, im Land der Opfer werden Annexionen und Apartheid-Herrschaft im Namen dieser Erinnerung gerechtfertigt. Und die Kunst? Wie verhält sich Kunst in diesem Zusammenhang? Reflektiert sie ihre Dienstbarkeit, Bindungen und Verpflichtungsgefühle und versucht, eine Differenz zur herrschenden Kultur zu behaupten? Aufgabe der Kunst, wie ich sie verstehe, ist nicht, trügerische Gewissheiten ästhetisch zu verbrämen, sondern kraft ihrer Entwürfe die freie Bewegung der Gedanken und der Wahrnehmung zu fördern.

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Anmerkung 1. Zur Präsentation und Diskussion des Projektes siehe Rudolf Herz/Reinhard Matz: Zwei Entwürfe zum Holocaust-Denkmal, hg. von Matthias Reichelt, Nürnberg 2001. Die Zitate im Text wurden dem Buch entnommen.

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Beyond the Principle of Expression/Repression. On Video as Libido Censor’s Eye The Western system of passions has ever been ruled by a repressive – not expressive purpose, which was Greek at first (see the Stoicians), then Christian (see the Passion), and lately Freudian (see Oedipus): it aims above all to restrain emotion and to control representation. They cannot be split. This continuous means of regulation works as a code, in the most normative meaning of the term. Art is here the ideological tool of this compulsive norm, and we should even tell, its panoptical mode, as it is supposed to be visible, and even more, to be viewed by all, in its constant (castrative) search for moral (political) exemplarity. By way of vision, it is the art that watches us, with a censor’s eye. Foucault, when describing his panopticon, says nothing else, although he does not speak of art. For this visual, or artistic control, is a key stake of our disciplinary societies, which he perfectly summed up with the title of his best book (by far), Discipline and Punish…1 Morbid Fits Such a system found its favourite medium in the art of painting. No other could have been more fitting. History painting tends to remake the world in a better way. Now painting is the right place for male fetishism, which betrays a deep inability to show the body out of the old West’s binary eroticism, desire and pain. Painting is the unconscious theatre where the passion – the pathos – of the Western body has been staged for centuries. Beyond the expression (the repression) of the feeling, what matters here – what troubles here – is the body (the sex). How can we get rid of it? From there comes the haunting recurrence of these radical aes-

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thetics that tend to neutralize the figure through the primacy of the socalled ideal, which is nothing but the triumph of ideology (see Raphael, Poussin, Winckelmann, and others). Art historians politely label these morbid fits of superpuritanism as … classical temptations. Mere Life? It is no wonder if we discuss here the most contemporary of artistic media, which is video. For it is also the least pictorial: a flat, cold, weak medium, which does not allow emphatic gestures and showy material. Its image is but surface, between neutral statement and anonymous narrative. There is no better support for the visual critique of the Western world, which is a pictorial, and then a patriarchal one, since painting has always been a matter of men, made by men for men. That is why the three artists, whom we talk about in the following lines, are three women, and all three video makers. For the first time in art history, if we are not mistaken, women play a prominent part in the practice of a medium. And this feminist trinity displays a rare consciousness in the post-Freudian (even anti-Freudian) analysis (or counter-analysis) of the alleged expression of passions. In their dazzling but harsh way, they show us that passion is no more than drive, that its sign is indefinite, as its pattern is circular, and that the body itself is an organic machine in which the organization (if not the organ) represses – suppresses – the desire. They tell us, in a word, that video is mere … libido. Mere life?

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Wearing: Faces as Masks (Colour Plate XIV and Fig. 1)

Fig. 1: Gillian Wearing, Trauma, video, 2001

Guard Dogs It is difficult to believe, but her name is Dora. And this name sounds familiar. As everyone knows, Dora is the founding case of psychoanalysis, a case of hysteria, which Freud treated from 1899, and that opened, six years later, the Five Study Cases, a pioneer book which remains the Bible of Freud’s method.2 Now this other Dora is no less reluctant than her famous forerunner. She denounces the social training – Nietzsche would say taming – of a normative psychology which sends everyone to the hospital. Dora says more or less: the psy made me crazy – a victim or a martyr – it is the same. Deleuze and Guattari never said anything else.3 The priests, as they say, which means all the interpreters,

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these guard dogs of the bourgeois ideology, want to deprive you of your own body, by ruling its organs (your organs). They deny your desire, in the name of language (their languages)4. You are not flesh, but words. This is easier to control. Traumatic Cases There was the molested son. This is the repressed daughter. Then come the beaten girl, the raped one, the incestuous sister, the confined son, the abandoned boy, the abused orphan. Such a list is unlimited. You can increase as you wish the number of cases – traumatic cases. They all share the weird violence of an external shock: chaos of drives, struggle of affects. The trauma implies both injury and intrusion. Its paradigm is the rape. Now the notion, which is old, finds with Freud a new meaning that is unexpected. For the traumatic model is the origin of the neurotic scheme. Trauma and neurosis are one and the same. Or almost … No Way Out We know that Freud grounds his aetiology on the hypothesis of a causal event with intruding violence: see the war neurosis. Even hysteria is a prominent part of this new interpretation. The terror of the subject causes the emergence of the symptom as a hysterical defence5. In the 1920’s, when Freud elaborates what we call the Second Topic (ego, superego and id); the traumatism loses its privilege as a seminal concept. However, it is no coincidence that the word is the title of the video: Trauma6 – this accident of memory. Dora would protest. But she is trapped in the normative (repressive) system of Freudian standards. There is no way out. Ever. Only One Then comes the ambivalence of the discourse, whatever its source – the author or the interpreter. He is both in and out. You might say: this is quite common. It is the very status of criticism. Now see how the image works in the development of its narrative texture. At first, our attention is floating, as the analyst would say. Then, from one case to the other, the same elements – the same events – recur tediously. And this accumulation of tragedies alters our perceptions, as it produces a morbid fascination through which the speakers (the patients) merge into one. Only one. For the compulsion of repetition has a political content (Freud7, then

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Lacan8, would call it the Zwang of the Wiederholung: it is a violent process). What matters at the end is not the case, but the power, not the individual, but the ideology. This society of ill-treatment, in which prevail rape, incest, and paedophilia, does not call for a therapy, but for a rebellion. In a word, which is a joke (a bad one), Dora becomes … Pandora. Engine of War Hatred of the fathers! These images exude the execration of the male genitor – as Artaud would say. At the dawn of last century, Freud tried to track down in the head of his patients the primal fantasy (die Urphantasie) of Western children: One beats a child.9 The grammatical structure of the phrase is anonymous. Now through his obstinate archaeology, Freud was able to assign a subject to the verb – an owner to the stick! One is for the father10, and no one else. Alas! This fantasy is not fancy. It is quite actual. From the primal scene to the scene of seduction, through the scenes of beating, Freud, who cannot believe what he hears, refers anything to his abstract theory of the family romance.11 He is wrong. All is truer than life. Facts go far beyond fantasies. Wearing’s feminist video – I should say hyperfeminist or ultrafeminist – is an engine of war against a patriarchal society still ruled by the Father’s obscene violence. Cheap Movie In 1994, Gillian Wearing, then a so-called Young British Artist, who is now a star, began to create a popular imagery, which is the contrary of an aesthetic: the vox pop video, or the cheap movie of the vox populi. She publishes advertisements in the press in order to recruit anonymous candidates for her videoconfessions, whose features are hidden under clown masks.12 Such a device is of course referring to TV programs, between talk shows and sitcoms.13 But it goes much further than a parody of the medium. For this false inquisition soon turns into a public happening against society: this is the garbage of the collective unconscious – a squalid mixture of violence and sex, a permanent session of video trash which peaks in Trauma (2001). Too Much Who speaks here? Not a creature, but a caricature. Not a face, but a farce. The speaker wears a mask. This mask is farcical. And yet one

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does not want to mock it. On the contrary: It looks like a sad clown. Its features are crude and its hair is thick: swollen lips and bushy wigs. Above all its expression – its inexpression – is frozen by a dull stupor in which the eyelid falls and the pout threatens. The only thing which moves in this asthenic world, apart from the throat, is the eye. At the bottom of the orbits, a look glistens. And the lively pupils in these staring faces are their ultimate vestige of underlying humanity. Everything here is too much – in excess – as if the fatness of the type emphasized the absence of the individual, who is only speech. These masks are empty. They hide nothing but… words. Dark Memories And what words! They are the very words of the unconscious. We better understand the requirement of a mask. Its use is not restricted to the hiding of a status. The mask reduces the being to the discourse. It is not the word which becomes flesh, but the reverse. The sitter is no more than a voice: a closed mouth with dark memories. Not even a voice. For one can barely hear it. The mask deforms the sound as well as the features. The language is nothing more than a constant rumour of uncertain words, which are corrupted by sighs and silences. These words, often inaudible (in every sense), are hopeless, and worse: they are useless. See the proof: all the masks have their lips shut. They are mute. The word becomes latex. Wearing sends back the Western logos to its right place: a mishap of the signifier, a misuse of the glottis, a mistake of the phoneme … Endless Work To whom does she speak? To no one. This is a narrative without listener: a work without auditor. These masks do not speak to someone except you and me, which means anyone. We are here by chance, or worse, by intrusion. We break into a space which is not ours, since it is not fit for any dialogue (if the word has a meaning): only for a monologue. Do not be mistaken. The viewer is not the analyst, and these celluloid confessions are not therapy sessions. There is no possible association, intervention, interpretation, and even less emotion. All is frozen in the endless work of a traumatic memory. All is locked into the autistic process of a useless soliloquy which excludes anyone: you and me.

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Ill-Treatment Such a double bind reverses the analytic process dear to Freud, when you speak, and I listen: a somewhat uneven relationship in which the interpreter is the master. Here I speak and you listen. It is at last what they tell us – order us. Here the subject becomes the master. He stands out as a victim, and turns into a torturer. I am – we are – accomplices of the ill-treatment which they endured. And complicity means guilt just like the criminal: just like the father. I am – we are – potential fathers (and we know how potent they are). This is the revenge of the masks. They do not only confiscate the speech. They appropriate the viewer. They do not speak to me or to you. They speak to the other which is inside us: to the patriarchal violence which is in our minds. You (me) are condemned by a ruminating memory which turns the words into verdicts – the listeners into convicts. Screen Memory All the masks are different. And yet they are all the same. They all refer to the old stereotypes of an innocent childhood which Freud defined as a period of latency (blond hair and fresh skin). They all show the age of their memories: of their traumas. But Wearing is cruel to the end. She gives them the crumpled look of a premature senility that turns these eternal children into old people. This blurring archaeology of the screen memory (the primal scene or Urszene) – Freud again14 – manifests as a symptom the confusion of times, if not of feelings. These lives go the wrong way. We do not know where they stand – where we stand – in this constant mixture of a traumatic past and a retrospective present. The mask plays difformity against difference. It shows itself as a fetish, a remnant of the subject, a vestige of humanity. Rubber Cell With Wearing, the mask is a prison, or a morgue. The artist does not hide the faces. She jails them. The body has disappeared. Only traces are left: the shoulders shrug, the bust bows, the neck shakes. Now the faces are locked into their rubber cell. There is only a head. And what a head! Just a core. What remains of the subject, this dubious creature of Western humanism, is nothing but a puppet. A triumph of castration. Lacan says: a triumph of the law – the Father’s.15

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Taylor-Wood: Passions as Affects

Fig. 2: Sam Taylor-Wood, Hysteria, video, 1997

Fig. 3: Sam Taylor-Wood, Hysteria, video, 1997

Autistic World Portrait of a woman at the height of the affect: closed eyelids and open mouth. The head shakes and the nape rocks. It is no longer a face. It is a spasm. Or an orgasm. We believe at first that she cries. Then we wonder if she laughs. And so on. She switches relentlessly from laughter to tears and returns. This is at least what we presume. For we do not hear any sound. The image is silent. And the face is mute. These feminine features remain an enigma. We do not know the motives of her expre-

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ssion. The image is undecidable. We cannot even say what it represents. And if the essence of the representation is the gaze of the other, it denies the observer, who is excluded from this closed world. An aphasic, aphonic, autistic world.16 As a Multiple Hence the title. What is the use of a title if it does not help the reading? Sam Taylor-Wood is not an ordinary artist. She chose a title which is not an actual one. On the contrary: it is a concept – Hysteria (1997).17 A title is idiomatic. It concerns an image (only one). A concept is generic: it neutralizes the image (as a multiplicity). The image becomes an illustration, almost a category, even an allegory. Now the concept of hysteria is pejorative. Its aetiology is sexual and its clientele is feminine. These arguments are enough historically – hysterically – to ruin its credit. No Walls What is hysteria, if not the symptom, which means the trauma? Charcot scrutinizes its theatrical expression, and Freud, its verbal one.18 Both chain the subject to the symptom. The Salpêtrière iconography casts the patients in a repertory of grimaces – a true mime – in which prevails the pathos of emphasis.19 And this nosographic undertaking is not only a matter of science (to classify the symptoms), but a matter of repression (to confine the sick). Such a cell has no walls. It is nothing but a photograph. However the aim is reached: to cop the expression, which becomes neurotic, when becoming excessive. In the West, the transport is always pathological, and the hysteric is always histrionic. Vice Versa Taylor-Wood plays with the mask. Her own hysteric is no longer a model for Charcot, who turns the body into a stage, and even less for Messerschmidt, who turns the grimace into a genre.20 The woman is all but morbid: blond, young and lovely. The natural physiognomy goes with a hygienic physiology. For what prevails here is not the subject, it is the signifier: energy. And this energy circulates, from an affect to the other, in a permanent osmosis, where they are anonymous. As soon as they are named, their sign changes: mirth becomes torment, hilarity becomes torture, and vice versa.

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Fluid Mechanics The convulsion of the motif matters less than the conversion of the affect. And it is the conversion which defines hysteria, when the trauma turns into the symptom. By cutting off the sound, Taylor-Wood gets rid of the theatre, and keeps only the text. The representation of hysteria tends to the hysteria of the representation.21 Such a deaf imagery is no longer hysterical. It is nothing but a discreet echo of the fluid mechanics. We could speak, according to Guattari and Deleuze, of flux and intensities.22 At Will The video does not last more than eight minutes. But its length has no limits. And this compulsive effect of repetition – the Zwang of the Wiederholung, dear to Freud and Lacan23 – reinforces, if possible, the instinctual economy of the phenomenon. Ad libitum (at will), says a Latin locution. There lies some libido underneath. Hysteria, with Taylor-Wood, is out of the subject. Already excluded from its new version was the spectator, then the spectacle, and now the author, which means the subject, as it is speechless. Neither phonetic nor acoustic, the subject is not even a linguistic fact. It is just a maxillary effect: a zygomatic production. I say nothing. You hear nothing. End of the Logos. Triumph of the visual. Hysteria is like pornography: it is when the subject becomes an object. Vocative Mode The image becomes unreal by being silent. There is an obvious contradiction between the iconic signs (laugh or scream), which are visible and the sound effects, which are inaudible. The representation wastes its credit to such an extent that any identification is precluded. Yet its narrative regime is the most propitious to identification: the straight frontality is a kind of vocative mode through which the watcher is implied in a compulsory way. I talk to you, the image says. However, it says nothing. Therefore I am caught in front of her by a Freudian feeling of the uncanny.24 This woman is not a woman: just a vision. Meta/critique Moreover she is too lovely to be true. It is only a phantasy: the pure product of a projective gaze (mine) which fully settles the meaning of

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the image. The world is restricted to my scopic function: a visual phenomenon. Not a real one. Thus we get into a metaworld, beyond appearances. This is not (yet) a metaphor. But it is (already) a metadiscourse: a metacritique of the old West.25 Social Norm For the entire Western imagery has been based, from the classical age, on the expression of passions. Each affect is endowed with a facial sign – only one – which is easy to recognize: joy, fear, wrath and others, they all receive a specific treatment. Now this expressive code is a social norm, which means a full ideology: a principle of moral repression which pretends to rule the minds. This normative psychology is nothing but a visual training – taming – on behalf of the bourgeois humanism – a strict system of mental control. Out Of It is no wonder if Descartes was its best interpreter in his Treaty of Passions, illustrated by Le Brun.26 For it is the very period of what Foucault names Le Grand Renfermement (The Great Confinement) which sends to jail every dissident.27 Yet these expressive categories are as many conceptual walls in which prevail the rational logic of the Cartesian Cogito: all that escapes its taxonomic undertaking is presumably a form of madness. Excogito, Descartes says: out of the cogito, of the subject, of the reason.28 Still Ours This visual culture, a repressive one, is still ours. We still see the world through its norm, as the cinema shows, which substitutes painting as a mimetic art. Now it is exactly what this portrait of a woman (which is not a portrait) does repudiate. No one is able to say what she feels. It might be wrong to give the title (Hysteria) a lasting credit. Such a metaphor is more ambiguous than we believe. Hysteria, with Taylor-Wood, has not much to do with the seminal illness dear to Freud or Charcot. Remember the Salpêtrière iconography and its rich collection of photographic portraits. None of Charcot’s patients ever looked like this blond, young, lively woman, who denies the very notion of illness. We wonder if such a title is not a lure: a form of derision – a way of antiph-

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rasis. What kind of hysteria is that? The artist works at the destruction of the concept. For she throws the illness out of history. You will not find here the least reference to the usual mythologies. Against Freud Without the title of the video, who could assume that its heroine is hysterical? Then she throws the (presumed) patient of his (her) own history. We know nothing of her. There is no context and no causality. What is a case without a past, an evolution, a diagnosis? Strange illness! It has no record and no future, no symptom, and no treatment, but a patient: an imaginary one. The paradox is even more acute since hysteria is ruled by a causal postulate – a massive one, the trauma. It is the trauma which made hysteria, according to Freud.29 And it is hysteria which made Freud himself, as we know. Now this is exactly what Taylor-Wood intends to criticize (a project close to Wearing’s30). Her feminist work militates against Freud – against the stereotypes of hysteria, and even of Freudian analysis, to begin with the primacy of the speech. Who ever met a mute hysteric? Perfect Circle Then what is left of the title? Not the essential: the conversion (the symptom), which is libidinal. Here the affect has no meaning (no name). But it has energy (a lot of energy). This economy of the paroxysm, that defies the rules of expression, which is always coded, in the West, is a perfect circle – and the trouble with the circle, as we know from Heidegger, is not to get out, but to get in. From hysteria remains an ultimate vestige: intensity. So effective is the notion here that we ought to use the plural form. A flux of intensities. Odd Path Flux/intensities. Such a glossary sounds familiar. These are the masterwords that Deleuze and Guattari used in Mille Plateaux to describe their most adventurous notion – Frankenstein’s creature: the body without organs (le corps sans organes, or CsO).31 Then we wonder if TaylorWood’s false hysteria is not following this odd path under our eyes. She frees herself from the power of the priests (as they call the psys: psychiatrists, psychoanalysts), all these interpreters who crush the desire.32

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Now the desire could well be what this pretty blonde implies in the constant circulation of her affect: flux and intensities. No fantasies and no representations. No Choice We could even say that she gets rid of her own body – her own organs. Except for one: her mouth. This huge opening, constantly gaping, swallowed the whole organism. For the organs are not the enemy, which is the organism, as ruled by the state, the capital, the ideology, and other forces of social repression. The woman is no more than a mouth, a circular motif, which looks like a metaphor: the energetic circle of desire. A desire without pleasure – without sex, but with libido. An impossible but imperious desire: she has no hope, but no choice. We have no choice. And that is why this short video, which hardly lasts eight minutes, is both very silent and very intense, very brief and very long: endless.

Beecroft: Bodies as Mummies (Fig. 4)

Fig. 4: Vanessa Beecroft, Performance VB45, video, Vienna, 2001

Peep Show Vienna, Kunsthalle, 2001, Performance VB45 (VB for Vanessa Beecroft).33 Beecroft’s performances have been so fashionable in recent

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years that we are rightly suspicious of their critical value. In short, they seem to us, with some reason, as frivolous as they are famous. We do not take them for a serious display of body art, if this expression still has a meaning (I do not think it ever had much). They look more like a social event, between a fashion staging and a high-class peep show: pornography without porn, namely without sex. This is wrong. They might well be some of the last true performances of this time, under the icy glamour of their soft eroticism. No Self True or false? We talk of performances. Yet nothing is performed. There is no plot. No action. No narrative. It is a theatre without a play, where nothing happens. Now the happening lies in this nothingness: the exhibition in itself – the self-exhibition of anonymous bodies. It sounds like a paradox. But it is more: a kind of oxymoron. These bodies have no self. They stand for hours as they are, still, mute, straight, until they are tired. Then they are allowed to break the line: they sit on the floor. This is the only event throughout the whole staging. It does not much change this odd display of human vacancy. Blind Comment Beecroft’s non-performances are more than subversive, negative, and even more, nihilistic. They deny the show by showing the least showy of all items, which is anonymity. Now this blind content is at the very start of their metamorphosis. Not yet a metaphor. But a metadiscourse: a discourse on the discourse, which turns the spectacular into the specular – the image into a mirror. Long Walk Beecroft: “My ideal of clothed is actually naked. In the beginning I had to cover the girls and I became known as the person who was showing girls in underwear. But I don’t care about underwear. I prefer nudity.”34 Such preference was difficult to assume. The artist needed years before convincing models to pose in the nude. It was not until 1998 that she succeeded for the first time. A long walk.

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Only Naked Let us not be mistaken. Nudity does not mean sex. On the contrary! It is all but provocative. Beecroft herself used to say that she does not try to turn on, but to turn off the audience. Watch these bodies: the pose, the group, the context, everything is done to deprive them of sexual implications. They are not nude, only naked, and not even that. For this nakedness is more than decent, it is almost chaste. The women look absent, remote, frigid, suggesting what we can call an icy, frozen, refrigerating eroticism… Flat Girls With Beecroft, nudity works against sexuality. She pretends to neutralize the affect, and even further, to deny the gender. That is why she looks for an androgynous type in which the sexual attributes (the feminine features) tend to fade away. Beecroft again: “I’m getting tired of bodies and breasts… So I’m asking for flat girls to see if there will be a different reception by minimizing these sexual aspects of the performance. I’d like the body type to be plain as boyish as possible”. Too Much Boyish: this is the word. Not only was the body desexualized (deprived of its sexual power) but ungenderized (deprived of its natural gender). The short hair and long boots obviously contribute to such a denial. Flat is beautiful, as Sadie Benning once titled her most famous lesbian video.35 Now the meaning is not the same. Benning was challenging her sexual condition: the feminine was not her gender. Beecroft is more radical in a way. What she challenges is not a fate, but a fake, not the gender, but the sex: the body. We cannot even say that she looks for bodies without sex. It would still be too much. What she stages is the minimum of sex, of flesh, of body – the minimum of life: bodies without bodies. Close Order There is more (which is less). Here nudity is … a uniform, if we dare say so. The women are numerous – more than ever: at least thirty or forty. And their large group is lined up, in close order: this is an army. An army of women, of bodies, of beings. We know that Beecroft is fasci-

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nated with the military world: she staged performances with true sailors of old US Navy warships.36 No wonder. The army subjects the bodily habitus to disciplinary habits. Very Excess Habitus, subject, discipline: these are the concepts which criticize Western rationality. They have been familiar to us from the nineteen seventies, through Bourdieu, Althusser and Foucault (respectively). We are not sure that Beecroft ever read them. But it does not matter much, since she cleverly demonstrates on her side how the gender vanishes in the very process – very excess – of its own reproduction. What is left of the individual? No identity. No alteration. Nothing but the same: infinite repetition … Ex-Women Huge and dark, the boots strengthen this military display, turning the ex-women into pseudo-soldiers. Now this cross-gendering device does not exhaust their semantic power. The boots are fetishes in the strict meaning of Freud’s concept: a substitute for the phallus.37 We should not say that they flatter women’s nudity. It is the reverse. Nudity exalts the boots. For the contrast underlines their symbolic status: they are as many sexual prostheses which compensate (and overcompensate) the castration lack, in the full glamour of their martial virility. Big Size This false performance turns to a true discourse on male fetishism. Remember Freud’s mastertext from 1927 (Fetischismus). The fetish is a stop along the mnesic chain of desire: the halt of memory in the traumatic amnesia (of the absent organ)38, which is ruled by Freud’s Verleugnung (or denial of the phallus).39 See the big size of these dark attributes: they endow the models with an ostentatious virility. Beecroft overstates the cursed part of Western femininity: the double bind between threat (castration) and vestige (fetishism) that causes Freud’s Ichspaltung, which means the cleavage of the ego, leading to a new anthropology.40 We are not so far from caricature. For it is the body that tends to become a fetish of the boots …

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Old Duality This is the very moment when, in classical rhetoric, metonymy changes into metaphor. Fetishism is a metonymic process: the closer it is to the genital area, the more effective – affective – is its libidinal value. Now fetishism is also a symbolic process: it is both a real object and a sexual phantasy. This constant osmosis from a trope to the other questions the old duality of Western culture (metaphor / metonymy) once emblematized by Jakobson.41 The rhetoric of the unconscious transgresses the strict borders of conceptual categories which are no more than simple markers in the flow of semiosis, the flux of images, the fluid of libido. Most Basic Thus we slip from the metadiscourse (in the mirror) to the discourse of the meta (behind the mirror): metaphors of darkness. And what rules this slip – this metamorphosis – could well be the most basic of all tropes, repetition. A single figure would make an allegory in which the figure still prevails over the idea. The repeated figure infers a metaphor in which the content (the meta) counts more than the vector (the phore). The invisible is more … visual than the visible. Beecroft uses repetition in the most compulsive way, according to Freud’s, and then Lacan’s terms, who both emphasize the violence of compulsion: the Wiederholungszwang. This army of figures is a figure of death. Mere Objects Death is around. We should even say: everywhere. Yet we need time to realize that we are in a grave. At first we took this gloomy atmosphere for a political argument. If the women look like ghosts, in their remoteness (we thought), it is to stress out their alienation. Not only are they reified, as mere objects, or commodified through the fashion industry, in which the model is a commercial product, if not a mass product, but they are displayed in lines as goods for sale on the shelves of a supermarket. This merchandising of the feminine body is nothing new. Male Gaze Now there is worse. The women are dispossessed of their fetishized body by the male gaze which structures (genders) the whole space. As

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any game, the performance has its rules. No one is allowed to touch the models, and not even to penetrate or circulate into their environment. They have to be viewed from a distance, as if they were protected by a window: this invisible barrier is the very condition of men’s voyeurism. To reach its climax, the scopic drive requires a powerful taboo which privileges one sense, and only one: sight. This is what the society of spectacle is all about – a collective rape.42 Made of Trash This giant poster is so ritualized that it denies difference, neutralizes flesh, in short, disembodies … the body. These are the oneiric requirements of the pure phantasy through the maximal process of identification. Let us remember that in Freud’s first texts about phantasy, like the Traumdeutung (his great book on the dreams), he still considers it as a quasi-conscious narrative in which power is the central issue43: the absolute power of a sovereign subject – “His Majesty the Ego”, as he writes elsewhere. This real fantasy (if we may say so) of a sexual order, which gives the observer an illusion of power, goes much further into the historical roots of Western libido, made of trash: trauma, hysteria, and death. Like Ashes See the funeral pomp of this gloomy staging. Vienna’s Kunsthalle is a solemn scene in dark and grey. Dark are the boots and grey the hair, all wigs, like ashes. No surprise if this museum is a necropolis, where the creatures are just artefacts: where the bodies are mummies. These living statues, with their strict hieratism, somewhere between Giacometti and Chinese tombs, are petrified under our own eyes. And they merge into the marble of the mausoleum through the cannibal metonymy which converts the performance into an endless work of mourning (Freud’s Trauerarbeit). Mass Murder Then, as usual, the metonymy tends towards the metaphor. This is not an ordinary death. This is a death in file, in line, in order, with its historical references to the Western industry of mass murder. It might be a blasphemy (but history is not a religion) to connect these chic shows with

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terror camps. Yet this is the venenous core of this metaworld, which follows Horkheimer and Adorno to link abstract rationality with bureaucratic criminality44, in other words, to link Beecroft with Auschwitz.

Notes 1. Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975. 2. Sigmund Freud, Fragment d’une analyse d’hystérie (Dora), (Bruchstück einer Hysterieanalyse, 1905), Cinq Psychanalyses, French translat. by M. Bonaparte et R. Loewenstein (1954), Paris 1981, pp. 1–91. 3. G. Deleuze et F. Guattari, L’Anti-Œdipe. Capitalisme et Schizophrénie (1972/73), Paris 1995, pp. 66–67, pp. 132–134, etc. 4. Ibid., pp. 101–102. 5. Freud [Note 2], pp. 7–41. 6. G. Wearing, Trauma, video (2000), colour (ca. 26 mn.). 7. Sigmund Freud, Au-delà du principe de plaisir (Jenseits des Lustprinzips, 1920), Essais de psychanalyse, French translat. by S. Jankélévitch, Paris 1968, pp. 13–15. 8. Jacques Lacan, L’inconscient et la répétition, Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (Séminaire, XI, 1964), Paris 1990, pp. 46–47. 9. Sigmund Freud, Un enfant est battu (Ein Kind wird geschlagen, 1919, G. W. XII), Névrose, psychose et perversion, J. Laplanche ed. (1973), Paris 1990, pp. 219–243. 10. Ibid., pp. 225–226. 11. The notion goes back to the very premises of Freud’s analysis, much before the article on the subject (1909): see Freud’s letter to Fliess, 20.6.1898, La naissance de la psychanalyse (1956; Aus den Anfängen der Psychoanalyse), n° 91, Paris 1996, pp. 227–228. 12. On the use of masks, see G. Wearing in her interview with D. de Salvo: R. Ferguson, D. de Salvo, J. Slyce, Gillian Wearing, London 1999, pp. 16–19. See also R. Ferguson, Show your emotions, ibid., pp. 36–39. 13. On Trauma, cf. J.-Chr. Royoux, Gillian Wearing: Violent Emotions are the Heart of the Matter, pp. 48–54, Gillian Wearing under Influence, exhibition catalogue, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris 2001, pp. 36–39. 14. Sigmund Freud, Psychopathologie de la vie quotidienne (Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1901), French translat. by D. Messier, IV, Paris 1997, pp. 96–108. 15. Jacques Lacan speaks of the “abstract, heroic, unique phallus” (le phallus abstrait, héroïque, unique) which rules Dora’s desire of the father [Note 8], p. 47. 16. See F. Bonami, Sliding ………. S. Sam Taylor-Wood’s invention of the dialogue, Parkett, nr. 55, 1999, pp. 132–134. 17. Hysteria, video, colour, 1997 (ca. 8 mn.). 18. See the Studien über Hysterie (1895), which are of course the cornerstones of the analytic construction. 19. This iconography was published by G. Didi-Huberman, L’invention de l’hystérie. Charcot et l’iconographie photographique de la Salpêtrière, Paris 1982. 20. See the character heads in the Österreichische Galerie Belvedere, Vienna. 21. E. Bronfen, Sustaining the Antagonism. Sam Taylor-Wood’s Five Revolutionary Seconds, Parkett, nr. 55, 1999, pp. 112–119.

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22. G. Deleuze et F. Guattari, Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris 1980, pp. 189–190. 23. Lacan [Note 8], pp. 58–62. 24. Sigmund Freud, L’inquiétante étrangeté et autres essais (Das Unheimliche, 1919), French translat. by B. Féron (1985), Paris 1998, pp. 214–215. 25. E. Lajer-Burcharth, The Soliloquious Vision, Parkett, nr. 55, 1999, pp. 139–145. 26. R. Descartes, Traité des passions, 1649. Charles Le Brun gave the artistic vision of the Treaty in his Conférences on L’Expression des passions held at the Académie Royale in 1668 throughout the following years. 27. M. Foucault, Folie et Déraison. Histoire de la folie à l’âge classique (1961), Paris 1989, pp. 56–91. 28. Foucault’s interpretation of Descartes has been questioned by J. Derrida, “Cogito et Histoire de la folie”, L’Ecriture et la Différence (1967), Paris 1979, pp. 51–97, followed by Foucault’s various answers. This famous discussion concerned the status of madness in Descartes’ text (in or out of the cogito). 29. Freud [Note 7], pp. 13–15. 30. G. Wearing cf. Note 13: see the previous section. 31. G. Deleuze et F. Guattari [Note 3], pp. 185–204. 32. Ibid., pp. 191–192. 33. V. Beecroft, Performance VB45, Kunsthalle, Vienna, 2001. 34. V. Beecroft, I prefer nudity. Interview by Munro Galloway, Art Press nr. 265, February 2001, p. 27. 35. S. Benning, Flat is beautiful, video, black and white, 1998. 36. V. Beecroft, VB39. Performance with the US Navy Sailors, Museum of Contemporary Art, San Diego, 1999; VB42. The Silent Service, Intrepid, New York, 2000. 37. Sigmund Freud, Le Fétichisme (Fetischismus, 1927, G. W. XIV), La vie sexuelle, J. Laplanche ed. (1969), Paris 1992, pp. 135–136. 38. Ibid., pp. 134–135. 39. Ibid., p. 134. On the concept of Verleugnung, cf. Sigmund Freud, Quelques conséquences psychiques de la différence anatomique entre les sexes (Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds, 1925, G. W. XIV), ibid., p. 127. 40. Sigmund Freud, Le clivage du moi dans le processus de défense (Die Ichspaltung im Abwehrvorgang, 1938/40, G. W. XVII), Résultats, idées, problèmes, II (1921 – 1938), J. Laplanche ed. (1985), Paris 1992, pp. 283–286. 41. R. Jakobson, Deux aspects du langage et deux types d’aphasie, in: Essais de Linguistique générale (Fundamentals of Language, 1956), N. Ruwet ed. (1963), Paris 1970, pp. 61–67. 42. G. Debord, La Société du Spectacle (1967), 219, Paris 1992, pp. 207–208. 43. At least in the first versions of Sigmund Freud, L’interprétation des rêves (Die Traumdeutung, 1899, G. W. II – III), French translat. by I. Meyerson (1926) rev. by D. Berger (1967), Paris 1987, pp. 5–6. 44. M. Horkheimer and T. W. Adorno, Juliette ou Raison et Morale, La dialectique de la raison. Fragments philosophiques (Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1944), French translat. by E. Kaufholz (1974), Paris 1987, pp. 93–97 et pp. 126–127.

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Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino An einem langweiligen Nachmittag – die Erwachsenen gehen nach einem üppigen Mahl träge der Unterhaltung nach – versucht die kleine Tochter des Hauses die Anwesenden aus ihrer Lethargie zu reißen und zum Spielen zu verführen. Sie ersinnt Wünsche, die wir erfüllen sollen. Wünsche, die ihrer Natur nach so ausgewählt sind, dass sie die Phantasie anregen und beleben ohne zu lästigen Aktivitäten zu verpflichten: „Schenkst Du mir ein blaues Kleid mit hunderttausend Taschen?“ „Natürlich, natürlich, sowie ein solches Kleid gefunden sein wird…“ Die Wünsche werden immer bizarrer und die Eltern ergreifen erzieherische Maßnahmen, um sich vor den Gästen mit dem ungebärdigen Kind nicht zu blamieren. Das Spiel wird beendet mit der strikten Weigerung, den letzten Wunsch zur Kenntnis zu nehmen. Das Kind weiß, dass es jetzt ernst wird, dass die Eltern das Spiel beendet sehen wollen. Nach kurzem Zögern die hinterhältige Rückfrage: „Und wenn ich weine…?“ – sie wird mit einem amüsierten Auflachen der Tischgesellschaft quittiert. Was mich am Verhalten des Kindes fasziniert hatte, war die intuitive Verbindung zweier Situationen: Langeweile und Tränenausbruch als ein sie aufhebendes Motiv der Dramatisierung. Man könnte auch sagen, dass hier Tränen als Unterhaltung, als Entspannung einer als lastend empfundenen Langeweile vorgestellt wurden. Nicht zufällig sagt man im Französischen angesichts künstlich angezettelter Gefühlausbrüche: Fais pas – du cinéma! In der Anekdote wird bereits deutlich, dass der Tränenfluss nicht an sich bedeutsam ist, sondern nur im Rahmen eines Ausdruckssystems, dass er also in einen kommunikativen Kontext eingebettet ist. Gerade im Manipulierungsversuch, im Spiel mit der Künstlichkeit und Inszenierung, erfährt das Kind die Allmacht, im eigenen Ausdruck den der anderen affizieren zu können: Der Tränenfluss wird gewiss als Zeichen von äußerem oder innerem Schmerz gelesen werden und die Anwesen-

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den nicht ungerührt lassen. Die Semantik der Tränen wird erprobt. Aber auch die frühen Autonomieerfahrungen werden hier noch einmal bestätigt, dass die somatischen Vorgänge im und am Körper von anderen zwar nachvollziehbar, aber nicht zu übernehmen sind: Schlafen, Weinen, Lachen, Schlucken und Beißen ebenso wie Sprechen und das Ablassen anderer Luftblasen oder Körperstoffe sind wie auch das Träumen in der Autonomie der Person eingelassen – es gibt zwar chemische, mechanische und psychische Techniken zur Erzwingung, aber sie lassen sich nicht durch andere vertreten. Eine fremde Person wird nicht meine Träume träumen oder für mich verdauen können, sie wird nicht meine Tränen vergießen und auch nicht in mein Lachen ausbrechen oder für mich einschlafen können. Gerade die Unverfügbarkeit dieser Ereignisse macht sie so attraktiv als Zeichen von Autonomie und verweist eben darin auf die Paradoxie, dass ich gerade da ganz bei mir bin, wo ich völlig außer mir bin: in der Erschütterung. Das macht die Erschütterung zu einem Modus der Selbsterfahrung, die einer ästhetischen Erfahrung nahe steht. Im völligen Zusammenfall praktischer Bezüge wird gleichsam alle Kraft zur Semantisierung der Welt auf den körperlichen Ausdruck zurückgebogen. In den nachgelassenen Notizen zu den Theorien über den Ursprung der Kunst schreibt Adorno: „Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild. Was später Subjektivität heißt, sich befreiend von der blinden Angst des Schauers, ist zugleich dessen eigene Entfaltung; nichts ist Leben am Subjekt, als dass es erschauert, Reaktion auf den totalen Bann, die ihn transzendiert. Bewusstsein ohne Schauer ist das verdinglichte. Jener, darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bildet die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich untertan zu machen.“1

Von der Formulierung „die Gänsehaut – das erste ästhetische Bild“ ausgehend möchte ich im Folgenden eine Skizze zur Erschütterung und Rührung als einer Erfahrung im Kino entwerfen. Das Kino gilt seit seiner Entstehung als affektives Medium, das zu besonders heftigen Erschütterungen führt, die den Zuschauer somatisch affizieren: Angst und Wut, somatische, oft unwillkürliche Reaktionen wie Lachen und Weinen sind zwar keine exklusiven, aber doch privilegierte Zonen des Kinos – ganz zu schweigen vom Thrill(er) der Gänsehaut. Und Brecht meinte es ganz ernst und zu Recht, wenn er verfügte, dass für den Entgelt an der Kasse ein jeder Kinobesucher das Recht habe, an seine niedrigsten Instinkte appellieren zu lassen. Die Bereitschaft, ins Kino zu gehen, korrespondiert dem dort anzutreffen-

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den Affektausdruck. Das oft am Kino geschmähte ‚Primitive‘ als sein Vermögen, Affekt auszulösen, erscheint mir dabei als sein besonderer Reiz jenseits der Unterscheidung in Unterhaltung und Kunst. Dass man im Kino leicht, wie ein Kritiker meinte, ‚unter Niveau weint,‘ scheint davon auszugehen, dass die Anlässe, aus denen mich die filmischen Erzählungen weinen lassen, nichtswürdig sind, ich also aus falschen Gründen zu weinen begonnen habe. Dagegen möchte ich halten, dass Weinen als Affektausdruck nicht ausschließlich rational oder moralisch begründet sein muss. Die pragmatische Maxime: ich weine nicht, weil ich erschüttert bin, sondern ich bin erschüttert, weil ich weine, ließe sich dagegen stark machen. Richard Wollheim hat jüngst in seinem Buch über Emotionen diese These von William James gründlich revidiert.2 Mir erscheint sie aber in einem anekdotischen Sinne hier plausibel zu sein. Denn bei der Erschütterung im ‚gewöhnlichen‘ Kino geht es ja möglicherweise gerade um die Erfahrung der körperlichen Sensation, also weniger um den komplexen Aufbau einer Emotion, sondern um die Entladung, Entspannung im Somatischen. Ich stütze mich dabei auf Helmuth Plessners Studie zu Lachen und Weinen. Die folgende Passage bezieht sich zwar auf das Lachen, aber Plessner analysiert hier ein Körperverhältnis, das auch im Weinen eintritt: „Mit dieser Kapitulation als leibseelisch-geistige Einheit behauptet er sich als Person. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort; nicht mehr als Instrument für Handeln, Sprechen, Gesten, Gebärden, sondern in direktem Gegenstoß. Im Verlust der Herrschaft über ihn, in der Desorganisation bezeugt der Mensch noch Souveränität in einer unmöglichen Lage. Er zerbricht an ihr als geordnete Einheit von Geist, Seele, Leib, aber dieses Zerbrechen ist die letzte Karte, die er ausspielt. Indem er unter sein Niveau beherrschter oder wenigstens geformter Körperlichkeit sinkt, demonstriert er gerade seine Menschlichkeit: da noch fertig werden zu können, wo sich nichts mehr anfangen lässt.“3

Damit möchte ich aber keineswegs den Gedanken zurückweisen, dass Emotionen kognitive Aspekte haben, dass es also sehr wohl möglich ist, Emotionen als begründete Urteile anzusehen und folglich auch über ihre Angemessenheit oder ihr Ungerechtfertigtsein zu streiten. Moralische Gefühle, die im Melodrama so stark in Erscheinung treten, lassen sich aus diesen kognitiven Kontexten kaum herauslösen – und Peter Brooks hat in seiner bahnbrechenden Studie zum Melodrama zu Recht vom Motiv des in ihm wirkmächtigen ‚moral occult‘ gesprochen, das sich als opakes und im pastosen Auftrag des Melodramatischen bedeutungskonstitutives Aderwerk erweist und als heimlicher Leitfaden des

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Melodramas fungiert.4 Emotionen wie Besorgtsein, Mitleid, Neugier, Eifersucht, Gekränktsein lassen sich nicht ohne starke Werturteile und andere kontextuelle Rahmungen analysieren. Mir geht es aber hier um das Phänomen des Weinens im Kino – und das wiederum als Körperausdruck. Die Frage, die ich mir stelle, ist also nicht: wie sind die Anlässe unseres Weinens im Allgemeinen zu verstehen, welche Emotionen korrespondieren ihm, – sondern warum im Kino (und anderen populären Unterhaltungsformen) Emotionen so fokussiert werden, dass wir zum Weinen gebracht werden. Also warum Filme uns so oft zum Weinen bringen und ob es spezifische Emotionen sind, die ihnen anhängen? Insoweit die Anlässe des Weinens einer Fiktion entspringen, wird sich die Reichweite der Erschütterung, das Aussetzen der lebenspraktischen Bezüge, einschränken auf die Dauer der Fiktion und die Erinnerung an sie, ohne einen direkten praktischen Bezug auf mein Leben zu haben. Wenn ich, erschüttert vom Tod einer fiktiven Person, zu schluchzen beginne, werde ich vielleicht in eine ähnliche Stimmung versetzt werden, wenn ich an den Film zurückdenke, aber ich werde nicht über den Verlust der Person in Trauer verfallen. Im Gegenteil erlaubt ja gerade das Spiel die Wiederholung. Die verlorene Person kann ich also als Fiktion wieder auferstehen lassen und bis zu ihrem spielerischen Ende aktivieren. Der Wiederholungscharakter des Spiels versichert mir ja gerade, dass ich immer wieder erschüttert werden kann. So wie eine gelungene Komödie nicht nur einmal zum Lachen bringt, ein guter Witz nicht nur einmal erzählt werden kann, sondern strukturell wie in einem Laborversuch wiederholbar sein muss in der Affektauslösung, so wird auch der rührende Film, das Melodrama oder ein verwandtes Genre, Tränen hervorbringen, auch wenn die Peripetie, die überraschende Wende zum Unglück, zu Tod und Katastrophe erwartbar eintritt. Hingegen werde ich nicht jedes Mal, nach zwanzig Jahren noch, in Tränen ausbrechen, wenn ich an einen von mir geliebten Toten denke. Während ich eine konstante Beziehung zu einem bloß vorgestellten Objekt haben kann, historisieren sich die Beziehungen zu realen Objekten. Insofern Fiktionen, Vorstellungen und Fantasien in materialen Objekten sich vergegenständlichen, unterliegen sie ebenfalls der Historisierung. Der Film, der mich vor Jahren erschütterte – oder als Kind z. B. – kann mich heute gleichgültig lassen. Dann habe ich mich verändert, aber nicht das Objekt. Im Falle menschlicher Objekte hat sich hingegen auch dieses verändert. Wollheim führt für das Zeitlichkeitsproblem von Wünschen die Debatte über den Fall eines Mannes an, dessen Liebe zurückgewiesen wurde – nach fünfzig Jahren aber

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kann er die Jugendliebe nach einer zufälligen Begegnung doch noch gewinnen. Dennoch, so Wollheim, würden wir nicht unbedingt sagen, dass damit der Wunsch von damals in Erfüllung gegangen ist, da z. B. das sexuelle Begehren im damaligen Wunsch unter den veränderten Bedingungen nicht mehr so erfüllbar ist, wie es einmal ersehnt worden war. Die Emotion ist nicht mehr dieselbe. Mir scheint das Problem von Zeitlichkeit und Dauer auf eine Rahmung zu verweisen, innerhalb derer die Erschütterungen des populären Films ihre Grenzen finden. In einer großartigen Parodie hat Charles Chaplin auf die Zeitlichkeit dieser Art der Rührung zu Tränen hingewiesen, auf den kalten, instrumentellen Charakter einer jeden Spielanordnung, deren Verfallsdatum mit der Zeitdauer der Ausführung präzise zusammenfällt. In A Dog’s Life (USA 1918) spielt Chaplin (Abb. 1) die gewohnte Figur des Tramp, der sich mit einem kleinen, ihm zugelaufenen Hund in ein Variété begibt, gerade als eine Girltruppe ihren Auftritt beendet und einer Sängerin Platz macht, die ein „altes Lied“ singt.

Abb. 1: Charlie Chaplin, A Dog’s Life, USA 1918

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Gerührt von der wehmütigen Melodie und dem Auftreten der Sängerin beginnt das ganze Lokal nach und nach zu weinen, zu schluchzen, zu heulen, dass die Tränen in Sturzbächen zu Boden fließen. Chaplin bleibt zuerst ungerührt und übernimmt den neugierig taxierenden Blick der Kamera auf die Gefühlausbrüche rings um ihn her. Einer der Musiker, neben dem er sitzt, zieht insbesonders seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieser hat einen Gesichtsschnitt, der das lachende und das weinende Gesicht in einer Maske verbindet. In einer komischen Interaktion lacht nun Chaplin dem weinenden ins Gesicht, wodurch dieser in Wut gerät. Man könnte sagen, dass Chaplin in seinem Film A Dog’s Life sowohl das Mechanische der unwillentlich erzeugten Rührung wie auch das Moment des Aussetzens der realen Welt in der Erschütterung mit dem stoischen Blick eines kritischen Beobachters inszeniert. Dabei baut er aber seine Hommage an das Sentimentalische des Kinos mit ein, wenn er selbst schließlich zum Mann, der weint, mutiert – angesteckt vom Tränenausbruch um ihn herum. Chaplin als Regisseur setzt hier aber nicht nur im Medium des sentimentalen Liedes das Publikum selbst über sich ins Bild, er enthüllt auch als Komiker den Affekttransfer im Mimetischen. Der mimetische Impuls erweist sich hier als stärker gegenüber den semantischen Kontextbedingungen des „alten Liedes“, das gesungen wird, um zu rühren: der Mann, dessen Gesichtszüge keine mimetische Differenz zwischen dem zum Lachen und zum Weinen verzerrten Gesicht erlauben, wird von Chaplin gerade aufgrund seiner Unlesbarkeit zum epistemischen Objekt der Beobachtung, das den mimetischen Zwang der Ansteckung bricht. In der Negation durch die unleserliche Gesichtsmaske bestätigt Chaplin die Großaufnahme des Gesichts im Film als den zentralen Affektausdruck. Eine ästhetische Intuition, die bis zu Deleuzes These von der Großaufnahme als Affektbild ins Zentrum der Filmtheorie gerückt ist. Ich möchte dabei hervorheben, dass ich von einer These ausgehe, die mir zu erhellen scheint, warum das illusionsästhetische Kino so nahe am Wasser bauen kann, aber natürlich nicht muss – man denke nur an den abstrakten oder den strukturellen Film. Meine These ist, dass es aus dem mimetischen Vermögen des Bewegungsbildes als Ausdruckssystem rührt. Der komplexe Transfer von repräsentierten zu erlebten Affekten setzt bestimmte visuelle Strategien voraus, die Noel Carroll in einem Kapitel über „Mass Art and Emotions“ wesentlich durch zwei Aspekte erläutert.5 Carroll schließt sich der Theorie von der Großaufnahme des Gesichts als zentraler Instanz mimetischer Affektübertra-

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gung an – und radikalisiert das Argument unter Bezug auf die universelle, anthropologisch verankerte Lesbarkeit des Gesichtsausdrucks, wie sie prominent etwa Paul Ekman vertritt. Mass art ist für den größtmöglichen Markt produziert und insofern adressiert sie sich an ein Publikum mit denjenigen kommunikativen Mitteln, die von möglichst vielen verstanden werden können. Ob die radikale Universalisierung, die von Ekman vorgenommen wird, haltbar ist, muss hier nicht beunruhigen, denn das von Carroll aufgemachte Argument ließe sich auch anwenden, wenn man Mass art als globalisierte kulturelle, symbolische Form begreifen würde, die mehr oder weniger freiwillige Lernprozesse nach sich zöge. Tatsache ist, dass z. B. Soaps à la Dallas, amerikanische ebenso wie japanische Filmmelodramen der 40er und 50er Jahre weltweit als „tearjerker“ funktionieren. Das zweite Argument, das Carroll aufmacht, ist eine spezifische filmische Inszenierungsstrategie: den sogenannten point-of-view-shot, der zu Montageeinheiten führt, die Blicke von Personen aufeinander und auf Objekte beziehen können. In einem ganz technisch-formalen Sinne werden die Zuschauer also beständig dazu gebracht, mit den Augen eines Anderen zu sehen und zu sehen, wie die Protagonisten sich wechselseitig sehen. Durch diese Subjektivierungsstrategie werden komplexere Gefühle von Figuren zueinander dem Zuschauer nahe gebracht. Der point-of-view-shot ermächtigt den Zuschauer, die Subjektivierung von Figuren nachzuvollziehen. Mit der Kamera setzt sich der Zuschauer an die Stelle einer Figur und kann so deren emotionale Situation nachvollziehen. Film, so möchte ich aus Carrolls Betonung der beiden visuellen Strategien des Films heraus festhalten, bietet also in besonderer Weise die Möglichkeit, menschliche Face-to-Face-Kommunikation zu evozieren und bietet sich von seinen visuellen strategischen Möglichkeiten her als ein Medium des Affekttransfers an. Das lässt sich an einem weiteren Beispiel aus der Stummfilmzeit erläutern. An der Schwelle zum Tonfilm, 1928, entsteht King Vidors Film The Crowd (USA 1928), in dem der prototypische Weg eines ‚ordinary man‘ aus der Provinz, – der Stolz seiner Eltern: „Du wirst noch einmal amerikanischer Präsident werden“ – zum kleinen Angestellten, Arbeitslosen, Familienvater, Glückssucher wie Millionen Anderer in der großen Stadt nachgezeichnet wird. Als er seine Arbeit verliert, drauf und dran ist, auch seine Frau zu verlieren, überkommt ihn der Gedanke an Selbstmord, vor dem er dann doch zurückschreckt und statt dessen die Liebe zu seinem Sohn aufs Neue bekräftigt. Die rührende Szene

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zwischen Selbstmord und fragenden Kinderaugen gehört zu den Rührstücken der Kinos und ist generisch bis in den italienischen Neorealismus, de Sicas Ladri di biciclette geworden. An dieser Sequenz des verhinderten Selbstmords lässt sich die Montage aus Großaufnahme und point-of-view-shots gut nachvollziehen – und wohl auch die dadurch hervorgelockte Rührung, die in dieser montierten Szene mimetisch auf uns übertragen wird, ohne dass wir uns nennenswert den aufsteigenden Tränen entziehen könnten. Zu den kognitiven und moralischen Gründen, warum wir in der dargestellten Situation weinen, gehört sicher die Figurenkonstellation von Vater und Sohn. Das Kind, in dessen großen runden Augen der Vater neu- und wiedergeschaffen wird als die liebende und geliebte Autorität, an der das Leben des Kindes hängt – entlockt uns die Tränen der Väter und Söhne, die die point-of-view Montage und die Affektbilder der Großaufnahmen als wiedervereintes Liebespaar evoziert, indem sich die auseinander geglittenen Blickachsen wieder treffen. Während der Vater den Blick geradeaus gerichtet hat, blickt der kleine Sohn von der Seite von unten nach oben, um den väterlichen Blick zu erhaschen – und es ist das verzweifelte Mienenspiel des Kindes, das die Überwältigung in der finalen Figur der Umarmung von Vater und Sohn vorbereitet. Filme sind trotz ihrer Allgemeinverständlichkeit komplexe Gebilde, die nicht einfach zu erklären sind. Somatische Affizierung stellen sie über mimetische Einführung her. Das war die erste These zur Erschütterungsmacht des Kinos. Sie bezog sich auf die Beziehung von Zuschauer und Filmbild als einer para-Face-to-face-Beziehung. Es ist aber unübersehbar, dass das populäre Kino nicht nur ein Affekt adressierendes, sondern auch ein erzählendes Kino ist. D. h. der Affektausdruck des Bildes ist eingebettet in die Kausalität einer evozierten Erzählung und sowohl visuell wie auch narrativ fokussiert. Die Geschichte, die ein Film erzählen möchte, kann er ganz unterschiedlich erzählen und das heißt, dass die Affektbilder ebenso die Erzählung fokussieren wie diese sie. Gerade in Genres wie dem Melodrama, deren Telos die Rührung und Erschütterung ist, macht sich dies bemerkbar. Die Komplexität der Handlung bereitet die Peripetie vor, die dann den Tränenausbruch mit sich bringt. Das Weinen kündigt immer auch ein Ende einer Handlung an, oft ist es Begleitung der narrativen Schließung. Indem es sich der Schließung ergibt, scheint in ihm noch einmal das Problem der Zeit auf. Plessner betrachtet das Weinen als Antwort auf eine Situation, in der es keine Antworten gibt.

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Das filmische Melodrama bringt uns zum Weinen, weil es uns von einem moralischen Konflikt erzählt hat, auf den es keine Antwort gibt. Die Ohnmacht, die daraus resultiert, dass die möglichen Handlungen falsch wären, erfahren wir als so erschütternden Zusammenbruch, dass wir darauf mit Weinen antworten. Auffallend am Melodrama ist, dass das erzählte moralische Dilemma oft wenig überzeugend ist. Entweder teilen wir aus kognitiven oder aber aus historischen Gründen die moralischen Überzeugungen, die ins Dilemma führen, nicht mehr. Warum weinen wir also über Ausweglosigkeiten, die für uns gar keine sind? Die erste Antwort ließe sich aus der ersten These gewinnen – wir weinen, weil die Affektbilder universell auf uns wirken, diese selber Gründe sind, die wir zum Weinen haben. Ich denke aber, dass es noch weitere Gründe für die Ahistorizität gibt, mit der diese Wirkung eintritt. Einen solch anderen Grund sehe ich in der Thematisierung des Endes selbst. Einmal in dem Sinne wie es Plessner ausführt: „Im tragischen Konflikt zeigt sich in dem Maße, in welchem das Schicksal oder sein Dichter auf Bösewichter, Zusammenstöße mit Moralanschauungen und eine zu einfache Weltordnung verzichtet, die Endlichkeit als Grundbedingung unserer Existenz. Aber sie kann sich auch konfliktlos zeigen, in allen Weisen gefühlsmäßigen Innewerdens der Vergänglichkeit. Den Heutigen gehört freilich der Weltschmerz einer abgelebten Epoche an. Sie ertragen keine Gefühle mit universalem Anspruch, wie ihnen jede Gefühlsäußerung peinlich ist. Und doch ist keinem das Gefühl des Vorbei, des Nie-Wieder fremd, auch wenn es sich zum romantischen Fernweh nicht steigern will. Die Schwer- und Wehmut der entschwundenen Jugend bleibt auch dem Nüchternsten nicht erspart. Es hat wenig Sinn, darüber zu streiten, ob dieses Gefühl oder der tragische Zugang zur Macht des Schicksals die Begegnung mit der Endlichkeit reiner und objektiver ermöglicht. Unmittelbar durchstimmende Angesprochenheit von Endgültigkeit und Unabwendbarkeit ist beiden gemeinsam.“6

Das Ende von Max Ophüls’ 1939 in Frankreich gedrehtem Melodrama Sans Lendemain (Frankreich 1939, dt. Titel Es gibt kein Morgen) lässt sich hier als plastisches Beispiel anführen (Abb. 2). Die komplizierte Handlung entspricht allen Ansprüchen des Genres: Missgeschicke im Sozialen und Missverständnisse in den Intimbeziehungen verknoten sich zum Dilemma, auf das wir mit Weinen antworten. Im vorliegenden Fall ist die morality tale so stereotyp und dagegen das Mienenspiel von Edwige Feuillère, die die Hauptrolle gespielt, so differenziert, dass wir trotz des narrativen Schlamassels fasziniert sind. Am Ende ein negatives Wintermärchen, das Shakespeares Stück umdreht: der endlich wieder gefundene Geliebte der Jugend wird noch einmal und endgültig verlassen. Die Frau, die als Schönheitstänzerin

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Abb. 2: Max Ophüls, Sans Lendemain, Frankreich 1939

die Allegorie des Winters darstellt als Statue eines lebenden Bildes, erwacht kurzfristig wieder zum Leben, um sich dann umzubringen, nachdem sie den geliebten Sohn dem geliebten Mann in eine sichere soziale Zukunft gegeben hat. Während der Zug die beiden aufgegebenen Objekte zum Überseedampfer bringt, ein verständnisvoller Freund vergeblich versucht, telefonischen Kontakt zum Schiff herzustellen, um den gordischen Knoten aus Stolz, Opfertum und Verzweiflung zu durchschlagen, geht die Frau in den Tod. Die letzte Sequenz setzt nach der Verabschiedung am Bahnhof ein und endet mit dem Tod. Wenn der Zug an- und abfährt, wird die ihm nachwinkende Frau in einer Großaufnahme gezeigt, die sie von einem Hintergrund abhebt, der ganz ins Schwarze zu versinken scheint. So wird bereits durch die optische Isolation der Figur das Gesicht vom Handlungsraum getrennt und als reine Affektfläche freigesetzt. Dieser Vorgang wiederholt sich auch vor dem eigentlichen Selbstmord, wenn mit träumerischem Gesichtsausdruck, den Blick ins Imaginäre gerichtet, der Satz gesprochen

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wird: „Im Nebel verschwinden wäre schön“. Der Film selbst gilt noch nicht einmal als Ophüls’ stärkstes Melodrama – und dennoch wird hier bereits deutlich, dass die emotionale Emphase nicht auf den kognitiven Gründen einer kausalen Narration liegt. Noch einmal Plessner: „Nicht immer entspricht das Weinen einer Läuterung, nicht immer einer Lösung. Das Gefühl der Ohnmacht kann sich am Ende eines vergeblichen Kampfes und durch schmerzvolles Getroffensein einstellen, es kann in den Peripetien und Begegnungen mit Unvergleichlichem und Endgültigem Ausdruck einer beglückenden Selbstaufgabe vor dem Überwältigenden sein. […] Entscheidend ist allein das Übermanntsein als Ergriffenheit im Ganzen, der sich der Mensch ohne Vorbehalt ausliefert, so dass er nicht mehr in Distanz zu antworten vermag. Die Haltung verlieren heißt hier jedoch das Verhältnis zur Welt und sich so aus der Hand geben, dass der Verlust noch im Ausdruck sichtbar wird.“7

Das bei Ophüls im Film artikulierte Motiv der Selbstaufgabe, ‚im Nebel verschwinden wäre schön‘, zeugt ja selbst von einem Wunsch, der erfüllt wird – dem Wunsch, zu zergehen. Und das führt mich abschließend wieder zurück auf meine Frage nach den somatischen Rahmungen von Rührung und Erschütterung. Physiologisch wird das Weinen dem vegetativen Nervensystem zugeschrieben: die Muskeln werden entspannt und erschlaffen, während bestimmte Drüsen hyperaktiv werden, und wenn im Schluchzen der Atmungsapparat tangiert wird, können konvulsivische Zuckungen auftreten. Im Kino aber erleben wir meist den Erschlaffungseffekt des Weichwerdens und Nachgebens und der Freisetzung ins Strömen der Tränen. Könnte man am Ende sagen: Wir weinen demnach im Kino nicht, weil dort so traurige Geschichten erzählt werden, sondern wir lassen uns traurige Geschichten erzählen, weil wir weinende Wesen sind? „Im Kino gewesen – geweint“, notiert der notorische Kinogeher Franz Kafka in seinem Tagebuch.8 Im Kino gewinnt das Weinen ästhetische Autonomie – Weinen um des Weinens willen. Das kleine Mädchen, das mit Weinen andere rühren möchte, Kafka, der im Kino weint, Tränen der Väter und Söhne, der Frauen und Mütter: gibt es ein Geschlecht der Tränen? Sicherlich lässt sich in einer Kulturgeschichte der Tränen diese Frage beantworten, indem die impliziten Regeln geschlechtsspezifischer Verhaltensregeln expliziert werden und deren Ikonographie entfaltet wird. Obwohl also in der Regel das Weinen bestimmten Genres zugeordnet wird, die sich unterschiedlicher Präferenzen erfreuen, erscheint mir diese Frage nicht sonderlich ergiebig. Wir werden wenig mehr über Frauen und Männer erfahren,

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als was wir nicht schon wüssten. Mich interessiert daher mehr, wie sich der Film selbst die Kraft der Rührung zuschreibt von Chaplin bis Kafka: nicht ich, das Kino weint. Tanja Modleski hat in diesen impliziten Diskursen eine Art Feminisierung der Massenmedien gesehen, die uns verführen, übermannen und uns dazu bringen, uns gehen zu lassen. Der Affekt gegen das Affektive des Kinos wäre dann die Panik vor der Weiblichkeit. Obwohl das Kino viel an weinenden Männern zu bieten hat, gilt wiederum die männliche Träne als besonders exquisit. So schreibt der französische Filmkritiker Serge Daney: „Une fois, j’ai vu un homme pleurer dans un film. Une fois seulement, et je dis bien pleurer.“9 Und er beschließt die Schilderung dieser Szene aus Carl Theodor Dreyers Film Gertrud (Dänemark 1964) mit den Worten: „C’est un grand moment du cinéma.“10 Gilles Deleuze wiederum verknüpft in seiner Einleitung zu Daneys Essays die Konstatierung des ‚Einmaligen‘ mit dem Hinweis auf das Kino als den Ort der Aufbewahrung und Konservierung – und zwar nicht der Gegenstände, sondern der Bilder.11 Das konservierte und aufgehobene Bild der männlichen Träne wird so zur Ikone des Kinos, das den Fluss der Träne, ihren liquiden und temporären Charakter, in jene Zeit des Kinos holt, die dauert und besteht. Die männliche Träne im Kinobild ist also ein Zeichen seiner eigenen Unsterblichkeit. Und so könnte man in einem weiteren Rückgriff auf das bereits von Plessner Zitierte schließen, dass das Bild der Träne der Vergänglichkeit, über der sie vergossen wird, Dauer verleiht. Es gehört zur paradoxen Ästhetik des Kinos wie der Affekt in uns, den es momentan und temporär in unserem Weinen auslöst. Ich möchte mit einem filmischen ironischen Kommentar männlicher Selbstinszenierung schließen, der die Träne vor allem als Zeichen eines exquisiten Selbstgefühls gilt. In Mervin LeRoys Quo Vadis (USA 1951) ist es bekanntlich Peter Ustinov, der dort den Nero als exzentrischen Ästhetizisten spielt, der sich an sich selbst erbaut. Wie der Kinozuschauer ergötzt er sich an jenen Inszenierungen der Grausamkeit, die ihn affektiv erregen, und er konserviert die Tränen, die er vergießt als Reliquien schöner Seelenregungen, die ihm gleichwohl von Außen zustoßen.

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Anmerkungen 1. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, jetzt in: Gesammelte Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1997, 489 f. 2. Richard Wollheim, Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle, München 200, 148– 159. Die Amerikanische Originalsausgabe, New Haven/New York 1999, geht auf die Ernst Cassirer Lectures von 1991 zurück. 3. Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt a. M. 1970, 153. 4. Peter Brooks, The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, London 1976. 5. Noel Carroll, A Philosophy of Mass Art, Oxford University Press, New York 1998, S. 245–290. 6. Plessner [Anm. 3], 147 f. 7. Plessner [Anm. 3], 148. 8. Franz Kafka, Tagebücher, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, 204. 9. Serge Daney, Ciné journal, Paris 1986, 181 (über Carl Theodor Dreyers Gertrud): „Ein Mal habe ich einen Mann in einem Film weinen sehen. Nur ein Mal und ich meine wirklich weinen.“ 10. „Das ist ein großer Moment des Kinos“; ebd., 182. 11. Gilles Deleuze, Préface zu Daney, in: Serge Daney [Anm. 9], 9.

Josef Früchtl

Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino Cool ist cool. Das ist keine bloße Tautologie. Es meint vielmehr, dass, was cool ist, ganz uncool ausgedrückt, gut ist. Cool ist ein positives Prädikat, eine Auszeichnung im Werteverbund unserer Kultur, unserer gegenwärtigen Kultur, und noch genauer: unserer gegenwärtigen jugendlichen Subkultur. Wenn die kids – auch so ein schwer definierbares umgangssprachliches Wort – wenn die kids also sagen, Kunstpelz sei cool, George Clooney sei cool, die neue Bar um die Ecke (Berlin, Friedrichshain), das Power-Book Titanium von Apple-Macintosh, dies und jenes sei cool, dann meinen sie zunächst ganz einfach, dass dies alles etwas sei, was man bejaht und irgendwie gut findet. Doch ist ‚Bejahung‘ ein weit gefasstes Wort, das einer Reihe spezifischer Wörter Raum gibt: ‚toll‘, ‚klasse‘, schließlich (nach einer massiven Erweiterung des Bedeutungsbereichs) ‚geil‘ und, mit einem temporalen Index versehen, ‚angesagt‘, anglizistisch: ‚in‘, also ‚modisch‘. In diesem Sinne hat Focus, das selbsternannte „moderne Nachrichtenmagazin“‚ vor einem Jahr getitelt. Die Frage: „Was ist cool?“ wurde schon auf dem Cover brav mit: ‚Was ist angesagt?‘ übersetzt. ‚Cool ist cool‘ heißt dann soviel wie ‚in sein ist in‘. ‚Cool‘ ist aber nun nicht mit einer dieser Bedeutungen oder allen zusammen identisch, obwohl jede von ihnen mit ihm verknüpft werden kann. Es assoziiert vielmehr einen eigenen Bedeutungshof. Aber welchen? Die Tautologie bringt einen zunächst methodisch auf die richtige Spur. Cool ist cool ist cool … Und ‚eine Rose ist eine Rose ist eine Rose …‘ Solche Satzschleifen deuten auf vieles, gewiss aber auf das Problem der Undefinierbarkeit und das der Selbstreferenz. Was das Definitionsproblem betrifft, so ergeht es einem mit Coolness nicht anders als Augustinus mit der Zeit und Richter Potter Stewart vom American Supreme Court mit der Pornographie: „Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe“, gibt der Richter in einer Erklärung zu Protokoll.1

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Und auf die urphilosophische Frage, was die Zeit sei, gibt Augustinus in seinen Bekenntnissen die berühmte Antwort, er wisse es, solange ihn niemand danach frage, solle er es aber erklären, wisse er es nicht. Phänomene wie die Zeit, Pornographie und Coolness (und viele mehr) erfordern offenbar eine Form des Wissens, das zwar möglicherweise mit klaren, aber nicht zwingenderweise mit deutlichen, eindeutigen Begriffen an die Sache herangeht, das zwar mit Beispielen, aber nicht mit Definitionen operiert. Denn etwas zu erkennen, indem man es sieht, heißt, es in Beispielen zu erkennen. Man weiß, was Schönheit ist, wenn jemand auf eine schöne Rose oder einen schönen Menschen zeigt; wobei gerade dieses Beispiel sich aufdrängt, denn fundamental ist das geschilderte Verfahren der Begriffsbildung speziell gerade, wie Kant gezeigt hat, für die Phänomene des Schönen und der Kunst. Um also zu klären, was Coolness bedeutet, sollte man der Methode der repräsentativen Exemplifizierung folgen. Man hat dann weder vor einem rigorosen und aseptischen Definitionsanspruch zu kapitulieren noch vor einer diffusen und konfusen Semantik. Die Tautologie, die sich in der Beschreibung von Coolness aufdrängt, ist aber auch inhaltlich bereits als ein Fingerzeig zu verstehen. Um es an dieser Stelle bei einer thesenhaften Andeutung zu belassen: Das Konzept der Coolness kreist primär in sich selbst, weitgehend abgelöst von einem Inhalt; das Wie, nicht das Was ist ihm wichtig, ähnlich wie der Kunst und der Mode. Das nötige Instrumentarium, um dieses Konzept zu konturieren, können mir vor diesem Hintergrund nicht systematisch- oder analytisch-strenge Theorien bieten. Als angemessen erweisen sich (zumindest) in diesem Falle Denker mit einem weicheren theoretischen Zuschnitt: Lionell Trilling, Walter Benjamin, Richard Rorty, vor allem aber Georg Simmel und Helmuth Plessner. Mit ihrer Hilfe werde ich zwei Thesen entwickeln: Coolness in ihrem heutigen Sinn ist erstens ein Phänomen des Stils und der Maske, das heißt speziell: sie perfektioniert das Heldentum, parodiert die Individualität und ästhetisiert die sozial-existenzielle Kälte. Und Coolness ist zweitens, eng damit verbunden, aktuell ein Phänomen, das durch mediale Zeichen und ihre Inszenierungsqualität, hier vor allem durch den Film, bestimmt ist; inszeniert wird aber auch hier nicht ein Individuum, sondern eine Rolle. Zusammengefasst und sehr vereinfacht könnte ich es schlicht auch in einer einzigen These sagen: Coolness ist ein soziales Phänomen der Ästhetik.

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Vincent und Jules Vincent und Jules fahren in einer Limousine durch Los Angeles. Es ist, wie immer in dieser Stadt, ein sonniger Tag, sie haben die Seitenfenster heruntergelassen, und der Wagen schaukelt gemächlich über die Straßen. Beide tragen sie einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und ebenso dunkler, schmaler Krawatte. Vincent erzählt Jules noch einmal von den Besonderheiten in Europa, von den Haschischbars in Amsterdam, den MacDonalds-Eigenheiten in Paris und der ekelhaften Mayonnaise auf den Pommes in Holland. Sie sind unterwegs, um einen Auftrag zu erledigen. Vincent und Jules sind Killer. Ihr Boss, Mr. Wallace, mit Vornamen Marcellus, möchte von gewissen Leuten einen gewissen Koffer zurück. Sie sind Profis, gehen ruhig zu Werke, unterhalten sich dabei über dies und das, über die Funktion von Pilotfilmen für Fernsehserien sowie die erotische Bedeutung von Fußmassagen, und wählen, der Sachlage entsprechend, die Werkzeuge, sprich: die Schießeisen aus. Da sie zu früh vor der gesuchten Wohnungstür stehen, gehen sie auf dem Flur des Mietshauses noch ein wenig spazieren, immer noch beschäftigt mit dem Thema ‚Fußmassage und Erotik‘, so unaufgeregt und sachlich, manchmal auch ein bisschen albernd, wie man eben bei einem Spaziergang oder beim Gang zur Arbeit miteinander redet. Als sich die Tür öffnet, stehen sie stumm und regungslos wie zwei Boten, die nichts Gutes verheißen, vor den so genannten ‚Geschäftspartnern‘ von Mr. Wallace, jungen Kerlen, die mit blassem Gesicht sogleich ahnen, was die Stunde geschlagen hat. Da diese gerade beim Frühstück sind, kann das Gespräch über Hamburger und Cheeseburger fortgeführt werden. Aber es ist nun ein Frage- und Antwortspiel, das Jules in unüberhörbar drohender Stimmlage durchführt und brutal steigert, als er einen der Jungs wie nebenbei erschießt und an dem, der übrig bleibt, dann ein grausames Gericht vollführt. Denn wer gefehlt hat, soll, im alttestamentlichen Geist, sagen, dass er gefehlt hat, er soll zittern an Händen und Füßen, und so richtet er feierlich seinen Revolver auf den bibbernden Jungen und streckt ihn, unterstützt von Vincent, mit mehreren Schüssen, wie in einem Duett, nieder.

Gute Bekannte Vincent und Jules sind cool. Sie stammen aus Quentin Tarantinos postmodernistischem Meisterstück Pulp Fiction (1994). Und sie sind gute

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Bekannte. Wenn sie wie zwei Vorarbeiter aus dem Leichenbestattungsgewerbe vor der Tür ihrer Opfer stehen, ist das ebenso zum Fürchten wie zum Lachen. Passierte es einem selber, ‚im wirklichen Leben‘, man würde (wieder einmal) glauben, man sei im falschen Film. Denn eben daran erinnern die beiden: an Filmfiguren. Ihre Kleidung, ihr regungsloser Gesichtsausdruck, ihre ebenso gelangweilte wie beherrschte Art, sich zu bewegen, und ihr Rezitationsrepertoire setzen eine Assoziation frei, die den Eiskalten Engel (Le Samouraï) mit den Blues Brothers verschmilzt. Denn auch die Brüder Jake und Elwood Blues zeichnen sich Ende der siebziger Jahre durch ihr schwarz-weißes Outfit aus (ergänzt allerdings durch Hüte und Sonnenbrillen), durch Lakonie und die magnetische Fähigkeit, irrwitzige Situationen zu verursachen – was wiederum an ein anderes berühmtes Pärchen der Filmgeschichte, Dick und Doof, erinnert. Zehn Jahre vorher verleiht Alain Delon dem Killer mit dem Engelsgesicht eine epiphanische Gestalt. Auch er trägt schlichte, seriöse Kleidung, sein blasses und zartes Gesicht ist nahezu unbewegt, er lächelt nie und hat todtraurige Augen. Er lebt eine Einsamkeit, wie sie größer nicht sein kann („es sei denn die des Tigers im Dschungel“), aber in einer Stilisierung und Ritualisierung, die ihn groß und vornehm in seiner Einsamkeit macht. Beides gehört hier unabdingbar zusammen: Stilisierung und Individualität, Künstlichkeit und Außergewöhnlichkeit, Fiktion und Eigensinn. Er zeige, so hat Jean-Pierre Melville als Regisseur ja auch immer wieder betont, keine realistischen, sondern fiktive Gangster.

Der Held als Schauspieler Das kann man nun auch etwas anders akzentuieren. Nicht nur spielt der Schauspieler einen Helden, sondern umgekehrt ist auch der (gespielte) Held ein Schauspieler, einer, der einer Rolle und einem Bild von sich selbst entsprechen will. Zur Definition des Helden gehört also, entgegen der von der Antike bis ins 20. Jh. hinein gültigen, moralisch konnotierten Definition: Er ist ein Darsteller, einer, der Heldentum zur Schau stellt. Das ist in einem zweifachen Sinn zu verstehen. Lionell Trilling hat ihn benannt, ohne ihn intern allerdings klar genug auseinanderzuhalten. Zu sagen, der Held sei ein Schauspieler, heißt demnach zum einen, ihn mit Aristoteles in das Reich der Kunst, hier der Kunst der Tragödie zu verweisen. „Die Griechen machten sich keinerlei Illusion über die Wirk-

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lichkeit des Helden. Das wird bei Aristoteles in seinem Vergleich der Tragödie und der Komödie deutlich. Nur in der Tragödie gibt es den Helden, denn die Tragödie zeigt die Menschen besser, als sie wirklich sind, also edelmütiger, beeindruckender und würdevoller. […] Es kann keinen komischen Helden geben, denn die Komödie zeigt die Menschen schlechter, als sie in Wirklichkeit sind, also weniger edelmütig, weniger beeindruckend und weniger würdevoll.“2 Es gibt keine Helden in der alltäglichen Wirklichkeit. Sie sind, in perfekter Doppeldeutigkeit, Kunst-Produkte: Produkte der Kunst und künstlich. Die Kunst – das eint Aristoteles und Hegel (und Danto) – ist eine ‚Verklärung des Gewöhnlichen‘, a transfiguration of the commonplace. Hegel, dem wir neben vielem anderen auch eine Theorie des Heldentums verdanken, ist allerdings genauer als Aristoteles. Auch er äußert sich bezeichnenderweise am ausführlichsten über den Helden in seinen Vorlesungen über die Ästhetik. Das bedeutet bei ihm aber nicht nur, dass wir unser Wissen von Helden zunächst allein aus der Kunst beziehen, nämlich aus dem antiken Epos und der Tragödie, sondern mehr noch, dass Kunst und Heldentum auch formal übereinstimmen. Wie das Kunstwerk als einzelnes exemplarisch etwas Allgemeingültiges präsentiert, verkörpert der Held dieses Allgemeingültige als Individuum. Beide, Kunstwerk und Heros, gehören aber für Hegel einer vergangenen Zeit an, das Kunstwerk der griechischen Antike und der Heros der mythischen Welt. Hegel ist nicht mehr der Überzeugung, wie seine romantischen Zeitgenossen, dass sich in der Moderne die Essenz einer Epoche in einem Kunstwerk ausdrücken lasse, und in der nüchternen Prosa der bürgerlichen Welt sieht er für das Heldentum nur noch in jenen Fällen Raum, in denen die bürgerliche Ordnung außer Kraft gesetzt ist, in Zeiten eines Krieges und einer Revolution. (Freilich gilt das auch für Gedankenrevolutionen, wie sie sich in der Philosophie abspielen. Diese Heroisierung seiner Profession ist für den Philosophen Hegel Ehrensache.) Den Helden kategorial in die Riege der Schauspieler aufzunehmen, bedeutet aber nicht nur, ihn in eine ästhetische, sondern auch in eine moderne Perspektive zu rücken. Dann ist er Darsteller seiner selbst, Darsteller einer, noch einmal mit Hegel gesprochen, Entzweiung zwischen ihm und der Rolle des Helden, die er entweder einmal angenommen hat, um ihr in der Folge nicht mehr entkommen zu können, oder aus Mangel an emphatischer Überzeugung nur noch ausprobiert. Eine treffende Beschreibung für den ersten modernen Darstellertypus, den Rollengefangenen, gibt Robert Warshow in seinem berühmten Essay The Westerner (1954). Dort widmet er dem Film The Gunfighter

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(Der Scharfschütze) eine längere Passage, der 1950 die Zeit des ‚adult western‘, des erwachsen, nüchtern, müde gewordenen Western eröffnet und zwei Jahre später in High Noon (Zwölf Uhr mittags) einen vollendeten Nachfolger findet. Filme wie diese erzählen nicht davon, wie jemand durch die Gewalt, die an den Schusswaffen hängt, zum Helden, zum Mythos wird, sondern welch nahezu ausweglosen Folgen das für den Helden in den fortwährenden Gewaltritualen mit sich bringt. Der Revolvermann Jimmie Ringo (gespielt von einem Gregory Peck mit Schnurrbart) wie Sheriff Will Kane (Gary Cooper mit verbittertem Zug um den Mund) wollen jene Vergangenheit und damit jenen Westen hinter sich lassen, der ihr (Selbst-)Bild von Kampf und Ehre geformt hat. Was für den einen der shoot out, ist für den anderen die Verteidigung von Recht und Ordnung: ein lustloses Spiel. Was Warshow über den Gunfighter schreibt, kann er problemlos auf High Noon übertragen. In beiden Varianten weiß der Held, „daß er nichts tun kann, als das Schauspiel (drama) des Gunfight wieder und wieder zu spielen, bis der Augenblick kommt, da er selbst getötet wird. Was ihn ‚reinwäscht‘ (what ‚redeems‘ him), ist, daß er nicht länger an dieses Spiel glaubt und dennoch fortfährt, seine Rolle perfekt zu spielen (to play his role perfectly): Das Verhaltensmuster ist alles (the pattern is all).“3 Ein Held ist einer, der sich verhält, wie sich ein Held eben verhält (verhalten muss). Eine Beschreibung des zweiten modernen Darstellertypus, des Rollentesters aus Überzeugungsschwäche, findet sich bei Walter Benjamin. Baudelaires Dandytum und seine häufig beschriebene Widersprüchlichkeit, die man an seinem Äußeren wie an seinen Überzeugungen beobachten zu können glaubt, deutet Benjamin als spezifische Konstellation der Moderne, der Heldentum als ein verhängnisvolles Leitbild vorschwebt. Denn der „Heros ist nicht in ihr vorgesehen.“ Die bürgerliche Gesellschaft der Moderne bindet ihn „im sichern Hafen fest“, lässt ihn nicht mehr auf die „hohe See“ ausfahren. Benjamin führt das Dandytum, das Baudelaire selbst als ‚letzten Schimmer des Heroischen in Zeiten der Dekadenz‘ anpreist, einer ebenso naheliegenden wie überraschenden Erklärung zu. Dekadent nämlich ist der Dandy wie die bürgerliche Gesellschaft, weil sie den Heros „einem ewigen Nichtstun“ ausliefern. Der Heros kann darauf nur noch mit einer Paradoxie reagieren, und sie verkörpert sich in niemand anderem als im Dandy. Dieser macht aus der Not eine Tugend, indem er das Nichtstun glorifiziert. Helden handeln, und wenn die Handlung grundsätzlich verwehrt ist, muss der Funken der Größe aus dem Nichthandeln geschlagen werden. Der müßiggängerische, flanierende Dandy präsentiert sich dergestalt

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als eine perfekt paradoxe Verkörperung des Helden. Dennoch zeigt diese ultimative Heroisierung forcierte Züge. Wahrhaft überzeugend erscheint sie Baudelaire, so Benjamin, nicht. Daher macht auch er aus dieser Not eine Tugend: „Weil er keine Überzeugung zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy und Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller.“4 Der Held spielt heldenhafte Rollen, weil es ihm nicht mehr wahrhaft ernst mit dem Heldentum ist. Speziell sind es all jene Rollen, mit denen er sich der bürgerlichen Gesellschaft schroff gegenüberstellen zu können glaubt, Rollen, die seine Differenz im Namen des Flaneurs, des Dandys, des Lumpensammlers (auf Seiten des weiblichen Geschlechts kommt die Lesbierin hinzu) und schließlich des Apachen oder coolen Verbrechers betonen, der dem Gesetz abschwört und sich auf die stoische Maxime des ‚Noli me tangere‘ zurückzieht.

Individualität: stilisiert und parodiert Der Held als Schauspieler tritt also in unterschiedlichen Varianten auf. In Pulp Fiction treffen sie zusammen. Individualität ist hier so sehr das Resultat von Stilisierung, die Fiktion so sehr der Boden der Realität, die Kunst und ihre Künstlichkeit so sehr das einheimische Reich der Helden, dass es keine Individuen und keine Helden mehr zu geben scheint, sondern nur noch Imitatoren und Heldendarsteller. Die These, Coolness sei ein Stilphänomen, erhält damit ihre erste Spezifizierung: Der coole Typ ist die Vollendung des Helden, die zelebrierte Imitation seiner selbst. Nicht nur imitiert sich der coole Typ, wie der Held, notgedrungen oder überzeugungslos, sondern er steigert die Imitation zur Feier ihrer selbst und geht damit auf einem reflektierteren, gebrochenen, künstlichen Niveau wieder ganz auf in seiner Rolle. Die moderne und die ästhetische Bedeutung des Heldentums werden so bewusst zur Einheit gebracht. Am augenfälligsten ist das in jener Episode, in der Vincent auftragsgemäß mit der jungen Frau seines Bosses ausgeht. Er muss bei diesem Auftrag sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn wie wir aus seinem unmittelbar vorhergehenden Dauergespräch mit Jules wissen, kann bereits eine Fußmassage, die man dieser Lady in unschuldigster Absicht angedeihen lässt, für den Masseur verheerende Konsequenzen nach sich ziehen. Die Frau, die genauso aussieht, wie sie heißt: Mia, pech-

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schwarzes Haar im Pagenschnitt, weißer Teint, blutrote Lippen, Schlafzimmerblick, die Edelprostituiertenausgabe einer Femme fatale, eine Königin Kleopatra aus dem Kokaingewerbe, eine Mieze („Kittycat“) aus dem Zeichentrickfilm, Mia also lässt sich von Vincent in ein glitzerndes und farbrauschendes Lokal chauffieren, in dem ein junger Mann auftritt, der so charmant aussieht und schmissig singt wie Ricky Nelson, eine Kellnerin herumläuft, die fast haargenau so aussieht wie Marilyn Monroe, und ein Kellner auftaucht, der nicht nur so aussieht wie Budy Holly, sondern sich auch als solcher seinen Gästen vorstellt. In diesem Etablissement nun, in dem die Ikonen der Populärkultur der fünfziger Jahre wieder Gestalt angenommen haben, kommt es zu dem für die Liebhaber und mehr noch Liebhaberinnen von Tanz- und Liebesfilmen unvergesslichen Ereignis, dass Mia und Vincent an einem Tanzwettbewerb teilnehmen. Das wäre für sich gesehen nichts Außergewöhnliches, gäbe es nicht einen Film, der siebzehn Jahre früher das Publikum massenhaft in die Kinos gezogen und einen neuen Star hervorgebracht hat, John Travolta, eben den, der nun als Vincent Vega gezwungen ist, eine Neuauflage seines tänzerischen Könnens aufs Parkett zu legen. Und es ist ein Zwang, denn im Unterschied zu damals, zu Saturday Night Fever, als er in weißem Anzug, schlank und gewandt den Disco-King aus Brooklyn zum Besten gab, hat er sichtbar einige Pfunde zugelegt, die Haare sind nach hinten zu einem neckischen Schwänzchen zusammengebunden und seine Bewegungen um einiges reduziert und retardiert, was grundsätzlich mit seiner jetzigen coolen Lebenseinstellung zu tun hat, aktuell aber auch damit, dass er sich zur Einstimmung in den Abend einen Schuss Heroin gesetzt hat. Travolta sieht in dieser Szene aus wie sein eigenes, älter, dicker und langsamer gewordenes Double, nicht lächerlich, aber doch komisch. Er parodiert sich selbst. Die Rolle des coolen Auftragstänzers trifft auf die des leidenschaftlichen Disco-Tänzers, und die Komik lässt bei diesem Kontrast nicht auf sich warten. Wohin man also auch blickt in diesem Film, man sieht Kopien und bestenfalls Parodien. Aber eben darin wird eines seiner ästhetischen Prinzipien verständlich, das Prinzip der Nonsense-Komik, das im seriösen Genre des Theaters Samuel Beckett perfektioniert hat. Bei Tarantino entsteht es, zunächst rein formal, aus der Verknüpfung zweier Gegenpole: von Originalität und Kopie, Authentizität und Imitation. Kopierte Originalität ist logischer Unsinn. Selbst die perfekte Kopie bleibt eine Kopie, und die Kopie wird nur dann selber zu einem Original, wenn sie mehr ist als eine Kopie und damit anders als das kopierte

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Original. Wer aber als (perfekte) Kopie ein Original sein will, ist entweder peinlich-lächerlich oder zum Lachen komisch. Und doch sind die Pulp Fiction-Figuren auch Individuen. Nicht alle von ihnen, aber gewiss Vincent, und ebenso gewiss Vincent im Verein mit Jules. Es ist ihr Stil, der sie, trotz seiner Second-Hand-Qualität, unverwechselbar und eben deshalb zu Individuen macht. Ihr stilistisches Gesetz besteht in der Kombination von Elementen, die sie Filmfiguren entnehmen. Es lautet: Agiere so, als wärest du der ‚eiskalte Engel‘ und die ‚Blues Brothers‘ in einem! In dieser eigenen Verbindung liegt ein zweiter, nicht mehr nur formaler Grund für die Komik des Films. Denn nun sehen wir Killer eines Zuschnitts, die dem Existenzialismus der fünfziger Jahre ein kühl-aristokratisches Gebaren auferlegen und dazu auch noch permanent am Trubel des Klamauks, der Komik von Clowns und pubertierenden Jungen, entlangschlittern. Noch nie hat man so komische (sonderbare, spaßige, possenhafte) Killer gesehen, und der durch Melville bereits bestätigte Verdacht bestätigt sich noch einmal, dass es sie nur als Kunst-Produkte, als fiktive Figuren gibt. Schließlich entspringt die Komik des Films noch einem dritten Grund: der Parodie, die jeder Stilisierung anhaftet. Die stilisierte Individualität, der übertriebene und ins Künstliche getriebene eigene Stil, ist per se eine Parodie auf die Individualität. Denn als Übertreibung verweist die Stilisierung darauf, dass es ihr zu sehr an Substanz gebricht, um eine eigene Individualität aufzubauen, so dass sie darauf nur noch parodistisch-imitierend zurückverweisen kann. Sie kann das Vergangene nicht schlicht wiederholen, kann ihm aber auch nichts Neues entgegensetzen, also wiederholt sie es in greller Manier. Zusammengefasst lautet meine These in ihrer zweiten Spezifizierung somit: Die Figuren haben Stil, aber stilisiert; sie sind stilisiert, aber individuell; sie sind individuell, aber parasitär.

Rortys ironische Selbsterschaffung In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion finden diese Figuren in Richard Rorty ihren väterlich-kritischen Fürsprecher. Denn die Kombination von Individualisierung und Komik ist das Abfallprodukt, eben das, im wörtlichen Sinn, Pulp-Fiction-Produkt eines ehrwürdigen Gedankens der Moderne. „Vor etwa zweihundert Jahren faßte in der Vorstellungswelt Europas der Gedanke Fuß, daß die Wahrheit gemacht, nicht gefunden wird. Die Französische Revolution hatte

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gezeigt, daß sich das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht auswechseln ließ […]. Etwa zur selben Zeit zeigten die Dichter der Romantik, was geschehen kann, wenn Kunst nicht mehr als Imitation, sondern als Selbsterschaffung des Künstlers aufgefaßt wird.“5 Es ist die Idee des schöpferischen Menschen, die Rorty fasziniert, eine Idee, die sich mit der revolutionären Politik und der romantischen Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts machtvoll gegen die seit Platon, seit mehr als zweitausend Jahren herrschende Konzeption der Nachahmung der Natur, der Imitation eines ontologisch Vorgegebenen durchsetzt. Kunst reüssiert zum Modell für die Freiheit von Fremdbestimmung, denn sie ist, als eine Art Schöpfung aus dem Nichts, „die einzige ganz und gar selbstbestimmte Aktivität des Menschen.“6 Harold Bloom liefert Rorty diesbezüglich mit seinem Buch The Anxiety of Influence den pointierten aktuellen Beleg, denn es ist demnach die Angst des Dichters vor Beeinflussung, sein Horror davor, möglicherweise nur die Kopie eines großen Vorgängers zu sein, welche die Geschichte der Literatur und der Kunst nach ödipalem Muster vorantreibt. Rorty legt den Kindern der Moderne (oder auch, wie er selber unschlüssig manchmal sagt, der Postmoderne) daher die Maxime nahe: ‚Setzt euch ruhig an die Stelle des verwaisten Gottes, aber erliegt nicht der Versuchung, euch allzu ernst zu nehmen und gar anzubeten, sondern seht euch so ironisch wie alles andere! Versucht, euch selbst zu erschaffen, aber hört nicht auf, über euch zu lachen! Denn nichts‘, so könnte man mit Umberto Eco ‚im Namen der Rose‘ feierlich und augenzwinkernd hinzufügen, ‚fürchten Wahrheitsfanatiker, strafende Götter und Diktatoren mehr, als sie nicht ernst zu nehmen, jedenfalls nicht ernster, als es unvermeidlicherweise sein muss.‘

Simmel und die Blasiertheit als Stil Ihren besten Theoretiker aber finden die coolen Typen des Kinos, die komischen Individualisierungsspezialisten, die Unsinn produzierenden Originalitätskopisten in einem Philosophen und Soziologen, der zwar nicht über den Film, wohl aber richtungweisend über die Großstadt als Brennpunkt der Moderne schreibt: in Georg Simmel. Sein Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) dient nach hundert Jahren immer noch zu Recht als ein unverzichtbarer und anregender Text für die Analyse der Moderne. Und er liefert auch das entscheidende Stichwort

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für die Analyse der Coolness: Blasiertheit. „Es giebt vielleicht,“ so Simmel, „keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit.“7 Denn diese ist, wie Simmel als erstes betont, „die Folge“ der rasch wechselnden und gegensätzlichsten „Nervenreize“, die das großstädtische Verhalten leiten und einen intellektualistischen Menschentypus hervorbringen. Jener dualistischen psychologischen Anthropologie zufolge, die sich auch Simmel zu eigen macht, ‚wurzeln‘ die Gefühle in den unbewussteren und veränderungsresistenten Schichten der Seele, während der Verstand, der Intellekt, zu den bewussten Schichten gehört und sich (daher) als äußerst anpassungsfähig erweist, eine Fähigkeit, die er im Milieu der Großstadt vollendet ausbilden kann und muss. Die auch nach heutigem Sprachgebrauch gängige Erläuterung, nach der blasiert ist, wer eingebildet, hochnäsig, eitel und dabei innerlich hohl ist, schwebt also durchaus auch Simmel vor. Die Vertreter seiner eigenen Schicht, die großstädtischen Intellektuellen, bieten hierfür bekanntlich bis heute Anschauungsmaterial. Der blasierte Typus will nicht mehr auf die ihn jagenden Reize reagieren. Er formt also eine ethische Haltung aus. Das wird an seiner zweiten Ursache noch deutlicher. Neben der „physiologischen“, die Nervenreize steigernden „Quelle“ der Blasiertheit macht Simmel nämlich kausal auch die „Geldwirtschaft“ namhaft. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“ Und diese „Seelenstimmung“ ist der „getreue subjektive Reflex“ der alles durchdringenden Geldwirtschaft, denn indem das Geld „alle qualitativen Unterschiede“ zwischen den Dingen rein quantitativ durch „Unterschiede des Wieviel“ ausdrückt, wird es „der fürchterlichste Nivellierer“. Vor dem Hintergrund dieser an Marx erinnernden ökonomischen Kausalität des blasierten Charakters tritt dieser somit als eine Haltung des Nivellierens und Entdifferenzierens hervor, aber nicht aus Stumpfsinn, sondern aus Scharfsinn, aus übermäßig geschärfter Wahrnehmung und Intellektualität. Blasiertheit ist nicht eine Wahrnehmungs-, sondern eine Bewertungsverweigerung, sie ist kein epistemisches Manko, sondern eine ethische Leistung. Alles wird ihr im doppelten Sinn gleich-mäßig und gleichgültig. Kalkulierte Indifferenz ist ihr Prinzip. So dient sie, eine Art

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melancholischer Nihilismus aus intellektueller Arroganz, der „Selbsterhaltung“ in der Moderne. Als „nicht weniger negativ“ beschreibt Simmel das damit einhergehende Verhalten sozialer Art, das er dezent „Reserviertheit“ nennt, in dem er aber durchaus den „Oberton versteckter Aversion“ wahrnimmt, „eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“8 Doch fügt Simmel auch an dieser Stelle sofort die positive Kehrseite hinzu, denn die großstädtisch geprägte Moderne ermöglicht persönliche Freiheit in einer nach Art und Maß unvergleichlichen Weise. Simmel gehört, anders als seine gründerzeitlichen Konkurrenten Emile Durkheim und Max Weber, zu jenen Theoretikern, die, wie nach ihm Norbert Elias, Jürgen Habermas und Ulrich Beck, die Moderne als ein hoch ambivalentes Phänomen beschreiben.9 Die Moderne erlaubt eine größere subjektive Freiheit, führt aber auch dazu, dass sich die sozialen Bindungen in ihrer Qualität vermindern. Sie erlaubt dem Individuum auf der Basis der allgemeinen formalen Gleichheit und der großstädtischen Anonymität seine Individualität zu entfalten, erschwert ihm diese Entfaltung aber zugleich eben deshalb, weil prinzipiell alle sich entfalten können. Der Visualisierungs-, Inszenierungs- und Differenzierungsaufwand nimmt daher stetig zu. Die Moderne, die aus dem Kampf um fundamentale Rechte hervorgegangen ist, bedingt nun einen Kampf um (soziale und damit auch moralische) Sichtbarkeit.10 Visualisierung, im erweiterten Sinn, ist ihr Programm. Die viel beredete Dominanz der Bilder und ihrer entsprechenden technischen Medien in unserer Kultur verliert vor diesem soziologischen Hintergrund etwas von ihrem Lamento. Für die Einzelnen bedeutet das, dass sie, um Aufmerksamkeit zu erregen, schließlich „den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums“ huldigen, „deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins“ liegt.11 Die bloße Form, etwas Äußerliches, nicht der Inhalt wird entscheidend, wenn der Wettkampf um Sichtbarkeit zur sozialen Norm aufsteigt. Freilich wäre Simmel ein schlechter Soziologe, sähe er nicht in diesem Gebaren auch jenes Moment, das über die bloße Subjektivität hinausreicht. Denn es geht den Einzelnen nicht nur um eine individuelle, unvergleichliche Gestaltung des Äußeren. Das Äußerliche ist vielmehr Ausdruck einer bestimmten Lebensführung und in dieser überschneiden sich stets bestimmte soziale Lebensformen. Jede Lebensführung und damit auch ihr sichtbarer Ausdruck ist also immer

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von einer gewissen Allgemeinheit. Diese Doppelung aus Äußerlichkeit und relativer Allgemeinheit nennt Simmel Stil. Stil erfüllt daher auch eine doppelte Funktion: Er löst die alten, metaphysisch verbürgten allgemeinverbindlichen Überzeugungen ab, ohne das Individuum allein auf sich selbst zu stellen. Sein „Wesen“ ist „Entlastung und Verhüllung des Persönlichen“, „Milderung und Abtönung“ des modernen, „zugespitzt(en)“ Individualismus, ein „Gegengewicht“ und (noch einmal) eine „Hülle“ des „exaggerierte(n) Subjektivismus“, indem er zwischen die Pole der Allgemeinheit und der Subjektivität den Bereich des Typischen aufspannt; denn der Stil, wie er sich in Kleidung, Verhalten, Wohnungseinrichtung usw. zeigt, ist ein „generelles, mehr typisches“ Äußeres.12 Dass das Konzept der Blasiertheit sich auf einer Linie mit dem des Stils bewegt, liegt an dieser Stelle auf der Hand. Wie der Stil als solcher betreibt nämlich auch die Blasiertheit als ein bestimmter Stil die Abtönung des modern zugespitzten Subjektivismus. Und es bedarf keiner interpretatorischen Gewaltsamkeit, das Konzept der Blasiertheit nun ausdrücklich durch das der Coolness zu ersetzen. Auch dieses meint – die Blues Brothers und der ‚eiskalte Engel‘, vor allem aber Vincent und Jules sind dafür bisher meine Zeugen – eine Lebensform, die primär großstädtisch geprägt ist und auf die reizimpulsiv gesteigerte Wahrnehmungssituation mit Reaktionsverweigerung reagiert, zum Zwecke der Selbsterhaltung also Indifferenz entweder tatsächlich ausbildet oder, und das ist die wahrscheinlichere Variante, zur Schau stellt, und zwar in so durchgängiger Weise, dass schließlich das Schauspiel Realität, die Form zum Inhalt wird und die Hülle der Teilnahmslosigkeit von wahrer Teilnahmslosigkeit nicht mehr zu unterscheiden ist, die Indifferenz also im doppelten Sinn des Wortes, als epistemische Ununterscheidbarkeit und als evaluative Gleichgültigkeit, und das heißt auch als moralische Teilnahmslosigkeit, das eigene Ich ebenso perfekt erfasst.

Plessner und die Maske der Kälte Mit der Beschreibung des Stils als einer Verhüllung der Person gibt Simmel ein Stichwort, das er selber in seiner philosophischen, von Nietzsche beeinflussten Beschreibung der Schauspielkunst weiter ausführt, das einige Zeit später, 1924, von Helmuth Plessner aber zu einem Grundbegriff von dessen Sozialanthropologie ausgebaut wird. Mit der

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Schrift Grenzen der Gemeinschaft tritt Plessner als zweiter maßgeblicher Theoretiker dessen in Erscheinung, was heute unter dem Konzept der Coolness firmiert. Denn bereits in dieser Schrift operiert er, wenn auch nicht ausdrücklich, mit dem Rollenbegriff in einer Weise, wie dies wiederum sehr viel später erst durch die Soziologie des 20. Jahrhunderts theoretisches Allgemeingut geworden ist. Ausgangspunkt ist eine anthropologische Prämisse, von der sich aber auch sagen lässt, dass sie umgekehrt gerade modernistisch, also historisch grundiert ist. Ihr zufolge ist der Mensch ein Wesen von „ontologischer Zweideutigkeit“13, in dem der Drang, (öffentlich) in Erscheinung zu treten, mit dem, sich zu verbergen, in einem unauflöslichen Konflikt liegt. Denn so sehr er einerseits in Erscheinung treten will und muss, um Anerkennung und dadurch Identität zu erlangen, so sehr muss er andererseits die festlegende Identifizierung auch fürchten, denn sie legt ihn auf etwas fest, was er zwar auch, aber doch nicht ausschließlich ist. In der Moderne kommt diese philosophische Anthropologie zu sich selber. „Der Kampf ums wahre Gesicht“14, den Plessner anthropologisch gegeben sieht, tritt ungeschminkt in einer Gesellschaft hervor, in der die Einzelnen ihre Position jeweils und sogar ein Leben lang erst erkämpfen müssen. Es gibt aus dieser ebenso existenziellen wie modernen Ambivalenz und dem agonalen Kampf kein Entrinnen, aber er kann gemildert werden: durch eine Form des gesellschaftlichen Umgangs, in der die Einzelnen sich darstellen können, ohne sich preisgeben zu müssen. Das Rollenspiel ist diese soziale Umgangsform. Plessner steht hier in einer aristokratisch geprägten und bürgerlich nur halbherzig beerbten Tradition des Humanismus; Humanität oder Zivilisation ist für ihn nichts anderes als die Milderung eines unauflöslichen Antagonismus. Es ist deshalb eine gezielte Vereinseitigung, Plessners frühe, essayistisch, damit selber zweideutig angelegte Schrift, in der sich zudem verschiedene geistes- und kulturgeschichtliche Traditionslinien kreuzen, als „Verhaltenslehre der Kälte“ zu titulieren.15 Er ist vielmehr davon überzeugt, dass sich „Weltraumkälte“ zwischen die Menschen legen müsste, würden sie ihre sozialen Masken ablegen und stets sagen, was sie denken. Gerade die Maske ermöglicht, sich „nie zu nahe noch auch zu ferne“ zu kommen.16 Und eine dieser Masken ist natürlich auch die Coolness. Auch sie verhindert beides: zu große Nähe, aber auch zu große Ferne, denn es bleibt stets klar, dass man es mit einer Maske zu tun hat, die Teil eines Rollenspiels ist und daher intime Verletzungen ausschließt. Plessner bietet somit, korrekt ausgedrückt, nicht eine Verhaltenslehre der Kälte, sondern der Coolness.

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Coole Selbstreferenz Auch Coolness mildert die soziale Kälte, und zwar, nun wieder mit Simmel, durch Stilisierung oder, allgemeiner, durch Ästhetisierung. Das ist die dritte Spezifizierung meiner Ausgangsthese. Und mit Plessner lässt sich noch einmal die Spezifizierung einholen, dass der coole Typ den Helden als Schauspieler vollendet, indem er die Rolle, für die er sich entschieden hat, zugleich annimmt und doch nur spielt. Die Betonung des Rollencharakters erlaubt zudem, Coolness nachdrücklich auch bei einem Typus zu konstatieren, der nicht durch die Großstadt geprägt ist. Der Westerner bietet dafür, wie bereits angedeutet, im Bereich des Kinos das beste Beispiel, und das beste Beispiel aus diesem Genre bietet in unserem Zusammenhang Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod (C’era una volta il west). Indem er die Genremerkmale ins Extreme, beinahe ins Groteske steigert, präsentiert er einen Western, dessen Figuren als die mannigfache Überlagerung all jener Figuren auftreten, die das Genre im Film hervorgebracht hat. Leone gelingt das paradoxe Kunststück, die Rollen des Genres pur in Szene zu setzen. Eben deshalb wirken sie auch cool. Denn Coolness bezieht ihre aktuelle Bedeutung und ihre Attraktivität vornehmlich aus der Selbstreferenz. Dass der ‚blasierte‘ Typus als hohl gilt, heißt so gesehen, dass er die starke Tendenz aufweist, sich um sich selbst statt um eine Sache zu drehen. Vincent und Jules, Harmonica alias Charles Bronson, der Rächer ohne Namen, und Frank alias Henry Fonda, mit stahlblauen Augen und eiskaltem Lächeln, wären nichts als skrupellose oder professionelle Killer, würden sie nicht sichtbar Rollen verkörpern. Die Rolle legt den milden Mantel, die Maske der Coolness um den Schrecken sozialer und existenzieller Kälte. Auf der Referenzebene lässt sich ‚cool‘ mit Worten beschreiben wie: ‚abgekühlt‘, ‚ruhig‘, ‚leidenschaftslos‘, ‚reaktionslos‘, ‚indifferent‘, ‚gleichgültig‘, ‚professionell‘ usw. Aber leidenschaftslos oder emotionslos ist der coole Typ nicht im wörtlichen Sinn; dann wäre er einfach ‚kalt‘ zu nennen. Am Beispiel des Cool Jazz hat man das Phänomen einmal sehr fein beschrieben: Diese Art von Musik erwecke nicht ein bestimmtes Gefühl, „sondern die Erinnerung daran.“17 Als Verhüllung weist Coolness, ähnlich wie der Schein bei Hegel, durch sich selbst hindurch auf das, was einmal nicht nur Hülle war, in der Gegenwart aber nur noch durch die Hülle selbst repräsentiert ist. Deshalb ist auch der Tod der modernen, künstlichen Helden kein Drama. Er vollzieht sich als ebenso feierliches wie kitschiges und manchmal nur noch komisches Ritual. Vincents letzte Stunde schlägt,

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als er wieder einmal auf der Toilette weilt. Er hat dieses Mal von seinem Boss Marcellus den Auftrag, den Boxer Butch (den Bruce Willis mit bekannt bulligem Nacken und allerliebsten Schweinsäuglein zum Besten gibt) zu erledigen. Er wartet auf ihn in dessen Haus, aber just in dem Moment, als er sich in die Toilette zurückzieht, kommt Butch zurück, entdeckt das Schnellfeuergewehr in der Küche, hört die Klospülung, und dann stehen sie sich auch schon wortlos gegenüber. Die tödlichen Schüsse fallen, als die Toastbrotscheiben aus dem Toaster springen (denn Butch wollte eben etwas gegen seinen Hunger tun). Am Ende liegt Vincent in in der Toilettenecke, der Groschenroman, den er eben noch gelesen hatte, ist ihm aus der Hand geglitten, eines jener Pulp-Fiction-Produkte, zu dem sich zynisch auch der Film bekennt. Man wird diese Szene als klitzekleine, hämische Warnung an die Zuschauer verstehen dürfen: ‚Seht ihr, so enden die coolen Typen, die ihre Vorbilder aus Groschenheften beziehen; so sterben heute Helden, die Helden darstellen.‘

Anmerkungen 1. Greil Marcus, Vortrag: ‚Birth of the Cool‘, in: Ulrike Groos, Make it funky. Crossover zwischen Musik, Pop, Avantgarde und Kunst, Köln 1998 (Jahresring 45), 21. 2. Lionell Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, 86; vgl. 84. 3. Robert Warshow, The Westerner, in: The Western Reader, hg. von Jim Kitses/Gregg Rickman New York 1998, 42. 4. Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, 600; vgl. auch 573, 582, 594. 5. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1989, 21. 6. Isaiah Berlin, Revolution der Romantik. Eine grundlegende Krise in der neuzeitlichen Geistesgeschichte, in: Lettre International, H. 34, 79; vgl. auch Hans Blumenberg, ‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, 55–103. 7. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. I, Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, 121; die folgenden Zitate, ebd. 8. Ebd., 122, 123. 9. Ebd., 123 f.; vgl. Markus Schroer, Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt a. M. 2000; Habermas wird von Schroer allerdings nicht entsprechend gewürdigt. 10. Schroer [Anm. 9], 308. 11. Simmel [Anm. 7], 128.

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12. Georg Simmel, Das Problem des Stiles, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908, Bd. II, Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1993, 382. 13. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: ders., Gesammelte Schriften V: Macht und menschliche Natur, Frankfurt a. M. 1981, 63. 14. Ebd., 58. 15. Helmuth Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994, 75 ff., 120 ff.; Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte, hg. von Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmut Lethen, Frankfurt a. M. 2002, 9 ff. 16. Plessner [Anm. 13], 107. 17. Marcus [Anm. 1], 27; zu Hegel vgl. Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13, hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, 23.

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Michael Schirners Kampagnen im Rahmen von Pathos, Affekt, Gefühl Werbung steht im Dienste der Kommunikation. Sie hat die Bestimmung, ein neues Produkt auf dem Markt vorzustellen, über seine Qualitäten zu informieren, schließlich zu dessen Erwerb zu animieren. Dazu muss sie nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern vor allem das Wohlwollen und die Lust des Adressaten für das beworbene Produkt wecken. Ihr Zweck liegt darin, Zustimmung und emotionale Bindungen herzustellen. Dabei sind diese nicht allein auf Dinge und Dienstleistungen am Markt bezogen, sondern auch auf die Vermittlung des Selbstverständnisses einer Firma nach außen (corporate design), ihrer moralischen Verpflichtungen, ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft. Werbung wendet sich jedoch nicht nur an die Öffentlichkeit. Sie kann sich genausogut im Rahmen einer corporate identity an die Mitarbeiter einer Firma richten, mit der Zielsetzung, eine intensivere Identifikation mit dem Unternehmen zu erreichen. Auch ist es bei politischen Kampagnen nicht allein das Ziel der Werbung, über das jeweilige Programm der beworbenen Parteien aufzuklären, sondern vielmehr eine Stimmung der Sympathie, ja sogar Gefühle der Zugehörigkeit des Wählers zu einer Partei zu evozieren. Im Prinzip ist Werbung frei, sich jedem erdenklichen Sujet zuzuwenden. Dazu gehören nicht nur ‚schöne Welten‘, sondern auch heikle Themen wie Krieg, Tod und Krankheit. Allerdings ist sie der Form nach nicht ganz so ungebunden, denn sie darf das Schreckliche und Hässliche selten als solches wiedergeben. Formen, die Empfindungen des Abscheus, des Ekels gar erwecken können, sind zu vermeiden. Zu groß ist die Gefahr, dass der Umworbene sich erschreckt abwendet oder in ihm eine nachhaltige Aversion erweckt wird, die eine Affinität zum Produkt gar nicht erst aufkommen lässt. Die Werbung hätte in diesem Fall ihr Ziel verfehlt. Diese Einschränkung, sich zwar jedem Be-

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reich der Wirklichkeit zuwenden, sich aber nicht auch jeder Form bedienen zu können, mag der Grund dafür sein, dass Werbung nach wie vor nur zögernd als Kunst gewertet wird. Hässliche, niedrige Formen in der Werbung sind selten. Stattdessen ist diese angehalten, die Wirklichkeit angenehm zu überhöhen oder witzig zu verfremden. Für aufklärende Kritik besteht wenig Anlass. Das Markenzeichen des in Düsseldorf ansässigen Werbefachmanns Michael Schirner ist die Reduktion und der Witz. Als Beispiel für diese Formstrategien sei hier die Kampagne für Schreibmaschinen von IBM genannt, in welcher Schirner nur das Wort: schreIBMaschinen zeigt.1 Er verdichtet Produkt und Produzent zu einer untrennbaren Einheit. Psychologisch ist dies Motiv in seiner Kürze und reduzierten Sachlichkeit einem Witz vergleichbar, insofern die Pointe sich schlagartig und ganzheitlich erschließt. Der Witz wiederum hat den Effekt, dass der Adressat schon mit seinem Lächeln, seinem Verständnis des Witzes eine Bindung zum beworbenen Produkt eingeht. Doch Schirner benutzt die Stilmittel der Reduktion und des Witzes nicht unreflektiert. Mit dem programmatischen Selbstverständnis, dass Werbung Kunst sei, variiert der Werbefachmann seine Ausdrucksmittel kampagnenübergreifend mal ironisch, mal spielerisch, mal exploratisch. Das dient auch dazu, Werbekonzepte und -strategien selbstbewusst zu hinterfragen. So widmet er anlässlich verschiedener Werbekampagnen für verschiedene Auftraggeber beispielsweise der Darstellung des nackten Körpers einen weiten Raum. Seit den frühen 70er Jahren wirbt er vermittels Nacktheit für Cremes und Seifen, Klopapier und Herrendüfte verschiedener Marken (Abb. 1). Dabei ist ihm die Entblößung als solche zentral, nicht nur um den in jener Zeit wirksamen Schockeffekt für das Produkt zu nutzen (Schirner gehört zu den ersten Werbefachleuten, die nackte Männer einschließlich der primären Geschlechtsorgane zeigten2), sondern auch um – ex negativo – den Wert der für die Werbung so imageträchtigen Verpackung zu thematisieren. Seiner Statussymbole entkleidet, soll der Körper selbst zum Imageträger werden, das an ihm Unsichtbare, das Image, sichtbar zu machen. Dazu ist Nacktheit als solche anschaulich darzustellen; Nacktheit reduziert auf sich selbst, sogar des individuellen Gepräges und Ausdrucks beraubt. Schirner bedient sich zu diesem Zweck nicht allein des im Fitnessstudio designten, nach klassischem Ideal geformten Körpers. Vielmehr sieht er sich genötigt, um Entblößung an sich in Szene zu setzen, den menschlichen Körper zu fragmentieren und nur einzelne Körperpartien zu fotografieren, die „in ihrer Einzelhaftigkeit

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Abb. 1: Michael Schirner, Anzeige für Care-Herrenkosmetik

ohne den sinnstiftenden Schutz des Zusammenhangs erst völlig die Nacktheit zum Ausdruck brachten“.3 Für den Werbefachmann ist diese „stückweise Eroberung der Nacktheit“4 von aufklärerischer Qualität und verweist auf die Suche nach neuen Arten, die Ausstrahlung eines Menschen oder eines Produktes sogar darzustellen, jenseits der bekannten Enthüllungsstrategien. Allerdings erreicht Schirner mit seinen Fragmentarisierungen in gewisser Weise auch das Gegenteil der von ihm anvisierten Präsentation bloßer Nacktheit. Er stellt die Körperteile so dar, dass sie entweder durch ihre klare, geometrische Umrissform, durch Abstraktion den Status der Nacktheit verlieren5, oder aber symbolisch maskiert erscheinen, als ein Körperteil für einen anderen oder für eine abstrakte Qualität des Körpers – Stärke etwa6 – stehen. So ist es nur konsequent, dass der Werbefachmann in einem vorläufigen Abschluss dieses Experiments, seiner Aufklärungskampagne zu AIDS, in der er einen erigierten Penis mit Kondom zeigt, zu dem Ergebnis kommt, dass äußerste Nacktheit doch

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wiederum umhüllender Verpackungen bedarf. Tatsächlich scheint darin allerdings auch die rein pragmatische Einsicht geborgen, dass sich ein bestimmtes Motiv – hier die Nacktheit –, vom Zeitgeschehen abhängig, bald aufgebraucht hat und nicht beliebig wiederholbar ist. Schirners Reduktionismen haben jedoch nicht nur den Effekt, durch Witz verstehendes Lächeln und als Rätselform die suchende Aufmerksamkeit zu erregen. Sie bewirken auch, dass die reduzierte Form den Betrachter zu Vervollkommnung der Darstellung und zur emotionalen Projektion einladen. Diesen Effekt nutzt der Werbefachmann für seine Aufklärungskampagnen zu Kindesmissbrauch, Fremdenhass und Tierversuchen. Hier bildet er weder rührselige Geschichten noch mitleidsheischende Situationen ab, sondern zeigt einzelne frontale Porträts von gleichgültiger Mimik in übergroßer Dimension. Ihnen wird ein Zitat unterlegt, das auf eine konkrete Szenerie – eben den anzuprangernden Missstand – anspielt. Diese spezifische Mischung aus emotionsfreier, sachlicher Darstellung und einfachem Zitat reicht, um beim Betrachter einschlägige Assoziationen so wirksam zu wecken, dass tausende Briefe der Rührung und des Mitleids, wie Schirner selbst mitteilt, in der Agentur eingehen. Der Werbefachmann verfolgt mit diesen Kampagnen ein Ziel, das er schon früh für sich formuliert hat: „Ich gehörte ’68 zu den Studenten, die nicht daran geglaubt haben, dass man mit Kritik die Welt verbessern kann. Man muss zeigen, wie es ist, um dann die Verhältnisse zum Tanzen bringen“.7 Mit den erwähnten Aufklärungskampagnen erfüllt Schirner das Credo, dass in der Affirmation die Chancen für eine bessere Welt liegen. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob die gezeigten Kampagnen tatsächlich dazu in der Lage sind, etwas zu verändern. Denn über die bloße, sachliche Feststellung eines Missstandes hinaus wird wenig über seine Gründe oder Wirkungen aufgeklärt. Vielmehr wird nur die Phantasie des Betrachters geweckt, die allerdings schon als eine Mitleidsprojektion vorausgesetzt wird. Nirgends werden Auswege aufgezeigt. So mögen zwar die Kampagnen Anstoß erregen; ob sie die Welt verbessern, ist fraglich. Sie scheinen Kritik, die Ursachenforschung leistet und Wege der Überwindung aufzeigt, nicht zu ersetzen.

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Anmerkungen 1. Abgebildet in: Michael Schirner, Werbung ist Kunst, München 21991, 38–39; Filmstills zur selben Kampagne, 169. 2. Anzeige für die Care Herrenkosmetik; s. ebd., 114. 3. Ebd., 82. 4. Ebd. 5. Beispielsweise seine Kampagnen für Creme 21 (ebd., 110–11), und Servus Toilettenpapier (ebd., 115). 6. Genannt sei die Kampagne für adidas-Herrenkosmetik; ebd., 112–13. 7. Siegfried Drach, Axel Pollheim, Berntt Thiel, Edition 100 Düsseldorfer Köpfe, Mondschau 1996, 168.

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Sachlichkeit, Witz und heikle Themen. Vier Kampagnen Man kommt nicht mehr ohne Immer wieder stellen wir fest, dass der Triumphzug postmoderner Werte der Prosperität und einer gewissen, nach den Konjunkturregeln immer unwahrscheinlichen Ungestörtheit der materiellen Basis bedarf. Entwicklungen, die über Grenzen hinausgehen, können keine Katastrophen gebrauchen. Der Triumph des Kapitalismus wäre sicherlich konsequenter vorangeschritten, hätten ihn nicht in seiner Frühzeit immer wieder Pest und andere Seuchen behindert. Nun breitet sich seit bald 20 Jahren eine neue Katastrophe aus, der HI-Virus. 1987 bat uns der Stern, für den ich Werbung machte, eine Aids-Aufklärungskampagne zu gestalten. Wir dachten uns, dass Werbung gegen Aids keine Werbung gegen, sondern für Sex sein müsse. So wählten wir als Motiv für alle Anzeigen einen erigierten Penis. Er stellt eine Steigerung der in den vorherigen Kampagnen vorgenommenen Entblößungen dar – wir hatten sie unternommen, um auszuloten, in wie weit der unverhüllte menschliche Körper Träger von Werbung und Image sein konnte.

Abb. 1: Michael Schirner, Man kommt nicht mehr ohne, 1987-90

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Mit unserer Aufklärung im Stern zeigten wir, dass sich die Partikularisierung der Körperteile und damit der Eindruck von Nacktheit noch verstärken ließen. Doch die traurige, aber notwendige Pointe dieser Kampagne besteht darin, dass noch etwas auf unseren Anzeigen zu sehen ist, ein Kondom; das gerade im Begriff ist, über das erigierte Glied gestreift zu werden. Doch in dieser letzten Enthüllung, die das Intimste zeigt, wird die Ankündigung neuer Verhüllung und Verpackung, eine Wiederkehr des Erfordernisses von Verpackung und Verhüllung angedeutet.

Eine Lebensversicherung für Unternehmen Die Allgemeine Kredit ist mit Hermes und Gerling einer der drei größten Kreditversicherer in Deutschland. Ziel unserer Anzeigenkampagne ist, den Bekanntheitsgrad der Allgemeinen Kredit gegenüber den Wettbewerbern deutlich zu steigern, die Vorteile der Kreditversicherung herauszustellen und die Leser dazu zu bewegen, mit der Versicherung Kontakt aufzunehmen. Die Allgemeine Kredit bietet Unternehmen Schutz vor Forderungsausfällen von Geschäftspartnern und sichert damit die Zukunft des Unternehmens. Das sollte mit einer aufmerksamkeitsstarken Anzeigenkampagne kommuniziert werden. Wir vermeiden dabei die Klischees der gängigen Versicherungswerbung, die Sicherheit, Gediegenheit und Seriosität suggerieren. Wir tun das Gegenteil: Wir zeigen, welche Folgen es für Leib und Leben eines Unternehmers haben kann, wenn er keine Kreditversicherung abgeschlossen hat. Die Abbildungen von Tod und Verderben in unseren Anzeigen ironisieren wir mit Überschriften im Stil schwarzen englischen Humors.

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Abb. 2: Michael Schirner, Anzeige für die Allgemeine Kredit

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Ich muss immer zu Vati ins Bett

Abb. 3: Michael Schirner, Superposter Aufklärungskampagne zum Kindesmissbrauch (1991), Detail

Weihnachten 1991 wollten wir der Öffentlichkeit Werbung schenken, die zum Nachdenken anregt. Wir haben drei kostenlose Plakatkampagnen zu den sozialen Themen: Kindesmissbrauch, Ausländerhass und Tierversuche entwickelt und geschaltet. Das Plakatunternehmen Strör stellte dafür ein paar tausend so genannte Superposter, d. s. Plakate mit den Maßen 4 × 5 Meter, unentgeltlich zur Verfügung und bezahlte den Druck.1 Drei übergroße Plakate, drei einfache Gestaltungen, drei eindrucksvolle Fotos mit anrührenden Zeilen wie: „Ich muß immer zu Vati ins Bett“ haben viele Menschen dazu veranlasst, uns Briefe zu schreiben. Einige teilten sogar mit, ihre Kinder hätten beim Anblick der Plakate geweint.

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Wühlt Grün (Farbtafel XV)

Bündnis90/Die Grünen beauftragten uns mit der Entwicklung und Durchführung der Kampagnen für den Bundestagswahlkampf 1998, die Landeswahlkämpfe in Bayern und Hessen und den Europa-Wahlkampf. Ziel der Kampagne war der Regierungswechsel. Um zu zeigen, dass die Grünen regierungsfähig sind, stellten wir heraus, dass die Partei nicht nur für Ökologie steht, sondern auf allen politischen und gesellschaftlichen Themenfeldern neue, kompetente Programme hat. Damit war klar, dass die Sonnenblume als Zeichen für die Öko-Partei in den Hintergrund treten und ein neues, frisches Zeichen als Symbol für die modernen Grünen an ihre Stelle treten musste. Wir haben ein typografisches Zeichen gewählt, ein farbiges, lustiges Ü, das einen anlacht: Das neue Gesicht der Grünen. Das Ü wurde auf allen Werbemitteln zum Symbol und Sympathieträger von Bündnis90/ Die Grünen. Inhaltlich lässt das Ü Raum für freche, witzige, ironische Aussagen. Wir wählten bewusst diese reduzierte grafische Form, weil sie für hohe Aufmerksamkeit sorgt. Die Ü-Kampagne kostete 4. Mio. DM (2,1 Mio. Euro). Sie hat sich gegen die Werbebudgets von CDU und SPD mit jeweils über 100 Mio. DM (51 Mio. Euro) durchgesetzt. Das Ü wurde zum ‚Verkehrszeichen‘ für den Regierungswechsel.

Anmerkung 1. Anmerkung der Herausgeber: Das Plakat zeigt unten den Text: „Superposter und die Michael Schirner Werbeagentur gegen Mißbrauch von Kindern“. Er gibt an, dass die Firma Strör/Superposter und die Werbeagentur Michael Schirner die verantwortliche Initiatoren für diese Kampagne sind.

Bernhard Stumpfhaus

Das Spiel mit den Emotionen. Lust und Unlust in der Werbung Irritiert äußert sich Martin Warnke in seinem Artikel Beschreibung von Dienstverhältnissen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Juli 19981 darüber, dass die heutige Kunstwissenschaft die moderne Kunst als über alle Zweifel erhaben erachtet. Er stößt sich an der Einschätzung der modernen Kunstentwicklung als einer legendären ‚Erfolgsstory‘, als „Ergebnis eines Selbstreinigungsprozesses, in dem […] alle exogenen Sinnvorgaben […] abgeworfen und damit die Geschichte der Kunst nach langer Fremdbestimmung endlich in das Stadium der künstlerischen Freiheit und subjektiven Wahrheit geführt“ wurde. Die Geschichte der modernen Kunst sei jedoch, so Warnkes Kritik an dieser Wertung, nicht als eine Selbstbefreiung zu begreifen, sondern als ein Weg ins Abseits des gesellschaftlichen Interesses. Die Kunst sei durch die Untauglichkeit ihrer zeitraubenden Produktionsweisen dem enormen Bilderbedarf in Politik und Wirtschaft kaum noch gewachsen. Außerdem stelle die autonome Kunst heute, bezogen auf die gesamte gegenwärtige Bildproduktion, lediglich ein marginales und unwirksames Randphänomen dar. Deshalb sei der Blick auf den „Gesamtumfang der visuellen Gestaltungskultur“ zu richten, wolle die Kunstwissenschaft nicht ihre Relevanz einbüßen. Durch eine „Verschiebung der Perspektive“, weg von der zeitgenössischen Kunst, „auf [die] visuellen Dienstsphären von heute“ ergebe sich erst wieder ihre Aktualität: „Je weniger die traditionellen methodischen Ansätze für die Gegenwartskunst anwendbar sind, um so mehr taugen sie für die Analyse der gegenwärtigen visuellen Kultur außerhalb der eigentlichen Kunst. Hier, im Bereich der Werbung, der Kulturindustrie, des Designs und der Medien, haben unsere an alter Dienstkunst entwickelten Methoden ihre Chance“. Warnkes Streitschrift folgt, ohne dies allerdings zu erwähnen, einem seit 10 Jahren andauernden, vom Werbefachmann Michael Schirner in

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Deutschland angestoßenen und durch die Benetton-Kampagnen intensivierten Diskurs. Bereits in den 80er Jahren proklamiert Schirner mit den gleichen Argumenten wie der Kunsthistoriker für die Werbung den Status der Kunst. Auch der Werbefachmann konfrontiert die im ‚Dienstverhältnis‘ stehenden modernen technischen Bildproduktionen – wie ehedem die traditionelle bildende Kunst – mit der esoterischen, nur einer kleinen Elite zugänglichen und damit wirkungslosen, Kunst der Avantgarden. Auch er sieht vor allem die Werbung in ihrer Abhängigkeit von werbetreibenden Unternehmen und Politikern in der Tradition der vormodernen Auftragskunst stehend. Schirner beobachtet allerdings darüber hinaus, dass sich die Produktionsbedingungen für moderne Kunst und Werbung zunehmend angleichen. Der Künstler produziere in seinem Atelier genauso arbeitsteilig und kommerziell, wie der Werber in seiner Agentur. Der Künstler „muss – wie das kreative Team in der Agentur – immer allgemeingebildeter und generalistischer werden, er wird immer mehr zur Agentur, zum Subunternehmer, zum Vermittler zwischen Kapital und Kreation“.2 Diese Beurteilung Schirners zielt auf das Argument der Kritik, dass es durchaus einen Unterschied zwischen Kunst und Werbung gebe: ihre Zweckbestimmungen. Die Kunst, so wird beanstandet, sei wesentlich autonom und damit als zweckfrei zu fassen. Wenn überhaupt, diene Kunst allein dem Erkenntnisgewinn und der Wahrheitssuche. Werbung hingegen sei funktional und instrumentell und unterliege dem Zwang zu lügen. Schirner hatte dagegen mit seinem Projekt 22 Maler, in denen er in Öl auf Leinwand allein die Signaturen von Stars der Kunst und Kunstgeschichte nachmalte, polemisch darauf aufmerksam gemacht, dass der Künstler durch seine Signatur den Marktwert seines Werkes festsetzt, also den Bereich der Zweckfreiheit verlässt, um sich zu kommerzialisieren. Diese Bemerkung erhielt ihre Bestätigung Anfang der 90er Jahre. Als der Kunstmarkt eine Hausse erlebte, wurde die Deutsche Bank von Akteuren des Kunstmarktes um Stützkäufe gebeten.3 Des Weiteren merkte Schirner an, dass der Künstler in dem Maße, in welchem er arbeitsteilig schafft, die Autorschaft über sein Werk abgibt, und dieses damit seinen Anspruch auf Einzigartigkeit einbüßt. Einzig der Präsentationsrahmen, Museum und Galerie auf der einen Seite, Straße und öffentliche Kanäle auf der anderen, seien noch dazu angetan, die beiden Sphären zu unterscheiden.4 Bemerkenswert an den Polemiken Warnkes und Schirners ist, dass beide, der Kunsthistoriker wie der Werbefachmann, in der Zweckgebundenheit der auftragsabhängigen Bildproduktionen wie Werbung,

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Fernsehfilme oder Dokumentarfotografie, eher einen Wert, eine Orientierungshilfe und Sicherheit in Hinsicht auf ihre kommunikative Eindeutigkeit sehen. Werbung und Propaganda haben gegenüber der freien Kunst den großen Vorteil, dass sie, weil funktionalisiert, verständlich sind und deshalb wirkungsvoller. Keiner von beiden fragt jedoch nach ästhetischen Unterscheidungsmerkmalen. Gibt es zwischen Kunst und Werbung auch formale Unterschiede? Und was hätten sie zu bedeuten? Die Ästhetik spielt einzig – im Falle Schirners – die Rolle, gute von schlechter Werbung zu unterscheiden. Erstere, so macht Schirner klar, sei natürlich dem Reich der Kunst zuzuordnen. Zudem stellt sich die Frage, ob es nicht auch eine Autonomie der ästhetischen Formen innerhalb der Werbung geben kann, wie sie Warnke ja auch der vormodernen Kunst zugesteht. Das scheint mir umso wahrscheinlicher, je härter die Konkurrenz innerhalb der Werbung wird und je mehr sie um die Aufmerksamkeit der Adressaten zu ringen hat. Nicht nur Tabubrüche und sexuelle Schlüsselreize sind in der Lage, Interesse an der Werbung zu wecken, sondern auch ästhetische Qualität und semantische Polyvalenz, genuine Merkmale der Kunst, sind dazu fähig, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen. Gerade in den letzten Jahren scheint sich das zu bestätigen. Im Moment hat die Werbebranche erheblich unter der weltweiten und nationalen ökonomischen Konjunkturkrise zu leiden. Das Jahr 2000 – wohl nicht zuletzt wegen seines Status als Jahrtausendwende – brachte der Werbeindustrie in Deutschland noch zweistellige Zuwachsraten. Seitdem ist der Abschwung in dieser Branche stärker als anderswo.5 Die Faktoren dafür sind vielfältig. Vor allem sind die werbetreibenden Firmen genötigt, ihren Werbeetat zu kürzen. Das wirkt paradox, weil gerade in Krisenzeiten ein erhöhtes Werbeaufkommen benötigt würde. Denn je geringer der Konsum, desto umfangreicher und aggressiver sollte die Werbung sein, um in der harten Konkurrenz bestehen zu können. Da dem nicht so ist, stellt sich die Frage, ob Werbung und der durch sie zu erzielende Imagegewinn doch nicht den Effekt hat, den man ihr zuschreibt. Reklame erschiene in ihrer Nützlichkeit überschätzt. Was bliebe dann von ihr? Sie wäre dann wohl ähnlich zu bewerten wie die bildende Kunst: als ein kultureller Mehrwertfaktor, ein ästhetisches Surplus, mit dem die Unternehmen und einzelne Bürger sich ebenso ‚schmücken‘ wie mit ihren Kunstsammlungen. Sich mit einem bestimmten Werbe-Stil zu präsentieren, wäre demgemäß weniger eine Frage der Effizienz als eine des Geschmacks. Damit jedoch wäre auch Werbung anfällig für ein Phänomen wie l’art pour l’art in den bil-

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denden Künsten. Diese Frage ist heute jedoch nicht endgültig zu entscheiden, da die tief greifende Krise der Werbebranche und die einhergehenden technischen Umwälzungen durch die elektronische Bildverarbeitung noch sehr jung und die Folgen noch nicht abzusehen sind. Allerdings scheint die manifeste Krise der Werbebranche nicht nur eine äußerliche zu sein, hervorgerufen durch die ökonomischen Abhängigkeiten, denen ein Auftragsgewerbe wie die Werbung ausgesetzt ist. Sie scheint auch inhaltlicher Natur und bereitet sich bereits in den 90er Jahren vor. Dieser Annahme möchte ich folgen, wenn ich nun auf eine Schlüsselkontroverse um die moralische Integrität der Werbung, ihre Zweckgebundenheit und ihre Ziele eingehe. Es geht um den Skandal, welchen die Benetton-Kampagnen in Deutschland hervorgerufen haben. Stein des Anstoßes war die Anfang der 90er Jahre begonnene Strategie, für das Image der Firma mit großformatigen Plakaten zu werben, welche die Schrecken der modernen Welt in der Art des Fotojournalismus zeigen. Ziel der Kampagnen war es, so Oliviero Toscani, ihr Leiter, die Werbung als „Vehikel“ zu nutzen, „um eine antirassistische, kosmopolitische und tabulose Geisteshaltung“6 zu verbreiten, indem sie die Menschen auf gesellschaftlich relevante Themen wie Krieg, Flüchtlingselend, Umweltkatastrophen, Kinderarbeit, Aids, Todesstrafe etc. aufmerksam machte und zu eigenen Reflexionen darüber anregte. In heftiger Gegenwehr wurde ihm von den Feuilletons wie auch von Kollegen aus der Werbebranche vorgeworfen, dass er mit seinen Darstellungen schweren Leids von Menschen und Tieren Gefühle des Mitleids ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken nutze.7 Damit verlasse er, gerade durch seine nicht Produkt bezogenen Werbemaßnahmen, die guten Sitten im Wettbewerb. Zur Beurteilung vor dem Bundesgerichtshof standen bald zwei Anzeigen Benettons im Stern, die eine mit dem Motiv einer auf einem Ölteppich schwimmenden, ölverschmutzten Ente (Farbtafel XVI), die andere mit der Aufnahme von schwer arbeitenden Kindern verschiedener Altersstufen in der Dritten Welt. Ein drittes Bild, ein nackter männlicher Hintern, dem die Buchstaben HIV positiv eintätowiert sind, führte zur Klage, dass der Betrieb mit dieser Kampagne in grober Weise gegen die Wahrung der Menschenwürde verstoße, indem er den Aids-Kranken als ‚abgestempelt‘ und ausgegrenzt darstelle. Der besondere Schock der Bilder bestehe darin, dass die dem Verbraucher präsentierten Anzeigen und Plakate nicht unmittelbar für die Wahl eines beworbenen Produkts motivier-

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ten. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. als Klägerin forderte in diesem Zusammenhang, dass sich eine Werbung, die keine Werbeaussagen über den zu verkaufenden Gegenstand oder die werbetreibende Firma mache, an den Grundsatz halten müsse, dass mit dem Leid anderer keine Geschäfte gemacht werden sollten.8 Zudem stelle die suggestive Wirkung und die Intensität der kommentarlos auftretenden Bilder unter dem Logo des werbenden Unternehmens eine Belästigung des Publikums dar, das sich deren Wirkung nicht entziehen könne und ihnen deshalb hilflos ausgeliefert sei.9 Diese Kritik wird sekundiert von einer Vielzahl kulturhistorischer und ideologiekritischer Analysen von ähnlichem Ton. Es wird moniert, Benetton enthebe die dargestellten Ereignisse ihres politischen und sozialen Kontexts, privatisiere gesellschaftliche Ereignisse durch ihre Unterordnung unter das eigene Firmenlogo und reduziere sie so auf das Spektakel der Faszination, des Schreckens und Terrors10, deren einziger Hort der Beruhigung eben das Unternehmen selbst sei. Zudem erwecke Toscani für seine Werbeplakate durch ihre künstlerische Inszenierung vermittels starker Farbkontraste, der geringen Anzahl von Bildelementen sowie der großen Plakatformate den Eindruck von großen Tafelbildern im Museum. Er beute die Kunst aus und entwickle eine alles nivellierende Ästhetik der Ironie, die im Verbund mit der Logik der Angst nur Kapital schlagen wolle.11 Hatte der BGH den Klagen stattgegeben, so nahm das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung zu den beiden Motiven des ölverschmierten Vogels und der Kinderarbeit der Kritik in den wesentlichen Punkten den Wind aus den Segeln: „Die anprangernde, gesellschaftskritische Wirkung der Anzeigen wird durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt“12, denn „sie weisen auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen hin und sind geeignet, diesen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen“.13 Trotz des gerechtfertigten Befremdens, das die Darstellung von Leiden unter dem Banner der Werbung auszulösen in der Lage sei, „wird dadurch [durch die Applikation des Firmenlogos] auch für den unbefangenen Betrachter die Ernsthaftigkeit der Botschaft nicht in Frage gestellt.“ Das begründet das BVG mit den Emotionen, die die Bilder offensichtlich gerade bei den Anklägern erwecken: „Wäre es anders, könnten sie bei diesem [dem Betrachter] kein Mitleid hervorrufen“.14 Auch im Falle der Reklame durch die Darstellung des ‚abgestempelten‘ Hintern sei durch den Werbekontext eine Stigmatisierung oder Ausgrenzung nicht gegeben.15 Es gebe folglich keinen Anlass, irgendeines der Motive zu zensieren. Bei aller gebotenen Distanz

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zur Werbepraxis Benettons hat das BVG eines klar gestellt: Werbung, so lange sie nicht ekelerregende, furchteinflößende, jugendgefährdende oder Personen diskriminierende Bilder zeigt, steht durchaus unter dem Schutz der Pressefreiheit. Ein Schutz vor derartigen Belästigungen falle nicht unter die Zuständigkeit der Gerichte.16 Dem Urteil ist hinzufügen, dass die Emotionalität, die die Werbekampagnen Benettons hervorzurufen in der Lage ist, auf die Gesellschaft selbst zurück weist. Der mit den Buchstaben AIDS stigmatisierte Hintern ist ja nur deshalb in der Lage, die Gemüter zu erregen, weil das Plakat offen legt, dass der AIDS-Kranke ein von der Gesellschaft ausgestoßener ist. In diesem Zusammenhang Emotionen zu wecken, ist mitnichten ein Verdienst des Kleiderproduzenten. Es stellt sich im Fall Benetton die Frage, warum ausgerechnet diese Werbekampagnen dazu fähig sind, die Betrachter so zu affizieren wie ehedem die bildenden Künste? Haben wir es tatsächlich mit Fotodokumentationen zu tun, oder lassen sich Bildstrategien ausfindig machen, die in besonderer Weise das Schamgefühl der Betrachter treffen? Stimmt es, dass der kritische Appellcharakter der Bilder, wenn es denn einen gibt, tatsächlich von der Hinzufügung eines Firmensignets unberührt bleibt, wie das BVG urteilt? Wie kommt es, dass sich ein Publikum, das sich täglich auch außerhalb des redaktionellen Teils der Medien freiwillig blutigen Monstrositäten wie Action- und Splattermovies aussetzt17, das vor allem auch andere, ähnlich schockierende Werbungen kennt und goutiert, sich von den Bildern der Benetton-Kampagnen belästigt fühlt? Diese Fragen lassen sich beantworten im Vergleich mit anderer Werbung, die ebenfalls Leid und Entsetzen für Reklamezwecke instrumentalisiert. Zur selben Zeit, 1990, als Benetton begann, seine Kampagne von der Darstellung liebreizender Kinder aller Rassen auf die Präsentation von Elend umzustellen, schaltete die Firma Nikon die Kampagne: 3 x Vietnam …18, in der sie den Schrecken des Krieges propagandistisch nutzte. Anders als der Kleiderproduzent betreibt der Fotohersteller Nikon mit seinem Plakat Werbung im klassischen Sinn. Es zeigt das beworbene Produkt und stellt es vor. Gleichzeitig klärt es mit dem begleitenden Text über seine Qualität, hier seine Robustheit, auf. In dicken Lettern werden die Gebiete aufgezählt, in denen diese Kamera schon überall Bilder gemacht hat: in Vietnam, Kambodscha, Nordirland und anderen Regionen, heimgesucht von Morden, Bürgerkriegen und Elend. Dabei ist sie trotz aller Unbilden, Schocks und Bedrohungen über die Jahrzehnte nur einmal in der Reparatur gewesen.

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Die Rhetorik dieser Kampagne mutet dem Publikum einen unauflöslichen Widerspruch zu. Er besteht in der Evokation von Schrecken durch die gehäufte Nennung von Kriegsorten und dessen gleichzeitiger Zurücknahme. Denn im kleingedruckten Untertext wird das herbeizitierte Unglück reduziert. Nicht nur wird, wie zu erwarten, auf die Gefahren der Bildberichterstattung hingewiesen, sondern auch erklärt, der Journalist habe die Aufgabe, die Zeit „mit schönen, aufregenden, aber leider auch teilweise mit erschreckenden Bildern“ zu dokumentieren. Zudem macht die Liste der Katastrophenländer keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Kriegsherd und Reparaturwerkstatt, was nicht nur die gleiche Drucktype der genannten Orte anzeigt, sondern auch der abschließende Punkt hinter der Erwähnung: „1x in Reparatur“. Psychologisch wird der Rezipient durch diese paradoxe Strategie auf die Qualität des Produktes eingestimmt. Zuverlässigkeit und Sicherheit in Zeiten und an Orten des Kriegens und Mordens bietet einzig die gezeigte Kamera. Wie Benetton macht Nikon Reklame mit der Grausamkeit der Welt, mit der ‚Realität‘. Jedoch anders als der Kleiderfabrikant löst sie die durch die schriftliche Nennung von Krisengebieten hervorgerufenen Schrecken und induzierten Ängste durch Sicherheitsversprechen wieder auf. Das ist das Prinzip, welches wir von der Werbung erwarten. Am direktesten zeigt das die Waschmittelwerbung: die Kleidung ist zunächst schmutzig und befleckt, hässlich. Das Waschmittel versetzt sie wieder in den Zustand unversehrter Reinheit, die Familie in den kindlicher Freude und paradiesischer Schuldlosigkeit. Anders als Benetton erweckt Nikon durch die Nennung von Katastrophen allenfalls Phantasiebilder im Betrachter, die stark genug sein mögen, Angst zu produzieren, die jedoch gleichzeitig die Möglichkeit bieten, sich an der Erkenntnis, es seien nur Phantasiegebilde, wieder zu beruhigen.19 Allein im Vergleich mit diesem Plakat wird ein Aspekt für die Wirksamkeit der Benetton-Plakate deutlich: Es ist die Macht der Bilder. Die Benetton-Plakate führen dem Publikum die Katastrophen augenscheinlich so vor, dass es sich nicht einfach, wie bei Nikon, wieder beruhigen kann. Dabei scheint Benetton den suggestiven Effekt der Fotografie zu nutzen, die Wirklichkeit wörtlich abzubilden. Wie wichtig es für die Wirkung eines Plakates ist, ob ein Foto dokumentarisch oder gestellt wirkt, zeigt ein Vergleich mit einem anderen, auch mit dem Schock arbeitenden, Plakat von Art Director Eiko Ishioka und dem Fotographen Kazumi Kurigami. Die Kampagne bewirbt den japanischen Mode- und Kaufhauskonzern Parco, welcher

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das hier genannte Motiv bereits 1979 in Auftrag gab.20 Zu sehen ist eine in der Art des Schwarz/Weiß-Kontrastes gehaltene Farbfotografie, die eine in ein helles, einfaches Tuch geschlungene Farbige zeigt. Auf den ersten Blick wirkt das Modell leidend, das Kleid als Lumpen, armselig, so dass die Assoziation mit einer Hungernden aus Afrika entsteht. Reflexartig ist man bereit, Mitleid mit der Leidenden zu empfinden, vielleicht seinen Geldbeutel für Ablasszahlungen zu zücken. Bestätigen lässt sich diese Assoziation durch einen Blick auf ein ähnliches Motiv, welches die Düsseldorfer Werbeagentur Springer & Jacoby vom Modefotografen Michel Comte 1999 nutzte für eine international prämierte Kampagne gegen den Hunger mit dem äthiopischen Model Kadra Ahmed Omar. Bei dem Modefoto gewahrt der Zeitgenosse erst auf den zweiten Blick, dass die abgebildete Frau der berühmte Filmstar und die gefeierte Rocksängerin Grace Jones ist. Mit dieser Beobachtung wird das einfache Tuch als Kostbarkeit und edle Ware offenbar. Der Schreck fällt vom Betrachter ab mit der Erkenntnis, dass es ‚nur‘ eine Schauspielerin ist, die das Elend mimt. Der Hunger, die Armut sind nichts als Fake. Was zählt, ist die schlichte, in elegantem Understatement gezeigte, vor dem dunklen Fond strahlende Gewandung. Der rhetorische Effekt bei diesem Motiv ist der, dass das Kleid in seiner Einfachheit moralisch aufgewertet wird: ‚Weil es Leiden gibt, trete ich bescheiden auf‘. Edel kann ich mich kleiden, weil das Leiden nur Schein ist. Diese Werbung funktioniert im Prinzip wie das Nikon-Plakat auch. Es erregt Schrecken und Unlustgefühle, erweckt spontanes Mitleid, um das Unglück gleich wieder als inszeniert zu entlarven und diese Wendung zum Angenehmen an das beworbene Produkt wertend zu binden. Toscani verweigert eine solche Strategie, ja stellt deren Wirkweise auf den Kopf. In einer Kampagne vom Frühjahr/Sommer 1994 präsentiert er die blutverschmierte Uniform eines gefallenen Serbo-Kroaten. Im Gegensatz zu den oben genannten Reklamen mimt kein berühmtes Modell Elend, kein Bekleidungs-Fake ist inszeniert. Statt des zu bewerbenden Produktes, Hosen und Kleider von Benetton, zeigt Toscani die sachliche, emotionslose Dokumentation dessen, was ein toter Soldat zurück lässt, die Kriegsmontur. Toscani drapiert sie in ihrer abstrakten Vereinzelung als eine Evokation des toten Körpers, den die Seele im gewaltsamen Tod als abgelegtes Gewand hinter sich gelassen hat. Nichts ermöglicht hier die Beruhigung des Betrachters. Im Gegenteil, das geronnene Blut auf einem weißen, durchschossenen T-Shirt rückt die Todesgefahr dem Betrachter insofern besonders nahe, als er selbst anstelle

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des Serbo-Kroaten erschossen worden sein könnte. Ohne sichtbare Denunziation einer bestimmten Ideologie als kriegstreibende, ohne Anspielung auf einen bestimmten Kriegstreiber erscheinen hier die Schrecken des Krieges so allgegenwärtig wie das T-Shirt selbst auch. Am Beispiel der Ölpest (Herbst/Winter 1992) möchte ich im Weiteren die eben alludierte Affektregie Toscanis vertiefen. Das Bild (Farbtafel XVI) zeigt einen auf Öl schwimmenden, ölumhüllten Vogel mit einem roten Auge. Ganz links, knapp unter einer glänzenden Blase ist das grüne Logo der Firma montiert, die Ober- und Untergrenze der Schrift ist mit dem Auge des Tieres beinahe auf Linie gebracht. Die Bildkomposition wird beherrscht von ausgewogenen Proportionen und einer harmonischen Massenverteilung. Die Ente markiert als ein quer liegendes Oval die Diagonale von links unten nach rechts oben. Der Vogel selbst ist geprägt von Symmetrie, bewirkt einerseits durch die Linie, die quer über seinen Rücken läuft, andererseits durch die Spiegelung des Kopfes unter ihm. Der bis auf wenige, kaum sichtbare Flecken eingehüllte, schwarz glänzende Körper wird, wo er die Oberfläche des Mediums unter sich berührt, von Licht umzeichnet, das im einheitlichen Dunkel die Kontur des Tieres auratisch nachzeichnet. Allein ein kleiner roter Kreis sticht glühend aus der Düsternis hervor und wird im Simultankontrast mit dem grünen Logo flammend betont. Wir haben hier offensichtlich eine Komposition vor uns, die den Betrachter vor allem ästhetisch anspricht. Dunkelheit und Licht, Schwarz und intensive Farben, harmonisch arrangiert, bestimmen die Aussage. Ästhetisch ansprechend ist die glänzende Glätte der schwarzen Substanz. Toscani präsentiert dem Betrachter ein formal durchdachtes und bis ins Kleinste durchkomponiertes Bild. Hinge das Bild ohne Logo im Museum, so würde der Fotograf bewundert für seine poetische Reflexion über das Sterben, denn er bedient sich des künstlerischen Ausdrucksinventars für die Darstellung des nahenden Todes, indem er Licht gegen düsteres Schwarz setzt und mit dem roten Fleck verglimmendes Leben beschreibt. Niemand käme auf die Idee, dieses Werk für eine dokumentarische Wiedergabe der Realität zu halten, eher noch für eine Bezugnahme Toscanis auf eines seiner eigenen vorangegangenen Motive. So kann man die Ölpest auch verstehen als eine Weiterentwicklung der Werbekampagne vom Herbst/Winter 1991 (Abb. 1). Hier zeigt Toscani Blätter auf einer schwarzen, glänzenden, öligen Substanz, die sich in das herbstlich gefärbte Laub frist und es auflöst. Auch hier finden wir, allerdings in harmloserer, weil gegenständlich indifferenter, Weise eine

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Abb. 1: Werbekampagne Benetton, Herbst/Winter 1991, Herbstblätter auf Öl, Foto: Knesebeck-Verlag 2002

Allegorie auf das Sterben und den Tod formuliert. Im Vergleich jedoch mit diesem Motiv wirkt die Ölpest tatsächlich wie eine Dokumentation. Nicht an sich ist die Ölpest moralisch anrüchig, sie stellt keinen eigentlichen Schock dar. Er wird jedoch induziert durch die Konfrontation von Kunst mit dem Leben. Dieser Sprung der Wahrnehmung von der Kunstrezeption zum Gewahrwerden der grässlichen Wirklichkeit wird allein bewirkt durch die Applikation des Logos, das einen Platz zwischen Kunst und Realität einnimmt. Zum einen ist es ästhetisch durch den Simultankontrast mit dem roten Kreis und seine Anbringung in Höhe des Auges mit für die Wirkung der Formen und Farben verantwortlich, gehört zum Bild. Zum anderen stimmen der weiße Schriftzug und die Farbqualität des grünen Rechtecks nicht mit der Ästhetik des Bildes überein. Letzteres reißt den Betrachter aus der Kunstbetrachtung und stößt ihn in die Wirklichkeit, nötigt ihn, im ölverschmierten Vogel die grausige Realität einer wirklichen Ölpest zu sehen. Der prinzipielle Unterschied zu den Werbekampagnen von Nikon und Parco besteht darin, dass wir bei diesen beiden erschreckt werden, um gleich wieder in der Beruhigung der Warenwelt zu versinken. Bei Toscani hingegen funktioniert der Effekt umgekehrt. Wir werden gefangen von der Ästhetik des Bildes, um in das wirkliche Dunkel des Todes entlassen zu werden. Inszenieren Parco und Nikon das Leiden als Fake und Phantasie und stellen ihre Marken und die mit ihnen verbundenen Produkte als Vehikel der Beruhigung dar, so ist Benettons Firmensignet das Mittel, welches den schönen Schein als grausame

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Wirklichkeit auftreten lässt.21 Das Bild für sich stellt keine Anklage da, indem es das Leben ungeschönt zeigt, wie das BVG urteilt – es ist reines Kunstprodukt. Auch ist es nicht so, dass die Applikation des Logos den Aussagewert des Bildes nicht berührt. Denn erst die Verbindung von Firmenzeichen und Kunstformung wertet das ästhetische Gebilde zur erschütternden Dokumentation um. Offensichtlich bedarf die Werbestrategie Benettons zur Ausdruckintensivierung ihrer Bildproduktionen der Kunst. Toscani braucht sie, um den Schock zu inszenieren, in welchen er sein Publikum stürzt durch die Konfrontation von Wirklichkeit und schönem Schein, wobei nicht allein der Einsatz des Firmenzeichens im einzelnen Bild verantwortlich zu machen ist. Es ist vielmehr die Verwischung der Grenzen von Kunst und Wirklichkeit, die Toscani vornimmt, indem er dem Publikum gleichermaßen Fotodokumentationen und hoch artifizielle Inszenierungen unter einem Label als gleichwertig präsentiert, ein Vorgehen, welches er bereits in der Herbst/Winter-Kampagne von 1989 präsentiert. Hier werden zwei Motive, eine Palette und ein Blumenstrauß, geboten, welche die Verquickung und Differenz von Kunst und ‚Realität‘ allegorisch formuliert und spielerisch miteinander verquickt. Eine farbige Palette wird einem Blumenstrauß gegenübergestellt. Anwenden lässt sich dieses Prinzip nicht nur auf die eben gesehenen zwei Inszenierungen des Sterbens, hier eine offensichtliche Installation mit Blättern, dort eine Darstellung, die sich im Vergleich wie die Wirklichkeit ausnimmt. Mit dem gleichen Effekt treten die Werbungen im Frühjahr/ Sommer 1992 auf. Die eine zeigt als Motiv die von Fotoattualità produzierte Dokumentation von Flüchtenden auf einem überfüllten Boot. Das andere konfrontiert die Öffentlichkeit hingegen mit einer offensichtlich gestellten Trauerszene, aufgenommen von Franco Zecchin, einem Mitglied der berühmten Fotoagentur Magnum. Der stille Gram, die strenge Ordnung der Frauen, der kalkulierte Kontrast des weißen Tuches mit dem Schwarz der Trauer unter Betonung des roten Blutes im Vordergrund vermittelt der Szene eine Ausdrucksqualität, wie sie allein in der griechischen Tragödie zu erwarten wäre. Nicht zuletzt die unmöglich klare Spiegelung des Gesichtes einer der Frauen auf der wie Quecksilber glänzenden Blutlache weist die Komposition als gestellt und nachträglich bearbeitet aus. Es ist wohl kein Zufall, dass Toscani einige Jahre später, im Winter 1999/2000, einen vereinzelten Blutfleck als Werbung Benettons für den

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UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees), die sog. Kosovo-Kampagne, in Szene setzt. Dieser unwahrscheinliche rote Farbfleck verhält sich zum Blut des betrauerten Mordopfers wie die schimmernde Substanz unter den Blättern zur Ölpest. Sie lassen die Trauerszene im Nachhinein als Wirklichkeit erscheinen. Dennoch stehen beide Arten der Fotografie, das Abbild wie das Kunstbild, unter dem einen, ewig gleich bleibenden Signet Benettons. Das Spiel mit dem Logo der Firma erweist sich damit als ein sehr wichtiges Mittel, die Unterschiede der Bereiche Kunst und Leben in komplexer Weise kollabieren zu lassen, um sie im Einzelbild, wie am Beispiel der Ölpest besprochen, wieder voneinander zu trennen. Auf der Ebene der Kampagnen verknüpft dasselbe Zeichen die beiden Reiche Kunst und Wirklichkeit ununterscheidbar miteinander, so dass das Publikum in ein Vexierspiel verwickelt wird, in dem es nicht mehr zwischen Inszenierung und Abbildung von realem Leben zu unterscheiden weiß. Deutlich wird dieses Vexierspiel an der Kampagne: David Kirby – A ‚Pieta‘ von 1992 (Abb. 2).22 Es stellt den AIDS-Kranken David Kirby,

Abb. 2: Werbekampagne Benetton, Frühjahr/Sommer 1992, Der sterbende David Kirby, Thérèse Frare, Oliviero Toscani (Foto: Knesebeck-Verlag 2002)

den Gründer der AIDS-Foundation in Stafford/Ohio, auf dem Sterbebett dar, und ist ein Werk der Reporterin Therese Frare. Bemerkenswert an diesem Foto ist, dass es, obwohl es als Dokumentation bereits 1990 in der Illustrierten Life auftrat, doch eine hoch artifizielle Inszenierung menschlichen Leidens ist, eine bildmäßige Schöpfung, die offensichtlich auf Beweinungsszenen der Kunstgeschichte rekurriert, etwa auf eine Pietà Annibale Carraccis oder Guercinos (Abb. 3).

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Abb. 3: Giovanni Francesco Barbieri, gen. Il Guercino, Grablegung Christi, Öl/Lw., 1656, Chicago, The Art Institute

Toscani konnte sich jene Fotografie passend zu seinen Werbeprojekten aussuchen, weil es einer Zwischenwelt von Kunst und Dokumentation angehört. Und dennoch: obwohl die Kritik die Kunstmäßigkeit des Plakates, seine Abhängigkeit von der Kunstgeschichte wahrnahm, erregte sie sich in der Hauptsache darüber, dass Toscani dem Publikum die Wirklichkeit von Leid und Sterben unter dem Werbesignet Benettons präsentierte.23 Es wäre eine Spekulation wert, ob die Reaktionen auch so heftig gewesen wären, hätte der Werbeleiter Benettons etwa die Pietà Guercinos24 oder auf der anderen Seite die Bilddokumentation eines Aids-Kranken, etwa das realistische Selbstporträt von Marc Morrisroe (Abb. 4) , mit dem bekannten Label versehen. Toscani inszeniert, wie bereits geschildert, den Schock seiner Leid darstellenden Werbekampagnen auf subtile Weise. Er nutzt den Kontext mehrerer hintereinander oder gleichzeitig geschalteter Motive verschiedener Bildgattungen, um die Grenze von Kunst und Realität, von Inszenierung und Dokumentation ununterscheidbar zu machen – das hat er zweifellos mit anderen Werbetreibern gemeinsam. Der Effekt liegt jedoch darin, dass bei allem Wandel, bei allem Unglück eines gleich bleibt: die werbetreibende Firma und ihr Signet. Der Werbefachmann lässt in der Präsentation eines einzelnen Motivs durch die Applikation des Firmenlogos Kunst als Wiedergabe des Tatsächlichen erscheinen. Hier verfährt er umgekehrt zu den gewohnten Werbestrategien, indem er die ästhetische Inszenierung nutzt, um den Betrachter schockartig in die Wirklichkeit zu stoßen. Erst der Kontext der Kampagnen löst diesen

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Abb. 4: Mark Morrisroe, Untitled (Self-Portrait), Polaroid, 1989, Slg. Ringier

Schock im Spiel von Schein und Wirklichkeit wieder auf. Was herkömmliche Werbung in einem Plakat leistet, den Betrachter über die Entlarvung des dargestellten Schreckens als inszenierten zu beruhigen, dehnt Toscani über eine Anzahl von Kampagnen aus. Dadurch aber wird, wie gesagt, erst das über alle Kampagnen hinweg gleich bleibende Firmenlogo zum entscheidenden Katalysator für Beruhigung und Entlastung vom schrecklichen Alltag. Für das einzelne Motiv vertieft also die Applikation des Logos den Eindruck des Gezeigten als ein Wirkliches; kampagnenweit hebt es jedoch die Erregung über die Grausamkeiten dieser Welt durch die Grenzverwischung von Inszenierung und Dokumentation wieder auf. Abschließend möchte ich die These formulieren, dass der Skandal um Toscanis Werbekampagnen weniger in der Instrumentalisierung der Schamgefühle des Publikums für Profitzwecke besteht, als in der Offenlegung eines bestimmten Habitus der Konsumgesellschaft, welcher von den Strategien der Werbewelt mit hervorgebracht wurde. Um das zu erklären, ist ein kleiner Exkurs über die Strategien der Werbung und ihre emotionalen Effekte nötig: Werbung ist ein Geschäft, welches sich durch vielerlei Paradoxien auszeichnet. Sie bewegt sich zwischen Standardisierung der Bildsprache einerseits und Individualisierung der Konsumenten andererseits, zwischen Image, als Kompensation der stetigen Abnutzung von Erfahrungen, und behaupteten Erfahrungstatsachen, als Ausweis für die

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Güte von Produkten und ihren Herstellern, zwischen Sensation, die nötig ist bei schwindendem Aufmerksamkeitspotential des Publikums, und Langeweile, die sich einstellt, wenn ein Witz zu häufig erzählt wird. Es ist nicht nur Ziel der Werbung, für den schnellen Verkauf der Produkte zu sorgen. Werbung muss darüber hinaus eine Rhetorik entwerfen, um zusätzlich eine Bindung der Kunden an Waren und Firmen zu erzeugen. Das Produkt, welches jetzt erworben werden soll, wird als das beste, das fortgeschrittenste vorgestellt, als das nützlichste und wertvollste, weil Ausweis für sozialen Status und Glück. Die Kunden sollen nicht nur kaufen, sie sollen es gern und voller Überzeugung tun, konsonant in Fühlen, Denken und Handeln. Nur so bleiben sie treue Kunden. Gleichzeitig aber stellt sich beim Kauf ein schales Gefühl ein, die so genannte Post-Shopping-Frustration. Denn das eben Gekaufte ist im Moment des Erwerbs schon veraltet. Der Werbefachmann und Autor Beigbeder drückt diese Paradoxie von emotionaler Bindung an das frisch Erworbene und gleichzeitiger Enttäuschung so aus: „Mein Amt ist es, Ihnen den Mund wässrig zu machen.“ „Geleckte Bilder, Musik im Trend. Wenn Sie genug gespart haben, um sich den Traumwagen leisten zu können, den ich in meiner letzten Kampagne lanciert habe, ist der durch meine nächste Kampagne längst überholt. Ich fixe Sie mit Neuheiten an, die den Vorzug haben, dass sie nicht neu bleiben. Es gibt immer eine Neuheit, die die vorige alt aussehen lässt“.25 Werbung ist ein Medium, welches die Kunden im Zustand permanenter Dissonanz hält. Das ist ihr größtes Paradox. Auf der einen Seite produziert sie Begehren, Bindungsenergien für ein Produkt, auf der anderen Seite erzeugt sie Verdrossenheit über dasselbe, lässt das Begehren unbefriedigt, koppelt die aufgebaute Bindung vom gekauften Gegenstand ab, um sie auf den nächsten Gegenstand zu lenken. Diese Strategie erzeugt beim Publikum, beim Konsumenten, einen Zustand des Mangels an Bindungsintensitäten, letztlich die Bindungslosigkeit. Bei Florian Illies ist nachzulesen, wie diese sich äußert: „Mein Bruder, der Philosoph, fragt mich dann nach inneren Werten, und ich sage, ja, die Aktie hat noch verborgenes Kapital. Und das Ende der DDR kommentieren wir mit der Werbekampagne der Wirtschaftswoche: Jede Fusion hat ihre Verlierer. Wir sind schon schrecklich“.26 Erstaunlich an diesem Dialog ist weniger die mehr oder weniger witzige Kommentierung eines historischen Vorgangs durch das Zitat einer Werbeanzeige, auch nicht der Ersatz der inneren Werte durch den Geldwert, sondern die gleichzeitige Selbstbeurteilung: ‚Wir sind schon schrecklich‘. Der Erzähler in Illies’ Buch Generation Golf, Repräsentant eines ganz auf

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Werbung ausgerichteten Lebens, befindet sich nicht nur im Zustand permanenter Dissonanz in Bezug auf die Welt der Waren, wie es Beigbeder beschreibt, sondern auch auf sich selbst, was zu einem Grundhabitus führt, der geprägt ist von emotionsloser, unbeteiligter Distanz. Es fehlen Involvement und Engagement: „Wenn man alles in Gänsefüßchen denkt, ist alles akzeptabel“.27 Ein solcher Charakter zeichnet sich durch mangelnde Gefühlsintensität aus. Eigentlich erzeugt Dissonanz ein Leiden an sich selbst, welches dazu motiviert, Fühlen, Handeln und Denken in einen als lustvoll empfundenen Zustand der Übereinstimmung mit sich selbst zu überführen. Doch der Versuch, Konsonanz herstellen zu wollen, d. h. entweder das Handeln gemäß den Überzeugungen und Gefühlen zu ändern oder aber die Überzeugungen und Gefühle dem Handeln anzupassen, ist von vornherein unsinnig. „Man kann die Marktentwicklung nicht vorwegnehmen, muss ihnen aber in ‚Echtzeit‘ gewachsen sein“, wie Norbert Bolz in Kult-Marketing schreibt. „Das bedeutet jedoch, dass die Anpassungsfähigkeit größer sein muss als die planende Vernunft“.28 Dieser Habitus der bindungslosen Anpassungsfähigkeit wird erkauft durch die Verdrängung der emotionalen, nicht der kognitiven, Anteile in der Wahrnehmung von Leid und Elend. Zwar wird Leiden realisiert, ein Mitleiden als Gefühl jedoch gar nicht erst zugelassen: „Eigentlich ist nur die Tatsache lästig,“ so Illies über Hemdenverpackungen, „dass niemand weiß, was man anschließend mit den zahlreichen Nadeln und Pappteilen tun soll und ob man sie in den Müll werfen darf oder ob sich dann arme Müllsortierer die Finger daran stechen und an unserem Snobismus verbluten. Aber darüber denkt man nur nach, solange der Mülleimer noch auf ist“.29 Der Skandal der Toscani-Kampagnen besteht nun darin, dass er über das subtile Vexierspiel von Kunst und Wirklichkeit eben diesen Verdrängungsmechanismus aufzeigt, indem er, um es metaphorisch zu sagen, den Mülleimer offen lässt und die blutenden Hände der Müllsortierer zeigt. Der Werbefachmann demonstriert nicht nur, wie Werbung, hier das Spiel von Image und Logo, der Verwandlung von Wirklichkeit in schönen Schein und vice versa, funktioniert. Er überführt die distanzierte Haltung des Konsumenten über den Schock, die Evokation von Ekel und Mitleid, in den Zustand der emotionalen Beteiligung, nötigt zu intensivem Fühlen, und macht die Dissonanz als ein Unwohlsein, ein Leiden an sich selbst und an der Welt, spürbar. Der Skandal um die Benetton-Reklame liegt nicht in der Kommerzialisierung des Mitleids, sondern im Aufzeigen, dass die Werbewelt wie ihre Rezipienten in der

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stillen Übereinkunft leben, ohne Gefühlsintensitäten, die Bindung und Verbindlichkeit erst begründen, auskommen zu wollen. Es ist kein Wunder, dass die Kläger vor Gericht sich von den Toscani-Plakaten vor allem belästigt fühlten. Die Beseitigung von Bindungsenergien betrifft vor allem die produzierende Industrie selbst: Die großen Unternehmen in Deutschland verlieren in dramatischer Weise ihre Fähigkeit, Kunden und Mitarbeiter langfristig an sich zu binden. Ständige Reizüberflutung, neuartige Bedürfnisprofile und gestiegenes Selbstvertrauen erschweren es den Unternehmen, ihre Kunden zu erreichen.30 Eine Folge daraus ist die in den letzten Jahren zu beobachtende Tiefpreispolitik der Unternehmen. Doch noch geringer als die Loyalität der Kunden wird diejenige der Mitarbeiter eingestuft. Das größte Problem stellt hier die mangelnde Motivation der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz dar, entstanden einerseits durch die hohen Entlassungswellen der letzten Jahre, zum anderen durch die geringe Betreuung und Berücksichtigung der Interessen und Emotionen der verbliebenen Mitarbeiter.31 Um aus dieser Misere herauszufinden, werden verschiedene Strategien diskutiert. Es werden extensive und intensive Methoden vorgeschlagen. Zu den extensiven gehört etwa der jüngste Vorschlag der New Yorker Agentur GoGorilla, die Kunden mit Werbung zu „bombardieren und zu überwältigen“.32 Keine Fläche im öffentlichen Raum, so die Agentur, darf ohne Werbung sein. Das führt sogar so weit, dass Geldscheine mit Slogans und Logos beklebt werden.33 Zu den intensiven Methoden gehört der Versuch zur umfassenderen Emotionalisierung der Kunden wie der Unternehmensmitarbeiter durch ausgedehntere Kampagnen, die nicht nur die klassischen Werbemedien umfassen, wie die Zeitungsanzeige, das Plakat und den Werbespot. Mehr Emotionalität, so der Mainzer Betriebswirtschaftler Lothar Rolke, „stellt sich her durch direkte Ansprache, durch Erlebnis, durch Events und auch dort, wo jemand selber die Chance hat, etwas zu tun, also wo Interaktivität gegeben ist“.34 Kurz, die Werbung wird zunehmend auf das Internet zugreifen und versuchen, klassische Werbemedien mit diesem und mit Großveranstaltungen wie Rockkonzerte, Quizshows und Motivationstraining zu verknüpfen. Die Werbebranche befindet sich in einer tief greifenden Krise, die nicht allein ökonomisch, sondern vor allem emotional zu erklären ist. Kaum noch scheint sie in der Lage, mit ihren üblichen Strategien Kunden zu gewinnen, weil sie, wie wir gesehen haben, Bindungsenergien eher zerstört als aufbaut, emotionale Distanz fördert. Auf diese Krise

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hat Toscani mit seinen spektakulären Kampagnen reagiert. Allerdings sind seine Strategien von heute aus eher als ein Endpunkt zu betrachten, der die Bedrängnisse der Werbebranche zwar sichtbar macht, nicht aber neue Wege aufzeigt. Diese scheinen vor allem in einer Verstärkung der Binnenwerbung zu bestehen mit dem Ziel, dass die Unternehmen die Identifikation mit den Firmenwerten fördert und zur größeren Leistungsmotivation anregt. Nach außen hin ist schwer abzusehen, welche neuen Mittel und Strategien die Emotionen der Kunden zu erregen fähig sind. Allein die klassischen Mittel werden wohl kaum ausreichen. Es scheint, dass auch hier die klassischen Medien der Persuasion, das Bild, der Film und der Text nicht mehr das alleinige Repertoire stellen werden. Insofern wäre, um auf den eingangs erwähnten Gedanken Martin Warnkes zurückzukommen, eine Öffnung der Kunstgeschichte allein auf die zeitgenössischen Bildmedien, wie Fernsehen, Kino-Film, Werbung und Dokumentarfotografie, kaum ausreichend. Denn auch sie scheinen zunehmend durch andere Medien und andere Strategien abgelöst zu werden.

Anmerkungen 1. Dieses und die folgenden Zitate: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 161, 15.7.1998, Beilage Geisteswissenschaften, N6. 2. Jürgen Harten, Michael Schirner, Art meets Ads. Avantgarde & Kampagne, Ausst.Kat., Ostfildern bei Stuttgart 1993, 19. 3. Eine Praxis, wie sie bis dahin nur an der Börse üblich war. Mdl. Mitteilung Dt. Bank. 4. „Kunst ist im Museum oder in der Galerie, Werbung auf der Straße und auf öffentlichen Kanälen“; Schirner [Anm. 2], S. 20. Eine rhetorische Wendung, die er dadurch gleich wieder ad absurdum führt, dass er in der Ausstellung ART meets ADS Produkte sowohl der Kunst als auch der Werbung an einem klassischen Ausstellungsort für Kunst, der Kunsthalle Düsseldorf, zusammenbringt. 5. S. Ewald Hetrodt, Spitzenleistungen schützen nicht vor dem Abschwung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 235, 10.10.2002, 43. 6. Oliviero Toscani, Die Werbung ist ein lächelndes Aas, Frankfurt a. M. 1997, 44. 7. BVR 1762/95, § 5. 8. Ebd., § 37. 9. Ebd. § 56. 10. Henry Giroux, Die Kultur der Gewalt und die Politik der bunten Pullover. Benettons ‚Welt ohne Grenzen‘, in: Blut. Kunst, Macht, Politik, Pathologie, Ausst.-Kat. München/London/New York 2001, 227. 11. Ebd. 12. BVR 1762/95, § 62. 13. Ebd.; schon ein bloßes Anprangern von Missständen könne ein Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung sein, so das BVG.

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14. Ebd. § 63. 15. „Ihre kritische Tendenz, ihre aufrüttelnde Wirkung bleibt unübersehbar“, § 71. 16. „Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen [in diesem Fall die Pressefreiheit] einschränken darf“, ebd. § 56. 17. Toscani verteidigte sein Vorgehen in einem Gespräch mit dem Kulturphilosophen Neil Postman: „Im Wildwestfilm erschießen Cowboys die Indianer. Im Krimi werden Leute umgebracht, im Kriegsfilm sterben Frauen und Kinder. Niemand regt sich mehr darüber auf. Aber wenn Sie vom Kino nach Hause gehen und sehen die gleiche Szene auf der Straße, sind Sie entsetzt. Unser Verstand ist programmiert, manche Bilder nur in einem bestimmten Rahmen zu akzeptieren, und den durchbreche ich mit meiner Werbung.“ Darauf antwortete Postman: „Das ist ein gefährlicher Weg. […] Die zentralen Symbole und Bilder einer Kultur werden ausgehöhlt, sie werden ihrer Bedeutung beraubt, wenn man sie für triviale Zwecke einsetzt“ – nämlich den Verkauf von Pullovern (s. Interview in: Süddeutsche Zeitung, Magazin, 9.10.1992). 18. Hildmann, Simon, Rempen & Schmitz SMS Werbeagentur GmbH, Düsseldorf 1990, 250 x 360 cm; Auftraggeber Nikon GmbH, Düsseldorf. 19. Diese Evokation von Phantasien entspricht einer weitverbreiteten Werbetaktik, den Betrachter zu aktivieren, Situationen und Argumente für das Produkt selbst zu erfinden. Der Betrachter findet selbst Argumente für das Produkt und ist deshalb schneller von dessen Qualität überzeugt. Das erzeugt eine erste mentale Bindung an das beworbene Produkt. 20. Im Rahmen der Image-Kampagne: Can West wear East; s. Plakatkunst, Ausst.-Kat., hg. v. Jürgen Döring, Heidelberg 1994, 186. 21. Diese Ent-Täuschungsstrategie hat bei Benetton Methode. Vom Prinzip her gleich funktioniert die Darstellung des nackten Hintern mit dem Stempel HIV positiv. Toscani zeigt einen makellosen Hintern, der mit einer leichten Gänsehaut zum Anfassen animiert. Keine Haare, Pickel oder Verunreinigungen stören, so dass der Hintern Gefühle des Wohlbehagens hervorruft, in anderen Werbungen assoziiert mit Produkten wie Cremes oder Klopapier. Allein durch die Applikation des Stempels wird der Betrachter in seinen Erwartungen und Phantasien enttäuscht und auf die grausame Realität einer schrecklichen Krankheit verwiesen. 22. Auf der Homepage des Unternehmens ist zu lesen:“David Kirby – A ‚Pieta‘ 1992. One of the six images of the Spring ’92 campaign depicted David Kirby, an AIDS activist, surrounded by his family on his death bed. The photograph had already been published in ‚LIFE‘ magazine, and Benetton had been given permission and encouragement by David’s parents before showing it across the world. In some countries such as Paraguay this was the very first campaign to talk about AIDS, and in many countries it was the first campaign to go beyond purely preventative measures and touch upon subjects such as solidarity with AIDS patients“; s. http://www.benetton.com/wws/aboutyou/ucdo/AIDS/file2622.html. 23. „It is an incredibility moving image in the right context, but to use it as an advertisement for a fashion store selling jumpers is incredibly insulting. They have stepped out of the bounds of what is acceptable and what makes this so sickening is that they have touched up the photograph to make it look biblical because the AIDS victim resembles Jesus Christ.“ (The Guardian, 24/1/92) 24. Salvemini verweist in diesem Zusammenhang auf Caravaggios Grablegung. Dieser Verweis ist eher dazu angetan, Toscanis Anleihen an der Kunst zu verwischen als zu

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erhellen, denn es besteht zwischen diesen Kompositionen kaum Ähnlichkeit; s. Lorella Pagnucco Salvemini, Toscani. Die Werbekampagnen für Benetton 1984–2000, München 2002, S. 90–91. – Allerdings zeigt der genannte Vergleich auch, dass Toscani bei seinen Vorbildern genau zu unterscheiden weiß. So beruft er sich vorwiegend auf Bilder mit idealistischem Einschlag, nicht mit realistischem. Diese Feststellung zeigt einmal mehr, dass Toscani nicht nur politisch aufklären, sondern auch poetisieren will und damit vor allem die Werbung für das Unternehmen Benetton im Auge hat. Es stellt sich die Frage, ob realistisches Formgut in der Nachfolge Courbets, Grosz’, Dix’ oder des Kritischen Realismus der 70er Jahre überhaupt werbetauglich ist. 25. Frédéric Beigbeder, 39.90. Neununddreißig neunzig, Reinbek bei Hamburg 2001 (franz. Erstausg.: Paris 2000), 15. 26. Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000, 192. 27. Ebd., 193. 28. Norbert Bolz, David Bosshart, Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf 1995, 42. 29. Illies [Anm. 22], 140. 30. Vgl. die jüngste Studie von Lothar Rolke, Produkt- und Unternehmenskommunikation im Umbruch. Was die Marketer und PR-Manager für die Zukunft erwarten, Frankfurt a. M. 2003. 31. Vgl. Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus, Humankapital nicht bewerten, sondern entfalten, in: Personalwirtschaft. Magazin für Human Resources, 5, 2003, 55–58. 32. Vgl. dazu die Ankündigung der Agentur unter: http://www.gogorillamedia.com/ html/what1.html. 33. Ebd. 34. Lothar Rolke, in dem Interview: „Wir müssen die Leute leiser und zielgenauer führen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 210, 10.09.2002, 45.

Namensregister (Die in den Anmerkungen zitierten Namen von Fachwissenschaftlern wurden nicht in das Register aufgenommen. Kursiv gestellte Namen verweisen auf fiktive Gestalten bzw. Werktitel)

A Aaron s. Moses und Aaron (Aron) Aaron, D. 350 Abraham 201–203 Abraham 223 (Figur aus The Cave v. S. Reich) Achill 297, 300, 383 Adam 468, 480 Adams, A. 223 Adams, H. 501, 503 Adorno, Th.W. 8, 24–25, 38, 43, 196, 198, 212, 221, 224–225, 231, 236–237, 243, 255, 416, 462, 560–561, 563, 574 Agamemnon 27, 300–301, 358 Akenside, M. 404 Alberti, L.B. 359, 373, 380, 397 Alexander d. Gr. 28, 303–304, 307–308, 310, 312 Alfano, F. 211 Alfonso 201 Althoff, G. 9, 22, 145–161 Althusser, L. 557 Aman-Jean, E.-F. 463 Amelia 219 Amfortas 203–205, 212, 213, 215 Ammianus Marcellinus 310 Andreas, hl. 30, 329, 362, 366–367, 371, 376 Antigone 206 Apelles 308 Apoll 344, 390 Apuleius, L. 28 Aristophanes 379 Aristoteles 5, 22–23, 38, 68, 79, 165–166, 168–171, 182–183, 244–246, 250, 258, 272, 299, 312, 351, 361, 374, 468–469, 472, 480, 482–483, 578–579

Arnold, G. 413 Artaud, A. 222, 546 Ashley, R. 223 Assmann, J. 460 Athena 304, 331, 350 Augustinus, A. 575–576 Augustus 309–310 Aurich, A. XII Austen J. 250 B Bacchus 29, 318, 320–324, 327–329 Bach, C.Ph.E. 25, 190, 198, 224, 228–230, 238 Bach, J.S. 190, 224, 239–241 Bacon, F. 263 Baglione, G.B. 328 Balász, B. 481, 485 Barnes, Th. 416 Barthes, R. 239, 348, 356 Bartolo, dottor 200 Basilio 200 Batteux, Ch. 409 Baudelaire, Ch. 31, 38, 334, 350, 402, 430, 432, 580–581, 590 Baum, O. 134 Baumann, A. 142 Beatrice 442 Beckett, S. 223, 582 Beck, U. 586 Beecroft, V. 554–558, 560–561 Beethoven, L. v. 190, 217, 229, 239, 256– 258 Beigbeder, F. 616–617, 621 Bellori, G.P. 366, 376 Benedikt V. 154–155

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Namensregister

Benjamin, W. 38, 252, 462, 497–498, 503, 576, 580–581, 590 Benning, S. 556 Berg, A. 221, 237 Berio, L. 24, 222 Bernardin de Saint-Pierre 401 Bernhard von Clairvaux 381 Bernini, G.L. 30, 337–338, 350, 352 Bernward, Bischof 148 Bert, G. 213 Bezuhov, P. 250 Biandrate, Graf v. 152 Bizet, G. 234 Blanc, Ch. 450, 463 Blanchot, M. 505 Bloch, E. 225, 451, 463 Blom, P. 528 Blues, E. 578 Blumenberg, H. 224, 239, 241, 243, 349, 590 Boccioni, U. 192 Boileau-Despréaux, N. 185, 351, 411 Bolz, N. 617 Bonnard, P. 252 Boulez, P. XIII, 222, 256 Bourdieu, P. 557 Bouville 242 Brahms, J. 236, 239 Bråten, S. 20 Brecht-Weill s. Weill Brecht, B. 104, 120, 213–215, 222, 251, 259, 381, 398, 563 Breton, A. 31, 392, 394–396, 399 Breughel, P. 381, 398 Broc, J. 30, 343–344, 354 Brockmann, K. XII Bronson, Ch. 589 Brooks, P. 38, 564, 574 Brown-Séquard, C.-E. 463 Brutus, M. 44 Büchner, G. 32, 412, 414–415, 417–418 Budde, J.F. 469 Buddenbrook, Th. 479 Buddenbrook, T. 250 Buddenbrooks 467, 479 Bülow, H. v. 234 Burckhardt, J. 381 Burke, E. 31, 391, 398, 405, 410 Burney, Ch. 25, 228 Bury, C. 347, 356 Busiris 303, 312 Busoni, F. 192 Byron, G.G.N., Lord 427

C Cäcilie, hl. 337, 376 Caesar, C.J. 28, 306, 398 Cage, J. 24, 222, 256, 347, 356 Calaf (Prinz) 207–208, 210 Camus, A. 233, 243 Caracalla, M.A.A. 309–310, 313 Caravaggio, M. Merisi da 28–30, 314, 329, 332, 335–337, 350–352, 620, Farbtf. I Carlsen, H. 482 Carmen 234, 239 Carracci, A. 366, 384, 613 Carroll, N. 38, 567–568 Cassirer, E. 273, 294, 574 Castorp, H. 249 Cavaliere d’Arpino (G. Cesari, gen.) 328 Cavé, E. 420 Cellini, B. XII, 30, 336–337, 352, 436 Cézanne, P. 348 Chamfort, N. de 435–436, 438, 447 Chaplin, Ch. 38, 566–567, 573 Charcot, J.-M. 550, 552 Chardin, J.-B.-S. 386 Chéret, J. 459, 465 Cherubini, L. 217 Chevreul, M.-E. 196, 455 Childs, D. 489 Chodowiecki, D. 30–31, 369, 371–372, 377, 382–383 Chopin, F. 224, 233, 235 Christus 11, 32, 252, 329, 343, 387, 418, 427, 432, 614, 620 Chrysipp 182 Cicero, M.T. 168, 173, 175, 182, 365, 367, 375 Cioran, E.-M. 240 Clair, J. 393 Clark, T.J. 455 Clarke, K. 30, 347–348, 356 Cleland, J. 392 Clooney, G. 575 Cogniet 431 Colet, L. 379 Comte, M. 609 Constable, J. 423 Constantius II. 28, 310 Cooper, G. 580 Corneille, P. 386 Corot, C. 254 Courbet, G. 28, 31, 316–317, 328, 621 Coypel, A. 363, 368, 370, 374, 377 Crébillon fils, C.-P.-J. de 438 Cureau de la Chambre, P. 361

Namensregister D Damasio, A. 5–8, 10, 12, 17, 19–20, 26–27, 30, 34, 80–82, 88, 94, 98 Daney, S. 573 Dante Alighieri 33, 423, 425–426, 431, 438, 445, 447 Danto, A.C. 579 Danuser, H. XII Darius III. 303 Darwin, Ch. 33, 42, 189, 468, 470–472, 474, 476–477, 479, 480–485 David, J.-L. 31, 44 David, König 255 David und Goliath 29, 322–325, 327, 329, 336 de la Motte-Haber, H. 12, 23–26, 189–198 Debord, G. 529 Debussy, C. 220–221 Deffand, Mme (Marie de Vichy Chamrond, marquise du) 438 Delacroix, E. 32, 419–432, Farbtf. V Delaunay, R. 196 Deleuze, G. 544, 551, 553, 560–561, 567, 573–574 Delon, A. 578 Delon, M. 408 Deprun, J. 402 Derrida, J. 35, 504, 561 Descartes, R. 5, 9–11, 19, 22–23, 32, 41, 43– 45, 58, 78, 80, 84, 86, 165–166, 168–171, 174, 180, 183–184, 337, 346, 353, 355, 361, 401–402, 415, 434, 466, 468–469, 480, 552, 561 Desdemona 428 Diderot, D. 13, 32–33, 317, 363, 374, 384– 388, 398, 405–408, 414, 416, 435, 438, 447, 468 Dietrich von Fürstenberg 46, 47–48 Dilthey, W. 71–75, 78–79 Disney, W. 482 Dix, O. 621 Doesburg, Th. v. 528 Dolci, C. 30, 343, 354 Domenichino (D. Zampieri, gen.) 30–31, 362, 366–367, 371, 376 Don Giovanni 25, 189, 201, 217, 224, 231, 239 Don Juan 25, 231–234, 438 Don Quixote 249 Donatello, D. 336 Donna Anna 189, 192–193 Dora 544–546 Dorian Gray 479

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Dreyer, C.Th. 573 Du Bos (Dubos), J.-B. 30, 190, 198, 367– 370, 377, 402, 409 Duchamp, M. 31, 344, 392–394, 396 Durkheim, É. 459, 586 Dyck, A. v. 383, 485 E Ebo, Erzbischof 153, 160 Echnaton 223 (Oper v. Ph. Glass) Eco, U. 224, 238–239, 584 Eibl, K. 412, 415 Eisenman, P. 12, 14, 15, 20, 35–36, 490, 504–511, Farbtf. IX, X Eisler, H. 213 Ekman, P. 30, 97, 332, 338, 568 Elektra 221 Elias, N. 146–147, 158, 180, 470, 472, 484, 586 Emma (Woodhouse) 250 Engel, J.J. 40, 185 Erasmus v. Rotterdam 396, 399 Erik 204 Eulenspiegel, T. 9 Euphranor 383 Euripides 301, 312 Euterpe 234 Eva 380, 400, 468, 480 Eva 204–205 (Meistersinger) Exekias 300 Eyck, A. v. 528 F Faliero, M. 32, 427 Fanny Hill 392 Faust 3, 222 Feldman, M. 24, 197, 223 Felix, röm. Landpfleger 384–386 Fénéon, F. 463–464 Feuerbach, A. 225 Feuillère, E. 570 Fichte J.G. 79 Ficino, M. 245 Fidelio 217 Figaro 200, 217 Flaubert, G. 31, 378–379, 392, 395, 397, 399, 436, 447, 474 Fliess, W. 560 Fonda, H. 589 Forkel, J.N. 190 Foucault, M. 180, 542, 552, 557, 560–561 Franke, U. XII, 5, 10, 20, 22–23, 26, 165– 188

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Namensregister

Frankenstein 553 Franz v. Assisi, hl. 223 Frei Otto s. Otto, F. Fréart de Chambray, R. 373 Freedberg, S.J. 316 Freud, S. 9, 20, 33–35, 37, 133, 187, 208– 210, 215, 256, 288, 341, 354, 468, 470, 474, 476–477, 485, 509–510, 543–546, 548, 550–553, 557–561 Fried, M. 7, 28–30, 314–329 Friedrich Barbarossa 152 Friedrich, C.D. 340, 372, 449, 462 Frisch, M. 139 Frommel, L. 318 Früchtl, J. 26, 38, 341, 575–591 G Gadamer, H.-G. 186, 272 Gates, B. 213 Gaudí, A. 513, 522 Gauguin, P. 340 Gehlen, A, 284 Georg I. 382 Géricault, Th. 421, 426, 431 Germania 342–343 Gershwin, G. 222 Gertrud (Film) 573 Gesualdo, C. 217 Ghirlandaio (D. di Tommaso Bigordi, gen.) 378 Giersch, C. XI Gilbert, C. 318 Glass, Ph. 223, 256 Gluck, Ch.W., Ritter v. 217 Goebbels, J. 477 Goethe, J.W. v. 7, 33, 72, 77–79, 165, 180, 193, 196, 380–382, 384–385, 387–388, 390, 392, 396–398, 438–440, 444–447 Goffman, E. 33, 472–473, 480 Gogh, V. v. 251, 379 Goliath 29, 322–325, 327, 329 Gombrich, E.H. 381 Goncourt, J. de 436, 447 Goya, F. 387 Gracián, B. 364, 375, 434, 446 Gregori, M. 320–322 Grimm, J. und W. 165, 167, 272, 462 Gropius, W. 512 Gros, A.-J. 421 Grosz, G. 621 Große, C. 410–411, 417 Grünkorn, G. XII Guattari, F. 544, 551, 553, 560–561

Gubaidulina, S. 256 Guercino (G.F. Barbieri, gen. il G.) 613– 614 Guérin, P.-F. 425 Guez de Balzac, J.-L. 375 Gurnemanz 213–214 Gutzkow, K. 469 H Haacke, H. 15 Habermas, J. 169, 182, 204, 586, 590 Haeuser, A. u. L. XI Halbwachs, M. 459–460 Hamlet 249 Hamsun, K. 34, 467, 473–479, 482–483, 485 Händel, G.F. 255–256 Hanslick, E. 195, 236 Harriet, J. 44 Hausegger, F. v. 23, 189, 198 Haydn, J. 437, 447 Hegel, G.W.F. 17, 25, 38, 199, 201, 232, 252, 469, 484, 579, 589, 591 Heidegger, M. 61, 67, 75, 78, 178, 207, 233, 458, 465–466, 553 Heine, H. 469 Heinrich II. 148 Heinrich IV. 155–156, 160–161 Heinrich V. 148 Heisenberg, W. 397, 399 Hektor 300 Helena 383 Heller, A. 10, 22, 25–26, 34, 58, 78, 244– 259, 473 Héloïse 438 Henckmann, W. 18–19, 51–79 Henry, Ch. 33, 451–454 Henze, H.W. 222 Heraeus, B. XII Herakles, Herkules 303, 312, 439 Herder, J.G. 23, 190, 192, 230, 240, 243, 401 Herding, K. XI–XIII, 3–46, 100, 330–356, 489–491, 512–516, 592–596, 489, 512, 592 Herodes 206–207 Herz, R. 15, 36–37, 532–541, Farbtf. XIII Hesse, H. 8 Heyse, P. 165 Highsmith, P. 207 Hinz, B. 390 Hippokrates 469 Hitler, A. 258, 477–478, 485, 535, 537

Namensregister Hobbema, M. 254 Hobbes, Th. 32, 264, 402, 415, 468, 472, 483 Hoffman, M.L. 20 Hoffmann, E.T.A. (Garten) 498 Hofmann, W. 9, 12, 30–31, 378–399 Hofmannsthal, H. v. 477 Hogarth, W. 31, 384–386, 388–390, 391 Holcroft, Th. 470 Holiday, B. 224, 241 Holly, B. 582 Holofernes 29, 324–325 Homer 27, 300, 312, 421 Home, H. 403–404, 416 Horaz 173, 368, 377, 392–393, 396 Horkheimer, M. 8, 43, 416, 560–561 House, J. 455 Hugo von Cluny 156 Huizinga, J. 146–147, 158 Hume, D. 26, 32, 86, 175, 268–270, 273 Hutcheson, F. 26, 175, 266–269, 273 Huygens, C. 351 Hyacinthus (Hyazinth) 343–344 I Ibsen, H. 474, 477 Illies, F. 616–617 Inger 477 Ingres, J.-A.-D. 251 Iphigenie 301, 312, 358 Isaak 201–203, (Romanfigur) 477 Ishioka, E. 608 Isolde 91, 204–206 (s. auch Tristan und Isolde) Italia 342–343 J Jackson, S. 213 James, W. 88, 193, 564 Janácek, L. 220 Jauß, H.-R. 18, 24 Jenúfa 220 Jesus s. Christus Jobert, B. 32, 419–432 Johanna von Orléans 214 Johannes der Täufer, hl. 29, 323–324 (Caravaggio), 206–207 (Strauß), 378 (Ghirlandaio) Jomelli, N. 193 Jones, G. 609 Jones, T. 250 Judas 480 Judith 29, 324–325, 336

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Jules 577, 581, 583, 587, 589 Junius, F. 173, 365–366, 368, 375 Jupiter 410 K Kabanowa, K. 221 Kafka, F. 134, 136, 139, 144, 207, 346, 355, 477, 572–574 Kagel, M. 222, 240 Kandinsky, W. 31, 392–393, 396, 399 Kane, W. 580 Kant, I. 3, 5, 9, 22–24, 26, 33, 44, 65, 79, 165, 176, 186, 194, 198–200, 209, 244– 245, 248, 253, 257–258, 260, 262–263, 265–273, 274–291, 293–294, 340, 353, 389, 398, 402, 410–412, 417, 433, 469, 483, 576 Karamasow, D. 250 Karl d. Gr. 153 Kiefer, A. 15, 251, 340, 353–354 Kierkegaard, S. 24–25, 201–203, 224–226, 231–233, 238, 243 King Vidor 38, 568 Kirby, D. 40, 613, 620 Kirchner, Th. 10, 30, 33, 357–377 Klee, P. 31, 393, 399 Kleist, H. v. 400, 469 Kleopatra 582 Kling, Th. 14, 17–18, 46, 47–48 Klinghofer 223 Klingsor 205, 211–213, 215 Kluge, A. XIII, 293 Koch, G. 37, 341, 562–574 Konstantin I. 310–311 Koolhaas, R. 528 Korn, S. 535 Krause, R. 8, 21–22, 134–144, 332, 338 Kris, E. 468, 481, 483, 485 Kundry 205, 214–215 Kurigami, K. 608 L La Bruyère, J. de 33, 434–435, 446 Lacan, J. 24, 199, 203, 209, 215, 546, 548, 551, 558, 560–561 Lachenmann, H. 24, 222 Lady Macbeth von Mzensk 221 Lafayette (M.-J. de Motier, marquis de) 433, 438 Laforgue, J. 464 Lairesse, G. de 376 Lankheit, K. 378 Laokoon 304

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Namensregister

La Rochefoucauld, F., duc de 33, 434, 437– 438, 446 Lavater, J.C. 334, 353, 369, 387, 396, 469– 470, 478, 480, 483 Le Blanc, J.-B. 367, 376 Le Brun (Lebrun), Ch. 10, 13, 174, 185, 332, 337, 349–350, 360–361, 365, 424, 426, 480, 485, 552, 561 Le Fustec, J. 456 LeDoux, J. 8, 17, 19–20, 80, 82–83, 86, 94, 98, 338–339 Leibniz, G.W. v. 43, 381 Lenz 414–415, 417–418 Lenz, J.M.R. 414, 418 Lenzen, W. 8, 17, 19–20, 80–103 Leo VIII. 154–155 Leonardo da Vinci 25, 28, 30, 344–346, 351, 355, 359–360, 365, 373, 384 Leone, S. 589 Leonhard, K. 33–34, 472–473 Leonore s. Fidelio Leporello (Diener) 233 LeRoy, M. 38, 573 Lescaut, M. 438 Lessing, G.E. 41, 469 Levetzow, U. v. 444 Levi-Strauss, C. 204–205 Libeskind, D. 14, 34–35, 347, 489–491, 492–503, Farbtf. VII, VIII Lichtenberg, G.C. 31, 353, 371, 377, 382, 387, 398–399, 415, 418 Ligeti, G. 24, 222, 224, 238–239, 256 Lipps, Th. 23, 64, 67, 78–79, 194, 198 Lips, J.H. 369 Lisa del Giocondo (Mona Lisa) 251, 344– 345, 347, 355, 393 Liu (Magd) 207–210 Liudolf (Herzog)151 Liudprand v. Cremona 160 Locke, J. 26, 86, 263–264 Lohengrin 207 Lomazzo, G.P. 25 Loos, A. 504 Lormand, E. 20 Loutherbourg, P.-J. de 406–407 Louvion, J.-B.-M. 353 Löw-Beer, M. 20, 25, 104–121, 346 Lucinde 469 Ludwig der Fromme 153–154 Ludwig XVI. 339 Lukács, G. 253 Lukrez 402, 404–405, 411 Lulu 211, 221

Lynge (Redakteur) 477 Lysipp 308 M Mackenzie, H. 415 Macpherson, J. 41 Maes, G. 29, 331–332, 335–336, 344, 350 Mahler, G. 254 Malte Laurids Brigge 479 Mander, K. v. 360, 373 Manet, E. 384 Mann, Th. 21, 57, 136, 139, 255, 258, 467, 479, 483 Marat, J.-P. 31 Marcel 249 Marco Polo 223 Marcuse, H. 177, 187 Maria, hl. 354 Maria mit dem Kinde 341–342 (Madonna Tempi), 501 (Madonna und Dynamo) Maria Magdalena, hl. 343, 428–429 Marianne 250 Marilyn Monroe 347 Marino, G. 350 Marivaux, P. 416 Marke 204–206, 213 Mars 396 Martynov, V. 256 Marx, K. 396, 585 Matisse, H. 28–29, 314–317, 319, 321 Matthäus (Passion) 224, 239–241 Matz, R. 532, 536, 541 McGinn, C. 86 Medea 217 (Cherubini), 354 (Kiefer), 427– 428 (Delacroix) Medusa 14, 29, 328, 330–338, 344, 349– 352, 421, 440, 514 Meistersinger 24, 195, 201, 203–207, 212– 213 Melville, J.-P. 578, 583 Mendelssohn, M. 408–412, 416 Menninghaus, W. XII, 25 Messerschmidt, F.X. 348, 352, 481, 550 Messiaen, O. 24, 196–197, 223 Metastasio, P. 437, 447 Metzler, S. u. F. v. XI Meynert, Th. 481 Michel, R. 37, 348, 542–561 Michelangelo (M. Buonarroti, gen.) 336, 350, 421; 383 (als Werk) Millet, J.-F. 31, 33 Milton, J. 255 Ming Pei, I. 512, 516

Namensregister Minna von Barnhelm 469 Minniti, M. 318 Moholy-Nagy, L. 25 Mona Lisa s. Lisa del Giocondo Mondrian, P. 251 Monet, C. 450, 456, 462, 464 Monroe, M. 582 Montesquieu (Ch. de Secondat, baron de La Brède et de M.) 434, 446 Monteverdi, C. 190, 256 Moritz, K.Ph. 32, 412–414, 417 Morrisroe, M. 614–615 Moses 380; 212, 497 (als Rolle) Moses und Aaron (Aron) 24, 206, 211–212, 222, 497, 503 Mottl, F. 235, 243 Mozart, W.A. 25, 189, 201, 211, 217–218, 224, 231, 233, 256, 437 Murdoch, R. 213 Mussorgskij, M. 221 N Nagel, Th. 274–275 Nauman, B. 18, 46–47 Navez, F.-J. 431 Neckel, S. 473 Nelson, R. 582 Nero, C.C. 573 Newton, I. 263 Nielsen, A. 481 Nietzsche, F. 24–25, 165, 201, 203, 216, 223–225, 228, 233–236, 240, 243, 381– 382, 398, 415, 544, 587 Nochlin, L. 455 Nodier, Ch. 415 Nono, L. 24, 222–223 Nußbaum, F. 34, 492–495 O Oberlin, J.F. 414, 418 Ödipus (Komplex) 542 Ödipus auf Kolonos (Sophokles) 210 Ödipus Rex (Strawinsky) 222 Omar, K.A. 609 Ophüls, M. 38, 570–572 Orff, C. 222 Orpheus 241, 255; 136 (Rilke), 217 (Gluck) Othello 428 Otto I. 151–152, 154–155 Otto II. 154 Otto, F. 36, 513, 519, 522, 525–527, 530 Overbeck, F. 30, 342–344 Ovid (P.O. Naso, gen.) 28

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P Paleotti, G. 361, 363, 374 Pelleas und Melisande 220 Pan 477 Pandora 546 Panzer, V. 10 Paris 383 Parsifal 200–201, 203–206, 211–215, 234, 240 Paschalis II. 148 Patroklos 297–298, 300 Paulson, R. 339 Paulus, hl. 384–386 Peck, G. 580 Peirce, Ch.S. 35, 506, 527 Perikles 306–308 Permoser, B. 30, 337–339, 352 Perotin (Vorn. unbek.) 217 Perseus 331–332, 335, 440; 333 (Puget), 336, 352 (Cellini), 350 (Amasis-Maler) Petrus, hl. 329, 343 Pfarr, U. 481 Pforr, F. 354 Phädra 433 Phädros 433 Phaidros 265 Phöbus, s. Apoll Picasso, P. 45, 100 Pico della Mirandola 396 Pierrot Lunaire 212 Piderit, Th. 480 Piles, R. de 367, 376 Piranesi, G.B. 35, 505–506 Plato 63, 178, 237, 244–245, 253, 255, 264– 265, 396, 584 Platzhof, K. XII Plessner, H. 38, 77, 79, 476, 485, 564, 569– 570, 572–574, 576, 587–589, 591 Plinius d. J. 383 Plutarch, M. 307, 313 Plutchik, R. 59, 94 Poe, E.A. 55, 67 Pollock, J. 36, 529 Polydektes 331 Polyphem 333 Pope, A. 390, 404 Porgy and Bess 222 Porta, G.B. 13, 45 Porta, G.G. della 349 Poseidon 302, 331 Postman, N. 620 Pousseur, H. 24, 222 Poussin, N. 340, 353, 373, 543

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Namensregister

Prévost (Abbé) 438 Priamos 300 Princesse de Clèves 433 Prometeo (Oper) 223 Prometheus 410 Proust, M. 35, 504 Pseudo-Longinus 405, 411 Puccini, G. 206, 208, 210–211, 220–221, 223 Puget, P. 29, 332–334, 352 Pyra, I. 417 Q Quantz, J.J. 190 Quintilian, M.F. 168, 173, 182, 365, 367, 375 R Racine, J. 433, 438 Raeck, W. 27, 297–313 Raffael (R. Sanzio, gen.) 30, 337, 341–342, 359–360, 382–384, 543 Rainer, A. 15 Rameau, J.-Ph. 183 Raskolnikow 250 Rauschenberg, R. 30, 347, 356 Ray, M. 394 Recki, B. 9, 20, 26, 33, 274–294, 340 Reeves, K. 213 Reich, S. 223 Reichardt, J.F. 193, 198 Reichelt, M. 536 Reiser, A. 412–414, 417 Rembrandt (R. Harmensz. v. Rijn, gen.) 251, 366–367, 376, 383–384 Reni, G. 30, 343, 374 Renoir, A. 462 Restout, J. 367 Reynolds, J. 31, 382–384, 390–391, 398, Farbtf. IV Ricardo 219 Richard III. 249 Richardson, S. 41, 415 Richelieu (A.J. du Plessis, duc de) 364, 375 Riegl, A. 448 Riesman, D. 472 Rihm, W. 24, 222 Rilke, R.M. 21, 134–136, 139, 144, 477, 479 Ringo, J. 580 Ripa, C. 350 Rohde, E. 243 Rolke, L. 618 Romano, G. 381

Romeo Bids Juliet Farewell 428 Roquentin, A. 241–242 Rorty, R. 38, 102, 177, 187, 576, 583–584, 590 Rosalind 250 Rosetti, Ch. 209 Rosetti, D.G. 209 Rossini, G. 199–200, 212 Rothko, M. 253 Rousseau, J.-J. 23–24, 190, 192, 199, 224, 228, 230, 240, 243, 255, 433, 438 Rubens, P.P. XIV, 12, 29, 332, 334–335, 337, 350–352, 420–421, 485, Farbtf. II Runge, Ph.O. 340, 353 S Sachs, H. 201, 204–205, 213 Sade D.-A.-F., marquis de 402 Saint-Preux 438 Salamanca, A. 350 Salome 323–324; 29, 199, 206–207, 211, 221, 235 (als Oper) Sardanapal 32, 426–427 Sartre, J.-P. 224–225, 241, 243, 470, 484 Sauerländer, W. 334 Saxl, F. 11, 42, 45 Scheer, B. 7–8, 20, 26, 30, 260–273 Scheler, M. 75, 79, 120, 470, 484 Schelling, F.W. 23, 194, 201 Schiller, F. v. 79, 258, 353, 391–392, 398, 403, 416 Schirmer, Ch. XII Schirner, M. 9, 38–39, 592–596, 597–601, 602–604, 619, Farbtf. XV Schlegel, F. 388, 390, 392, 398, 431, 469 Schleiermacher, F. 469 Schlosser, J.G. 410–411, 417 Schmölders, C. XII, 33, 467–485 Schnebel, D. 11, 24, 216–223 Schnetz, V. 431 Schönberg, A. 24, 206, 210–211, 213, 221– 222, 236, 256, 497, 503 Schopenhauer, A. 194–195, 199, 224–225, 227, 446 Schostakowitsch s. Sostakovitch Schubert, F. 254 Schulz (jetzt als Schulze geführt), J. K. 462 Schumann, R. 234, 254 Schwitters, K. 392–393, 396 Sedlmayr, H. 400 Senault, J.-F. 364 Senta 204 Serafijn, QS 517, 521

Namensregister Seurat, G. 33, 448–461, 463–465, Farbtf. VI Seyfarth, W. 310 Shaftesbury (A.A. Cooper, Third Earl of) 26, 175, 264–267, 272–273, 410 Shakespeare, W. 382, 391, 427, 438, 570 Siddal, E. 209 Simmel, G. 33, 38, 470–471, 474–475, 484, 576, 584–587, 589–591 Skinner, B. 138 Skiron 301 Šklovskij, V. 395 Sloterdijk, P. 178, 187, 482, 485 Smith, A. 468 Snyders, F. 351 Sofri, A. 478 Sokrates 276, 312, 396 Sophilos 297 Sostakovitch, D. 221, 256 Spinoza, B. de 272, 434 Spitzweg, C. 474 Spuybroek, L. 12, 14, 36, 42, 187, 347, 512– 516, 517–531, Farbtf. XI, XII Stalin, J. 258 Stanislawski, K. 189 Steinhoff, M. XI Stendhal (H. Beyle, gen.) 33, 437–438, 447 Sterne, L. 41, 382, 415 Stewart, P. 575 Stockhausen, Kh. 256 Strauß (Strauss), R. 221–222, 256 Strawinsky, I. 25, 210, 222, 226, 236, 242 Strindberg, A. 474, 477 Stumpfhaus, B. XI–XIII, 9, 39–40, 100, 482, 489–491, 512–516, 592–596, 602– 621 Sulamith und Maria 354 Sulzer, J.G. 23, 172–175, 184–185 Susanna 480, 484–485 Sutter, D. 450, 463 Swann 250 Syberberg, H.J. 213–214 Szymanowska, M. 445 T Tan Dun 223 Tancredi und Clorinda 190 Tannhäuser 212 Tarantino, Q. 577, 582 Tassilo III. 153 Tasso, T. 77–78, 441 Taylor-Wood, S. 549–553, 560 Telemann, G.Ph. 256 Tellheim 469

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Teniers, d. J. D. 253 Theodosius I. 298–299 Theseus 28, 301–302 Thomas, K. 7, 23, 33, 448–466 Thomas von Aquin 380, 388 Thornhill, J. 382 Timaios 264 Timanthes 358 Timur 207, 210 Tizian 427 Tomlison, G. 199 Tosca 210, 220 Toscani, O. 40, 605–606, 609–615, 617– 621, Farbtf. XVI Trajan, M.U. 305–306 Travolta, J. 582 Trilling, L. 576, 578 Tristan 91, 199–201, 203–207, 212–213 Tristan und Isolde 91, 204–206, 218, 220, 224–225, 227, 234, 239 Tunner, W. XII, 3, 21, 122–133 Turandot 199, 206–211 U Ursula, hl. 29, 325–327, 329 Ustinov, P. 573 V Valéry, P. 500 Velázquez, D. 12 Venus 396; 251 (Venus von Milo), 379 (Statuette), 480 (Impudica) Verdi, G. 24, 218–220, 223 Vergil (P.V. Maro, gen.) 28, 425 Verhaeren, É. 457, 459, 465 Vermeer, J. 251 Vernet, C-J. 405–408 Veronese, P. 427 Viardot, L. 426 Villeneuve (Vorn. unbek.) 353 Villot, F. 420 Vincent 577, 581–583, 587, 589–590 Virilio, P. 16–17, 46, 520–521 Vischer, F.T. 448–449, 462 Voltaire (F.M. Arouet, gen.) 235, 391 Volterra, D. da 383 Vossius, J. 351 W Wagner, C. 234 Wagner, Rich. 11, 24–25, 195–197, 199–201, 203–206, 212–214, 218, 220–221, 224– 228, 231, 234–235, 237, 239–243, 258

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Namensregister

Wagner, Ruth XI Wallace, M. 577 Walpole, H. 391 Walser, M. 8, 43 Walter von der Vogelweide 341 Warburg, A. 11, 45, 378 Warhol, A. 30, 347, 356, Farbtf. III Warnke, M. 39, 602–604, 619 Warshow, R. 579–580 Wearing, G. 544, 546–548, 553, 560–561, Farbtf. XIV Webber, A.L. 210 Weber, E.H. 4 Weber, M. 586 Webern, A. 213, 224, 236–238 Wehle, W. 400–402 Weill, K. 222 Welzer, H. 460 Werther 33, 438–441, 445–446 Wesendonck, M. 227 Westerwelle, G. 43 Weygand, Ch.F. 445 Wilde, O. 479, 483

Wilhelm Meister 249 Willis, B. 590 Winckelmann, J.J. 31, 391, 398, 543 Wittgenstein, L. 23, 87, 194–195, 225, 230, 242 Wolff, Chr. 409, 469 Wollheim, R. 38, 564–566, 574 Wozzeck 221, 237 Wundt, W. 66 Wurmser, L. 473, 481 Wuthenow, R. 9, 32–33, 433–447 Z Zanker, P. XII, 309 Zarathustra 165, 216, 223 Zecchin, F. 612 Zelle, C. XII, 31–32, 400–418 Zelter, K.F. 439, 445, 447 Zimmermann, J. 11, 24–26, 224–243 Zimmermann, M. 457 Zizek, S. 11, 24, 199–215 Zuckermann, M. 540

Zu den Autoren Gerd Althoff Professor am Historischen Seminar der Univ. Münster; Sprecher des SFB „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“; Gastprofessuren in Paris, École des Hautes Études en Sciences Sociales und Berkeley/CA; Professuren in Bonn (1995), Gießen (1990); 1981 Habilitation Univ. Freiburg/Br.; 1974 Promotion. Forschungsschwerpunkte (u. a.): Funktionsweisen vorstaatlicher Ordnungen, Konfliktführung und -beilegung im Früh- und Hochmittelalter, Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation. Publikationen (Auswahl): Die Macht der Rituale, 2003; Inszenierte Herrschaft, 2003; Die Ottonen, 2000; Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 1997; Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, 1990.

Helga de la Motte-Haber Professorin an der TU Berlin; 1972–78 Wiss. Rat und Professur an der Pädagogischen Hochschule Köln; 1971 Habilitation für das Lehrgebiet Systematische Musikwissenschaft TU Berlin; 1965–72 freie Mitarbeiterin am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin; 1967 Promotion in Musikwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Musik und Natur, 2000; Geschichte der Musik im 20. Jh.: 1975–2000, 2000; Handbuch der Musikpsychologie, 1996; Der Hörer als Interpret, 1995; Musik und Bildende Kunst, 1990.

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Zu den Autoren

Peter Eisenman Leiter von Eisenman Architects in New York City; z. Zt. Louis Kahn Professor in New Haven, lehrt Architektur an den Universitäten Yale und Princeton; Promotion Cambridge/ MA. Bauten (Auswahl): Wexner Center for the Arts, Ohio State University, Columbus, 1983–89, Institute of Arts and Sciences, Staten Island/ New York, 1997. Aktuelles Architektur-Projekt ist u. a. das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das gerade in Berlin errichtet wird. Publikationen (Auswahl): Architektur der Zerstörung, 2004; Aura und Exzeß, 1995; Cities of artificial excavation, Ausst.-Kat. 1994; Peter Eisenman, Ausst.-Kat. 1993–94.

Ursula Franke Mitglied im Senatsausschuss für Kunst und Kultur d. Univ. Münster; Lehraufträge am Philosophischen Seminar der Univ. Münster (bis 1997) und an der Kunstakademie Münster (bis 1989); bis 1991 langjährige Mitarbeit im Editorenteam der Leibnizforschungsstelle der Univ. Münster; 1971 Promotion; Ausbildung und Tätigkeit als Schauspielerin und Journalistin (Theater-, Film- und Kunstkritik). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Systematik der philosophischen Ästhetik; Untersuchungen zu Leibniz; Beiträge zu zeitgenössischer Kunst. Publikationen (Auswahl): (Hg., gem. m. J. Früchtl): Kunst und Demokratie, 2003: Ästhetische Bildung/Erziehung, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. K. Barck u. a., Bd. 1, 2000; (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks, in: Sonderheft der ZS f. Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft, Bd. 45, 2000; Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik A. G. Baumgartens, 1972.

Michael Fried Professor of Comparative Literature and Art History; Herbert Boone Chair in the Humanities, Johns Hopkins University, Baltimore / ML. Publikationen (Auswahl): Menzel’s Realism, 2002; Art and Objecthood: Essays and Reviews, 1999; Manet’s Modernism, 1996; Courbet’s

Zu den Autoren

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Realism, 1990; Absorption and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot, 1980.

Josef Früchtl Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Ästhetik u. Kulturtheorie in Münster; 1987–89 Forschungsstipendiat der Humboldt-Stiftung in Pisa (Italien); 1995 Habilitation in Frankfurt a. M.; 1986 Promotion. Publikationen (Auswahl): (Hg., gem. m. U. Franke): Kunst und Demokratie, 2003: (Hg., gem. m. J. Zimmermann): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, 2001; Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, 1996; (Hg., gem. m. M. Calloni): Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, 1991.

Agnes Heller Hannah Arendt Professur für Philosophie an der New School University, G. F., New York; Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und der Société Européenne de Culture; 1981 Lessing-Preis der Stadt Hamburg; studierte bei Georg Lukács an der Univ. Budapest. Publikationen (Auswahl): Shakespeare as a Philosopher of History, 2001; A Theory of Modernity, 1999; An Ethics of Personality, 1995; Ist die Moderne lebensfähig?, 1995; Theorie der Gefühle, 1980.

Wolfhart Henckmann Professor für Philosophie am Philosophie-Department der Univ. München; Gastprofessuren in Japan und Italien; Habilitation über die Philosophie K. W. F. Solgers. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie der Neuzeit, Phänomenologie, Ästhetik und ihre Geschichte, Hermeneutik. Publikationen (Auswahl): (Mithg. u. Mitverf.): Ästhetische Theorie in der DDR. 1949–90. Beiträge zu ihrer Geschichte, 2001; Max Scheler, 1998; (Mithg. und Mitverf.): Lexikon der Ästhetik, 1992.

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Zu den Autoren

Klaus Herding Professor für europ. Kunstgeschichte, Univ. Frankfurt a. M.; Gastprofessor u. a. in New York und Paris; Scholar am Getty Research Institute, Los Angeles; langjähriger Sprecher des Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“. Forschungsschwerpunkte: Skulptur, Malerei, Grafik und Kunsttheorie der Neuzeit, Karikatur, Geschichte der Emotionen. Begründer und Herausgeber der Reihe „Kunststück“ 1984–92. Publikationen (Auswahl): Freuds Leonardo. Eine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Theorien der Gegenwart, 1998; Pablo Picasso. Les Demoiselles d’Avignon, 1992; Courbet: To Venture Independence, 1991; Im Zeichen der Aufklärung, 1989; Die Bildpublizistik der Frz. Revolution (m. R. Reichardt) 1989.

Rudolf Herz Künstler und Bilderforscher in München; 1995/97 (gem. m. R. Matz) Preisträger im Wettbewerb für das „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“; Beschäftigung in künstlerischen Projekten mit Denkmalsturm (Lenins Lager. Entwurf für eine Skulptur in Dresden, 1991) und dem Setzen von Denkmälern; 1995 Promotion in Kunst und Kunstwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Zwei Entwürfe zum Holocaust-Denkmal in Berlin, 2001; Zugzwang, Ausst.-Kat. 1995; Hoffmann und Hitler, 1994; Revolution und Fotografie, 1988.

Werner Hofmann 1969–90 Direktor der Hamburger Kunsthalle (Ausstellungszyklus „Kunst um 1800“); Mitglied mehrerer Akademien; Gastprofessuren in Berkeley, Harvard, Columbia und New York University; 1955–69 Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien; 1950– 55 Assistent in der Albertina. Publikationen (Auswahl): Goya, 2003; Grundlagen der modernen Kunst, Neuausg. 2003; Caspar David Friedrich, 2000; Wie deutsch ist

Zu den Autoren

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die deutsche Kunst?, 1999; Die Moderne im Rückspiegel, 1998; Das entzweite Jahrhundert. Kunst um 1750–1830, 1995.

Barthélémy Jobert Professor für moderne und zeitgenössische Kunst an der Sorbonne/Paris IV; Kurator verschiedener Ausstellungen am Louvre, in Grenoble, an der Bibliothèque nationale de France und der Cité de la Musique in Paris. Forschungsschwerpunkt: Romantik. Publikationen (Auswahl): De la rhétorique des passions à l’expression des sentiment, actes du colloque … de 2002, 2003; L'Invention du sentiment, Ausst.-Kat. 2002; Delacroix: souvenirs d'un voyage dans le Maroc, 1999; Le Sentiment de la Montagne, Ausst.-Kat. 1998; Delacroix, le trait romantique, Ausst.-Kat. 1998; Delacroix, 1997 / Princeton 1998.

Thomas Kirchner Seit 2002 Professor für Kunstgeschichte an der Univ. Frankfurt a. M., vorher an der Univ. Heidelberg, 1997–99 Gastprofessuren in Frankfurt a. M. u. Berlin, 1997 Habilitation, 1988 Assistenz an der FU Berlin, 1987 Promotion. Publikationen (Auswahl): „… in völkischem Geiste betätigt …“ Das Kunsthistorische Institut der Univ. Heidelberg unter dem Nationalsozialismus, in: Geschichte der Univ. Heidelberg im Dritten Reich, hg. v. W. U. Eckart u. a., 2004; Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jh.s, 2001; Paradigma der Gegenwärtigkeit. Schlachtenmalerei als Gattung ohne Genrekonventionen, in: Bilder der Macht. Macht der Bilder, hg. v. S. Germer u. M. F. Zimmermann, 1997; L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der frz. Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jh.s, 1991.

Thomas Kling Dichter und Essayist, lebt auf der Raketenstation Hombroich bei Neuss am Niederrhein. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und

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Zu den Autoren

Dichtung. 1993 erhielt er den Else Lasker-Schüler-Preis, 1996 den Peter Huchel-Preis, 2001 den Ernst Jandl-Preis der Republik Österreich. Publikationen (Auswahl): Sondagen, 2002; Sprachspeicher, 2001; Botenstoffe. Essays, 2001; Fernhandel. Gedichte (Buch und CD), 1999; wolkenstein, mobilisierun’ (beide gem. m. Ute Langanky) 1997; catull: das haar der berenice, 1997; Itinerar, 1996.

Gertrud Koch Professorin für Filmwissenschaft an der FU Berlin; Lehr- und Forschungsaufenthalte in den USA und Israel; Mitherausgeberin zahlreicher internationaler Zeitschriften. Publikationen (Auswahl): (Hg.): Kunst als Strafe, 2003; (Hg.): Bruchlinien. Zur neueren Holocaustforschung, 1999; Kracauer zur Einführung, 1996; Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, 1995; Gerhard Richter, 1995.

Rainer Krause Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Univ. Saarbrücken (Tiefenpsychologische Therapie und Psychoanalyse); approbierter Psychologischer Psychotherapeut; seit 1973 klinische praktische und forscherische Tätigkeit; Lehranalytiker und Mitglied des Forschungskomitees der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Publikationen (Auswahl): Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre, 2 Bde., 1997/98; Sprache und Affekt, 1981; Produktives Denken bei Kindern. Untersuchungen über Kreativität, 1977.

Wolfgang Lenzen Professor für Philosophie an der Univ. Osnabrück; 1979 Habilitation an der Univ. Regensburg; 1972 Promotion an der Univ. Regensburg in Mathematik, Philosophie und Kunstgeschichte. Hauptarbeitsgebiete:

Zu den Autoren

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Wissenschaftstheorie, Logik, Geschichte der Logik, Erkenntnistheorie, Leibniz, Angewandte Ethik, Philosophie des Geistes, Philosophie des Bergsteigens und Ausdauersports. Publikationen (Auswahl): Liebe, Leben, Tod, 1999; (Hg.): Das weite Spektrum der analytischen Philosophie, Fschr. f. F. v. Kutschera, 1997; Das System der Leibnizschen Logik, 1990; Glauben, Wissen und Wahrscheinlichkeit, 1980.

Daniel Libeskind Architekt in Deutschland, den USA und England; Mitglied im Bund Deutscher Architekten (BDA); verschiedene Würdigungen als Ehrendoktor; z. Zt. Frank O. Gehry Chair an der University Toronto und Cret Chair an der University of Pennsylvania, Philadelphia; Mitglied der Europäischen Akademie für Kunst und Literatur. Bauten (Auswahl): Spiral Extension für das Victoria & Albert Museum, London (bis 2006); Jewish Museum in San Francisco (bis 2005); Museum Felix Nußbaum-Haus, Osnabrück (1999), Jüdisches Museum, Berlin (1999), Imperial War Museum, North Manchester (1997). Publikationen (Auswahl): The Space of Encounter, 2001; Fishing from the Pavement, 1997; Kein Ort an seiner Stelle, 1995.

Martin Löw-Beer Lehrtätigkeiten in Philosophie an der Univ. Frankfurt a. M. und an der FU Berlin; Mitherausgeber der ZS „Babylon“. Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung Frankfurt a. M. Publikationen (Auswahl): Überlegungen über die Fähigkeiten, angemessen zu fühlen und einander emotional zu verstehen, in: Auge und Affekt, hg. v. G. Koch, 1995; Zur Einschätzung von Gefühlen und Gefühlsleben, in: Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. H. Fink-Eitel, 1993; Selbsttäuschung. Philosophische Analyse eines psychischen Phänomens, 1990.

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Zu den Autoren

Régis Michel Chefkurator am Louvre; Organisator (gem. m. Françoise Viatte) einer Ausstellungsserie mit Titel Parti pris (Gastkuratoren u.a. Jacques Derrida and Julia Kristeva); Kurator zahlreicher Ausstellungen, von Le beau idéal, Géricault oder La Chimère de Monsieur Desprez bis hin zu neueren Ausstellungen wie Posséder et détruire (über Sexualität) und La peinture comme crime (über die Moderne). Publikationen (Auswahl): Herausgeber der Akten großer internationaler Kongresse, wie David contre David oder Géricault sowie einer Reihe von Konferenzen (z. B. Où en est l’interprétation de l’œuvre d’art?), die er am Louvre organisiert hat. Zahlreiche Schriften über die Künstler, Epochen oder Themen der genannten Ausstellungen und Kongresse.

Wulf Raeck Professor für Klassische Archäologie an der Univ. Frankfurt a. M.; seit 1998 Leitung der archäologischen Ausgrabungen in Priene (Westtürkei); 1994 Professor für Klassische Archäologie an der Univ. Greifswald; 1987 Habilitation in München; 1980 Promotion. Publikationen (Auswahl): Bilder vom Redner in Griechenland und Rom, in: Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, hg. v. C. Neumeister und W. Raeck, 2000; Modernisierte Mythen. Zum Umgang der Spätantike mit klassischen Bildthemen, 1992; Zum Barbarenbild in der Kunst Athens im 6. und 5. Jh. v. Chr., 1981.

Birgit Recki Professorin für Philosophie an der Univ. Hamburg und Leiterin der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle zur Edition der Ges. Werke Ernst Cassirers; 1995 Habilitation; 1984 Promotion. Arbeitsgebiete: Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie mit Schwerpunkten im 18. Jh. und in der zeitgenössischen Moderne. Publikationen (Auswahl): Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 2004; Ästhetik der

Zu den Autoren

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Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, 2001; (Hg., gem. m. L. Wiesing): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, 1997; Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, 1988.

Brigitte Scheer Professorin am Fachbereich Philosophie der Univ. Frankfurt a. M.; 1965–72 Wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar der Univ. Frankfurt a. M.; Promotion in Philosophie, Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Kant, Philosophie des Deutschen Idealismus, Ästhetik und Philosophie der Kunst. Publikationen (Auswahl): Artikel „Gefühl“, in: Historisches Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe, hg. v. K. H. Barck u. a., 2001; Das Verhältnis von Ästhetik und Ethik im Denken Nietzsches, in: EthoPoiethik, hg. v. B. Greiner u. M. Moog-Grünewald, 1998; Einführung in die philosophische Ästhetik, 1997.

Michael Schirner Neben seiner Arbeit in der Werbung Professor für Kommunikationsdesign an der Hochschule für Gestaltung, ZKM, Karlsruhe; arbeitete als Geschäftsführer und Kreativchef in eigenen und anderen Werbeagenturen; Studium an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Publikationen (Auswahl): Der Spiegel. Anzeigentrends, hg. v. P. Wippermann / Trendbüro, 1997; (gem. m. J. Harten): Art meet Ads, 1993; Werbung ist Kunst, 1988.

Claudia Schmölders Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der HU Berlin; 1991/92 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin; Herausgeberin der Reihe „Paare“; langjährige Lektorin von „Märchen der Weltliteratur“; Promotion in Berlin.

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Zu den Autoren

Publikationen (Auswahl): Gesichter der Weimarer Republik, 2000; Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, 2000; Die Erfindung der Liebe, 1996; Der exzentrische Blick, 1996; Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, 1995.

Dieter Schnebel 1976–95 Professor für Experimentelle Musik und Musikwissenschaft in Berlin; kompositorische Tätigkeit seit 1953; 1956–76 Pfarrer und Religionslehrer in Kaiserslautern, Frankfurt a. M. und München; 1955 Promotion über Arnold Schönberg; 1949–55 Studium der Musik und Musikwissenschaft, der Theologie und Philosophie in Freiburg/Br. und Tübingen. Kompositionen (Auswahl): Majakowskis Tod (Opernfragment, 1997); Sinfonie X für großes Orchester (1992). Publikationen (Auswahl): Miszellen, 2001; Bach und die Moderne, 1995; Anschläge, Ausschläge, 1993; Denkbare Musik. Schriften 1952– 72, hg. v. H. R. Zeller, 1972.

Lars Spuybroek Leiter des Architekturbüros NOX in Rotterdam; Professor an der Univ. Kassel; Gewinner zahlreicher Preise; weltweite Ausstellungen (z. B. auf der Biennale in Venedig 2000); Vorträge und Lehraufträge an verschiedenen Universitäten in den Niederlanden; Visiting Professor an der Columbia University, New York. Werke und Publikationen (Auswahl): Seit den frühen 90er Jahren befasst mit der Erforschung der Beziehungen zwischen Architektur und Medien, zwischen Architektur und Computer; Herausgeber der Magazine NOX und Forum; Videoproduktionen (Soft City) und interaktive elektronische Kunstwerke (Soft Site, edit Spline, deep Surface); Architekturarbeiten: HtwoOexpo, V2_lab, wetGRID, D-tower, Son-Ohouse; aktuelle Projekte: interactive tower für die niederländische Stadt Doetinchem sowie ein Bürogebäude in Stratford-upon-Avon, England, ein Combination building in Lille, Frankreich und das ‚Home for Alice‘, in Italien; Machining Architecture [im Erscheinen].

Zu den Autoren

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Bernhard Stumpfhaus Freischaffender Kunsthistoriker; wiss. Assistent am SFP der DFG: „Imagination und Surrealismus“ a. d. Univ. Bochum; 2001 Promotion; 1999 Stipendiat des Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“; 1997/98 wiss. Mitarbeiter am SFP der DFG: Pierre Puget; organisiert Ausstellungen (u. a. zwei Retrospektiven zur sowjetischen Oppositionskunst in Oxford und Frankfurt a. M.). Publikationen (Auswahl): Modus-Affekt-Allegorese bei Poussin. Ein Beitrag zur Emotionsforschung in der französischen Malerei des 17. Jahrhunderts, [im Druck]; (gem. m. K. Rensch): Installation: Das Pythagoreische Komma, 2003; Zu Warburgs Nietzsche Rezeption, in: Mitteilungen des Zentrums zur Erforschung der Frühen Neuzeit, H. 3, Juni 1995; (gem. m. J. Freyberg): Transrealismus. Kunst zur Zeit der Perestroika, Videofilm 1995.

Kerstin Thomas Freischaffende Kunsthistorikerin; 2002 Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“; gem. m. U. Schöndeling Kuratorin der Ausstellung Körperinszenierungen, Frankfurt a. M. 1999; 1990-2002 bei Ballett und Oper Frankfurt a. M. tätig, zuletzt als Assistentin des Intendanten. Publikationen (Auswahl): (gem. m. C. Zittel): SkulpturenBilder, in: M. Kalmbach, hg. v. Museum f. Moderne Kunst, Frankfurt a. M., 2000; (Hg., gem. m. Ursula Schöndeling): Körperinszenierungen, Ausst.-Kat. Oper Frankfurt 1999; gem. m. B. Eisentraut u. R. Thönissen: Hole Outside the Portikus. Archäologische Untersuchung, in: We are medi(eval), hg. v. A. Bulloch und L. Gillick, 1995; Hg. der ZS „Parallax“ (1997/98), Ballett Frankfurt / TAT.

Wolfgang Tunner Professor am Institut für Psychologie, Univ. München. Forschungsinteressen: Verhaltenstherapie, Psychologie und Kunst, Grundlagen der Psychotherapie, Regeneration der Natur.

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Zu den Autoren

Publikationen (Auswahl): Zeiterleben – Experimente der Psychologie und Werke der Kunst. In: Jahrbuch der Akademie der Schönen Künste, 14, 2001; Krahofer Blätter – Originaltexte zur Kunst und Psychologie, Krahof: Eigenverlag, Heft 4/2001 (erscheint seit 1987); Psychologie und Kunst – Vom Sehen zur sinnlichen Erkenntnis, 1999.

Ralph-Rainer Wuthenow Professor am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Univ. Frankfurt a. M.; Dozentur in Tokio; Lehrtätigkeiten in Bordeaux und Okoyama; habilitiert in Göttingen. Forschungsinteressen: Literatur und Philosophie der deutschen und französischen Aufklärung, europäischer Ästhetizismus. Publikationen (Auswahl): (Hg.): Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 2003; Die gebändigte Flamme. Zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Zeitalter der Vernunft, 2000; Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung, 1990; Im Buch die Bücher oder der Held als Leser, 1980; Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus, 1978.

Carsten Zelle Professor an der Univ. Bochum (Neugermanistik, insbes. Literaturtheorie und Rhetorik); 1994 bis 2000 Hochschuldozent an der Univ. Siegen (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft); 1988/89 Gastdozentur an der Université d’Orléans. Publikationen (Auswahl): (Hg.): Deutsch-schweizerischer Kulturtransfer im 18. Jh., 2002; (Hg., gem. m. Gregor Schwering): Ästhetische Positionen nach Adorno, 2002; Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, 1995; (Hg., gem. m. Peter Gendolla): Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, 1990; Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, 1987.

Zu den Autoren

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Jörg Zimmermann Professor für Kunsttheorie an der Akademie für Bildende Künste der Univ. Mainz, zudem Lehre am dortigen Philosophischen Seminar; erster Präsident der 1993 gegründeten Dt. Gesellschaft f. Ästhetik; Mitorganisator des Kongresses ‚Ästhetik der Inszenierung‘ an der Oper Frankfurt; Lehr- und Forschungstätigkeit in Tübingen, Hamburg und Hannover; Gastprofessur an der HU Berlin. Publikationen (Auswahl): Das Mittelrheintal – Zur ästhetischen Dimension einer Kulturlandschaft, in: Das Rheintal von Bingen und Rüdesheim bis Koblenz, 2001; Mutmaßungen über die Regie des Lebens. Stationen einer Metaphysik der Inszenierung, in: Ästhetik der Inszenierung, hg. v. J. Früchtl und J. Zimmermann, 2001; Wolkendunst – Zur Semiotik und Ästhetik des Medienwechsels, in: Freiburger Universitätsblätter, Dezember 2000; (Hg., gem. m. U. Saenger u. G.-L. Darsow): Ästhetik und Naturerfahrung, 1996.

Slavoj Zizek Professor für Philosophie an der Univ. Ljubljana, Slowenien und Forschungsgruppenleiter am Kulturwissenschaftlichen Institut NRW in Essen; erster Träger des Kulturwissenschaftlichen Forschungspreises des Landes Nordrhein-Westfalen; aus den Preisgeldern Einrichtung der Studiengruppe „Antinomien der postmodernen Vernunft“. Publikationen (Auswahl): (Hg., gem. m. M. Dolar): Opera’s Second Death, 2002; Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten …, 2002; Die gnadenlose Liebe, 2001; Die Furcht vor echten Tränen. Krysztof Kieslowski und die ‚Nahtstelle‘, in: Volk u. Welt, 2001; Die Tücke des Subjekts, 2001; Contingency, Hegemony, Universality, 2000.

Abbildungsnachweis Herding (Einleitung) 1: Archiv des Autors Raeck 1, 2, 4, 11: © Frankfurt a. M., Fotosammlung Archäologisches Institut der J. W. Goethe-Universität 3: © München, Staatliche Antikensammlungen 5–7: © Rom, Deutsches Archäologisches Institut 8: © München, Museum für Abgüsse, Foto Glöckler 9: © Foto Kaufmann 10: © Foto Anderson Fried 1: © Le Cateau-Cambrésis, Musée Henri Matisse 2: © Florenz, Galleria degli Uffizi 3: © Rom, Galleria Borghese 4: © London, National Gallery 5: © Rom, Galleria Nazionale di Arte Antica 6: © Neapel, Musei e Gallerie di Capodimonte Colour Pl. I: © London, National Gallery Herding 1, 5, 6 & Farbtf. II: Archiv des Autors 2: © Photo Giraudon 3: © Florenz, Galleria degli Uffizi 4: © Leipzig, Museum der bildenden Künste 7: © L’Invention du sentiment, Ausst.-Kat. Paris, Musée de la Musique, 2002, n° 38 8: © Paris, Réunion des Musées Nationaux

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Abbildungsnachweis

Farbtf. III: © 2004 Andy Warhol Foundation for the Visual Arts / Artists Rights Society (ARS), New York Kirchner 1–5: Archiv des Autors 6: © Hamburger Kunsthalle Hofmann 1: © Archiv des Autors 2: © William Hogarth, Ausst.-Kat. Stuttgart 1978, S. 183, Nr. 33 3 & Farbtf. IV: Archiv des Autors 4: © William Hogarth, Ausst.-Kat. Stuttgart 1978, S. 235, Nr. 50 5: © Philadelphia, Philadelphia Museum of Art 6: © Heinz JOKISCH, Düsseldorf; Paris, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Zelle 1: © Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle 2, 3: © Stockholm, Nationalmuseum Jobert 1: © Orléans, Musée des Beaux-Arts 2 & Colour Pl. V: © Paris, Réunion des Musées Nationaux 3: © Lille, Musée des Beaux-Arts 4: © Paris, Musée Delacroix Thomas 1: © New York, The Metropolitan Museum of Art (Accession number 61.101.17) 2: © Otterlo, Rijksmuseum Kröller-Müller 3: © Paris, Réunion des Musées Nationaux Farbtf. VI: © Chicago, The Art Institute Libeskind 1, 3–5 & Colour Pl. VII, VIII: © bitterbredt.de 2: © Daniel Libeskind

Abbildungsnachweis

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Eisenman 1–5 & Colour Pl. IX, X: © Archiv Eisenman Architects Spuybroek Abb. 1–6, Figs. 1–4 & Colour Pl. XI–XII: © Archiv Lars Spuybroek Herz 1, 2 & Farbtf. XIII: Archiv des Autors Michel 1–4 & Colour Pl. XIV: Archiv des Autors Koch 1, 2: Archiv der Autorin Schirner 1–3 & Farbtf. XV: Archiv des Autors Stumpfhaus 1: mit Genehmigung des Knesebeck Verlages, aus: Lorella Pagnucco Salvemini: Toscani. Die Werbekampagnen für Benetton 1984–2000, München 2002, Nr. 59 2: mit Genehmigung des Knesebeck Verlages, aus: Pagnucco Salvemini (wie Abb. 1), Nr. 65 3: © Chicago, The Art Institute 4: © Slg. Ringier Farbtf. XVI: mit Genehmigung des Knesebeck Verlages, aus: Pagnucco Salvemini (wie Abb. 1), Nr. 76

Farbtafeln

Colour Plate I: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Boy Bitten by a Lizard, oil on canvas, 1594, London, National Gallery

Farbtafel II: Peter Paul Rubens (unter Mitarbeit von Frans Snyders), Medusenhaupt, um 1617–18, Öl/Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum

Farbtafel III: Andy Warhol, Marilyn Monroe, Siebdruck, 1967, Essen, Folkwang Museum

Farbtafel IV: Sir Joshua Reynolds, Parodie auf die Schule von Athen, Öl/Lw., 1751, Dublin, National Gallery of Ireland

Colour Plate V: Eugène Delacroix, Young Orphan Girl at a Cemetery, oil on canvas, 1824, Paris, Musée du Louvre

Farbtafel VI: Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte Öl/Lw., 1884-1886, Chicago, The Art Institute, Helen Birch Bartlett Memorial Collection

Farbtafel VII: Daniel Libeskind, Felix Nußbaum-Haus, Osnabrück, 1995-1999, Aufsicht (© bitterbredt.de)

Farbtafel VIII: Daniel Libeskind, Jüdisches Museum, Berlin, 1989-1999, Ansicht mit Stelenfeld/E. T. A. Hoffmann-Garten (© bitterbredt.de)

Colour Plate IX: Peter Eisenman, Model of Holocaust Monument, Berlin, 1998-2002

Colour Plate X: Peter Eisenman, Model of Holocaust Monument, Berlin, 1998-2002, seen from above

Farbtfafel XI: Lars Spuybroek, D-Tower in Doetinchem, Computeranimation Liebesgefühle

Farbtafel XII: Lars Spuybroek, obliqueWTC, Computeranimation, 2001

Farbtafel XIII: Rudolf Herz, Überschrieben. Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, Fotomontage, 1997

Colour Plate XIV: Gillian Wearing, Trauma, video, 2001

Farbtafel XV: Michael Schirner, „Ach Helmut“, Plakat für Bündnis 90/Die Grünen, 1998

Farbtafel XVI: Werbekampagne Benetton, Herbst/Winter 1992, Öl verschmierte Ente, Steve McCurry, Magnum / Oliviero Toscani (Foto: Knesebeck-Verlag 2002)